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German Pages 791 [792] Year 2009
Festschrift für Achim Krämer zum 70. Geburtstag
Festschrift für
ACHIM KRÄMER zum 70. Geburtstag am 19. September 2009 herausgegeben von
Uwe Blaurock Joachim Bornkamm Christian Kirchberg
De Gruyter Recht · Berlin
∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-89949-558-4 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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Achim Krämer zum 19. September 2009 Bernhard Altehenger Alfred Bergmann Karl Otto Bergmann Uwe Blaurock Joachim Bornkamm Siegfried Broß Helmut Bruchner Hermann Büttner Katharina Deppert Konrad Deufel Thomas Dreier Friedrich-Wilhelm Engel Hanns Engelhardt Reinhard Gaier Cornelie von Gierke Wulf Goette Hans-Peter Greiner Norbert Gross Wilhelm Güde Reiner Hall Erik Jayme Hartmut Kilger Christian Kirchberg Gerhart Kreft
Wolfgang Krüger Johannes Masing Thomas Mayen Wendt Nassall Gerd Nobbe Andreas Piekenbrock Nina Polt Peter Raue Gerhard Robbers Wolfgang Schlick Klaus Schrenk Andreas W. Tilp Eike Ullmann Volkert Vorwerk Hermann Weber Matthias Weller Joachim Wenzel Harm Peter Westermann Marion Westpfahl Friedrich Graf von Westphalen Jörg Winter Thomas Winter Achim von Winterfeld Rüdiger Zuck
Vorwort Es gilt, einen „vir elegantissimus eloquii et multae undecumque scientiae“ zu ehren, einen Mann also, dessen überragendes juristisches Fachwissen sich immer mit einer weitgespannten Allgemeinbildung, insbesondere auf den Gebieten der Kunst, der Musik, der Literatur und vor allem auch der Theologie, gepaart hat. Anlass für diese Ehrung ist der 70. Geburtstag, den der Jubilar, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof Achim Krämer, am 19. September 2009 feiert und zu dem Freunde, Kollegen und Wegbegleiter ihm mit dieser Festschrift einen spätsommerlichen Strauß unterschiedlicher fachlicher und literarischer Provenienz überreichen wollen. Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs in Freiburg geboren, hat Achim Krämer nach dem Abitur am Bismarck-Gymnasium in Karlsruhe die Studienrichtung seiner Väter und Vorväter eingeschlagen: Der Großvater mütterlicherseits, Karl Schneider, war Präsident des Badischen Verwaltungsgerichtshofs und sein Vater, Theodor Krämer, ein bekannter und angesehener Richter am Landgericht Karlsruhe. Das Studium der Rechtswissenschaften hat Achim Krämer in Heidelberg und München absolviert, um dann bereits in der Referendarzeit eine Tätigkeit in der seinerzeit hochangesehenen BGH-Kanzlei Möhring/Nirk, einer Art „Kaderschmiede“ für viele spätere BGH-Anwälte, aufzunehmen. Er hat diese Tätigkeit in der Folge als persönlicher wissenschaftlicher Mitarbeiter von Philipp Möhring fortgesetzt, ab 1973 aber gleichzeitig eine Stelle als Wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Rechtsphilosophie und Kirchenrecht der Universität Freiburg wahrgenommen, im Jahre 1977 sodann die eigene Instanzkanzlei in Karlsruhe gegründet, um im Jahre 1980 schließlich als Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof zugelassen zu werden. Die unter der Obhut von Erik Wolf, Alexander Hollerbach und Günther Wendt erstellte, 1973 abgeschlossene Dissertation zur „Gegenwärtigen Abendmahlsordnung in der Evangelischen Kirche in Deutschland“ steht für eine weitere Entwicklungslinie der beiderseitigen Herkunftsfamilien des Jubilars. Theologische und religiöse Fragestellungen und Probleme haben den Lebens- und Berufsweg von Achim Krämer fortwährend begleitet, und er hat sich ihnen in Wort und Tat gewidmet. Hervorzuheben sind seine Mitwirkung als Gast des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union an der Erarbeitung von Voten zu den Thesen der Barmer Theologischen Erklärung („Barmen III“) in der Zeit von 1975 bis 1980, ferner seine langjährige Mitgliedschaft im Verwaltungsgericht der Badischen Landeskirche und schließlich auch etwa seine großzügige Unterstützung kir-
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Vorwort
chenmusikalischer Projekte in Karlsruhe, insbesondere des aktuell stattfindenden Orgelneubaus in der Christuskirche, der er sich – auch als deren früherer Kirchenältester – in besonderer Weise verbunden fühlt. Wer Achim Krämer nicht nur bei Gericht oder im sonstigen beruflichen oder gesellschaftlichen Umfeld, sondern auch im engsten Familien- und Freundeskreise erlebt, will gerne glauben, dass ihn in jungen Jahren die Schauspielerei und die Musik durchaus verlockten, vom (vorgezeichneten) Pfade der Jurisprudenz und/oder der Theologie abzuweichen. Vor allem die intime Kenntnis des musikalischen Repertoires und der diversen Aufführungspraxen, die Leidenschaft, mit der er sich für oder – lieber – gegen eine aktuelle Aufführung oder Inszenierung ausspricht, die ihm eigene Gabe zur sprachlich zugespitzten, mitunter sogar gereimten Formulierung, der (gespielt) scharfe, fast mephistophelisch zu nennende Blick, mit dem er zuweilen sowohl beim Plädoyer vor Gericht als auch bei Diskussionen im gesellschaftlichen oder privaten Kreise seinen Gegner oder Gegenüber ins Visier nimmt und in seinen Bann zu ziehen sucht – das alles ist Ausdruck eines musisch höchst sensiblen und zugleich darstellenden Talents, das seinesgleichen sucht. So nimmt es denn auch nicht Wunder, dass Achim Krämer sich im Privaten wie im Beruflichen in besonderer Weise für Fragen der Kunst – im weitesten Sinne – und für die damit zusammenhängenden Rechtsprobleme nicht nur interessiert, sondern auch engagiert. Seit vielen Jahren ist er Vorsitzender des Förderkreises der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe und des Vereins der Freunde der Kunsthalle. Unter seiner Ägide und dem Direktorat von Klaus Schrenk hat diese renommierte Einrichtung aufgrund der Unterstützung von Förderkreis und Freundesverein eine Vielzahl zusätzlicher Aktivitäten entfalten und insbesondere ihre Sammlungen durch den Ankauf von Kunstwerken komplettieren können. Die Mitgliedschaft im Beirat des Instituts für Kunst und Recht an der Universität Heidelberg schlägt die Brücke oder ist die verbindende Klammer zu Achim Krämers beruflicher Tätigkeit auf dem Gebiet des Kunst- und insbesondere auch des Urheberrechts, in jüngerer Zeit etwa als anwaltlicher Vertreter bei der Auseinandersetzung um den „Esra“-Roman von Maxim Biller oder im Streit um die Rechte an der spektakulären Erstaufführung der erst 2002 wieder entdeckten Oper „Montezuma“ von Antonio Vivaldi. Bei der Tätigkeit des Jubilars als Revisionsanwalt vor dem BGH standen und stehen allerdings das Wirtschaftsrecht, insbesondere das Bank-, Kartell- und Wettbewerbs- sowie das Energiewirtschaftsrecht, daneben aber auch etwa das traditionsgemäß vor dem III. Zivilsenat verhandelte Recht der öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen (Staatshaftungsrecht) im Vordergrund. Gleichzeitig ist er auf diesen Gebieten ein gesuchter Vortragender bei Tagungen und Kongressen und war langjährig Mitglied des Kuratoriums der Bankrechtlichen Vereinigung. Zivilprozessuale und vor allem auch verfassungsrechtliche Fragestellungen sind der „basso continuo“ von Achim Krä-
Vorwort
IX
mers beruflichem Wirken. Als Vorsitzender des Verfassungsrechtsausschusses des DAV hat er die Entfesselung der deutschen Anwaltschaft aus ihren herkömmlichen Bindungen durch die in den letzten 20 Jahren zunehmend forcierter vom Bundesverfassungsgericht betriebene Liberalisierung des anwaltlichen Berufsrechts hautnah und gewissermaßen am eigenen Leibe erlebt, ohne dass im Rahmen dieser Entwicklung allerdings, wie von manchen gefürchtet und von manchen gehofft, auch der Stab über die BGH-Anwaltschaft gebrochen wurde. Sein Betätigungsfeld und damit, wie es scheint, auch sein Lebenselexir bleiben dem Jubilar im Hinblick auf das erst unlängst wieder vom Bundesverfassungsgericht betonte Gemeinwohlinteresse an der „Stärkung der Rechtspflege durch eine leistungsfähige und in Revisionssachen besonders qualifizierte Anwaltschaft“ also (einstweilen) weiter erhalten. Ehefrau Melanie und die vier allerdings größtenteils schon erwachsenen Kinder werden das mit gemischten Gefühlen sehen. Achim Krämer berufliches Wirken ist nicht auf die Tätigkeit als Revisionsanwalt und auf vergleichbaren Feldern beschränkt (geblieben). Es hat seinen Niederschlag insbesondere auch in einer umfangreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungs-Tätigkeit gefunden, von der das eindrucksvolle Schriftenverzeichnis, das dieser Festschrift beigefügt ist, Zeugnis ablegt. Die – nach entsprechender Lehrtätigkeit – im Jahre 1996 erfolgte Ernennung des Jubilars zum Honorarprofessor an der Universität Göttingen lag in der Konsequenz dieses zusätzlichen Engagements auf wissenschaftlichem Gebiet. Die Herausgeber und Autoren dieser Festschrift haben sich mit ihren Beiträgen an dem bisherigen Lebenswerk von Achim Krämer orientiert, sind sich angesichts des Temperaments und der ungebrochenen Leistungsbereitschaft des Jubilars allerdings darüber im Klaren, insofern allenfalls eine Momentaufnahme geliefert zu haben. Freiburg i. Br. und Karlsruhe, im Juni 2009 Uwe Blaurock
Joachim Bornkamm
Christian Kirchberg
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
I. Verfassungsrecht Siegfried Broß Überlegungen zum „materiellen Verfassungsrechtsverhältnis“ im Sinne des Staatsorganisationsrechts ausgehend vom BundLänder-Streitverfahren und damit zusammenhängende Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
Konrad Deufel Die Kommunale Selbstverwaltung – Grundgestalt unseres demokratischen Gemeinwesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Reinhard Gaier Wohnungsmietrecht und Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
Christian Kirchberg Die Anhörungsrüge – viel Aufwand, wenig Ertrag? . . . . . . . . .
43
Johannes Masing Vielfalt nationalen Grundrechtsschutzes und die einheitliche Gewährleistung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
Achim von Winterfeld Das Bundesverfassungsgericht, der Bundesgerichtshof und der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Gefüge des nationalen deutschen Rechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
Rüdiger Zuck Die Konkurrenz von Verfahrensgrundrechten . . . . . . . . . . . .
85
II. Recht der freien Berufe Karl Otto Bergmann Das heutige Bild des Arztes. Verfassungs-, berufs- und haftungsrechtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107
XII
Inhaltsverzeichnis
Hermann Büttner Der BGH-Anwalt zwischen Schein und Wirklichkeit . . . . . . . .
123
Hartmut Kilger Berufsethische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
135
Marion Westpfahl Veränderungen und Bedrohungen des anwaltlichen Berufsbildes .
149
III. Wirtschaftsrecht Alfred Bergmann Richtlinienkonforme Auslegung im Unlauterkeitsrecht am Beispiel der Irreführung durch Unterlassen nach § 5a UWG . . . . . . . . .
163
Uwe Blaurock Haftung des Scheinsozius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
177
Helmut Bruchner Rechtliche Überlegungen zu strukturierten Finanzinstrumenten – insbesondere zu US-CDO’s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
197
Katharina Deppert Die Kapitalgesellschaft als Rechtsform anwaltlicher Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
207
Thomas Dreier Thumbnails als Zitate? Zur Reichweite von § 51 UrhG in der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225
Cornelie von Gierke Der Konflikt zwischen kirchlichen Werkeigentümern und Urhebern. Zugleich ein Beitrag zum methodischen Vorgehen bei der Prüfung von Werkänderungen . . . . . . . . . . . . . . . .
241
Wulf Goette Zum Schicksal der Sozialverbindlichkeiten beim Gesellschafterwechsel in der Personengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . .
253
Reiner Hall Alter Hut oder neues Gewand? Darlegungslast, Schlüssigkeit und Substantiierung im KapMuG-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . .
265
Erik Jayme Das Folgerecht an Originalen der bildenden Künste (§ 26 UrhG) und die deutsche Auktionspraxis – Eine kritische Betrachtung zur „Folgerechtsumlage“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
277
Inhaltsverzeichnis
XIII
Gerhart Kreft Paralipomena zum Ombudsmann der privaten Banken . . . . . . .
287
Thomas Mayen Bankaufsichtsrecht und öffentliche Förderbanken . . . . . . . . . .
303
Nina Polt Die Zahlung von debitorischen Konten – ein Fall der Gläubigerbenachteiligung im Sinne des § 129 InsO? . . . . . . . . . . . . . .
317
Andreas W. Tilp Der Frankfurter Telekom-Prozess: Momentaufnahme im Februar 2009 zu den beiden KapMuG-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . .
331
Eike Ullmann Der Kirchenraum – ein rechtsfreier Raum? . . . . . . . . . . . . . .
361
Harm Peter Westermann Neues zur Risikoanlage der Anleger in geschlossenen Immobilienfonds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
373
Thomas Winter § 723 Abs. 3 BGB als „Einbruchstelle“ der Berufsfreiheit in das Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
397
IV. Zivil- und Zivilprozessrecht Bernhard Altehenger Der allgemeine Sprachgebrauch – ein Erfahrungssatz? . . . . . . .
413
Joachim Bornkamm Ruhe nach dem Sturm. Die zivilprozessuale Zulassungsrevision . .
425
Friedrich-Wilhelm Engel Berufungen an den Bundesgerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . .
441
Hans-Peter Greiner Die Pflicht des Gerichts zur Aufklärung des Sachverhalts nach der Rechtsprechung des VI. Zivilsenats . . . . . . . . . . . . . . . . . .
461
Wolfgang Krüger Wiederverwendung einer Vormerkung? . . . . . . . . . . . . . . .
475
Gerd Nobbe Leistungshandlung, Erfüllung und Wegfall der Erfüllung bei Holschulden insbesondere im Lastschrifteinzugsermächtigungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
497
XIV
Inhaltsverzeichnis
Andreas Piekenbrock Rechtsschutz gegen gerichtliche Säumnis und Gehörsverletzungen in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
513
Wolfgang Schlick Rechtsweg in Amtshaftungssachen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
527
Volkert Vorwerk Beweisaufnahme im Ausland – Die EG-BeweisaufnahmeVO und der Grundsatz der Beweisunmittelbarkeit . . . . . . . . . . . .
551
Joachim Wenzel Zur Konformität von Gesellschaftsrecht und Gemeinschaftsrecht der Wohnungseigentümer am Beispiel der Verkündung von Beschlüssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
563
V. Kirche, Kultur und Recht Hanns Engelhardt Zwischenkirchliche Vereinbarungen – ein Weg zu mehr ökumenischer Gemeinsamkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
583
Norbert Gross War Friedrich Schiller Schwabe oder Franzose? Staatsbürger, Ehrenbürger, Erbbürger in Krieg und Frieden . . . . . . . . . . . .
597
Wilhelm Güde Dr. jur. Mizzi Kisch (1906–1942). Ein Gedenken. Verbunden mit einer späten Rezension ihrer Doktorarbeit von 1930 „Der Rechtsschutz der Schauspielerleistung bei Prominenten“ . . . . . . . . .
619
Wendt Nassall Ichthyophagen am Ichthyotroph . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
637
Peter Raue Der postmortale Guss – (k)ein Rechtsproblem? . . . . . . . . . . .
651
Gerhard Robbers Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften im europäischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
663
Klaus Schrenk Der Kampf um die Pressefreiheit zu Beginn der Juli-Monarchie und König Louis-Philippe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
677
Inhaltsverzeichnis
XV
Hermann Weber Kurt Tucholsky als Jurist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
695
Matthias Weller Die rechtsverbindliche Rückgabezusage . . . . . . . . . . . . . . .
721
Friedrich Graf von Westphalen Renaissance der Religion im Fadenkreuz der Säkularisierung . . .
737
Jörg Winter Das Kirchliche Verwaltungsgericht der Evangelischen Landeskirche in Baden. Ein rechtshistorischer Fall . . . . . . . . . . . . .
753
Verzeichnis der Schriften von Achim Krämer . . . . . . . . . . . . . .
767
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
775
I. Verfassungsrecht
Überlegungen zum „materiellen Verfassungsrechtsverhältnis“ im Sinne des Staatsorganisationsrechts ausgehend vom Bund-Länder-Streitverfahren und damit zusammenhängende Fragen Siegfried Bross I. Einführung 1. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet unter anderem gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG bei Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder, insbesondere bei der Ausführung von Bundesrecht durch die Länder und bei der Ausübung der Bundesaufsicht. Für das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ordnet § 69 in Verbindung mit § 64 Abs. 1 BVerfGG an, dass der Antrag nur zulässig ist, wenn der Antragsteller geltend macht, dass er oder das Organ, dem er angehört, durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. Hierin liegt keine Verschärfung für die Eröffnung des Rechtswegs zum Bundesverfassungsgericht, die mangels Ermächtigungsgrundlage ohnehin verfassungswidrig wäre, sondern die verfahrensmäßige Konturierung einer Staatsorganisationsnorm des Grundgesetzes.1 An und für sich ist diese Erkenntnis nicht überraschend; denn das Grundgesetz hält sich mit Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zurück. Vielmehr hat der Verfassungsgeber den Weg eingeschlagen, den Gesetzgeber gemäß Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG zu ermächtigen, Verfassung und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts auszuformen und auch zu bestimmen, in welchen Fällen seine Entscheidungen Gesetzeskraft haben. Zudem kann dieses Gesetz für Verfassungsbeschwerden die vorherige Erschöpfung des Rechtsweges zur Voraussetzung machen und ein besonderes Annahmeverfahren vorsehen. Betrachtet man diese Regelungstechnik des Verfassungsgebers vor dem Hintergrund der Bestimmungen über die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts, ist festzustellen, dass Art. 93 GG, wie etwa
1
BVerfGE 13, 54, 72.
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Siegfried Broß
auch Art. 100 GG, der Staatsorganisationsebene zugehören. Die nähere Ausgestaltung der jeweiligen Verfahrensart ist Sache des Gesetzgebers und ist folglich der Ebene unterhalb der Verfassung zuzurechnen. Die Bedeutung dieser an sich nicht gerade überwältigenden Einsicht wird sinnfälliger, wenn man noch eine weitere Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts in die Betrachtung einbezieht. Insoweit ist Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG mit seiner Regelung der kommunalen Verfassungsbeschwerde in den Blick zu nehmen. Über Verfassungsbeschwerden von Gemeinden und Gemeindeverbänden wegen Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung nach Art. 28 GG durch ein Gesetz entscheidet das Bundesverfassungsgericht, soweit nicht Beschwerde beim Landesverfassungsgericht erhoben werden kann (spezielle Ausprägung der Subsidiarität). Betrachtet man die Regelungen in Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 4b GG im Zusammenhang, ergibt sich zum einen, dass das Bundesverfassungsgericht nur über verfassungsrechtliche Fragen zu befinden hat, sein Maßstab ist sonach ausschließlich das Grundgesetz. Zum anderen aber ist unter diesem Gesichtspunkt auch zu erwägen, dass die nur enumerativ und insoweit für einen genau beschriebenen Einzelfall eröffnete Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zusätzlich den Gegenstand der verfassungsrechtlichen Streitigkeit vor dem Bundesverfassungsgericht und demzufolge auch den jeweils begrenzten Prüfungsmaßstab vorgibt. Es kann kein allgemeiner weit ausgreifender sein, der alle denkbaren verfassungsgesetzlichen Regelungen als Prüfungsmaßstab erfassen könnte. Damit würde das Bundesverfassungsgericht die ihm ausschließlich zugewiesene Stellung als „Hüter der Verfassung“ verlassen und in die Rolle einer „Superrevisionsinstanz“ hineinwachsen.2 Darüber hinaus ergibt der Wortlaut der Regelung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 (und Nr. 4b) GG noch Weiteres. Es geht bei dem Bund-Länder-Streit vor dem Bundesverfassungsgericht nicht um eine allgemeine objektive Verfassungsaufsicht, wie dies bei einer abstrakten Normenkontrolle üblicherweise der Fall ist. Vielmehr wird über Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder entschieden. Das Grundgesetz nennt hierzu beispielhaft die Ausführung von Bundesrecht durch die Länder und die Ausübung der Bundesaufsicht. Dadurch wird der Gegenstand des BundLänder-Streits eng auf Kompetenzen und Zuständigkeiten von Bund und Ländern nach dem Grundgesetz beschränkt. Weitere verfassungsrechtliche Fragen, etwa der Bedeutung von Grundrechten, spielen deshalb in einem solchen Staatsorganisationsstreit keine Rolle. Weder der Bund noch die Länder sind in einem solchen Rechtsstreit Wahrer des objektiven Verfassungsrechts; sie können nur die ihnen durch staatsorganisationsrechtliche Bestimmungen des Grundgesetzes zugewiesenen Positionen ins Feld führen.
2
Hierzu schon BVerfGE 18, 85, 92.
Überlegungen zum „materiellen Verfassungsrechtsverhältnis“
5
Nicht anders verhält es sich mit der kommunalen Verfassungsbeschwerde. Der Wortlaut des Grundgesetzes ist insoweit eindeutig. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG beschränkt die Erhebung der kommunalen Verfassungsbeschwerde darauf, dass eine Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung nach Art. 28 GG geltend gemacht wird. Hier geht es noch viel weniger um eine allgemeine objektive Verfassungsaufsicht, welche die Kommunen über die Erhebung einer kommunalen Verfassungsbeschwerde erzwingen könnten. Das erschließt sich allerdings noch aus einer anderen Beobachtung. Die Gemeinden und Gemeindeverbände sind nicht in die Staatsorganisation des Grundgesetzes eingebunden.3 So erwähnen Art. 30, Art. 70, Art. 83 wie auch Art. 84 Abs. 1 a.F. GG die Gemeinden gerade nicht. Aus einer Zusammenschau von Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 4b GG folgt sonach weiter, dass die kommunale Verfassungsbeschwerde wegen der Ansiedelung der Kommunen unterhalb der Staatsorganisationsebene des Bundes auch bei der Rüge einer Verletzung von Art. 28 GG nur einen eng begrenzten Streitgegenstand haben kann. Anders als den Ländern kommt ihnen jedenfalls auf der Bundesebene nach der Ausgestaltung des Grundgesetzes keinerlei Bedeutung bezüglich Gewaltenteilung und Gewaltentrennung zu. Nicht von ungefähr sind sie in ihrem Bestand durch das Grundgesetz nicht geschützt, wie dies etwa Art. 29 GG für die Länder durch besondere Kautelen vorsieht. Die Neuregelung in Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG, wonach durch Bundesgesetz Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden dürfen, stützt diese Auffassung. Schon die Stellung der Vorschrift innerhalb des Art. 84 Abs. 1 GG macht deutlich, dass es sich nicht um eine Schutzvorschrift zugunsten der Kommunen, sondern um eine solche zugunsten der Länder handelt. Es bedürfte vor diesem Hintergrund ganz erheblicher Anstrengungen, die Zulässigkeit einer kommunalen Verfassungsbeschwerde, die eine Verletzung des Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG rügt, nachzuweisen.4 2. Wegen des begrenzten Streitgegenstandes des Bund-Länder-Streits vor dem Bundesverfassungsgericht war es folgerichtig, für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art zwischen dem Bund und den Ländern (und zwischen verschiedenen Ländern) eine Zuständigkeit – nahe liegend bei der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit – insoweit zu eröffnen. Dem trägt § 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO Rechnung und mit der alleinigen
3 Sehr gut gelungen sind hierzu die Ausführungen in BVerwGE 100, 56 und BVerwG, Urteil vom 15.5.2008 – 5 C 25/07 –, NVwZ 2008, S. 1369; siehe in diesem Zusammenhang auch Engelken Kommunen und bundesrechtliche Aufgaben nach der Föderalismusreform, VBl BW 2008, S. 457 ff. 4 Eingehend hierzu nunmehr Engelken (Fn. 3); Huber Das Verbot der Mischverwaltung – de constitutione lata et ferenda, DÖV 2008, S. 844, 849.
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Siegfried Broß
Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts auch dem Umstand, dass die Parteien eines solchen Rechtsstreits der Staatsorganisationsebene der Bundesrepublik Deutschland angehören und deshalb die allgemeine Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte nach § 40 VwGO nicht angemessen wäre. Andererseits gibt der Gesetzgeber durch diese Regelung der Verwaltungsgerichtsordnung auch zu erkennen, dass es solche Streitigkeiten zwischen dem Bund und den Ländern unterhalb der Staatsorganisationsebene geben muss. Solche Streitigkeiten können aber nicht Kompetenzen und Zuständigkeiten, die im Grundgesetz im staatsorganisationsrechtlichen Zusammenhang geregelt sind, betreffen. Nahe liegend fallen deshalb alle „Meinungsverschiedenheiten“ zwischen dem Bund und den Ländern, die nicht auf originären Kompetenzen sowie Zuständigkeiten und darauf beruhenden Positionen beruhen, sondern solche zum Gegenstand haben, wie sie jedem in unserem Rechtsstaat zustehen können, auf unter der verfassungsrechtlichen Ebene liegend in die Entscheidungszuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts.
II. Einzelheiten 1. Die zuvor geschilderten Zusammenhänge kleidet das Bundesverfassungsgericht sprachlich dahin ein, dass „die Zulässigkeit eines Bund-LänderStreits eine Maßnahme oder Unterlassung voraussetzt, die innerhalb eines Bund und Land umspannenden materiellen Verfassungsrechtsverhältnisses eine verfassungsrechtliche Rechtsposition des Landes verletzen oder unmittelbar gefährden kann“ 5. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht bisher generelle Kriterien für die Bestimmung eines Bund und Land umschließenden materiellen Verfassungsrechtsverhältnisses nicht entwickelt.6 Gleichwohl ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insoweit nicht ohne Konturen. Für die Bestimmung der Rechtsnatur des Streites um geltend gemachte Ansprüche zwischen Bund und Land kommt es auf den Charakter des zugrunde liegenden Rechtsverhältnisses an.7 Dabei ist maßgebend auf das verfassungsrechtliche Grundverhältnis abzustellen; denn die geltend gemachten Ansprüche können (daneben auch) in einem engeren Rechtsverhältnis wurzeln, und dann sind dieses engere Rechtsverhältnis und seine Rechtsnatur für die Rechtsnatur der geltend gemachten Ansprüche entscheidend.8
5 6 7 8
Vgl. hierzu BVerfGE 13, 54, 72; 81, 310, 329; 92, 203, 226; 95, 250, 262; 104, 238, 245. BVerfGE 109, 1, 6. BVerfGE 42, 103, 113; 62, 295, 313. Hierzu mwN BVerfGE 109, 1, 6.
Überlegungen zum „materiellen Verfassungsrechtsverhältnis“
7
Dieses verfassungsrechtliche Grundverhältnis wird allerdings seinerseits wieder durch die inmitten stehende Klage, für die allein das Bundesverfassungsgericht zuständig ist, konturiert, nicht allein durch materielle verfassungsrechtliche Vorschriften. Das heißt, dass es darum geht, ob die „Meinungsverschiedenheiten“ zwischen Bund und Land unmittelbar an Staatsorganisationsnormen angebunden sind und sich gleichsam auf direktem Weg auf solche zurückführen lassen. Schon das Hinzutreten wesentlicher Begründungselemente für einen im Bund-Länder-Streit verfolgten Anspruch, die nicht auf einer Staatsorganisationsnorm, sondern auf Vorschriften von Gesetzen oder auf allgemeinen Rechtsgrundsätzen beruhen, ist ein Indiz dafür, dass es sich nicht um eine verfassungsrechtliche Streitigkeit handelt, weil das Grundverhältnis, so wie es jetzt streitbefangen ist, eben nicht mehr das Bund und Land umspannende materielle Verfassungsrechtsverhältnis ist. Diese Zusammenhänge hat das Bundesverfassungsgericht schon zuvor in einer anderen Entscheidung auf den Punkt gebracht. Dort hatte die Frage wegen der Ausgangskonstellation nicht die zentrale Bedeutung für den Gegenstand des Rechtsstreits wie in anderen Fällen. Gleichwohl formuliert das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 99, 361 (366) in Bezug auf das materielle Verfassungsrechtsverhältnis, dass bei einem im Streit stehenden finanziellen Anspruch dem Zahlungsbegehren, einer etwaigen Vollstreckung aus einem vorliegenden Urteil und diesem selbst im Bund-Länder-Streit keine verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt. Insoweit gehe es nur um einen verwaltungsrechtlichen Anspruch (dort auf Schadensersatz) und seine Durchsetzung, nicht aber um verfassungsrechtliche Fragen, die zum Gegenstand eines Bund-Länder-Streits im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG gemacht werden könnten. So fußt etwa ein Zinsanspruch, der selbstverständlich auch bei finanziellen Auseinandersetzungen zwischen Bund und Land keine unbedeutende Rolle spielen kann, ausschließlich auf Regelungen des einfachen Rechts und kann deshalb in einem Bund-Länder-Streit nicht vor dem Bundesverfassungsgericht geltend gemacht werden.9 2. Naheliegend möchte man annehmen, dass in Anbetracht dieser klaren Aussagen des Bundesverfassungsgerichts das Bund und Land umspannende materielle Verfassungsrechtsverhältnis, das einen Bund-Länder-Streit vor dem Bundesverfassungsgericht bei Meinungsverschiedenheiten eröffnen kann, im Staatsalltag verhältnismäßig einfach bestimmt werden kann. Die Praxis lehrt anderes. a) Werden im Bund-Länder-Streit Zahlungsansprüche geltend gemacht, lässt sich das Bund und Land umspannende materielle Verfassungsrechtsverhältnis eindeutig bestimmen. Das Grundgesetz selbst gibt Auskunft darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen der Bund von einem Land oder ein
9
So ausdrücklich BVerfGE 99, 361, 366 unter Verweis auf BVerfGE 18, 85, 92 f.
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Siegfried Broß
Land vom Bund Geld fordern darf. So ordnet Art. 104a Abs. 1 GG als Grundsatz an, dass der Bund und die Länder gesondert die Ausgaben tragen, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben. Erhebt sich hierüber eine Meinungsverschiedenheit, so ist ohne weiteren Begründungsaufwand eine verfassungsrechtliche Streitigkeit eröffnet, weil es um das Bund und Land umspannende materielle Verfassungsrechtsverhältnis geht. Das Grundgesetz selbst regelt den Anspruchsgrund. Selbstverständlich kann das Grundgesetz anderes bestimmen, was auch nachfolgend der Fall ist. Gemäß Art. 104a Abs. 2 GG trägt der Bund die Ausgaben, wenn die Länder im Auftrage des Bundes handeln. Wenn man diese und die nachfolgenden Bestimmungen des Art. 104a GG wie auch des Art. 104b GG durchmustert, springt ins Auge, dass die Verfassung – naheliegend – sich immer nur zur Anspruchsgrundlage verhält, weil nur diese ihrem Inhalt nach staatsorganisationsrechtlicher Natur sein kann. Das Grundgesetz trifft hingegen keinerlei Aussage dazu, wie eine bestehende finanzielle Verpflichtung zu erfüllen ist. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass hierfür die allgemeinen Gesetze und die allgemeinen Rechtsgrundsätze gelten. Dies hat BVerfGE 99, 361 (366) wie erwähnt zusammengefasst. So gelten für Ratenzahlung, Stundung, Verjährung und Verwirkung von Ansprüchen die allgemeinen Regeln, weil das Grundgesetz hierzu schweigt. Das Grundgesetz hat es bis auf die im Rahmen der Föderalismusreform getroffene Neuregelung des Art. 104b Abs. 2 Satz 3 GG nicht einmal für erforderlich gehalten, für die Modalitäten zur Erbringung der finanziellen Leistung irgendeinen Hinweis auf die unterverfassungsrechtliche Ebene zu geben. Das ist wenig überraschend; denn das Staatsorganisationsrecht verhält sich naheliegend nur dazu, welchen Kompetenzen, Zuständigkeiten und Verpflichtungen Bund und Länder im Verhältnis zueinander obliegen. Die Modalitäten der Ausführung liegen unterhalb der Staatsorganisationsebene, es sei denn, es würden noch die anerkannten geschriebenen Verfassungsgrundsätze des Staatsorganisationsrechts eingreifen: bund-länder-freundliches Verhalten oder Organtreue. Allerdings sind auch das Institute, die auf der Ebene rechtlicher Beziehungen zwischen Privaten nicht bekannt sind. b) Trotz dieser Eindeutigkeit kommt es bei der Verfolgung von Zahlungsansprüchen durch den Bund oder ein Land immer wieder dazu, dass Bundesverwaltungsgericht und Bundesverfassungsgericht von den Parteien wechselseitig angerufen werden.10 In jüngster Zeit kam es zur Anrufung von Bundesverwaltungsgericht und Bundesverfassungsgericht durch jeweils verschiedene Länder in einem Rechtsstreit, in dem es um die Erstattung von Zweckausgaben für die endlagerfähige Aufbereitung zwischengelagerter Nuklearabfälle ging. Das Bundesverwaltungsgericht hat dazu in Urteilen vom
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Z.B. BVerfGE 99, 361.
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24.7.2008 11 in einem Rechtsstreit nach § 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO befunden, dass es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art handelt. Es hat hierzu überzeugend darauf verwiesen, dass keine verfassungsrechtliche Streitigkeit vorliege. Eine solche sei nur anzunehmen, wenn um föderale Ansprüche, Verbindlichkeiten oder Zuständigkeiten gestritten werde, die auf Normen des Grundgesetzes gestützt würden, die gerade das verfassungsrechtlich geordnete Verhältnis zwischen Bund und Ländern beträfen.12 In dem von ihm zu entscheidenden Rechtsstreit hat das Bundesverwaltungsgericht darauf aufmerksam gemacht, dass bei der geltend gemachten Forderung auf § 24 Abs. 1 Satz 1 AtG abzustellen sei. Das hierauf fußende Auftragsverhältnis zwischen Bund und Land sei prägend. Die Regelung erhelle, dass die Errichtung und der Betrieb eines atomrechtlichen Landessammellagers im Auftrag des Bundes ausgeführt werde. Der Streitpunkt zwischen den Beteiligten betreffe nicht den Rechtsgrund, sondern die Höhe des Erstattungsanspruchs und die Begründetheit von Einwendungen oder Einreden. Dem vergleichbar ist der Gegenstand des Rechtsstreits 2 BvG 2/05 vor dem Bundesverfassungsgericht. Auch in ihm wehrt sich der Bund nicht gegen seine Erstattungspflicht dem Grunde nach. Vielmehr macht er, was nicht den Rechtsgrund, sondern Art und Umfang der Erfüllung seiner finanziellen Verpflichtung betrifft, Gegenrechte bis hin zur Verwirkung geltend. Zu solchen Fragen verhält sich das Grundgesetz, wie näher erläutert, nicht. Es geht also gerade nicht im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts um föderale Ansprüche, Abgrenzung von Zuständigkeiten und dergleichen mehr. Die Problemstellung, wie sie hier in Bezug auf den Bund-Länder-Streit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG im Hinblick auf die Verfassungsrechtsnatur einer Streitigkeit erörtert wird, kann sich auch anderweit ergeben. So etwa, wenn politische Parteien fehlerhaft Rechnung legen und deshalb ihnen an sich im Rahmen der Parteienfinanzierung zustehende Geldmittel nicht ausgekehrt werden. Hiermit hat sich das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss vom 17.6.2004 näher befasst.13 Für den vorliegenden Zusammenhang ist dieser Verfassungsrechtsstreit deshalb aufschlussreich, weil die Verfassungsbeschwerde von einer politischen Partei erhoben wurde und für politische Parteien an sich das Organstreitverfahren verpflichtend ist. Auch hier wird auf die Staatsorganisationsebene mit dem verfassungsrechtlichen Grundverhältnis und auf darunter angesiedelte rechtliche Beziehungen zwi-
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BVerwG 7 A 2 und 3.07 – juris. Unter Hinweis auf BVerfGE 81, 310, 319. BVerfGE 111, 54.
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schen am Staatsleben teilnehmenden Institutionen abgehoben. Das Bundesverfassungsgericht legt dar, dass die Beschwerdeführerin als politische Partei im Verfassungsbeschwerde-Verfahren antragsberechtigt ist; denn sie mache die Verletzung von Rechten durch Verwaltungsmaßnahmen – hier durch den vom Präsidenten des Deutschen Bundestages als mittelverwaltende Stelle erlassenen Bescheid – geltend. Grundrechte, die den Parteien unabhängig von ihrem besonderen verfassungsrechtlichen Status wie jedermann zustehen, seien nicht Bestandteil der durch Art. 21 GG geschützten Rechtsstellung und könnten deshalb nicht im Organstreitverfahren verfolgt werden. Ihre Verletzung könne nur auf dem Rechtsweg mit der Verfassungsbeschwerde abgewehrt werden.14 Auch hier wird wiederum sinnfällig, dass Staatsorganisationsrecht und darunter liegende Rechtsebene letztlich doch zweifelsfrei und eindeutig geschieden werden können. Bei allen bisher erörterten Fallgestaltungen war es so, dass das verfassungsrechtliche Grundverhältnis durch seine unmittelbare Anbindung und Zurückführung auf verfassungsrechtliche Organisationsnormen von der darunter liegenden Ebene geschieden werden konnte, weil es sich nicht um „Meinungsverschiedenheiten“ über das Bestehen einer Primärpflicht gehandelt hat, sondern weil Modalitäten in der Abwicklung inmitten standen, ohne dass das verfassungsrechtliche Grundverhältnis hierauf substantiellen Einfluss gehabt hätte. c) Im Gegensatz zu den zuvor geschilderten Sachverhaltsgestaltungen ging es bei dem Organstreit um die „Verhaltensregeln für Abgeordnete“15 um das materielle Verfassungsrechtsverhältnis dem Grunde nach. Zentraler Gegenstand des Rechtsstreits war die Frage, ob die durch das 26. Gesetz zur Änderung des Abgeordnetengesetzes vom 22.8.2005 getroffenen Neuregelungen über die Ausübung des Mandats des Bundestagsabgeordneten, über die Anzeige und Veröffentlichung von neben dem Mandat ausgeübten Tätigkeiten und erzielten Einkünften einschließlich der insoweit vom Präsidenten des Deutschen Bundestages erlassenen Ausführungsbestimmungen und der für den Fall der Nichtbeachtung vorgesehenen Sanktionen mit dem Verfassungsrecht und dem Status des Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 48 Abs. 2 GG, hilfsweise mit den Grundrechten auf informationelle Selbstbestimmung und Berufsfreiheit, vereinbar sind. In der Beurteilung der Verfahrensart und der Parteifähigkeit wie auch der Antragsbefugnis legt das Bundesverfassungsgericht die auch für den BundLänder-Streit und andere Staatsorganisationsstreitigkeiten maßgeblichen Kriterien zugrunde. Es erachtet den Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht für eröffnet, weil vorliegend über den Umfang der Rechte und Pflichten
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BVerfGE 111, 54, 80 f. mwN. BVerfGE 118, 277.
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eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind, gestritten wird. Des Weiteren sind die seinerzeitigen Antragsteller als Abgeordnete des Deutschen Bundestages parteifähig im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG. Sodann wird im Zusammenhang mit der Antragsbefugnis darauf hingewiesen, dass im Organstreit der einzelne Abgeordnete die Verletzung oder Gefährdung jedes Rechts, das mit seinem Status verfassungsrechtlich verbunden ist, geltend machen kann.16 Es geht erkennbar unmittelbar um die Staatsorganisationsebene, um die Ausgestaltung des Status des Abgeordneten des Deutschen Bundestages und den Umfang der Befugnisse für den Gesetzgeber, diesen Status und die Pflichten des Abgeordneten zu konturieren. Alle damit zusammen hängenden Fragen lassen sich unmittelbar auf die Staatsorganisationsebene zurückführen, ihre Beantwortung hängt essentiell von den Vorschriften der Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 48 Abs. 2 GG ab. 3. Der Zugang zum materiellen Verfassungsrechtsverhältnis scheint schwierig zu sein, wenn es sich um eine kommunale Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG handelt. Das wird an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 20.12.2007 zu § 44b SGB II augenfällig.17 § 44b SGB II wurde mit Art. 28 Abs. 2 Satz 1 und 2 in Verbindung mit Art. 83 GG für unvereinbar erklärt.18 Hinter der Begründung steht letztlich der Gedanke, dass es sich bei den durch Gesetz angeordneten Arbeitsgemeinschaften um eine unzulässige Mischverwaltung handele. Dem mag für eine Mischverwaltung als solche so sein; doch selbst dann wäre nicht jede „Mischverwaltung“ von der Staatsorganisationsebene her beachtlich. Die Gemeinden können im Rahmen der kommunalen Verfassungsbeschwerde nur eine Verletzung des Art. 28 GG rügen, nicht hingegen eine Verletzung des Art. 83 GG und nachfolgender Bestimmungen. Wie eingangs unter I. näher ausgeführt, weist das Grundgesetz durch die Eröffnung von nur enumerativen Zuständigkeiten an das Bundesverfassungsgericht zugleich einen begrenzten Prüfungsmaßstab für dieses aus. Die zuvor näher erörterten Beispiele haben deutlich gemacht, dass in jedem Streitfall die Frage zu stellen ist, ob es sich bei den verfolgten Ansprüchen um „Meinungsverschiedenheiten“ in Bezug auf Befugnisse, Zuständigkeiten oder Kompetenzen auf der Staatsorganisationsebene handelt. Die Gemeinden gehören ihr – wie näher ausgeführt – nicht an. Sie haben insoweit nur eine abgeleitete mindere Stellung, die durch das jeweilige Land repräsentiert wird.
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Vgl. im Einzelnen hierzu BVerfGE 118, 277, 316 f. BVerfGE 119, 331 mit abweichender Meinung von Broß, Osterloh und Gerhardt, S. 386 ff. 18 BVerfGE 119, 331, 361 ff. 17
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Von daher hätte sich für die Gegenposition von vornherein die Frage gestellt, ob nicht im Sinne der Subsidiarität, wie sie in anderem Zusammenhang in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG zum Ausdruck kommt, sich eine Kommune vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht vor dem jeweiligen Landesverfassungsgericht hätte bemühen müssen, eine Verpflichtung des Landes herbeizuführen, über den Bundesrat eine entsprechende Initiative zur Änderung des mit Zustimmung des Bundesrates beschlossenen Gesetzes zu ergreifen. Sie macht nämlich im Kern vor dem Bundesverfassungsgericht ein verfassungswidriges Versagen von Landesregierung (und ggf. Landesparlament) geltend. Eine juristische Delikatesse! Möchte man allerdings die in Rede stehende Bestimmung des SGB II wegen Verstoßes gegen Art. 28 Abs. 2 und Art. 83 GG scheitern lassen, bedarf es einiger gedanklicher Anstrengungen. Zunächst einmal muss man die Gemeinden auf die Staatsorganisationsebene im Bereich des Art. 83 GG heben. Des Weiteren ist ein eng umgrenzter Streitgegenstand gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG zu erwägen, weil die kommunale Verfassungsbeschwerde nicht zu einer objektiven allgemeinen Verfassungsaufsicht gleich einer abstrakten Normenkontrolle mutieren kann. Das alles sind Fragen, die in einer Konstellation wie der vorliegenden und anderen auftreten, wenn nicht das zugrunde liegende materielle Verfassungsrechtsverhältnis mit der unmittelbaren Zurückführung auf die Staatsorganisationsebene präzisiert und eingegrenzt, sondern unter allgemein verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zu einem Verfassungsrechtsbehelf der Beliebigkeit umgestaltet wird. Art. 93 Abs. 1 GG lehrt schon durch sein Enumerationsprinzip anderes.
III. Zusammenfassung und Ausblick 1. Was das „materielle Verfassungsrechtsverhältnis“ im Sinne des Staatsorganisationsrechts betrifft, sind in der Entwicklung verschiedene Tendenzen zu beachten und kritisch in den Blick zu nehmen. Es ist gerade im Staatsorganisationsrecht nicht angängig, den „Rechtsschutz“ von Akteuren auf der Staatsorganisationsebene auszudehnen. Dies ist nur möglich, wenn ihnen über ihre durch die Verfassung konturierte Position ein darüber hinausreichender „subjektiver Mehrwert“ zuerkannt wird. Hier wird ein grundlegendes Fehlverständnis des Staatsorganisationsrechts deutlich.19 Die Akteure auf der Staatsorganisationsebene – beim Bund und den Ländern besonders sinnfällig – handeln dort nicht in Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Sie sind immer –
19 Eingehend und überzeugend hierzu mit zahlreichen Nachweisen Müller/Mayer/Wagner Wider die Subjektivierung objektiver Rechtspositionen im Bund-Länder-Verhältnis, Verwaltungsarchiv 93 (2002), S. 585, 94 (2003), S. 127 ff. und 295 ff.
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wie auch die obersten Bundesorgane – als Institution und entpersönlicht in das Staatsorganisationsgeflecht eingebunden. Dieses wird aber nicht von Grundrechten oder ihnen gleich zu erachtenden subjektiven Rechtspositionen geprägt, sondern ausschließlich von Fragen der Kompetenz und Zuständigkeit sowie darauf beruhenden Ansprüchen und Befugnissen. Das bedingt auch, dass ein irgendwie gearteter „Minderheitenschutz“ bei entsprechenden Konstellationen auf der Staatsorganisationsebene nicht unter einem subjektiven Blickwinkel gesehen werden darf. Das wäre nicht nur völlig verkehrt, sondern würde das sorgsam geknüpfte Staatsorganisationsgeflecht in Widerspruch zu Demokratie- wie auch Rechtsstaatsprinzip ins Rutschen bringen und könnte es letztlich zerstören. So kann Minderheitenschutz etwa im parlamentarischen Bereich nicht bedeuten, dass eine nicht vorhandene staatsorganisationsrechtliche Position über eine Anreicherung mit subjektiven Elementen aufgeladen und dieser entgegen der Staatsinstitution „aufgeholfen“ wird. Hierauf ist bei der Beurteilung von Streitigkeiten innerhalb des parlamentarischen Raums gezielte Aufmerksamkeit zu schenken, weil eben auch das Mehrheitsprinzip eine Ausprägung des Demokratieprinzips ist und nicht über Subjektivierung von Minderheitenpositionen unterlaufen werden darf. Es ist also immer danach zu fragen, welche Vorgaben die Verfassung in ihren staatsorganisationsrechtlichen Regelungen im Einzelnen festlegt. Sie dürfen nicht überspielt werden. 2. Bei der Ausgestaltung von Verfahren mit Auswirkung auf die Staatsorganisationsebene ist die Trennlinie, die die Verfassung über das Enumerationsprinzip für Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht in Art. 93 GG zieht, ein deutlicher Hinweis für die rechtliche Bewertung. Da das Bundesverfassungsgericht nicht aufgrund einer verfassungsgerichtlichen Generalklausel, sondern nur in einzelnen vom Verfassungsgeber genau umschriebenen Verfahren und zudem nur nach dem Antragsprinzip zur Entscheidung berufen ist, hat diese Wertentscheidung des Verfassungsgebers auch Bedeutung für den Prüfungsmaßstab. Dieser hängt von der konkreten Verfahrensart ab und ist durch diese eng begrenzt. Er darf vom Bundesverfassungsgericht nicht ausgeweitet werden, weil es damit der Wertentscheidung des Verfassungsgebers zuwider handeln würde. Diese Erkenntnis wiederum bedingt, dass Verfahren von Akteuren der Staatsorganisationsebene, die sich aber nicht auf das „materielle (Grund) Verfassungsverhältnis“ gründen, sondern auf rechtliche Beziehungen zwischen ihnen auf der darunter liegenden Ebene, nun nicht beliebig jedem Instanzgericht der zuständigen Fachgerichtsbarkeit zugewiesen werden dürften. Der Symmetrie zwischen den „Rechtsuchenden“ und ihrer Stellung auf der Staatsorganisationsebene kann im demokratischen Rechtsstaat nur angemessen dadurch Rechnung getragen werden, dass solche – gleichsam Annexstreitigkeiten zur Staatsorganisationsebene – vor den jeweils obersten Gerichtshöfen des Bundes der zuständigen Fachgerichtsbarkeit angesiedelt werden.
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Jede andere Lösung widerspräche der Stellung auf der Staatsorganisationsebene. Vor diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber in § 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO und etwa in § 36 des Gesetzes zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages jeweils sachgerechte und der Problematik angemessene Regelungen zur Abgrenzung der Zuständigkeit von Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, diese repräsentiert durch das jeweils oberste Gericht, getroffen. 3. Allerdings ist in Bezug auf die mögliche weitere Entwicklung zu erwägen, ob für Staatsorganisationsstreitigkeiten der Grundsatz der Subsidiarität für die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts nicht der Fortentwicklung bedarf. Das würde etwa für Staatsorganisationsstreitigkeiten bedeuten, dass im Entscheidungsfindungsprozess auf der Staatsorganisationsebene jeder Akteur die ihm dort zur Verfügung stehenden Mitwirkungsmöglichkeiten in Anspruch nehmen und von ihnen vollumfänglich Gebrauch machen muss.20 Versäumnisse in dieser Hinsicht können dann nicht mehr durch die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts in einem Staatsorganisationsrechtsstreit behoben und geklärt werden. Konkret würde das für eine parlamentarische Minderheit bedeuten, dass sie nicht gegen Maßnahmen der Exekutive vor dem Bundesverfassungsgericht vorgehen kann, wenn sie im Gesetzgebungsverfahren zu der inmitten stehenden Problematik keinerlei Stellung genommen und vor allem keinen Versuch unternommen hat, das nunmehr beanstandete Ergebnis des parlamentarischen Entscheidungsfindungsprozesses mit den ihr zur Verfügung stehenden parlamentarischen Mitteln zu verhindern. Desgleichen wäre es einem Land verwehrt, im Bund-Länder-Streit gegen den Bund vorzugehen, wenn es im Bundesrat eine entgegenstehende positive Stellung bezogen hatte. Diese Überlegungen gelten auch für die kommunale Verfassungsbeschwerde, für die über die in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG angeordnete Subsidiarität hinaus auch danach zu fragen ist, ob ungeachtet eines nichtbestehenden materiellen Verfassungsrechtsverhältnisses auf der Staatsorganisationsebene des Bundes deren Erhebung zum Bundesverfassungsgericht zwangsläufig schon daran scheitert, dass die nach Landesverfassungsrecht eröffneten prozessualen Möglichkeiten zum Landesverfassungsgericht nicht ergriffen wurden.
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In diese Richtung bereits BVerfGE 68, 1, 77 f.
Die Kommunale Selbstverwaltung – Grundgestalt unseres demokratischen Gemeinwesens Konrad Deufel I. Einleitung „Ohne Städte ist kein Staat zu machen“, lautete vor einigen Jahren das Thema einer Hauptversammlung des Deutschen Städtetags, der Zusammenkunft aller Großstädte und zahlloser großen, mittleren und kleineren Städte in der Bundesrepublik. War das großsprecherisch oder nur selbstbewusst, übertrieben oder zutreffend? Richtig ist, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Aufbau des Landes zuerst in den Städten begann, lange bevor die Bundesrepublik Deutschland konstituiert wurde. Nicht anders nach der Wiedervereinigung: Die Kraft des Neuanfangs im gemeinsamen Land entstand in den Rathäusern der Städte der ehemaligen DDR. Im „Deutschen Wörterbuch“ der Brüder Grimm ist der Begriff „Stadt“ ein durch Mauern, Türme und Tore befestigter Ort, auch ein mit „besonderen Rechten der Selbstverwaltung und Jurisdiction begabter Ort, wobei die Befestigung etwas Selbstverständliches, aber mehr oder weniger Nebensächliches ausgemacht habe“.1 Schiller findet in seinem Gedicht von der Glocke dazu die klugen Worte: „Heilige Ordnung, segensreiche Himmelstochter, die das gleiche frei und leicht und freudig bindet, die der Städte Bau gegründet“2, will sagen: Die Stadt schafft Ordnung, Freiheit, Gleichheit und gewährt so Lebensperspektive und Zuversicht.
1
Grimm Deutsches Wörterbuch, 10. Band/II. Abt., I. Teil, Leipzig/Berlin 1960 (Nachdruck München 1984), 421 f. 2 AaO, 423.
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Das war schon bei den frühesten Städtegründungen so: – Jericho entstand im Übergang vom 9. zum 8. Jahrhundert vor Christus, war ummauert, ist als wirtschaftliches Zentrum mehrmals überfallen worden und die Bibel erzählt von der Eroberung dieser Stadt mit Pauken und Trompeten. – Seit dem 5. Jahrhundert vor Christus gibt es Städtegründungen in den fruchtbaren Tälern von Nil, Euphrat und Tigris. – Seit dem 2. Jahrhundert vor Christi Geburt entwickelten sich im östlichen Mittelmeerraum bedeutende Städte: Knossos, Kreta – und allen voran als Beispiel städtischer Demokratie und Selbstverantwortung: Athen und Korinth. – Vom 1. Jahrhundert nach Christus an begannen die römischen Stadtgründungen am Rhein, dem Strom von Verkehr und Handel; sie sind organisatorische Mittelpunkte des öffentlichen Lebens, politische, kulturelle und wirtschaftliche Zentren. – Nach dem Zusammenbruch des römischen Reiches leben diese Städte weiter und es kommt später die Entstehung spezifisch städtischer Lebensformen hinzu: Köln, Trier und die Pfalzen entlang der Heer- und Handelsstraßen, an Dom und Bischofssitzen, oft die Kaufmannssiedlung in Anlehnung an eine Burg. – Etwa seit 1120 gibt es planmäßige Stadtgründungen mit wesentlichen Rechten: Marktrecht, Zunftwesen, dem Recht auf Selbstverteidigung. „Nach Jahr und Tag“ hieß es und „Stadtluft macht frei“, frei von Bevormundung, Fron, Zehntem und Kriegsdienst für den Fürsten, wenn man einen Tag länger als ein Jahr sich in einer Stadt aufgehalten hatte. Diese Freiheit, die Rechtsgleichheit und die besseren wirtschaftlichen Möglichkeiten waren es, die die Städte zu Anziehungspunkten und zu Zentren der Entwicklung gemacht haben. Das hat Schiller in seinem Lied besungen. Stellt man darüber hinaus einen Vergleich an, in welcher Weise Staatsgeschichte oder Stadtgeschichte im öffentlichen Bewusstsein verankert sind, so wird man leicht finden, dass Staatsgeschichte in den Geschichtsbüchern steht, Stadtgeschichte aber lebendige Wirklichkeit ist: Wie wichtig den Bürgerinnen und Bürgern die Geschichte ihrer Stadt ist, zeigt sich an den zahlreichen Wiederaufbauten alter Gebäude nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und übrigens genauso der beispielhafte Erhalt und Wiederaufbau alter Stadtkerne nach der Wende in den neuen Bundesländern. Was macht heute darüber hinaus eine Stadt eigentlich aus? Sind es Häuser, Straßen, Plätze, Wasser, Strom, Straßenlaternen und Autos? Oder gehören nicht auch dazu Kindertagesstätten, Alteneinrichtungen, Jugendclubs, Krankenhäuser, Museen, Kinos, Musik, Kultur, regionale Kunst, eine gute Einkaufslandschaft, eine funktionierende Innenstadt, schöne Wohnlagen und
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eine fruchtbare Beziehung ins Umland der Städte: Das ist es wohl, was die Städte heute darstellen sollen und anbieten müssen. Auch das Bruttosozialprodukt unseres Landes wird im Wesentlichen in den Städten erarbeitet: Dort wird um Arbeitsplätze gekämpft, für Arbeitsplätze gesorgt, dort sucht man den engen Kontakt zu den ortsansässigen Firmen – aller Globalisierung zum Trotz –, dort wirbt man um Ansiedlung neuer Investoren, dort finden Menschen Lebenszufriedenheit, weil Arbeit ihrem Leben Sinn und Existenz gibt. Es dürfte sich also lohnen, über diese Grundgestalt unseres demokratischen Gemeinwesens nachzudenken, sich auf seine Grundlagen, seine Strukturen und die anstehenden Herausforderungen zu besinnen.
II. Grundlagen Am Anfang der Geschichte der Kommunalen Selbstverwaltung steht die Idee der Freiheit. In den Städten konnte man der Armut auf dem Lande entgehen, es gab die sichernde Struktur der Zünfte, die Möglichkeiten des Lebens und Arbeitens stellten sich viel stabiler dar, es gab Ansätze des Gesundheitswesens mit Ärzten, Apotheken und Spitälern – und man war nach Jahr und Tag frei von den Lasten gegenüber dem früheren Lehnsherren. Darüber hinaus konnte man in der Stadt weiterkommen: Von außerhalb der Zünfte in die Zünfte hinein, in besonders erfolgreichen Lebenslagen bis in den Rat.3 Allerdings griff die Gesetzgebung des Rates als wichtigster Rechtsquelle „tiefer in das Leben der Stadtbewohner ein als die entsprechenden ländlichen Normen“4: So zum Beispiel durch Bauordnung, Lebensmittelrecht, Polizei, städtisches Strafrecht. Die Schönheit und das Gleichmaß des Städtebaus in Spätmittelalter und Renaissance, nicht nur in den italienischen Städten, sind regelmäßig in der strikten Anwendung und Durchsetzung der baurechtlichen Vorschriften begründet. „Die Dialektik von Rechtssicherheit und Zwang, von Frieden und obrigkeitlicher Gewalt bestimmte … das Zusammenleben in den Städten; das Gewaltmonopol der politischen Führung hatte hier seine Anfänge.“5 Nun wurde allerdings – ein zweiter Schritt hin zur Erweiterung der Räume innerstädtischer Freiheit – „in nicht wenigen Städten … im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts die traditionelle Herrschaftsordnung umgestürzt“ 6: Die wenigen tonangebenden Familien, die die Macht im Rat inne hatten, 3 Vgl. Boockmann Die deutschen Städte am Ende des Mittelalters, in: Das Reich und die Deutschen/Stauferzeit und spätes Mittelalter/Deutschland 1125 bis 1517, Berlin 1987, 362, 364. 4 AaO, 368. 5 AaO, 370. 6 AaO, 367.
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wurden oft gewaltsam aus ihren Machtpositionen verdrängt, mussten sie mindestens ganz oder teilweise mit neuen Mitgliedern des Rates teilen, die aus den Zünften kamen. Oft hatten die Zünfte schon zuvor zum Ausdruck gebracht, dass ihnen eigentlich die Macht zustehe: So ist der Giebel des „Knochenhaueramtshauses“ in Hildesheim vis-a-vis zum Rathaus – trotz leicht abfallenden Marktplatzes – höher als der First des Rathauses; hier wollte die Zunft der Metzger dem Rat zeigen, wer die wirtschaftliche Macht in der Stadt in Händen hatte. Am Ende des Mittelalters „waren es die Städte und nicht die Burgen oder Klöster auf dem Lande, in denen sich die Wege der Waren und die Bahnen der Gedanken kreuzten“7. Bald suchten viele Städte auch einen Zusammenhalt: Sie schlossen sich zum Bund der Hanse zusammen, übrigens keineswegs nur auf die Städte am Meer beschränkt, man baute die Handelsrouten mit Städten als Zwischenstationen aus und trug so zur wirtschaftlichen Entwicklung der eigenen Stadt und des ganzen Landes bei. Die wesentliche Grundlage für die Kommunale Selbstverwaltung schuf dann allerdings die Preussische Städteordnung vom 19.11.1808, die auf Freiherr vom und zum Stein zurückging, dem Reformer der preußischen Staatsverwaltung. Was ursprünglich auch zur Stärkung der Widerstandsmöglichkeiten Preußens gegen Frankreich gedacht war, wurde zur Stärkung im Staatsaufbau durch Mitarbeit und Mitverantwortung des Bürgers8. Dadurch wurde die „politische Partizipation jedes männlichen Bürgers erreicht, der nur noch einen Einkommensnachweis, aber keine Zugehörigkeit zu einer Zunft oder einer anderen Kooperation mehr benötigte“9. Dieses preußische Vorbild führte unter anderem dazu, dass in Baden 1831 ähnliche Strukturen des Gemeinderechts auf dem Hintergrund naturrechtlicher Ideen eingeführt wurden, nachdem zuvor schon das Bayrische Gemeindeedikt von 1818 und in Württemberg das Verwaltungsedikt von 1822 auf die „Allseitigkeit des gemeindlichen Wirkungskreises gerichtet“ 10 war. Dass die Städte ihre Verantwortung sehr ernst genommen und ihren Aufgabenbereich umfassend selbst definiert haben, lässt sich am Elberfelder System erkennen. Es ist dies ein 1852 eingeführtes System der Hilfe für die Armen nach den Grundsätzen der Dezentralisierung, der Individualisierung und der Ehrenamtlichkeit: die öffentliche Aufgabe der Armenpflege unter der Regie der Stadtverwaltung durch ehrenamtliche Hilfsorgane. Diese Struktur wurde vielerorts übernommen und war die Grundlage für das, was wir heute Sozialhilfe nennen. 7
AaO, 356. Vgl. Wallthor Stein, Karl Freiherr von und zum, in: Staatslexikon, Freiburg/Basel/ Wien, 7. Auflage, 1989, 278. 9 Duchhardt Stein – Eine Biographie, Münster 2007, 198. 10 Becker u.a., Gemeinde, politische, in: Staatslexikon, Herder 1986, 823. 8
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Ähnliches gilt für die meisten Sparkassen, gemeinnützig und sozial orientiert, ehemals als Teil städtischer Verwaltung und mit dem Ursprung in der „mündelsicheren Anlage“: Damit sollte das Vermögen der Vollwaisen vor dem Zugriff des Vormundes bis zur Volljährigkeit des Mündels geschützt sein, eine Aufgabe der Kommunalen Selbstverwaltung, die sie zum Schutze für die Minderjährigen sich selbst gestellt hatte. Den nächsten Schritt vollzog sodann die Weimarer Reichsverfassung. Unter dem Gesamttitel „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“ und unter dem Untertitel „Das Gemeinschaftsleben“ definiert Art. 127 WRV die gemeindliche Selbstverwaltung. Ein wesentlicher Fortschritt lag allerdings in Art. 17, II WRV, der auch für die Organe der Kommunalen Selbstverwaltung galt, nämlich das allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Wahlrecht. Bisher war der Handlungsraum des liberalen Bürgertums durch Wahlrechtsbeschränkungen innerhalb des Obrigkeitsstaates „wohl abgeschottet gegen die Dominanz breiter Volksmassen“ 11, jetzt war der Freiheitsund Selbstbestimmungsgedanke umfassend verfassungsrechtlich grundgelegt. Was so hoffnungsvoll mit „Weimar“ begonnen hatte, erlebte durch den nationalsozialistischen Umsturz des Jahres 1933 eine tiefgreifende Veränderung: Die Einführung des Führerprinzips, die Ausrichtung der Kommunalpolitik an Zielen der Staatsführung und die Zwangseingemeindungen führten zum Niedergang der Idee der Kommunalen Selbstverwaltung. Dem freiheitlichen Gedanken der Kommunalen Selbstverwaltung konnte diese Phase nationalsozialistischer Unterdrückung allerdings nichts anhaben. Die ersten Gemeindeordnungen nach 1945 haben noch provisorischen Charakter 12, aber im Grundgesetz des Jahres 1949 definiert als Grundrecht eigenen Typs. Art. 28, II, 1: „Den Gemeinden muss das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln.“ Damit garantiert diese Vorschrift die Satzungsautonomie, die Organisationshoheit, die Personalhoheit, die Finanzhoheit, die Gebietshoheit und die Planungshoheit der Städte und Gemeinden, als Gemeindeverbände auch die der Landkreise, in der Bundesrepublik Deutschland. Diese können in frei gewählter Rechtsform gemeindliche Einrichtungen, zum Beispiel der Wirtschaft, Umwelt und Energieversorgung betreiben; die gemeindliche Autonomie umfasst die Ermessens-, Gestaltungs- und Weisungsfreiheit bei 11
Rudzio Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2006,
333. 12
Vgl. Becker 824.
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gleichzeitiger Gesetzesbindung.13 Dabei sind Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft „diejenigen Bedürfnisse und Interessen, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben“ (BVerfGE 79, 127/151; BVerfGE 92, 56/62). So sind die Städte und Gemeinden politisch-verwaltungsmäßige Wirkungseinheiten, die die Bevölkerung in ihrer sozialen Unterschiedlichkeit und räumlichen mobilen Orientierung örtlich einbeziehen; sie sind Anknüpfungspunkte demokratischen Lebens, Fundament der Demokratie und Ebene vielfältigen öffentlichen Handelns.14 Garanten der Rechtsstellung der Kommunalen Selbstverwaltung sollen die Länder sein und nach der Föderalismusreform darf der Bund gemäß Art. 84 GG den Kommunen zukünftig keine Aufgaben mehr direkt übertragen, was übrigens ganz aktuell bei der Frage der Ausweitung der Kindertagesstätten mit Krippenplätzen – einer Initiative der Bundesregierung – bereits zu erheblichen verfassungsrechtlichen und strukturellen Problemen geführt hat. Das Gemeindeverfassungsrecht ist in den Ländern zum Teil neu geordnet worden: Die Zweigleisigkeit in der Stadtspitze ist beendet oder läuft aus, überall werden die Oberbürgermeister und Bürgermeister direkt gewählt, oft auch die Landräte. Die Kompetenzen der jeweiligen Hauptverwaltungsbeamten sind in den verschiedenen Gemeindeordnungen allerdings höchst unterschiedlich ausgebildet, dabei sagen rechtliche Gegebenheiten gelegentlich nur wenig über die tatsächlichen Machtverhältnisse aus. Überall sind repräsentative Elemente eingeführt, wobei die Gremien mit Initiativ- und Kontrollaufgaben doch Teil der Verwaltung sind und nicht im engeren Sinn als „Parlament“ gelten können. Es lässt sich festhalten: Die Geschichte der Städte in Deutschland ist – mit Unterbrechungen – die einzige bis heute im Wesentlichen durchgehende Linie der Freiheitsgeschichte in unseren deutschen Landen.
III. Aufgaben, Probleme, Herausforderungen So sehr die Kommunale Selbstverwaltung in der Bundesrepublik auf diese Wurzeln stolz sein kann, so sehr muss sie sich der täglichen Bewährung stellen und die Berechtigung ihrer Existenz in dieser in Europa eher ungewöhnlichen, weil eben so umfassenden Form, beweisen.
13 Vgl. Jarras/Pieroth Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, München 2004, 670. 14 Vgl. Lübking Gemeinde, in: Fachlexikon der sozialen Arbeit, Baden-Baden 2007, 175.
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1. Politisierung Auch wenn die Gemeindeordnungen nun weitgehend einander angepasst sind, wird im Alltag die Tendenz zu einer politischeren Sicht in den Kommunen unübersehbar 15: Es gibt kommunalpolitische Grundsatzprogramme der Parteien; die Parteien wissen, wollen sie in Land und Bund regierungsfähig werden oder bleiben, müssen sie in den Rathäusern beginnen. Die kommunalen Gremien sind dabei oft in Gefahr, zu politischen Parlamenten zu mutieren, weg von ihrer ursprünglichen Aufgabe, Teil der Verwaltung zu sein. Dazu kommt andererseits das Aufkommen von Bürgerinitiativen, die sich oft nur einem einzigen Problem verschreiben und denen viele Gemeindeordnungen die Möglichkeit zu Bürgerentscheiden einräumen. Übrigens hat BadenWürttemberg eine lange und gut eingeübte Tradition: So heiß umkämpft manche Bürgerentscheide sind und so heftig gestritten wird, allenthalben trägt das letztendlich erzielte Ergebnis doch zur politischen Befriedung bei. Die Freien Wählergruppen hingegen, die früher oft eine große Rolle gespielt haben, treten – mit Ausnahmen, so zum Beispiel neuerdings in Bayern – eher zurück, reichen auch selten an die Einflussmöglichkeiten politischer Parteien vor Ort heran, weil ihnen die landes- oder bundespolitische Verknüpfung fehlt. So wie einerseits die plebiszitäre Bürgermeisterverfassung einen Siegeszug hinter sich hat16, steigt andererseits die Belastung der ehrenamtlichen Mitglieder kommunaler Gremien deutlich an 17. Nicht nur, dass man – um zum Beispiel Ratsmitglied zu werden – sich dauerhaft im vorpolitischen Raum, von der Elterninitiative bis zum Kirchenchor und auch in der Partei und ihren Gremien engagieren muss, die Mitarbeit in Rat oder Kreistag verlangt die Bewältigung vieler schriftlicher Vorlagen, die Teilnahme an zahlreichen Ausschuss- und Fraktionssitzungen bis hin zur abschließenden Sitzung von Rat oder Kreistag. Das führt vielfach dazu, dass sich zum Beispiel Mittelständler oder Freiberufler kaum die Mitarbeit leisten können und sich das Schwergewicht der Gremienmitgliedschaft in den Bereich des öffentlichen Dienstes, auch hin zu Rentnern und Pensionären verlagert. Damit wird immer mehr die eigentlich doch nötige Querschnittsrepräsentanz aus der Bürgerschaft für die kommunalen Gremien verfehlt. Zudem führt die Überlastung der ehrenamtlich Tätigen regelmäßig dazu, dass die Verwaltung die Initiative ausüben will und wird, sie ihre Anträge einbringt und – durchaus mit Modifikationen nach den Beratungen – auch durchsetzt.18 Dieses geschieht umso leichter, als manche Verwaltung die von ihr angedachten Vor-
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Vgl. Rudzio 334. AaO, 340. Vgl. aaO, 342. Vgl. aaO, 345.
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haben mit dem überall bestehenden „Kreis einflussreicher Vorentscheider“19 abstimmt, um letztendlich auch etwas bewegen zu können. Problematisch wäre dieses Verfahren im Übrigen nur dann, wenn es sich dabei um undurchschaubare Zirkel handelte, anders aber, wenn die Abläufe transparent und die handelnden Personen bekannt und in ihren Entscheidungen erkennbar sind. 2. Finanzierung Auch wenn der Kommunalen Selbstverwaltung Verfassungsrang zukommt, so hängt ihre Gestaltungskraft doch wesentlich von ihrer wirtschaftlichen und finanziellen Stärke ab. Tatsächlich aber haben Gemeinden und Kreise bei vielen Entscheidungen von Bund und Ländern „nur die Stellung von Hintersassen der Bundesländer“ 20. Schon lange kämpfen die kommunalen Spitzenverbände, also die Vereinigungen der Städte, Gemeinden und Landkreise im Bundesgebiet, darum, förmlich und nicht nur durch Anhörung am Gesetzgebungsverfahren beteiligt zu werden; bislang ohne Erfolg. Im Hinblick darauf, dass mittlerweile zahlreiche Aufgaben von Bund oder Land den Kommunen zur Erledigung übertragen sind, wäre das für die Umsetzung von Gesetzen und die Finanzierung der Dienstleistungen von besonderer Bedeutung. Das zeigt sich an erster Stelle im Bereich der Finanzen. „Kommunale Selbstverwaltung“ wird ein hohler Begriff, wenn die wirtschaftlichen Nöte der Kommunen immer größer und damit die Gestaltungsspielräume immer geringer werden. Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass übertriebenen Begehrlichkeiten nicht immer notwendige Grenzen gesetzt worden sind, mancher Rat, manche Verwaltung auch gern das Füllhorn ausgeschüttet hat und manche Entscheidung wenig verantwortlich war. Das allein ist aber nicht die Wurzel der kommunalen Finanzkrise. Die wechselhafte wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte, von Bund und Ländern übertragene Aufgaben ohne ausreichende Finanzierungserstattung, die notwendige Beteiligung der Kommunen an der innerdeutschen Solidarität, das alles waren wesentliche Gründe für das Anschwellen der Schulden der Kommunen und die zunehmende Beschränkung der kommunalen Finanzkraft. Erst neuerdings greift der Gedanke der Konnexität, wonach der staatlichen Aufgabenübertragung der finanzielle Ausgleich folgen muss. Die finanzielle Situation der Kommunen in Deutschland ist dennoch durchgängig außerordentlich schwierig geblieben; es gibt zwar wirtschaftlich besonders bevorzugte Städte und regionale Räume, das ändert aber nichts daran, dass der Grad der Verschuldung grundsätzlich steigt. Auch die Kassenkredite nehmen
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AaO, 346. AaO, 350.
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dramatisch zu, dabei sind diese doch nur dafür gedacht, kurzfristige Liquiditätslücken zu überbrücken, nicht aber laufende Ausgaben der Kommunen mit einer gewissen Dauerhaftigkeit zu decken. 3. Privatisierung Manche Stadt hat sich daher darauf besonnen, verstärkt zu privatisieren, andere sagen, „das Tafelsilber zu verkaufen“. Dass sich die Einschätzungen dabei wandeln, liegt auf der Hand. So stand vor Jahren die Privatisierung der Stadtwerke, verantwortlich für Strom, Gas, Wasser und meist auch für den öffentlichen Personennahverkehr, als besonders dringlich auf der ordnungspolitischen Agenda. Das Ziel war mehr Markt, Verbesserung der Standortqualität Deutschlands im Energiesektor und für alle am Ende günstigere Preise. Gewiss war es nicht falsch, private Energieunternehmen in der Folge mit ihrem technischen und wirtschaftlichen Know-how in die Stadtwerke hineinzunehmen und mancher Haushalt einer Kommune hat durch den dabei erzielten Kaufpreis wesentliche Entlastung erfahren. Die ursprünglichen Markterwartungen sind aber keineswegs eingetreten, denn mittlerweile haben derzeit Oligopolisten den deutschen „Markt“ fest im Griff. Allenthalben regt sich auch deswegen Widerstand bei den Bürgern, wenn „ihre“ Stadtwerke verkauft werden sollen, so zuletzt in Düsseldorf und in Leipzig. Dazu kommt, dass sich die Stadtwerke neu auf ihre Stärken besinnen, weit mehr als bisher eigene Energieerzeugung anstreben und im Bereich der regenerativen Energien sich zu Schrittmachern entwickeln.21 Ähnlich zwiespältig stellt sich die Situation beim Verkauf von kommunalem Wohnungsbestand dar. Gewiss kann eine Stadt sich schuldenfrei stellen, wenn sie ihren Wohnungsbestand, zum Beispiel in Form ihrer städtischen Gesellschaft, gänzlich veräußert. Damit gehen aber, weil die Wohnungen meist in ganz bestimmten Stadtteilen kompakt angesiedelt sind, diese Stadtteile komplett in die Hand der Investoren über. Deren Interesse ist – legitimerweise – auf Rendite, aber nicht darauf gerichtet, zu Lasten des Gewinns sich in meist problematischen Stadtbereichen sozial zu engagieren. Wie weit die bei einem solchen Verkauf regelmäßig abgeschlossene „Sozialcharta“ auf Dauer, zum Beispiel beim zweiten oder dritten Weiterverkauf, Bestand hat, wird die Zukunft erst erweisen müssen. Dass die Bürger einen solchen Totalverkauf ablehnen, hat zuletzt ein Bürgerentscheid in einer süddeutschen Großstadt, nämlich in Freiburg i.Br, erwiesen.
21 Vgl. dazu auch Reck Die Zukunft der Stadtwerke – Megatrends für die Kommunalwirtschaft, ICG-Stadtwerkekongress 2007/Dresden, 27.11.2007 (www.vku.de), 2–10, 18–21.
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Ähnliche Betrachtungen lassen sich auch anstellen – mit allem Für und Wider – für den Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens, nämlich der kommunalen Krankenhäuser, wo der Trend zur Privatisierung weiter zunimmt, beim öffentlichen Personennahverkehr, bei Wasser und Abwasser, nicht zuletzt bei Straßenunterhaltung, Straßenreinigung, Winterdienst und Grünflächenbetreuung. Jede Kommune muss hier für sich nach ihren Kriterien abwägen und entscheiden und es ist bemerkenswert, dass hier mittlerweile bei Kommunen, die sich zu einer nachhaltigen Privatisierung entschlossen hatten, wieder Rekommunalisierungsvorgänge auf den Weg gebracht worden sind. Ganz sicher ist auch zu berücksichtigen, dass dann, wenn eine Stadt tatsächlich schuldenfrei geworden ist, gerade wieder neue Begehrlichkeiten entstehen können, mögen diese aus der Bürgerschaft oder aus dem Rat kommen. 4. Selbstvergewisserung Nichts führt daran vorbei, dass Kommunen sich auf ihren Kern und ihre Möglichkeiten immer wieder neu rückbesinnen müssen: Wie ist der Ruf der Stadt? Wo und wie kann man sich mit anderen Städten zusammentun, um sich gegenseitig zu stärken und zu stützen? Was erwarten die Bürger von ihrer Stadt: was muss sie davon selbst erledigen, wo handelt sie aus eigener Entscheidung, wo sind ihr Pflichten gesetzlich übertragen worden, wo hat sie Aufgaben freiwillig übernommen, und sodann: muss sie das, was sie tut, selbst erledigen, kann und soll sie sich durch Dritte dabei helfen lassen oder wo können Aufgaben Dritten ganz übertragen werden? Nach Innen, in die Verwaltung selbst betrachtet: Lassen sich Aufgaben „schlanker“ erledigen? Macht man stetige Aufgabenkritik? Sind die Mitarbeiter richtig eingesetzt? Sind sie im Sinne einer klugen Personalpolitik ausreichend qualifiziert und motiviert? Wo kann man Leistungen reduzieren, wo muss man sie ausbauen? Diese selbstkritische Vergewisserung gilt für alle Bereiche kommunalen Handelns: Für Jugend und Soziales, für Kultur und Bildung, für Stadtentwicklung und Städtebau, für Wirtschaft und Wirtschaftsförderung und alle anderen Tätigkeitsfelder. Besonders wichtig ist dabei, die Bürger einzubeziehen; das geschieht durch die öffentliche Diskussion über die Stadtkonzeption, das Leitbild, die Zukunftsperspektiven und durch regelmäßige Überprüfung, ob und wie die Ziele erreicht worden sind. So lassen sich Bürgersinn und Mitverantwortung wecken und erhalten.
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5. Gestaltungsaufgaben Es wäre von vielen Gestaltungsbereichen der Kommunalen Selbstverwaltung zu sprechen, allem voran den Aufgaben der Sozial- und Jugendpolitik. Eine Stadt, die den sozialen Frieden sichert, indem sie gute und verlässliche Infrastruktur für Kinder, Jugendliche und Familien, aber auch für Menschen mit Behinderung, für alte Menschen, für Pflegebedürftige und für Menschen mit Migrationshintergrund anbietet oder für solche Angebote sorgt, qualifiziert sich mit einem wichtigen Standortfaktor. Nicht anders steht es mit den kulturellen Angeboten. Oft haben Städte ein eigenes Theater, ein „Stadttheater“, und sie mühen sich Jahr für Jahr, die Zuschüsse zu sichern. Allem öffentlichen Eindruck zum Trotz betragen die Ausgaben für alle Theater in Deutschland gerade einmal 1,73% der öffentlichen Ausgaben und damit werden immerhin 38.200 Personen beschäftigt. Es mag in der Argumentation zur Erhaltung der Theaterlandschaft – eine in Europa ungewöhnlich vielfältige, von zahlreichen öffentlichen Trägern finanzierte Struktur – der Pisa-Schock recht heilsam gewesen sein. Mit ihm hat sich ein neuer Sinn für ästhetische Bildung, insbesondere für Kinder und Jugendliche entwickelt. Das aber begründet ein Stadttheater nicht eigentlich, so wichtig es auch sein mag. Vermutlich ist darüberhinaus da und dort das Vorhandensein von Schauspielern, Orchestern, Chören und Tänzern in einer Stadt, übrigens auch von Museen, ein vielleicht zu gering geschätzter Reichtum gewesen, ihr breites Einwirken in das gesellschaftliche Leben zu wenig erkannt worden. Es ist eine Kernaufgabe des Theaters, der Kultur insgesamt, „zur falschen Zeit die richtigen Fragen zu stellen“ (Peter Iden). Erst wenn sich Kunst völlig auflösen würde als Schmuck, Unterhaltung oder Werbung, käme sie an ihr Ende. Demgegenüber kann Kunst und Kultur in einer Stadt, zum Beispiel durch das Stadttheater, ein Ort sein, an welchem die Alltagsgetriebenheit konfrontiert wird mit Innehalten, Nachdenken, Kontemplation und geduldigem Erörtern.22 Auch dadurch zeigt sich, was Kommunale Selbstverwaltung leisten kann. 6. Europäisierung Zwar achtet Art. 6, III des Vertrages über die Europäische Union (in der konsolidierten Fassung vom 24.12.2002) „die nationale Identität ihrer Mitgliedsstaaten“, wozu in Deutschland auch die Kommunale Selbstverwaltung gehört, die mit anderen kommunalen Strukturen in Europa wegen des Umfangs der örtlichen Verantwortung nicht vergleichbar ist. Schon zuvor hatte die Europäische Charta der Kommunalen Selbstverwaltung vom 15.10.1985 22 Vgl. Khuon Berliner Lektionen, Thalia-Theater Hamburg 2008 (www.thalia.de/ service/1), 1.
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in Teil 1, Art. 3 und 4 Begriff und Umfang der Kommunalen Selbstverwaltung als europäische Norm formuliert. Dennoch greift „Europa“ immer mehr in die Aufgabenerfüllung der Kommunalen Selbstverwaltung ein. Das geschieht beispielweise im Bereich des Landschafts- und Naturschutzes. Oft wird dadurch die geordnete und sorgfältige, die Belange von Natur und Umwelt vor Ort sehr wohl, aber anders berücksichtigende Entwicklung beeinträchtigt. Weitere Themen überbordender, durch die Kommission gestützter Bürokratie sind viele andere – an sich aus gutem Grund europäisch geregelte – Rechtsfragen, so zum Beispiel die Gleichstellungsrichtlinie und das Antidiskriminierungsrecht, schließlich die außerordentlich komplizierte Antragstellung für Förderung aus europäischen Mitteln und die Unübersichtlichkeit europäischer Fördermaßnahmen als ganzer. Unter dem Begriff der „Daseinsvorsorge“23 will die europäische Kommission immer weiter jene Bereiche regeln, die in Deutschland zur Verantwortung vor Ort zählen. In den Rathäusern und Kreishäusern kann man davon ein Lied singen. Andererseits gibt es zum wachsenden Europa keine Alternative; die Kommunen müssen sich damit zurechtfinden. So sind beispielweise in den letzten Jahren in Deutschland die sogenannten „Metropolregionen“ entstanden, mit denen Städte und Kreise ihre Stärken bündeln, ihre Schwächen ausgleichen, einen gemeinsamen Antritt suchen und sich so in Gesamteuropa neu positionieren. Im Übrigen waren und sind es auch die Städte, die Europa vorantreiben: so geschehen zum Beispiel bei der Entstehung der deutsch-französischen Freundschaft und derzeit mit Partnerschaften, die über den Kreis des heutigen Europa hinaus zu Städten in den Bereich der ehemaligen Sowjetunion reichen. 7. Bevölkerungsentwicklung Eine ganz besondere Herausforderung liegt in der demographischen Entwicklung unseres Landes. Wenn Städte von einem Rückgang ihrer Bevölkerungszahl betroffen sind, können schwerwiegende Folgen eintreten: Die Zahl allein lebender Menschen steigt an, die Haushalte altern, die Schülerzahlen sind rückläufig, die Nachfrage nach Freizeit- und Kulturangeboten verändert sich, der Immobilienmarkt unterliegt einem erheblichen Wandel, der Pflegebedarf für Ältere steigt, die Unternehmen finden nicht mehr genug Nachwuchskräfte und wechseln den Standort, weswegen die Steuereinnahmen sinken, kurz: Die Anforderungen an die städtische Dienstleistung ver-
23 Vgl. dazu Kämmerer Daseinsvorsorge als Gemeinschaftsziel oder: Europas soziales Gewissen, in: NVwZ 2002, 1042 ff.
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ändern sich tiefgreifend.24 Wer das als Bedrohungsszenario wahrnimmt, hat schon verloren, denn demographischer Wandel kann auch zu Innovationen führen: Qualifizierung und Weiterbildung, Veränderung des Wohnungsmarktes durch neue Wohnformen, Pflegekonzepte, die Ambulant und Stationär verknüpfen, angepasste Angebote für Kultur, Freizeit, Bildung und Konsum, Maßnahmen zur Vereinbarung von Familie und Beruf, Mehrgenerationenhäuser zur Begegnung zwischen Alt und Jung, Weiterentwicklung des Nahverkehrsnetzes: Jede Stadt kann und muss ihre eigenen Ideen entwickeln, Kommunale Selbstverwaltung wird sich auch bei diesem Wandel beweisen.
IV. Schluss Die Kommunale Selbstverwaltung ist auch Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips: Was auf dieser Ebene erfüllt werden kann, soll die nächst höhere Ebene nicht an sich ziehen, denn was die Kommunale Selbstverwaltung kann, hat sie in Geschichte und Gegenwart bewiesen. Lebendige und schöne Städte in der Vielfalt unserer Regionen und unseres demokratischen Gemeinwesens prägen unser Land, jede Stadt mit ihrer eigenen Geschichte, ihrem Selbstbewusstsein, ihren alten und neuen Gebäuden, ihren kulturellen Traditionen, ihrer aktuellen Lebhaftigkeit und Lebendigkeit, ihrem ganz eigenen Bürgersinn, ihren Zukunftsperspektiven, ihrem Mut und ihrer Aufbruchstimmung. Die Kommunale Selbstverwaltung ist dann zukunftssicher unterwegs, „wenn die Schönheit unserer Städte der Spiegel einer gerechten, sich ständig erneuernden und damit faszinierenden Gesellschaft ist“ 25.
24 Vgl. zum folgenden Brandt u.a., Zwischen Schrumpfen und Wachsen – Regionale Strategien zur Gestaltung des demographischen Wandels, in: Neues Archiv für Niedersachsen. Zeitschrift für Stadt-, Regional- und Landesentwicklung, 2/2005, 9 f., 11–16. 25 Hammel Unsere Zukunft: Die Stadt, Frankfurt am Main, 1972, 209.
Wohnungsmietrecht und Verfassung Reinhard Gaier I. Einleitung Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Zivilrecht sind immer von besonderer Brisanz. Obwohl das Grundgesetz schon 60 Jahre in Kraft ist und seit dem Lüth-Urteil,1 das die Ausstrahlungswirkung oder mittelbare Drittwirkung der Grundrechte auf das Privatrecht erstmals ausspricht, schon 51 Jahre vergangen sind, werden Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zu zivilrechtlichen Themen nicht selten als unerwünschte Einmischung empfunden. Dem Verfassungsrecht wird dogmatisches Störpotential beigelegt, es erscheint als Fremdkörper in den klaren, bestimmten und fest gefügten Strukturen des Zivilrechts. Gegen die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte wird „Strahlenschutz“ beansprucht.2 So führte vor etwa 15 Jahren ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu einem Mietrechtsfall zu Irritationen. Zu dieser Entscheidung wurde etwa angemerkt, das Bundesverfassungsgericht habe über Nacht ein „Volk von Eigentümern“ erstehen lassen; ein Satz des höchsten deutschen Gerichts habe genügt und der bloße Besitz des Mieters von Wohnraum sei zu Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG erstarkt.3 Damit habe das Privatrecht ein weiteres Stück Eigenständigkeit verloren. Was mit der „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte auf das bürgerliche Recht begonnen habe, habe sich zum Grundrechtsprotektorat über das bürgerliche Recht ausgewachsen: Die Anwendung des Privatrechts werde grundrechtsunmittelbar. Eine weitere Beeinträchtigung von Rechtsklarheit und Rechtsgewissheit sei ebenso abzusehen wie eine weitere Kompetenzverlagerung von den Zivilgerichten hin auf das Bundesverfassungsgericht.4 Was war geschehen? Das Bundesverfassungsgericht hatte in einem Senatsbeschluss aus dem Jahre 1993 nichts anderes getan, als das Recht zum Besitz, das dem Wohnungsmieter nach dem Zivilrecht zukommt, dem Schutz des
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BVerfGE 7, 198, 207. Vgl. Kenntner NJW 2005, 785, 788. 3 Depenheuer NJW 1993, 2561; krit. auch Rüthers NJW 1993, 2587; Sendler NJW 1994, 709; zustimmend jedoch etwa Derleder WuM 1993, 514. 4 Depenheuer NJW 1993, 2561, 2564. 2
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Art. 14 Abs. 1 GG zu unterstellen.5 Die Befürchtung, das Wohnungsmietrecht werde von nun an vom Verfassungsrecht dominiert, dürfte schon damals ohne Grundlage gewesen sein; noch viel weniger berechtigt war von Anfang an der Vorwurf einer „Umverteilung von Grundrechtsubstanz.“6 Den Vermietern wurde nichts genommen, den Mietern nichts gegeben. Eigentum wurde nicht sozialisiert und schon gar nicht zugunsten der Mieter enteignet.
II. Grundlagen Treffen Mietrecht und Verfassungsrecht aufeinander, sind zwei Besonderheiten zu beachten, die zunächst als bloße begriffliche Probleme erscheinen, tatsächlich aber einen nicht geringen Beitrag zu Verständnisschwierigkeiten leisten können. 1. Eigentum Für mietrechtliche Fragestellungen ist in erster Linie die Eigentumsgarantie aus Art. 14 Abs. 1 GG das einschlägige Grundrecht. Das leuchtet aus der Sicht des Vermieters unmittelbar ein, wenn er Wohnungseigentümer7 oder Eigentümer des Hausgrundstücks ist, auf dem die vermietete Wohnung gelegen ist. Der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff geht jedoch über den des Sachenrechts deutlich hinaus. Die Eigentumsgarantie zielt darauf, dem Einzelnen einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich zu sichern und ihm dadurch eine eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens zu ermöglichen. Deshalb wird von ihr nicht nur das Eigentum im sachenrechtlichen Sinne des BGB geschützt, sondern schlechthin jede vermögenswerte Rechtsposition, die das „einfache“ Gesetzesrecht gewährt.8 Der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff umfasst grundsätzlich alle vermögenswerten Rechte, die dem Berechtigten von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet sind, dass er die damit verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben darf.9 Der Eigentumsschutz erstreckt sich daher auch auf Abspaltungen der Nutzungs- und Verwertungsbefugnisse des Eigentümers in Form der beschränkten ding-
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BVerfGE 89, 1, 5 f. So aber Depenheuer NJW 1993, 2561, 2564. 7 Vgl. dazu BVerfG (K) NJW 2005, 801, 802; Maunz/Düring/Papier GG (Stand: Okober 2008), Art. 14 Rn. 56. 8 Vgl. Maunz/Düring/Papier (Fn. 7), Art. 14 Rn. 55; v. Münch/Bryde Bd. I, 5. Aufl. 2000, Art. 14 Rn. 11; Jarass/Pieroth GG, 10. Aufl. 2009, Art. 14 Rn. 7. 9 BVerfGE 83, 201, 208; 95, 267, 300; 105, 17, 30; 112, 93, 107; 115, 97, 111. 6
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lichen Rechte.10 Damit ist der Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG jedoch noch nicht erschöpft. Als Eigentum schützt Art. 14 Abs. 1 GG nicht nur die absolut, also gegenüber allen wirkenden dinglichen Rechte, sondern auch schuldrechtliche Positionen, also die obligatorischen Forderungsrechte, die nur den jeweiligen Schuldner zu einer Leistung verpflichten.11 Vor diesem Hintergrund ist es geradezu zwangsläufig, dass das Bundesverfassungsgericht in der genannten Entscheidung12 auch das Recht zum Besitz des Wohnungsmieters dem Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG unterstellt. Auf der Grundlage der Merkmale, die das Bundesverfassungsgericht als maßgebend für die Annahme von Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG ansieht, kann die Parallelität zwischen Besitzrecht und Sacheigentum und damit der Schutz durch die Eigentumsgarantie schwerlich in Abrede gestellt werden. Das Bundesverfassungsgericht stellt eine dem Sacheigentum vergleichbare rechtliche Zuordnung fest, indem es die gegen jedermann wirkenden Schutzrechte des Besitzers heranzieht, die dem Mieter durch den Vermieter eingeräumt sind (§ 862 Abs. 1, § 861 Abs. 1 BGB). Hinzu kommen der Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB für das Recht zum Besitz als sonstigem Recht im Sinne dieser Norm und das auch im Falle der Veräußerung fortbestehende Recht des Wohnungsmieters zum Besitz aus § 566 BGB.13 Dabei wird nicht verkannt, dass dem Mieter über die Wohnung nur eine eingeschränkte Verfügungsbefugnis zukommt; er kann diese etwa nur in den Grenzen der §§ 540, 553 BGB Dritten zum Gebrauch überlassen. Dies ist jedoch unschädlich. Die grundsätzliche Verfügungsbefugnis über den Eigentumsgegenstand ist zwar ein wesentliches Merkmal des Eigentums auch im verfassungsrechtlichen Sinne; schafft die Rechtsordnung jedoch vermögenswerte Rechte mit nur eingeschränkter Verfügungsmöglichkeit, so sind diese ebenfalls geschützt.14 Es stellt also keine Umverteilung von Grundrechtssubstanz dar, sondern ist die schlichte Konsequenz aus dem Eigentumsverständnis der Verfassung, wenn auch das Recht des Wohnungsmieters zum Besitz dem Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG unterstellt wird. Was aber folgt aus dem Umstand, dass sich bei Konflikten zwischen Vermieter und Mieter grundsätzlich beide Seiten auf die Eigentumsgarantie berufen können? Ist zu befürchten, dass sich beide Grundrechte gewissermaßen blockieren und damit letztlich keine Veränderungen im Mietverhältnis mehr vollzogen werden können, weil Veränderungen zugunsten des Vermieters das Eigentumsrecht des Mieters ebenso entgegensteht wie umgekehrt
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Maunz/Düring/Papier (Fn. 7), Art. 14 Rn. 56; Jarass/Pieroth (Fn. 8), Art. 14 Rn. 9. Vgl. Jarass/Pieroth (Fn. 7), Art. 14 Rn. 8. 12 BVerfGE 89, 1, 5 f. 13 BVerfGE 89, 1, 6 f. 14 BVerfGE 89, 1, 7 unter Hinweis auf BVerfGE 83, 201, 209; vgl. auch BVerfGE 89, 1, 7; 101, 239, 258; 114, 1, 59. 11
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Veränderungen zugunsten des Mieters das Eigentumsrecht des Vermieters? Solch unsinnige Ergebnisse sind in der Verfassung selbstredend nicht angelegt. Geraten unterschiedliche Grundrechtspositionen in multipolaren Rechtsbeziehungen miteinander in Konflikt, so zeigt vielmehr das Gebot praktischer Konkordanz den Lösungsweg auf. Danach darf nicht eine Grundrechtsposition vorschnell zugunsten der anderen aufgegeben werden. Die kollidierenden Grundrechtspositionen sind vielmehr in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden.15 Für die Eigentumsgarantie steht allerdings die Lösung durch Herstellung praktischer Konkordanz, wenn für sie überhaupt Raum sein sollte, jedenfalls nicht im Vordergrund. Der Ausgleich konfligierender Positionen findet hier auf anderem Wege statt und dieser führt zur zweiten Besonderheit des Art. 14 GG. 2. Ausgestaltung a) Grundlagen Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistet „das Eigentum“. Im Unterschied etwa zu Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, der Leben und körperlicher Unversehrtheit schützt, hat die Eigentumsgarantie keinen vorgegebenen, keinen gewissermaßen natürlichen Schutzgegenstand. Eigentum ist – wie schon ausgeführt – eben nur das, was die Rechtsordnung dem Einzelnen als vermögenswertes Recht gibt und ihm mit bestimmtem Inhalt zuordnet. Nur das durch die Gesetze ausgeformte Eigentum bildet den Gegenstand der Eigentumsgarantie und ist verfassungsrechtlich geschützt.16 Art. 14 Abs. 1 GG ist ein normgeprägtes Grundrecht, nicht anders als der Schutz von Ehe und Familie durch Art. 6 Abs. 1 GG oder die Vereinigungsfreiheit nach Art. 9 Abs. 1 GG oder das rechtliche Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG. Es handelt sich – wie Roman Herzog es nannte17 – um ein Grundrecht aus der Hand des Gesetzgebers. Ohne gesetzliche Ausgestaltung ist die Eigentumsgarantie ein leeres Gefäß. Der Gesetzgeber muss dieses Grundrecht zunächst mit Leben füllen. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach die Gesetze Inhalt und Schranken des Eigentums bestimmen, ist in diesem Kontext zu lesen. Obwohl dort von den „Schranken“ des Eigentums die Rede ist, handelt es sich nicht um einen Eingriffsvorbehalt.18 Die Regelung beinhaltet stattdessen ein an den Gesetzgeber gerichtetes Ausgestaltungsgebot.19 Der Gesetzgeber darf daher, um im Bild 15 16 17 18 19
Vgl. BVerfGE 89, 214, 232. Vgl. BVerfGE 24, 367, 396. In Festschrift für Zeidler 1987, Bd. II S. 1415. Vgl. v. Münch/Bryde (Fn. 8), Art. 14 Rn. 50. Ähnlich Dreier/Wieland GG, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 14 Rn. 75.
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zu bleiben, das Gefäß nicht ohne Inhalt lassen, sondern er hat vermögensrechtliche Positionen zu schaffen, die die Bezeichnung als Eigentum verdienen. Die Ausgestaltung ist also aus Sicht des Gesetzgebers Befugnis und Verpflichtung zugleich. Kennzeichnend für die Ausgestaltung durch Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums ist die generelle und abstrakte Festlegung der Rechte und Pflichten hinsichtlich solcher Rechtsgüter, die als Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinne anzusehen sind.20 Es geht also um die Schaffung von Rechtssätzen, die vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an den Inhalt von Eigentumsrechten für die Zukunft in allgemeiner Form bestimmen.21 Die gesetzliche Regelung kann privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Natur sein.22 Lässt sich die Ausgestaltung verfassungsrechtlich nicht beanstanden, so liegt darin keine Einschränkung des Eigentumsgrundrechts.23 Für diese Bestimmung des Eigentumsinhalts kann der Gesetzgeber einen verhältnismäßig weiten Gestaltungsbereich beanspruchen.24 Dies kann allerdings nicht bedeuten, dass der Gesetzgeber beliebig darüber befinden kann, in welcher Weise er das Eigentum ausgestaltet. Wäre das anders, wäre Art. 14 Abs. 1 GG auf Leerlauf angelegt: Könnte der Gesetzgeber im Rahmen seiner Ausgestaltungsbefugnis vermögensrechtliche Positionen nach Gusto einschränken, beschneiden oder gleich ganz entziehen, käme der Schutz der Eigentumsgarantie immer zu spät, weil der Schutz nur an das anknüpfen kann, was das Gesetz zuvor geschaffen hat. Anders gewendet: das Gefäß des Art. 14 GG mag noch so stabil und aus Eisen gegossen sein, sein Mantel bleibt ohne Nutzen, wenn es nicht einen Inhalt von Substanz zu schützen gilt. Das Ausgestaltungsgebot darf daher nicht nur vorgeben, dass das Gefäß zu füllen ist, es muss auch Bestimmungen zum Inhalt treffen. b) Ausgestaltungskorridor Zum Ergebnis der Ausgestaltung lassen sich die maßgeblichen Hinweise der Verfassung selbst entnehmen. Dem Gesetzgeber bleibt für die Ausgestaltung ein Korridor, der einerseits durch die verfassungsrechtliche Anerkennung des Privateigentums und andererseits durch das Gebot einer sozialgerechten Eigentumsordnung begrenzt ist.25
20 21 22 23 24 25
Vgl. BVerfGE 58, 300, 330. BVerfGE 72, 66, 76 mwN. BVerfGE 53, 300, 330. Vgl. BVerfGE 21, 92, 93; 24, 367, 396. Vgl. BVerfGE 21, 73, 83. Vgl. BVerfGE 52, 1, 29.
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aa) Institutsgarantie Die eine Grenzlinie ergibt sich aus dem Umstand, dass die Eigentumsgarantie nicht nur ein Freiheitsgrundrecht zugunsten des Einzelnen zum Gegenstand hat, sondern daneben auch das Privateigentum als Rechtsinstitut gewährleistet.26 Inhalt und Bedeutung dieser Einrichtungs- oder Institutsgarantie werden bisweilen in Zweifel gezogen.27 Sie ist jedoch wegen der Notwendigkeit einer gesetzlichen Ausgestaltung des Eigentums und der daraus folgenden Befugnisse unverzichtbar, eben weil sie dem Gesetzgeber bei der ihm obliegenden Ausgestaltung eine Grenze vorgibt. Die Institutsgarantie verhindert, dass der Gesetzgeber solche Sachbereiche der Privatrechtsordnung entzieht, die zum elementaren Bestand grundrechtlich geschützter Betätigung im vermögensrechtlichen Bereich gehören.28 Hiernach enthält Art. 14 Abs. 1 GG eine konstitutionelle Zusicherung, nach der das Privateigentum als Rechtseinrichtung erhalten bleibt, der Gesetzgeber mithin gehalten ist, einen entsprechenden Kernbestand von Normen zur Verfügung zu stellen.29 bb) Sozialgebot Die andere Grenzlinie markiert das Sozialgebot aus Art. 14 Abs. 2 GG. Hiernach muss der Gesetzgeber bei der Erfüllung seines Ausgestaltungsauftrages das verfassungsrechtliche Konzept eines sozialgebundenen Privateigentums umsetzen. Um dieses Sozialmodell zu verwirklichen, müssen die schutzwürdigen Interessen der Beteiligten in einen gerechten Ausgleich, also ohne einseitige Bevorzugung oder Benachteiligung in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden.30 Innerhalb des Korridors macht die Verfassung ebenfalls Vorgaben für die Ausgestaltung. Denn die Entscheidungen des Gesetzgebers müssen auch in Einklang mit allen übrigen Verfassungsnormen stehen, also insbesondere dem Gleichheitssatz, dem Grundrecht auf Verhaltensfreiheit und den Prinzipien der Rechts- und Sozialstaatlichkeit entsprechen.31 Hieraus ergeben sich für die Regelungsbefugnis des Gesetzgebers unterschiedliche Schranken je nachdem, ob der Schutz individueller Freiheit oder der gesellschaftliche Kontext im Vordergrund steht. Soll das Eigentum im konkreten Fall die persönliche Freiheit des Bürgers im vermögensrechtlichen Bereich sichern, muss der Gesetzgeber beachten, dass der Einzelne hier einen besonders ausgepräg-
26 27 28 29 30 31
Vgl. BVerfGE 20, 351, 355; 58, 300, 339. Vgl. Maunz/Düring/Papier (Fn. 7), Art. 14 Rn. 11; Jarass/Pieroth (Fn. 8), Art. 14 Rn. 4. BVerfGE 24, 367, 389; 58, 300, 339. Maunz/Düring/Papier (Fn. 7), Art. 14 Rn. 11. BVerfGE 52, 1, 29. BVerfGE 14, 263, 278.
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ten Schutz genießt; demgegenüber ist die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers umso größer, je stärker der soziale Bezug des Eigentumsobjekts ist.32
III. Das soziale Mietrecht als Verfassungsauftrag Das geltende Wohnungsmietrecht ist hiernach das Ergebnis des Ausgestaltungsauftrages, den die Verfassung dem Gesetzgeber erteilt hat. Hier werden die beiderseits durch Art. 14 GG geschützten Positionen von Mieter und Vermieter zugeordnet und abgegrenzt.33 Da der grundrechtliche Schutz des Besitzes des Mieters dann mobilisiert wird, wenn ihm dieser entzogen werden soll, geraten zuerst die Vorschriften über die Kündigung des Mietverhältnisses durch den Vermieter in den Blick. Wie schon angedeutet, kann die Lösung nicht darin bestehen, generell dem Bestandsinteresse des Mieters zur Durchsetzung zu verhelfen. Ebenso wenig kann dem Erlangungsinteresse des Vermieters grundsätzlich Vorrang zukommen. Beides wäre kein angemessener Ausgleich, der die beiderseitigen Interessen berücksichtigt. Wie ein solcher aussehen kann, zeigen die Vorschriften über die ordentliche Kündigung des Mietverhältnisses durch den Vermieter (§ 573 BGB) und den Widerspruch des Mieters gegen die Kündigung (§§ 574 ff. BGB). Beide bewegen sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in dem schon beschriebenen Gestaltungskorridor und sind daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.34 1. Kernstück des sozialen Mietrechts § 573 BGB macht die ordentliche Kündigung eines Mietverhältnisses über Wohnraum vom Vorliegen eines berechtigten Interesses abhängig. Die Norm enthält, ansonsten wäre sie angesichts der sozialen Realitäten praktisch wirkungslos, zugunsten des Mieters zwingendes Recht (§ 573 Abs. 4 BGB). Zu Recht wird diese Regelung als Kernstück des sozialen Mietrechts angesehen.35 Sie schützt den Mieter vor einem ins Belieben des Vermieters gestellten Entzug der Räumlichkeiten, die seinen Lebensmittelspunkt ausmachen. Ihr wichtigster Anwendungsbereich, die Eigenbedarfskündigung (§ 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB), soll daher im Folgenden näher betrachtet werden. Die Begrenzung der Möglichkeit, das Mietverhältnis zu beenden, stellt nicht nur einen erheblichen Eingriff in die Privatautonomie und damit in die
32 33 34 35
Vgl. BVerfGE 42, 263, 294; 95, 64, 84; 100, 226, 241. Vgl. BVerfGE 89, 1, 8. BVerfGE 89, 1, 9. So BVerfGE 68, 361, 363.
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durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Verhaltensfreiheit des Vermieters dar. Berührt ist vielmehr auch der Schutzbereich des Eigentums; denn für dieses ist die grundsätzliche Verfügungsbefugnis des Eigentümers über das Eigentumsobjekt kennzeichnend.36 Die Rechtsposition des Eigentümers ermöglicht allerdings auch Willkür und vor ihr hat der Mieter einer Wohnung Schutz verdient. Deutschland liegt mit einer Eigenheimquote von lediglich 41 % mehr als 20 % unter dem europäischen Durchschnitt.37 Daher gilt noch immer, was das Bundesverfassungsgericht schon vor mehr als zwanzig Jahren ausgeführt hat:38 Große Teile der Bevölkerung sind nicht in der Lage, aus eigener Kraft Wohnraum für sich zu schaffen, und daher auf Mietwohnungen angewiesen. Die Mietwohnung ist für diese Menschen Mittelpunkt ihrer Existenz. Ein erzwungener Wohnungswechsel bedeutet eine erzwungene Neuorientierung der Lebensumstände und ist nicht nur mit beträchtlichen Kosten verbunden, sondern auch mit persönlichen, familiären und sozialen Belastungen. Sozialgebundenes Eigentum, wie es Art. 14 GG fordert, kann hier der bloßen Willkür keinen Vorzug geben. Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverfassungsgericht insbesondere die gesetzlichen Regeln zur Eigenbedarfskündigung (§ 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB) als verfassungsgemäß angesehen. Dies ist bereits geschehen, bevor das Bundesverfassungsgericht den Besitz des Mieters ausdrücklich dem Schutz des Art. 14 GG zugewiesen hatte,39 und an diesem Ergebnis hat sich auch in der Folgezeit nichts geändert.40 Die bereits angesprochene Umverteilung von Grundrechtssubstanz zu Lasten der Vermieter fand also auch insoweit nicht statt. 2. Rechtsanwendung Mit der Feststellung, dass die gesetzliche Regelung über die Beschränkung des Kündigungsrechts des Vermieters verfassungsgemäß ist, ist für die Praxis nur ein erster Schritt getan. In einem zweiten Schritt ist noch zu prüfen, ob auch die Auslegung und die Anwendung der maßgeblichen Vorschriften des Zivilrechts den Anforderungen der Verfassung genügen. Da die Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG auch für die Fachgerichte unmittelbar geltendes Recht sind, müssen auch sie die im Gesetz zum Ausdruck kommende Interessensabwägung in einer Weise nachvollziehen, die den Eigentumsschutz auf Seiten des Vermieters wie auf Seiten des Mieters beachtet und unverhältnismäßige Eigentumsbeschränkungen vermeidet.41 36 37 38 39 40 41
Vgl. BVerfGE 101, 54, 74 f. Berliner Zeitung vom 15.3.2003. BVerfGE 68, 361, 370 f. BVerfGE 68, 361, 370 f. BVerfGE 89, 1, 9. BVerfGE 89, 1, 9.
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a) Grundlegende Senatsentscheidungen Für die praktischen Auswirkungen dieser Rechtsprechung gibt das Bundesverfassungsgericht selbst Hinweise unter Heranziehung der eigenen Rechtsprechung.42 Da die Wirksamkeit der Eigenbedarfskündigung einen vernünftigen Erlangungswunsch des Vermieters voraussetzt,43 kann der Mieter verlangen, dass das Gericht seinen hiergegen vorgebrachten Einwänden in einer Weise nachgeht, die der Bedeutung und Tragweite seines Bestandsinteresses gerecht wird. Dazu gehört, dass nachgeprüft werden muss, ob der Selbstnutzungswunsch ernsthaft verfolgt wird oder nur vorgeschoben ist.44 Zu klären ist ferner, ob der geltend gemachte Wohnbedarf weit überhöht ist, oder ob er zwar vorhanden ist, jedoch die Möglichkeit in Betracht kommt, ihn ohne Inanspruchnahme der gekündigten Wohnung zu verwirklichen, etwa weil eine andere im Eigentum des Vermieters stehende Wohnung frei ist, in der der geltend gemachte Wohnbedarf ohne wesentliche Abstriche befriedigt werden könnte. In einer anderen Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, dass sich der Vermieter dieser Prüfung nicht dadurch entziehen kann, dass er die freigewordene Wohnung sofort an einen Dritten weitervermietet, um anschließend die Unmöglichkeit der Nutzung dieser Wohnung geltend zu machen.45 Der Blick darf aber nicht nur auf den Eigentumsschutz zugunsten des Mieters gerichtet sein. Kennzeichnend für die Eigenbedarfkündigung ist das Zusammentreffen zweier Nutzungsinteressen mit beiderseits starkem personalen Bezug. Nicht nur der Mieter, auch der Vermieter will die umstrittenen Räume als Lebensmittelpunkt für sich oder für seine Familienangehörigen nutzen. In einer Senatsentscheidung aus dem Jahr 1989 hat das Bundesverfassungsgericht die Auffassung vertreten, dass in diesem Konflikt zwischen Bestands- und Erlangungsinteresse grundsätzlich dem Anliegen des Vermieters stärkere Durchsetzungsfähigkeit zukomme, weil ihm die Räume als Eigentum zugeordnet seien.46 Die Schlussfolgerungen, die der Senat aus dem von ihm festgestellten Prioritätsverhältnis zieht, gehen in zwei Richtungen. Bei richtigem Verständnis ist die erste Aussage unproblematisch. Nach ihr darf die Wirksamkeit einer Eigenbedarfskündigung nicht schon daran scheitern, dass der Eigentümer den Bedarfsgrund willentlich herbeigeführt hat.47 Damit wird nicht etwa Willkür zulässig, sondern es wird lediglich klargestellt, dass auch der schlichte Wunsch des Vermieters, die Wohnung künftig selbst zu nutzen oder durch 42 43 44 45 46 47
BVerfGE 89, 1, 10. Vgl. BGHZ 103, 91, 96. So bereits BVerfGE 79, 292, 305. Vgl. dazu BVerfGE 83, 82, 86 f. BVerfGE 81, 29, 33. BVerfGE 81, 29, 34, so auch bereits BVerfGE 79, 292, 305.
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Familienangehörige nutzen zu lassen, die Voraussetzungen eines berechtigen Interesses nach § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB erfüllen kann. Unbeachtlich ist ein solcher Erlangungswunsch allerdings dann, wenn er nicht ernsthaft, sondern nur vorgeschoben ist, oder aber in Fällen des Missbrauchs. Missbräuchlich handelt der Vermieter insbesondere dann, wenn er angesichts anderweit freiwerdender oder freigewordener Wohnungen keine vernünftigen und nachvollziehbaren Gründe für seinen Nutzungswunsch vorbringen kann.48 Mit der zweiten Aussage hat das Bundesverfassungsgericht dann die Bindung an den Erlangungswunsch des Vermieters auf dessen schon vor Eintritt des Eigenbedarfs getroffene Nutzungsentscheidung erstreckt. Der Vermieter brauchte sich daher nicht auf eine im selben Haus gelegene Wohnung verweisen zu lassen, die er bisher als Ferienwohnung vermietet hatte.49 Diese Ansicht war von Anfang umstritten. Drei Richter haben der Entscheidung ein Sondervotum beigefügt, mit dem sie der Auffassung der Senatsmehrheit nachdrücklich widersprechen.50 Das Prioritätsargument, auf das sich die Mehrheitsauffassung stützt, ist jedenfalls kaum mehr tragfähig, seitdem das Bundesverfassungsgericht in dem bereits zitierten Beschluss aus dem Jahr 1993 auch dem Mieter Eigentumsschutz zugebilligt hat. Die Mieträume sind danach eben nicht nur dem Vermieter, sondern auch dem Mieter als Eigentum zugeordnet. Allerdings sollte die praktische Bedeutung der strittigen Frage nicht überschätzt werden; denn regelmäßig wird eine Nutzungsänderung auch bauliche Maßnahmen – etwa die Umgestaltung von Büro- in Wohnräume – erforderlich machen, die dem Vermieter bei Verweis auf eine Alternativwohnung grundsätzlich wohl kaum zumutbar sind. Eine gewisse Relevanz erlangt die Problematik noch für die Prüfung einer Anbietpflicht des Vermieters, also für die Frage, ob der Vermieter verpflichtet ist, dem von einer Eigenbedarfskündigung betroffenen Mieter eine freie Wohnung als Ausgleich anzubieten. Das Bundesverfassungsgericht hat zu dieser Problematik zwar noch nicht abschließend Stellung genommen; es hat aber klargestellt, dass eine Anbietungspflicht – wenn überhaupt – nur für solche Wohnungen bestehen kann, die der Vermieter ohnehin zu vermieten beabsichtigt. Will er die betreffende Wohnung hingegen nicht vermieten, so dürfen die Gerichte in diese Disposition nicht eingreifen.51
48 49 50 51
BVerfGE 79, 292, 305. BVerfGE 81, 29, 34. Abweichende Meinung der Richter Grimm, Dieterich und Kühling BVerfGE 81, 29, 35. Vgl. BVerfG(K), NJW 1994, 435.
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b) Einzelfragen und Kammerrechtsprechung Mit den zitierten Entscheidungen sind die Grundrisse einer verfassungsgemäßen Rechtsanwendung im Bereich der Eigenbedarfskündigung skizziert. Einige Gesichtspunkte verdienen allerdings näherer Betrachtung. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt die Maßgeblichkeit des Erlangungswunschs des Vermieters herausgestellt. Er sei von den Gerichten zu akzeptieren.52 Dies soll auch insoweit gelten, als die Gerichte grundsätzlich die Einschätzung des Eigentümers hinzunehmen haben, welchen Wohnbedarf er für sich oder seine Familienangehörigen für angemessen hält.53 Die Gerichte seien nicht berechtigt, ihre eigenen Vorstellungen von angemessenem Wohnen verbindlich an die Stelle der Lebensplanung des Eigentümers zu setzen.54 So dürfe es nicht beanstandet werden, wenn der Vermieter seiner Tochter wegen einer beabsichtigten Familiengründung eine Fünfzimmerwohnung mit 150 m2 Wohnfläche überlassen wolle.55 Auf den ersten Blick lässt sich das schwerlich mit dem – verfassungsrechtlich zumindest unbedenklichen, wenn nicht gar gebotenen – Anliegen des Gesetzgebers vereinbaren, den Mieter durch das Erfordernis eines berechtigten Interesses (§ 573 Abs. 1 BGB) vor einer willkürlichen Entziehung der Mieträume zu bewahren. Der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts ist indes gerechtfertigt, weil das Eigentum auch und zuallererst deshalb durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützt ist, um dem Einzelnen eine Grundlage für private Freiheit zu verschaffen; der Gegenstand des Eigentums soll ihm „in eigenverantwortlichem privatem Interesse von Nutzen“ sein.56 Im Konflikt mit den Grundrechten anderer, hier der Mieter, bedarf dies allerdings einer Einschränkung; denn andernfalls wäre eine Grundrechtsposition zugunsten einer anderen rückstandslos aufgegeben worden. Der gebotene Ausgleich wird zunächst durch eine strenge Prüfung der Ernsthaftigkeit des Selbstnutzungswunsches erreicht. Insoweit ist nur konsequent, dass dem Vermieter die Darlegungs- und Beweislast zugewiesen wird: Verbleibende Zweifel an der Ernsthaftigkeit gehen zu seinen Lasten.57 In der Konsequenz dieser Rechtsprechung liegt es ferner, dass das Bundesverfassungsgericht einen Schadensersatzanspruch des Mieters im Fall einer unberechtigten Kündigung wegen nur vorgespiegelten Eigenbedarfs ausdrücklich gebilligt hat.58 Im konkreten Fall war gekündigt worden, um dem Sohn des Vermieters die Wohnung zu überlassen; tatsächlich ist dieser erst nahezu sechs Jahre nach Ausspruch der Kündigung dort eingezogen. 52 53 54 55 56 57 58
BVerfGE 79, 292, 305. BVerfGE 68, 361, 373 f; 79, 292, 305. BVerfG(K), NJW 1995, 1480. BVerfG(K), NJW 1995, 1480. Vgl. BVerfGE 52, 1, 30. BVerfG(K), WuM 2002, 21. BVerfG(K), WuM 2002, 21.
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Dem Ausgleich dienen ferner die Fallgruppen, die das Bundesverfassungsgericht – möglicherweise begrifflich unscharf – als Missbrauch kennzeichnet. Als Missbrauch ordnet das Bundesverfassungsgericht einmal die Fälle ein, bei denen dem Vermieter eine oder mehrere freigewordene oder freiwerdende „Alternativwohnungen“ zur Verfügung stehen, die den geltend gemachten Wohnbedarf ohne wesentliche Abstriche zufrieden stellen können. Hier ist zu prüfen, ob sich der Nutzungswunsch des Vermieters gleichwohl noch auf vernünftige und nachvollziehbare Gründe stützen lässt.59 In diesem Zusammenhang gerät erneut die Einschätzungsprärogative des Vermieters hinsichtlich der Angemessenheit des Wohnbedarfs in den Blick. Seine Vorstellungen sollen auch hier zu respektieren sein.60 Damit verlangt das Bundesverfassungsgericht von den Fachgerichten Zurückhaltung auch bei dem Verweis auf eine Alternativwohnung. Hier gilt wiederum der Grundsatz, dass es zunächst Sache des Vermieters ist, darüber zu befinden, welchen Wohnbedarf er für sich und seine Familienangehörigen als angemessen erachtet. Soll die Wirksamkeit einer Eigenbedarfskündigung daran scheitern, dass dem Vermieter eine andere Wohnung zur Verfügung steht, so darf das Gericht nicht seine eigenen Vorstellungen von angemessenem Wohnen an die Stelle der Einschätzung des Vermieters setzen.61 Die Bindung der Gerichte an die vorrangige Einschätzung des eigenen Wohnbedarfs durch den Vermieter findet allerdings eine Grenze, wenn der Vermieter eine Alternativwohnung ablehnt und sich der dabei geltend gemachte Wohnbedarf als „weit überhöht“ darstellt.62 Um weit überhöhten Wohnbedarf zu begründen, muss anhand tatsächlich festgestellter objektiver Kriterien eine auf den konkreten Fall bezogene Würdigung erfolgen. Eher formelhafte Wendungen, wie es stehe „ausreichend großer und geräumiger“ Wohnraum zur Verfügung, reichen insoweit nicht aus.63 Die Frage eines weit überhöhten Wohnbedarfs kann im Übrigen unter dem Gesichtspunkt eines missbräuchlich geltend gemachten Eigenbedarfs auch bereits bei der Prüfung eines anerkennenswerten Erlangungswunsches des Vermieters Bedeutung erlangen. Auch hier markiert der weit überhöhte Bedarf die Grenze der Einschätzungsprärogative des Vermieters. Verlangt er eine Wohnung zur Eigennutzung, deren Raumangebot im Hinblick auf die Lebensverhältnisse weit überhöht erscheint, so ist der Erlangungswunsch missbräuchlich und kann kein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses begründen.64
59 60 61 62 63 64
BVerfGE 79, 292, 305. Vgl. BVerfG(K), NJW 1994, 995; 1995, 1480. BVerfGE 79, 292, 305 f. Vgl. BVerfG(K), NJW 1994, 995. Vgl. BVerfG(K), NJW 1994, 995. Vgl. BVerfGE 79, 292, 305.
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Noch ein praktisch bedeutsamer Gesichtspunkt verdient Erwähnung: Es geht um das Begründungserfordernis, das nach § 573 Abs. 3 BGB für die ordentliche Kündigung des Vermieters und damit auch für die Eigenbedarfskündigung gilt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Vorschrift nicht beanstandet, sondern in ihr einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen des Vermieters einerseits und denen des Mieters andererseits gesehen.65 Lässt ein Kündigungsschreiben keine Begründung für den geltend gemachten Eigenbedarf erkennen, so stellt es keine Verfassungsverletzung dar, wenn schon aus diesem Grund die Räumungsklage abgewiesen wird.66 Bei der Anwendung der Norm dürfen die Anforderungen an den Begründungszwang jedoch nicht in einer Weise überspannt werden, die dem Vermieter die Verfolgung seiner Interessen unzumutbar erschweren.67 Entscheidend ist die Orientierung am Normzweck. Die Regelung verfolgt vorrangig das Ziel, dem Mieter zum frühestmöglichen Zeitpunkt Klarheit über seine Rechtsposition zu verschaffen, damit er in die Lage versetzt wird, rechtzeitig alles Erforderliche zur Wahrung seiner Interessen zu veranlassen. So reicht es zwar nicht aus, wenn der Vermieter sich auf die bloße Wiedergabe des Gesetzestextes beschränkt.68 Es dürfen jedoch umgekehrt keine Angaben verlangt werden, die über das anerkennenswerte Informationsbedürfnis des Mieters hinausgehen.69 Überspannt werden die Begründungsanforderungen etwa dann, wenn die Personen, zu deren Gunsten der Eigenbedarf geltend gemacht wird, namentlich bezeichnet werden sollen, obwohl diese durch eine allgemeine Bezeichnung identifizierbar sind.70
IV. Schlussbemerkung Bei unbefangener Würdigung zeigt sich, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Eigenbedarfskündigung einen wesentlichen, wenn nicht gar den entscheidenden Beitrag für eine sachgerechte Auslegung und Anwendung der einschlägigen mietrechtlichen Bestimmungen geleistet hat. Der Maßstab eines angemessenen Ausgleichs der beiderseitigen Interessen hat einen übertriebenen Mieterschutz ebenso verhindert wie die einseitige Bevorzugung der Vermieterbelange. Hier jedenfalls erweist sich das Verfassungsrecht nicht als störendes Element, sondern als notwendiger Aspekt bei der Interpretation zivilrechtlicher Normen.
65 66 67 68 69 70
BVerfGE 85, 219, 223. Vgl. BVerfG(K), WuM 1995, 142. Vgl. BVerfG(K), NJW-RR 2000, 232; 2003, 1164. BVerfGE 85, 219, 223 f. Vgl. BVerfG(K), NJW-RR 2003, 1164. Vgl. BVerfG(K), NJW-RR 2003, 1164.
Die Anhörungsrüge – viel Aufwand, wenig Ertrag? Christian Kirchberg* I. Das Revisionsrecht und das Plenum des BVerfG Achim Krämer gehört zu den erfahrensten und erfolgreichsten Angehörigen seiner Zunft, der Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof. Aber nicht nur das: Wie kein Zweiter hat er es stets verstanden, die verfassungsrechtlichen Bezüge und Rahmenbedingungen bei der Rechtsbetrachtung und Rechtsgewinnung herauszustellen und zu aktivieren – entweder zur Verstärkung der auf der Ebene des jeweiligen Fachrechts aufgemachten Argumentation oder gar zur Eröffnung einer weiteren Dimension der Argumentation, wenn die einfach-rechtliche Auseinandersetzung definitiv an ihre Grenzen stieß. Davon zeugt nicht nur eine Vielzahl einschlägiger Abhandlungen des Jubilars;1 seine verehrten Herren Gegner und speziell die Richter des BGH werden das in gleicher Weise bezeugen können. Zu den verfassungsrechtlichen Determinanten, die die revisionsrechtliche Tätigkeit des seinerzeit noch ganz jungen BGH-Anwalts Krämer bestimmten, gehörte zunächst fraglos der – von ihm auch mehrfach kommentierte – Beschluss des Plenums des BVerfG vom 11.6.1980.2 Aufgrund dieser Entscheidung war die Bestimmung des § 554b Abs. 1 ZPO a.F. fortan dahingehend auszulegen, dass die Annahme einer Revision, die im Endergebnis Aussicht auf Erfolg besaß, nicht allein deshalb abgelehnt werden durfte, weil die Rechtssache nach Meinung des BGH keine grundsätzliche Bedeutung hatte. Dies führte dann über mehr als 20 Jahre, bis zur ZPO-Reform von 2001, auf* Für wertvolle Mithilfe bei der Materialsammlung danke ich Frau Rechtsreferendarin Constanze Winter. 1 Vgl. die entsprechenden Titel im Schrifttumsverzeichnis dieser Festschrift. Das besondere Engagement des Jubilars in diesem Rechtsbereich hat auch in der jahrzehntelangen und beim 57. Deutschen Anwaltstag 2006 in Köln mit der Überreichung der Hans-Dahs-Plakette gewürdigten Leitung des DAV-Verfassungsrechtsausschusses Ausdruck gefunden, vgl. AnwBl 2006, 464. Der edle Wettstreit dieses Ausschusses mit dem vom Verf. geleiteten BRAK-Verfassungsrechtsausschuss, insbesondere bei Stellungnahmen gegenüber dem BVerfG, hat sicherlich seinen Teil zur verfassungskonformen Fortentwicklung des anwaltlichen Berufsrechts beigetragen. 2 BVerfGE 57, 244; s. dazu Krämer NJW 1981, 799 sowie Idem FS Brandner 1996, 701.
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grund deren auch der Zugang zur Revisionsinstanz neu geregelt wurde, bei den Nichtannahmebeschlüssen des BGH nach der Verneinung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zu der üblichen Standardformulierung: „Die Revision hat auch im Ergebnis keine Aussicht auf Erfolg (BVerfGE 54, 277).“ Ein vergleichsweise magerer und auch kaum überprüfbarer Ertrag der machtvollen verfassungsgerichtlichen Vorgabe. Plenums- oder Plenarentscheidungen des BVerfG nach Maßgabe des § 16 BVerfGG (Rechtsprechungsdivergenz) sind nicht nur selten; sie sind eine ausgesprochene Rarität. Umso bemerkenswerter ist es, dass von den lediglich vier bisher ergangenen Entscheidungen dieser Art3 nicht nur der bereits erwähnte Beschluss vom 11.6.1980 zu § 554 b Abs. 1 ZPO a.F., sondern auch die zwei weiteren Plenarentscheidungen des BVerfG vom 8.4.1997 und vom 30.4.2003 unmittelbare Auswirkungen auch und gerade auf die anwaltliche Tätigkeit im Revisionsverfahren zeitigten: So beendete der Beschluss vom 8.4.1997 4 eine hitzige, seinerzeit auch von richterlichen Mitgliedern des BGH beförderte Debatte 5 darüber, ob und in welcher Weise für die Bestimmung der Sitz- und Spruchgruppen von Berufsrichtern in überbesetzten gerichtlichen Spruchkörpern eine abstrakte Regelung anstelle einer Ermessensentscheidung des Vorsitzenden vonnöten sei. Das BVerfG bejahte dieses Erfordernis unter Berufung auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (Anspruch auf den gesetzlichen Richter); und das sollte auch und gerade im Blick auf den jeweiligen Berichterstatter jedenfalls dann gelten, wenn, wie das auch beim BGH durchaus die Regel war/ist, die Zusammensetzung der für die einzelnen Sache zuständigen Sitz- oder Spruchgruppe an die Person des Berichterstatters anknüpft. Der Jubilar hat auch zu dieser Problematik kommentierend Stellung bezogen.6 Die vorläufig letzte Plenarentscheidung des BVerfG vom 30.4.20037 enthielt den Auftrag an den Gesetzgeber, für die Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gegen letztinstanzliche Entscheidungen flächendeckend die so bezeichnete Anhörungsrüge einzuführen. Um dieses neue prozessuale Rechtsinstitut, das dann Gegenstand des Anhörungsrügen3 BVerfGE 4, 27 (Anfechtung der rechtlichen Gestaltung des Wahlverfahrens durch die Parteien nur im Wege des Organstreitverfahrens); BVerfGE 54, 277 (§ 554b ZPO a.F. – Zulassung der Revision); BVerfGE 95, 322 (Mitwirkungsgrundsätze im überbesetzten Spruchkörper eines Gerichts); BVerfGE 107, 395 (Anhörungsrüge); vgl. auch die zusammenfassende Darstellung bei Eschelbach in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, Mitarbeiterkomm., 2. Aufl. 2005, Rn. 6 ff. zu § 16. 4 BVerfGE 95, 322. 5 Vgl. Quack BB 1992, 1 u. etwa Wiebel BB 1992, 573 u. BB 1995, 1197; umfassend zur „Karlsruher Palastrevolution“ sowie höchst kritisch zum Plenarbeschluss des BVerfG v. 8.4.1997 Sangmeister NJW 1998, 721. 6 Krämer WuB VII A § 579 ZPO 1.93. 7 BVerfGE 107, 395; der Jubilar hat auch insoweit „Vorarbeit“ geleistet, vgl. Krämer AnwBl 1998, 617.
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gesetzes vom 9.12.20048 wurde und das per 1.1.2005 zur Anreicherung sämtlicher Prozessordnungen der ordentlichen und der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten um identische Bestimmungen über die Anhörungsrüge geführt hat 9, soll es in dem vorliegenden Beitrag gehen. Die Reaktionen speziell des BVerfG auf den Umgang der Parteien und der Gerichte mit der Anhörungsrüge stehen dabei im Vordergrund. Von besonderem Interesse wird schließlich, um noch einmal auf das Tätigkeitsfeld des Jubilars zurückzukommen, dasjenige sein, was sich im Zusammenspiel von BGH und BVerfG inzwischen an Auswirkungen der Anhörungsrüge auf das Revisionsrecht und auf das Verfassungsbeschwerde-Verfahren ergeben hat und möglicherweise noch ergeben wird.
II. Die „Karriere“ der Anhörungsrüge Die Anhörungsrüge ist in ihrer seit 2005 kodifizierten Form letztlich eine Kopfgeburt des Bundesverfassungsgerichts, nicht unbedingt ein Herzensanliegen des Gesetzgebers. Dieser hat den ihm erteilten Gesetzgebungsauftrag dann auch eher widerwillig-minimalistisch erfüllt, das ihm insoweit erklärtermaßen eröffnete Ermessen10 also möglichst restriktiv gehandhabt.11 Anders als die im Zusammenhang mit der ZPO-Reform 2001 geschaffene Vorgängervorschrift des § 321a ZPO a.F.12, die eine Anhörungsrüge nur gegenüber unanfechtbaren Urteilen der I. Instanz im Zivilprozess vorsah,13 hat die durch das Anhörungsrügengesetz von 2004 neu gefasste und in ihrem Anwendungsbereich auf alle nicht mehr anfechtbaren Endentscheidungen erstreckte Anhörungsrüge nach dem Muster des § 321a ZPO n.F. jedoch regelrecht „Karriere gemacht“, wenn auch eine zweifelhafte.
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BGBl I, S. 3220. S. neben § 321a ZPO vor allem §§ 33a, 356a StPO, § 78a ArbGG, § 29a FGG, § 152a VwGO, § 178a SGG, § 133a FGO, § 69a GKG, § 71a GWB, § 12a RVG u. etwa § 121a WDO; teilweise sind die vorstehend zitierten Vorschriften in weiteren Verfahrens- und Prozessgesetzen für entsprechend anwendbar erklärt worden; vgl. zur Regelungstechnik im Einzelnen den Gesetzentwurf v. 21.9.2004, BT-Drs. 15/3706, S. 13 ff. 10 Vgl. die entsprechenden Ausführungen im Plenumsbeschluss d. BVerfG v. 30.4.2003 (BVerfGE 107, 411 ff.) einerseits und im Gesetzentwurf v. 21.9.2004 (o. Fn. 9, S. 13) andererseits. 11 So ausdrücklich Gehb DÖV 2005, 683, sowie etwa Kettinger ZRP 2006, 152 u. Desens NJW 2006, 1243. 12 Art. 2 Nr. 49 ZPO-RG v. 27.7.2001, BGBl I, S. 1887. 13 Was die in der Folge nicht nur diskutierte, sondern von der Rechtsprechung auch praktizierte Erstreckung dieser Vorschrift insbesondere etwa auf Beschlüsse nach § 522 Abs. 2 ZPO, mit denen die Berufung im Zivilprozess ohne mündliche Verhandlung durch einstimmigen Beschluss zurückgewiesen werden kann, nicht hindert, vgl. dazu die Darstellung bei Nassall ZRP 2004, 164, 166. 9
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Zunächst in wissenschaftlicher Hinsicht: Die literarischen Äußerungen zur Anhörungsrüge sind Legion14 und zollen damit der Einzigartigkeit der verfassungsgerichtlich bedingten Genese dieses Rechtsinstituts mehr als angemessen Tribut. Die einschlägige fachgerichtliche Rechtsprechung steht dem in nichts nach.15 Vor allem aber hat die Anhörungsrüge im Blick auf die Verfassungsbeschwerden vor dem BVerfG (und inzwischen auch vor den Landesverfassungsgerichten16) insofern „Karriere gemacht“, als nach feststehender Rechtsprechung der Rechtsweg grundsätzlich erst dann erschöpft und mithin eine Verfassungsbeschwerde zulässig ist, wenn gegen eine letztinstanzliche Entscheidung auch noch die Anhörungsrüge erhoben und zurückgewiesen worden ist – vorausgesetzt, es soll mit der Verfassungsbeschwerde auch die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend gemacht werden oder dies liegt auf der Hand. In einer solchen Situation kann dann auch wegen weiterer, insbesondere materieller Grundrechtsverletzungen, zunächst noch auf die Erhebung der Verfassungsbeschwerde verzichtet und das Ergebnis des Anhörungsrüge-Verfahrens abgewartet werden.17 Diese „Karrieresprünge“ der Anhörungsrüge ändern allerdings nichts an dem Befund, dass die Anhörungsrüge neuen Rechts – genauso wie bereits die Anhörungsrüge nach § 321a ZPO a.F.18 – ganz überwiegend als erfolglos bzw. ineffektiv gilt; begründet wird dies vor allem damit, dass der iudex a 14 Vgl. – statt vieler – die Schrifttumsübersichten in den gängigen ZPO-Kommentaren sowie bei Schnabl Die Anhörungsrüge nach § 321a ZPO, 2007, S. 259 ff., Zuck Die Anhörungsrüge im Zivilprozess, 2008, S. XV f. u. Tavolari Das Recht auf Gehör und die Anhörungsrüge, 2008, S. 261 ff. Vgl. darüber hinaus aktuell auch noch etwa Tegebauer DÖV 2008, 954; Werth DStZ 2008, 534; Zuck, AnwBl 2008, 168 u. NJW 2008, 479; Lindner AnwBl 2008, 362. 15 Vgl. allein aus der BGH-Rechtsprechung BGH, NJW 2005, 1438 (Begründungstiefe von Beschlüssen über die Anhörungsrüge gegen die Zurückweisung von Nichtzulassungsbeschwerden); BGH, NStZ 2005, 462 (Antragsfrist nach § 356a StPO); BGH, NJW-RR 2006, 63 (Spruchkörperbesetzung im Anhörungsrüge-Verfahren); BGH, NJW 2006, 3786 (Kausalität der im Anhörungsrüge-Verfahren geltend gemachten Gehörsverletzung für die Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde); BGH, NJW 2007, 3786 (Unzulässigkeit der Anhörungsrüge gegen unanfechtbare Entscheidungen wegen Besorgnis der Befangenheit, Unzulässigkeit der Gegenvorstellung neben der Anhörungsrüge); BGH, NJW 2008, 923; NJW 2008, 2126; ZfBR 2008, 668 sowie Beschl. v. 31.1.2008 – III ZR 57/07 –, juris (Anhörungsrüge nur zulässig bei „neuer und eigenständiger“ Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch den BGH); BGH, MDR 2008, 1175 (Beschränkung des Anwendungsbereichs des § 321a ZPO auf die Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör). 16 Vgl. VerfG Brandenburg, LKV 2007, 176; VerfGH Berlin, NJW 2008, 3421 sowie DVBl 2008, 1136 (LS); VerfGH Sachsen, Beschl. v. 15.12.2005 – Vf.73-IV-05 –, juris, st. Rspr.; VerfGH Saarland, Beschl. v. 10.1.2008 – Lv 4/07 –, juris. 17 BVerfG, NJW 2005, 3059 – „Queen Mary II“; s. dazu auch die nachstehend unter III. gemachten Ausführungen. 18 So ausdrücklich etwa Vollkommer (in: FS Musielak 2004, 619, 650 f.) aufgrund einer entsprechenden, breit angelegten rechtstatsächlichen Untersuchung.
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quo, und nicht ein anderer, höherer Richter für die Entscheidung über die Anhörungsrüge zuständig ist.19 Außerdem lässt sich auch nicht bzw. nicht mit hinreichender Signifikanz die gewünschte Entlastung des BVerfG im Bereich der auf eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerden nachweisen. Dabei ist – soweit überhaupt Zahlenmaterial oder Informationen vorliegen – zu differenzieren. Vor allem in den erst- und letztinstanzlichen Verfahren vor den Amtsgerichten scheint die Anhörungsrüge, möglicherweise sogar mit zunehmender Tendenz, tatsächlich die konkrete Chance zur Ausräumung von Gehörsrügen und dementsprechend zur Fortsetzung der Verfahren zu bieten.20 Sollte das zutreffen und sollte dieser Trend anhalten, könnte daraus in den einschlägigen Fällen tatsächlich ein Rückgang der Fälle „zivilprozessualer Pannenhilfe“ 21 beim BVerfG resultieren; um diesen Effekt zu erreichen, hätte man es allerdings auch bei der bisherigen Fassung des § 321a ZPO belassen können. Denn umgekehrt sind etwa beim BGH bisher nur zwei Fälle bekannt geworden, in denen Anhörungsrügen nicht zurückgewiesen oder verworfen wurden.22 Ob dies, wofür einiges spricht, dem Befund bei den übrigen obersten Bundesgerichten und bei den Instanzgerichten entspricht, soweit sie in letzter Instanz entscheiden, ist bisher wohl (noch) nicht ermittelt oder gar zum Gegenstand einschlägiger Veröffentlichungen gemacht worden. Beim BVerfG wird über die Inanspruchnahme von Grundrechten und/ oder grundrechtsgleichen Rechten bei der Einlegung von Verfassungsbeschwerden nicht Buch geführt. Die alljährlich veröffentlichte Statistik23 listet die Zahl und die Gegenstände der Verfassungsbeschwerden, die Art und den Umfang ihrer Erledigungen sowie die durchschnittliche Verfahrensdauer auf,
19 In diesem Sinne bereits Voßkuhle NJW 2003, 2193, 2197; ebenso etwa Nassall ZRP 2004, 164, 167; Bloching/Kettinger NJW 2005, 860, 863; Huber JuS 2005, 109, 113; Gravenhorst NZA 2005, 24 f.; Sangmeister NJW 2007, 2363, 2369; a.A. Treber NJW 2005, 97, 99: „Dass es das Vermögen des Richters generell übersteigt, einen Irrtum – und gar schwarz auf weiß – zugeben zu müssen, ist eine nicht näher belegbare Vermutung.“ 20 Vgl. schriftliche Beantwortung der Frage des Abgeordneten Dr. Krings (CDU/CSU) durch die Bundesministerin der Justiz v. 22.11.2007, BT-Drs. 16/7374, S. 12 f.; s. auch Statistisches Bundesamt, www.destatis.de „Fachserie 10, Reihe 2.1“, Justizstatistik der Zivilgerichte 2007, 18 ff. 21 Vollkommer (u.a. in: Zöller, ZPO, Komm., 27. Aufl. 2009, Rn. 9 ff. zu § 321a) hat, darüber hinausgehend, vier Hauptgruppen von Verletzungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus der Rechtsprechung des BVerfG extrahiert, nämlich neben den (echten, weil unbeabsichtigten) „Pannenfällen“ die von ihm so bezeichneten „Präklusionsfälle“, die „Hinweisfälle“ und die „Nichtberücksichtigungsfälle“. 22 Beschl. v. 14.5.2005 – X ZR 186/00 –, sowie Beschl. v. 11.5.2006 – I ZR 103/05 –, www.bundesgerichtshof.de/Entscheidungen. 23 www.bundesverfassungsgericht.de/Aufgaben, Verfahren und Organisation des BVerfG/Jahresstatistiken.
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gibt sogar Auskunft darüber, in welchem Umfang sich die Beschwerdeführer von Bevollmächtigten haben vertreten lassen, enthält aber keinerlei Angaben darüber, auf welche Bestimmungen des Grundgesetzes sich die Beschwerdeführer und/oder ihre Bevollmächtigten berufen haben.24 Über die Auswirkungen der Anhörungsrüge auf das Aufkommen der Verfassungsbeschwerden oder, noch spezieller, auf die Inanspruchnahme der Verfahrensgarantie des Art. 103 Abs. 1 GG im Rahmen von Verfassungsbeschwerde-Verfahren lässt sich deshalb zurzeit allenfalls spekulieren. So dürfte jedenfalls in den ersten ein bis zwei Jahren nach Einführung der Anhörungsrüge eine nicht unerhebliche Vielzahl von Verfassungsbeschwerden deshalb bereits im Allgemeinen Register (AR)25 hängen geblieben und dort auch erledigt worden sein, weil es die Beschwerdeführer offensichtlich versäumt hatten, die von ihnen gerügte Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zunächst form- und vor allem fristgerecht zum Gegenstand einer Anhörungsrüge zu machen; das entspricht auch der beruflichen Erfahrung des Verfassers als Rechtsanwalt auf dem Gebiet des Verfassungsrechts. Inzwischen hat es sich allerdings weitestgehend herumgesprochen, dass die Anhörungsrüge zu dem vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde zu erschöpfenden Rechtsweg gehört, wenn eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zur Debatte steht. Dass sich potentielle Beschwerdeführer nach bzw. aufgrund eines erfolglos durchgeführten Anhörungsrüge-Verfahrens entmutigen oder davon abschrecken lassen, weiterhin wegen einer Gehörsverletzung oder wegen weiterer Grundrechtsverletzungen auch noch Verfassungsbeschwerde einzulegen, lässt sich nicht ausschließen, aber auch nicht belegen. Das hängt nicht zuletzt von einer realistischen Einschätzung der Verfassungsrechtslage durch den ggf. zur Beratung hinzugezogenen Rechtsanwalt sowie davon ab, ob und inwieweit dieser bereit ist, die Konsequenzen aus dem Ergebnis seiner Beratung zu ziehen. So viel steht allerdings fest: das Gesamtaufkommen von Verfassungsbeschwerden beim BVerfG ist seit Inkrafttreten des Anhörungsrügen-Gesetzes nicht geringer, sondern tendenziell eher noch größer geworden.26 24 Hinsichtlich der Rüge von Verletzungen des Art. 103 Abs. 1 GG schwanken die jedenfalls in der Literatur kolportierten Zahlen zwischen 45 % und 75 %, vgl. Waldner Der Anspruch auf rechtliches Gehör, 1989, Rn. 3 mwN sowie etwa Zuck NJW 2005, 1226. In dem vom BMJ herausgegebenen Kommissionsbericht „Entlastung des Bundesverfassungsgerichts“ (1998, S. 63) heißt es lapidar: „Die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs stellt die am häufigsten erhobene Rüge in den Verfassungsbeschwerden zum Bundesverfassungsgericht dar.“ 25 Vgl. dazu §§ 60–62 GO-BVerfG; zu der Bearbeitung von Vorgängen des Allgemeinen Registers durch die Präsidialräte, die ganz erheblich zur Entlastung der Kammern und Senate des BVerfG beiträgt, s. Langrock in: Umbach/Clemens/Dollinger (o. Fn. 3), nach §§ 90–93, Rn. 1 ff. 26 2005: 4857 Verfassungsbeschwerden; 2006: 5771 Verfassungsbeschwerden; 2007: 5822 Verfassungsbeschwerden; 2008: 6105 Verfassungsbeschwerden; dabei sind die im Allgemei-
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III. Verfassungsgerichtliche Klarstellungen und Korrekturen Die gesetzlichen Vorgaben der Anhörungsrüge und die sich bei der Anwendung des § 321a ZPO (und der identischen Vorschriften in den übrigen Prozessordnungen bzw. -gesetzen) üblicherweise ergebenden Fragen und Probleme brauchen an dieser Stelle nicht im Einzelnen dargestellt und erläutert zu werden; hierzu kann auf die Vielzahl einschlägiger Kommentierungen und monografischer Darstellungen verwiesen werden.27 In den Fokus der weiteren Ausführungen soll vielmehr dasjenige gerückt werden, was unter verfassungsgerichtlichen Gesichtspunkten zur (neuen) Anhörungsrüge angemerkt worden ist und was sich hieraus insbesondere an Rückbezügen auf die höchstrichterliche Rechtsprechung des BGH ergeben hat: 28 1. Anhörungsrüge und Rechtswegerschöpfung Bereits wenige Monate nach Inkrafttreten des Anhörungsrügen-Gesetzes hat das BVerfG in dem viel beachteten Queen Mary II-Beschluss vom 25.4. 200529 mit der Entlastungsfunktion der Anhörungsrüge, so wie sie von ihm gewollt war, ernst gemacht. Seitdem entspricht es ständiger (Kammer-) Rechtsprechung 30, dass eine Verfassungsbeschwerde mangels Rechtswegerschöpfung unzulässig ist, wenn sie auf eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gestützt wird, ohne dass zuvor – erfolglos – das Anhörungsrüge-Verfahren durchgeführt worden ist. Das soll für diesen Fall auch im Blick auf die Behauptung weiterer Grundrechtsverletzungen gelten; es wäre „… nicht nur nicht prozessökonomisch, sondern auch mit dem Sinn und Zweck des Subsidiaritätsgrundsatzes unvereinbar“ , so das Gericht,31 in einem solchen Fall neben der Anhörungsrüge die fristwahrende Erhebung der Verfassungsbeschwerde wegen der anderen Grundrechtsverletzungen zu verlangen, zumal die erfolgreiche Durchführung des Anhörungsrüge-Verfahnen Register (AR) eingetragenen und dort erledigten Verfassungsbeschwerden noch gar nicht berücksichtigt, vgl. dazu die Abschn. A IV. 8. u. D der Jahresstatistiken des BVerfG (o. Fn. 23). 27 Vgl. die Nachweise o. Fn. 14. 28 Vgl. dazu auch Tegebauer DÖV 2008, 954 sowie Papier DVBl 2009, 473 476 f.; da eine Vielzahl der einschlägigen Beschlüsse allenfalls bei juris dokumentiert ist und um die entsprechenden Entscheidungen eindeutig zu identifizieren bzw. um Verwechslungen zu vermeiden, werden sie nachfolgend ausnahmslos mit Datum, Aktenzeichen und Fundstelle/ Nachweis zitiert. 29 BVerfG, Beschl. v. 25.4.2005 – 1 BvR 644/05 –, NJW 2005, 3059. 30 BVerfG, Beschl. v. 29.3.2007 – 2 BvR 120/07 – juris; Beschl. v. 27.6.2007 – 1 BvR 1470/07 –, NJW 2007, 3054; Beschl. v. 13.9.2007 – 2 BvR 304/05 –, HFR 2007, 1240 = juris; Beschl. v. 30.5.2008 – 1 BvR 27/08 –, FamRZ 2008, 1600 (LS) = juris; Beschl. v. 9.6.2008 – 2 BvR 947/08 –, juris. 31 Vgl. erneut BVerfG, Beschl. v. 25.4.2005 (o. Fn. 29).
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rens auch die übrigen Grundrechtsrügen obsolet machen bzw. ausräumen könnte. Dies soll nur dann nicht gelten, wenn sich die behauptete Gehörsverletzung nicht auf den gesamten Streitgegenstand erstreckt. Den Versuch, die Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde durch die Rücknahme der Gehörsrüge für den Fall, dass das Gericht eine vorherige Anhörungsrüge für erforderlich halten sollte, zu vermeiden, hat das BVerfG zurückgewiesen und in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich die Notfrist von lediglich zwei Wochen für die Erhebung der Anhörungsrüge für verfassungsrechtlich unbedenklich erklärt.32 Ist die Anhörungsrüge aber offensichtlich aussichtslos, darf der Beschwerdeführer nicht auf deren vorherige Erhebung verwiesen werden.33 2. Unzulässigkeit der Anhörungsrüge Ebenso hat sich das BVerfG gegen den Versuch zur Wehr gesetzt, mit dem Mittel der Anhörungsrüge die Zulässigkeitsbarrieren einer Verfassungsbeschwerde zu überwinden. Ist die Anhörungsrüge also offensichtlich unzulässig, insbesondere etwa deshalb, weil nach dem Vortrag des Beschwerdeführers die Möglichkeit einer Gehörsverletzung überhaupt nicht in Betracht kam, so muss dies nach Meinung des BVerfG – ohne Bindung an die Entscheidung des Fachgerichts – zur Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde führen: „Anderenfalls würde sich für den Beschwerdeführer die Möglichkeit ergeben, durch Einlegung eines offensichtlich unzulässigen Rechtsbehelfs den Ablauf der mit der letztinstanzlichen Entscheidung in Gang gesetzten Frist zu verhindern“ 34. In gleicher Weise hat sich das BVerfG – umgekehrt – von den Entscheidungen der Fachgerichte unabhängig gemacht, wenn diese die Anhörungsrüge in verfassungsrechtlich nicht mehr vertretbarer Weise für unzulässig erklärt bzw. verworfen haben. Als „Willkür“ hat das BVerfG dementsprechend etwa die Verwerfung der Anhörungsrüge durch ein Landgericht deshalb gegeißelt, weil dieses dabei ersichtlich von der alten Fassung des § 321a ZPO ausgegangen war, die die Erhebung der Anhörungsrüge gegen Berufungsurteile (noch) nicht vorsah.35 Auch die Verwerfung einer Anhörungsrüge unter Hinweis auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH, obwohl die Wertgrenze des § 26 Nr. 8 EGZPO (20.000 €) nicht überschritten war, ist vom BVerfG als unvertretbar und als Verletzung des
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BVerfG, Beschl. v. 13.12.2007 – 1 BvR 2532/07 –, juris. BVerfG, Beschl. v. 15.3.2006 – 2 BvR 917/05 –, BVerfGK 7, 403. 34 BVerfG, Beschl. v. 14.5.2007 – 1 BvR 730/07 –, NJW-RR 2008, 75, unter Verweis auf Desens NJW 2006, 1243, 1246; ebenso bereits BVerfG, Beschl. v. 29.3.2007 – 2 BvR 120/07 –, juris. 35 BVerfG, Beschl. v. 17.8.2005 – 1 BvR 1165/05 –, juris. 33
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Art. 103 Abs. 1 GG qualifiziert worden.36 Mit der gleichen Begründung hat das BVerfG die Auffassung eines Landesarbeitsgerichts beanstandet, die Zwei-Wochen-Frist zur Erhebung der Anhörungsrüge beginne – fiktiv – mit dem dritten Tag nach Aufgabe der angefochtenen Entscheidung zur Post und nicht erst mit der tatsächlichen subjektiven Kenntnis des Betroffenen von der Verletzung des rechtlichen Gehörs.37 In einem weiteren Schritt hat das BVerfG darüber hinaus die Heilung einer Gehörsverletzung im Anhörungsrüge-Verfahren selbst – anstelle der vom Gesetz (§ 321a Abs. 1 ZPO) vorgesehenen Fortführung des Verfahrens – für statthaft erachtet,38 gleichzeitig aber die dahingehenden Ausführungen in einem konkreten, die Anhörungsrüge zurückweisenden Beschluss als unzureichend und ungeeignet erklärt, die gerügte Gehörsverletzung auszuräumen, und deshalb der Verfassungsbeschwerde gegen den vorangegangenen oberlandesgerichtlichen Beschluss gem. § 522 Abs. 2 ZPO stattgegeben.39 3. Anhörungsrüge gegen Zwischenentscheidungen Die Vorschrift des § 321a Abs. 1 Satz 2 ZPO wonach die Anhörungsrüge gegen eine der Endentscheidung vorausgehende Entscheidung „nicht stattfindet“, hat das BVerfG verfassungskonform dahingehend ausgelegt, dass dies auf solche Zwischenentscheidungen zu begrenzen sei, die im Hinblick auf mögliche Gehörsverletzungen im weiteren fachgerichtlichen Verfahren noch überprüft und korrigiert werden könnten. Fachgerichtlicher Rechtsschutz gegen eine mögliche Gehörsverletzung im Zwischenverfahren der Richterablehnung sei daher notwendig, wenn in diesem Zwischenverfahren abschließend und mit Bindungswirkung für das weitere Verfahren über den Ablehnungsantrag befunden werde und die Entscheidung später nicht mehr im Rahmen einer Inzidentprüfung korrigiert werden könne. Dies ist – im Rahmen einer der seltenen Senatsentscheidungen zum Problemkreis der per 1.1.2005 neu und weiter gefassten Anhörungsrüge 40 – für die Ablehnung eines Richters am Bundesarbeitsgericht 41 und dann in einem weiteren Kam-
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BVerfG, Beschl. v. 14.3.2007 – 1 BvR 2748/06 –, NJW 2007, 2241. BVerfG, Beschl. v. 4.4.2007 – 1 BvR 66/07 –, NJW 2007, 2242. 38 BVerfG, Beschl. v. 12.11.2008 – 1 BvR 2788/08 –, NJW 2009, 39; Beschl. v. 26.11.2008 – 1 BvR 670/08 –, ZEV 2009, 142 = juris; Beschl. v. 24.2.2009 – 1 BvR 188/09 u. 1 BvR 189/09 –, juris. 39 Vgl. erneut BVerfG, Beschl. v. 26.11.2008 (o. Fn. 38). 40 BVerfG, Beschl. v. 23.10.2007 – 1 BvR 782/07 –, BVerfGE 119, 292. 41 In einem vorangegangenen Kammerbeschluss d. BVerfG v. 17.7.2007 – 1 BvR 1710/07 –, juris, ist diese Frage noch offen gelassen worden, da es jedenfalls „… für die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers mit ihrer konkreten Begründung keinen vernünftigen Anlass gab.“ 37
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merbeschluss, bei dem es um die Zurückweisung eines Ablehnungsgesuchs durch das OLG ohne Zulassung der Rechtsbeschwerde ging,42 so entschieden worden. 4. Die Anhörungsrüge als Gegenstand der Verfassungsbeschwerde Die zuletzt angesprochenen Beschlüsse des Ersten Senats und seiner Kammern, mit denen die Zurückweisung von Anhörungsrügen gesondert zum Gegenstand von Verfassungsbeschwerden gemacht und hierüber auch befunden wurde, stehen allerdings in einem erklärten Gegensatz zu der vom Zweiten Senat ausgehenden Rechtsprechung, wonach die erwähnten fachgerichtlichen Entscheidungen „keine eigenständige Beschwer“ begründeten, sondern „allenfalls eine bereits durch die Ausgangsentscheidung eingetretene Verletzung rechtlichen Gehörs fortbestehen“ ließen, weshalb ein schutzwürdiges Interesse an der gesonderten verfassungsgerichtlichen Überprüfung der Entscheidung über die Anhörungsrüge nicht bestehe, was insoweit zur Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde führen müsse.43 Vermittelnder stellen sich hinsichtlich dieser Frage weitere Beschlüsse des gleichen Senats dar, wonach die Auslegung des entsprechenden Rechtsschutzbegehrens regelmäßig ergeben soll, dass der Beschwerdeführer der Sache nach die Ausgangsentscheidung angreifen wolle.44 Eine Kammer des Ersten Senats hat dies im Rahmen der Verbescheidung der Verfassungsbeschwerde gegen das „Flughafen Berlin-Schönefeld“-Urteil des BVerwG in der Weise aufgegriffen, dass bei einer Gehörsverletzung zur Erschöpfung des Rechtsweges zwar auch das Anhörungsrüge-Verfahren durchgeführt, die Entscheidung über die Anhörungsrüge aber nicht notwendig mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden müsse, weil diese im Verhältnis zur Gehörsverletzung durch die Ausgangsentscheidung keine neue Beschwer begründe.45 Damit ist aus der Verneinung des Rechtsschutzbedürfnisses die Verneinung einer prozessualen Obliegenheit (zur vollständigen und ausdrücklichen Erschöpfung des Rechtswegs) geworden. Diese abstrakte Betrachtungsweise allein hilft jedoch nicht weiter. Wenn man sich die Fälle anschaut, in denen die fachgerichtlichen Entscheidungen über die Anhörungsrüge erklärtermaßen und gesondert zum Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Überprüfung gemacht worden sind, leuchtet ein, dass es dort nicht nur um eine Perpetuierung der Gehörsverletzung durch die
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BVerfG, Beschl. v. 12.1.2009 – 1 BvR 3113/08 –, NJW 2009, 833. BVerfG, Beschl. v. 29.3.2007 – 2 BvR 547/07 –, juris, sowie Beschl. v. 17.7.2007 – 2 BvR 496/07 –, NStZ-RR 2007, 381. 44 BVerfG, Beschl. v. 20.6.2007 – 2 BvR 746/07 –, StraFo 2007, 370 = juris, sowie Beschl. v. 5.3.2009 – 2 BvR 1615/06 –, juris. 45 BVerfG, Beschl. v. 20.2.2008 – 1 BvR 2722/06 –, NVwZ 2008, 780. 43
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Ausgangsentscheidung, sondern darum ging, dass die Art und Weise, wie die Fachgerichte mit der Anhörungsrüge umgingen, insbesondere etwa durch willkürliche Verneinung ihrer Zulässigkeit, eine eigenständige, verfassungsrechtliche Beschwer begründete. Dass im Regelfall das „Risiko fehlerhafter Überprüfung“ der Gehörsverletzung hinzunehmen ist und ein „Fehler im Zuge der Überprüfung, ob Art. 103 Abs. 1 GG bei der vorangegangenen gerichtlichen Verfahrensdurchführung beachtet worden ist“, nicht „zur erneuten Eröffnung des [regulären] Rechtswegs“ führt,46 ändert daran, d.h. an der verfassungsgerichtlichen Interventionsmöglichkeit, nichts.47 5. Die Anhörungsrüge und andere, informelle Rechtsmittel Das BVerfG hatte sich in seinem Plenumsbeschluss vom 30.04.200348 darauf beschränkt, für die Geltendmachung von Gehörsverletzungen im fachgerichtlichen Verfahren aus Gründen der Rechtsmittelklarheit anstelle informeller Rechtsmittel einen in der geschriebenen Rechtsordnung klar geregelten und in seinen Voraussetzungen für den Bürger erkennbaren ergänzenden Rechtsbehelf zu verlangen. Gleichzeitig hatte das Gericht allerdings deutlich gemacht, dass der Justizgewährungsanspruch (Art. 20 Abs. 3 GG) Rechtsschutz nicht nur bei Gehörsverletzungen, sondern in allen Fällen der erstmaligen Verletzung von Verfahrensgrundrechten durch die Gerichte ermögliche, also etwa auch wegen der Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), wenn dies rechtsstaatlich geboten sei.49 Da es bei der Vorlage an das Plenum und, damit korrespondierend, bei dem Gesetzgebungsauftrag jedoch primär um Rechtsschutz gegen die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch die Gerichte ging,50 sah auch der Gesetzgeber erklärtermaßen keinen Anlass, hierüber hinauszugehen und auch die Verletzung anderer grundrechtlicher Verfahrensgarantien einschließlich des prozessualen Willkürverbots zum Gegenstand eines ergänzenden, fachgerichtlichen Rechtsbehelfssystems zu machen.51 Das ist von vornherein als Defizit gerügt 52 und dementsprechend immer wieder versucht worden, entweder durch analoge Anwendung der Anhörungsrügen-Regelung oder aber daneben mit Hilfe informeller bzw. außerordentlicher Rechtsbehelfe wie Gegenvorstellung, außerordentliche Beschwerde u.ä. Möglich46 47
So ausdrücklich der Plenumsbeschluss d. BVerfG v. 30.4.2003, BVerfGE 107, 395, 411. So – im Ergebnis – auch BVerfG, Beschl. v. 5.5.2008 – 1 BvR 562/08 –, NJW 2008,
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BVerfGE 107, 395. BVerfGE 107, 395, 407. 50 BVerfGE 107, 395, 408 ff. 51 Vgl. BT-Drs. 15/3706 v. 21.9.2004, S. 14. 52 Vgl. nur Nassall ZRP 2004, 164, 168; Bloching/Kettinger JR 2005, 441, 444 f.; Rensen MDR 2005, 181, 182 f.; Kettinger ZRP 2006, 152; Schneider MDR 2006, 969, 970. 49
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keiten zu schaffen, der Verletzung von grundrechtlichen Verfahrensgarantien durch die Gerichte zu begegnen53. Das BVerfG hat sich in der Folgezeit auf einen eher formellen Standpunkt zurückgezogen und es unter Berufung auf den Plenumsbeschluss vom 30.4. 2003 gebilligt, dass der Bundesfinanzhof eine außerordentliche Beschwerde wegen einer (angeblich) bewussten und greifbar gesetzwidrigen Fehlentscheidung für unzulässig erklärt hat.54 Auf der anderen Seite hat das BVerfG es jedenfalls zunächst offen gelassen, ob eine Anhörungsrüge, mit der nicht die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zum Gegenstand gemacht wird, sondern mit der aufgrund einer erweiternden Auslegung des § 321a ZPO durch die Fachgerichte etwa die Verletzung des Willkürverbots oder des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter gerügt werden sollte, die Frist des § 93 Abs. 1 BVerfGG wahrte.55 Mit dem Senatsbeschluss vom 25.11.2008 56 ist dann aber wohl endgültig der Stab zumindest über die Gegenvorstellung gebrochen und gleichzeitig deutlich gemacht worden, dass das BVerfG ungeachtet seiner früheren, ausgefeilten Subsidiaritäts-Rechtsprechung 57 die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht länger von der vorherigen erfolglosen Einlegung insbesondere einer Gegenvorstellung abhängig mache. Zu dem Kuriosum dieser Entscheidung gehört, dass das BVerfG nicht nur dem dortigen Beschwerdeführer, der Gegenvorstellung erhoben hatte, von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt, sondern gleichzeitig allen Beschwerdeführern, die in anhängigen Verfahren geglaubt hatten, mit der Erhebung der Gegenvorstellung die VerfassungsbeschwerdeFrist gewahrt zu haben, bis spätestens Montag, den 2.3.2009, die Möglichkeit eingeräumt hat, ihrerseits Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen und gleichzeitig erneut Verfassungsbeschwerde einzulegen. 6. Die sekundäre Anhörungsrüge im Nichtzulassungsbeschwerde-Verfahren Einer besonderen Betrachtung sind die Beschlüsse des BVerfG wert, mit denen das Verhältnis von Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH, Anhörungsrüge und Verfassungsbeschwerde thematisiert worden ist. Dies ins-
53 Vgl. Bloching/Kettinger NJW 2005, 860; Schenke NVwZ 2005, 729, 739 sowie insbesondere Schnabl (o. Fn. 14), S. 93 ff.; in der Rechtsprechung ist diese Diskussion naturgemäß auch geführt bzw. aufgegriffen sowie unterschiedlich beantwortet worden und deshalb schließlich in einem Vorlagebeschluss des BFH an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes kulminiert (BFHE 219, 27 = NJW 2008, 543). 54 BVerfG, Beschl. v. 16.1.2007 – 1 BvR 2803/06 –, NJW 2007, 2538. 55 BVerfG, Beschl. v. 14.5.2007 – 1 BvR 730/07 –, NJW-RR 2008, 75. 56 BVerfG, Beschl. v. 25.11.2008 – 1 BvR 848/07 –, NJW 2009, 829. 57 S. dazu eingehend Lübbe-Wolff EuGRZ 2004, 669.
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besondere auch deshalb, weil die entsprechenden Beschlüsse sich einerseits an die Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Aktivierung von Verfahrensverstößen im Rahmen der Revisionszulassung „anhängten“ und diese beförderten, andererseits aber auch zur Klärung dessen beitrugen, was zum Gegenstand des Anhörungsrüge-Verfahrens gegen die Zurückweisung von Nichtzulassungsbeschwerden gemacht werden müsste, sowie schließlich deshalb, weil sich daraus kurz- oder mittelfristig sogar eine Modifizierung der bisherigen Anschauungen zur Begründung von Nichtzulassungsbeschwerde-Entscheidungen bzw. von Entscheidungen über Anhörungsrügen ergeben könnte. a) Die bisherige Praxis Die Anhörungsrüge ist, so bereits das BVerfG in seinem Plenumsbeschluss vom 30.4.2003, von Verfassungs wegen als zusätzlicher Rechtsbehelf nur dann erforderlich, wenn eine „neue und eigenständige“ Gehörsverletzung in der letzten in der Prozessordnung vorgesehenen Instanz gerügt wird bzw. gerügt werden soll.58 Ob speziell im Nichtzulassungsbeschwerde-Verfahren gem. § 544 ZPO vor dem BGH der Anspruch auf rechtliches Gehör „neu und eigenständig“ verletzt worden ist, ließ und lässt sich jedoch anhand der regelmäßig – unter Berufung auf die eingeschränkte Begründungspflicht des § 544 Abs. 4 ZPO – nur formularmäßig sowie unter Bezugnahme auf den Wortlaut des § 543 Abs. 2 ZPO begründeten Beschwerdeentscheidungen nicht nachvollziehen. Um im Blick auf das insoweit zu beachtende Gebot der Rechtswegerschöpfung (Queen Mary II-Beschluss des BVerfG 59) auf der sicheren Seite zu sein, wurde deshalb insbesondere in den Fällen, in denen bereits die Nichtzulassungsbeschwerde (u.a.) mit einer Gehörsverletzung der Vorinstanz begründet worden war, von den BGH-Anwälten gegen den die Nichtzulassungsbeschwerde zurückweisenden Beschluss auch noch Anhörungsrüge erhoben, ohne dass sich der BGH aber deswegen – abgesehen von Einzelfällen – eine weitere Begründung für seinen Umgang mit der Nichtzulassungsbeschwerde entlocken ließ 60. Am Ende dieser „Leerlaufkette“,61 die
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BVerfGE 107, 395, 410 f. Beschl. v. 25.4.2005 (o. Fn. 17). 60 Vgl. BGH, NJW-RR 2006, 63, 64: „Weder aus § 321a Abs. 4 S. 5 ZPO, nach dem der Beschluss kurz begründet werden soll, noch unmittelbar aus Verfassungsrecht ergibt sich eine Verpflichtung zu einer weitergehenden Begründung der Entscheidung. Ansonsten hätte es eine Partei in der Hand, mittels einer Anhörungsrüge nach § 321a ZPO die Bestimmung des § 544 Abs. 4 S. 2 ZPO im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren auszuhebeln. Auch nach der Gesetzesbegründung kann eine Gehörsrüge gegen eine Entscheidung über eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht dazu eingelegt werden, eine Begründungsergänzung herbeizuführen (BT-Drs. 15/3706, S. 16; vgl auch Senat, NJW 2005, 1432 [1433]).“ 61 So die zutreffende Apostrophierung von Zuck NJW 2008, 479, 481. 59
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die Anhörungsrüge bestenfalls zum Durchlauferhitzer degenerierte, stand dann doch wieder das dadurch in keiner Weise entlastete, sondern eigentlich mehr belastete Bundesverfassungsgericht, das sich ohne nachvollziehbare Vorgaben durch den Bundesgerichtshof in der Pflicht sah, den Gehörsrügen gegen die Entscheidung der Vorinstanz des Bundesgerichtshofs nachzugehen. b) Die Kammerbeschlüsse von 2007 Damit und mit der sog. sekundären Gehörsrüge hat jedenfalls der Erste Senat des BVerfG in zwei Kammerbeschlüssen aus dem Jahre 2007 62 und einem weiteren, sich auf die inzwischen geänderte Rechtsprechung des BGH 63 beziehenden Kammerbeschluss aus dem Jahre 200864 Schluss gemacht. Unter Berufung auf die von ihm als „inzwischen gefestigt“ bezeichnete – und dadurch noch mehr gefestigte – Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach der Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG stets einen Verfahrensfehler darstelle, der für die Zulassung der Revision nach Maßgabe des § 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO (Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung) ausreiche,65 hat das BVerfG zunächst deutlich gemacht, dass die Nichtzulassungsbeschwerde geeignet und dazu vorgesehen sei, (auch) die Rüge von Gehörsverletzungen durch die Vorinstanz, das Berufungsgericht, zu überprüfen. Damit sei den Anforderungen des Art. 103 Abs. 1 GG hinreichend Rechnung getragen und daran ändere auch eine fehlerhafte Beurteilung der Gehörsrüge durch das Rechtsmittelgericht nichts. Werde also die Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen und dementsprechend eine Gehörsverletzung durch die Vorinstanz (im Ergebnis) verneint, entfalle nicht nur die Notwendigkeit der Anhörungsrüge; sie erweise sich darüber hinaus auch als (offensichtlich) unzulässiger Rechtsbehelf, mit dem sich die Beschwerdefrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG nicht wahren lasse. c) „Neue und eigenständige Gehörsverletzung“ Etwas anderes kann und soll nach dieser Rechtsprechung nur dann gelten, wenn mit der Anhörungsrüge eine „neue und eigenständige“ Gehörsverlet62 BVerfG, Beschl. v. 9.7.2007 – 1 BvR 646/06 –, NJW 2007, 3418, sowie Beschl. v. 23.10. 2007 – 1 BvR 2208/07 –, juris. 63 BGH, NJW 2008, 923; diese Entscheidung nimmt ihrerseits Bezug auf den Beschl. d. BVerfG v. 9.7.2007 (o. Fn. 62). 64 BVerfG, Beschl. v. 5.5.2008 – 1 BvR 562/08 –, NJW 2008, 2635 m. Anm. Zuck. 65 BGHZ 154, 288; BGH, NJW 2003, 3205, 3206; BGHZ 159, 135; BGH, NJW 2005, 1950; zu der früheren Kontroverse hinsichtlich dieser Frage s. Scheuch/Lindner NJW 2004, 112, 114, sowie zur Billigung der früheren BGH-Rechtsprechung, wonach nur ein offenkundiger und durchgehender Verstoß u.a. gegen Verfahrensgrundrechte die Revisionszulassung rechtfertige, BVerfG, Beschl. v. 26.7.2005 – 1 BvR 85/04 –, NJW 2005, 3345.
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zung durch das letztinstanzlich zuständige Rechtsmittelgericht gerügt wird. Bei den formularmäßig begründeten (negativen) NichtzulassungsbeschwerdeBeschlüssen des BGH ist man jedoch – und damit schließt sich der Kreis – insoweit auf Vermutungen angewiesen. Und selbst wenn der BGH inzwischen diese Vorgabe des BVerfG aufgegriffen hat 66 und glauben sollte, damit ein Mittel gefunden zu haben, sich der lästigen (sekundären) Anhörungsrüge zu entledigen, so erscheint es doch nicht von vornherein ausgeschlossen, die Anhörungsrüge mit dem Argument zulässig zu machen, diese richtet sich nicht gegen die Gehörsverletzung durch die Vorinstanz, sondern erklärtermaßen dagegen, dass der BGH trotz Erhebung einer entsprechenden Gehörsrüge im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde diese formularmäßig zurückgewiesen habe, was nur den Schluss auf eine „neue und eigenständige“ Gehörsverletzung durch den BGH selbst zulasse.67 Denn auch nach dem erwähnten Kammerbeschluss des BVerfG von 2008 ist dies erklärtermaßen nicht ausgeschlossen, sondern lediglich die Annahme, die fehlerhafte Behandlung der Rechtsbehauptung über das Vorliegen eines Gehörsverstoßes bedeute „stets“ bzw. regelmäßig eine weitere Gehörsverletzung.68 Dieser Circulus vitiosus wird sich wohl erst dann durchbrechen lassen, wenn die Begründungspflicht nach § 544 Abs. 4 ZPO ernster genommen wird, ggf. aufgrund einer ergänzenden Intervention des BVerfG69. Konsequenterweise sollte zur weiteren Entlastung des BVerfG dann auch der im nachfolgenden Anhörungsrüge-Verfahren ergehende Beschluss nicht nur „kurz“ (so der Wortlaut des § 321a Abs. 4 S. 5 ZPO), sondern jedenfalls so umfangreich begründet werden, dass ein präsumtiver Beschwerdeführer die Chancen eines Verfassungsbeschwerde-Verfahrens wegen Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG einigermaßen realistisch einschätzen kann und für den Fall der Einlegung der Verfassungsbeschwerde tatsächlich in die Lage versetzt wird, sich inhaltlich mit der Begründung des entsprechenden Beschlusses auseinanderzusetzen, „… um Sinn und Zweck des Gebots der Rechtswegerschöpfung ausreichend Rechnung zu tragen.“70
66 BGH, NJW 2008, 923; NJW 2008, 2126; Beschl. v. 31.1.2008 – III ZR 57/07 –, juris; Beschl. v. 19.5.2008 – VII ZR 159/07 –, www.bundesgerichtshof.de/Entscheidungen. 67 So Sangmeister NJW 2007, 2363, 2364, sowie etwa Zuck AnwBl 2008, 168, 171; dagegen Lindner AnwBl 2008, 362. 68 Vgl. erneut BVerfG, Beschl. v. 5.5.2008 (o. Fn. 64). 69 In dem noch beim Ersten Senat des BVerfG anhängigen Verfahren 1 BvR 2649/06 hat der Berichterstatter die dortige Verfassungsbeschwerde dem BGH mit der Bitte um eine Stellungnahme u.a. zu der Frage zugestellt, „… wie die Zivilsenate des Bundesgerichtshofs die Vorschrift über die Begründung eines die Nichtzulassungsbeschwerde zurückweisenden Beschlusses (§ 544 Abs. 4 Satz 2 ZPO) handhaben und wie sie den Aufwand von Begründungen in seiner Auswirkung auf die Erledigung der Verfahren einschätzen“. Das Anhörungsverfahren ist abgeschlossen, die Entscheidung des BVerfG steht aus. 70 So ausdrücklich BVerfG, Beschl. v. 23.10.2007 (o. Fn. 62).
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Nur bei einer solchen Abfolge und inhaltlichen Anreicherung der einschlägigen fachgerichtlichen Entscheidungen ist tatsächlich gewährleistet, dass das BVerfG entsprechend seiner allenfalls subsidiären Funktion im Urteils-Verfassungsbeschwerde-Verfahren einen von den Fachgerichten hinreichend vorgeklärten und vom Beschwerdeführer gezielt unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten wieder aufgegriffenen und zur Entscheidung gestellten Sachverhalt unterbreitet erhält und hierüber abschließend entscheiden kann. d) „a.A. BVerfG, Beschl. v. 21.6.2005“ Bleibt nachzutragen, dass sich der Erste Senat des BVerfG auch mit seiner Kammerrechtsprechung zur (Unzulässigkeit) der sekundären Gehörsrüge erklärtermaßen in Widerspruch zu einer anders lautenden Beschlussfassung aus den Reihen des Zweiten Senats gesetzt hat. Denn dessen 2. Kammer hatte es in Ansehung des Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde für erforderlich gehalten, Anhörungsrüge auch dann zu erheben, wenn es das zuständige Beschwerdegericht abgelehnt hatte, die Rechtsbeschwerde gem. § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG wegen Versagung des rechtlichen Gehörs ganz oder teilweise zuzulassen. Damit „… würde sich das Beschwerdegericht den Gehörsverstoß des Amtsgerichts zu eigen machen und den Verfassungsverstoß (Art. 103 Abs. 1 GG), den zu beseitigen es bereits aufgrund des eindeutigen Wortlauts des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG gehalten ist, im Beschlussverfahren perpetuieren.“71 Solange sich diese divergierende Kammerrechtsprechung unverbunden und unvermittelt gegenüber steht, wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als jedenfalls auch Anhörungsrüge zu erheben, gleichzeitig aber fristwahrend Verfassungsbeschwerde, um die Gratwanderung zwischen dem Gebot der Rechtswegerschöpfung und der Fristversäumung wegen öffentlicher Unzulässigkeit des zuletzt eingelegten Rechtsmittels zu bestehen.
IV. Ergebnis Diese Betrachtungen über die Irrungen und Wirrungen eines vom BVerfG initiierten, jedoch nicht effektiv umgesetzten und in seinem verfassungsprozessualen Ansatz nicht weiter verfolgten Sonderrechtsbehelfs im Bereich der Verfahrensgrundrechte nötigt zu folgendem eher pessimistischen, um nicht zu sagen negativen Resümee: 1. Der Plenumsbeschluss des BVerfG vom 30.4.2003 sollte erklärtermaßen zur Entlastung des Gerichts von den auf die Verletzung von Verfahrens71
BVerfG, Beschl. v. 21.6.2005 – 2 BvR 658/05 –, BVerfGK 5, 337, 338 f.
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grundrechten gestützten Verfassungsbeschwerden dienen und gleichzeitig die entsprechenden Kompetenzen der Fachgerichtsbarkeit stärken. Diese zunächst vergleichsweise breit angelegte Zielsetzung erschöpfte sich jedoch konkret in der Forderung nach Einführung eines zusätzlichen Rechtsbehelfs im Bereich der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, der sog. Anhörungsrüge. Und der Gesetzgeber ist hierüber trotz des ihm insoweit eröffneten Ermessens auch nicht hinausgegangen. 2. Das BVerfG hat die Geister, die es rief, nach Art des Goetheschen Zaubermeisters („sei’s gewesen“) auch selbst wieder in den Abstand verwiesen. Weitere informelle Rechtsmittel zur Stärkung oder Durchsetzung der Verfahrensgrundrechte neben oder in analoger Anwendung der Anhörungsrüge hat es bisher nicht nur nicht zugelassen, sondern auch nicht für erforderlich erklärt, um den Rechtsweg zu erschöpfen. Damit hat es zwar für Klarheit gesorgt, gleichzeitig aber die Fachgerichte wieder aus der Verantwortung entlassen und sein Bemühen um Entlastung im Bereich der Verfahrensgrundrechte selbst relativiert. 3. Aber auch soweit es nur um den Umgang mit der Anhörungsrüge geht, ist die Rechtsprechung des BVerfG nicht frei von Diskrepanzen und Dissonanzen, die dem Entlastungseffekt zusätzlich zuwider laufen. Das betrifft sowohl die Frage der gesonderten Anfechtbarkeit der Entscheidung über die Anhörungsrüge, als auch insbesondere die Problematik der sekundären Gehörsrüge, die in der Kammerrechtsprechung unterschiedlich beantwortet bzw. gelöst werden. Eine gewisse Abhilfe könnte geschaffen werden, wenn sich das BVerfG in einem dazu geeigneten Verfahren entschließen würde, speziell den BGH zu einer umfassenderen Begründung seiner Nichtzulassungsbeschwerde-Entscheidungen zu verpflichten und darüber hinaus generell darauf zu drängen, auch negative AnhörungsrügenBeschlüsse in einem solchen Umfang zu begründen, dass die Frage der Gehörsverletzung bei der nachfolgenden Anrufung des BVerfG besser eingeschätzt werden kann und dieses in die Lage versetzt wird, den entsprechend fachgerichtlich aufbereiteten Sachverhalt kurzfristig zu entscheiden. 4. Bereits die „kleine“ Anhörungsrüge des § 321a ZPO a.F. hat zu einer erheblichen Produktion von einschlägiger Rechtsprechung und Literatur geführt. Erst recht galt und gilt dies für die auf alle letztinstanzlichen Endentscheidungen erstreckte Anhörungsrüge §§ 321a ZPO n.F. und für die identischen Bestimmungen in den übrigen Prozessordnungen. Die tatsächliche Bedeutung und vor allem die Effektivität der Anhörungsrüge dürften jedoch zu dem damit entfalteten Aufwand in keinem mehr zu rechtfertigenden Verhältnis stehen. Das muss auch und gerade im Blick auf die damit beabsichtigte Entlastung des BVerfG angenommen werden. Allenfalls in den Verfahren vor den Amtsgerichten lässt sich eine gewisse
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Effektivität der Anhörungsrüge nachweisen; dazu hätte aber auch die Anhörungsrüge in der Fassung des § 321a ZPO a.F. ausgereicht. 5. Jedenfalls so lange, wie der Anhörungsrüge des § 321a ZPO n.F. weder ein Suspensiv- noch insbesondere ein Devolutiveffekt zukommt, wird sich die Anhörungsrüge deshalb in unserem ausdifferenzierten Rechtsmittelsystem, von Einzelfällen abgesehen, weiterhin als Fremdkörper bzw. als Blindgänger erweisen. Zwar ist speziell die Erfolgsquote von (Sonder-) Rechtsbehelfen, wie das Beispiel der Verfassungsbeschwerde zeigt, nicht unbedingt und nicht allein ein Gradmesser für ihre Notwendigkeit oder Bedeutung. Anders als den häufig über den konkreten Fall hinauswirkenden Beschlüssen des BVerfG in Verfassungsbeschwerde-Verfahren kommt der Verbescheidung der (massenhaft erhobenen) Anhörungsrügen jedoch allenfalls auf den Einzelfall bezogene, singuläre Bedeutung zu. Sinnvoller und zielführender wäre deshalb der verantwortungsbewusste und sowohl an den Verfahrensgrundrechten der beteiligten Parteien orientierte als auch der Entlastung des BVerfG verpflichtete Umgang der Gerichte mit den zu ihnen erhobenen Klagen und Rechtsmitteln, einschließlich der aussagekräftigen Begründung ihrer Entscheidungen. Das würde es dann auch den anwaltlichen Bevollmächtigten und Beratern der Parteien erlauben, realistischer die Chancen zu beurteilen, die streitgegenständlichen Ansprüche ihrer Mandanten in einer weiteren Instanz, möglicherweise sogar im Rahmen von Verfassungsbeschwerde-Verfahren, durchzusetzen.
Vielfalt nationalen Grundrechtsschutzes und die einheitliche Gewährleistung der EMRK Johannes Masing I. Einleitung: Grundrechte mit universellem Anspruch und nationaler Verbürgung Das Verhältnis von Europäischer Menschenrechtskonvention und nationalem Grundrechtsschutz führt in eine Grundspannung des modernen Verfassungsstaats, die diesen seit seiner Geburtsstunde kennzeichnet: Das Verhältnis von Universalismus und nationaler Selbstbestimmung.1 Zwar bezieht sich die EMRK ihrem Geltungsanspruch nach nur auf Vertragsstaaten in Europa, jedoch nimmt sie mit der Idee einer überstaatlichen Grundrechtsgewährleistung das universalistische Moment des Verfassungsstaats auf: Die Überzeugung, dass die Freiheit und Gleichheit der Bürger dem Staat vorausliegt und damit den Bürgern unveräußerliche Menschenrechte zustehen, die zu achten und zu schützen Grundlage jeder staatlichen Herrschaftsausübung sein muss. Das Konzept einer auf die einzelnen Staaten übergreifenden Konvention, die über alle Partikularismen hinweg diese allgemeine Idee Wirklichkeit werden lässt und ihr gegenüber allen Regierungen machtvoll Raum verschafft, knüpft an die Überzeugung der Philosophie der Aufklärung und des Idealismus an. Danach gibt es unverfügbare Rechte des Menschen, die ihren Grund in der Idee der Freiheit und damit in der Würde der Person selbst haben. Eine übergreifende Konvention, ein Gericht, eine Dogmatik scheint danach ein naheliegendes Postulat. Diese universalistische Perspektive bricht sich indes an der nationalen Radizierung der Verfassungsidee. Die Verfassung ist Ausdruck selbstbestimmter Rechtsetzung. Als politische Entscheidung wird sie – unter Hinwegfegen aller althergebrachten Rechte – durch Proklamation geschaffen und setzt eine Ordnung in Kraft, in der nur das als Recht Anerkennung finden kann, was auf der Grundlage der Gleichheit und Freiheit beschlossen wird. Die Verfassung ist Ausdruck eines kollektiven Willensaktes, getragen alleine von denen, die sich als politische Einheit konstituieren und unter dieser Ver-
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Gosewinkel/Masing Einführung in die Texte: Grundlinien der europäischen Verfassungsentwicklung, in: dies. (Hrsg.), Die Verfassungen in Europa 1789–1949, 2006, 9, 13 ff.
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fassung leben wollen: der Nation. Auch die in den Verfassungen enthaltenen Grundrechtsverbürgungen sind damit Ausdruck eines politischen Willenaktes und bilden eine in bestimmten Bezügen ausgeformte und gestaltete kulturelle Errungenschaft. Sie knüpfen an die Überzeugung allgemeiner Menschenrechte an, verstehen sich aber als kontingente Antwort auf spezifisch-kollektive Problemlagen angesichts je eigener historischer Erfahrungen und Herausforderungen. Die nationalen Grundrechtskataloge bzw. ihre Surrogate sind soweit mehr und anderes als nur der Verweis auf die allgemeine Idee des immer Gleichen: Grundrechtsschutz ist geronnene kollektive Erfahrung – in seinem Inhalt wie in seiner Organisation. Der moderne Verfassungsstaat trägt diese Spannung stets in sich, und diese prägt den Grundrechtsschutz seit jeher. Fruchtbar bewältigt werden kann sie nur, wenn die verschiedenen Momente dialektisch ineinander geführt werden – wenn das Besondere im Allgemeinen aufgehoben bleibt. Für die EMRK lässt sich hiermit zunächst an ihre historische Grundidee anknüpfen.2 Sie war eine gegenseitige Versicherung zum Schutz vor nationalen Aus- und Unfällen. Als Reservegarantie, die in Europa ein neues gemeinsames Fundament und übergreifende Mindestgarantien für jeden Bürger schaffen wollte, wollte sie nie die Vorhand oder Leitschnur für die verschiedenen Rekonstruktionen von Rechtsstaatlichkeit in den verschiedenen Ländern übernehmen. Sie war aber das gemeinsame Band, das ein Zurückfallen in die Barbarei, wie sie damals leidvoll erlebt worden war, europaweit ein für alle Mal verhindern sollte.
II. Nationale Verantwortung für Grundrechtsschutz und den Schutz der Europäischen Menschenrechtskonvention Die Konvention stellt nicht in Frage, dass Grundrechtsschutz in den verschiedenen Staaten Europas sehr verschieden ins Werk gesetzt wird. Ob Grundrechtsschutz durch nationale Grundrechtskataloge oder durch eine Inkorporierung der Konvention unmittelbar gewährleistet wird, ob Grundrechte als höherrangige Normen oder mittels ausgestaltender Fachgesetze gewährleistet werden, gibt die Konvention ebenso wenig vor wie die Entscheidung, ob die Durchsetzung durch spezialisierte Gerichte erfolgt oder im Rahmen des fachgerichtlichen Rechtsschutzes.3 Sie gewährt nur das Ergebnis – aber das mit Pathos: dass künftig in ganz Europa die Menschenrechte
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Vgl. Grote in: ders./Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, 2006, Kap. 1 S. 9 ff. EGMR, Schwedischer Lokomotivführerverband gegen Schweden, Urteil vom 6.2. 1976, No. 5614/72, § 50, EuGRZ 1976, 62, 67; Grabenwarter Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl., 2008, § 3 Rn. 1; Van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 4. Aufl., 2006, 26; Geiger Grundgesetz und Völkerrecht, 4. Aufl., 2009, § 73 VI Rn. 1. 3
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hinreichend gesichert sind. Naturgemäß formuliert die Konvention insoweit eigene Maßstäbe, die der Europäische Gerichtshof zu entfalten hat und auf die sich Bürger ihm gegenüber auch unmittelbar berufen können. Diese müssen aber nicht auch unmittelbar Maßstäbe des innerstaatlichen Rechts sein, welche als solche von innerstaatlichen Gerichten durchzusetzen sind. Insoweit ist es nicht Ignoranz, sondern grundsätzlich konventionsadäquat, wenn in vielen Ländern und auch in Deutschland die Konvention lange Zeit keine eigenständige Rolle gespielt hat.4 Entsprechend der Reservefunktion der EMRK sieht diese auch keine Inkorporierung des Gerichtshofs und seiner Entscheidungen in die jeweiligen nationalen Rechtsordnungen vor: Der EGMR ist nicht hierarchisch übergeordnet, er kann Entscheidungen der nationalen Gerichte oder Behörden nicht aufheben, er kann keine unmittelbar bindenden Anordnungen erlassen und seine Entscheidungen haben auch sonst keine unmittelbare Wirkung in die nationalen Rechtsordnungen hinein.5 Daran ändert auch Art. 46 EMRK nichts, der die Vertragsparteien verpflichtet, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, die Urteile des Gerichtshofs zu befolgen. Diese Befolgungspflicht richtet sich allein an den Vertragsstaat und bezieht sich in ihrem rechtsförmlich vertraglich vereinbarten Umfang nur auf die je konkrete einzelne Entscheidung, die durch den jeweiligen Streitgegenstand bestimmt wird.6 Dieser kann, insbesondere im Fall der Staatenbeschwerde (Art. 33 EMRK), zwar durchaus auch sehr weit gefasst und grundsätzlicher Natur sein. Im Fall der Individualbeschwerde beschränken sich die Urteile aber in der Regel darauf, eine bereits abgeschlossene Einzelentscheidung ggf. für konventionswidrig zu erklären und den Konventionsstaat dazu zu verpflichten, Wiedergutmachung in Form einer Geldzahlung zu leisten. Allerdings setzt die Konvention aber doch voraus, dass ggf. bestehende strukturelle Defizite des Grundrechtsschutzes auch dauerhaft behoben und prinzipielle Konflikte gelöst werden. Mit einer übergreifenden Konvention, getragen von dem Anspruch der Menschenrechtsgewährleistung, ist dieses unweigerlich verbunden. Die vertragliche Verpflichtung aus der EMRK be-
4 Grote in: ders./Marauhn (Hrsg.) (Fn. 2), EMRK/GG, 2006, Kap. 1 Rn. 54 f.; Ehlers Allgemeine Lehren, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2005, 26; zur Bedeutung der EMRK im Vereinigten Königreich durch den Human Rights Act 1998 Baum Rights Brought Home, EuGRZ 2000, 281 ff. 5 Vgl. aber zur mittelbaren Wirkung: Bindung an vorläufige Maßnahmen seit EGMR, Mamatkulov u. Askarov gegen Türkei, Urteil vom 4.2.2005, No. 46827/99 und 46951/99, § 128 f.; vgl. Grabenwarter (Fn. 3), § 12; Harris/O’Boyle/Warrick Law of the European Convention on Human Rights, 2009, 842 f. 6 BVerfGE 111, 307 (322 f.); Cremer in: Grote/Marauhn (Hrsg.) (Fn. 2), EMRK/GG, 2006, Kap. 32 Rn. 70 ff; Vedder Integrierter Grundrechtsschutz in Europa, in: Bauer/Czybulka/Kahl/Voßkuhle (Hrsg.), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat – Festschrift für Reiner Schmidt, 2006, 179, 187 ff.
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schränkt sich nicht auf die Befolgung des Art. 46 EMRK, sondern betrifft die wirksame Umsetzung der Konvention als Ganzer, und wenn insoweit eine übergreifende Gerichtsbarkeit geschaffen wurde, so muss sich auch das Verständnis der materiellen Verpflichtungen aus der Konvention an deren Rechtsprechungslinien zumindest orientieren. Auch wenn dabei Konfliktlösungen formal betrachtet nicht in einer unmittelbaren Induktion bzw. Stärkung der unmittelbaren Maßstäbe der Konvention selbst gesucht werden müssen, so entsteht hierzu jedenfalls faktisch doch ein Druck, wenn sich die Ableitungen aus der Konvention so weit ausdifferenzieren, dass man immer weniger davon ausgehen kann, sie durch anderweitige Verbürgungen quasi automatisch mit abzudecken. Im exponentiell anwachsenden Korpus von Entscheidungen des EGMR wird dieses letztlich unausweichlich. Dies ist auch nicht etwa Ausdruck einer überschießenden Rechtsprechungspraxis des EGMR, mit dem dieser seine Aufgaben überziehen würde. Es ist vielmehr die strukturell unausweichliche Konsequenz eines Rechtsprechungsauftrags, der den Gerichtshof zum Garanten der Konventionsrechte gegenüber jedem Bürger macht. Die Konvention treibt damit über sich selbst hinaus. Gerade angesichts dieser Dynamik ist es wichtig, dass die Form der Induzierung der Konventionsmaßstäbe dabei rechtlich jedoch offen bleibt. Die Sicherstellung der Konventionspflichten ist damit der politischen Gestaltung überlassen, und dies umfasst auch die Möglichkeit, eher pragmatisch als rechtssystematisch geschlossen vorzugehen. Ein Vorrangpostulat wie im Gemeinschaftsrecht 7 gibt es hier nicht. Das deutsche Recht führt die EMRK wie alle völkerrechtlichen Verträge im Rang einfachen Rechts in die deutsche Rechtsordnung ein.8 Sie gilt immerhin zwar unmittelbar, aber nicht mit Verfassungsrang – und schon gar nicht mit unmittelbarem Vorrang vor der Verfassung. Man mag das rechtspolitisch für diskussionsbedürftig halten und hierfür auf andere Umsetzungsformen verweisen, die der Konvention – wie etwa in Österreich9 – Verfassungsrang einräumen. De constitutione lata ist das Grundgesetz insoweit bei unvoreingenommener Lesart aber eindeutig. Es stellt das Konventionsrecht als einfaches Recht unter die Grundrechte und geht von einer Gewährleistung der europäischen Menschenrechte im Rahmen der Grundrechte aus. Dieser Befund kann auch durch den wohlmeinenden Appell für eine Offenheit für das internationale Recht nicht hinweginter-
7 Vgl. EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, 1251; seither ständige Rechtsprechung des EuGH: Simmenthal II, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, Rn. 17/18. 8 Zustimmungsgesetz: BGBl. 1952 II S. 685; Giegerich in: Grote/Marauhn (Hrsg.) (Fn. 2), EMRK/GG, 2006, Kap. 2 Rn. 42 ff. 9 Grabenwarter (Fn. 3), § 3 Rn. 3 (BGBl. 1964 S. 59); vgl. zur Stellung der EMRK in den Mitgliedstaaten Chryssogonos Zur Inkorporation der Europäischen Menschenrechtskonvention in den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, EuR 2001, 49 ff.
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pretiert werden.10 Entsprechende Versuche sind dabei ironischerweise nicht selten von einer einseitig am zentralstaatlichen Recht orientierten Vorstellung schlicht linearer Normenhierarchien geprägt. Doch auch im Rang einfachen Rechts ist die Konvention nicht so schwach, wie es manchen scheint. Denn im Ergebnis ist sie durch die Rechtsprechung in einer Weise aufgewertet, die bei pragmatischer Betrachtung die Durchsetzung des Konventionsrechts sicherstellt. Materiell entscheidend ist insoweit der Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung11: Solange sich der Gesetzgeber nicht ausdrücklich und bewusst über Konventionsverpflichtungen hinwegsetzen will, gilt die Vermutung, dass bei der Auslegung einfachen Rechts die Konventionsanforderungen Beachtung finden müssen. Indem dieser Grundsatz sogar aus Art. 1 II GG hergeleitet wird, werden damit die sonst geltenden Auslegungsgrundsätze der lex posterior oder lex specialis praktisch außer Kraft gesetzt und wird gegenüber dem einfachen Recht eine Art Vorrangwirkung der Konvention geschaffen. Für die Auslegung der Konvention sind damit – im Sinne der allgemeinen Präjudizienwirkungen von Entscheidungen nach kontinentaleuropäischem Recht – auch die Entscheidungen des EGMR von zentraler Bedeutung. Sie bilden zwar selbst nicht einen für sich verbindlichen Rechtskörper wie Entscheidungen im Common-Law-System, sondern verstehen sich als Gesetzesauslegung für den konkreten Fall, von deren Lehrsätzen im Sinne eines Dialogs zwischen Instanzen und Gerichtsbarkeiten im Einzelfall – etwa mit dem Versuch einer überzeugenderen Auslegung – auch abgewichen werden darf. Formell beschränkt sich ihre Wirkung auf die Rechtskraft des jeweiligen Falls.12 Der Sache nach aber dirigieren sie wie letztinstanzliche Entscheidungen sonst die Auslegung der Konventionsbestimmungen und sollen dieses auch. Eine solche faktische Vorordnung der Konvention vor das einfache Recht ist nicht nur aus Sicht der Konvention sachgerecht, sondern ist auch aus Sicht der Verfassung stringent. Sie ist eine konsequente Auflösung der Problemlage mittels Auslegung, nicht aber ein Akt der Rechtsfortbildung contra constitutionem: Für den Normalfall ist es einleuchtend, davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die von ihm selbst eingegangenen Konventionsverpflichtungen achten und seine Regelungen in diese eingepasst wissen will. Nur wenn er unmissverständlich deutlich macht, dass er davon abrücken will bzw. un-
10 Vgl. aber mit der These eines Vorrangs Bleckmann Völkerrecht, 2001, 300 ff. Rn. 937 ff; ders. Verfassungsrang der Europäischen Menschenrechtskonvention?, EuGRZ 1994, 149 ff. 11 BVerfGE 111, 307, 329; Tomuschat Die Entscheidung für die internationale Offenheit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 172 Rn. 27 ff. 12 Zweigert/Kötz Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl., 1996, § 18 II, S. 253 (256); s. aber auch Cappelletti The Doctrine of Stare Decisis and the Civil Law: A Fundamental Difference – or no Difference at All?, in: Festschrift für Zweigert, 1981, 381 ff.
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abhängig von dem Stand der Rechtsauslegung der Konvention durch andere Instanzen autoritativ auf einer eigenen Auslegung der Konvention beharrt, ist diese Vermutung widerlegt. Der verfassungsrechtlich gewährleistete Vorrang der politischen Entscheidung vor der Umsetzungspflicht völkerrechtlicher Verträge bleibt so gewahrt, aber ausgehend von diesen Kriterien selbst realitätsgerecht zurückgenommen auf Fälle, in denen eine solche Entscheidung bewusst getroffen wird.13 Der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung wird darüber hinaus freilich auch für die Grundrechtsinterpretation herangezogen. Er kann hier aber in Respekt vor der rechtlichen Nachordnung des Völkervertragsrechts gegenüber der Verfassung nur weniger strikte Wirkungen entfalten. Die einfachrechtliche Entscheidung des Gesetzgebers, einer solchen Konvention beizutreten, kann die Verfassung – und damit auch ihre Auslegung – nicht ändern, und auch das Bekenntnis der Verfassung zu den international anerkannten Menschenrechten und die Einbindung der Bundesrepublik in die internationale Gemeinschaft können nicht so ausgelegt werden, als würden sie dazu führen, dass der Beitritt zu menschenrechtsbezogenen Vertragswerken und Institutionen diesen Verfassungsrang und gar Verfassungsvorrang verleihen würde. Insoweit kann aus der Verfassung nur hergeleitet werden, dass die Grundrechte ihrem Verständnis nach grundsätzlich in der Tradition und Zielrichtung auch der internationalen Verbürgungen solcher Rechte stehen und entsprechend zu verstehen sind. Von daher lässt sich das Konventionsrecht den Grundrechten nicht förmlich entgegensetzen, sondern ist nur zu „berücksichtigen“.14 Mit dem Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung wird auch hier aber der Einklang zwischen Konventionsrecht und Grundrechten jedenfalls pragmatisch wirksam eröffnet. Insbesondere tragen hierzu auch die prozessualen Sicherungen bei, mit denen die vielgescholtene Görgülü-Entscheidung das Europarecht durchaus letztlich gestärkt hat15: Bürger können sich nun auch vor dem Bundesverfassungsgericht auf die EMRK berufen. Im Ergebnis wird damit prozessual eine möglichst weitgehende Zusammenführung der Maßstäbe gefördert: Eine Missachtung von Konventionsanforderungen wegen eines angeblichen Konflikts mit den deutschen Grundrechten geht nun am Bundesverfassungsgericht 13 Vgl. ähnl. zu Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention Masing Methodische Grundlagen für die Auslegung der Genfer Flüchtingskonvention, in: Grawert (Hrsg.), Offene Staatlichkeit: Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde, 1995, S. 51, 58 ff. 14 BVerfGE 111, 307, 324 f.; Cremer Zur Bindungswirkung von EGMR-Urteilen, EuGRZ 2004, S. 82 ff.; Lübbe-Wolff ECHR and national jurisdiction – The Görgülü Case, 2006, http://www.humboldt-forum-recht.de/druckansicht/druckansicht.php?artikelid=135 (letzter Abruf 2.4.2009). 15 Vedder (Fn. 6), S. 179, 194 f.; Grupp/Stelkens Zur Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention bei der Auslegung deutschen Rechts, DVBl. 2005, 133, 140 ff.
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endgültig nicht mehr vorbei: Dieses hat somit Gelegenheit, nach Wegen zu suchen, die ein Auseinanderdriften gewährleisten. Dass es solche findet, ist zwar nicht gewährleistet – und dieser Vorbehalt gilt im völkerrechtlich radizierten Dialog zwischen den Gerichten auch bewusst. Es ist aber doch wahrscheinlich.
III. Interpretationsdifferenzen im Dialog der Gerichte Freilich sind Konflikte damit nicht überhaupt ausgeschlossen.16 Sie hängen dabei im Zweifel weniger an der Frage, nach welchem Regelwerk entschieden wird, als vielmehr an einem unterschiedlichen Verständnis davon, welche Reichweite bestimmten Prinzipien zukommt und welche Durchsetzungskraft gegenüber anderen Rechten, Interessen oder Kompetenzen aus ihnen folgen müssen. Verschiedene Interpretationen derselben menschenrechtlichen Prinzipien werden dabei je öfter auftreten, je differenziertere und anspruchsvollere Judikate und Gedankengebäude sich hier gegenübertreten. Ironischerweise nehmen somit die Probleme zu, wenn die Grundrechte besser geschützt werden. Ein klarer Konfliktmechanismus existiert für solche Interpretationsdifferenzen im deutschen Recht oder in der Konvention selbst nicht. Insbesondere gilt – entsprechend des dargelegten Verhältnisses von Konventionsrecht und nationalem Recht – keine hierarchische Überordnung der Entscheidungen des EGMR. Auch wenn selbstverständlich die Mitgliedstaaten an seine Entscheidungen gebunden sind, so folgt hieraus keine Erweiterung der begrenzten Wirkungen seiner Urteile und jedenfalls kein unmittelbarer Vorrang mit Bindungswirkung gegenüber staatlichen Gerichten, die eventuell ohnehin innerstaatlich nach eigenen Normen zu entscheiden haben. Der völkerrechtlichen Natur der Konvention entsprechend ist der Konflikt nicht in eine rechtstheoretische Normen- und Geltungshierarchie aufgelöst, sondern verweist auf die Mitwirkung und den Mitwirkungswillen staatlicher Instanzen. Völkerrechtliches Dürfen und völkerrechtliches Können sind bewusst unterschieden – und damit in ein Spannungsverhältnis gebracht, das nicht zuletzt auf eine Rechtspraxis verweist, die das „Dürfen“ im Kräfteparallelogramm der Vertragsparteien näher konkretisiert. Verlangt wird damit der vielzitierte „Dialog der Gerichte“.17
16 Mückl Kooperation oder Konfrontation? Das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, Der Staat 44 (2005), 403, 422 ff. 17 Nolte Das Verfassungsrecht vor den Herausforderungen der Globalisierung, VVDStRL 67 (2008), S. 127, 151 ff.; Slaughter A Global Community of Courts, Harvard International Law Journal 44 (2003), 191, 196.
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Naturgemäß muss der EGMR dabei die uneingeschränkte Durchsetzung nicht nur seiner Entscheidungen, sondern auch Auslegungsmaximen in allen Konventionsstaaten fordern – nur das kann dem universalen Anspruch der Konvention und dem Sinn eines übernationalen Gerichtshofs entsprechen. Zugleich nimmt er dabei aber Rücksicht und stellt vorsichtig auf das Rechtsverständnis und die Rechtspraxis in den einzelnen Konventionsstaaten ab18, um diese nicht zu überfordern und Folgebereitschaft zu finden. Ebenso selbstverständlich werden die nationalen Verfassungsgerichte darauf insistieren, dass sie ihre Entscheidungskompetenzen aus innerstaatlichem Recht ableiten und hierbei auf demokratisch proklamierte Verfassungen verpflichtet sind, die sie auf der Grundlage spezifisch geschichtlicher Erfahrungen und im Kontext ihrer eigenen Kräfteverhältnisse und Lehrgebäude auszulegen haben. Sie werden damit den Entscheidungen grundsätzlich nicht blind, sondern nur nach Maßgabe innerstaatlicher Normen und damit unter nationalem Vorbehalt folgen – und sei es nur, indem auf eine Verfassungsbestimmung verwiesen wird, die die Konvention zu vorrangigem Recht erklärt. Ist, wie in Deutschland, die Konvention innerstaatlich unterhalb der Verfassung angesiedelt, wird man zumindest eine Minimalkongruenz fordern. Man wird dabei bei sachgerechtem Verständnis aber alles tun, um Konflikte hinsichtlich der Konventionsauslegung auf europäischer Ebene zu vermeiden und zugleich durch eigene Auslegung der Grundrechte bzw. der Konvention auf diese einzuwirken. Das politische Ab- und Zugeben, das für völkerrechtlich strukturierte Rechtsverhältnisse vorgezeichnet ist, erfasst so nun auch das Verhältnis der Gerichtsbarkeiten. Die Gerichte müssen für ihre Entscheidungen Akzeptanz suchen und Akzeptanzgrenzen ausloten. Dies ist für Gerichte nicht unproblematisch. Die Richter werden so auf Kriterien außerhalb des Rechts verwiesen, und Entscheidungen erhalten eine diplomatische Komponente. Schwierig wird das innerstaatlich insbesondere, wenn gefestigte Grundrechtsinterpretationen durch nachfolgende Judikate des EGMR in Frage gestellt werden. Denn normtheoretisch schlüssig gibt es hier keinen Ansatz, die Rechtsprechung anzupassen: Die Auslegung der Konvention oder die Rechtsprechung des EGMR sind kein zulässiges Argument, um die Grundrechte anders auszulegen. Die Gerichte werden hier auf eine Pragmatik verwiesen, mit der sie sich formal gesehen von dem ihnen aufgegebenen Prüfungsprogramm entfernen. Die völkerrechtskonforme Auslegung kann strenggenommen allenfalls dazu führen, dass die Konvention und ihre Auslegung – als Probierstein zur 18 Vgl. etwa für die Auslegung des Begriffs „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ in Art. 6 Abs. 1 EMRK EGMR, Leela Förderkreis e.V. und andere gegen Deutschland, Urteil vom 6.11.2008, No. 58911/00, § 44; EGMR, König gegen Deutschland, Urteil vom 28.6.1978, No. 6232/73, § 89.
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Selbstkontrolle des eigenen Grundrechtsverständnisses – den Impuls für ein sachlich überzeugenderes Verständnis auch der Grundrechte geben. Immerhin wird hierbei im kontinentaleuropäischen Recht eine Rechtsprechungsänderung zumindest nicht auch noch durch eine stare decisis-Regel erschwert.19 Kompromisse, gerade wenn sie nicht aus Überzeugung in der Sache, sondern in übergreifender Perspektive aus Rücksicht auf ein konfliktfreies Ineinandergreifen der Gerichtsbarkeiten getroffen werden, müssen insoweit versteckt werden. Dies ist nicht primär Ausdruck einer eitlen Kaschierung von Machtverlust, sondern Ergebnis des bewusst nicht konsequent aufgelösten Verhältnisses von Völkerrecht und Verfassungsrecht. Als Zwischenergebnis bleibt festzuhalten, dass Interpretationskonflikte – jedenfalls sofern sie innerstaatlich wie in Deutschland nicht durch die Herstellung einer klaren Normhierarchie aufgelöst werden – einen Dialog der Gerichtsbarkeiten und damit eine Auslegung in gegenseitiger Rücksichtnahme verlangen. An diesem Erfordernis eines good will auf beiden Ebenen führt nichts vorbei. Um hierbei aber doch nicht allein auf einen good will zu verweisen, fragt sich, ob das Verhältnis von Vielheit und Einheit nicht doch wenigstens ein Stück weit auch dogmatisch aufgefangen werden kann. Das führt zu der nächsten These: dem Verständnis der EMRK als Rahmengarantie.
IV. Die EMRK als Rahmengarantie Die These von der EMRK als Rahmengarantie ist im Grunde nicht neu. Sie entspricht nur der Reservefunktion der Konvention und wird ähnlich gleichfalls unter dem Stichwort „Korridorlösung“ diskutiert.20 Sie bedarf jedoch noch näherer Konturierung, um nicht allzu schnell auf einzelfallbezogene Wertungsfreiräume reduziert zu werden. 1. Das Verständnis der Grundrechte als Rahmengarantie in Deutschland am Beispiel der Caroline III-Entscheidung Ausgangspunkt ist die Herausforderung einer Verbindung von nationaler Vielfalt und europaweit einheitlicher Substanz im Grundrechtsschutz. Vielleicht kann die deutsche Grundrechtsdogmatik hierfür Impulse geben. Wenn
19 Vgl. zur Stare-decisis-Regel Tribe, American Constitutional Law, 3. Aufl., 2000, S. 235 ff.; vgl auch US Supreme Court, Planned Parenthood v. Casey, 505 U.S. 833 (1992), 846. 20 Vgl. Lübbe-Wolff Cour Européenne des Droits de l’Homme et juridiction nationale: L’affaire Görgülü, 2007, http://www.apr-strasbourg.org/docs/20070321-fiches.pdf, S. 9 ff. (letzter Abruf 2.4.2009).
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sie diese Grundrechte ihrem Anspruch nach nur als Rahmen versteht, innerhalb dessen das einfache Recht und dessen Auslegung verschiedene Lösungen ermöglichen, so erkennt sie Freiräume an, verschiedene politische oder richterliche Wertungen zur Geltung zu bringen. Derselbe Konflikt kann verschieden und auch gegenteilig gelöst werden, ohne dass die Verfassung hierfür eine Präferenz enthält – und diese Spielräume gelten insbesondere auch für einander widersprechende Konfliktlösungen in verschiedenen Bundesländern.21 Es sei hier nicht vertieft, ob dieser Anspruch in der deutschen Dogmatik immer überzeugend eingelöst wird.22 Exemplarisch sei hierfür aber auf die letzte Caroline-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verwiesen, mit der das Gericht der Rechtsprechung des EGMR im Ergebnis Raum verschafft hat. Das Gericht hat insoweit deutlich gemacht, dass es selbst die streitigen Konflikte zwischen Allgemeinem Persönlichkeitsrecht und Pressefreiheit nicht entscheidet, sondern lediglich die Beachtung des verfassungsrechtlichen Rahmens durch die fachgerichtlichen Wertungen überprüft. Die Fachgerichte können danach zu verschiedenen Lösungen kommen: Wenn sie heute in Anlehnung an die Rechtsprechung des EGMR dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht ein größeres Gewicht beimessen, sei dies ebenso mit der Verfassung vereinbar wie die frühere pressefreundlichere Rechtsprechung.23 Die lange Diskussion um die Verfassung als Rahmenordnungen und das Verhältnis von Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit hat hier eine Flexibilität eröffnet, die nunmehr auch die Implementation von anderen Wertungen europarechtlicher Provenienz ermöglicht. (Dass hierbei der „Rahmen“ selbstverständlich auch harte Grenzen setzen kann und auch setzt, zeigt die Entscheidung gleichfalls: In einer der drei vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fallkonstellationen hielt das Bundesverfassungsgericht dessen fachgerichtliche Wertungen nicht mehr für verfassungsrechtlich tragfähig und sah dort den verfassungsrechtlichen Rahmen als überschritten an. Der Pressefreiheit sei in dieser Konstellation nicht hinreichend Rechnung getragen, und die Argumentation des Bundesgerichtshofs reiche nicht aus, um den Vorrang des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts vor dieser zu begründen. Es hat diesbezüglich die Entscheidung aufgehoben und zurückverwiesen. Auch hier ist – bzw. war 24 – der Ausgang des Verfahrens 21 Dieser föderale Aspekt wird in der deutschen Literatur freilich weniger reflektiert als das Verhältnis von Legislative und Judikative bzw. das Verhältnis von Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit. 22 Das Ringen hierum wie auch die entsprechende Kritik an dem Bundesverfassungsgericht ist so alt wie dieses selbst, vgl. nur Alleweldt Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, 2006, 51 ff. mwN; Korioth Bundesverfassungsgericht und Rechtssprechung (Fachgerichte), in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht Bd. 1, S. 55, 72 f. 23 BVerfGE 120, 180, 211 f. Ob diese Offenheit tatsächlich von Anfang an bestand, bedürfte freilich näherer Diskussion; vgl. BVerfGE 101, 361, 380 ff. 24 Vgl. inzwischen BGH, NJW 2008, 3141 f.
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vor den Zivilgerichten damit wieder offen. Aber der Rahmen ist hier nun doch in Sichtweite geraten. Der BGH hat entsprechend in dieser Fallkonstellation dann der Pressefreiheit den Vorrang gegeben. Inzwischen liegt das Verfahren nun wieder in Straßburg. Im Dialog der Gerichte schafft das Verständnis der Grundrechte als Rahmengarantien so eine flexible, deshalb aber nicht zahnlose Grundlage.) 2. Von der Konvention als Mindestgarantie zum Verständnis als Rahmengarantie Es ist zu fragen, ob nun ein solches Verständnis nicht auch auf die EMRK übertragen werden kann: Die Konvention als ein Rahmen, der verschiedene Ergebnisse erlaubt. Letztlich wäre dies nichts anderes als eine Fortentwicklung der Lehre von der Konvention als „Mindestgarantie“, wie sie im Günstigkeitsprinzip des Art. 53 EMRK zum Ausdruck kommt und im Schrifttum anerkannt ist.25 Danach definiert die Konvention nur das Mindestmaß an Grundrechtsschutz, überlässt es aber den Konventionsstaaten, weitere und differenziertere Grundrechtsgewährleistungen in Geltung zu setzen.26 Im isolierten Staat/Bürger-Verhältnis sind solche Kategorien des „Mehr“ und „Weniger“ an Grundrechtsschutz tragfähig, für Grundrechtskonflikte mit Drittwirkung hingegen nicht. In der staatlichen Entscheidung etwa zwischen Presserecht und Allgemeinem Persönlichkeitsrecht ist ein Mehr für den einen immer ein Weniger für den anderen. Soll die Konvention nur eine Mindestgarantie sein, muss diese in Drittwirkungsfällen als Rahmengarantie verstanden werden: Es gibt auf beiden Seiten Grenzen, die die Konvention verteidigt. In diesen Grenzen bzw. in diesem „Korridor“ 27 sind hingegen verschiedene Lösungen desselben Konflikts möglich. Ein solches Verständnis ist auch der Stellung des Europäischen Gerichtshofs angemessen. Ebenso wenig wie das Bundesverfassungsgericht innerstaatlich ist der Gerichtshof überstaatlich eine allgemeine übergeordnete Rechtsinstanz; im Gegensatz etwa zum US Supreme Court 28 ist er nicht zugleich das höchste Fachgericht. Von daher ist eine Zurücknahme der Kontrolle auf Maßstäbe, die verschiedene gesetzliche Gestaltungsmöglichkeiten 25 Richter in: Grote/Marauhn (Hrsg.) (Fn. 2), EMRK/ GG, 2006, Kap. 9 Rn. 72; Grabenwarter (Fn. 3), § 2 Rn. 14. 26 Vgl. Ehlers (Fn. 4), Allgemeine Lehren, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2005, 26. 27 Vgl. Lübbe-Wolff (Fn. 20), Cour Européenne des Droits de l’Homme et juridiction nationale: L’affaire Görgülü, 2007, http://www.apr-strasbourg.org/docs/20070321-fiches. pdf, S. 9 ff.; Masing Le contexte national dans le cadre de l’article 10, 2008, http://wwwircm.u-strasbg.fr/seminaire_oct2008/docs/Rapport_Masing_Session_III.pdf (letzter Abruf 2.4.2009). 28 Kau United States Supreme Court und Bundesverfassungsgericht, 2007, 87.
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offenlassen, vorgezeichnet. Nichts anderes kann dann aber auch gegenüber den innerstaatlichen Gerichten gelten, die solche Gesetze konkretisieren oder auch surrogieren. Prozessual legt sich ein solches Verständnis für den EGMR freilich nicht in gleicher Weise nahe wie für das Bundesverfassungsgericht. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Regel, wenn ein Grundrecht verletzt wird, den Fall an das Fachgericht zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen 29: Es ist also stets auch praktisch mit der Frage konfrontiert, ob das Fachgericht, wenn es grundrechtlich richtig entscheidet, im Ergebnis vielleicht trotzdem wieder genauso entscheiden darf – die Möglichkeit der Zurückverweisung schließt eine solche Möglichkeit gedanklich ein.30 Der Gerichtshof hingegen hat diese Möglichkeit nicht. Er entscheidet über die Vereinbarkeit mit der Konvention endgültig. Damit ist der Gedanke der Vielfalt aber selbstverständlich nicht ausgeschlossen, und er liegt der Rechtsprechung des Gerichtshofs in gewissem Umfang seit jeher wie selbstverständlich zugrunde.31 Er müsste jedoch gerade für die Drittwirkungsfälle noch deutlicher herausgearbeitet werden. Ein Verständnis der Konvention als Rahmengarantie ist freilich nicht zu verwechseln mit dem Postulat der Abwägung und deren Einzelfallabhängigkeit.32 Zwar verbindet sich der Gedanke der Abwägung sowohl für den EGMR als auch für das Bundesverfassungsgericht stets mit der Vorstellung, dass es auf die Einzelheiten des Falles ankommt und das Ergebnis deshalb nur begrenzt vorausbestimmbar ist. Hieraus allein folgt aber eine inhaltliche Offenheit für mehrere Lösungen noch nicht: Denn mit ihr kann gemeint sein, dass, wenn alle Umstände des Falles bekannt sind und gewogen werden, das Ergebnis von Grundrechts wegen feststeht. Dieses scheint, bei aller Vorsicht, eher die Idee zu sein, die bislang den EGMR leitet – und die auch in Judikaten des Bundesverfassungsgerichts immer wieder durchbricht. Insbesondere soweit von „Optimierungsgeboten“ die Rede ist, impliziert dies oft die Vorstellung der Annäherung an die eine optimale Lösung.33 Für besondere Konfliktlagen mag das innerstaatlich verfassungsrechtlich vielleicht sogar auch zutreffend sein. Die These der Rahmengarantie aber besagt anderes. Aus ihrem Verständnis folgt, dass auch dann, wenn alle maßgeblichen Einzelheiten berücksichtigt werden, möglicherweise nach der Konvention noch nicht entschieden ist, ob ein Beschwerdeführer mit seinem Anliegen – etwa seine Meinung ungehindert äußern zu können – am Ende obsiegt oder verliert: Die Abwägung wird erst durch entweder zusätzliche weitere Argumente oder
29 30 31 32 33
21 ff.
§ 95 Abs. 2 BVerfGG. Stark in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), BVerfGG, 2. Aufl., 2005, § 95 Rn. 76. Siehe oben Fn. 18. Vgl. zu letzerem Grabenwarter (Fn. 3), § 18 Rn. 16. Vgl. hierzu Böckenförde Grundrechte als Grundsatznormen, Der Staat 29 (1990), 1,
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eigenständige Prüffilter entschieden, über die das Gericht nicht zu befinden hat. Das Verständnis der Konvention als Rahmengarantie soll also über die Reduktion der Auslegung auf eine bloße Einzelfallabwägung hinausführen: Bei einem hinreichend weiten Verständnis des Konventionsrahmens schließt dieser auch ein Nebeneinander verschiedener Konfliktlösungsdogmatiken, Leitlinien und Abwägungsregeln nicht aus. Es handelt sich folglich auch um mehr als um die Zuerkennung einer marge d’appréciation.34 Zwar lässt sich an diesbezüglichen Judikaten des EGMR immerhin insoweit anknüpfen, als auch hier die Möglichkeit divergierender Beurteilung desselben Falls eingeräumt wird. Die marge d’appréciation zielt in ihrem Kern aber lediglich auf eine Anerkennung der Unwegsamkeiten und Vieldeutigkeiten der Entscheidungsfindung unter den je konkreten Bedingungen. Sie respektiert die Kontingenz juristischer Prädikate. Demgegenüber geht es hier um das normative Verständnis der Konventionsbestimmungen selbst: Schon in einem materiellen Sinne muss die Konvention nur als rahmensetzende Mindestgarantie verstanden werden, die den Mitgliedstaaten verschiedene Lösungen belässt. Als solche ist sie offen auch für verschiedene Lösungswege, Rechtsvermutungen oder Kasuistiken und umfasst auch die Möglichkeit eigener Typisierungen sowie damit verbundener Härten. Nimmt man dieses ernst, wird deutlich, dass es eine einheitliche Dogmatik zur EMRK nicht gibt und geben sollte: Warum sollen Konflikte zwischen Ehre und Meinungsfreiheit nicht in einem Mitgliedstaat anders entschieden werden als in anderen? Mit der Idee der Menschenrechte als universaler Grundidee können vielleicht sowohl freiheitlichere (wie das US-amerikanische 35) als auch schutzzentriertere Konzepte (wie das französische36) vereinbar sein. Solche Perspektive verlangt dem Europäischen Gerichtshof freilich eine Distanz ab, die in der Praxis nicht leicht einzulösen ist – einmal zur Entscheidung berufen, fällt es vermutlich jedem Richter schwer, die Frage der Gerechtigkeit im Einzelfall in solcher Distanz zu den eigenen Rechtsüberzeugungen zu halten. Die oftmals vergeblichen Distanzschwüre des Bundesverfassungsgerichts sind hierfür Beispiel. Dennoch bedarf es einer Dogmatik, die Vielfalt rechtlich zumindest denkbar macht. Die Prüfung der Konvention durch den Gerichtshof müsste sich darüber zu einer rechtlich anspruchsvollen Kombination von Ergebniskontrolle einerseits und Vertretbarkeitskontrolle mit Argumentationslasten anderseits fortentwickeln. Vielleicht muss sich die Kontrolle unter diesen Vorzeichen darauf konzentrieren, primär vor 34
Vgl. zur marge d’appréciation Grabenwarter (Fn. 3), § 18 Rn. 20. Krotoszynski The First Amendment in Cross-Cultural Perspective, 2006, 12 ff.; Heyman Free Speech and Human Dignity, 2008, 69 ff. 36 Gounalakis Medienpersönlichkeitsrechte in rechtsvergleichender Sicht, AfP 2004, 271, 273 f. mwN; Grabenwarter Schutz der Privatsphäre versus Pressefreiheit: Europäische Korrektur eines deutschen Sonderwegs?, AfP 2004, 309, 314. 35
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allem die zugrunde gelegten Konfliktlösungslehren als solche zu beurteilen und daraufhin zu prüfen, ob sie eine hinreichende Problembewältigung gewährleisten. Maßgeblich mag insoweit etwa sein, ob diese eine hinreichende Differenzierungskraft enthalten, um die jeweilige Grundrechtsbetroffenheit der Beteiligten konstellationsadäquat in den Blick zu bekommen. Je nachdem kann dann die Ergebniskontrolle auf sehr grobmaschige Kriterien reduziert werden. Es bedarf hierzu noch neuer Anstrengungen – auch die Methodik der nationalen Verfassungsrechtsprechung ist hierfür unzureichend. Immerhin allerdings finden sich in der Rechtsprechung des EGMR bereits zahlreiche Ansätze, an denen sich anknüpfen lässt. Gelingt es hier, ein reflektierteres Verhältnis von Vielheit und Einheit zu finden, kann am Ende eine Entscheidungspraxis stehen, die in Respekt vor der Vielfalt überzeugend auch deren Grenzen geltend macht. Der Rahmen der Konvention ist weit, aber gehaltvoll.
V. Schluss Der EGMR und die nationalen Verfassungsgerichte sind auf einen Dialog verwiesen. Man sollte diesen nicht allein einer Pragmatik überlassen, sondern hierfür auch dogmatisch Raum schaffen. Versteht man die Konvention als Rahmen, und zwar weiter noch als die Verfassungen Rahmen für ihre Rechtsordnungen sind, können so die staatlichen Verfassungsgerichte ihre primäre Verantwortung für die Gewährleistung der Menschenrechte übernehmen. Und diese können die Garantien etwa des Artikels 10 EMRK gegenüber dem Schutz des Persönlichkeitsrechts restriktiver oder weiter gestalten, solange denn der Rahmen nicht verlassen wird. Allein dies wird dem EGMR auch institutionell gerecht: Als ein einziges Gericht, das eine Menschenrechtskontrolle über 47 Konventionsstaaten ohne jegliche politische Homogenität und Koordination leisten soll, kann und darf es nicht den Anspruch erheben, eine eigene ausdifferenzierte Dogmatik vorzugeben, die den Menschenrechtsschutz in Europa einheitlich strukturieren will. Die Vereinheitlichung Europas zu einem kohärenten Verfassungsraum ist nicht Aufgabe des EGMR – auch und schon gar nicht als Komplementärinstitution zu den Institutionen der Europäischen Union. Mit dieser Aufgabe wäre er – unabhängig von allen Reformvorschlägen – auch quantitativ mit seinen Kapazitäten restlos überfordert. Lässt demgegenüber der Gerichtshof in konsequenter Anknüpfung an sein Verständnis der Konvention als Mindestgarantie Freiraum für verschiedene Dogmatiken und Kasuistiken in den verschiedenen Ländern, so stärkt er auch seine Autorität. Er muss dann nicht versprechen, was er ohnehin nicht gewährleisten kann. Dies gibt ihm umgekehrt die Möglichkeit, wirkungsvoll dort die Grenzen zu markieren, wo die Konvention sie setzt. Der Gerichtshof hat sich hierbei schon große Verdienste erworben.
Das Bundesverfassungsgericht, der Bundesgerichtshof und der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Gefüge des nationalen deutschen Rechts Achim von Winterfeld I. Einleitung Zu den weitgespannten beruflichen Interessen von Achim Krämer gehören u.a. das Verfassungsrecht, naturgemäß aber auch das zivilprozessuale Revisionsrecht, in dem er seit 1980 als Rechtanwalt bei dem Bundesgerichtshof tätig ist. In beiden Bereichen haben die Zuständigkeiten und Aufgaben des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften über die Jahre hinweg zunehmend an Bedeutung gewonnen. Dies beruht auf dem ständig wachsenden Einfluss der Gemeinschaftsgesetzgebung auf die nationale Gesetzgebung. Auf diese Weise wirkt der EuGH kraft seiner Endzuständigkeit zur Auslegung des europäischen Gemeinschaftsrechts nach Art. 234 EG-Vertrag unmittelbar in die Rechtsprechung der mitgliedstaatlichen Gerichte hinein. Dabei ist das Spannungsverhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH, wie es sich in den Anfangsjahren aus Anlass der „Solange“Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1, aber auch im Zusammenhang mit der Überprüfung der Gemeinschaftsverträge 2 anhand des Grundgesetzes aufgebaut hat, in vielen Bereichen einem beiderseits pragmatischen Miteinander beider Gerichte gewichen. So erkennt das Bundesverfassungsgericht den EuGH als gesetzlichen Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG 3 an und verankert diesen damit unmittelbar im deutschen Verfassungsgefüge. Umgekehrt ist der EuGH nach Jahrzehnten gemeinschaftlicher Rechtsprechung nicht (mehr) daran interessiert, jede nur denkbare Vorlagefrage der nationalen Gerichte zu beantworten. Vielmehr ist ihm daran gelegen, dass
1 2 3
BVerfGE 37, 271 – Solange I; 73, 339 – Solange II. BVerfGE 89, 155 – Maastricht; vgl. dazu v.Winterfeld ZAP 1993, 1149 ff. BVerfGE 73, 339, 366 ff.; 82, 159, 192.
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auch die Gerichte der Mitgliedstaaten ihre Rolle als Teil des Ganzen wahrnehmen und damit zum Funktionieren des Gemeinschaftsrechts beitragen.4 Vor diesem Hintergrund ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 1.4.2008 5 bemerkenswert, die – wieder einmal – Fragen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und der Pflicht zur Vorlage an den EuGH betrifft, darüber hinaus aber auch den Parteien und ihren Anwälten bestimmte Aufgaben im Rahmen eines Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens nach § 544 ZPO zuweist. Diese Entscheidung soll Ausgangspunkt für einige Überlegungen zu der Rolle von Bundesverfassungsgericht, Bundesgerichtshof und EuGH im Gefüge des nationalen deutschen Rechts sein.
II. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 1.4.2008 Der Beschluss ist auf die Verfassungsbeschwerde von Betreibern von Postwettannahmestellen ergangen, die auch Spielaufträge von gewerblichen Spielvermittlern annahmen, ohne dass diese eine schriftliche Vereinbarung nach Art. 3 des bayerischen Staatslotteriegesetzes mit der Staatlichen Lotterieverwaltung geschlossen hatten. Dies wurde ihnen von der Staatlichen Lotterieverwaltung als lotterierechtlich unzulässig untersagt. Die bayerische Justiz bestätigte den Standpunkt der Lotterieverwaltung. Das insoweit maßgebliche Urteil des Oberlandesgerichts München vom 29.6.2006 setzte sich im Detail auch mit den verfassungs-, gemeinschafts- und kartellrechtlichen Fragen, die der Rechtsstreit aufwarf, auseinander und bejahte die Vereinbarkeit der Regelung des Lotteriegesetzes mit den betreffenden Rechtsnormen. Die Revision war von dem Oberlandesgericht München nicht zugelassen worden. Daraufhin legten die Beschwerdeführer Nichtzulassungsbeschwerde ein und machten die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO geltend. In diesem Zusammenhang führten sie aus, dass die Vereinbarkeit von Art. 3 StLottG mit dem Gemeinschaftsrecht umstritten und Gegenstand anderer gerichtlicher und kartellbehördlicher Verfahren sei. Allerdings wiederholten sie nicht die in der Vorinstanz gemachten Ausführungen und angeregten Vorlagefragen an den EuGH. Der Bundesgerichtshof wies die Nichtzulassungsbeschwerde mit der üblichen Kurzbegründung zurück. Gegen das Urteil des Oberlandesgerichts München und seinen Beschluss richtete sich die Verfassungsbeschwerde der Annahmestellenbetreiber. Mit dieser rügten sie im Wesentlichen eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
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Urteil vom 6.10.1982 – Rechtssache 283/81, Slg. 1982, 3415, 3427 ff. – C.I.L.F.I.T. 2 BvR 2680/07, EuR 2008, 558.
Bundesverfassungsgericht, Bundesgerichtshof und Gerichtshof der EG
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Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde nicht angenommen. Im Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG hat es die Verfassungsbeschwerde bereits als unzulässig angesehen. Im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 GG hat es keinen Verfassungsverstoß feststellen können.
III. Rechtliche Würdigung Interessant, aber rechtlich nicht überzeugend ist in dem vorliegenden Zusammenhang allein die Ablehnung der Verfassungsbeschwerde als teilweise unzulässig. Das Bundesverfassungsgericht begründet dies mit dem Subsidiaritätsprinzip des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. Es meint insoweit, die Beschwerdeführer hätten nicht alle Möglichkeiten genutzt, um der Rechtsverletzung abzuhelfen. Sie hätten in ihrer Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde darauf hinweisen müssen, dass sich aus ihrer Sicht die Notwendigkeit einer Revisionszulassung auch bzw. gerade aus der Pflicht des Bundesgerichtshofes ergab, dem EuGH Fragen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts vorzulegen. Zwar könne die von den Beschwerdeführern geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO sich auch aus entscheidungserheblichen Vorfragen des Gemeinschaftsrechts ergeben. Es sei jedoch Aufgabe des (Nichtzulassungs-)Beschwerdeführers, hinreichend substantiiert jedenfalls die Möglichkeit einer Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag darzulegen. Insoweit genüge es nicht, neben den Auswirkungen auf die Allgemeinheit und der rechtlichen Bedeutung über den Streitfall hinaus darauf hinzuweisen, dass die Vereinbarkeit von Art. 3 StLottG im Besonderen und nationaler Beschränkungen gewerblicher Spielvermittler im Allgemeinen mit dem Gemeinschaftsrecht umstritten und Gegenstand von Verfahren vor nationalen Gerichten und dem EuGH sei. Dabei beanstandet das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich, dass die Beschwerdeführer in der Begründung ihrer Nichtzulassungsbeschwerde weder auf eine sich aus der Unvereinbarkeit von Art. 3 StLottG mit Gemeinschaftsrecht ergebende Vorlagepflicht des Bundesgerichtshofes nach Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag noch auf den Zusammenhang zwischen der Notwendigkeit einer Vorlage an den EuGH und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO hingewiesen hätten. 1. Rein revisionsrechtlich ist dem Bundesverfassungsgericht darin zuzustimmen, dass der Beschwerdeführer in seiner Begründung die Zulassungsgründe des § 543 Abs. 2 ZPO darlegen muss. Dies ergibt sich unmittelbar aus § 544 Abs. 2 Satz 3 ZPO. a) Diese Anforderungen dürfen jedoch nicht überspannt werden. Der Bundesgerichtshof hat zwar entschieden, dass der Beschwerdeführer die Zulas-
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sungsgründe zu benennen und deren Voraussetzungen substantiiert vorzutragen hat. Das Revisionsgericht soll dadurch in die Lage versetzt werden, die Zulassungsfrage anhand der Beschwerdebegründung und des Berufungsurteils zu entscheiden, ohne die Voraussetzungen für eine Zulassung anhand der Akten ermitteln zu müssen.6 Er hat aber auch anerkannt, dass es einer besonderen Darlegung nicht bedarf, wenn sich die Grundsatzbedeutung einer Rechtsfrage unmittelbar aus dem Prozessrechtsverhältnis oder der tatsächlichen und wirtschaftlichen Bedeutung für die beteiligten Verkehrskreise ergibt.7 Letzteres ist unzweifelhaft der Fall, weil die Frage der Zulässigkeit der gewerblichen Vermittlung von Lotterien und Wetten außerhalb der Ladenannahmestellen unmittelbar die Berufsausübung der Postwettannahmestellen und der gewerblichen Spielvermittler berührt. Berührt werden aber auch die Interessen des Veranstalters (hier: Freistaat Bayern) und der Allgemeinheit, weil es um die Frage der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit von derart vermittelten Spielverträgen geht. b) Das Bundesverfassungsgericht setzt sich weiter über den erklärten Willen des Bundesgerichtshofes hinweg, die Zulassungsfrage anhand der Beschwerdebegründung und des Berufungsurteils zu entscheiden. Das Bundesverfassungsgericht gibt selbst8 detailliert den Inhalt des Urteils des Oberlandesgerichts München vom 29.6.2006 wieder. Danach sieht das Oberlandesgericht insbesondere keine Verletzung von Art. 10 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 43 oder Art. 49 Abs. 1 EG-Vertrag. Einer Vorlage der von den Beschwerdeführern angeregten Fragen über die Vereinbarkeit einer Regelung wie Art. 3 Abs. 2 StLottG mit Art. 43 und Art. 49 EG-Vertrag an den EuGH bedürfe es nicht, weil angesichts des EuGH-Urteils vom 6.11. 2003 (Rechtssache C-243/01, Slg. 2003, I-13031-Gambelli) keine vernünftigen Zweifel an der Auslegung des Gemeinschaftsrechts bestünden. Hiernach erweist sich jedenfalls aufgrund der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes die Rüge des Bundesverfassungsgerichts 9 als unbegründet, die Beschwerdeführer hätten die in der Vorinstanz gemachten Ausführungen und angeregten Vorlagefragen an den EuGH wiederholen müssen. Denn worum es den Beschwerdeführern ging und welche gemeinschaftsrechtlichen Bedenken sie gegenüber der Regelung des bayerischen Lotteriegesetzes hatten, ergibt sich unmittelbar aus dem Berufungsurteil, war also für den Bundesgerichtshof ohne Weiteres erkennbar. c) Schließlich lässt das Bundesverfassungsgericht außer Acht, dass der Bundesgerichtshof durch jahrzehntelange Befassung mit dem Gemein6 7 8 9
Vgl. NJW 2003, 65, 66; 2003, 1943, 1944. NJW 2003, 3765. Beschluss vom 1.4.2008, Rn. 11. Beschluss vom 1.4.2008, Rn. 13, 26, 28.
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schaftsrecht die Vorschrift des Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag und die daraus folgende Vorlagepflicht kennt. Der Bundesgerichtshof hat in zahlreichen Fällen von dieser Bestimmung Gebrauch gemacht und dem EuGH entscheidungserhebliche Vorfragen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts vorgelegt.10 Er war auch schon früher mit der Frage der Vereinbarkeit der restriktiven nationalen Regelungen des deutschen Rechts zu Lotterien und Wetten mit dem Gemeinschaftsrecht befasst.11 Die gemeinschaftsrechtliche Problematik ist ihm also bekannt. Er brauchte hierauf und auf ihre Erheblichkeit für den Streitfall von den Beschwerdeführern nicht besonders hingewiesen zu werden. 2. Die Begründung des Bundesverfassungsgerichts erweckt aber auch Bedenken im Hinblick auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht und den gemeinschaftsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz. a) Ungeachtet der zivilprozessualen Darlegungspflicht eines Beschwerdeführers nach § 544 Abs. 2 Satz 3 ZPO ist die Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag ein unverzichtbares Mittel, um innerhalb der Gemeinschaft eine einheitliche Rechtsanwendung durch die Gerichte der Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Sie geht einher mit dem ebenfalls unverzichtbaren Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts und dem sog. Effektivitätsgrundsatz, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, dem Gemeinschaftsrecht auch verfahrensrechtlich Wirksamkeit bei der Anwendung durch ihre Gerichte und Behörden zu verschaffen. Allgemein ist diese Verpflichtung noch einmal in Art. 10 EG-Vertrag normiert, der die Mitgliedstaaten positiv zur Erfüllung des Vertrages und negativ zur Unterlassung aller Maßnahmen, welche die Verwirklichung der Vertragsziele gefährden könnten, verpflichtet.12 Diese Verpflichtungen werden in Frage gestellt, wenn das Bundesverfassungsgericht den Prozessparteien über eine die zivilprozessualen Anforderungen übersteigende Darlegungspflicht die Verantwortung für die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts zuweist. Diese ist eine originäre Aufgabe der Mitgliedstaaten und ihrer Organe und kann nicht abhängig sein von einem prozessualen Verhalten der Parteien, wenn für das erkennende Gericht hinreichender Anlass besteht, von sich aus tätig zu werden. Art. 234 EG-Vertrag eröffnet keinen Rechtsbehelf für die Parteien, sondern die Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag besteht für das Gericht von Amts wegen.13 10 Bis Ende 2007 hat der Bundesgerichtshof 110 Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet (vgl. den Jahresbericht 2007 des EuGH, S. 107). 11 Vgl. z.B. GRUR 2002, 636 ff. – Sportwetten. 12 Vgl. näher aus der EuGH-Rechtsprechung: Urteil vom 13.2.1969 – Rechtssache 14/68, Slg. 1969, 1, 14 f. – Wilhelm; Urteil vom 16.1.1974 – Rechtssache 166/73, Slg. 1974, 33, 38 f. – Rheinmühlen; Urteil vom 9.3.1978 – Rechtssache 106/77, Slg. 1978, 629, 643 ff. – Simmenthal; Urteil vom 4.11.1997 – Rechtssache C-337/95, Slg. 1997, I-6013, 6044 – Dior; Urteil vom 6.12.2005 – Rechtssache C-461/03, Slg. 2005, I-10513, 10546 ff. – Gaston Schul. 13 Vgl. das C.I.L.F.I.T.-Urteil, Slg. 1982, 3428 f.
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Hiernach erscheint es mit den erwähnten Grundsätzen unvereinbar, wenn das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss rügt, dass die Beschwerdeführer die in der Vorinstanz gemachten Ausführungen und angeregten Vorlagefragen an den EuGH nicht wiederholt, sondern sich auf den Hinweis beschränkt hätten, die Vereinbarkeit von Art. 3 StLottG mit dem Gemeinschaftsrecht sei umstritten und Gegenstand anderer gerichtlicher und kartellbehördlicher Verfahren. Zum einen weiß der Bundesgerichtshof, dass er entscheidungserhebliche Vorfragen dem EuGH nach Art. 234 Abs. 3 EGVertrag vorlegen muss, zum anderen gab es jedenfalls bislang keinen Rechtssatz, der Parteien verpflichtete, in der Vorinstanz gemachte Ausführungen und von ihnen angeregte Vorlagefragen zu wiederholen. Wenn und soweit die Parteien bzw. ihre Prozessvertreter Vorlagefragen für den EuGH formulieren, ist dies lediglich ein „Service“ für das Gericht. Eine rechtliche Verpflichtung hierzu besteht weder nach Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag noch kann sie aus irgendeiner Rechtsnorm des nationalen Rechts abgeleitet werden. Im Übrigen gilt im Zivilprozessrecht der Grundsatz der einheitlichen Verhandlung (§§ 525, 555 ZPO). Er mag für die Zwecke der Nichtzulassungsbeschwerde durch das Bedürfnis eingeschränkt sein, den Bundesgerichtshof vom Aktenstudium zu entlasten (vgl. dazu oben). Innerhalb des aufgezeigten Rahmens müssen aber die Gerichte der Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen nach dem EG-Vertrag von Amts wegen nachkommen. b) Das Bundesverfassungsgericht verschärft damit nicht nur unnötigerweise die Anforderungen an die Darlegungspflicht nach § 544 Abs. 2 Satz 3 ZPO, sondern überspannt auch die Anforderungen an die Rechtswegerschöpfung im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. Die Rechtswegerschöpfung vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde ist ein sinnvolles und berechtigtes Anliegen des Bundesverfassungsgerichts, um dieses im Interesse der wirkungsvollen Wahrnehmung seiner Aufgaben als Hüter der Verfassung vor einer überflüssigen Inanspruchnahme zu schützen. Für die Rechtswegerschöpfung muss es aber genügen, wenn die Beschwerdeführer von den Rechtsbehelfsmöglichkeiten des fachgerichtlichen Verfahrens Gebrauch machen. Dies war im zu entscheidenden Fall geschehen, weil die Beschwerdeführer gegen das Urteil des Oberlandesgerichts München vom 29.6.2006 Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und zur Begründung der Grundsätzlichkeit der Rechtssache im Sinne des § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO u.a. die Unvereinbarkeit von Art. 3 StLottG mit dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere Art. 43 und Art. 49 EG-Vertrag, geltend gemacht haben. Damit sind sie jedenfalls den Anforderungen nachgekommen, die in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an die Rechtswegerschöpfung gestellt worden sind.14 Das Bundesverfassungsgericht ver14
Vgl. BVerfGE 73, 322, 325; 81, 22, 27; 95, 163, 171.
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schärft nunmehr die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde, indem es nicht nur die vollständige Ausschöpfung des fachgerichtlichen Instanzenzuges verlangt, sondern das fachgerichtliche Verfahren selbst auf mögliche prozessuale Unzulänglichkeiten, die nicht auf einer Verkennung des Verfassungsrechts beruhen, überprüft. Dies kann jedoch nicht seine Aufgabe als Verfassungsgericht sein, sondern muss Aufgabe der Fachgerichte bleiben. In dem zu entscheidenden Fall hatte der Bundesgerichtshof die Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen. Dies bedeutet eo ipso eine Zurückweisung als unbegründet. Anderenfalls hätte der Bundesgerichtshof die Nichtzulassungsbeschwerde nach § 544 Abs. 2 Satz 3 ZPO als unzulässig verwerfen müssen.15 Das Bundesverfassungsgericht greift also in die zivilprozessuale Entscheidungskompetenz des Bundesgerichtshofes ein und korrigiert die Entscheidung des Bundesgerichtshofes. Denn wenn seine Auffassung richtig wäre, hätte der Bundesgerichtshof die Nichtzulassungsbeschwerde mangels hinreichend substantiierter Darlegung eines Zulassungsgrundes im Sinne des § 544 Abs. 2 Satz 3 ZPO schon als unzulässig verwerfen müssen. Der Umstand, dass er dies nicht getan hat, ist ein Indiz dafür, dass auch er die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zu den Anforderungen des § 544 Abs. 2 Satz 3 ZPO nicht teilt. c) Das Bundesverfassungsgericht verkürzt damit den Rechtsschutz der Beschwerdeführer, der diesen über Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag gewährt wird. aa) Der Bundesgerichtshof hat keine rechtliche Notwendigkeit gesehen, nach Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten, sondern hat die Nichtzulassungsbeschwerde sogleich (als unbegründet) zurückgewiesen. Dies lässt den Schluss zu, dass er Art. 3 StLottG für mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar hielt, anderenfalls er aufgrund seines Vorlageverhaltens in anderen Verfahren mit Sicherheit das Verfahren ausgesetzt und den EuGH angerufen hätte. Dies entspricht im Übrigen seiner bis dahin ergangenen Rechtsprechung zu der Vereinbarkeit nationaler Beschränkungen von Glücksspielen mit dem Gemeinschaftsrecht.16 Es hätte deshalb nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG nichts im Wege gestanden, die Verfassungsbeschwerde auch im Hinblick auf die gerügte Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG für zulässig zu erklären, ihr aber ggf. aus dem-
15
Vgl. z.B. den Beschluss vom 21.2.2008 – V ZB 96/07. Vgl. Fn. 11. Zur neueren Rechtsprechung s. allerdings BGHZ 175, 238 ff. – ODDSET. Zum Gemeinschaftsrecht vgl. neben dem bereits erwähnten Gambelli-Urteil vom 6.11.2003 vor allem das EuGH-Urteil vom 6.3.2007 – verb. Rechtssachen C-338/04 u.a., Slg. 2007, I-1891, 1932 ff. – Placania u.a. 16
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selben Grunde – Vereinbarkeit von Art. 3 StLottG mit dem Gemeinschaftsrecht – die Begründetheit abzusprechen. bb) Die Rechtsschutzverkürzung gegenüber den Beschwerdeführern erschöpft sich indessen nicht darin, dass das Bundesverfassungsgericht verschärfte Anforderungen an die Rechtswegerschöpfung im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG stellt, um unzulässige Verfassungsbeschwerden abzuwehren. Die Verschärfung der Anforderungen schränkt zugleich den Anspruch der Beschwerdeführer auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG – im Streitfall: der EuGH – ein. Denn wer eine Verletzung dieses grundrechtsgleichen Rechts mit einer unzulässigen Verfassungsbeschwerde rügt, ist im Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht schutzwürdig. Dies mag gegenüber einem Beschwerdeführer, der von seinen fachgerichtlichen Rechtsbehelfsmöglichkeiten verfahrensfehlerhaft Gebrauch macht, vielleicht noch hinzunehmen sein. Es erscheint jedoch bedenklich, wenn durch verschärfte Anforderungen an die Durchsetzung von Rechten nach nationalem Recht in den Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts und die Entscheidungskompetenz des EuGH nach Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag eingegriffen wird. Denn dieser Geltungsanspruch und diese Kompetenz bestehen unabhängig von dem nationalen Recht und sind von den Mitgliedstaaten und ihren Organen zu respektieren (Art. 234 Abs. 3, Art. 10 EG-Vertrag). Wird also einem Beschwerdeführer die Geltendmachung eines Verstoßes nationalen Rechts gegen Gemeinschaftsrecht über das nationale Verfahrensrecht – sei es auch das Recht der Verfassungsbeschwerde – unmöglich gemacht, wird damit zwangsläufig dessen Geltungsanspruch beeinträchtigt. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass nach Art. 234 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 234 Abs. 2 EG-Vertrag eine Vorlagepflicht des nationalen Gerichts nur besteht, wenn die Vorfrage entscheidungserheblich ist. Denn eine Vorfrage kann auch dann entscheidungserheblich sein, wenn sie lediglich wegen eines Verfahrensfehlers nicht gestellt werden kann. Insoweit bedürfen also der Verfahrensfehler und die mögliche Verletzung des Gemeinschaftsrechts einer besonders sorgfältigen Prüfung. Diese Prüfung hat das Bundesverfassungsgericht unterlassen, und zwar ohne Not. Wäre es nämlich von einer Rechtswegerschöpfung ausgegangen, hätte es zwar die Rüge eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in gleicher Weise wie den geltend gemachten Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG auf ihre sachliche Berechtigung prüfen müssen. Nach der Rechtsprechung des EuGH hätte es aber einer Vorlage nicht bedurft und wäre dem gemeinschaftsrechtlichen Geltungsanspruch Genüge getan, wenn es dabei (wie das Oberlandesgericht München) zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass angesichts der Rechtsprechung des EuGH keine vernünftigen Zweifel an der Auslegung des Gemeinschaftsrechts bestanden.17 17
Vgl. das C.I.L.F.I.T.-Urteil, Slg. 1982, 3430.
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d) Eine objektive Tendenz zur Schwächung des gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzes kommt auch in einer anderen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck, die allerdings eine schon bestehende Rechtsprechungslinie des Bundesverfassungsgerichts konsequent fortsetzt.18 aa) Ausgangspunkt war ein Vergabeverfahren über den Ausbau des Fernwärmenetzes in Berlin, in dem die zu einer Bietergemeinschaft zusammengeschlossenen Beschwerdeführer einer konkurrierenden Bietergemeinschaft unterlagen. Gegen die Verwerfung ihres Nachprüfungsantrages erhoben die Beschwerdeführer sofortige Beschwerde beim Kammergericht, die allerdings nur teilweise erfolgreich war. Mit ihrer hiergegen erhobenen Verfassungsbeschwerde rügten die Beschwerdeführer eine Verletzung ihres Anspruchs auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, weil das Kammergericht dem EuGH eine entscheidungserhebliche Frage zur Auslegung von Art. 55 Abs. 2 der Richtlinie 2004/17/EG nicht gemäß Art. 234 Abs. 3 EGVertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt habe. Das Bundesverfassungsgericht nahm auch diese Verfassungsbeschwerde als unzulässig nicht zur Entscheidung an und begründete dies mit dem Beurteilungsspielraum, den ein letztinstanzliches Hauptsachegericht in solchen Fällen habe. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG werde nur dann verletzt, wenn das Gericht diesen Spielraum in unvertretbarer Weise überschritten habe.19 bb) Das Bundesverfassungsgericht billigt also dem letztinstanzlichen Gericht einen Beurteilungsspielraum bis zur Willkürgrenze zu und nimmt dabei in Kauf, dass es den Rechtsschutz des Beschwerdeführers verkürzt. Denn es verwehrt ihm den Zugang zu dem EG-vertraglich zur alleinverbindlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts berufenen Gericht, ohne dass es dem Beschwerdeführer möglich wäre, hiergegen vorzugehen – sei es mit Rechtsbehelfen des nationalen Rechts, sei es mit Rechtsbehelfen des Gemeinschaftsrechts. Die einzige Möglichkeit bildet ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland, das von der Kommission eingeleitet werden müsste (Art. 226 EG-Vertrag) – ein im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit allerdings problematisches Vorgehen. Das Bundesverfassungsgericht nimmt darüber hinaus aber auch ausdrücklich eine Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung zur Vorlage an den EuGH in Kauf.20 Sein Versuch, diesen Verstoß dadurch abzumildern, dass es nur um „die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen“ gehe, lässt die überragende Bedeutung des Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag für die einheitliche Rechtsanwendung und -entwicklung innerhalb der Gemeinschaft außer acht. Das Gemeinschaftsrecht kann es nach seinem Vorranganspruch 18 Beschluss vom 21.5.2008 – 2 BvR 893/08, EuZW 2008, 679. S. ferner BVerfGE 82, 159, 194 ff. 19 EuZW 2008, 680. 20 EuZW 2008, 680.
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nicht hinnehmen, dass die Mitgliedstaaten und ihre Organe entscheiden, ob und innerhalb welchen Rahmens sie seine Anwendung zulassen und die Entscheidungskompetenz seiner Organe anerkennen. Diese Verpflichtung folgt unmittelbar aus Art. 234 Abs. 3 und Art. 10 EG-Vertrag und ist von dem EuGH immer wieder betont worden.21 Die mitgliedstaatlichen Gerichte sind deshalb richtigerweise schon bei begründeten Zweifeln, nicht aber erst zur Vermeidung einer Willkürentscheidung verpflichtet, den EuGH nach Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag anzurufen. Falls der EuGH keinen Auslegungs- bzw. Entscheidungsbedarf sieht, ist es seine Sache, das Vorabentscheidungsersuchen nicht zur Entscheidung anzunehmen, wie es wiederholt geschehen ist.22 Seine Entscheidungskompetenz darf aber nicht von der Vermeidung einer Willkürentscheidung abhängig gemacht werden.23 Aus demselben Grund kann dem Bundesverfassungsgericht nicht darin zugestimmt werden, dass ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG davon abhängig sein kann, welche Auffassung zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts „eindeutig vorzuziehen“ ist.24 Die ausschließliche Entscheidungskompetenz des EuGH nach Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag lässt es nicht zu, dass die nationalen Gerichte über die Auslegung des Gemeinschaftsrechts nach den ihrer Meinung zufolge besseren Argumenten entscheiden. 3. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist schließlich nicht vereinbar mit der ständigen Rechtsprechung des EuGH, dass auch die Auslegung und Anwendung nationalen Verfahrensrechts den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen genügen muss. Führt eine nationale Verfahrensvorschrift oder deren Anwendung in der Praxis zu einer Beeinträchtigung des Geltungsanspruchs des Gemeinschaftsrechts, muss diese außer Betracht bleiben, darf also von den nationalen Behörden und Gerichten nicht angewandt werden.25
21
Vgl. die Nachweise in Fn. 12. Vgl. z.B. das Urteil vom 16.7.1992 – Rechtssache C-83/91, Slg. 1992, I-4871, 4932 ff. – Meilicke. 23 Zum Willkürproblem vgl. im Übrigen den BVerfG-Beschluss vom 6.5.2008 – 2 BvR 2419/06, NVwZ-RR 2008, 658 und Fastenrath NJW 2009, 272 ff. 24 EuZW 2008, 680. So schon BVerfGE 82, 196. 25 Urteil vom 19.6.1990 – Rechtssache C-213/89, Slg. 1990, I-2433, 2473 ff. – Factortame u.a. Urteil vom 14.12.1995 – Rechtssache C-312/93, Slg. 1995, I-4599, 4620 f. – Peterbroek Urteil vom 18.7.2007 – Rechtssache C-119/05, Slg. 2007, I-6199, 6247 ff. – Lucchini s. hierzu auch Terhechte EuR 2008, 567, 574 f. 22
Die Konkurrenz von Verfahrensgrundrechten Rüdiger Zuck I. Der Begriff der Verfahrensgrundrechte 1. Grundrechtsgleiche Rechte Das GG kennt den Begriff des Verfahrensgrundrechts nicht. Art. 93 I Nr. 4a GG spricht von den „in Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechten“, deren Verletzung mit der Verfassungsbeschwerde zum BVerfG geltend gemacht werden kann. Das entspricht zeitlich der dem Art. 93 I Nr. 4a GG vorausliegenden Textfassung des § 90 I BVerfGG. Das hat das Schrifttum veranlasst, zwei Gruppen dieser Rechte zu bilden: Die in Art. 20 IV, 33 und 38 enthaltenen und die Rechte aus Art. 101, 103 und 104 GG. Beide Gruppen werden unter dem nicht sonderlich aussagekräftigen Begriff der „grundrechtsgleichen Rechte“ zusammengefasst.1
* Zivilrechtler stehen dem Verfassungsrecht meist fremd gegenüber. Das gilt nicht für Achim Krämer. Als langjähriger Vorsitzender des DAV-Verfassungsrechtsausschusses hat er – die phantasievolle Fabulierkunst des Verfassungsrechts und die strenge zivilrechtliche Dogmatik kombinierend – wesentlich dazu beigetragen, das Ansehen dieses Ausschusses als eines unabhängigen Anhörungsbeteiligten im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu festigen und zu mehren. Es ist mir deshalb ein Anliegen, Achim Krämer mit einem verfassungsrechtlichen Beitrag zu ehren. Ich erfülle damit zugleich ein Petitum aus AnwBl. 2006, 773, 777. 1 Vgl. etwa Hillgruber/Joos Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2006, Rn. 119 ff.; Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, Stand 2006, § 90, Rn. 62; Hopfauf in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 93, Rn. 82; Hartmann in: Pieroth/Silberkuhl (Hrsg.), Die Verfassungsbeschwerde 2008, § 90 BVerfGG, Rn. 96 ff. Das BVerfG hat, nach gewissem Schwanken, inzwischen den Begriff der grundrechtsgleichen Rechte übernommen, vgl. BVerfGE 107, 395, 407 – Plenum. Kritisch zur Terminologie Zuck Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 3. Aufl. 2006, Rn. 381 ff.; Bethge in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, Stand 2006, § 90, Rn. 85; Spielmann Konkurrenz von Grundrechtsnormen, 2008, 25 wählt statt der Unterscheidung zwischen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten den Begriff der Grundrechte iwS.
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2. Verfahrensgrundrechte Die zweite Fallgruppe, also die in Art. 101, 103 GG enthaltenen Rechte 2 werden als Justiz-, Prozess- oder Verfahrensgrundrechte bezeichnet.3 An der Terminologie liegt nicht viel, aber genauer sollte sie schon sein. „Justiz“ ist ein ebenso überkommener wie verschwommener Begriff für die gesamte Gerichtsbarkeit. Da aber unter die Verfahrensgrundrechte auch der Grundsatz des fairen Verfahrens und die Gewährleistung rechtlichen Gehörs im Verwaltungsverfahren fallen 4, ist der Begriff „Justizgrundrechte“ nicht genau genug. An dieser Erweiterung scheitert auch das „Prozessgrundrecht“ als Oberbegriff.5 Die Bezeichnung „Verfahrensgrundrecht“ ist deshalb vorziehen.6
II. Der Katalog der Verfahrensgrundrechte 1. Rechtliches Gehör (Art. 103 I GG) § 90 I BVerfGG führt Art. 103 GG ausdrücklich auf. Im vorliegenden Zusammenhang geht es jedoch nur um den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG). Die Vorschrift garantiert den am staatlichen Gerichtsverfahren 7 Beteiligten 8 die Information über den Verfahrensstoff und die Einräumung der Möglichkeit, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu äußern. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs enthält außerdem die Pflicht
2 Art. 104 GG hat zwar eine verfahrensrechtliche, mit Art. 19 IV GG, Art. 103 I GG im Zusammenhang stehende Seite, ist aber andererseits auf Art. 2 II 2 GG bezogen, siehe dazu Gusy in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 5. Aufl. 2005, Art. 104 GG, Rn. 76 f. Der vorliegende Text klammert Art. 104 GG aus der Betrachtung aus, ebenso Art. 103 II, III GG. S. dazu jetzt Zuck, Die spezifischen verfassungsrechtlichen Gewährleistungen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens, ZAP 10 (2009) Fach 19 S. 703 ff. 3 Siehe Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, Stand 2006, § 90, Rn. 85. 4 Siehe unten Text II 3b. 5 Das schließt es nicht aus, einzelne Verfahrensgrundrechte, wie z.B. aus Art. 101 I 2 GG, Art. 103 I GG als Prozessgrundrechte zu bezeichnen. 6 Die Kammern, aber auch die Senate des BVerfG sind in der Terminologie großzügig, vgl. etwa 1. Kammer des Zweiten Senats, B. v. 6.8.2002, NVwZ-RR 2002, 802, 803; BVerfGE 101, 397, 404 – Rechtspfleger. 7 Es kommt für den Begriff des Gerichtsverfahrens nur darauf an, ob der Richter Aufgaben wahrnimmt, die ihm wegen seiner sachlichen verfahrensrechtlichen Stellung anvertraut sind; um „spezifisch richterliche Aufgaben“ muss es sich nicht handeln, BVerfGE 101, 397, 405 – Rechtspfleger. 8 Auf eine förmliche Beteiligtenstellung kommt es nicht an, BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, B. v. 20.10.2008, 1 BvR 92/06, NJW 2009, 138, 139, sondern darauf, wer durch das Verfahren unmittelbar rechtlich betroffen wird, BVerfGK 9, 425, 428.
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des Gerichts, den Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen.9 Da rechtliches Gehör primär durch die einfachrechtlichen Verfahrensordnungen gewährleistet wird, ist Art. 103 I GG erst dann anwendbar, wenn die gehörsverletzende Anwendung des einfachen Rechts durch das Instanzgericht sich als „willkürlich“ oder „offenkundig unrichtig“ erweist.10 2. Faires Verfahren (Art. 20 III GG i.V.m. Art. 2 I GG) Der Wortlaut des Art. 103 I GG („vor Gericht“) und die systematische Stellung der Vorschrift im IX. Abschnitt des GG „Die Rechtspflege“ machen deutlich, dass ein Gehörsverstoß außerhalb eines Gerichtsverfahren nicht von Art. 103 I GG erfasst wird.11 Gehörsverstöße im Verwaltungsverfahren unterfallen dem Topos des fairen Verfahrens, der es verbietet, den Einzelnen zum bloßen Objekt staatlicher Entscheidungen zu machen; der Betroffene muss (auch praktisch) die Möglichkeit erhalten, zur Wahrung seiner Rechte auf Gang und Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen.12 Das gilt auch im Verwaltungsverfahren13 und für das Verfahren vor dem Rechtspfleger.14
9 Die drei Elemente des rechtlichen Gehörs „Information/Äußerungsbefugnis/Berücksichtigungspflicht“ sind unangefochten. 10 Da „daneben“ noch „Grundsätze rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung“ für die Abgrenzung zum einfachen Recht eine Rolle spielen sollen (vgl. etwa BVerfGE 75, 302, 312), ist insoweit eine noch nicht abschließend geklärte Gemengelage eingetreten, vgl. Lerche in: FS f. Heldrich, 2005, 1282 ff. Das wird besonders deutlich, wenn – etwa – die 1. Kammer des Zweiten Senats, B. v. 20.9.2006 – 2 BvR 1421/00, BVerfGK 9, 203, 210 davon spricht, es müsse eine „gewissen Evidenz“ der Gehörsverweigerung gegeben sein. Im Ergebnis wird die Anwendung des Art. 103 I GG davon abhängen, ob die Handhabung des einfachen Rechts durch das Instanzgericht im Gesetz „keine Stütze“ mehr findet, vgl. Zuck NJW 2005, 3753, 3757. Insbesondere dann, wenn die Abgrenzung über das Willkürverbot erfolgt (vgl. etwa BVerfGK 9, 412, 419), kommt als ausschlaggebendes Moment ins Spiel, dass der Gehörsverstoß nicht nur evident sein, sondern auch Gewicht haben muss. 11 BVerfGE 101, 397, 404 f. – Rechtspfleger. 12 BVerfG(K), NJW 2007, 204, 205; NJW 2007, 499, 500. Der Grundsatz des fairen Verfahrens ist vor allem im Zusammenhang mit dem Strafverfahren entwickelt worden; siehe dazu die Nachweise bei BVerfGK 9, 174, 187 f. Die Ausgestaltung des Grundsatzes des fairen Verfahrens obliegt jedoch dem Gesetzgeber, BVerfGE 63, 45, 61, st. Rspr. 13 BVerfGE 101, 397, 405 – Rechtspfleger; zust. BVerwG, NVwZ 2001, 94, 95. Siehe dazu etwa Bonk/Kallerhoff VwVfG, 7. Aufl. 2008, § 28, Rn. 2. 14 BVerfGE 101, 397 LS 1.
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3. Gebot des wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 19 IV GG)/Allgemeiner Justizgewährungsanspruch (Art. 20 III GG i.V.m. Art. 2 I GG) a) Effektiver Rechtsschutz (Art. 19 IV GG) Die verfassungsrechtliche Garantie des wirkungsvollen Rechtsschutzes umfasst den Zugang zu den Gerichten, die Prüfung des Streitbegehrens in einem förmlichen Verfahren sowie die verbindliche Entscheidung. Die Effektivität des Rechtsschutzes wird in erster Linie von den Prozessordnungen gesichert. Das bedeutet, dass die Gerichte bei Auslegung und Anwendung der Prozessordnungen den Zugang zu den dem Rechtssuchenden eingeräumten Instanzen gewährleisten müssen und das Verfahren selbst nicht in unzumutbarer Weise erschweren dürfen.15 Dazu gehört, dass der Richter ein von der Verfahrensordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht ineffektiv machen und für den Betroffenen „leerlaufen“ lassen darf.16 b) Wirkungsvoller Rechtsschutz (Allgemeiner Justizgewährungsanspruch Art. 20 III GG i.V.m. Art. 2 I GG) Das aus Art. 19 IV GG folgende Gebot des wirkungsvollen Rechtsschutzes gilt nur, wenn sich der Verfahrensbeteiligte gegen Akte der öffentlichen Gewalt wendet. Die danach für den Zivilprozess entstehende Lücke 17 hat das BVerfG über den allgemeinen Justizgewährungsanspruch geschlossen. Er unterscheidet sich inhaltlich nicht von den Gewährleistungen des Art. 19 IV GG, sondern nur hinsichtlich des Anwendungsbereichs.18 Soweit Art. 19 IV GG nicht greift, sichert der allgemeine Justizgewährungsanspruch den wirkungsvollen Rechtsschutz – allerdings auch hier nur nach Maßgabe der vom Gesetzgeber (verfassungskonform) geschaffenen Verfahrensmöglichkeiten.19 c) Das Gebot wirkungsvollen Rechtsschutzes als Verfahrensgrundrecht Ob das Gebot wirkungsvollen Rechtsschutzes ein Verfahrensgrundrecht darstellt, ist bislang nicht verlässlich geklärt. Vom Inhalt her, den Zugang zum Verfahren und dieses selbst als rechtsstaatskonform zu gewährleisten, scheint der Verfahrensbezug eindeutig.20 Zweifel tauchen jedoch auf, weil eine Verknüpfung mit Art. 19 III GG hergestellt wird, mit der Folge, dass
15 16 17 18 19 20
BVerfGE 112, 185, 207. BVerfGE 78, 88, 99; 96, 27, 39; 112, 185, 208. Siehe dazu Zuck Die Grundrechtsrüge im Zivilprozess, 2008, Rn. 83 ff. BVerfGE 107, 395, 403 – Plenum. BVerfGE 107, 395, 411 – Plenum. Siehe dazu ausf. Zuck EuGRZ 2009, 680, 683 ff.
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zwar Ausländern die Berufung auf das Gebot wirkungsvollen Rechtsschutzes zugebilligt wird 21, nicht aber in gesicherter Weise ausländischen juristischen Personen 22 und schon gar nicht juristischen Personen des öffentlichen Rechts 23, es sei denn, dieser stehe, wie etwa den Rundfunkanstalten, materieller Grundrechtsschutz zu.24 Der Bruch in der Argumentation der Verfahrensgrundrechts-Leugner ist offenkundig. Wenn man die Verknüpfung des Art. 19 IV GG mit Art. 19 III GG zum maßgebenden Gesichtspunkt macht, lässt sich die Zubilligung von Verfahrensgrundrechten für juristische Personen nicht halten. Und wenn man juristischen Personen Verfahrensgrundrechte wie Art. 103 I, Art. 101 I 2 GG wegen der Verknüpfung mit dem Rechtsstaatsprinzip zuerkennt, muss man das konsequenterweise auch auf das auf derselben Grundlage beruhende rechtsstaatliche Gebot des wirkungsvollen Rechtsschutzes tun. Ich vertrete deshalb die Auffassung, dass das Gebot wirkungsvollen Rechtsschutzes ein Verfahrensgrundrecht ist. 4. Gesetzlicher Richter (Art. 101 I 2 GG) Art. 101 I 2 GG gewährleistet den Einzelnen das Recht auf den gesetzlichen Richter. Eine Verletzung dieses Rechts durch gerichtliche Entscheidungen liegt jedoch nicht in bloß fehlerhafter Handhabung der vom Gesetzgeber geschaffenen Zuständigkeitsnormen. Ein Verstoß gegen Art. 101 I 2 GG ist vielmehr erst gegeben, wenn die Auslegung einer Zuständigkeitsnorm oder ihre Handhabung im Einzelfall „willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite … des Art. 101 I 2 GG grundlegend verkennt“25. Das lässt sich nur anhand der besonderen Umstände des Einzelfalls beurteilen.
21 Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig/Herzog, Stand 2003, Art. 19, Abs. 4, Rn. 40; Sachs, in: ders., GG, 5. Aufl. 2009, Art. 19, Rn. 13; Hofmann in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 19, Rn. 59; Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, 9. Aufl. 2008, Art. 19, Rn. 59. Schon das ist aber nicht ohne Widerspruch geblieben, vgl. Krebs in: v. Mangoldt/Klein, GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 19, Rn. 51. 22 A.A. Zuck EuGRZ 2009, 680 ff. 23 Dezidiert BSGE 95, 141, 149, dort Rn. 20; ebenso etwa Schulze-Fielitz in: Dreier, GG, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 19 IV, Rn. 83. Offen gelassen von BVerfGE 61, 82, 109; 107, 299, 310 f.; BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, B. v. 21.2.2008 – 1 BvR 1987/07, EuGRZ 2008, 436, 437 – Endlager Schacht Konrad. Siehe dazu auch Klein/Sennekamp NJW 2007, 945, 948 unter Hinweis auf Papier in: HDStR, Bd. VI, 2. Aufl. 2001, § 154, Rn. 19. Der Umstand, dass die Kammer die Beschwerdeführerin „nur“ am Fehlen substantiierten Vortrags hat scheitern lassen, deutet auf ein Umdenken des BVerfG in dieser Frage. 24 BVerfGE 107, 299, 311. Das ist auch der Standpunkt des Schrifttums, vgl. etwa Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, Stand 2003, Art. 19 IV, Rn. 42. 25 BVerfG(K), NJW 2007, 3771, st. Rspr.
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5. Prozessuales Willkürverbot (Art. 3 I GG) a) Rechtsprechungsformel Wann – insbesondere – ein Richterspruch als willkürlich im Sinne des Art. 3 I GG anzusehen ist, dafür gibt es eine allgemeine, wenn auch gelegentlich variabel formulierte Rechtsprechungsformel. Für die Annahme von Willkür genügt die fehlerhafte Handhabung des für die Entscheidung maßgebenden Rechts nicht. Vorausgesetzt wird vielmehr, dass sich die Rechtsanwendung unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertreten lässt (und sich deshalb der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht).26 b) Verfahrensgrundrecht Die Frage ist, ob das prozessuale Willkürverbot den Verfahrensgrundrechten zuzurechnen ist. Das BVerfG hat die Anwendung des Willkürverbots auf juristische Personen des öffentlichen Rechts (und damit die Ausweisung des Willkürverbots als Verfahrensgrundrecht) außerhalb der Ausnahmebereiche bislang verneint.27 Die Begründung, das Willkürverbot beanspruche innerhalb des hoheitlichen Staatsaufbaus ebenso Geltung wie der Grundsatz des rechtlichen Gehörs, jedoch handle es sich insoweit, d.h. bezogen auf das Willkürverbot, um einen Rechtsgrundsatz, der schon aus dem Wesen des Rechtsstaats folge, ohne dass es der Konstruktion eines entsprechenden Grundrechts einer juristischen Person des öffentlichen Rechts bedürfe 28, überzeugt nicht wirklich. Dieser Gedankengang ist nur nachvollziehbar, wenn es um die Zubilligung von materiellem Grundrechtsschutz für juristische Personen des öffentlichen Rechts im Bereich besonderer Lebensverhältnisse geht, denn das bedeutet, dass juristische Personen des öffentlichen Rechts außerhalb dieser Sachbereiche Elemente des allgemeinen Staatsaufbaus sind, die im Verhältnis zueinander keiner Grundrechtskontrolle unterliegen können. Auf dieser Argumentationsschiene scheitert folgerichtig die Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 I GG. Die Frage ist jedoch, ob sich nicht aus dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz, der auch eine allgemeine Willkürkontrolle umfasst, nicht ein prozessuales Willkürverbot ableiten lässt 29, der den materiellen Grundrechtsregeln eben gerade nicht 26
BVerfGE 86, 59, 63; 87, 273, 278 f.; 93, 189, 203; BVerfGK 9, 263, 269, st. Rspr. BVerfGE 21, 362, 372 – LVA; 2. Kammer des Ersten Senats. B. v. 9.1.2007 – 1 BvR 1949/05, NVwZ 2007, 1420 – LH Düsseldorf. 28 So schon BVerfGE 21, 362, 372. 29 Siehe dazu Zuck JZ 1985, 921, 924 f. Mein Versuch, ein prozessuales Willkürverbot vom allgemeinen materiellen Gehalt des Art. 3 I GG auszusondern, ist ohne jede Resonanz geblieben. Die Abtrennung vom allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 I GG ist aber schon deshalb geboten, weil im Rahmen der Anwendung des prozessualen Willkürverbots 27
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folgt. Ein solcher Ansatz ist schon deshalb naheliegend, weil die Prämisse für den vom BVerfG gebildeten Vergleich identisch ist: Es handelt sich immer um die Gewährleistung des Rechtsstaatsprinzips, bei Art. 3 I GG in der Form des Willkürverbots ebenso wie bei Art. 103 I GG. Ist das aber so, dann gibt es für ein prozessuales Willkürverbot einen guten Grund, wenn nämlich der Richter gegenüber einer Privatperson gehalten ist, keine sachfremden Erwägungen anzustellen, gegenüber Verfahrensbeteiligten aus der Staatsorganisation aber willkürlich handeln darf. Der Streit wird zwar bisher in der eher unglücklichen Verbindung mit der Grundrechtsfähigkeit von juristischen Personen des öffentlichen Rechts ausgetragen. Vom Ansatz eines prozessualen Willkürverbots her hat er damit aber nichts zu tun. Wer richterliches Verhalten – z.B. nach Maßgabe des Gebots wirkungsvollen Rechtsschutzes – bei der Anwendung von Verfahrensgrundrechten daraufhin kontrolliert, ob es den Verfahrensbeteiligten gibt, was ihnen die Verfahrensordnung verheißt, muss sich das Verbot des „Leerlaufs“ der Verfahrensordnung auch auf das prozessuale Willkürverbot erstrecken. Es wird noch zu zeigen sein, wie gut dieses Verständnis des prozessualen Willkürverbots mit den etablierten Verfahrensgrundrechten aus Art. 103 I GG/Art. 101 I 2 GG harmoniert.
III. Die Konkurrenzen 1. Ungesicherte Dogmatik Die Grundrechts-Konkurrenzdogmatik ist ungesichert, zumal das BVerfG in seiner Rechtsprechung im Hinblick auf die Verdrängung, Kumulation oder Verstärkung eines Grundrechts durch ein anderes eher pragmatisch verfährt.30 Die meisten Erörterungen orientieren sich an den Freiheitsgrundrechten.31 Die Konkurrenz von Verfahrensgrundrechten wird demgegenüber stiefmütterlich behandelt.32 Das ist nicht überraschend, weil das BVerfG den Grundrechtsschutz fallbezogen formuliert 33, d.h. von der Einbettung in das
gar kein Vergleich von Sachverhalten/Personengruppen stattfindet. Es handelt sich nur um eine Bewertung richterlichen Verhaltens in Bezug auf eine im Verfahren entscheidungserhebliche Norm, siehe dazu auch Spielmann Konkurrenz von Grundrechtsnormen, 2008, 218, Fn. 108 mwN und früher schon – nachdrücklich – Höfling JZ 1991, 955, 957. Siehe auch Kirchberg, NJW 1987, 1988. 30 Fohmann EuGRZ 1985, 49; Stern Staatsrecht, Bd. III/2, 1994, § 92; Spielmann Konkurrenz von Grundrechtsnormen, 2008. 31 Siehe dazu jetzt E. Hofmann AöR 133 (2008), 523, 527. 32 Auch für Spielmann Konkurrenz von Grundrechtsnormen, 2008 ist das ein im Wesentlichen an Art. 19 IV GG orientiertes Randthema, auch wenn sich bei ihm eine schöne Tabelle findet, aaO, S. 261. 33 Stern Staatsrecht, Bd. III/2, 1994; § 92 III 2 (S. 1385).
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Verfassungsprozessrecht 34 und insbesondere von der Bedeutung der Frage abhängig macht, ob im Einzelfall die subjektive oder die objektive Funktion der Verfassungsbeschwerde im Vordergrund steht.35 Das kann dann zur Anwendung der sogenannten Meist-Betroffenheitsregel führen (bei der dann ein Grundrecht das andere verdrängt) 36 oder zu der (häufigen) ergänzenden Verstärkung des Grundrechtsschutzes, wenn ein Grundrecht „in Verbindung mit“ 37 einem anderen angewendet wird 38, gelegentlich aber auch zur bloßen Kumulation.39 Häufig weicht das BVerfG der Konkurrenzproblematik dadurch aus, dass es, wenn es eine Grundrechtsverletzung festgestellt hat, die Frage nach anderen Grundrechtsverletzungen offen lässt.40 Bei der Anwendung von Verfahrensgrundrechten hat die Vernachlässigung der Konkur-
34 BVerfGE 70, 35, 51. Die „offizielle Version“ lautet allerdings, dass – umgekehrt – der Grundrechtsschutz die Gestaltung und Anwendung des Verfahrensrechts bestimmt, BVerfGE 53, 30, 65; 55, 177, 182; 79, 51, 66; 99, 145, 162. 35 Siehe dazu Zuck Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 3. Aufl. 2006, Rn. 73 ff. Wenn die objektive Funktion der Verfassungsbeschwerde es erfordert, konstruiert das BVerfG neue Grundrechte, wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, BVerfGE 65, 1 und dazu jetzt krit. Ladeur DÖV 2009, 45, das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationsrechtlicher Systeme, BVerfG, NJW 2008, 822 – Online-Durchsuchung und dazu etwa Hofmann-Riem JZ 2008, 1009. 36 Das betrifft z.B. das Verhältnis von Art. 12 I GG zu Art. 14 I GG, siehe dazu Tettinger/Mann in: Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 12, Rn. 165. 37 Damit ist nicht die Verbindung allgemeiner Verfassungsprinzipien, wie z.B. des Art. 20 III GG mit Art. 2 I GG gemeint, weil dort der Art. 2 I GG lediglich als prozessuales Transmissionsgrundrecht fungiert, vgl. dazu Zuck in: Quaas/Zuck (Hrsg.), Prozesse in Verwaltungssachen, 2008, Kap. 8, Rn. 198, S. 900 f. 38 Klassisches Beispiel (wenn man unterstellt, Art. 1 I GG sei ein Grundrecht – ich verneine das, vgl. Zuck in: Quaas/Zuck, Medizinrecht, 2. Aufl. 2008, § 2, Rn. 14): Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG), siehe etwa BVerfGE 117, 202; 118, 168, 169; BVerfGK 9, 353; Art. 6 I GG i.V.m. Art. 3 I GG, BVerfGK 9, 365; BVerfGK 9, 442; Art. 12 I GG i.V.m. Art. 3 I GG, BVerfGE 99, 49; Art. 3 I GG i.V.m. Art. 4 I, II GG; BVerfG(K), NJW 2007, 56. Die Beispiele zeigen, dass die Verstärkungsfunktion ihren wichtigsten Anwendungsbereich bei den Freiheitsgrundrechten hat. E. Hofmann AöR 133 (2008), 523 spricht insoweit von „additivem“ Grundrechtsschutz. 39 Z.B. Art. 19 IV GG i.V.m. Art. 33 II GG, BVerfGK 9, 1, 6; Art. 19 IV GG i.V.m. Art. 3 I GG, BVerfGK 9, 123; Art. 2 II 2 GG i.V.m. Art. 104 I 1 GG, BVerfGK 9, 132; Art. 19 IV GG i.V.m. Art. 2 I GG, BVerfGK 9, 131; Art. 6 IV GG i.V.m. Art. 12 I GG, BVerfGE 85, 360, 361; Art. 6 II GG und Art. 2 I GG i.V.m. Art. 103 I GG, BVerfGK 8, 408 415. 40 Beispiel: BVerfGE 99, 48, 59. So verfährt im Allgemeinen auch die Kammerrechtsprechung, vgl. etwa BVerfGK 9, 231, 240; BVerfG(K), AnwBl. 2009, 151, 152. Das Problem der „doppelten Verfassungswidrigkeit“ hat sich dem BVerfG, anders als bei dem im Zivilrecht anerkannten Konstrukt der „doppelten Nichtigkeit“, noch nicht gestellt. Das Thema könnte durchaus eine Rolle spielen, wenn es nach Zurückverweisung an das Instanzgericht im Rahmen des § 95 BVerfGG darauf ankäme, auf welcher Grundrechtsverletzung die Zurückverweisung beruht.
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renzlage bisher keine praktische Bedeutung erlangt, was sich allein schon aus dem Umstand ergibt, dass die Feststellung eines Grundrechtsverstoßes genügt. Dem korrespondiert die Interessenlage des Beschwerdeführers, für den es im Ergebnis belanglos ist, unter welcher grundrechtlichen Vorgabe er sein Verfahren gewinnt oder verliert. Damit ist eine gewisse Beliebigkeit verbunden. Sie findet sich exemplarisch in der Entscheidung „Oranienburger Richter“. Die 1. Kammer des Zweiten Senats wendet dort Art. 103 I GG und das Willkürverbot aus Art. 3 I GG selbständig nebeneinander an, was man vielleicht noch nachvollziehen kann, wenn man die Grundrechtsverstöße auf unterschiedliche Teile des Sachverhalts bezieht und der Absicht der Kammer Rechnung trägt, dem Amtsrichter wirklich deutlich vor Augen zu halten, dass ein Richter seinen Beruf so nicht ausüben darf. Man wird aber den Eindruck nicht los, dass die Kammer die beiden Verfahrensgrundrechte insgesamt zu großzügig behandelt hat, wenn sie einerseits am Ende der Entscheidung ausführt, der Richter habe in seiner Entscheidung die Sache „objektiv willkürlich behandelt“ (= Verstoß gegen Art. 3 I GG), seine Entscheidungen beruhten aber auch auf der Verletzung des Art. 103 I GG.41 Es gibt nun aber einen äußeren Anlass, zumindest für einen Teil der Verfahrensgrundrechte mehr Genauigkeit einzufordern. Das Anhörungsrügengesetz 42 sieht für die Verletzung des rechtlichen Gehörs, aber eben nur für dessen Verletzung, in den einzelnen Verfahrensordnungen die Anhörungsrüge vor. Sie gehört, soweit sie statthaft ist, im Sinne des § 90 II 1 BVerfGG zu dem vor der Erhebung der Verfassungsbeschwerde zu erschöpfenden Rechtsweg.43. Nur die statthafte Anhörungsrüge hemmt (praktisch) den Lauf der Monatsfrist des § 93 I 1 BVerfGG für die Erhebung der Verfassungsbeschwerde gegen die Ausgangsentscheidung.44 Es muss also in Bezug auf die Anhörungsrüge verlässlich geklärt werden, was zur Verletzung des rechtlichen Gehörs gehört und was nicht.45 Nimmt man die Verfahrensgrundrechte insgesamt in den Blick, stößt man auf eine Grauzone. So findet sich etwa die Bemerkung im Zusammenhang mit der Verletzung des rechtlichen Gehörs sei auch auf
41 1. Kammer des Zweiten Senats, B. v. 21.3.2006 – 2 BvR 1104/05, NJW 2006, 2248 (2249). 42 Vom 9.12.2004 (BGBl. I 3220), in Kraft getreten zum 1.1.2005. 43 BVerfG(K), NJW-RR 2008, 75, st. Rspr. 44 BVerfG(K), NJW 2005, 3059 – Queen Mary II. 45 In der Praxis sind in diesem Punkt viele Antragsteller unsicher. Sie stützen ihre Anhörungsrüge häufig auch auf die Verletzung des Willkürverbots im Sinne des Art. 3 I GG, auf die Verletzung des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs/Gebot des effektiven Rechtsschutzes oder auf einen Verstoß gegen Art. 101 I 2 GG, ein wenig ermuntert durch die Tatsache, dass die Kammerrechtsprechung bislang offen gelassen hat, ob (wie das hier angenommen wird) die Anhörungsrüge nur auf eine Verletzung des Art. 103 I GG gestützt werden kann.
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die Gewährleistungen des fairen Prozesses und des Gebots des wirkungsvollen Rechtsschutzes zurückzugreifen.46 Diese Sicht soll etwas aufgehellt werden. 2. Die Relationen der einzelnen Verfahrensgrundrechte a) Allgemeines Die grundsätzliche Abgrenzungsnotwendigkeit liegt in dem gemeinsamen Grund aller Verfahrensgrundrechte, ein rechtsstaatliches Verfahren zu gewährleisten. Das Rechtsstaatsprinzip ist als solches weitgehend konturenlos. Es gewinnt seine Präzision erst aus der Anwendungstradition, seinen Bezug zu anderen Grundrechtsprinzipien und zum Grundrechtskatalog des GG. Die damit verbundenen Unsicherheiten sind die Hauptursache für die in Bezug auf die Verfahrensgrundrechte eingetretene Verunsicherung.47 Versucht man, einen allgemeinen Nenner für den Gewährleistungsgehalt aller Verfahrensgrundrechte zu finden, stößt man auf die Kontrollnotwendigkeit der Abweichung des Richters in seiner konkreten Verfahrensgestaltung von der einfachrechtlichen Rechtslage, und damit auf eine Qualifizierungsnotwendigkeit. Insoweit geht es nicht um bloße Fehlerkorrektur, sondern um eine – verfahrensrechtlich eindeutige – unangemessene Beeinträchtigung der Rechte der Verfahrensbeteiligten, also um eine offenkundige Verletzung ihre Position als eigenständige Subjekte des Verfahrens. Die Stichwörter Willkür, Waffengleichheit, Evidenz und Fairness zielen dabei nicht auf den inzwischen nur noch historischen Topos der Legitimität durch Verfahren, sondern auf Freiheitsverbürgung. Der schon erwähnte Grundrechtsbezug des Rechtsstaatsprinzips führt zu einer fundamentalen Integration des Prinzips der Verhältnismäßigkeit in die Behandlung der Verfahrensgrundrechte. Da Freiheit immer je besondere Freiheit ist, erzwingt diese Prämisse, die Verfahrensgrundrechte jeweils in ihrer Besonderheit zu sehen, und sie nicht in der Allgemeinheit des Willkürverbots, des Fairnessgebots oder des Prinzips der Verhältnismäßigkeit aufgehen zu lassen. Wenn es auch möglich ist, Rechtsstaats- und Freiheitsaspekte im Prinzip des fairen Verfahrens zusammenzufassen, so ist doch auch diese Begrifflichkeit nicht mehr als eine Metapher. Es bleibt immer
46 4. Kammer des Zweiten Senats, B. v. 21.2.2001 – 2 BvR 140/00, NJW 2001, 2531. Hömig bezeichnet diese Relation als „Zusammenhang“, in: ders. (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2007, Art. 103, Rn. 2. Pieroth dagegen begreift Art. 103 I GG in diesem „Zusammenhang“ als lex specialis, in: Jarass/Pieroth, GG, 9. Aufl. 2008, Art. 103, Rn. 2; ebenso – beispielsweise – Kunig in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 3, 5. Aufl. 2003, Art. 103, Rn. 3b. Auf diese Besonderheiten der Verfahrensgrundrechte verweisen auch Höfling JZ 1991, 955 und Kirchberg NJW 1987, 1988, 1996. 47 Höfling JZ 1991, 955, 960.
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noch anhand der konkreten Regelungen zu prüfen, wie die einzelnen Verfahrensgrundrechte den Grundsatz des fairen Verfahrens (und damit auch seine Ausgestaltung im einfachen Recht) näher bestimmen. b) Tatbestandsabgrenzungen Auf sicherem Boden bewegt man sich dort, wo die einzelnen Verfahrensgrundrechte auf unterschiedliche Tatbestände bezogen sind.48 So haben reine Prozessgrundrechte wie Art. 103 I GG und Art. 101 I 2 GG nichts mit Gewährleistungen zu tun, die nicht prozessbezogen sind, wie die Gewährung rechtlichen Gehörs in Verwaltungsverfahren. Das gilt auch für das Verhältnis von Art. 103 I GG zu Art. 101 I 2 GG, also die Beziehung der beiden Prozessgrundrechte zueinander.49 Tatbestandsgeschieden sind auch die beiden Varianten des wirkungsvollen Rechtsschutzes aus Art. 19 IV GG (Handeln der öffentlichen Gewalt) und des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs (Art. 20 III GG i.V.m. Art. 2 I GG – Zivilprozess) sowie der Grundsatz des fairen Verfahrens, soweit er diejenigen Verfahrensbereiche erfasst, die von den Prozessgrundrechten nicht geregelt werden. Das ist – außerhalb des Strafprozesses – unproblematisch. c) Der Grundsatz des fairen Verfahrens und das prozessuale Willkürverbot Da Willkür nicht sachverhaltsabhängig ist, sondern im Prozess jedes entsprechend qualifizierte Missverhältnis zwischen Rechtsnorm und ihrer Anwendung erfasst 50, ist das prozessuale Willkürverbot gegenüber dem Grundsatz des fairen Verfahrens die allgemeinere Regelung, weil es hier um eine besondere Form des Missverhältnisses geht, so wie dies durch die aus der Auslegung des Art. 1 I GG stammende Objektformel näher kennzeichnet. Nicht was unter keinem denkbaren Gesichtspunkt als angemessene Antwort auf die sich stellenden Rechtsfragen verstanden werden darf, ist der anzuwendende Maßstab, sondern, ob der Verfahrensbeteiligte zum bloßen Objekt des Verfahrens gemacht worden ist.51 Das mit dieser Sicht verbundene Verständnis, der Grundsatz des fairen Verfahrens sei gegenüber dem prozessualen Willkürverbot die speziellere Vorschrift, führt zwangsläufig dazu, dass der Rückgriff auf Art. 3 I GG verfehlt ist, wenn der Grundsatz des fairen Verfahrens greift. 48 Siehe dazu Stern Staatsrecht, Bd. III/2 1994, § 92 II 1 (S. 1379 f.); Spielmann Konkurrenz von Grundrechtsnormen, 2008, 40 ff.; E. Hofmann AöR 133 (2008), 523, 528 f. 49 Die beiden Prozessgrundrechte werden deshalb in der Kammerpraxis auch gesondert geprüft, vgl. etwa BVerfGK 8, 136, 142; 8, 275, 279; 8, 376, 387. 50 Die Verfahrensgrundrechte sind auf das Handeln des Gesetzgebers nichts anwendbar. 51 Das entscheidende Kriterium liegt im Adjektiv „bloß“. Ein Verfahrensbeteiligter ist immer, weil er an die jeweilige Verfahrensordnung gebunden ist, „auch“ Objekt des Verfahrens.
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d) Der Grundsatz des fairen Verfahrens und die weiteren Verfahrensgrundrechte Wie verhält sich der Grundsatz des fairen Verfahrens zu anderen Verfahrensgrundrechten? Wenn man den Grundsatz des fairen Verfahrens als „allgemeines Prozessgrundrecht“ zu verstehen hat 52, dann taucht die Frage auf, wie sich dieses Verfahrensgrundrecht zu den besonderen Verfahrensgrundrechten verhält. aa) Art. 103 I GG Sieht man von der überschießenden (tatbestandsabhängigen) Tendenz des Grundsatzes des fairen Verfahrens in den Fällen ab, in denen es sich nicht um richterliche Tätigkeit handelt 53, so fällt der Grundsatz des fairen Verfahrens für die Kontrolle von Gehörsverstößen aus. Art. 103 I GG enthält eine Sonderregelung 54, die als lex specialis dem Grundsatz des fairen Verfahrens vorgehen.
52 3. Kammer des Ersten Senats, B. v. 17.1.2006 – 1 BvR 2558/05, NJW 2006, 1578 unter Hinweis auf BVerfGE 78, 123, 126. Die „Allgemeinheit“ des Grundsatzes des fairen Verfahrens wird besonders deutlich, wenn man auf Art. 6 I 1 EMRK zurückgreift. Dort heißt es: „Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten … von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird“. Man findet in diesem Satz den gesetzlichen Richter, wohl auch den allgemeinen Justizgewährungsanspruch, aber nicht das prozessuale Urrecht des Menschen auf rechtliches Gehör. Dieses wird (im Rahmen des Art. 6 I EMRK) allerdings aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens herausgelesen, vgl. MeyerLadewig EMRK, 2. Aufl. 2006, Art. 6, Rn. 38 mit Nachweisen aus der EGMR-Rechtsprechung. Das gilt entsprechend für das Willkürverbot, vgl. EGMR, E. v. 4.10.2001, 60350/00 – Canela Santiago/Spanien. 53 Siehe vorstehend III 2b. 54 Es gilt der unangefochtene Satz, dass der Grundsatz des fairen Verfahrens der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung bedarf, vgl. etwa BVerfGK 9, 174, 188 unter Hinweis auf Di Fabio in: Maunz/Dürig, GG, Stand 2001, Art. 2, Abs. 1, Rn. 72. Diese Ausgestaltung hat auf dem Sektor der Gewährleistung des rechtlichen Gehörs, des Gebots des gesetzlichen Richters und dem Gebot des wirkungsvollen Rechtsschutzes (bei dem hinsichtlich des Ausgestaltung ebenfalls auf das einfache Recht verwiesen wird, vgl. BVerfGE 112, 185, 207 nicht nur in der einfachrechtlichen Verfahrensordnung, sondern auch auf der Verfassungsebene stattgefunden, weil die einschlägigen Verfahrensgrundrechte ihrerseits zumindest teilweise den Grundgehalt der Gewährleistung vorgeben (besonders deutlich bei Art. 103 I GG und bei Art. 19 IV GG). Die Rückverweisung in das einfache Recht bringt im Übrigen erhebliche Gefahren mit sich. Wer im einfachen Recht nach Elementen des fairen Verfahrens sucht, muss wissen, was das rechtsstaatliche Gebot des fairen Verfahrens verlangt. Andernfalls wird der Inhalt einer Verfassungsrechtsnorm vom einfachen Recht her bestimmt. Und wenn sich solche Elemente im einfachen Recht finden lassen, taucht das identische Problem wie – etwa – bei der Anwendung des Art. 103 I GG auf: Wann wird der Verstoß gegen einfaches Recht zu einem Verfassungsverstoß?
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bb) Art. 101 I 2 GG Orientiert man sich an Art. 6 I 1 EMRK und dem Erfordernis, zu einem fairen Verfahren gehöre auch die Verhandlung/Entscheidung vor einem „auf Gesetz beruhenden, unabhängigen und unparteiischen Gericht“, so liegt es nahe, das Gebot des gesetzlichen Richters dem Grundsatz des fairen Verfahrens zuzuordnen.55 Man darf allerdings nicht verkennen, dass der Gewährleistungsgehalt des Art. 6 I 1 EMRK insoweit nicht deckungsgleich mit Art. 101 I 2 GG ist.56 Das hängt damit zusammen, dass Art. 101 I 2 GG in der Rechtsprechung des BVerfG nicht nur als Organisationsnorm, sondern auch als eine Norm im materiellen Sinn verstanden wird.57 Insbesondere im Hinblick auf diese materiellrechtliche Verschränkung erweist sich deshalb auch Art. 101 I 2 GG als lex specialis gegenüber dem Grundsatz des fairen Verfahrens. Als Fremdkörper scheint auf den ersten Blick die st. Rspr. des BVerfG, die von einem Verstoß gegen Art. 101 I 2 GG nur ausgeht, wenn die Entziehung des gesetzlichen Richters als willkürlich im Sinne des Art. 3 I GG angesehen werden kann.58 Geht man, wie hier, von der Spezialität des Art. 101 I 2 GG aus, kann es das Willkürverbot als Sachelement des Verfahrensgrundrechts „gesetzlicher Richter“ nicht geben. Der Instanzrichter ist vielmehr generell an Art. 101 I 2 GG gebunden, hat also keineswegs bis zur Grenze des Willkürverbots einen Freiraum. Der Hinweis auf die Notwendigkeit, den behaupteten Verstoß gegen Art. 101 I 2 GG mit dem in ihm liegenden Verstoß gegen das Willkürverbot zu begründen, ist deshalb allein aus dem Verfassungsprozessrecht begründbar. Mit diesem Erfordernis wird die Heck’sche Formel, d.h. die Abgrenzung von Verfassungsgerichtsbarkeit zur Instanzgerichtsbarkeit umgesetzt.59
55 Das verfassungsrechtliche Schrifttum neigt mehr zum Rückgriff auf die Rechtsweggarantie des Art. 19 IV GG, vgl. etwa Schulze-Fielitz GG, 2. Aufl., Bd. III, 2008, Art. 101, Rn. 17; Pieroth in: Jarass/Pieroth, GG, 9. Aufl. 2008, Art. 101, Rn. 1. 56 Zutreffend Degenhart in: Sachs GG, 5. Aufl. 2009, Art. 101, Rn. 3. 57 Vgl. etwa BVerfGK 8, 376, 382 mit Hinweisen auf die Senatsrechtsprechung und zu alledem Hänlein in: Umbach/Clemens, GG, Bd. II, 2002, Art. 101, Rn. 10. Siehe dazu krit. Kunig in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 3, 5. Aufl. 2003, Art. 101, Rn. 17 f. 58 St. Rspr., vgl. zuletzt 3. Kammer des Ersten Senats, B. v. 20.02.2008 – 1 BvR 2722/06, NVwZ-RR 2008, 658, Rn. 27 ff. – Flughafen Schönefeld. Die Entscheidung betrifft den Sonderfall des EuGH als gesetzlichen Richter (kritisch zur Kammerentscheidung Fastenrath NJW 2009, 272). Die Verknüpfung mit dem Willkürverbot entspricht einer allgemeinen Auffassung des BVerfG, vgl. BVerfGE 82, 286, 299; BVerfGK 8, 376 (382). 59 Siehe dazu ausf. Classen in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 5. Aufl. 2005, Art. 101, Abs. 1, Rn. 30 ff. Wenn deshalb die 1 Kammer des Zweiten Senats, B. v. 12.7.2006 – 2 BvR 513/06, BVerfGK 8, 376, 388 das Willkürverbot sogar neben Art. 101 I 2 GG prüft, ist das in doppelter Hinsicht verfehlt.
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e) Wirkungsvoller Rechtsschutz (Art. 19 IV GG/Art. 20 III GG i.V.m. Art. 2 I GG) Die meisten Schwierigkeiten sind mit der Bestimmung der Konkurrenzlage des Verfassungsgrundrechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz verbunden. Diese Schwierigkeit kann man praktisch an der auffälligen Unsicherheit (dargestellt an beliebigen Beispielen) im Schrifttum und in der Rechtssprechung ablesen. So orientiert sich z.B. Silvia Fleck im Rahmen einer überaus lesenswerten Erörterung des Richters als Qualitätsverantwortlicher hinsichtlich der Maßstäbe unter Außerachtlassung des materiellen Gehalts von Art. 101 I 2 GG ausschließlich am allgemeinen Justizgewährungsanspruch, den sie als deutsche Entsprechung zum Grundsatz des fairen Verfahrens in Art. 6 I 1 GG ansieht.60 Die 3. Kammer des Zweiten Senats behandelt die unzulässige Erschwerung des Zugangs zum Gericht – geradezu das klassische Merkmal des Gebots des wirkungsvollen Rechtsschutzes 61 – ausschließlich am Maßstab des Grundsatzes des fairen Verfahrens.62 Das BAG will es wiederum allen Recht machen.63 Der Beweisantrag einer Partei auf ihre Anhörung über den Inhalt eines Vier-Augen-Gesprächs wird gleichermaßen an Art. 6 I 1 EMRK, an Art. 103 I GG64, am Gebot wirkungsvollen Rechtsschutzes und dem Grundsatz des fairen Verfahrens geprüft. Für solche Unsicherheiten gibt es einen theoretischen Anlass. Er liegt in der Umschreibung des Gebots des wirkungsvollen Rechtsschutzes durch die Rechtsprechung des BVerfG. Diese Rechtsschutzgarantie umfasst danach „das Recht auf Zugang zu den Gerichten, eine grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes sowie eine verbindliche Entscheidung durch den Richter 65 … Die Rechtsschutzgarantie gilt nicht nur für den ersten Zugang zum Gericht, sondern für die Ausgestaltung des gesamten Verfahrens“ 66. Wenn das Gebot wirkungsvollen Rechts60 Fleck NJW 2007, 1427, 1428. Darüber hinaus übersieht sie, dass mit dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch die Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes gegenüber dem Handeln der öffentlichen Gewalt nicht gewährleistet wird. 61 Wegen des inhaltlichen Gleichrangs spreche ich hier und in der Folge in der Regel ganz allgemein vom Gebot des wirkungsvollen Rechtsschutzes. Damit soll sowohl das Gebot des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 IV GG als auch der allgemeine Justizgewährungsanspruch erfasst werden. 62 B. v. 26.7.2007 – 1 BvR 602/07, NJW 2007, 3342 (Antrag auf Fristverlängerung). Das ist kein Einzelfall, vgl. etwa BVerfG(K), NJW 2004, 2149 (zögerliche Behandlung eines Wiedereinsetzungsgesuchs); BVerfG(K), NJW 2006, 1579 (gerichtliche Fürsorgepflicht bei Anrufung eines unzuständigen Gerichts, ebenso BVerfG(K), NJW 2008, 1890). 63 BAG, NJW 2007, 2427, 2428. 64 Vorsorglich verknüpft das BAG Art. 103 I GG auch noch mit dem Rechtsstaatsprinzip und führt dazu ausdrücklich Art. 20 III GG i.V.m. Art. 2 I GG an. 65 Die verbindliche Entscheidung durch den Richter rechnet Art. 6 I 1 EMRK dagegen zum Grundsatz des fairen Verfahrens. 66 BVerfGE 112, 185, 207 unter Hinweis auf BVerfGE 40, 272, 275; 88, 118, 125.
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schutzes aber auch auf die Ausgestaltung des Verfahrens selbst erstreckt wird, dann tritt dieses Gebot in Konkurrenz zu anderen, die Gestaltung des Verfahrens betreffenden Verfahrensgrundrechten, wie insbesondere Art. 103 I GG und das Gebot des fairen Verfahrens.67 Man wird zunächst einmal trennen müssen. Soweit es um den Zugang zum Verfahren geht und einen non liquet vermeidenden Anspruch auf eine das Verfahren abschließende verbindliche Entscheidung, ist das alleiniger Gegenstand des Gebots auf wirkungsvollen Rechtsschutz. Andere Verfahrensgrundrechte kommen insoweit nicht in Betracht. Das Problem taucht erst innerhalb des Verfahrens auf, weil es ohne weiteres möglich ist, jedes Handeln innerhalb des Verfahrens am Maßstab des rechtlichen Gehörs und dem Gebot des fairen Verfahrens zu prüfen. Wirkungsvoller Rechtsschutz ist sicher nicht gewährleistet, wenn der Verfahrensbeteiligte zum bloßen Objekt des Verfahrens gemacht oder wenn ihm das rechtliche Gehör verweigert wird. Das Problem könnte man lösen, wenn man das Gebot des wirkungsvollen Rechtsschutzes als Auffang-Verfahrensgrundrecht behandelte. Es ist aber schwer zu sehen, wie dieses Gebot verletzt werden sollte, wenn weder gegen Art. 103 I GG noch gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen wird. Eigenständiger Gehalt des Gebots des wirkungsvollen Rechtsschutzes innerhalb des Verfahrens ließe sich vielleicht finden, wenn man zwischen Verfahrensstrukturen und ihrer Anwendung unterschiede. Es macht einen Unterschied, ob das Gericht eine verfahrensrechtlich vorgesehene Regelung contra legem so anwendet, dass sie im Ergebnis für den Verfahrensbeteiligten leerläuft oder ob es sich lediglich um eine, innerhalb des Verfahrenslaufs liegende Fehlanwendung von Rechtsnormen handelt. Erkennbar beruht eine solche Entscheidung auf einer Gewichtung. Ob es in der Praxis möglich ist, bei der Feststellung, die Handhabung einer Verfahrensnorm finde im Gesetz keine Stütze, danach zu unterscheiden, ob der Richter die Verfahrensnorm grundsätzlich fehl anwendet oder nur ihre Anwendung im Einzelfall, zu beanstanden ist, erscheint zweifelhaft. Die Frage ist nämlich, ob der Begriff der „Ausgestaltung des Verfahrens“ sich überhaupt auf solche inhaltlichen Vorgaben erstreckt. Nimmt man etwa die von der Rechtsprechung in Anspruch genommene Ausgangsentscheidung BVerfGE 40, 272, 275, so war es dort um die Frage gegangen, ob 67 Das BVerfG sieht diese Konkurrenzlage nicht. Die Verfassungsbeschwerde im Fall BVerfGE 112, 185 war auch auf die Verletzung des rechtlichen Gehörs gestützt worden. Die Gehörsrüge hat der Zweite Senat für unzulässig gehalten (BVerfGE 112, 185, 206), weil der Beschwerdeführer nichts zur Entscheidungserheblichkeit vorgetragen habe. Wäre Art. 103 I GG lex specialis zum Gebot des wirkungsvollen Rechtsschutzes, wäre die Verfassungsbeschwerde insgesamt unzulässig gewesen, weil es dem Beschwerdeführer nicht freisteht, ob er sich – die Voraussetzungen als gegeben unterstellt – auf die Verletzung des rechtlichen Gehörs stützt oder nicht. Der vom BVerfGE 112, 185 judizierte Erfolg der Verfassungsbeschwerde ist deshalb nur möglich gewesen, weil der Senat davon ausgegangen ist, die Verfahrensgrundrechte aus Art. 19 IV GG verdrängten Art. 103 I GG.
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eine Nichtzulassungsbeschwerde in ein Hilfsantragsverhältnis zur Revision gebracht werden durfte, also um ein Zugangsproblem innerhalb des Rechtszugs. Das gilt auch für BVerfGE 88, 118, 125, eine Entscheidung, die sich ihrerseits auf BVerfGE 40, 272, 275 bezieht. Dort ist als Verstoß gegen das Gebot des wirkungsvollen Rechtsschutzes angesehen worden, dass der Richter ein Wiedereinsetzungsgesuch nicht zugleich als Einspruch gegen ein Versäumnisurteil behandelt hatte; es hat sich also ebenfalls um eine eindeutige Zugangsproblematik gehandelt. Weiter sollte aber das Gebot des wirkungsvollen Rechtsschutzes auch nicht ausgedehnt werden. Wenn deshalb BVerfGE 112, 185, 207 die Anforderungen an eine nach § 344 II 2 StPO erhobene Rüge am Gebot des wirkungsvollen Rechtsschutzes misst, damit aber nicht den Zugang, sondern den Inhalt verfassungsrechtlich kontrolliert, dann wird das Gebot des wirkungsvollen Rechtsschutzes überspannt, weil sich auf diesem Weg jede Inhaltskontrolle in eine Zugangskontrolle verwandeln ließe. Die Entscheidung hätte deshalb, mit identischem Ergebnis, auf den Grundsatz des fairen Verfahrens gestützt werden müssen. In Bezug auf den Grundsatz des fairen Verfahrens muss deshalb das Gebot des wirkungsvollen Rechtsschutzes eng ausgelegt werden, um Abgrenzungsmöglichkeiten zu vermeiden. Die damit verbundenen Schwierigkeiten werden durch einen Blick auf die jüngere Kammerrechtsprechung deutlicher. So hat die 3. Kammer des Ersten Senats die Verwerfung eines Wiedereinsetzungsgesuchs als unzulässig (nachdem das Gericht in Kenntnis dieses Gesuchs das Verfahren zwei Jahren lang fortgesetzt hatte) als Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens behandelt.68 Dieselbe Kammer hat erneut auf den Grundsatz des fairen Verfahrens zurückgegriffen, als es um die Fürsorgepflichten eines funktional unzuständigen Gerichts gegangen war, konkret um die Frage, ob das Gericht verpflichtet war, den richtigen Adressaten einer Berufungsbegründung zu ermitteln.69 Das betrifft aber den Zugang zum Gericht (und nicht den Inhalt der Berufungsbegründung) und wäre deshalb ein Problem wirkungsvollen Rechtsschutzes gewesen. Über den richtigen Maßstab kann man streiten bei der Behandlung eines anwaltlichen Fristverlängerungsgesuchs durch die 3. Kammer des Ersten Senats.70 Die Kammer hat die Ablehnung der vom Prozessbevollmächtigten wegen Arbeitsüberlastung beantragten Verlängerung der Klagerwiderungsfrist einerseits ausdrücklich am Grundsatz des fairen Verfahrens gemessen, sich aber andererseits zur Begründung, die Rechtslage sei durch die Senatsrechtsprechung geklärt, auf die Entscheidungen im 40. und 88. Band bezogen, die ausschließlich auf der Verletzung des Gebots des wirkungsvollen Rechtsschutzes beruhen. Die frist68
B. v. 15.4.2004, 1 BvR 622/98, NJW 2004, 2149. B. v. 17.1.2006, 1 BvR 2558/05, NJW 2006, 1579 unter Bezugnahme auf die (ebenso verfehlte) Entscheidung des BGH, NJW 2008, 1890, 1891. 70 B. v. 26.7.2007, 1 BvR 602/07, NJW 2007, 3342. 69
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gebundene Klagerwiderung betrifft, wie die Kammerentscheidung selbst ausführt, den Zugang zum Gericht, hätte also nicht am Grundsatz des fairen Verfahrens gemessen werden dürfen. Gerade diese Beurteilung macht aber die Abgrenzungsschwierigkeiten deutlich, wenn man das Gebot des wirkungsvollen Rechtsschutzes weit versteht, weil sich im Endergebnis jede verfahrensrechtsrelevante inhaltliche Fehlbehandlung auf die sie betreffende Verfahrenszugangsmaßnahme auswirkt. Wenn also der Instanzrichter das einschlägige Verfahrensmittel nicht grundsätzlich verkennt, sondern lediglich in gewichtiger Weise fehlbeurteilt, bleibt der Grundsatz des fairen Verfahrens und nicht das Gebot des wirkungsvollen Rechtsschutzes maßgebend. Das verbietet es aber, das Zugangselement in der Begründung ins Spiel zu bringen. f) Prozessuales Willkürverbot Angesichts des flächendeckenden Charakters der etablierten Verfahrensgrundrechte stellt sich die Frage, wo denn der Anwendungsbereich des prozessualen Willkürverbots, unterstellt, es werde als Verfahrensgrundrecht akzeptiert, zu finden ist. Auch wenn Art. 3 I GG als fester Bestandteil im Zusammenhang mit den Gewährleistungen der Art. 103 I GG, Art. 101 I 2 GG gilt, geht es insoweit nicht um die unmittelbare Anwendung des Willkürverbots. Mit ihm wird lediglich die Abgrenzung der beiden grundrechtsgleichen Rechte zum einfachen Verfahrensrecht vollzogen, also die Kontrollmöglichkeit des BVerfG beschrieben. Zwar könnte man das Willkürverbot dem Grundsatz des fairen Verfahrens und dem Gebot des wirkungsvollen Rechtsschutzes zuordnen, weil bei beiden Verfahrensgrundrechten das einfache Recht der Ausgangspunkt ist und es auch hier um die Gewichtigkeit des Verletzungsvorgangs geht: Wer zum bloßen Objekt des Verfahrens gemacht, wem in verfassungswidriger Weise der Zugang zum Gericht so erschwert wird, dass die verfahrensrechtlichen Instrumente „leerlaufen“, der wird sicherlich auch willkürlich behandelt. Das Willkürverbot taucht aber in diesem Zusammenhang nicht auf, zu Recht, weil beiden Verfahrensgrundrechte sich gegenüber dem Willkürverbot als leges speciales erweisen. Wo also kann auf das prozessuale Willkürverbot zurückgegriffen werden? Es empfiehlt sich, die Kammerrechtsprechung aus der jüngsten Zeit Revue passieren zu lassen.71 So hat die 2. Kammer des Ersten Senats eine entgegen § 119 I 2 ZPO erfolgte Versagung von PKH für eine erstinstanzlich erfolgreiche Partei wegen Verstoß gegen das Willkürverbot aufgehoben 72, ebenso 71 Ich nehme die Zeit von 1/2003–11/2006 und beschränke mich auf die Kontrolle zivilgerichtlicher Entscheidungen. In diesen rund drei Jahren hat es sieben erfolgreiche, auf die Verletzung des Willkürverbots gestützte Verfassungsbeschwerden gegeben. 72 B. v. 4.10.2004 – 1 BvR 964/04, NJW 2005, 409.
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die Versagung eines schriftlichen ärztlichen Untersuchungsberichts für eine schwerhörige Patientin73, das Unterlassen eines richterlichen Hinweises auf mögliche Kostenlasten in einem Zwangsversteigerungsverfahren 74, und die Ersetzung einer Äußerung durch eigene richterliche Tatsachenfeststellungen in einem Unterlassungsrechtsstreit, der sich auf Meinungsäußerungen auf einer Parteiversammlung bezogen hatte.75 Auch unter dem strengen Maßstab des Willkürverbots fallen die beiden nachstehend erwähnten Entscheidungen aus dem Rahmen. In einem Schadensersatzprozess hatte sich der Beklagte in einem Widerrufsvergleich zur Zahlung von Schadensersatz innerhalb von 14 Tagen verpflichtet. Der Kläger widerrief den Vergleich. Der Amtsrichter wies die Klage ab. Dem Kläger fehle das Rechtsschutzbedürfnis, weil er dem Beklagten die Möglichkeit der Schadensbehebung genommen habe.76 Im „Fall des Oranienburger Richters“, der wegen eines eklatanten Verstoßes gegen geltendes Recht und die daran anknüpfende Uneinsichtigkeit des entscheidenden Richters großes öffentliches Aufsehen erregt hatte, hatte der Richter in einem Verfahren nach § 495a ZPO über die insoweit vorgesehene Verfahrensweise dem Kläger nichts mitgeteilt. Außerdem hatte der Amtsrichter die Klagerwiderung, auf die sich seine Entscheidung später stützte, nicht weitergeleitet. Die Gehörsrüge hat er mit einer „unverständlichen Begründung“ zurückverwiesen.77 Und schließlich hat BVerfG eine Berufungszurückweisung durch Beschluss nach § 522 II ZPO in einem Verfahren, das Mängeleinreden beim Gebrauchtwagenkauf betraf, deswegen am Maßstab des Willkürverbots beanstandet, weil die Entscheidung „von einer Vielzahl von Fehlern in der rechtlichen Bewertung“ geprägt gewesen sei.78 Sieht man einmal von der PKH-Entscheidung 79 ab, die den Zugang zum Gericht betraf und deshalb am Maßstab der Wirkung von Rechtsschutz hätte gemessen werden müssen, liegen alle anderen Entscheidungen außerhalb des Anwendungsbereichs der herkömmlichen Verfahrensgrundrechte oder werden von deren spezielleren Regelungen verdrängt. Die Willkürverbotsentscheidungen betreffen durchweg Sachverhalte, in denen der Richter in einer unter keinem denkbaren Gesichtspunkt zu rechtfertigenden Weise geltendes Recht so anwendet, dass diese Anwendung im Gesetz keine Stütze mehr findet. Da das ein inhaltlicher Maßstab ist, scheidet das Gebot des wirkungsvollen Rechtsschutzes als Kontrollmaßstab aus. Das Anwendungsgebiet des prozessualen Willkürverbots besteht deshalb in der Garantie der inhaltlich dem GG ent73
B. v. 18.11.2004 – 1 BvR 2315/04, NJW 2005, 1103. 3. Kammer des Ersten Senats, B. v. 12.1.2005 – 1 BvR 328/04 u.a., NJW-RR 2005, 936. 75 1. Kammer des Ersten Senats, B. v. 18.3.2005 – 1 BvR 113/01, NJW 2005, 2138. 76 3. Kammer des Zweiten Senats, B. v. 23.9.2005 – 2 BvR 2441/04, BVerfGK 6, 239. 77 Die Kammer hat dazu sehr deutliche Worte gefunden, vgl. B. v. 21.3.2006 – 2 BvR 1104/05, NJW 2006, 2248. 78 2. Kammer des Ersten Senats, B. v. 26.9.2006 – 1 BvR 2389/04, BVerfGK 9, 263. 79 NJW 2005, 409. 74
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sprechenden Rechtsanwendung im Verfahren am Maßstab von außerhalb der materiellen Grundrechte liegenden Gewährleistungen, also solchen, die zu diesen hinzutreten. Da das eine inhaltliche Garantie innerhalb des Verfahrens ist, ist insoweit von einem prozessualen Willkürverbot zu sprechen.
IV. Folgerungen Die Erörterung der Konkurrenz von Verfahrensgrundrechten deutet auf Lücken, aber auch auf Lösungen. So ist – zunächst – darauf hinzuweisen, dass die hier ausgeklammerte Untersuchung des Strafprozesses im Hinblick auf die ihn betreffenden Verfahrensgrundrechte sicher erst eine abschließende Beurteilung der Konkurrenzsituation erlaubt. Auf der anderen Seite macht die hier vorgelegte Untersuchung deutlich, wie wichtig es ist, entsprechend der aktuellen Grundrechtsdiskussion 80 den Gewährleistungsgehalt der einzelnen Verfahrensgrundrechte sorgfältig zu ermitteln, um nicht dem schwer zu bestimmenden allgemeinen Gehalt des Rechtsstaatsprinzips ausgeliefert zu sein. Und schließlich zeigt sich, dass eben dieser Gewährleistungsgehalt der Verfahrensgrundrechte noch nicht in erforderlichem Maße gesichert ist. Das betrifft sowohl das Gebot des wirkungsvollen Rechtsschutzes als auch das prozessuale Willkürverbot.
80 Siehe dazu etwa Böckenförde Der Staat 2003, 165; Kahl Der Staat 2004, 167; Hoffmann-Riem Der Staat 2004, 203; Murswiek Der Staat 2006, 473; Zuck JZ 2008, 287, 291 f.
II. Recht der freien Berufe
Das heutige Bild des Arztes Verfassungs-, berufs- und haftungsrechtliche Aspekte Karl Otto Bergmann I. Einleitung Über Jahrzehnte haben Herr Kollege Krämer und der Verfasser öfters denselben medico-legalen Sachverhalt anwaltschaftlich bearbeitet, der Jubilar aus der Sicht des Revisionsanwaltes, der Verfasser in der Tatsacheninstanz. Die Sicht ist gewiss unterschiedlich. Ist es Aufgabe der Tatsacheninstanz, den Sachverhalt – oft mit sachverständiger Beratung – zu ermitteln und sodann die behauptete Aufklärungspflichtverletzung oder den angeschuldigten Behandlungsfehler festzustellen, so hat das Revisionsgericht die rechtlichen Grenzen der Aufklärungspflicht und vor allem die Beweismöglichkeiten für den Behandlungsfehler – mitsamt der komplizierten Beweislastverteilung – im Arzthaftungsprozess abzustecken. Arzt und Patient stehen im Mittelpunkt der oft schwierigen Tatsachenfeststellungen und Rechtsfragen. In diesen Jahrzehnten unserer anwaltlichen Berufsausübung hat sich das Bild des Arztes auch in rechtlicher Sicht wesentlich verändert, der Jubilar hatte daran im Rahmen der Mitwirkung bei den Entscheidungen des VI. Senates Anteil. Der folgende Beitrag kann nur einige verfassungs-, berufs- und haftungsrechtliche Aspekte aufzeigen.
II. Verfassungsrechtliche Aspekte Die Idee des Arztes gründet sich auf Wissenschaft und Humanität. Naturwissenschaftliche Erkenntnis und Nächstenliebe leiten den berufenen Arzt gleichermaßen, wie bereits Laufs im Handbuch des Arztrechts zu Beginn seiner grundlegenden Erwägungen zu Idee und Aufgabe des Arztes ausgeführt hat.1 Laufs hat aber auch darauf hingewiesen, dass sich die Rolle und das Selbstverständnis des Arztes im Rahmen der Professionalisierung der Heilberufe grundlegend verändern. Viele ärztliche Aufgaben wachsen anderen Berufsgruppen zu, so Bioingenieuren, Psychologen und Sozialpädagogen, 1
Laufs/Uhlenbruck Handbuch des Arztes, 2. Aufl., S. 1.
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oder werden auf die Pflegeberufe verlagert. Es klingt fast wie ein Hilferuf, wenn Laufs konstatiert: „Mag der Kliniker in der arbeitsteiligen Maschinerie des Krankenhauses an Dominanz verlieren, so bleibt ihm doch die Hauptaufgabe, den ganzen Menschen in seiner Hilfsbedürftigkeit zu erkennen und zu führen“ 2. Schon 1978 hat Beyer 3 ausgeführt: „Wer krank und was krank ist, wie diagnostiziert und therapiert werden muss, mit welchen Maßnahmen die Wiedereingliederung der Geheilten in die Arbeitswelt geschehen und Rückfälle verhütet werden sollen, mit welchen Mitteln des Sozialbudgets in welcher Höhe der Arzt bezahlt werden kann, das bestimmt heute ein System von Rechtsnormen, von behördlichen und körperschaftlichen Akten, von zwingenden wissenschaftlichen Verhaltensvorschriften.“ Der Konflikt zwischen Ärzten und Juristen ist an sich vorprogrammiert. Denn der Jurist dient dem Recht in seiner Allgemeingültigkeit, hat also die Neigung, abstrakte Standards aufzustellen, den Arzt fest in das System der Sozialversicherung einzubinden, allgemein gültige Leitlinien aufzustellen, während der Arzt dieses konkrete Krankheitsbild und diesen individuellen Patienten zu behandeln hat. Der Arzt entscheidet – oft ad hoc – aus einer Sicht ex ante, der Jurist und insbesondere der Richter ex post.4 Grundlagen der hypokratischen Ethik sind – – – – –
Herstellung von Vertrauen und Schutz Hilfeangebot Sorgfaltsgebot Schweigegebot Schadensverbot
Diese fünf Elemente dienen dem Aufbau der individuellen Arzt-PatientenBeziehung.5 Diese Grundelemente werden heute überlagert durch das Wirtschaftlichkeitsgebot und die sonstigen Bindungen des SGB V, durch statistisches Kalkül, durch Leistungscontrolling, durch Kooperations- und Koordinationsmängel der arbeitsteiligen Medizin und durch vermeintliche Notwendigkeit „defensiver Medizin“. Die grundrechtlich gestützte Therapiefreiheit des behandelnden Arztes und das ebenfalls grundrechtlich abgeleitete Selbstbestimmungsrecht des Patienten als rechtlich wesentliche Momente medizinischen Handelns sind nicht konfliktfrei.6 Weder im hippokratischen Eid noch in der Genfer Kon-
2
Laufs aaO S. 3. Beyer Medizin im Sozialstaat, Medizinsoziologische und medizinpolitische Aufsätze, 1978. 4 Zutreffend Laufs aaO, S. 9. 5 So bereits Seidler Arzt und Patient – Pflichten und Rechte, in: Häring, Chirurgie und Recht, Berlin 1993. 6 Zutreffend Quaas/Zuck Medizinrecht, 2. Aufl., München 2008, S. 41. 3
Das heutige Bild des Arztes
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vention findet sich auch nur ein Wort zur Patientenautonomie. In der heutigen verfassungs- und zivilgerichtlichen Rechtsprechung zur Arzthaftung ist die Patientenautonomie zentrales Thema. Therapiefreiheit bedeutet die Freiheit des Arztes, nach seiner Eigenverantwortung zu behandeln, macht also den Patienten im Ergebnis zum Objekt der Therapie. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten mit der Berücksichtigung der subjektiv personenbezogenen Vorstellungen, die die Rechtsprechung auch als schützenswert anerkennt, stellt den Patienten in den Mittelpunkt des Behandlungsgeschehens, der Arzt wird zum Objekt des Behandlungsvorgangs. Die kollidierenden Grundrechte müssen also untereinander angemessen ausgeglichen werden, wobei – und dies ist entscheidend – jede Abwägung sich an dem konkreten Sachverhalt orientieren und auf den Einzelfall bezogen sein muss.7 Sehr sorgfältig gilt es zu beobachten, wie sich die Rechtsprechung in Zukunft zu dem Konflikt zwischen Wirtschaftlichkeitsgebot und notwendigem ärztlichen Standard stellen wird. Im Zweifel fällt die Abwägung zugunsten des Sicherheit- und Gesundheitsinteresses des Patienten aus, dies auf der Grundlage, dass nach dem Willen der Gesetzgeber die gesetzlich bemessene Finanzierung ausreicht, die aus medizinischer Sicht gebotenen Leistungen zu finanzieren und den leistungsrechtlichen Standard einzuhalten. Also werden auch die Gerichte in Zukunft regelmäßig von einer ausreichenden Finanzierung des gebotenen Standards ausgehen. Nur in Ausnahmefällen wird man an eine Senkung des medizinischen Standards denken und eine Berücksichtigung von Engpässen der Leistungserbringer vornehmen können.
III. Berufsrechtliche Aspektes Die Bundesärzteordnung (BÄO) geht von dem einheitlichen Beruf des Arztes aus. § 1 Abs. 2 BÄO legt fest, dass der ärztliche Beruf kein Gewerbe und „seiner Natur nach ein freier Beruf“ ist. Die BÄO enthält als Bundesrecht entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG überwiegend Vorschriften, welche sich auf Erteilung, Zurücknahme und Verlust der Approbation sowie die Befugnis zur Ausübung des ärztlichen Berufes beziehen. Damit ist lediglich der ärztliche Beruf im weiteren Sinne gekennzeichnet, ohne den freien Beruf des Arztes näher zu beschreiben. Der Bundesgerichtshof hat den Beruf des niedergelassenen Arztes als einen „durch Rechtstradition und allgemeine gesellschaftliche Anschauung“ geprägten Beruf bezeichnet. Neben diesem, so der Bundesgerichtshof, habe sich traditionell als zweite Form die ärztliche Berufsausübung des angestell-
7
Zutreffend Quaas/Zuck aaO, S. 42.
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ten Arztes in Krankenhäusern und Kliniken bzw. Sanatorien entwickelt, und zwar deshalb, weil im Vordergrund der Betätigung dieser Institutionen „Leistungen stünden, die in bestimmten Fällen für die Gewährleistung der Volksgesundheit unerlässlich, jedoch vom niedergelassenen Arzt im Regelfall nicht zu erbringen seien“ 8. Verfassungsrechtlich schafft die Differenzierung nicht etwa zwei verschiedene Berufe gemäß Art. 12 Abs. 1 GG, sondern eine Aufspaltung des Berufes des Arztes in einen privaten Beruf im engeren Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG und in ein öffentliches Amt nach Art. 33 Abs. 2 und 3 GG.9 Der Bundesgerichtshof hat schon 1977 10 ausgeführt: „Die Aussage des Gesetzgebers, dass der Arztberuf ein „freier Beruf“ sei, hat nichts an der Realität ändern sollen, dass viele Ärzte ihren Beruf in abhängiger Stellung – insbesondere als angestellte Ärzte in Krankenhäusern – ausüben und insoweit organisatorischen Weisungen ihres Arbeitgebers bzw. ihres Vorgesetzten unterliegen. Der Zusatz, er sei seiner Natur nach ein freier Beruf, soll nur den für den Arztberuf charakteristischen Umstand zum Ausdruck bringen, dass der Arzt bei seiner eigentlichen Heilbehandlungstätigkeit unabhängig und weisungsfrei ist, wobei es gerade nicht darauf ankommt, in welchem Rechtsverhältnis und in welcher wirtschaftlichen Form er den Beruf ausübt.“ Bei seiner spezifisch ärztlichen Tätigkeit ist der Arzt demgemäß an keine Weisungen und keine arbeitsvertraglichen Anordnungen von Nichtärzten, wohl aber an Weisungen übergeordneter Ärzte gebunden.11 Dieses Grundrecht der Berufsfreiheit gilt auch im Kassen- und Vertragsarztrecht.12 Auch der potentielle Konflikt zwischen Arzt und Verwaltung kann das heutige Bild des Arztes beeinflussen. Besonders die Vertragsärzte unterliegen umfangreichen berufsrechtlichen Bindungen, deren Vereinbarkeit mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit seit Jahren diskutiert wird. Allein das für die Gesetzliche Krankenversicherung zentrale V. Buch des Sozialgesetzbuchs wurde durch das GKV-Modernisierungsgesetz mit Änderungen, Aufhebungen und Einfügungen von über 200 Paragraphen reformiert. Der Aktionismus des Gesetzgebers im Gebiet der Gesundheitsfürsorge hat insbesondere die Vertragsärzte im Visier. So hat 8
BGHZ 124, 224, 227 f. Vgl. Sodan Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung. Ein verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Beitrag zum Umbau des Sozialstaates, 1997, S. 153 ff. 10 BGH, Urt. v. 30.11.1977, NJW 1978, 589. 11 Quaas/Zuck aaO, S. 217. 12 Kritisch Pitschas Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Kassen- und Vertragsarztrecht, in: Festschrift zum 40-jährigen Bestehen der Sozialgerichtsbarkeit in Rheinland-Pfalz 1994, 217, 227, der von der Tätigkeit eines „Kassenbeamten“ spricht. 9
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der Vertragsarzt nach der Rechtsprechung des VI. Senats des BSG in ständiger Rechtsprechung 13 keinen Rechtsanspruch auf angemessene Vergütung seiner Tätigkeit, sondern nur einen Anspruch auf angemessene Teilhabe an der Verteilung der Gesamtvergütung, auch wenn dies zu einer unangemessenen Vergütung der einzelnen Leistungen führen kann.14 Die Zuerkennung eines höheren Honorars kommt aufgrund des Art. 12 Abs. 1 GG nach der Rechtsprechung des BSG „erst dann in Betracht, wenn durch eine zu niedrige Vergütung ärztlicher Leistungen das vertragsärztliche Versorgungssystem als Ganzes oder zumindest in Teilbereichen gefährdet wird“15. So greifen auch die seit 1992 eingeführten Zulassungsbeschränkungen für Vertragsärzte wegen sogenannter Überversorgung tief in die Berufsfreiheit des Arztes ein, um die „finanzielle Stabilität“ und damit die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung als einem „Gemeinwohl von hinreichendem Gewicht“ zu sichern.16 Im Ergebnis erscheint das Gesundheitsrecht, wie Eberhard Schmidt-Aßmann einmal ausgeführt hat, als ein um sich selbst kreisendes Sonderrecht.17 In der Praxis verlangt dieses Sonderrecht viel wechselseitiges Verständnis zwischen Arzt und Patient, notwendige Zuwendung des Arztes und Vertrauen des Patienten. Die Ärzte und Sachverständigen Katthagen und Buckup fordern in ihrem auch für den Laien sehr verständlichen Buch „Hauptsache Gesundheit“18, dass sich Arzt und Patient zu einem Arbeitsbündnis zusammenschließen. Der Arzt soll nicht die Alleinverantwortung für Diagnose und Therapie tragen, ein immer größer werdender Anteil der Patienten will selbst die einzelnen Maßnahmen verstehen und mitbestimmen. Der Patient will Aufklärung über Krankheitsursache, Diagnose, Behandlung und Prognose. Patientenorientierte Information bewirkt Compliance in eine beide motivierende Arzt-Patienten-Beziehung. Nach Auffassung dieser Autoren setzen Vielfalt und Komplexität ärztlicher Aufgaben den Arzt immer mehr unter Zeitdruck. Das Gespräch mit dem Patienten kann notwendige Zeit sparen. Dabei darf nicht verkannt werden, dass die für den Patienten notwendige Zeit zunächst einmal Zeit kostet.
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Vgl. BSGE 75, 187, 189 ff.; 77, 279, 288. Kritisch Isensee Das Recht des Kassenarztes auf angemessene Vergütung, VSSR, 1995, 321, 346; Heinze Die rechtlichen Rahmenbedingungen der ärztlichen Heilbehandlung MedR 1996, 252, 255. 15 BSG 94, 50, 51. 16 BVerfE 103, 172, 184. 17 Schmidt-Aßmann Verfassungsfragen der Gesundheitsreform, NJW 2004, 1689, 1690. 18 Katthagen/Buckup Hauptsache Gesundheit, welche Zukunft hat die Medizin?, Darmstadt 1999, S. 189. 14
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IV. Haftungsrechtliche Aspekte Das älteste erhaltene Gesetzbuch, die Gesetzessammlung des Königs Hammurabi in Babylon enthält die früheste Regelung der Arzthaftung, nämlich eine Strafe für schlechte Berufsausübung: „Wenn der Arzt einen Abszess mit einem stumpfen Messer öffnen und den Patienten töten oder sein Augenlicht zerstören sollte, so soll seine Hand abgeschnitten werden.“ Der Gesetzgeber regelt hier also erstmals die Abgeltung eines Körperschadens durch eine Wiedervergeltung von gleichem mit gleichem, einem sogenannten Talion. Das Ansehen des Arztes im alten Orient war allerdings beträchtlich, ebenso in Griechenland. Bei Plato steht der Arzt vor dem Gesetz rein dar, wenn einer seiner Kranken stirbt. Ebenso haftet der Arzt nach dem Talmud nicht für fahrlässige Folgen, der Arzt bleibt wegen der Weltordnung straflos. Denn die Ärzte sind nach der göttlichen Weltordnung notwendig.19 In dem Werk des königlichen Landphysikus der Grafschaft Hohenstein, Christian Fahner „Vollständiges System der gerichtlichen Arzneikunde“ aus dem Jahre 1797, beschreibt der Verfasser den Kunstfehler mit „Vergehungen gegen die von den Lehrern der Arzneikunst als zuverlässig und allgemein angenommenen Regeln der gesamten Arzneikunst“, also im Prinzip wie heute als Verstoß gegen den gebotenen ärztlichen Standard der Medizin. Diesem archaischen Bild des Arztes steht das heutige „mit fein ausdifferenzierten Risiko- und Beweislastverteilungen kolorierte“ Bild des Arztes gegenüber. Wesentliches Kriterium der Arzthaftung, wie sie der Bundesgerichtshof entwickelt hat, ist die Tatsache, dass der Arzt grundsätzlich keinen bestimmten Erfolg schuldet, sondern nur die Heilbehandlung nach ärztlichem Standard. Dies folgt aus der Erwägung, dass der Arzt nicht für Besonderheiten und unberechenbare Entwicklungen des menschlichen Organismus einstehen kann. Deshalb sind auch die eine Beweislastumkehr beinhaltenden Vorschriften des §§ 280 Abs. 1 Satz 2, 281 Abs. 1 Satz 1, 283 Satz 1 BGB grundsätzlich nicht anzuwenden.20 Es bleibt grundsätzlich dabei, dass jede Partei die Beweislast für das Vorhandensein aller Anspruchsvoraussetzungen trägt.21 Verstößt aber der Arzt gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse und begeht einen Fehler, der nach objektiver Betrachtung nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt 19 Vgl. Carstensen Chirurgie und Recht, in: Chirurgisches Handeln, Stuttgart/New York 1989, S. 113 ff. 20 Vgl. Spickhoff Das System der Arzthaftung im reformierten Schuldrecht, NJW 2002, 2530, 2537. 21 BGH NJW 1986, 2426.
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unter keinen Umständen unterlaufen darf, kehrt sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wegen eines groben Behandlungsfehlers im Streitfall die Beweislast um 22. Damit hat der Bundesgerichtshof dem Bemühen eines Teils der Rechtslehre eine Absage erteilt, eine generelle Umkehr der Beweislast zu fordern.23 Es muss vielmehr stets geprüft werden, ob dem Patienten im Arzthaftungsrecht im Einzelfall „nach allem die regelmäßige Beweislastverteilung noch zugemutet werden darf“ 24. Die Rechtsprechung zur Beweislastumkehr insbesondere im Falle des groben Behandlungsfehlers darf letztlich nicht zur „Defensivmedizin“ führen, das wachsende forensische Risiko des Arztes wird in den Medien regelmäßig unterschätzt. Der Patient hat die Folgen einer Überängstlichkeit und eines entscheidungshemmenden Immobilismus am eigenen Körper zu tragen.25 In letzter Zeit nehmen nach ganz persönlichem Eindruck des Verfassers strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen Ärzte zu. Diese können nicht nur existenzgefährdend – oder vernichtend – sein, sie schaffen auch erhebliche psychische und physische Belastungen für den Arzt, insbesondere bei Einschaltung der Presse. Als Beispiel sei der tragische Fall eines 16-jährigen magersüchtigen Mädchens zu nennen, das durch einen Mitpatienten mit wahnhaften Vorstellungen in der offenen psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses der Regelversorgung erstochen worden ist. Das Ermittlungsverfahren gegen den Leiter der psychiatrischen Klinik musste schließlich im Hinblick auf die ständig berichtende Presse auf Betreiben des Krankenhausträgers gemäß § 153a StPO gegen Zahlung eines Betrages von 10.000,00 € eingestellt werden, um dem wachsenden Druck der Öffentlichkeit zu entgehen und die stigmatisierende Wirkung einer Hauptverhandlung zu vermeiden. Bereits im Jahre 1993 hat Weißauer vor der Kaiserin-Friedrich-Stiftung ausgeführt: „Wir nähern uns im Haftungsrecht, entgegen allen bisherigen Prognosen, Schritt für Schritt amerikanischen Verhältnissen. Die Prämien für die Haftpflichtversicherung stiegen in den letzten Jahren wieder überproportional; sie sind das Spiegelbild des Schadensbedarfs. Da die ärztlichen Gebühren staatlich reglementiert sind, kann der erhöhte Prämienbedarf nicht an die Zahlungspflichtigen weitergegeben werden. In den forensisch am stärksten belasteten Fächern wird es für einzelne Kollegen zunehmend schwieriger, noch eine Haftpflichtversicherung zu erschwinglichen Prämien abzuschließen. Zugleich hat unser Gesundheitswesen die Grenzen der ökonomi-
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Vgl. insbesondere BGH NJW 1995, 778; 1996, 2428. Vgl. Reinhardt Die Umkehr der Beweislast aus verfassungsrechtlicher Sicht, NJW 1994, 93. 24 BGH 1971, 241, 243. 25 Vgl. Ibsch und Eser Ethische Probleme des ärztlichen Alltags 1988, S. 90. 23
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schen Leistungsfähigkeit erreicht oder bereits überschritten. Zusätzliche Anforderungen der Gerichte an die Strukturqualität chirurgischer Abteilungen, insbesondere an ihre quantitative und qualitative Besetzung, lassen sich durch die Kostenträger nicht mehr finanzieren. Soll die Rechtsprechung den Realitätsbezug nicht verlieren, so muss es hier darum gehen, klar und präzise das im Interesse des Patienten Wünschenswerte vom ökonomisch Machbaren zu unterscheiden“. Diese Feststellungen gelten noch heute. Die Prämien für die Haftpflichtversicherungen sind auch in den Folgejahren bis heute gestiegen, die Zahl der Haftungsfälle hat zugenommen, in den USA sind die Schadensaufwendungen inzwischen rückläufig. Der deutsche Markt der Arzthaftpflichtversicherer ist noch begrenzter geworden, etliche Versicherer haben sich aus diesem Markt mit zu hohem Risiko zurückgezogen. Der Arzt steht auch heute im Konflikt zwischen ökonomisch Machbarem und für den Patienten Wünschenswertem.26 Hammerstein hat bereits 1991 ausgeführt, der Wandel von der Medizin für den Patienten zur Defensivmedizin werde sich langsam und fast unmerklich vollziehen, zum Schaden der Gesamtheit und zum Schaden des einzelnen Kranken, der die Auswirkungen des ärztlichen Sicherheitsbedürfnisses zu spüren bekomme.27 Dabei ist die Gefahr zu sehen, dass sich Defensivmedizin mit Budgetmedizin und Controlling-Medizin vermischt: Der Arzt wird nicht nur darauf achten, nicht zivilrechtlichen und strafrechtlichen Ermittlungen ausgesetzt zu sein, sondern ist ebenso an die Beschränkungen des Budgets gebunden, sein ärztliches Handeln richtet sich auch auf die wirtschaftliche Abrechnungsweise aus. Damit gepaart ist auch der Wandel des Patientenverhaltens. An die Stelle des charakteristischen Vertrauensverhältnisses zwischen Patient und Arzt tritt das Dienstleistungsverhältnis, der Patient erwartet die Beseitigung der Krankheit zu den Leistungen der Krankenkasse. Unter Anwälten ist der Spruch bekannt, dass der Mandant von heute der Feind des Anwalts von morgen ist. Dieser Betrachtung sind wir auch im Verhältnis Patient und Arzt einen Schritt näher gekommen, unterstützt beispielsweise in diesen Tagen von einem großen Krankenversicherer, der mitgeteilt hat, er werde für 4,50 € im Monat seinen Versicherten einen neuen Tarif „Patientenrechtsschutz“ anbieten, mit dem Ansprüche wegen schuldhafter oder rechtswidriger Fehlbehandlung durchgesetzt werden könnten.28
26 Eingehend Bergmann Arzthaftpflichtversicherung, in: van Bühren, Handbuch Versicherungsrecht, 4. Aufl. Bonn 2007, § 11 Rn. 5–8. 27 Hammerstein Defensives Denken, in: der Medizin, Irrweg oder Notwendigkeit?, Schriftenreihe Band 11 der Hans-Neuffer-Stiftung, 1991, Vorwort, S. 7. 28 FAZ 14.1.2009.
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Die oben schon unter berufsrechtlichen Aspekten angesprochene Therapiefreiheit des Arztes erfährt in der Rechtsprechung immer wieder Einschränkungen. Zwar führt der Bundesgerichtshof aus: „Die Anwendung nicht allgemeiner Therapieformen und sogar ausgesprochen paraärztlicher Behandlungsformen ist rechtlich grundsätzlich erlaubt. Es kann dahingestellt bleiben, ob dies schon deswegen der Fall sein muss, weil sich eine Beschränkung der Methodenfreiheit aus Rechtsgründen als Hemmnis des medizinischen Fortschrittes bzw. als Stillstand der Medizin darstellen würde“ 29. Laufs hat die Therapiefreiheit sogar als Erlaubnis bezeichnet, „unabhängig von der Fessel normierender Vorschriften nach pflichtgemäßem und gewissenhaften Ermessen im Einzelfall mit seinen Eigenheiten diejenigen medizinischen Maßnahmen zu wählen, die nach seiner Überzeugung unter den gegebenen Umständen den größtmöglichen Nutzen für den aufgeklärt einwilligenden Patienten erwarten lassen“.30 Aber die Anwendung neuer Behandlungsmethoden erfordert insbesondere nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Wahrung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten im Rahmen der Patientenaufklärung, um Schutz und Sicherheit des Patienten in seine eigene Entscheidungsfreiheit zu stellen.31 Denn je neuartiger und je weniger erprobt ein Verfahren ist, desto eindringlicher und umfassender hat der Arzt den Patienten auch aufzuklären. Wenn keine abgesicherten Erfahrungen vorhanden sind und die Risiken noch nicht beschrieben werden können, ist ausdrücklich im Rahmen der Aufklärung darauf hinzuweisen, dass unbekannte Risiken derzeit nicht auszuschließen sind.32 Der Arzt hat also immer sorgfältig zu prüfen, ob sich im Zeitpunkt der Behandlung diese konkrete Verfahrensweise in der Praxis neben anderen Verfahren bereits durchgesetzt hat.33 Hier lassen einzelne Entscheidungen erkennen, dass dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten und insbesondere seiner Kritikfähigkeit ein grenzwertig hoher Stellenwert beigemessen wird. Die Ärzte müssen andererseits in der täglichen Praxis berücksichtigen, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten einen höheren Stellenwert als früher hat.34
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BGH NJW 1991, 1536; BGHSt 37, 383, 385. Laufs Festschrift für Deutsch, 1999, S. 626. 31 Vgl. BGH NJW 2006, 2477, Robodoc-Operation. 32 Vgl. bereits OLG Oldenburg VersR 1997, 491 für endoskopische Blinddarmoperationen. 33 Vgl. OLG Köln VersR 2000, 293 für Laparoskopie einer Rezidivleistenhernie seit Juli 1996. 34 Vgl. BVerfGE 52, 133 ff.; BGH VersR 1989, 516, st. Rechtsprechung. 30
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V. Das Bild des Arztes in der Haftungsrechtsprechung Der BGH hat in Ergänzung zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25.07.1979 35 zur Frage der „Waffengleichheit“ zwischen Arzt und Patient im Haftungsprozess die „vorgegebene Ungleichheit der Parteien“ besonders gut illustriert.36 „Im Zivilprozeß hat der Richter für ein faires Verfahren zu sorgen. Dazu gehört vor allem auch eine dementsprechende Handhabung des Beweises. Das gilt im besonderen Maße für den Arzthaftungsprozeß, in dem es typischerweise ein Informationsgefälle zwischen der ärztlichen Seite und dem Patienten gibt, das soweit als möglich auszugleichen ist. Darüber hinaus müssen Verständigungsschwierigkeiten zwischen den beteiligten Medizinern, zu denen meist ein ärztlicher Sachverständiger gehört, und dem Gericht sowie den Parteien überbrückt und auf ein adäquates Maß zurückgeführt werden. Auf diese Weise ist „Waffengleichheit“ zwischen den Parteien herzustellen, d.h. den Parteien die Möglichkeit einzuräumen, alles für die Entscheidung erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbständig geltend zu machen“.37 Das Gericht gibt dem Sachverständigen in der Regel einen doppelten Auftrag: 1. Nachweis oder Ausschluss von Fehlern und deren Bewertung, 2. Nachweis oder Ausschluss der Kausalität eines Fehlers für einen bestimmten Gesundheitsschaden. Der medizinische Sachverständige hat also Unwahrscheinlichkeiten aktiv auszuschließen und nicht nur eine überwiegend wahrscheinliche Äthiopathogenese darzustellen.38 Das Kammergericht Berlin begründete im Jahre 1811 erstmalig die Notwendigkeit der Bestellung eines ärztlichen Sachverständigen in einem Arzthaftpflichtprozess wie folgt: „Unendlich schwankend und unsicher ist die Wissenschaft, unendlich mannigfaltig und verschieden das Maß der Erkenntnis und des praktischen Talentes unter den Ärzten. Der eine wirft dem anderen als Quelle allen Irr-
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BverfG E 52, 131 = NJW 1979, 1925. BGH VI ZR 220/82, Urt. v. 17.4.1984 – NJW 1984, 1823. 37 Eingehend Bergmann Die „vorgegebene Ungleichheit“ der Parteien in der Arzthaftung, in: „Waffen-Gleichheit“, das Recht in der Arzthaftung, Berlin–Heidelberg–New York 2002, S. 1 ff. 38 Vgl. Schulte Die Neutralität des Sachverständigen, in: „Waffen-Gleichheit“, S. 87. 36
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tums vor, worin der andere die Summe aller Wahrheit findet. Der Staat kann nicht bestimmen, was wahr ist, weil Wahrheit ewig der Freiheit wissenschaftlicher Entwicklung überlassen bleiben muss …“ Aufgrund der Strukturaffinität zwischen ärztlichem und gutachterlichem Handeln eines medizinischen Sachverständigen kann man für die Verantwortung eines solchen Gutachters viel von der Verantwortung eines Arztes lernen. In beiden Fällen haben wir es mit einer klassischen Situation zu tun: Mit einem Handeln in komplexen Situationen und unter Ungewissheit. Deshalb sollte der medizinische Sachverständige auch stets die Grenzen seiner Fähigkeit erkennen, ein Gutachten zu erstellen, und er sollte die Grenzen der gutachtlichen Feststellungen berücksichtigen.39
VI. Chancen und Risiken der Medizin im Rechtsraum Bereits 1988 beschäftigte sich das 11. Symposium für Juristen und Ärzte der Kaiserin-Friedrich-Stiftung in Berlin mit dem defensiven Denken in der Medizin unter dem Stichwort „Irrweg oder Notwendigkeit?“.40 Ulsenheimer beschrieb41 defensive Medizin konkret wie folgt: „Exzessive Aufklärungspraxis, Absicherung durch entsprechende Formulare, Unterschrift des Patienten und Zeugen, sorgfältige Dokumentation zur Beweissicherung, Vermeidung riskanter Eingriffe, übermäßige Ausdehnung der Diagnostik, Einweisung ins Krankenhaus statt möglicher Fortsetzung der ambulanten Behandlung, Hinzuziehung von Konsiliarien oder Überweisungen an Fachärzte ohne zwingenden Grund, kurzum eine Haltung, die vor allem und in allem auf Sicherheit vor etwaiger Haftung sieht.“ Der Bundesgerichtshof postuliert ausdrücklich, dass die Sicherheit des Patienten allen anderen Gesichtspunkten vorgeht.42 Welche Folgerungen die Rechtsprechung aus der Präferenz der Patientensicherheit zieht, zeigt instruktiv die Entscheidung des Landgerichts Augsburg vom 30.9.200443. In dem zu entscheidenden Fall erlitt eine Frau am Abend nach einer Schilddrüsenoperation eine sehr schwere Sauerstoffmangelschädigung des Gehirns, weil ein internistischer Assistenzarzt im sogenannten fachübergreifenden
39 Vgl. Biesing Verantwortung und Ethik der Begutachtung, der medizinische Sachverständige 2008, 125, 127. 40 Defensives Denken in der Medizin, Irrweg oder Notwendigkeit?, Köln 1991. 41 AaO, S 36. 42 So ausdrücklich BGH NJW 1983, 1374 ff. 43 3 KLs 400 Js 109903/01, Arztrecht 2005, 205.
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Bereitschaftsdienst eine chirurgische Komplikation, nämlich eine Nachblutung, zu spät erkannt hatte. Aus Kostengründen wurden in diesem kleinen Krankenhaus Chirurgen und Internisten gleichermaßen für den Bereitschaftsdienst in beiden Abteilungen eingesetzt. Das Landgericht verurteilte den Chefarzt der Chirurgie, weil er den fachübergreifenden Bereitschaftsdienst zugelassen hatte. Nach Auffassung des Gerichts hätte dieser wissen müssen, dass ein fachfremder Assistenzarzt eine chirurgische Gefahrensituation verkennt. Das Gericht sieht „eine am Maßstab höchstmöglicher Patientensicherheit orientierte Organisation der ärztlichen Versorgung als eine Kernaufgabe des Chefarztes“ an. Geschäftsführung und Leitung eines Krankenhauses vereinbaren heute mit den OP-Managern das Maß der Operationsauslastung, geplante Fallzahlen und damit auch Erlöse oder auch das Ausmaß der Wechselzeiten zwischen zwei Operationen. Die Ergebnisse werden dann als zu erreichende „Produktionsziele“ den Mitarbeitern kommuniziert, ein Controlling soll die Einhaltung der Behandlungspfade gewährleisten. Der so aufgebaute „Produktionsdruck“ gefährdet notwendige Sicherheitsüberlegungen.44 Auf die Kosten der Medizin darf es nicht ankommen, solange diese nicht außer Verhältnis zu der Gefahr für den Patienten stehen und die Gefahr nur entfernt ist. Defizite sind zunächst möglichst zu neutralisieren und organisatorisch aufzufangen.45
VII. Ein Blick in die Zukunft Die zunehmende Arbeitsteilung in der Medizin verbunden mit Spezialisierung und Subspezialisierung führt zu einer immer komplizierteren Organisation, zu Reibungsverlusten bei den „Schnittstellen“ und zu Kommunikationsmängeln, Informationsmängeln und Koordinationsmängeln zwischen den am Heilungsprozess beteiligten Ärzten und sonstigen Personen. Das Problem der Übertragung ärztlicher Leistungen auf nicht ärztliches Personal ist vom Sachverständigenrat der Bundesregierung erkannt, vom Gesetzgeber umgesetzt und nunmehr im Mittelpunkt auch juristischer Diskussionen. Für die Zukunft droht der jetzt schon erkennbare Ärztemangel zu einer weiteren Veränderung des Arztbildes zu führen. Jede Klinikleitung, jeder Arzt wird zunächst daran denken, im Interesse der Patienten den ärztlichen Betrieb so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Die Rechtsprechung hat aber schon früh zu den Fällen des Personalmangels judiziert und die Not44 Eingehend Schulte-Sasse Kosten sparen versus Patientensicherheit, der Arzt im Spannungsverhältnis zwischen klinischem Alltag und Rechtsprechung, Arztrecht 2009, 32 bis 41. 45 Geiß/Greiner Arzthaftpflichtrecht, München 2006, S. 56.
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wendigkeit gesehen, abgesehen von Notfällen, dann auf die Erbringung bestimmter ärztlicher Leistungen zu verzichten und die Patienten an andere Krankenhäuser zu verweisen.46 In der Regel wird den Arzt und den zur Organisationsentscheidung Berufenen auch die strafrechtliche Verantwortung in einem solchen Fall treffen. Da Fehlleistungen durch Konzentrationsmangel, Übermüdung und Überforderung nahezu vorprogrammiert sind, bleibt die Haftung wegen Organisationsverschuldens und Übernahmeverschuldens des einzelnen Arztes in diesen Fällen bestehen. Bei Überlastung bestehen „Hinweispflichten“ an die übergeordnete Stelle und erweiterte Aufklärungspflichten gegenüber dem Patienten. Wahrung der Hinweispflichten und Patientenaufklärung nützen aber auch dem Arzt dann nichts, wenn er gleichwohl die ärztliche Behandlung übernimmt. Probleme der „Mangelverwaltung“ werden das Idealbild des Arztes weiter beeinträchtigen. Das Bild des Arztes muss für die Zukunft neu bestimmt werden. Die Entwicklungen innerhalb der Selbstverwaltungsaufgaben der Ärzteschaft, die Entwicklung zu medizinischen Kooperationen wie MVZ mit angestellten Ärzten, mit dem Rückgang der Freiberuflichkeit, der teilweisen Aufgabe der persönlichen Leistungserbringung sowie der Filialisierung ärztlicher Leistungen sprechen für ein Fortschreiten der Gesetzesentwicklung in Richtung Neuordnung ärztlicher Tätigkeiten. Umso mehr gilt es, haftungsrechtliche Grundsätze als Maßstab für die Neuordnung ärztlicher Tätigkeiten zu schaffen. Zu Recht hat bereits der Sachverständigenrat darauf hingewiesen, dass sich unter der gegenwärtigen Rechtslage bei der Übertragung ärztlicher Aufgaben in erster Linie haftungsrechtliche Aufgaben stellen 47. Denn Arbeitsteilung in der Medizin kann nicht anders als patientenorientierte Risikobegrenzung verstanden werden. Arbeitsteilung setzt haftungsrechtlich voraus, dass die mit ihr verbundenen Risiken sicher begrenzt werden können. Maßstab muss sein, ob die Übertragung noch den Anforderungen ordnungsgemäßer Berufsausübung genügt. Maßstab kann also nur die verkehrsübliche Sorgfalt des jeweiligen Berufsstandes sein (§ 276 BGB). Nach allgemeiner Meinung bestimmt sich die Grenze der Delegationsfähigkeit danach, wo der Kernbereich der ärztlichen Tätigkeit beginnt, wobei bisher dieser Kernbereich der ärztlichen Tätigkeit nicht beschrieben worden ist.48 Die Grenze wird, ohne eine Abgrenzung im Einzelnen vorzunehmen, lediglich in der Form gezogen, dass der Kernbereich ärztlichen Handelns diejenige medizinische Tätigkeit voraussetzt, die spezifisch ärztliches Fach-
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BGHZ 95, 63 st. Rechtsprechung. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Kooperation und Verantwortung, aaO, S. 101. 48 Laufs/Uhlenbruck/Laufs Handbuch des Arztrechts, § 101 Rn. 11; Bamberger/Roth/ Spindler BGB, Band 2, 2003, § 823 Rn. 723; Hahn NJW 1981, 1977, 1980; Heinze/Jung MedR 1985, 62, 65, 67. 47
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wissen erfordert, über das nur die Profession des Arztes, nicht jedoch Dritte verfügen.49 In der notwendigerweise arbeitsteiligen Medizin fordert die Rechtsprechung wegen des notwendigen Patientenschutzes, dass der Patient kompetente, d.h. fachqualifizierte Betreuung erhält und dass diese lückenlos ist, Haftungsbereiche können nur nach dem medizinischen Einflussbereich und den medizinischen Kontrollmöglichkeiten der beanspruchten medizinischen Expertenstellung abgegrenzt werden50. Kann andererseits die Betreuung des Patienten ohne Defizit auch einer nichtärztlichen Stelle, sei es dem Pflegedienst, sei es dem technischen Ingenieur für die Gerätewartung überlassen werden, erkennt die Rechtsprechung die Substitution an. So sind Grund- und Funktionspflege Aufgaben von Krankenschwester, Krankenpfleger und Krankenpflegehilfe. Sie erfüllen nicht aus dem ärztlichen Tätigkeitsbereich abgeleitete Aufgaben, die Handelnden sind deshalb auch nicht Erfüllungsgehilfen des Arztes, sondern stehen unter Kontrollverantwortung der Pflegedienstleitung und des Krankenhausträgers51. Verlangt aber die Pflege aus besonderen Gründen ärztliche Bewertung und Anordnung, etwa wegen der Bedeutung im Diagnose- und Therapiekonzept oder wegen ihrer schwerwiegenden Auswirkungen auf die körperliche oder gesundheitliche Integrität des Patienten, hat also der Arzt eine Anordnungspflicht und ein Weisungsrecht, wird der nichtärztliche Dienst wiederum Erfüllungsgehilfe des Arztes.52 In diesem Bereich der Diagnose und Therapie dürfen Krankenschwester und Krankenpfleger, in geringerem Umfange auch die Krankenpflegehilfe nur unter ärztlicher Anweisung handeln. Instruktiv ist eine frühe Entscheidung des BGH53: „Die Verwendung nichtärztlicher Hilfspersonen ist aus der modernen Medizin und insbesondere aus dem heutigen Klinikwesen nicht wegzudenken. Es ist auch unvermeidlich, dass diesen Hilfspersonen im Einzelfall ein hohes Maß von Verantwortung zufällt – so im gesamten Bereich der Aseptik, bei hochentwickelten technischen Geräten, deren Funktion ver49
Laufs/Uhlenbruck/Laufs Handbuch des Arztrechts, § 10 Rn. 6. Vgl. OLG Zweibrücken, Urt. v. 18.2.1997 – 5 U 3/96, VersR. 1997, 833: Berechtigtes Vertrauen des Assistenzarztes in Weiterbildung zum Chirurgen auf die Operationsanweisungen des ihn führenden Facharztes; ebenso OLG Zweibrücken, Urt. v. 20.10.1998 – 5 U 50/98 –, VersR 2000, 728: Berechtigtes Vertrauen der Stationsärztin in die Geburtsleitung des leitenden Gynäkologen. 51 BGH, Urt. v. 10.1.1984 – VI ZR 158/82 –, BGHZ 89, 263, 271 f. 52 Vgl. BGH, Urt. v. 10.1.1984 – VI ZR 158/82 –, BGHZ 89, 263, 271 f. für SubclaviaVerweilkanüle; BGH, Urt. v. 18.3.1986 – 6 ZR 215/84 –, NJW 1986, 2365 und BGH, Urt. v. 2.6.1987 – VI ZR 174/86 –, NJW 1988, 762 für Dekubitus; BGH, Urt. v. 29.9.1998 – VI ZR 268/97 –, VersR 1999, 190 für Ruhigstellen des Beines nach Schädigung des Peronaeusnervs. 53 BGH VersR 1975, 952 s. Fn. 29. 50
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lässlich oft nur von einem Techniker zu kontrollieren ist, oder bei der Bereitstellung von Medikamenten und anderen Chemikalien. In allen diesen Bereichen ist dem Arzt ein persönliches Tätigwerden im Einzelfall teils aus Gründen der wirtschaftlichen Arbeitsteilung nicht zumutbar, teils auch wegen der Grenzen seiner fachlichen Kenntnisse gar nicht möglich. Damit kann sich eine Pflicht des Arztes, solche Tätigkeiten im Einzelfall persönlich auszuüben, nicht schon aus der Schwere der Gefahren ergeben, die eine unsachgemäße Ausführung mit sich bringen kann. Ein persönliches Eingreifen des Arztes ist vielmehr grundsätzlich nur zu fordern, wo die betreffende Tätigkeit gerade dem Arzt eigene Kenntnisse und Kunstfertigkeiten voraussetzt. „Dann erschöpft“ sich die Sorgfaltspflicht des verantwortlichen Arztes darin, die fachliche und charakterliche Zuverlässigkeit der mit der Prüfung betrauten Hilfskraft zu überwachen und zu gewährleisten, dass sie sich der mit ihrer Tätigkeit verbundenen hohen Verantwortung bewusst blieb“. Die Berufsgruppen haben die Abgrenzung zwischen ärztlichen und nicht ärztlichen Leistungen selbst vorzunehmen. Die Abgrenzung ist historisch gewachsen, sie unterliegt dem historischen Wandel, und zwar national und international. Im Streitfall obliegt die Abgrenzung dem Sachverständigen, im Übrigen hat die Festlegung durch die Leistungserbringer selbst zu erfolgen. Wenn eine Übertragung von Leistungen zulässig ist, wird sodann im konkreten Einzelfall zu prüfen sein, ob eine Anordnungsverantwortung und Kontrollverantwortung bei dem ärztlichen Dienst verbleiben muss oder eine vollständige Substitution der Leistung erfolgen kann. In jedem Einzelfall wird man nach dem Maßstab des § 276 Abs. 2 BGB, als dem Maßstab der verkehrsüblichen, berufsspezifischen Sorgfaltspflicht prüfen müssen, ob man die mit der Delegation verbundenen Risiken sicher begrenzen kann, die Übertragung von Leistungen noch den Anforderung ordnungsgemäßer Berufsausübung genügt und welche Überwachung nach Übertragung noch geschuldet wird.54 Die Übertragung ärztlicher Leistungen auf durch Ausbildung und Weiterbildung qualifiziertes Pflegepersonal, auf Gefäßassistenten, Chirurgisch-Technische Assistenten, chirurgische Operationsassistenten etc. wird eine der Hauptaufgaben der nächsten Jahre sein, um einerseits dem drohenden Ärztemangel zu begegnen und andererseits dem Arzt die notwendige Freiheit in der Therapie, die Therapiefreiheit zurückzugeben. Diese Erwägungen führen zurück zum Kern, zur Bestimmung des Arzt-Patientenverhältnisses einerseits und der Bewertung von Defiziten in diesem Vertrauensverhältnis sui generis.
54 Eingehend Bergmann Delegation und Substitution ärztlicher Leistungen auf/durch nichtärztliches Personal, MedR 2009, 1 ff.
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Der amerikanische Kardiologe und Friedensnobelpreisträger Bernard Lown bemüht sich in seinem lesenswerten Buch über „Die verlorene Kunst des Heilens – Anleitung zum Umdenken“ um eine Erklärung dafür, dass heute Haftungsprozesse eine starke Zunahme erfahren haben. Er führt aus, dass die meisten Klagen wegen ärztlichen Fehlverhaltens von Beschäftigten im Gesundheitswesen empfohlen wurden, die dann anschließend selbst die ärztliche Versorgung der Patienten übernahmen55. Andererseits hätten mehr als 1/3 der Patienten keinen Schadensersatzprozess angestrengt, hätten sie eine Erklärung oder eine Entschuldigung erhalten. Ärzte erhielten während ihres Medizinstudiums oder danach bedauerlicherweise keine Anleitung, wie mit Fehlern umzugehen sei.56 Ärztliches Fehlverhalten sei weitgehend die Folge einer depersonalisierten ärztlichen Tätigkeit 57. Viele Fehler, die zu Schadensersatzklagen wegen ärztlichen Verhaltens führten, könnten vermieden werden, wenn den Patienten zugehört würde. Lown schließt mit der bemerkenswerten Feststellung: „Das medizinische Versorgungssystem wird erst dann gesunden, wenn der Patient wieder in den Mittelpunkt des Tagesablaufs eines Arztes rückt“.58
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Lown Die verlorene Kunst des Heilens, Suhrkamp-Taschenbuch 3574, 2004, S. 186. AaO, S. 190, 191. AaO, S. 192. AaO, S. 196.
Der BGH-Anwalt zwischen Schein und Wirklichkeit Hermann Büttner Die Gelegenheit, einen Fachkollegen aus Anlass seines 70sten Geburtstags mit einem Festschriftbeitrag ehren zu dürfen, stellt den Verfasser vor die schwierige Wahl eines anlassbezogenen Themas. Mit Achim Krämer, der 1980 als Rechtsanwalt bei dem Bundesgerichtshof zugelassen wurde, verbindet mich eine fast ebenso lange Zeit gleicher beruflicher Tätigkeit. Als StreitGenossen auf dem kleinen Podium der obersten Instanz in Zivilsachen konnten wir wechselseitig unseren beruflichen Werdegang beobachten und bei der praktischen Wahrnehmung unserer anwaltlichen Aufgaben Erfahrungen sammeln, die sicher nicht in allen, aber in einigen wesentlichen Punkten übereinstimmen dürften. Aus diesen Gründen erscheint es legitim, dem Jubilar an Stelle akademischer Überlegungen einige empirische Betrachtungen über unseren Berufsstand zu widmen. Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. An Versuchen vieler Außenstehender, die Anwaltschaft beim Bundesgerichtshof ins Zwielicht zu setzen und deren Abschaffung zu fordern, hat es nicht gefehlt. Über die Befindlichkeit im Inneren dieser besonderen Anwaltschaft erfährt man hingegen wenig.
I. Warum will ein Rechtsanwalt BGH-Anwalt werden? Diese Frage stellt sich jeder Rechtsanwalt, bevor er sich um die Zulassung als Rechtsanwalt bei dem Bundesgerichtshof bewirbt. Die Anziehungskraft dieses speziellen Teilgebiets anwaltlicher Berufstätigkeit wird durch äußere und innere Anreize bestimmt. Die Aussicht, aus der großen Masse der sogenannten Instanzanwälte herausgehoben zu werden, künftig an der Reputation des höchsten Zivilgerichts partizipieren zu dürfen und die Vorzüge einer durch die Singularzulassung bedingten beruflichen Monopolstellung zu genießen, sind zweifellos naheliegende und keineswegs illegitime Motive. Gleichwohl sollte von solchen Überlegungen Abstand nehmen, wer nicht überzeugt davon ist, dass die bisherige Tätigkeit seine juristischen Talente noch längst nicht voll ausgeschöpft hat und er über die Fähigkeit verfügt, den praktischen Streitfall mit wissenschaftlicher Vertiefung zu behandeln und zum Gegenstand eines mündlichen Diskurses in der Revisionsverhandlung
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auf hohem Niveau zu machen. Diese doppelte Motivation sollte der Maßstab für eine aussichtsreiche Bewerbung und berufliche Zukunft in der dritten Instanz sein. Das berufliche Vorleben der heutigen BGH-Anwälte ist allerdings uneinheitlich. Die BGH-Anwälte früherer Generationen waren zuvor regelmäßig Rechtsanwälte, die mit ihrer Zulassung bei einem Landgericht oder Oberlandesgericht viele (mindestens fünf) Jahre lang erfolgreich gearbeitet und praktische Erfahrungen „in der Instanz“ gesammelt hatten. Für solche Kollegen, die zunächst weder das Revisionsgericht noch die Praxis eines Revisionsanwaltes von innen kannten und bei ihrem Blick in die Zukunft auf Informationen vom Hörensagen angewiesen waren, bedeutete der erstrebte Wechsel in die oberste Instanz eine Entscheidung mit beträchtlichen Unwägbarkeiten; wer nicht schon bei einem Karlsruher Gericht zugelassen war, musste zudem die Folgen eines Wohnsitzwechsels auf sich nehmen. Leichter haben es die Kollegen, die zwar als allgemein zugelassene Rechtsanwälte mehr oder minder gelegentlich Prozesse vor den Karlsruher Gerichten geführt haben, im wesentlichen aber seit ihrem Zweiten Staatsexamen als angestellte juristische Mitarbeiter in der Praxis eines BGH-Anwaltes beschäftigt waren. Aus jahrelanger Anschauung und Erfahrung kennen sie die Aufgaben, die ihnen die aktenmäßige Bearbeitung eines Revisionsmandates stellt, desgleichen die Rechtsprechungspraxis des Revisionsgerichts und, sofern ihnen nach Vollendung des 35. Lebensjahres die Gelegenheit zum Auftreten als amtlicher Vertreter gewährt worden war, auch die typischen Gepflogenheiten der mündlichen Revisionsverhandlung. Sie haben, vor allem wenn sie das Glück eines guten Vorbildes und Mentors hatten, bei der Aufnahme ihrer Tätigkeit als zugelassener BGH-Anwalt gegenüber den buchstäblich von außen kommenden Bewerbern einen Wissens- und Erfahrungsvorsprung auf dem Gebiet des Revisionsrechts. Dementsprechend niedriger ist auch das Risiko des Stellungswechsels; die Aussicht, nach der BGH-Zulassung im freien Beruf sein Einkommen im Vergleich zum Gehalt eines juristischen Mitarbeiters – noch dazu ohne die finanziellen Lasten eines Wohnsitzwechsels – eher zu verbessern, ist realistisch. Was in früheren Zulassungsverfahren ausgeschlossen oder die seltene Ausnahme war, avanciert inzwischen zum gleichberechtigten Normalfall: Unter den in den Jahren 2000 und 2007 zugelassenen neuen Kollegen waren jeweils mehr als ein Drittel ehemalige Mitarbeiter von BGHAnwaltskanzleien. Es wäre aber ein Irrtum zu glauben, man müsse, um ein guter und erfolgreicher BGH-Anwalt zu werden, zuvor das Revisionsrecht gleichsam in einer mehrjährigen Erprobungsphase erlernt haben. Solide zivil- und zivilprozessrechtliche Kenntnisse und die in den unteren Instanzen, möglichst auch in Berufungsverfahren erworbenen forensischen Erfahrungen sind eine bewährte Grundlage für eine erfolgreiche Tätigkeit als Revisionsanwalt. Die Unterscheidung zwischen Tatfrage und Rechtsfrage und die Beherrschung
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der wenigen Vorschriften der §§ 542 ff. ZPO bereiten einem versierten Instanzpraktiker nach kurzer Einarbeitung keine unüberwindlichen Schwierigkeiten; was das Prozessrecht angeht, ist Gegenstand der revisionsgerichtlichen Nachprüfung schließlich die fehlerfreie Anwendung der zahlreichen für die Tatsacheninstanz geltenden Verfahrensvorschriften, die einem gewissenhaften Prozessanwalt ohnehin vertraut sein sollten. Die vielfältigen praktischen Erfahrungen, die ein Rechtsanwalt in langjähriger freier Berufspraxis aus der Prozessführung vor den Gerichten der ersten und zweiten Instanz, aus betreuender und streitschlichtender Tätigkeit außerhalb der streitigen Gerichtsbarkeit und bei der organisatorischen und ökonomischen Verwaltung eines modernen Anwaltsbüros gewonnen hat, sind auch für die Wahrnehmung von Revisionsmandaten und die Führung einer BGH-Anwaltskanzlei von großem Vorteil. Gerade für die zuletzt genannte Gruppe von Rechtsanwälten, die dem traditionellen Werdegang folgend die BGH-Anwaltschaft erst im Anschluss an eine langjährig erfolgreiche Anwaltstätigkeit in den Instanzen erstreben, ist der Wechsel der Zulassung keine leichte Entscheidung. Die von Gesetzes wegen beschränkte Postulationsfähigkeit führt zum Wegfall der forensischen Freizügigkeit; eine in Jahren aufgebaute Klientel und die Mitgliedschaft in einer Sozietät gehen verloren; aus faktischen Gründen entfällt regelmäßig auch die Möglichkeit nennenswerter konsiliarischer Aktivitäten. Die Mitgliedschaft in dem kleinen Barreau der singular beim BGH zugelassenen Rechtsanwälte garantiert auch keineswegs die Aufrechterhaltung oder Steigerung eines überdurchschnittlichen Anwaltseinkommens, das zuvor in der Instanzanwaltspraxis verdient wurde, aber nach der plötzlichen, nahezu vollständigen Aufgabe der bisherigen Mandantenbeziehungen verlorengeht. Chancen und Risiken wollen gut überlegt sein. Allein die Erwartung eines deutlich höheren Einkommens kann für einen Rechtsanwalt, der sich am Sitz eines Landgerichts oder Oberlandesgerichts einen festen Platz erworben und sich eine Klientel mit einer nachhaltig ertragsstarken Mandatsstruktur geschaffen hat, keine Empfehlung sein. Entscheidend sind vielmehr ein durch nachweisbare Qualifikation gewachsenes Selbstbewusstsein und das Zutrauen in die eigene Fähigkeit, den deutlich höheren fachlichen Anforderungen, die durch das Niveau der Richter der höchsten Instanz bestimmt werden, zu genügen und zugunsten der höheren rechtlichen Abstraktion auf den lebensnäheren Umgang mit den Parteien und den der Tatsachenfeststellung verpflichteten Richtern zu verzichten.
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II. Das Berufsbild der Anwälte in den roten Roben Das Auftreten und die charakteristischen Berufseigenschaften der beim Revisionsgericht zugelassenen Rechtsanwälte werden nicht in einer ministeriellen Berufsbildverordnung beschrieben.1 Sie sind seit über hundert Jahren in einer aufgabenspezifischen Praxis gewachsen, auch unter maßvoller Anpassung an die in stetigem Wandel begriffenen Zeichen der Zeit. Der reformfreudige Gesetzgeber greift mit seinen wiederholten Änderungen des Revisionsrechts unmittelbar in das berufliche Wirken der Revisionsanwälte ein. Gleichwohl sind die wesentlichen berufstypischen Merkmale der BGH-Anwaltschaft, unbeeinflusst von den umwälzenden Entwicklungen in der gesamten Anwaltschaft, erstaunlich stabil geblieben – zum Vorteil der Rechtsuchenden und des Gerichtshofs. 1. Das Sachlichkeitsgebot ist die zentrale Maxime der Arbeit des Revisionsanwalts. Die Konzentration auf die revisionsrechtlich relevanten Gesichtspunkte des Streitfalles zwingt auf der einen Seite zu einer kritischen Sichtung eines häufig sehr umfangreichen Aktenstoffs und zu einer Kondensierung der vorzutragenden rechtlichen Gesichtspunkte auf das Wesentliche. Das ist oft leichter gesagt als getan. Das Entwerfen einer Revisionsbegründung, die sich nicht in der Wiederholung von in den Vorinstanzen vorgetragenen Rechtsansichten erschöpft, sondern die Aufmerksamkeit des Senats für die gerügten Rechtsfehler oder für neue rechtliche Aspekte weckt, ist die dem Beruf geschuldete Leistung – zugleich aber juristische Schwerarbeit. Auf der anderen Seite erleichtert das Gebot der Sachlichkeit auch den Umgang mit den Adressaten des eigenen Auftretens, also den Richtern ebenso wie den gegnerischen Kollegen. Die Atmosphäre im beruflichen Bannkreis des BGH ist deshalb von einer hohen Kollegialität geprägt. Anzeigen und Beschwerden gegen Kollegen wegen berufswidriger Ausfälligkeiten gehören ebensowenig zum üblichen Geschäftsanfall wie Befangenheitsanträge wegen persönlicher Kontroversen zwischen einem Anwalt und einem Richter. Der entscheidende Grund, der dem BGH-Anwalt die gebotene Sachlichkeit erlaubt, ist die Abwesenheit des Streits um die Wahrheit der Tatsachenbehauptungen des Mandanten: In der Revisionsinstanz interessiert den Anwalt einer Partei nur, ob eine vom Berufungsgericht feststellte Tatsache von einem Verfahrensfehler beeinflusst ist oder ob eine rechtsfehlerhaft offengebliebene Tatsachenbehauptung eine dem Mandanten günstigere Rechtsfolge verspricht. Die häufig nicht emotionslose Suche nach der tatsächlichen Wahrheit bleibt den Akteuren der Tatsacheninstanzen vorbehalten.
1 Das Berufsbild, das der BGH in seinem Beschluss vom 7.11.1993 (AnwZ 21/83 – NJW 1984, 1042) gezeichnet hat, entspricht mit seiner Betonung des Einzelanwalts nicht mehr den aktuellen Verhältnissen.
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Unter diesen Voraussetzungen ist es den BGH-Anwälten möglich, nach dem Grundsatz „suaviter in modo, fortiter in re“ zu handeln. Das gilt nicht nur für das schriftsätzliche Vorbringen, das – wenn auch engagiert und nachdrücklich – mit seinen rechtlichen Argumenten überzeugen will und auf Herabsetzungen gegenüber der anderen Partei und dessen Anwalt nicht angewiesen ist (gelegentliche Fehltritte bestätigen als Ausnahme die Regel). Vor allem in der mündlichen Revisionsverhandlung erweist sich der Wert dieser goldenen Regel: Auf einem hohen Diskussionsniveau wird hier um die richtige Rechtsansicht gekämpft, wird dem „verehrten Herrn Gegner“ sein (wirklicher oder vermeintlicher) Rechtsirrtum vorgehalten und auch auf kritische Zwischenfragen des Senats mit neuen Gegenargumenten geantwortet. Der einmal vor Jahren geäußerte Verdacht einer Journalistin, die BGHAnwälte litten unter „Beißhemmung“ gegenüber dem Gericht, lässt sich nur mit einer selektiven, die Verhandlungsrealität insgesamt verkennenden Wahrnehmung erklären. 2. Die BGH-Anwälte sind grundsätzlich Generalisten. Von ihnen wird erwartet, dass sie fachlich in der Lage sind, vor den zwölf Zivilsenaten und dem Kartellsenat des Bundesgerichtshofes sachkundig aufzutreten. Das stellt hohe Anforderungen an den Erwerb und die Pflege materieller Rechtskenntnisse in allen Fachgebieten des Zivilrechts. Früher, als die BGH-Anwälte noch ganz überwiegend in Einzelkanzleien praktizierten, wurde im Hinblick auf die Zulassungskriterien sogar die Auffassung vertreten, reine Spezialanwälte für einzelne Rechtsgebiete seien nicht erwünscht, weil sie weder für das Gericht noch für die Kollegenschaft eine Entlastung bedeuteten.2 Dieser Standpunkt ist – jedenfalls aus heutiger Sicht – anfechtbar. Denn die Zeiten haben sich auch hier geändert. Innerhalb der letzten zwei bis drei Jahrzehnte hat allein das materielle Gesetzesrecht – insbesondere als Folge der Vereinigung Deutschlands, der exponentiellen Ausbreitung des europäischen Gemeinschaftsrechts und mehrerer Großreformen – an Umfang und Kompliziertheit derart zugenommen, dass von einem einzelnen Juristen billigerweise nicht erwartet werden kann, er verfüge über fundierte Kenntnisse auf allen Gebieten des Zivilrechts. Der etwa angestrebte Rückzug eines Einzelanwalts auf bestimmte Fachgebiete ist schwierig, weil es die Auftraggeber sind, die mit ihren Mandaten und Honoraren das Fachgebiet bestimmen, in welchem sie in dritter Instanz vertreten werden wollen. Es ergeben sich deshalb, abhängig von der Mandatsstruktur, allenfalls Schwerpunktgebiete, in denen der Anwalt überlegene Fachkenntnisse erwerben und beim Fachpublikum bekannt werden kann. Sowohl der wachsende Geschäftsanfall als auch die Gefahr fachlicher und arbeitstechnischer Überforderung haben in den letzten Jahren viele Zweier-Sozietäten entstehen lassen. Von den 41 im Jahr 2009
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V. Stackelberg 25 Jahre Bundesgerichtshof, 1975, S. 295, 297.
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zugelassenen Rechtsanwälten sind noch 15 in Einzelpraxen, die übrigen in 13 Zweier-Sozietäten tätig. Der Zusammenschluss von zwei Kollegen ermöglicht immerhin eine gewisse kanzleiinterne Spezialisierung. Das erlaubt einen Verzicht auf die Allzuständigkeit und eine sinnvolle Verteilung der Mandatsbearbeitung. In den Instanzkanzleien haben zahlreiche Fachanwälte Einzug gehalten; in den großen überörtlichen und internationalen Sozietäten und Rechtsanwaltsgesellschaften ist die Spezialisierung der dort praktizierenden Kollegen eine schiere Selbstverständlichkeit. Überall dort ist längst erkannt worden, dass ohne ein Mindestmaß an Spezialisierung eine qualifizierte Rechtsberatung nicht mehr möglich ist. Dieser Tendenz kann sich auch die Anwaltschaft beim Bundesgerichtshof nicht gänzlich entziehen. Es erscheint daher fraglich, ob das berufsausübungsbeschränkende Verbot einer Sozietät mit mehr als zwei Partnern – erstmals verfügt im Jahr 1983 durch Beschluss des Anwaltssenats des Bundesgerichtshofes 3 und später gesetzlich festgeschrieben in § 172a BRAO – den aktuellen Verhältnissen noch entspricht und durch vorrangige Gemeinwohlinteressen gerechtfertigt ist. Ende 1983 gab es 23 beim BGH zugelassene Rechtsanwälte in 17 Kanzleien, heute sind es 41 in 28 Kanzleien; die notwendige Breite des Kanzleiangebotes für die Rechtsuchenden in der dritten Instanz ist also besser denn je gewährleistet. 3. Von berufsprägender Bedeutung ist die Singularzulassung der Rechtsanwälte bei dem Bundesgerichtshof. Sie ist aus Gründen der Qualitätssicherung und der faktischen Gewährleistung der beruflichen Existenz dieser Anwälte unentbehrlich. Es ist hier nicht der Platz, der seit Gründung des Reichsgerichts andauernden kontroversen Diskussion zur Rechtfertigung der Singularzulassung beim Revisionsgericht einen weiteren Beitrag anzufügen. Von Generation zu Generation formieren sich die Gegner, die aus der vorteilhaften Position, die Abläufe von Revisionsverfahren und den praktischen Umgang mit Revisionsmandaten aus unmittelbarer Wahrnehmung gar nicht zu kennen, gegen die Singularzulassung mitunter heftig zu Felde ziehen und mit geradezu jakobinischem Eifer deren Abschaffung fordern. Anders als zu Zeiten des Reichsgerichts brachten sie, vor allem nachdem das Bundesverfassungsgericht mit seiner berühmten Bastille-Entscheidung von 1987 4 das anwaltliche Standesrecht verworfen und zuletzt auch der gesetzlich und faktisch inkonsequent durchgesetzten Singularzulassung bei den Oberlandesgerichten ein Ende 5 gesetzt hatte, als Argument vorzugsweise die Verfassung in Stellung. Die Hoffnung, die Singularzulassung der Rechtsanwälte beim BGH mit verfassungsrechtlichen Rechtsbehelfen endlich zu Fall zu bringen, wurde freilich durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
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NJW 1984, 1042. BVerfGE 76, 171. BVerfGE 103, 1.
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vom 27.2.2008 6 zunichte gemacht: In einer außergewöhnlich umfangreichen Begründung sind die Richter der 2. Kammer des Ersten Senats in erschöpfender Auseinandersetzung mit den erhobenen Einwänden zu dem Ergebnis gelangt, dass die gesetzliche Zulassungskontingentierung mit der Verfassung vereinbar ist. Damit ist aus heutiger Sicht zwar die verfassungsrechtliche Diskussion ausgestanden, nicht aber die rechtspolitische. Vor allem die jüngeren Kollegen sind vor weiteren Angriffen auf ihre Existenzgrundlage nicht sicher. Aufgrund der jahrelangen Beobachtung kann nicht angenommen werden, dass die von gefühlter Diskriminierung und Unterprivilegierung getragenen Stimmen verstummen würden. Bekannt ist die erstaunlich simple Rhetorik, die häufig auf jede sachliche Abwägung verzichtet und auch Eingang in Debatten des Parlaments gefunden hat.7 Mit der Forderung nach „gleichem Recht für alle“ wird das „Monopol“ der BGH-Anwälte als anachronistisch und gemeinwohlschädlich diskreditiert.8 Kein seriöser Betrachter käme freilich auf die Idee, in der Singularzulassung der Rechtsanwälte beim Revisionsgericht eine Wohltat für eine kleine Gruppe von Rechtsanwälten zu erblicken. Diese Zulassungsbeschränkung in Verbindung mit dem besonderen Auswahlverfahren dient vielmehr allein und ausschließlich der Funktionsfähigkeit des Revisionsgerichts und deshalb den Interessen der Allgemeinheit. Wer nur die Kritiker hört und liest, könnte glauben, diese letzten singular zugelassenen Rechtsanwälte seien vorwiegend damit beschäftigt, ihre Privilegien auszuleben und allen anderen Rechtsanwälten lukrative Mandate wegzunehmen. Tatsache ist, dass jeder Kollege, der sich für die Tätigkeit als Anwalt in der höchsten Instanz entschieden hat, auch erhebliche berufliche und persönliche Einschränkungen akzeptieren muss, nämlich vor allem den Wegfall seiner Zulassung bei allen unteren Instanzen, die strikte Einhaltung der Residenzpflicht und, wenn er aus dem Kreis der erfolgreichen Instanzanwälte stammt, die Aufgabe seiner gewachsenen Klientel und seiner Zugehörigkeit zu einer Sozietät. In ihrer ganz überwiegenden Mehrheit bedauern die BGH-Anwälte die ihnen auferlegten Beschränkungen ihrer Berufsausübung nicht, weil sie aufgrund freien Entschlusses sich auf die anspruchsvolle forensische Arbeit der Revisionsinstanz beschränken und, sofern sie das mit Erfolg tun, damit vollständig ausgelastet sind. Für viele der hier neu antretenden Kollegen ist der Eintritt in diese spezielle berufliche Umgebung, falls sie nicht sogleich als Partner in eine bestehende Kanzlei mit guten Konditionen
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NJW 2008, 1293. Nachweise bei Schimansky Festschrift Odersky, 1996, S. 1083, 1086 f. 8 Die Substanz- und Haltlosigkeit dieser Kritik wird belegt durch die instruktiven Beiträge zweier ehemaliger Senatsvorsitzender des BGH Schimansky (Fn. 7) S. 1083 ff. und Kreft Festschrift Scharf, 2008, S. 249 ff. 7
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eintreten, ein Unternehmen mit ungewissem Ausgang. Denn auch sie treten als freie Rechtsanwälte auf einem grundsätzlich freien, allerdings durch den Geschäftsanfall des BGH beschränkten Markt auf und müssen sich selbst – mit sehr unterschiedlichem Erfolg – um Mandate bemühen; dabei ist ihnen freilich, wie die Erfahrung lehrt, aus faktischen Gründen der Zugang zu interessanten und lukrativen Beratungsmandaten, deren Wahrnehmung das Gesetz ihnen gar nicht verbietet, weitgehend verschlossen. Die Wettbewerbschancen sind also keineswegs zum Nachteil der übrigen Anwaltschaft verzerrt. Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass Kollegen, die aufgrund ihrer weit überdurchschnittlichen Qualifikation als Revisionsanwälte erfolgreich sind, ebenso gut auch ohne diese Zulassung in einer angesehenen Sozietät mit mindestens gleichen oder womöglich besseren Einkommenschancen reüssiert hätten. Umgekehrt steht jedem aufgrund seiner hervorragenden Qualifikation geeigneten Rechtsanwalt der Weg zur BGH-Zulassung offen; die Wahlverfahren der Vergangenheit haben aber gezeigt, dass die Zahl der ernsthaft in Betracht kommenden Bewerber im Allgemeinen zu gering ist.9 Wer allerdings meint, dass aus Gründen der formalen Gleichheit der Wettbewerbschancen jeder, der mit der Ablegung zweier Staatsprüfungen die Befähigung zum Richteramt erworben hat, geeignet sei, auch als Rechtsanwalt bei dem Bundesgerichtshof aufzutreten, hat weder das Wesen des Revisionsgerichts noch die Aufgaben des bei diesem Gericht zugelassenen Rechtsanwalts verstanden. 4. Die wiederholten Reformen des Revisionsrechts sind nicht ohne Einfluss auf die berufliche Tätigkeit der BGH-Anwälte geblieben. Ursprünglich lag die Entscheidung, ob eine Revision durchgeführt und über sie nach mündlicher Verhandlung durch Urteil entschieden werden sollte, allein in den Händen des Anwalts des Revisionsklägers; an dieser Entscheidung konnte ihn, auch wenn die Erfolgsaussichten zweifelhaft waren, allenfalls der Mandant, nicht aber das Gericht hindern. Das änderte sich aber mit dem Entlastungsgesetz von 1969, mit dem das Revisionsgericht ermächtigt wurde, eine für unbegründet erachtete Revision ohne mündliche Verhandlung durch einstimmigen Beschluss begründungslos zurückzuweisen. Diese Regelung wurde 1975 durch die sog. Annahmerevision abgelöst; danach konnte das Revisionsgericht die Annahme der Revision in einer Sache mit einer Beschwer von mehr als 40.000 DM (später 60.000 DM) ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss ablehnen, wenn die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung und die Revision keine Aussicht auf Erfolg hatte. Mit dem ZPO-Reformgesetz 2002 schließlich wurde die Zulassungsrevision eingeführt; der Zugang zur Revisionsinstanz setzt seitdem voraus, dass entweder das Berufungsgericht oder das Revisionsgericht selbst die Revision auf
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Schimansky (Fn. 7) S. 1092.
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Beschwerde gegen die Nichtzulassung zugelassen hat. Außer der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision gibt es als neuen Rechtsbehelf die Nichtzulassungsbeschwerde, ferner die in weiten Bereichen statthafte Rechtsbeschwerde. Im Bereich der Revision ist auf diese Weise seit 1969 dem Revisionsanwalt mit unterschiedlichen prozessualen Mitteln die ursprüngliche Verfahrenshoheit weitgehend entwunden worden. Einen vorläufigen Höhepunkt auf diesem Weg stellt die Nichtzulassungsbeschwerde dar: Um das Revisionsgericht zu einer Zulassung der Revision zu bewegen, muss der Revisionsanwalt prüfen und darzustellen versuchen, dass die Rechtssache die mit höchst unbestimmten Rechtsbegriffen umschriebenen Voraussetzungen einer „grundsätzlichen Bedeutung“ oder der Notwendigkeit einer revisionsgerichtlichen Entscheidung zur „Fortbildung des Rechts“ oder der „Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung“ erfüllt. Das von der amtlichen Gesetzesbegründung und auch in der Rechtsprechung des BGH immer wieder benutzte Argument vor Augen, dass auch ein offensichtlicher Rechtsfehler die Zulassung der Revision nicht rechtfertige, muss sich der Revisionsanwalt auf schwankenden Boden begeben, um mit objektiv kaum verifizierbaren Begründungen eine Grundsatzbedeutung oder eine „symptomatische“, die Gefahr von Wiederholungen indizierende Rechtsdivergenz mit häufig weitschweifigen und meist erfolglosen Ausführungen darzulegen. Die Statistik gibt eine deutliche Antwort: Im Jahr 2008 betrug die Zulassungsquote (bezogen auf alle durchgeführten Nichtzulassungsbeschwerden) gerade 15 %. Die Begründungen der Nichtzulassungsbeschwerden, die in aller Regel auch die für die Entscheidungserheblichkeit der Zulassungsgründe unentbehrlichen revisionsrechtlichen Argumente und Rügen enthalten, gewinnen dadurch an Umfang, im Hinblick auf das zunächst zu erreichende Verfahrensziel aber nicht an Stringenz und abschätzbarer Erfolgsaussicht. Die Bearbeitung von Nichtzulassungsbeschwerden bürdet daher dem Revisionsanwalt neuerdings Aufgaben auf, die mit der klassischen Revisionstätigkeit, nämlich der Beschäftigung mit dem kausalen Rechtsfehler, wenig gemein hat. Juristisch reizvoll ist das nicht. 5. Noch bedrückender ist aber der Umstand, dass mit den häufig begründungslosen Zurückweisungsbeschlüssen (früher: Nichtannahmebeschlüssen) eine Aura der Intransparenz entstanden ist. Die in den mündlichen Verhandlungen gesammelten Erfahrungen und die Begründungen der (die Revision zurückweisenden) Urteile ermöglichten eine bessere Einschätzung der Entscheidungspraxis der Senate, und zwar auch der Abwägungskriterien in rechtlich zweifelhaften Fällen. Die hohen Zurückweisungsquoten – die seit Einführung der Annahmerevision kontinuierlich zugenommen haben – und die Begründungslosigkeit der Ablehnungs- und Zurückweisungsbeschlüsse behindern auch erfahrene Revisionsanwälte bei ihrer Aufgabe, ein zweifelhaftes Rechtsmittel von einem mutmaßlich aussichtsreichen sicher zu unter-
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scheiden und den Mandanten klar und deutlich zu beraten. Wenn der Revisionsanwalt nach pflichtgemäßer Prüfung auch die von ihm für erfolgversprechend erachteten Rechtsmittel aus Gründen der Vorsicht stets nur mit Vorbehalten zur Durchführung empfiehlt und den Mandanten regelmäßig vor den Risiken einer Beschlusszurückweisung warnen muss, stärkt das nicht den Glauben der Partei in die Rationalität der vorbereitenden Rechtsfindung. Daneben hat dieser Zustand auch einen – von seiten des Gerichts womöglich unterschätzten – kontraproduktiven Effekt; denn wenn der mögliche Erfolg einer Nichtzulassungsbeschwerde mit so geringer Wahrscheinlichkeit, wie sie die Praxis lehrt, vorhergesagt werden kann, lassen sich die (häufig durch ihren vorinstanzlichen Anwalt beratenen) Mandanten durch immer wiederkehrende stereotype Risikowarnungen nicht davon abhalten, auch solche Rechtsmittel durchzuführen, die von ihrem Revisionsanwalt mit dem Prädikat „wenig aussichtsreich, aber noch vertretbar“ versehen worden waren. Im Übrigen wird ein Revisionsanwalt, der nicht nur einmal eine von ihm für völlig unwahrscheinlich gehaltene Annahme- oder Zulassungsentscheidung erlebt hat, auch stets sorgfältig prüfen müssen, ob er den schlimmsten, weil irreparablen Fehler riskieren soll, nämlich dem Mandanten ein womöglich aussichtsreiches Rechtsmittel auszureden. Die Rechtsanwälte beim BGH haben sich in vier Jahrzehnten an steigende Misserfolgsquoten und begründungslose Beschlüsse gewöhnen müssen. Zur beruflichen Qualifikation gehört deshalb eine hohe Frustrationstoleranz, um nicht am Sinn der eigenen Arbeit zu verzweifeln. Demgegenüber dienen die häufigen „Erfolge“, die dem Anwalt des obsiegenden Rechtsmittelgegners mit begründungslosen Zurückweisungsbeschlüssen zuteil werden, mehr einer technokratischen als einer intellektuellen Befriedigung; denn ob ausgerechnet die Argumente der Rechtsmittelerwiderung für das Ergebnis entscheidend waren, erfährt deren Autor nie. Wer deshalb als Rechtsanwalt meint, als Lohn seiner Arbeit in der dritten Instanz bei der Korrektur von für falsch gehaltenen Urteilen und bei der Durchsetzung seiner Rechtsansichten zahlreiche juristische Erfolge erringen zu können, sollte eine solche Phase erfolgreichen anwaltlichen Wirkens zuvor in der Instanz absolviert haben. Denn dort gibt es bessere Möglichkeiten, die Früchte einer guten Prozessführung zu ernten und vor allem auch an erfolgreichen Streitbeilegungen ohne Urteil und in rechtsberatenden und -betreuenden Angelegenheiten zum Vorteil des Mandanten mitzuwirken.
III. Rück- und Ausblick Achim Krämer blickt auf 29 Jahre einer höchst aktiven und erfolgreichen Tätigkeit als Rechtsanwalt bei dem Bundesgerichtshof zurück – ohne Anzeichen einer Dienstmüdigkeit. Diese Zeitspanne entspricht der zweiten Hälfte
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des fast 60jährigen Bestehens des Bundesgerichtshofs und seiner Anwaltschaft. Es war eine richtige Entscheidung des Gesetzgebers, als er nach dem Zusammenbruch Deutschlands im Jahre 1950 den Bundesgerichtshof – in Fortführung der gerichtsverfassungsrechtlichen Aufgaben und Struktur des Reichsgerichts – als das bundeseinheitliche Revisionsgericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit errichtet und eine wiederum nur bei diesem Gericht zugelassene Rechtsanwaltschaft zur sachgemäßen Vertretung der Parteien vor den Zivilsenaten errichtet hat. Folgt man den zahlreichen schriftlichen und mündlichen Äußerungen namhafter Repräsentanten des Gerichtshofs, dann kann auch bei selbstkritischer Zurückhaltung festgestellt werden, dass sich diese ausschließlich auf das Revisionsgericht spezialisierte kleine Anwaltschaft bewährt hat. Denn die sachorientierte, hohen fachlichen Ansprüchen verpflichtete Tätigkeit war, ist und bleibt für die Arbeit des Revisionsgerichts unentbehrlich. Das bedarf heute keines weiteren Beweises mehr. Dem BGH-Anwalt selbst verschaffen die gesetzlichen Rahmenbedingungen, nämlich die mit der Singularzulassung verbundene Beschränkung seiner Aktivitäten auf die Revisionsinstanz, die zahlenmäßige Beschränkung der zugelassenen Kollegen und das Verbot der Assoziierung mit Instanzanwälten die für seine Tätigkeit erforderliche sachliche und persönliche Unabhängigkeit. In seiner Eigenschaft als nahezu ausschließlich forensisch tätiger Anwalt hat er den Vorzug, sich im wesentlichen nur mit den Rechtsfragen der Streitigkeit befassen zu müssen; die oft mühsame Ermittlung und Verarbeitung der tatsächlichen Informationen, Beweisaufnahmen, lästige Zwangsvollstreckungen und andere den Alltag eines Prozessanwalts beschwerende Tätigkeiten bleiben ihm erspart. Auch der unkomplizierte und entgegenkommende Stil im Geschäftsablauf zwischen Gericht und Kanzlei erleichtert beiderseits die Arbeit. Dennoch täuscht der Eindruck einer scheinbar unangemessenen Privilegierung. Die sorgfältige und gründliche Durcharbeitung des meist mehrbändigen Aktenstoffs erfordert Ausdauer und Konzentration, ebenso die nachfolgende Rechtsprechungs- und Literaturrecherche als Grundlage des als Ergebnis abzusetzenden Revisionsschriftsatzes. Die mündliche Revisionsverhandlung erfordert stets eine intensive Vorbereitung. Hinzu kommt, dass sich im Verlaufe der letzten zwanzig bis dreißig Jahre – begünstigt durch neue Büro- und Informationstechnik, zunehmende Verrechtlichung des Lebens und eine allgemeine Neigung zur Breite – der durchschnittliche Umfang der Akten ebenso wie der der angefochtenen Entscheidungen verdoppelt hat; der Arbeitsaufwand hat signifikant zugenommen. Der – mitunter missgünstig beobachtete – Erfolg eines BGH-Anwalts hat seinen Preis. Bereits ab einer durchschnittlichen Beschäftigungslage kann der Dienst am Recht familienfeindlich werden. Auch die Unterstützung durch einen oder mehrere juristische Mitarbeiter entbindet den Anwalt nicht von der kritischen Überprüfung und Überarbeitung der Entwürfe; er allein trägt die ak-
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tive Verantwortung für die Erledigung des Mandats gegenüber dem Mandanten und dem Gericht. In der Freiheit zur Delegation verantwortungsvoller Aufgaben und zu einer ihn wirkungsvoll entlastenden Kanzleiorganisation ist der BGH-Anwalt aufgrund der besonderen Zulassungssituation in einer Weise eingeschränkt, die mittleren und größeren Instanzanwaltskanzleien fremd ist. Das alles hat zur Folge, dass die berufliche Belastung eines BGHAnwalts mit fortschreitendem Alter zunimmt, er also nicht nach dem Beispiel eines „Seniorpartners“ einer über die Jahre gewachsenen Sozietät in den Genuss der Entlastung durch jüngere Partner kommen kann; aber jeder muss wissen, worauf er sich eingelassen hat. Die BGH-Anwälte haben schließlich auch längst erkannt, dass das Ansehen und die Wertschätzung eines in der höchsten Instanz tätigen Rechtsanwalts bei den anderen Kollegen des Landes und den Mandanten nicht mehr einfach kraft Amtes, sondern nur durch die Überzeugungskraft seiner beruflichen Leistungen gewonnen werden kann. Antiquierte Gravität im Auftreten ist abgeschafft; Richter und Anwälte beim BGH verzichten deshalb schon lange auf das Tragen des Baretts10 als eines ursprünglich benutzten Zeichens ihrer Würde. Sorge bereitet allerdings die dramatische Zunahme der Fälle mit geringen und geringsten Streitwerten – vor allem in dem nach Fallzahlen großen Bereich der Rechtsbeschwerde, für die der Gesetzgeber eine unangemessen niedrige Vergütung für richtig hält. So hat selbst der Senat für Anwaltssachen des Bundesgerichtshofes in höchstrichterlicher Zurückhaltung festgestellt, „dass sich die wirtschaftliche Situation der bei dem Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälte durch die Reform des Zivilprozessrechts jedenfalls nicht verbessert hat“11. Sorge deshalb, weil sowohl wegen der genannten beruflichen und betrieblichen Beschränkungen als auch wegen der eingetrübten wirtschaftlichen Aussichten die Attraktivität einer Zulassung beim Bundesgerichtshof für künftige Bewerber, die aufgrund ihrer weit überdurchschnittlichen juristischen Qualifikation geeignet und notwendig sind, deutlich sinken könnte. Der gewachsene Markt der rechtsberatenden Dienstleistungen wie auch die Vergütungen, die qualifizierten Juristen heute in zahlreichen großen Anwaltsbüros geboten werden, gefährden die Gewinnung geeigneten Nachwuchses für herausgehobene forensische Funktionen. Zu Beginn der 1980er Jahre fiel der Entschluss, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof zu werden, für einen Rechtsanwalt, der aufgrund seines Wissens und Könnens über mehrere attraktive Berufsoptionen verfügte, jedenfalls bedeutend leichter als heute.
10 Zur Amtstracht der Rechtsanwälte am Reichsgericht und beim Bundesgerichtshof vgl. FORTITUDO TEMPERANTIA, Festgabe zu 50 Jahren Bundesgerichtshof, 2000, S. 261 ff.; ferner v. Stackelberg (Fn. 2) S. 296. 11 BGHZ 162, 199, 210 = NJW 2005, 2304, 2307.
Berufsethische Überlegungen Hartmut Kilger I. Das Erbe der Standesauffassungen In der Bibliothek des Bundesgerichtshofs wird eine kleine Broschüre unter der Nr. MIN 2765 aufbewahrt, deren Titelblatt wie folgt aussieht:
Abgedruckt ist dort, was der Deutsche Anwaltverein 1930 als Richtlinie veröffentlichungswürdig hielt. Die erste Bestimmung dieser Richtlinie lautete mit ihrem damals so typischen Schriftbild wie folgt: Dieser „Richtlinie“ eines freien Verbandes war keine lange Geltung beschieden – es kamen mit dem Nationalsozialismus andere Verfahrensweisen. Und die Standesrichtlinien nach dem Krieg gaben dann in der 1982 zuletzt novellierten und 1987 durch das Bundesverfassungsgericht aufgehobenen Fassung Beschlüsse der Bundesrechtsanwaltskammer wieder – und waren damit zur anwendbaren und sanktionsfähigen Rechtsquelle mutiert.
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Zwischen 1930 und 1982 liegen Jahrzehnte – aber seit 1982 sind ebenfalls Jahrzehnte vergangen. Sollten wir zur Idee von 1930 zurückkehren? Liegt doch das Sehnen nach „Werten“ in der Luft des gesellschaftlichen Windes. Es gibt viele, die meinen, dass die Entwicklung mit dem Radikalschlag der Bastille-Entscheidungen vom 14.7.1987 zu weit gegangen sei.
II. Moderne Anglizismen Der mitten im Leben stehende Leser könnte bei Lektüre der oben zitierten Eingangsbestimmungen der „Standesgesetze und Standesauffassungen“ des DAV sogleich die Assoziationen haben: „Aha! Compliance und Whistleblowing“. Damit hätte sich dann schon das erste Problem gestellt: Kaum ein Hörer dieses Ausrufs würde verstehen, worum es bei diesen Ausdrücken geht, auch wenn man ihm die Übersetzung „Komplianz und Verpfeifen“ nachlieferte. Deswegen zunächst der Reihe nach: Es muss nicht immer stimmen, was man in Wikipedia findet. Aber man findet dort ganz sicher den herrschenden Zeitgeist. Er sagt über Compliance: „In der betriebswirtschaftlichen Fachsprache wird der Begriff Compliance bzw. Komplianz verwendet, um die Einhaltung von Gesetzen und Richtlinien, aber auch freiwilligen Kodizes, in Unternehmen zu bezeichnen. Im Deutschen kann, sofern nicht der englische Begriff verwendet wird, von Regelüberwachung oder einfach Überwachung gesprochen werden. Die Sicherstellung von Compliance/Regelüberwachung in Unternehmen können organisatorische Maßnahmen stützen. Hierzu richten vor allem Kreditinstitute und Finanzdienstleister Compliance/Überwachungs-Abteilungen ein. Sie wachen beispielsweise darüber, dass die nationalen und
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internationalen Gesetze und Richtlinien gegen kriminelle Handlungen (z.B. Betrug), Finanzsanktionen, Marktmissbrauch, Interessenkonflikte, Insiderhandel, Geldwäsche oder zum Datenschutz eingehalten werden. In Steuerberatungsgesellschaften kümmern sich Compliance/Überwachungs-Abteilungen um die Erfüllung steuerlicher Deklarationsvorschriften (vor allem die Abgabe von Steuererklärungen) und übernehmen in der Regel keine weiteren Beratungsaufgaben. Daneben gilt Compliance/Überwachung als ein bedeutendes Element der Ordnungsgemäßen Unternehmensführung (Corporate Governance). Zunehmend von Bedeutung für die Compliance/Regelüberwachung ist auch die Informationssicherheit.“ 1 Ähnlich aufschlussreich ist der Artikel über den Whistleblower: „Hinweisgeber oder Whistleblower (abgeleitet von der englischen Redewendung „to blow the whistle on someone“, zu deutsch „jemanden verpfeifen“) bezeichnet einen Informanten, der Missstände, illegales Handeln (z.B. Korruption, Insiderhandel) oder allgemeine Gefahren, von denen er an seinem Arbeitsplatz erfährt, an die Öffentlichkeit bringt.“2 Und der Realitätsbezug für Deutschland wird gleich mitgeliefert: „Der angloamerikanische Rechtsbegriff findet bislang keine exakte Entsprechung im Deutschen – gleichwohl reflektierten etwa Wissenschaftsund Verwaltungsethik das Phänomen „Whistleblowing“ zunehmend. In Deutschland haben drei Bundesministerien einen Gesetzesentwurf zur Einführung eines § 612a n.F. BGB zum Whistleblowerschutz für Arbeitnehmer vorgelegt, der am 4.06.2008 Gegenstand einer öffentlichen Anhörung im Bundestag war. Am 17.06.2008 wurde im Bundesgesetzblatt auch das neue Beamtenstatusgesetz, als ab 1.04.2009 geltendes Nachfolgegesetz zum Beamtenrechtsrahmengesetz, veröffentlicht. Dieses sieht in § 37 Abs. 2 Nr. 3 eine Durchbrechung des Verschwiegenheitsgrundsatzes vor, demzufolge Beamte zukünftig neben den Katalogstraftaten des § 138 StGB (der die Fälle der Anzeigepflicht regelt) auch Korruptionsstraftaten nach §§ 331–337 StGB (aber nur diese) direkt bei der Staatsanwaltschaft anzeigen dürfen. Auch das geplante neue Bundesbeamtengesetz soll eine entsprechende Regelung enthalten. Das Landeskriminalamt Niedersachsen hat für anonyme Hinweise auf Korruption eigens ein Whistleblowingsystem in Betrieb genommen. Das BKMS-System wird mit unterschiedlichen Schwerpunkten auch von speziellen Ermittlungseinheiten in Unternehmen, Behörden und Regierungen angewendet.“3
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www.wikipedia.de zum Stichwort Compliance (BWL), Eintrag vom 1.4.2009. www.wikipedia.de zum Stichwort Whistleblower, Eintrag vom 1.4.2009. www.wikipedia.de zum Stichwort Whistleblower, Eintrag vom 1.4.2009.
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Hartmut Kilger
Wäre unsachlich, wer hieraus folgerte: „Unsere Welt läuft auf eine Rundum-Polizei-Überwachung mit Spitzeln und Petzsystemen hinaus“? Ist das Wort „Polizei“ zu scharf? Man sehe sich an, was Compliance im Unternehmen wirklich bedeutet: Organisation von Compliance 1. Identifikation von Risiken • Benchmarking • Identifikation und Analyse des rechtlichen Risikos • Kenntnisse der rechtlichen Rahmenbedingungen 2. Internes Informationssystem • Einschätzung des Schulungsbedarfs • Entwicklung und Verbesserung von Unternehmensrichtlinien 3. Internes und Externes Kommunikationssystem • Meldesystem für Verstöße • Entwicklung von Verfahrensabläufen bei Beschwerden • Kontakte mit Behörden 4. Internes Kontrollsystem • Berufung eines Compliancebeauftragten • Entwicklung von Kontrollverfahren und Kommunikationsabläufen4
III. Misstrauen statt Vertrauen, Kontrolle statt Freiheit Das also unser Klima künftig in jedem Unternehmen, in jedem Verband, in der Verwaltung! Sine ira et studio sollten wir der Frage nachgehen: Worauf beruhen diese überall grassierenden so schamhaft mit Anglizismen auf den Weg gebrachten Ideen, worauf beruhen denn alle unsere Systeme der freiwilligen Codices, der weit verbreiteten Vorstellungen über corporate governance, über Zertifizierungen und Akkreditierungen? Auf unstillbarem Misstrauen? Misstrauen beherrscht unsere Welt. Früher waren wir so naiv zu glauben, der Mensch verhalte sich von allein anständig und gesetzeskonform, er sei selbstverantwortlich, frei – heute scheint das alles abwegig. Man hat wohl im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends zu viele Skandale erlebt. Unterstellt wird, dass sich jeder selbst der Nächste sei. Reißende Libertinage als Mustermodell des Lebens! Kapitalismus als Veranstaltung unverantwortlicher Einzelner an die Kette legen, heißt es. Da muss reguliert, kontrolliert, durchleuchtet und spioniert werden. Was wir an der Sicherheitsdebatte für die Freiheit in die Waagschale werfen wollten – dass nämlich verantwortliches
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www.wikipedia.de zum Stichwort Compliance (BWL), Eintrag vom 1.4.2009.
Berufsethische Überlegungen
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Leben möglich ist, ohne in Watte gepackt zu werden –, geht das im Bereich der Wirtschaft, des Vereins- und Verbandslebens und der Verwaltung schon lange verloren?
IV. Der Ruf nach „Ethik“ Diese Entwicklung wird dadurch beschleunigt, dass allenthalben der Ruf erschallt, es sollte die Ethik wieder mehr ins Blickfeld rücken. Damit wird eine Nebelkerze ausgeworfen. Ethik ist nach gängiger Definition Moralphilosophie, die sich mit Aussagen über moralische Werte und moralische Handlungsnormen befasst. Dabei geht es doch gar nicht um die Befassung mit einem Fach der Philosophie – so nützlich sie in allen Lagen des Lebens auch ist. Die Frage ist doch eine andere: Wo ist das Ethos der am Wirtschaftsleben Beteiligten geblieben? Unser Ruf schallt nicht nach Ethik, sondern nach dem Berufsethos des Rechtsanwalts. So hat – durchaus verdienstvoll – die Rechtsanwaltskammer Frankfurt im Jahre 2005 einen Aufsatzwettbewerb veranstaltet unter dem vorgegebenen Thema „Die Ethik des Rechtsanwalts im Beruf – Ist auch in Zukunft an einem gemeinsamen Pflichtenkodex der Rechtsanwälte festzuhalten?“ Ihn haben Alexander Brink und Justin Sauter mit dem Aufsatz unter dem Titel „Zur freiwilligen Selbstverpflichtung des Rechtsanwalts: eine institutionenökonomische Analyse“ gewonnen – beide übrigens keine Rechtsanwälte. Die schlussfolgernde Zusammenfassung des Gewinneraufsatzes lautet: „Eine freiwillige Selbstverpflichtung soll für Entscheidungen, Urteile und Handlungen im Umgang mit Mandanten und anderen Anspruchsgruppen hinsichtlich ihrer ethischen Qualität sensibilisieren und diese bestenfalls moralischer machen. In diesem Zusammenhang sind insbesondere Möglichkeiten der Einbindung von Erkenntnissen der philosophisch-ethischen Diskussion zu untersuchen: Hier gibt es zahlreiche weiterführende Gedanken, zum Beispiel in den Werken von Immanuel Kant, Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel oder etwa John Rawls. Gerade neuere integrativ ausgerichtete Ethikkonzeptionen wie der Kohärentismus können hier darüber hinaus Beiträge liefern, da mit ihrer Hilfe ein breites Spektrum von Erkenntnissen einer Vielzahl verschiedener ethischer Konzeptionen und Richtungen genutzt werden kann. Unser Aufruf gilt also den Rechtsanwälten, sich über die bestehenden gesetzlichen Vorschriften hinaus einer individuellen Selbstverpflichtung freiwillig zu unterwerfen, um Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit im Anwalt/Mandant-Verhältnis, aber auch in der Gesellschaft zu fördern. Wenn es um tugendhaftes und vorbildhaftes Verhalten geht, müssen Anwälte Verantwortung übernehmen, die ihrerseits wiederum – im Rahmen bestimmter juristischer Normen – Entscheidungs- und Gewissens-
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freiheit voraussetzt. Eine freiwillige individuelle Selbstverpflichtung wäre damit eine gute Möglichkeit, die Ethik des Rechtsanwalts im Beruf zu stärken. Damit ist auch in Zukunft nicht nur an einem gemeinsamen Pflichtenkodex der Rechtsanwälte festzuhalten, sondern dieser ist um eine freiwillige individuelle Selbstverpflichtung des einzelnen Anwalts zu ergänzen.“ 5 Der Aufsatz weist also auf das Individuelle. Ethos (HJOV) bedeutet etymologisch „Gewohnter Sitz; Gewohnheit, Sitte, Brauch; Charakter, Sinnesart“ – alles Gegenstände, die sich regulierender Bestimmung entziehen. Die Verfasser des Gewinneraufsatzes sind schon deswegen auf halbem Wege stehen geblieben: Sie haben nicht gewagt, zu betonen, dass alle juristisch bestimmten Normen vergeblich sind, wenn es an einem minimalen Substrat an Ethos fehlt. In keinem der Aufsätze dieses Wettbewerbes ist deswegen auch die grundlegende Arbeit von Franz Salditt auch nur erwähnt worden: Er hatte im Jahre 2001 unter dem Titel „Grauzonen anwaltlicher Freiheit, kasuistisch betrachtet“6 eine der ganz wenigen Arbeiten veröffentlicht, die sich mit dem Anwaltsethos in dem hier verstandenen Sinne beschäftigen. Der wichtigste Begriff in diesem Titel ist das Wort „Grauzone“. Denn die Praxis erweist: Das Wesentliche ist nicht die Anwendung von Regeln, ist nicht die kunstvolle Subsumtion unter Gesetze. Das eigentlich Wesentliche ist die Freifläche, die Grauzone, wie sie Salditt benennt, der Zustand, völlig auf sich allein gestellt zu sein. Ethos ist nicht das Handeln nach Regeln, Ethos ist dort gefragt, wo Regeln versagen, wo es keine Regeln gibt, wo man allein steht. Ethos bewährt sich dort, wo sich zeigt, was aus der handelnden Person allein herauskommt, welche Identität sie hat und welche Authentizität. Das ist das Merkwürdige an der heutigen Situation. Wir haben eine zunehmende Pluralisierung, eine Verrechtlichung aller Lebensvorgänge, eine Zunahme jedweder Regulierung in allen Lebensbereichen trotz und möglicherweise sogar wegen aller Deregulierungsbemühungen; und dennoch nimmt die Freifläche der persönlichen Verantwortung ständig zu. Dieser erstaunliche Gegensatz wird von Salditt in Artikelüberschriften dadurch verbalisiert, dass er die Entwicklung der letzten 20 Jahre als den Marsch in das Minimum beschreibt: Es ist Mode geworden, als oberstes Prinzip anwaltlicher Tätigkeit die „unreglementierte Selbstbestimmung“ zu benennen. Deswegen befinden wir uns heute wieder auf der Flucht in ein neues Maximum, ein vergebliches Unterfangen, weil sich Spielräume weiter vergrößern. Konnte der Eid des Hippokrates vor 2000 Jahren dem Arzt noch eine gültige Regelanweisung für seinen Beruf geben, so beschreiben heute alle Regelwerke nur unverzichtbare Normen, die ethisch oder im Interesse der Allgemeinheit generell geboten sind. Mit den allgemeinen Generalklauseln, wie sie 5 6
NJW Beilage zu Heft 5/2006, 13. BRAK-Mitt. 2001, S. 150 – zuvor schon Felix Busse, AnwBl. 1998, 231.
Berufsethische Überlegungen
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zum Beispiel auch die modernisierte Charta der ärztlichen Berufsethik enthält, ist im Einzelfall aber wenig anzufangen: Das dortige Primat des „Patientenwohls“ ist wohlfeile Empfehlung – wie dieses im Einzelfall aber zu bewerten ist, kann nur der entscheiden, der handeln muss. Beim Anwalt ist das nicht anders. Die grundlegende Trias des Anwaltsberufs besteht darin, dass er unabhängig sein soll, in jeder Hinsicht verschwiegen und fern von der Vertretung widerstreitender Interessen: Aber dies markiert nur das ethische Grundgerüst. Wie das im Einzelnen aussieht, kann der Anwalt nur vor Ort und ad hoc entscheiden. In Deutschland haben in jüngster Zeit deswegen immer wieder Anwälte letztinstanzlich Recht bekommen, obwohl sie im Interesse der Freiheit entweder ihrer Mandanten oder des eigenen Berufs bewusst gegen Regeln verstoßen haben, seien es die Kanzleiwechsler in Ravensburg oder der Anwältin in Dresden, die trotz strengen Verbots ein Erfolgshonorar vereinbarte. Sie haben aus persönlich erarbeiteten ethischen Motiven (und im letzteren Fall auch nicht aus Geldgier) gehandelt. Das heißt: In vielen Fällen hilft der Blick in Vorschriften und Regeln nicht weiter. Nur der Blick ins eigene Innere, die an sich selbst gestellte Frage liefert Antworten auf die Frage. Und lieferte er keine Antworten, dann stellt sich das ethische Problem erst recht. Die Frage nach dem Berufsethos beginnt dort, wo die Regeln aufhören. Der kategorische Imperativ von Kant – der selbst keine inhaltlich-materielle Vorgabe enthält – ist nicht umsonst in der Du-Form gehalten. Die Frage nach dem Berufsethos ist nicht die nach den vorhandenen oder aufzustellenden einschlägigen Regeln; sie nimmt vielmehr die handelnde Person selbst ins Visier; sie ist nicht an Regelanwender, sondern an frei handelnde Persönlichkeiten gerichtet. Damit hilft auch das Rezept des Gewinners des erwähnten Aufsatzwettbewerbs nicht weiter: Die Empfehlung, sich unter selbstgesetzte Regeln zu stellen, bleibt auf halbem Wege stehen. Selbstverständlich ist seine Empfehlung richtig – aber auch sie liefert keine Rezepte, wenn die Entscheidung auf der Freifläche getroffen werden muss. Auch die selbst gesetzte Regel kann nicht jede Konstellation vorherplanen: und ethisch ist doch oft gerade der Regelverstoß.
V. Keine Lösung? Es ist also die – vom Inhaltlichen ganz unabhängige – Frage aufgeworfen: Wie gelangt der Mensch zur Kompetenz, ethisch zu handeln? Die Antwort ist so einfach wie altmodisch: durch Bildung! Hier liegt unser Hauptproblem. Denn was ist Bildung heute – und vor allem, wie bringen wir sie voran? Damit kein Missverständnis entsteht: Bildung braucht jeder. Man sollte nicht hochmütig meinen, auch der Schreinermeister handele nicht auf ethischer Grundlage. Gerade das Handwerk zeigt in dieser Hinsicht durchaus
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eine gute Tradition. Wir reden hier aber von den Berufen, die gemeinhin zu den akademischen Berufen gezählt werden. Das sind vor allem die, denen wichtige allgemeine Güter anvertraut sind: Gesundheit, Recht, menschenwürdiges Wohnen. Sie bedürfen einer Bildung, die noch immer als akademisch bezeichnet wird. Bildung hat mehrere Grundlagen: Ausbildung, Lebenserfahrung, aber auch persönliche Anlagen. Ausbildung, von der hier die Rede sein soll, fußt auf zwei Pfeilern: der Praxis und der Theorie. 1. Die praktische Ausbildung will ich hier nur kurz streifen, wenn sie auch in Deutschland besonders im Argen liegt. Praktische Ausbildung bedeutet, dass unter Anleitung eines Vorbilds die Wirklichkeit erprobt wird. Gelingt dies, dann wird der Geselle wie der Meister. Dann kommt es zu einer berufsethischen Tradition, wie die heutige unbedachte Welt den Zünften ganz zu Unrecht vorgeworfen hat. Selbstverständlich will niemand wieder das Zunftwesen herstellen; aber es führt kein Weg daran vorbei, dass das den Beruf vorlebende Vorbild stärkste berufsprägende Kraft hat. Die Österreicher verwenden dafür das schöne Wort „Nostrifizierung“. Leider hat sich die praktische Ausbildung in Deutschland immer weiter von diesem Ideal entfernt. Denn der Jurist wird in Deutschland nicht zum Anwalt, sondern zum Richter ausgebildet (wobei, am Rande vermerkt, die deutsche Juristenausbildung auch das nicht mehr leistet). Früher war das tragbar: Erstens machte das Forensische den überwiegenden Teil des Anwaltslebens aus und zweitens hatte praktisch jeder Abgänger die Chance, nach dem Staatsexamen den Anwaltsberuf in praxi bei einem Senior lernen zu können. Diese Zeiten sind vorbei. Von 10.000 Abgängern pro Jahr werden 8.000 Anwälte. Davon findet höchstens die Hälfte eine Stelle. Die andere Hälfte ist von der Weitergabe des beruflichen Tafelsilbers vom Meister zum Gesellen abgeschnitten. Diese Entwicklung muss, wenn nicht bald etwas geschieht, seine Auswirkungen haben. Der Gesetzgeber hat das Defizit erkannt. Aber er konnte sich nur zur Auflegung von Pflastern entschließen, die Operation steht noch aus: Wir haben heute eine so genannte „anwaltsbezogene Juristenausbildung“, die dann grotesker Weise immer noch zur „Befähigung zum Richteramt“ führt. Anwaltsbezug allein reicht nicht mehr aus: Wir brauchen eine echte Anwaltsausbildung, so wie in allen anderen europäischen Ländern. Der DAV ruft seit zwei Jahrzehnten danach. 2. Für unser Thema steht aber auch die theoretische Ausbildung im Mittelpunkt. Sie wird geleistet durch die Schulbildung, die Ausbildung an der Universität und im Idealfall durch die nachfolgende lebenslängliche Fortbildung in eigener Regie. Dieser Weg enthält einen ganz wichtigen Abschnitt: die wissenschaftliche Ausbildung an der Universität. Denn auch und gerade der Praktiker benötigt eine wissenschaftliche Ausbildung. Worin besteht sie? Sie besteht darin, in die Lage versetzt zu werden, sich einen eigenen Standpunkt zu erarbeiten und zu verteidigen. Was ist selbst eine Doktorarbeit
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anderes? Geprüft wird, wie und auf welchem Wege der Doktorand einen eigenständigen Standpunkt erarbeitet und ihn in der Disputation verteidigt. Eigene Standpunkte, die Bestand haben, die glaubwürdig und belastbar sind, bedürfen einer wissenschaftlichen Grundlegung. Es gilt die Parallele zur praktischen Ausbildung: Die Beschäftigung mit Vorbildern ist unerlässlich, die die Grundlagen unserer Kultur gelegt haben. Deswegen sind Rechtsgeschichte und römisches Recht notwendige Voraussetzungen, um sich in der Praxis bewähren zu können. Wie und mit welchen Gedanken sind andere an die sich stellenden Probleme herangegangen? Die Befassung mit der Methodenlehre schärft nicht nur das bereitgestellte Handwerkszeug; sie schärft auch den Blick für die Relativität jeder Methode und für die Tatsache, wie leicht mit unterschiedlichen Methoden ganz unterschiedliche Ergebnisse aus demselben Text destilliert werden können. Einen ähnlichen Effekt hat die Befassung mit der Rechtssoziologie. Es führt kein Weg daran vorbei, dass auch der objektivste Rechtsanwender nicht von seinem eigenen Dasein völlig abstrahieren kann. Schließlich, und das ist die Zusammenfassung von allem, wird sich in der Praxis nicht wirklich bewähren können, wenn nicht auch Rechtsphilosophie in den mit ihr verbundenen Fragestellungen verinnerlicht ist. Denn sie ist es, die die Neugier weckt und fördert, Neugier aber ist notwendig, um in der sich ständig ändernden Welt den Halt nicht zu verlieren und kreativ außerhalb der ausgetretenen Trampelpfade neue Lösungen für alte und neue Probleme zu finden. Platons Höhlengleichnis ist nicht nutzlose gedankliche Spielerei, sondern ein grandioses Beispiel des Bemühens, sich mit den Phänomenen dieser Welt zurechtzufinden. Wissenschaftliche Betätigung in der Ausbildung ist nicht verlorene Zeit, welche man sich, da nicht examensrelevant, am einfachsten ersparen könnte: Nein, sie ist beste Vorbereitung dafür, in der Praxis bestehen zu können. Sie liefert die Koordinaten, die vorgegebene Regeln nicht liefern können. Nur sie gibt festen Grund bei der Beantwortung der Frage: „Was soll ich tun?“ An dieser Stelle endet aber das Rezept der oben zitierten Aufsatzgewinner. Wie sollte der heutige Anwalt zur geforderten Selbstverpflichtung gelangen, wenn ihm – wie dort empfohlen – der Zugang zu den „Werken von Immanuel Kant, Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel oder etwa John Rawls“ gar nicht mehr vermittelt wird und er mit dem Begriff „Kohärentismus“ nichts anfangen kann? Das vorgegebene Thema des Aufsatzwettbewerbs zielte eben in die falsche Richtung: Es geht heute nicht mehr um die Frage eines gemeinsamen Pflichtenkodex, sondern darum, wie der Einzelne auf sich gestellt ethisch handeln kann. Die Berufspraxis des Anwalts hat die wissenschaftliche Ausbildung an der Universität zur Voraussetzung – sie vermittelt die Fähigkeit, im richtigen Augenblick ethisch begründet zu handeln. Deswegen sollten wir Praktiker uns auch davor hüten, in die Universität hinein zu regieren. Wir sind nicht die Fachleute der wissenschaftlichen Ausbildungsvermittlung. Selbstver-
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ständlich schließt das nicht aus, dass Anwälte an den Universitäten mitwirken, auch als Honorarprofessoren. Aber die Regie muss beim Wissenschaftsbetrieb liegen. Deswegen wäre es auch falsch, wenn die Fakultäten Berührungsängste mit den Berufsverbänden haben würden, wie dies bis vor wenigen Jahren noch der Fall gewesen ist. Wir Praktiker müssen vielmehr die Universitäten stärken in ihrem Bemühen, Wissenschaft allen zu vermitteln und nicht nur an eine kleine Elite, wie das heute leider beklagt werden muss. Damit ist auch das Entscheidende zum Prozess von Bologna gesagt. Sollte die (noch immer offene, aber sehr umstrittene) Einführung des Bachelor dazu führen, dass eine große Zahl von nur so genannten „Akademikern“ erzeugt wird, die jedoch keine wissenschaftliche Ausbildung haben, so muss dieser Etikettenschwindel auf Dauer zu schweren Schäden führen. Jedenfalls sollte sicher sein, dass Akademiker, insbesondere Angehörige der Freien Berufe, zum Schutz der ihnen anvertrauten Rechtsgüter den Beruf nur dann sollten ergreifen können, wenn sie über eine wissenschaftliche Ausbildung verfügen. Ob diese in einer vierjährigen Bachelor-Ausbildung oder erst mit dem Master vermittelt wird, ist dann eine zweitrangige Frage. Mit anderen Worten: Wer einem erleichterten massenhaften Zugangs zum Anwaltsberuf das Wort redet und der Meinung ist, der normale Praktiker habe mit Wissenschaft sowieso nichts zu tun, der vernichtet auf Dauer den Anwaltsberuf so wie wir ihn seit wenigstens zwei Jahrhunderten kennen – und er vernichtet den offenen Zugang des Bürgers zum Recht. Der aufmerksame Beobachter der Szene muss manchmal den Eindruck gewinnen, solches werde mindestens billigend in Kauf genommen. Kafkas Türsteherparabel lässt grüßen! Dort, wo die Persönlichkeit als solche gefragt ist, nämlich im Bereich des Berufsethos, ist eine wissenschaftliche Ausbildung also unverzichtbar. Würde sie abgeschnitten, wäre die berufsethische Haltung der meisten Freiberufler, wie sie heute noch besteht, auf Dauer nur noch eine Reminiszenz aus der Vergangenheit. Wer nicht wissenschaftlich vorgebildet ist, stellt auch die notwendigen Fragen nicht mehr – er weiß ja gar nicht, dass sie existieren. Hier ist also nicht etwa der Freiberufler als Popanz eines idealistischen Gutmenschen gemeint – wie das leider bei Diskussionen zur Ethik oft vermutet wird –, sondern der Mensch mit begründetem Standpunkt im Dienst des Rechtsguts, das es zu verteidigen gilt. Es ist unsere Aufgabe, ihn zu erhalten. Vertrauen – das Hauptschlagwort unserer heutigen Gesellschaft – ist die Grundlage von allem. Nachdem die Schrift „Vertrauen“ von Niklas Luhmann seit 1967/1968 (!) zunächst resonanzlos verhallte, ist Vertrauen von oben bis unten heute in aller Munde. Ohne Vertrauen keine Anwaltstätigkeit. Aber es geht eben nicht nur um Vertrauen in die fachliche Kompetenz – das ohnehin. Es geht ganz besonders um das Vertrauen in die Person, die einen festen Standpunkt einnimmt – eine durchaus seltene Erscheinung in unserer heutigen Welt. Sie definiert sich doch nicht damit, dass sie den corporate codex einhält und den Whistleblower fürchtet!
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Man kann sich fragen, ob die heutige Welt berufsethisches Verhalten, ja ethisches Verhalten generell, überhaupt noch will. Dabei soll nicht auf die Bedrohungen eingegangen sein, die die überall grassierende rein betriebswirtschaftliche Betrachtungsweise, sozusagen die Religion Betriebswirtschaft, mit sich bringt – die gewachsene Kultur nach und nach zerstören kann. Nur erwähnt werden soll auch, wie sehr der terroristische Impetus seit dem 11. September einerseits und seine oft unbedacht überbordende Gegenwehr der für die Sicherheit Verantwortlichen andererseits nicht nur in Amerika gerade diese Kultur jedenfalls des Abendlandes in Zweifel ziehen. Es drängt sich aber der bestimmte Eindruck auf, dass selbstverantwortliches Handeln von Individuen in allen Gesellschaften jedenfalls politisch mit Skepsis betrachtet wird. Zwar steht die Freiheit für alle heute obenan, als Plakat. Gemeint ist aber die verordnete Freiheit, nicht die selbst erfundenen Freiheit – was die Bevölkerung erst bemerkt, wenn es ernst wird. Daraus resultiert die überbordende Regulierungswut gerade unter dem Etikett „Ethik“. Vielleicht waren Aufklärung und Individualismus in der Geschichte ein Betriebsunfall; vielleicht wird auf diesem Feld überall nach und nach zurückgebaut. Ein freier Bürger, der (mit Hilfe seines vertrauten Beraters) einen festen Standpunkt hat, ist schwer zu verwalten – einem übergewichtigen Staat ist das nicht bequem. Wie sehr individuelle Freiheit und Wissenschaftlichkeit zusammen gehören, kann dem berühmten Vortrag von Julius Hermann von Kirchmann entnommen werden, den er im Jahre 1847 bei einer juristischen Gesellschaft in Berlin unter dem Titel: „Von der Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“ gehalten hat. Den Gegenstand der Jurisprudenz schildert er in seinem Vorspruch wie folgt: „Alle Verfassungen sind deshalb für die Autoritäten Waffenstillstände, welche sich nur dadurch erhalten, dass jedem Teile die ihm nach den tatsächlichen Verhältnissen entsprechende Macht darin zugeteilt ist und dass ihm die Macht, ein Mehreres zu gewinnen, zur Zeit fehlt.“ Ein Satz, der am Vorabend von 1848 verständlich war. Es besteht die Befürchtung, dass dieser bedenkliche Satz heute mehr denn je seine Berechtigung hat. Dass der Staat in der Bildungsfrage versagt und dass die Ausbildungsreform der Juristen nicht vorankommt, sind jedenfalls Leuchtfeuer am Horizont. Statt dessen stärken wir ihn durch unsere unbedachte Regulierungswut in allen Bereichen selbst.
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VI. Der Hunger nach Vorbildern Kommt man zum Ergebnis, dass es vor diesem Hintergrund falsch wäre, wenn z.B. der Deutsche Anwaltverein „Richtlinien für die Ausübung des Anwaltsberufs“ oder die Bundesrechtsanwaltskammer „Standsrichtlinien“ aufstellen würden, so muss doch zur Kenntnis genommen werden, dass die durch das veraltete Ausbildungssystem allein gelassene junge Generation nach Haltepunkten ruft. Wenn – wie dargestellt – viele Berufsbeginner den Anwaltsberuf gar nicht gelernt haben, weder im Referendarsdienst noch in einer Einstiegsstelle in einer Anwaltskanzlei, dann stellt sich die Frage, welche Hilfestellung die beruflichen Organisationen geben können. An vielen Punkten geschieht dies allenthalben: Anwaltsvereine unterrichten Berufsanfänger über lokale Gepflogenheiten und lassen erfahrene Kollegen über berufliche Grenzsituationen berichten. Kammern stehen auf Anfragen zu konkreten Berufssituationen zu Verfügung. Alle, die in Anwaltsorganisationen ehrenamtlich oder hauptamtlich tätig sind, wissen von diesem Anfragedruck ein Lied zu singen. Aber alle diese Bemühungen sind Tropfen auf viele heiße Steine. Es stellt sich – solange sich das Ausbildungssystem überholter Prägung perpetuiert – die Frage, ob nicht doch die Benennung von Standards weiterhelfen könnte. Der Deutsche Anwaltverein nannte seine Vorgabe 1930 nicht umsonst Standes-„Auffassungen“ und auch die Standesrichtlinien verstanden sich ursprünglich selbst ja nur als die Wiedergabe dessen, wie seriöse Berufsvertreter ihre Berufsausübung verstehen. Letzteres zeigt aber auch das Problem auf, unter welchem wir jedenfalls in Deutschland unabänderlich zu leiden haben: Jede Empfehlung droht über kurz oder lang unerbittlich zum Gegenstand von Administrierung und Sanktionierung zu werden. Die Standsrichtlinien waren ja ursprünglich gut gemeinte Empfehlung – sie wurden erst durch die nachfolgende ehrengerichtliche Rechtsprechung zum Disziplinierungsinstrument. Deswegen könnte die Lösung vielleicht zwischen Skylla und Charybdis in Empfehlungen liegen, die folgendes Muster haben: Die erfahrene Anwaltschaft gibt Dir Adressat die Empfehlung, in einem definierten Fall so und so zu verfahren. Du Adressat, bedenke: dies ist nur eine Empfehlung. Kennte der Empfehlende Deinen jetzigen Fall, so würde er vielleicht eine ganz andere Empfehlung geben. Fürchte Vorwürfe nicht, die Dir andere machen könnten, wenn Du die Empfehlung nicht befolgt hast – fürchte eher den Vorwurf, den Du Dir selbst machen könntest, dass Du so und nicht anders gehandelt hast. Zu Beginn oder am Ende eines nach diesem Muster aufgebauten Kataloges sollte dann die allgemeine Anweisung stehen:
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Du Anwaltsgericht / Du Gericht, bedenke: diese Empfehlungen können nur sehr eingeschränkt als Auslegungsregel für Beurteilung des Dir vorgelegten Falles dienen. Hätte der Verfasser dieser Empfehlungen ihn vorher gekannt, hätte er möglicherweise genau die (dann anders lautende) Empfehlung gegeben, nach der vorliegend verfahren worden ist. Diese Verfahrensweise entspräche einer freiheitlichen Rechtskultur, wie wir sie in der BRAO auch von der dort statuierten, gottlob sanktionslosen allgemeinen Fortbildungspflicht kennen. An ihr sollten wir arbeiten. Das Gestrüpp von corporate codixes, compliance-Zwang und Whistleblowerwesen führt in die Unfreiheit.
Veränderungen und Bedrohungen des anwaltlichen Berufsbildes Marion Westpfahl
Die Prägung des anwaltlichen Berufsbildes erfolgt – jedenfalls bislang – maßgeblich durch die Individualität der anwaltlichen Berufsträger. Einbußen der berufsprägenden Individualität haben verschiedene Ursachen. Sie resultieren jedenfalls auch aus verstärktem Einfluss der anglo-amerikanischen Berufskultur. Der Gesetzgeber und namentlich auch die verfassungsgerichtliche Judikatur vermitteln ein Bild vom Idealtypus des Anwalts, das sich in der Realität zunehmend selten wiederfindet. Festgemacht an dem gesetzlichen Postulat, wonach der Anwalt unabhängiges Organ der Rechtspflege ist (§ 1 BRAO), werden Vorstellungen von und Erwartungen an diese Berufsgruppe formuliert, die auf dem Prüfstand sich ausbreitender Berufsrealität oftmals als geradezu grotesk verfehlt anmuten müssen. Wie gezeigt werden soll, brechen die entscheidenden Säulen möglichst unabhängiger, eigenverantwortlicher Advokatur als auf Dauer unverzichtbarer Voraussetzung des mit umfassenden Rechten und Pflichten ausgestatteten anwaltlichen Berufsbildes zu Gunsten einer dominant ertragsverpflichteten, anonymisierten Fremdbestimmung weg. Unbestreitbar ist in diesem Zusammenhang, dass die galoppierende Veränderung des Berufsbildes unter anderem in dem zunehmenden Einfluss anglo-amerikanischer Kanzleien auf die bundesrepublikanische Anwaltsszene eine gewichtige Ursache hat. Beleg für die Richtigkeit dieser Feststellung ist die Tatsache, dass sich in der Berufsrealität der deutschen Anwaltschaft zwei gewichtige Enklaven ursprünglicher Prägung erhalten haben: Es handelt sich um die reinen Strafverteidigerkanzleien und die exklusive Gilde der BGH-Anwälte. Die Individualität der Leistungserbringung ist in diesen beiden Gruppierungen zwangsläufig schon deshalb ausgeprägt, weil BGH-Anwälte maximal in Zweier-Sozietäten tätig sein dürfen und sich Strafverteidiger üblicherweise allenfalls in kleinen Sozietäten verbinden. Anglo-amerikanische Einflüsse existieren hier noch nicht.
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I. Vorstellungen vom Anwaltsberuf 1. Dick The Butcher William Shakespeare lässt in seinem Drama Heinrich VI. Dick the butcher als hoffnungsfrohes Zukunftspostulat formulieren: „The first thing we do, let’s kill all the lawyers“1. Diese Aufforderung gleichermaßen blutrünstig wie vermeintlich heilstiftend besagt über die Haltung gegenüber den Anwälten eine ganze Menge. Dies insbesondere deshalb, weil die Anwälte zweifelsfrei nicht beliebig austauschbares, willkürlich gewähltes Mordopfer sein sollten, vielmehr eine gesellschaftliche Gruppe, für deren Beseitigung Dick the butcher sich mit seinen Mitstreitern einig glaubte und deren Beseitigung aus seiner Sicht vor der Erledigung weiterer Schritte vordringlich war. Was muss die lawyer ausgezeichnet haben, dass sie aus Sicht der Aufständischen eine derart herausgehobene, wenn auch fragwürdige Stellung in der Prioritätenliste einnahmen? Agressionspotential, das sich in der Situation kollektiver Rebellion entlädt, wurde in der Vergangenheit oftmals durch Empfindungen der Unterlegenheit, sogar des Ausgeliefertseins gegenüber überlegener Technik der Machtausübung genährt. Wie ein Katalysator wirkt die Überzeugung, in der Vergangenheit nicht bekommen zu haben, was einem von Rechts wegen zustünde. Vor diesem Hintergrund begegnen uns die Anwälte in der Vorstellung Shakespeares möglicherweise als im System integrierte Garanten des Machterhalts, mitwirkend an Verhaltensweisen, die als Unrecht erlebt und empfunden wurden. Jedenfalls so bedrohlich und bedeutend, dass sie als erste beseitigt werden mussten, sollte der Neuanfang nach dem Umsturz gelingen. Dergestalt interpretiert klingt das Shakespeare-Zitat wie ein Ruf nach Gerechtigkeit und Freiheit in dem Bewusstsein, dass insbesondere die Anwälte der Verwirklichung dieser Ziele entgegenstehen. Tatsächlich belegt der Ausruf von Dick the butcher jedoch, welch hohes Ansehen die Anwälte genossen als Hüter der Wahrheit, die deshalb beseitigt werden mussten, weil nur so der legitime König entmachtet und das Unrechtsregime des Ursupators Jack Cade errichtet werden konnte. Dick the butcher war nämlich keineswegs ein aufbegehrender Freiheitskämpfer, vielmehr ein Mordgeselle in der Bande des nach illegitimer Macht strebenden Jack Cade. Es war somit höchstes Ansehen der Anwälte, das in dem Mordaufruf zum Ausdruck kommt. Und es stellt sich die Frage, ob sich der Berufsstand der Anwälte heutzutage ebenfalls (noch) hohen Ansehens erfreuen darf.
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Heinrich VI. Dick the butcher, Teil II, 4. Akt, 2. Szene.
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2. Das Anwaltsbild der Öffentlichkeit Ohne Frage wird das Bild, das die Öffentlichkeit von Anwälten hat, stark von forensisch tätigen, so genannten Star-Anwälten geprägt, die ihrerseits ihr Verhalten oftmals an durch Fernsehserien (auch amerikanischen Ursprungs) geweckten Erwartungen orientieren. Der Anwalt erscheint hier als kraftvoll und entschlossen handelnd, unbedingt dem Interesse des Mandanten verpflichtet, den es „rauszuhauen“ gilt. Das juristische Können tritt hierbei völlig in den Hintergrund. Es wäre vom breiten Publikum ohnehin nicht zu beurteilen. Bewundert wird die taktische Intelligenz der Aktionen in- und außerhalb der Hauptverhandlungen, oftmals unterstützt von nicht-juristischen Hilfstruppen bei der Aufklärung einer möglichst unwahrscheinlichen und fern liegenden Wahrheit. Dieses prägende Bild der Allgemeinheit geht durchaus einher mit einer gewissen Anerkennung, wie sie dem entgegengebracht wird, der über Fähigkeiten verfügt, die dem Betrachter fehlen. Mit wirklichem Ansehen hat dies jedoch nichts zu tun. Tatsächlich wird anwaltliches Agieren verbreitet als moralisch fragwürdig, der Erfolg des Anwalts vielfach als ethisch nicht gerechtfertigtes Ergebnis seiner Verdrehungs- und Verwirrungskunst angesehen. Unterstellt wird hierbei, dass die Berufsgruppe der Anwälte sich im Übrigen von eigenem Vorteilsdenken leiten lässt, somit eine altruistische Motivation nicht für sich in Anspruch nehmen kann. Des dienenden Elements bedarf es jedoch, soll sich in der Beurteilung der Allgemeinheit die Anerkennung beruflicher Leistung in Ansehen eines Berufsstandes wandeln. 3. Die Erwartungen des Gesetzgebers und der Rechtsprechung an die Anwälte Die §§ 1 bis 3 BRAO unternehmen den Versuch, den Beruf des Anwalts zu definieren und verschiedene berufsprägende Postulate aufzustellen. Gleichermaßen werden Kernrechte und -pflichten umrissen, die auf Grund ihrer Gleichrangigkeit in einem Spannungsfeld stehen. Indem der Anwalt seine Dienste als unabhängiger Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten anbietet und erbringt (§ 3 Abs. 1 BRAO), wird er freiberuflich (§ 2 Abs. 1 BRAO) als unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) tätig. Weder über die Begrifflichkeit des Organs der Rechtspflege noch über den Inhalt der freiberuflichen Berufsausübung ist hiermit etwas ausgesagt. Dies ist für Rechtsprechung und Literatur wiederholt Anlass gewesen, sich mit dem Kern der gesetzlichen Vorgaben des anwaltlichen Berufsbildes und den hiermit verbundenen Zielsetzungen und Auswirkungen zu befassen. a) Insbesondere der Status als Organ der Rechtspflege wurde wiederholt untersucht. In seinem Beschluss vom 8.10.1974 meinte das BVerfG den Inhalt der Organstellung wie folgt definieren zu können:
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„Nach § 1 BRAO ist der Rechtsanwalt ein unabhängiges Organ der Rechtspflege. Sein Beruf ist ein staatlich gebundener Vertrauensberuf, der ihm eine auf Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtete amtsähnliche Stellung zuweist.“ 2
Zutreffend stellt Krämer fest,3 die Rechtsprechung des BVerfG sei dahingehend zu bilanzieren, dass die Formel vom Organ der Rechtspflege Leerformel bleibt, insbesondere das Verhältnis von freiberuflicher Tätigkeit, sowie Unabhängigkeit des Rechtsanwalts einerseits und Stellung als Organ der Rechtspflege andererseits nicht geklärt wird.4 Der Versuch, durch Zuweisung einer amtsähnlichen Stellung der anwaltlichen Organstellung klarere Kontur zu geben, ist verfehlt. Diese Qualifizierung beinhaltet Elemente staatlicher Reglementierung und Einengung, die dem anerkannten Grundsatz der freien Advokatur5 zuwiderlaufen. Dass die freie Berufsausübung „staatliche Kontrolle und Bevormundung prinzipiell ausschließt“, hat das BVerfG im Übrigen zuvor selbst betont.6 Bereits die Tatsache, dass der Anwalt den Interessen des Mandanten in rechtlich erlaubtem Maße verpflichtet ist, somit im besten Wortsinne unbedingt parteiisch agieren muss, während staatliches Handeln zwingend unparteiisch ist, belegt, dass der Anwalt keineswegs eine amtsähnliche Stellung inne hat. Mit einer der Amtsausübung nachempfundenen Berufsauffassung würde sich der Anwalt vielmehr im Widerspruch zum gesetzlichen Leitbild des den Mandatsinteressen verpflichteten Dienstleisters gemäß § 3 BRAO befinden. Zwar ist die Rechtspflege, der der Anwalt als Organ angehört, eine öffentliche Aufgabe.7 Die somit vorliegende öffentliche Funktion des Anwalts ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einer staatlichen oder auch nur staatlich gebundenen Tätigkeit. Die gesetzlich vorgegebene Unabhängigkeit des Anwalts steht einer anderen Sicht entgegen. Diese Unabhängigkeit wird im Übrigen in erster Linie im Spannungsfeld zu Organstellung gemäß § 1 BRAO untersucht, während andere Aspekte der sich verändernden Berufsrealität, durch die die Unabhängigkeit des Anwalts beeinträchtigt wird, vernachlässigt werden. Es wird hierauf zurückzukommen sein. Organ der Rechtspflege im Sinne von § 1 BRAO bedeutet somit das gleichwertige Mitwirken der Anwaltschaft an der Gewährleistung und Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, deren unverzichtbarer Teil sie in ihrer Unabhängigkeit ist. Die Rechtspflege ist als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips in Artikel 20 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich verankert. Als Organ der 2
BVerfG NJW 1975, 103 ff. NJW 1975, 849 ff. 4 NJW 1975, 851. 5 Vgl. hierzu: L. Müller Die Freiheit der Advokatur. Ihre geschichtliche Entwicklung während der Neuzeit und ihre rechtliche Bedeutung in der Bundesrepublik Deutschland, Diss. Würzburg 1972. 6 NJW 1973, 696; BVerfG NJW 1964, 1560. 7 So richtig Krämer in: Abgrenzung zur originären Staatsaufgabe, NJW 1975, 852. 3
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Rechtspflege unabhängig Dienste anbieten und erbringen zu können, ist auf Seiten des Anwalts über Artikel 12 GG grundgesetzlich geschütztes Recht, wie aus Sicht des rechtsuchenden Bürgers sein Anspruch, seine Interessen durch einen frei gewählten, unabhängigen Anwalt wahren zu lassen im Rechtstaatsprinzip seine verfassungsrechtliche Grundlage findet.8 b) Vielfach wurde ein vermeintlicher Widerspruch zwischen der Organstellung des Anwalts einerseits und der Tatsache der Erbringung von Dienstleistungen für und im Interesse des Mandanten untersucht.9 Weiter zugespitzt wird ein Konflikt Ethos versus Kommerz beschworen.10 Es wird der Frage nachgegangen, ob und gegebenenfalls wie sich die Anwaltschaft angesichts veränderter Marktbedingungen ethisches Berufsverhalten noch leisten kann. Zutreffend formuliert Kilger einprägsam: „Das größte Problem für die Anwaltschaft ist das Problem des massenhaften Zugangs“ und warnt, dass schiere Quantität in negative Qualität umzuschlagen drohe.11 In der Tat stellt es eine Bedrohung ethischer Essentialia des Anwaltsstandes dar, wenn sich viele Rechtsanwälte notgedrungen angesichts explodierender Zulassungszahlen in erster Linie dem eigenen, bescheidenen Überleben und weniger dem hehren Idealtypus ihres Berufsstandes verpflichtet fühlen. Mit einem Zustrom von 8.000 Neuzulassungen jährlich bewegt sich die Gesamtzahl der Rechtsanwälte in Deutschland in absehbarer Zeit auf 200.000 zu. Die Entwicklung der Zulassungszahlen ist bedrückend. Gleichermaßen gilt dies für die Umsatzzahlen.12 Das Problem wird besonders deutlich daran, dass 1931 ein Anwalt 3.800 Einwohner zu versorgen hatte, während die Zahl im Jahre 2008 auf nur noch 550 gesunken ist.13 Selbst wenn man die berufliche Lebensrealität vieler Anwälte nicht auf die Brecht’sche Erkenntnis der Dreigroschenoper reduzieren will: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“14, kann nicht verkannt werden, dass ein am Bedarf vorbei überschwemmter Berufsstand sich zwangsläufig von dem durch den Gesetzgeber und die Rechtsprechung umrissenen Idealtypus wegentwickeln wird. Entsteht ein Anwaltsproletariat, das primär dem eigenen wirtschaftlichen Überleben verpflichtet ist, verkümmern Grundsätze, wie die seit Rudolf von Gneist (zurecht) hochgehaltene „Freie Advocatur“ 15, zu allenfalls wehmütig erinnerten Reminiszenzen. Die ernste Bedrohung für den Ethos des Anwalts8
BVerfG NJW 1973, 696. Kilger AnwBl. 2004, 402. 10 Hellwig AnwBl. 2004, 219. 11 Kilger AnwBl. 2004, 404. 12 Statistik der Rechtsanwaltskammer unter http://rsw.beck.de/rsw/shop/default.asp? sessionid=F9C6C5EECA454448BCC983FF1. 13 Hellwig AnwBl. 2008, 721. 14 Brecht Dreigroschenoper, 1928. 15 Rudolf von Gneist Freie Advocatur: Die erste Forderung aller Justizreformen in Preußen, Springer, 1967. 9
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standes stellt somit weniger die Kommerzialisierung als die Proletarisierung dieses Berufs dar, der mit einer Professionalisierung – an Stelle des Kommerz –, wie von Henssler gefordert, nur in den etablierten Anwaltskreisen zu begegnen sein wird.16 Demgegenüber sind die Auswirkungen des Rechtsdienstleistungsgesetzes (RDG) vom 12.12.2007 für das anwaltliche Berufsbild eher gering. Das Rechtsberatungsmonopol wurde weitgehend erhalten.17 Allerdings ist zu befürchten, dass von den, wenn auch sehr übersichtlichen Einschränkungen des Anwaltsmonopols namentlich die betroffen sein werden, die auf die Erteilung anwaltlichen Rats und juristischer Dienste schlichterer Qualifikation, beispielsweise während des Aufbaus ihrer beruflichen Existenz angewiesen sind.18
II. Kernpflichten und Rechte des Anwalts Einhellig wird eine Trias anwaltlicher Kernpflichten festgelegt: 19 – die Unabhängigkeit – die Schweigepflicht – das Verbot widerstreitender Interessen In Inhalt und Umfang sind diese Postulate nur vermeintlich klar und eindeutig mit der Folge, dass auch ein Verstoß unschwer feststellbar sein müsste. 1. Unabhängigkeit des Anwalts Anerkannt ist, dass dieser Begriff von dem der Selbstständigkeit abzugrenzen ist, andernfalls allen im Anstellungsverhältnis tätigen Anwälten – zu Unrecht – die Unabhängigkeit ihrer Berufsausübung abzusprechen wäre.20 Konsens besteht darüber hinaus, dass Unabhängigkeit im Sinne der Gneist’schen „Freien Advocatur“ die Abwesenheit staatlicher Bevormundung und Reglementierung beinhaltet.21 Fraglich bleibt, ob weitere Voraussetzungen gegeben sein müssen, um von einer unabhängigen Berufsausübung sprechen zu können. Jedenfalls ökonomische Realitäten sind geeignet, diese Unabhängigkeit nachhaltig zu verengen, wenn beispielsweise der gesamte Kanzleiapparat, die personelle und sachliche Ausstattung auf ein Mandat zugeschnit-
16 17 18 19 20 21
Henssler AnwBl. 2008, 723. A.a. Kleine-Cosack BB 2007, 2637. Vgl. hierzu im Einzelnen: Henssler/Deckenbrock DB 2008, 41. Henssler AnwBl. 2008, 724 mwN. Henssler AnwBl. 2008, 724. Rabe AnwBl. 2004, 65.
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ten und von diesem abhängig ist. Die anwaltliche Tätigkeit wird mehr oder minder in einer ausgelagerten Rechtsabteilung betrieben, verbunden nicht nur mit vollständiger wirtschaftlicher Abhängigkeit, vielmehr im Ergebnis eingebunden in die Weisungs- und Entscheidungsstrukturen des Mandanten. 2. Schweigepflicht Die Schweigepflicht ist berufsethische (§ 2 BORA), strafbewehrte (§ 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB) Grundlage des Zeugnisverweigerungsrechts und der Beschlagnahmefreiheit (§§ 53 Abs. 1 Nr. 3, 97 StPO). Diese Privilegien gründen auf der Einbindung der Anwälte in das Rechtspflegesystem. Wird diese Einbindung als lästige Einengung empfunden und bekämpft, gelockert oder gar beseitigt, demontiert die Anwaltschaft eben diese Basis und damit eine wesentliche Grundlage der mandatsprägenden Vertrauensbeziehung und ihrer eigenen Privilegien. Gleichermaßen geschieht dies durch die verbreitete Erosion der Schweigepflicht. Vielfach in Vergessenheit geraten ist, dass bereits die Tatsache der Mandatsbeziehung regelmäßig der Schweigepflicht unterfällt. Tatsächlich findet sich der angesehene oder zumindest Bekanntheit genießende Mandant häufig in der Rolle des unfreiwilligen Werbeträgers seines Anwalts wieder. Angesichts dieser Entwicklung wäre zu überdenken, ob – wie die h. L. meint – § 203 StGB tatsächlich ganz überwiegend nur dem Individualrechtschutz dient 22, während das Allgemeininteresse unter anderem in die Vertrauenswürdigkeit der Anwaltschaft nur mittelbaren Schutz genießt. Dies hat zur Folge, dass, anders als beispielsweise in Frankreich, der Anwalt durch den Mandanten von seiner Verschwiegenheitsverpflichtung entbunden werden kann. Eine weitere Gefahr für die Schweigepflicht und das mit ihr korrespondierende Zeugnisverweigerungsrecht und die Beschlagnahmefreiheit droht durch das sich verändernde Verhältnis zwischen individueller Freiheit einerseits und kollektivem Sicherheitsbedürfnis und angeblich ihrem Schutz dienenden staatlichen An- und Eingriffen. Zu Recht warnt Limbach 23 vor dem individuelle Freiheitsrechte fortschreitend demontierenden Präventionsstaat. Wie weit diese Entwicklung bereits fortgeschritten ist, zeigt Hellwig 24 insbesondere an Hand der europaweit unterschiedlich ausgestalteten Meldepflichten, die beispielsweise in England den Anwalt verpflichten, bezüglich nicht nur künftiger, sondern auch bereits begangener Straftaten die Behörden zu unterrichten. Ähnlich schockierend für ein anwaltliches Berufsverständnis, in dem der Schweigepflicht ein hoher Rang zukommt, sind in den USA der Sarbanes-Oxley-Act und die ihm nachfolgende Verordnung der Security and 22 23 24
BGHZ 115, 133. Limbach AnwBl. 2002, 454 ff. Hellwig AnwBl. 2004, 218.
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Exchange Commission (SEC), mit denen anwaltliches Verhalten reguliert und durch entsprechende Meldepflichten die Pflicht zur Denunziation aus der Mandatsbeziehung gewonnener Kenntnisse von unternehmensinternen Missständen begründet wurde. 3. Verbot des Interessenwiderstreits Das Verbot reicht weiter als die Strafnorm des § 356 StGB, des Parteiverrats. Anders als bei der Schweigepflicht wird das Ansehen der Anwaltschaft und die Rechtspflege insgesamt neben den Individualinteressen des Mandanten als geschütztes Rechtsgut anerkannt und damit der Privatdisposition grundsätzlich entzogen.25 Für den Bereich des § 3 BORA ergibt sich eine weitgehende Einschränkung der Dispositionsfreiheit e contrario aus § 3 Abs. 2 Satz 2 BORA, der eine Einverständnismöglichkeit nach umfassender Information des Mandanten eröffnet, wenn die Interessenkollision nicht in der Person des unmittelbar mandatierten, sondern eines anderen mit diesem in Berufsausübungs- oder Bürogemeinschaft verbundenen Anwalts vorliegt. Bekanntlich versuchen große Sozietäten, Interessenkonflikte oder gar tatbestandliches Handeln gemäß § 356 StGB über den Einsatz von Computerprogrammen zu vermeiden.26 Die Veränderung anwaltlicher Kultur wird mit der Notwendigkeit, Interessenkonflikte mittels Datenabgleich festzustellen, besonders deutlich. In der Person der konkret mandatierten Anwaltspersönlichkeit ist nämlich keine Kenntnis darüber vorhanden, welchen (unter Umständen gegenläufigen) Interessen der Kanzleiverbund, in dem er tätig ist, ansonsten verpflichtet ist. Notwendigerweise verliert bei einer solchen Konstellation die individuelle Mandatsbeziehung an Bedeutung. Im Übrigen wird mit Blick auf die Frage nach Interessenkonflikten die Kollision zwischen Mandanteninteresse und persönlichem Interesse des Anwalts auf Grund eigenen wirtschaftlichen Engagements neben der beruflichen Tätigkeit im engeren Sinn nicht hinreichend beachtet. Auch um bei vorhandenen oder präsumtiven Mandanten die nachvollziehbare Sorge, die Bereitschaft zur unbedingten Wahrnehmung des Mandatsinteresses sei nicht hinlänglich ausgeprägt, nicht aufkommen zu lassen, werden vielfältige geschäftliche Aktivitäten von Anwälten in verdeckter Treuhandschaft abgewickelt, für das Zustandekommen von Geschäften mit Mandanten ohne dessen Kenntnis Provisionen vereinnahmt. Dass im letztgenannten Fall die Beratung des Mandanten über die Geschäftsrisiken nicht frei von eigenem Abschlussinteresse ist, somit eine krasse Interessenkollision vorliegt, hat sich weitgehend aus dem Bewusstsein vieler Anwälte entfernt.
25 26
BGHSt 15, 332; BGHSt 45, 148. Dombeck BRAK Mitteilungen I/2002.
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III. Einige Aspekte anglo-amerikanischer Anwaltskultur Wenn sich im Zusammenhang mit der Frage nach der Veränderung und möglichen Bedrohung erhaltungswürdiger deutscher Anwaltskultur ein Kapitel Einzelaspekten des anglo-amerikanischen Berufsbildes widmet, liegt dies in der zunehmenden Bedeutung dieser Großkanzleien in Deutschland begründet. 1. Der ehemals als Anwalt tätige US-amerikanische Bestsellerautor John Grisham siedelt seine Kriminalromane überwiegend in dem von ihm erlebten Anwaltsmilieu an. Es begegnet dem Leser eine hierarchisch strukturierte Welt, aufgeteilt zwischen Partnern einerseits und unter geradezu unrealistischen Umsatzvorgaben, die mit absurden Stundenabrechnungen zu erfüllen sind, leidenden angestellten Anwälten andererseits. Hinzu treten Akquisitionstechniken, die in Deutschland auch nach der Liberalisierung des Werbeverbots zu Recht nicht nur verpönt sondern unzulässig sind, wie das aktive Herantreten an Opfer ärztlicher Kunstfehler oder von Unfällen.27 Einige Darstellungen anwaltlichen Tuns und beruflichen Selbstverständnisses mögen literarisch überzeichnet sein. Es gilt dies namentlich für die Charaktere einzelner Figuren. Die romanhaft beschriebene Grundprägung der Anwaltskultur wird jedoch zutreffend dargestellt und verdeutlicht die grundlegenden Abweichungen vom Idealtypus des Anwalts, wie er durch den deutschen Gesetzgeber und die Rechtsprechung beschrieben wird. 2. Nachvollziehbarerweise argumentieren Partner anglo-amerikanischer Großkanzleien mit den Vorteilen und der vermeintlichen Notwendigkeit des so genannten „one-stop-shopping“ 28, das dem Mandanten die Zusammenstellung eines breit aufgestellten Teams erspare, weil er die Fachkompetenz in einem Hause abrufen könne. Zwar besteht kein Zweifel daran, dass grenzüberschreitende Sachverhalte einen besonderen Aufwand anwaltlicher Tätigkeiten nach sich ziehen können, die eine enge und vertrauenswürdige Zusammenarbeit von Kanzleien unterschiedlicher Jurisdiktionen erfordern. Die Notwendigkeit der Mandatsbearbeitung in einer weitgehend anonymen Großkanzlei folgt hieraus jedoch nicht. Tatsächlich läuft der Mandant Gefahr, die Kontrolle und Übersicht über die Mandatsbearbeitung vollständig zu verlieren, wenn grenzüberschreitend unter dem Druck oben erwähnter Umsatzvorgaben stehende Junganwälte sich eifrig abrechenbare Stunden notierend, auf mehr oder minder relevante Fragestellungen stürzen. Diese Abläufe führen in der Konkurrenzsituation der in Deutschland tätigen Anwälte mittelbar zu einer Bedrohung gerade hochqualifizierter, ambitionierter so genannter „Kanzlei-Boutiquen“. Auf Grund der Geschehensabläufe in den „one-stop-shopping“-Kanzleien, die regelmäßig für die Man27 28
OLG Köln, NJW-RR 2002, 547. Kreifels BRAK-Mitteilungen 1/2002, 8.
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danten mit erheblichen Kosten auf Grund hoher abgerechneter Stundenzahl verbunden sind, werden von anglo-amerikanischen Großkanzleien teilweise absurd hohe Einstiegsgehälter gezahlt, die die Möglichkeiten kleinerer Sozietäten übersteigen. Nachvollziehbar erliegen viele begabte, junge Anwälte diesen Verlockungen, auch wenn sie sich in ihren Erwartungen im weiteren beruflichen Weg hin zur Partnerschaft nicht selten enttäuscht sehen oder auch systemimmanente Strukturen der Großkanzlei, wie ein ausgeprägtes Weisungs- und Reporting-System in ihrer Auswirkung auf die persönliche Berufsrealität unterschätzen.29 3. Deutsche Unternehmen und deren Mitarbeiter begegnen im Zuge von Ermittlungen der Security and Exchange Commission (SEC) zunehmend einem hiesigem anwaltlichen Berufsverständnis gänzlich fremden Phänomen anglo-amerikanischer Anwaltstätigkeit. Die Unternehmen beauftragen nämlich amerikanische Kanzleien, auf Unternehmenskosten umfängliche interne Ermittlungen bezüglich etwaiger Unregelmäßigkeiten vorzunehmen. Die Anwälte der beauftragten Kanzlei schwärmen in dem Unternehmen aus, um auf Grundlage der auf den Sarbanes-Oxley-Act (SOA) 30 gestützten, sehr allgemein gehaltenen Anfrage Nachforschungen anzustellen und die Ergebnisse vollständig der SEC zur Verfügung zu stellen. Obwohl vom Unternehmen beauftragt, handeln die Anwälte faktisch als verlängerter Arm der Ermittlungsbehörde SEC und befinden sich damit in einer deutschem Anwaltsverständnis gänzlich fremden Zwitterstellung. Dass in Verfolgung des radikalinvestigativen Auftragsziels durch den äußerst zeitintensiven Einsatz einer Vielzahl von Anwälten zwar aus Sicht der Kanzlei erfreulich hohe Umsätze erwirtschaftet werden,31 steht die Tatsache gegenüber, dass das Vorgehen insgesamt und insbesondere mit Blick auf die Rechte der Mitarbeiter erheblichen rechtsstaatlichen Bedenken begegnet, für die Anwälte auch bei aus dem Rahmen fallenden Verdienstchancen möglicherweise nicht zur Verfügung stehen sollten.32 4. Die so genannten Mega-law-firms nehmen überwiegend als LLPs am Geschäftsleben teil. Die Marken weltweit tätiger anglo-amerikanischer Kanzleien haben keinerlei Bezug mehr zu einer konkreten, einer markanten Anwaltspersönlichkeit. Zwar werden hierzulande Sozietäten vermehrt nicht mehr als BGB- oder Partnergesellschaft, vielmehr als Rechtsanwaltsgesellschaft in Form der GmbH gemäß den §§ 59 c ff. BRAO betrieben. Das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof halten jedoch an einem
29 Vgl. hierzu insbesondere Henssler Die Mega-law-firms und ihre Folgen für die deutsche Rechtskultur, ZZP 2002, 351. 30 SOA (2002 [Pub.L 107-204, 116 Stat 745]). 31 So wurden die Kosten im Fall Siemens zuletzt auf 800 Mio. € einschließlich der tätigen Wirtschaftsprüfer beziffert. 32 Zum Ganzen: Wastl/Litzka/Pusch NStZ 2009, 68.
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Bild gemeinsamer freiberuflicher Berufsausübung fest, in dem der individuellen Vertrauensbeziehung zwischen Anwalt und Mandant und als Voraussetzung hierfür der persönlichen Auswahl des Anwalts erhebliche, schutzwürdige Bedeutung zukommt. Das grundsätzliche Gebot des § 10 BORA, die Namen sämtlicher Gesellschafter auf den Briefbögen bekannt zu geben, wird mit dem Informationsinteresse des Mandanten begründet.33 Er soll in die Lage versetzt werden, selbst etwa widerstreitende Interessen zu beurteilen und zu einer individualisierten Anwaltsauswahl in die Lage versetzt werden. Im Ergebnis wird der Anspruch des Mandanten darauf, als Individuum wahrgenommen zu werden, betont.34 Auch wenn man zugestehen muss, dass das Bedürfnis nach individuellem Wahrgenommenwerden ebenso wie die zuverlässige Kollisionsfeststellung durch den Mandanten im Falle einer Großkanzlei, die die Rückseiten ihres Briefbogens in blasser Schrift im Kleinformat mit Partnernamen bedruckt, etwas weltfremd wirken mag, ist doch die Stützung des hierin zum Ausdruck kommenden Berufsbildes zu begrüßen. Es schützt die Anwaltschaft vor Entindividualisierung und fördert die Anwaltspersönlichkeit, die auch im Team einer Sozietät mit unterschiedlichen Neigungen und Fähigkeiten letztlich Einzelkämpfer in seiner auf Vertrauen gegründeten Verantwortlichkeit für den Mandanten und seine Interessen bleibt.35 In engem Zusammenhang mit diesem von der Rechtsprechung bewahrten Berufsbild steht der Grundsatz der aktiven Mitarbeit in Berufsausübungsgesellschaften. Zutreffend wird sie als zentrale Säule der freiberuflichen Tätigkeit bezeichnet.36 Bloße Kapitalanlagen und stille Beteiligungen sind unzulässig. Dass sich Seniorpartner im Wesentlichen darauf beschränken können, jüngeren Kollegen mit ihrer Erfahrung zur Seite zu stehen, ist anerkannt.37 Zu Recht tritt Henssler 38 dem Resümee der Monopolkommission im Gutachten zur Zulassung des Fremdbesitzes an Rechtsanwaltskanzleien, das 2006 veröffentlicht wurde, entgegen.39 Diese war zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Zulassung nach entsprechenden Vorkehrungen, um zur Vermeidung von Interessenkonflikten eine Transparenz der Eigentümerstellung zu gewährleisten, erfolgen solle. Tatsächlich geht es jedoch um wesentlich mehr, nämlich die Gefährdung anwaltlicher Unabhängigkeit, wenn über Dritteigentümer scheinselbständige Gebilde entstehen, in denen die dort tätigen Anwälte nicht ansatzweise freiberuflich tätig sein können. Dass die
33 34 35 36 37 38 39
BGH NJW 2002, 2163. BGH NJW 2002, 1419. Rabe AnwBl. 2/2004, 65. Henssler BRAK-Mit. 2007, 187 mwN. Lenz WiB 1995, 529. Henssler JZ 1992, 697. BT-Drucks. 16/460, S. 411 f.
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Tätigkeit in einer börsennotierten Anwaltskanzlei sich von einer solchen in einer persönlichkeitsgeprägten Sozietät grundlegend unterscheidet, kann nicht ernsthaft in Zweifel stehen. Der Zusammenschluss zur gemeinsamen Berufsausübung gründet sich auf ein Miteinander von Individuen und ist abzugrenzen von der Tätigkeit in einem entindividualisierten Kapitalgebilde mit Weisungsstrukturen, die ausschließlich dem Funktionieren der Ertragserwirtschaftung dienen.
IV. Resümee Der Umgang der Anwaltschaft mit ihrem Berufsstand und seinen durch Gesetz und Rechtsprechung geformten Prägungen erweist sich zunehmend als nicht hinlänglich sorgfältig. Hierbei wird verkannt, dass für die Berufsausübung essentiell notwendige Privilegien, wie das Zeugnisverweigerungsrecht oder die Beschlagnahmefreiheit, hierdurch zunehmend ihrer Grundlage beraubt werden könnten. Die ohnehin immer mühsamer aufrechtzuerhaltende Qualifizierung der Anwaltstätigkeit als Nichtgewerbe erweist sich keineswegs als rein steuerrechtliche Problemstellung. Nähert sich das Berufsbild der Anwälte zunehmend dem Verhalten sonstiger, ausschließlich ertragsorientierter Dienstleister an, wird sich die Anwaltschaft auch so behandeln lassen müssen. Selbstverständlich verlangt eine am durch Gesetzgeber und Rechtsprechung gezeichneten Idealtypus orientierte Berufsausübung dem einzelnen Anwalt Enthusiasmus für seinen Beruf ab. Eine erfolgreiche Tätigkeit setzt hierbei auch betriebswirtschaftliche Kenntnisse und kaufmännisches Können voraus. Die ernsteste Bedrohung der prägenden Säulen des Anwaltseins ist die Vermassung in zweierlei Hinsicht: Zum einen durch den orientiert am Bedarf geradezu absurden Zustrom in die Anwaltschaft, der äußerst bedenkliche Erscheinungsformen anwaltlicher Existenzen hervorbringt. Zum anderen die entindividualisierte Anwaltstätigkeit in anonymen Anwaltsfabriken, die für eigenverantwortliche Mandatsbearbeitung allenfalls geringen Raum lässt und dominant den streng kontrollierten, fragwürdigen Umsatzvorgaben verpflichtet ist. Bereitwillig wird im Übrigen ein Teil deutscher Rechtskultur geopfert, wenn zu Lasten der Systematisierung nach anglo-amerikanischem Vorbild Vertragswerke den Versuch unternehmen, Einzelfälle unter Inkaufnahme enormen Umfangs zu antizipieren. Die Veränderungen des beruflichen Umfeldes fordern auch von der Anwaltschaft eine adäquate Anpassung. Eine Demontage tragender Säulen anwaltlichen Selbstverständnisses ist nicht veranlasst, vielmehr raubt es diesem schwierigen aber schönen Beruf die Grundlage.
III. Wirtschaftsrecht
Richtlinienkonforme Auslegung im Unlauterkeitsrecht am Beispiel der Irreführung durch Unterlassen nach § 5a UWG Alfred Bergmann I. Einleitung Durch das Erste Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb vom 22.12.2008 (BGBl. I S. 2949), in Kraft getreten am 30.12. 2008 (im Folgenden: UWG 2008), ist die Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken (im Folgenden: UGP-Richtlinie) 1 in das deutsche Recht umgesetzt worden. Die Richtlinie betrifft unlautere Geschäftspraktiken zwischen Unternehmen und Verbrauchern vor, während und nach Abschluss eines auf ein Produkt bezogenen Handelsgeschäfts (Art. 3 Abs. 1 UGP-Richtlinie) und zielt auf eine Angleichung der diese Geschäftspraktiken regelnden Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zu dem Zweck ab, zu einem reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts und zum Erreichen eines hohen Verbraucherschutzniveaus beizutragen (Art. 1 UGP-Richtlinie). Innerhalb ihres Anwendungsbereichs bezweckt die Richtlinie, wie sich aus ihrem Art. 1 und den Erwägungsgründen ergibt, eine vollständige Rechtsangleichung (Vollharmonisierung); die Mitgliedstaaten dürfen also den von der Richtlinie vorgegebenen Schutzstandard im harmonisierten Bereich weder unter- noch überschreiten.2 Obwohl die UGP-Richtlinie nur den Schutz von Verbrauchern vor unlauteren Geschäftspraktiken regelt, hat der deutsche Gesetzgeber sie nicht in einem speziellen Verbrauchergesetz umgesetzt, sondern die Umsetzung ist durch Anpassung des sowohl den Mitbewerber- als auch den Verbraucher1
Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.5.2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. EG Nr. L 149 v. 11.6.2005, S. 22. 2 Vgl. auch Regierungsentwurf des Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb v. 20.8.2008, BT-Drs. 16/10145 (im Folgenden: Regierungsentwurf zum UWG 2008), S. 13 unten.
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schutz umfassenden Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb erfolgt. Diese Vorgehensweise wird im Regierungsentwurf zum UWG 2008 damit begründet, das Verhalten von Unternehmen am Markt sei im Prinzip unteilbar, durch unlauteres Verhalten würden im Regelfall Verbraucher und Mitbewerber gleichermaßen geschädigt.3 Demzufolge sind im Zusammenhang mit der Umsetzung der Richtlinie nur diejenigen Vorschriften des UWG geändert worden, bei denen der deutsche Gesetzgeber einen Anpassungsbedarf aufgrund der UGP-Richtlinie gesehen hat. Vorschriften, die seiner Ansicht nach den Vorgaben der UGP-Richtlinie bereits genügten, sind unverändert geblieben. Diese Form der Umsetzung führt dazu, dass nunmehr grundsätzlich bei allen Vorschriften des UWG 2008 im Anwendungsfall geprüft werden muss, ob sie in ihrer unveränderten oder neuen Fassung mit der UGP-Richtlinie vereinbar sind oder jedenfalls richtlinienkonform ausgelegt werden können. Denn die nationalen Gerichte sind nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften verpflichtet, die Auslegung des in Umsetzung einer Richtlinie ergangenen nationalen Rechts unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihnen das nationale Recht einräumt, soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der betreffenden Richtlinie auszurichten, um das mit dieser verfolgte Ziel zu erreichen.4 Der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung kann dabei auch eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung des nationalen Rechts im Wege der teleologischen Reduktion gebieten.5 Ein besonders ausgeprägter Umsetzungsbedarf bestand hinsichtlich des Unlauterkeitstatbestands der Irreführung durch Unterlassen. Unlautere Geschäftspraktiken in Form irreführender Unterlassungen haben in Art. 7 UGPRichtlinie eine in zahlreiche Details gehende Regelung erfahren, während dieser besondere Irreführungstatbestand im (alten) UWG nur in einem einzigen Satz erwähnt worden war (§ 5 Abs. 2 Satz 2 UWG 2004). Im Folgenden soll ein Blick darauf geworfen werden, wie die gemeinschaftsrechtliche Regelung über irreführende Unterlassungen umgesetzt worden ist und wie die entsprechenden Vorschriften des UWG 2008 richtlinienkonform auszulegen sind.
II. Umsetzung von Art. 7 UGP-Richtlinie Die UGP-Richtlinie verbietet unlautere Geschäftspraktiken (Art. 5 Abs. 1), die in ihrem Art. 5 Abs. 2 allgemein definiert werden. Als besondere Beispiele unlauterer Geschäftspraktiken führt Art. 5 Abs. 4 UGP-Richtlinie die irre3
BT-Drs.16/10145, S. 16. Vgl. nur EuGH Slg. 1984, 1891, Tz. 26, 28 – von Colson und Kamann/NordrheinWestfalen; Slg. 2004, I-8835, Tz. 113 – Pfeiffer u.a./Deutsches Rotes Kreuz, Kreisverband Waldshut e.V. 5 BGH NJW 2009, 427 Tz. 21 f. mwN. 4
Richtlinienkonforme Auslegung im Unlauterkeitsrecht
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führenden und die aggressiven Geschäftspraktiken an. Die irreführenden Geschäftspraktiken wiederum werden in irreführende Handlungen (Art. 6) und irreführende Unterlassungen (Art. 7) unterteilt. Art. 7 UGP-Richtlinie lautet: (1) Eine Geschäftspraxis gilt als irreführend, wenn sie im konkreten Fall unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände und der Beschränkungen des Kommunikationsmediums wesentliche Informationen vorenthält, die der durchschnittliche Verbraucher je nach den Umständen benötigt, um eine informierte geschäftliche Entscheidung zu treffen, und die somit einen Durchschnittsverbraucher zu einer geschäftlichen Entscheidung veranlasst oder zu veranlassen geeignet ist, die er sonst nicht getroffen hätte. (2) Als irreführende Unterlassung gilt es auch, wenn ein Gewerbetreibender wesentliche Informationen gemäß Absatz 1 unter Berücksichtigung der darin beschriebenen Einzelheiten verheimlicht oder auf unklare, unverständliche, zweideutige Weise oder nicht rechtzeitig bereitstellt oder wenn er den kommerziellen Zweck der Geschäftspraxis nicht kenntlich macht, sofern er sich nicht unmittelbar aus den Umständen ergibt, und dies jeweils einen Durchschnittsverbraucher zu einer geschäftlichen Entscheidung veranlasst oder zu veranlassen geeignet ist, die er ansonsten nicht getroffen hätte. (3) Werden durch das für die Geschäftspraxis verwendete Kommunikationsmedium räumliche oder zeitliche Beschränkungen auferlegt, so werden diese Beschränkungen und alle Maßnahmen, die der Gewerbetreibende getroffen hat, um den Verbrauchern die Informationen anderweitig zur Verfügung zu stellen, bei der Entscheidung darüber, ob Informationen vorenthalten wurden, berücksichtigt. (4) Im Falle der Aufforderung zum Kauf gelten folgende Informationen als wesentlich, sofern sie sich nicht unmittelbar aus den Umständen ergeben: a) die wesentlichen Merkmale des Produkts in dem für das Medium und das Produkt angemessenen Umfang; b) Anschrift und Identität des Gewerbetreibenden, wie sein Handelsname und gegebenenfalls Anschrift und Identität des Gewerbetreibenden, für den er handelt; c) der Preis einschließlich aller Steuern und Abgaben oder in den Fällen, in denen der Preis aufgrund der Beschaffenheit des Produkts vernünftigerweise nicht im Voraus berechnet werden kann, die Art der Preisberechnung sowie gegebenenfalls alle zusätzlichen Fracht-, Liefer- oder Zustellkosten oder in den Fällen, in denen diese Kosten vernünftigerweise nicht im Voraus berechnet werden können, die Tatsache, dass solche zusätzliche Kosten anfallen können; d) die Zahlungs-, Liefer- und Leistungsbedingungen sowie das Verfahren zum Umgang mit Beschwerden, falls sie von den Erfordernissen der beruflichen Sorgfalt abweichen; e) für Produkte und Rechtsgeschäfte, die ein Rücktritts- oder Widerrufsrecht beinhalten, das Bestehen eines solchen Rechts. (5) Die im Gemeinschaftsrecht festgelegten Informationsanforderungen in Bezug auf kommerzielle Kommunikation einschließlich Werbung oder Marketing, auf die in der nicht erschöpfenden Liste des Anhangs II verwiesen wird, gelten als wesentlich.
Der deutsche Gesetzgeber hat die Aufteilung des Irreführungstatbestands in irreführende Handlungen und irreführende Unterlassungen im Grundsatz übernommen: § 5 UWG 2008 ist nunmehr mit „Irreführende Handlungen“ überschrieben, die neue Vorschrift des § 5a regelt die „Irreführung durch Unterlassen“. Allerdings hat der deutsche Gesetzgeber Art. 7 UGP-Richtlinie nicht wörtlich umgesetzt, sondern er hat die „Irreführung durch Unterlassen“ in § 5a UWG 2008 wie folgt geregelt:
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(1) Bei der Beurteilung, ob das Verschweigen einer Tatsache irreführend ist, sind insbesondere deren Bedeutung für die geschäftliche Entscheidung nach der Verkehrsauffassung sowie die Eignung des Verschweigens zur Beeinflussung der Entscheidung zu berücksichtigen. (2) Unlauter handelt, wer die Entscheidungsfähigkeit von Verbrauchern i.S. des § 3 Abs. 2 dadurch beeinflusst, dass er eine Information vorenthält, die im konkreten Fall unter Berücksichtigung aller Umstände einschließlich der Beschränkungen des Kommunikationsmittels wesentlich ist. (3) Werden Waren oder Dienstleistungen unter Hinweis auf deren Merkmale und Preis in einer dem verwendeten Kommunikationsmittel angemessenen Weise so angeboten, dass ein durchschnittlicher Verbraucher das Geschäft abschließen kann, gelten folgende Informationen als wesentlich i.S. des Absatzes 2, sofern sie sich nicht unmittelbar aus den Umständen ergeben: 1. die wesentlichen Merkmale der Ware oder Dienstleistung in dem dieser und dem verwendeten Kommunikationsmittel angemessenen Umfang; 2. die Identität und Anschrift des Unternehmers, gegebenenfalls die Identität und Anschrift des Unternehmers, für den er handelt; 3. der Endpreis oder in Fällen, in denen ein solcher Preis auf Grund der Beschaffenheit der Ware oder Dienstleistung nicht im Voraus berechnet werden kann, die Art der Preisberechnung sowie gegebenenfalls alle zusätzlichen Fracht-, Liefer- und Zustellkosten oder in Fällen, in denen diese Kosten nicht im Voraus berechnet werden können, die Tatsache, dass solche zusätzliche Kosten anfallen können; 4. Zahlungs-, Liefer- und Leistungsbedingungen sowie Verfahren zum Umgang mit Beschwerden, soweit sie von Erfordernissen der fachlichen Sorgfalt abweichen und 5. das Bestehen eines Rechts zum Rücktritt oder Widerruf. (4) Als wesentlich i.S. des Absatzes 2 gelten auch Information, die dem Verbraucher auf Grund gemeinschaftsrechtlicher Verordnungen oder nach Rechtsvorschriften zur Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Richtlinien für kommerzielle Kommunikation einschließlich Werbung und Marketing nicht vorenthalten werden dürfen.
Im Einzelnen ergibt die Umsetzung, wenn man vom Aufbau der Richtlinienvorschrift des Art. 7 ausgeht, folgendes Bild: Art. 7 Abs. 1 UGP-Richtlinie ist hinsichtlich der Tathandlung des Vorenthaltens wesentlicher Informationen in § 5a Abs. 2 UWG 2008 umgesetzt worden. Ein Relevanzerfordernis i.S. des Veranlassens zu einer geschäftlichen Entscheidung, die der Durchschnittsverbraucher sonst nicht getroffen hätte, wie es Art. 7 Abs. 1 UGPRichtlinie enthält, ist in § 5a UWG 2008 nicht aufgenommen worden. Der deutsche Gesetzgeber hat vielmehr diese seiner Ansicht nach bei allen Tatbeständen der Richtlinie erforderliche Voraussetzung des Unlauterkeitsurteils vor die Klammer gezogen und in § 3 Abs. 2 Satz 1 UWG 20086 untergebracht. Das Erfordernis der geschäftlichen Relevanz soll damit nach der Begründung des Regierungsentwurfs zum UWG 2008 auch für die Irre-
6 Die Vorschrift lautet: Geschäftliche Handlungen gegenüber Verbrauchern sind jedenfalls dann unzulässig, wenn sie nicht der für den Unternehmer geltenden fachlichen Sorgfalt entsprechen und dazu geeignet sind, die Fähigkeit des Verbrauchers, sich auf Grund von Informationen zu entscheiden, spürbar zu beeinträchtigen und ihn damit zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die er andernfalls nicht getroffen hätte.
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führung durch Unterlassen gelten.7 Die Regelungen in Art. 7 Abs. 2 und 3 UGP-Richtlinie sind ebenfalls nicht ausdrücklich in das UWG 2008 übernommen worden. Zur Begründung ist angeführt, Art. 7 Abs. 2 UGP-Richtlinie enthalte einen besonderen Fall des Vorenthaltens und werde daher bereits vom allgemeinen Begriff des Vorenthaltens in § 5a Abs. 2 UWG 2008 erfasst.8 Art. 7 Abs. 3 UGP-Richtlinie wiederhole lediglich etwas umfangreicher den Gesichtspunkt der Beschränkungen des Kommunikationsmediums und brauche daher gleichfalls nicht ausdrücklich umgesetzt zu werden, weil auch dieser Punkt schon von § 5a Abs. 2 UWG 2008 erfasst werde.9 Art. 7 Abs. 4 UGP-Richtlinie, der die Informationspflichten bei der Aufforderung zum Kauf regelt, ist durch § 5a Abs. 3 UWG 2008 umgesetzt worden, Art. 7 Abs. 5 UGP-Richtlinie durch § 5a Abs. 4 UWG 2008. § 5a Abs. 1 UWG 2008 beruht dagegen im Kern nicht auf der UGP-Richtlinie, sondern es handelt sich um die lediglich an die Rechtslage nach der Richtlinie angepasste Vorschrift des alten § 5 Abs. 2 Satz 2 UWG 2004.10 Die Umsetzung ist demnach weder wortgleich noch detailgenau vorgenommen worden. Teilweise werden im UWG 2008 andere Begriffe verwendet als in der UGP-Richtlinie. Auch der Aufbau der Richtlinienbestimmungen findet sich in den entsprechenden UWG-Vorschriften so nicht wieder. Man kann Zweifel haben, ob diese Art der Umsetzungstechnik zu befürworten ist. Jedenfalls erschwert sie die Rechtsanwendung insoweit, als die Auslegung des § 5a UWG 2008, soweit diese Vorschrift die Richtlinie umsetzt, richtlinienkonform zu erfolgen hat. Sowohl für die Wortlautauslegung als auch für die Auslegung unter systematischen Gesichtspunkten sind daher letztlich der Wortlaut und der Aufbau der Richtlinie maßgeblich, d.h. es ist bei der Auslegung des § 5a UWG 2008 immer der Richtlinientext im Blick zu behalten.
III. Richtlinienkonforme Auslegung des § 5a UWG 2008 1. Im Grundsatz besteht nunmehr im deutschen Unlauterkeitsrecht für die Irreführung durch Unterlassen eine mindestens zweigeteilte Regelung: § 5a Abs. 1 UWG 2008 betrifft irreführendes Unterlassen gegenüber allen
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BT-Drs. 16/10145 S. 31 zu Art. 7 Abs. 1 UGP-Richtlinie. BT-Drs. 16/10145 S. 32 zu Art. 7 Abs. 2 UGP-Richtlinie. 9 BT-Drs. 16/10145 S. 32 zu Art. 7 Abs. 3 UGP-Richtlinie. 10 Statt „Bedeutung für die Entscheidung zum Vertragsschluss“ heißt es jetzt „Bedeutung für die geschäftliche Entscheidung“, weil vom nun maßgeblichen Begriff der geschäftlichen Handlung (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 UWG 2008) oder Geschäftspraxis (Art. 2 lit. d UGPRichtlinie) auch das Verhalten beim Vertragsschluss oder bei der Durchführung des Vertrags erfasst wird. 8
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Marktteilnehmern, während die übrigen Absätze des § 5a UWG 2008 sich nur auf die Irreführung von Verbrauchern beziehen. Man könnte das Gesetz sogar dahin verstehen, dass die Irreführung durch Unterlassen eine dreiteilige Regelung erfahren hat. Denn genau genommen erfasst auch die Vorschrift des § 5 UWG 2008, überschrieben mit „Irreführende geschäftliche Handlungen“, wie schon § 5 UWG 2004 die Irreführung durch Verschweigen von Tatsachen. § 5 UWG 2008 knüpft nämlich an den Begriff der geschäftlichen Handlung an, mit dem ausweislich der Begründung des Regierungsentwurfs der in § 2 Abs. 1 Nr. 1 UWG 2008 definierte Begriff gemeint ist.11 Die geschäftliche Handlung i.S. von § 2 Abs. 1 Nr. 1 UWG 2008 umfasst „jedes Verhalten“ einer Person, also auch ein Unterlassen. Aus dem in § 5 Abs. 1 Satz 1 UWG 2008 weiter verwendeten Begriff der „Vornahme“ einer geschäftlichen Handlung ergibt sich nichts anderes. Die Verwendung des Wortes „Vornahme“ ist ersichtlich rein sprachlich bedingt, ohne dass damit der Begriff der geschäftlichen Handlung und entsprechend der Tatbestand des § 5 Abs. 1 Satz 1 UWG 2008 inhaltlich auf ein positives Tun beschränkt werden soll. Handlung i.S. von geschäftlicher Handlung meint in § 5 Abs. 1 Satz 1 UWG 2008 vielmehr auch das Unterlassen. Es liegt also nahe, den Grundtatbestand der Irreführung wie für das positive Tun auch für das irreführende Unterlassen jedenfalls gegenüber Nichtverbrauchern in § 5 Abs. 1 Satz 1 UWG 2008 zu sehen. Denn § 5a UWG 2008 enthält in seinem Absatz 2 einen Grundtatbestand („Unlauter handelt, wer ...“) lediglich für die Irreführung durch Unterlassen im Geschäftsverkehr mit Verbrauchern. Daraus ergibt sich für die Irreführung durch Unterlassen im Geschäftsverkehr mit Nichtverbrauchern, dass insoweit mit der Regelung nach § 5 Abs. 1 Satz 1, § 5a Abs. 1 UWG 2008 alles beim Alten bleiben dürfte, also die bisherige Rechtsprechung weiter gilt, die nicht von einem generellen Informationsgebot ausgeht, sondern für das irreführende Verschweigen einer nachteiligen Eigenschaft eine Aufklärungspflicht des Werbenden voraussetzt.12 2. Differenzierter ist dagegen das Modell, das der in § 5a Abs. 2 bis 4 UWG 2008 niedergelegten Regelung der Irreführung durch Unterlassen im Geschäftsverkehr mit Verbrauchern zugrunde liegt. § 5a Abs. 2 UWG 2008 enthält den Grundtatbestand der Irreführung durch Unterlassen im Geschäftsverkehr mit Verbrauchern, der kurz zusammengefasst besagt, dass unlauter handelt, wer die Entscheidungsfindung von Verbrauchern durch Vorenthalten einer wesentlichen Information beeinflusst. In den Absätzen 3 und 4 des § 5a UWG 2008 wird näher konkretisiert, welche Informationen als wesentlich gelten. Allerdings erläutern diese Bestimmungen das Merkmal der Wesentlichkeit der Information nicht allgemein; § 5a Abs. 3 und 4 UWG
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BT-Drs. 16/10145 S. 44 zu § 5 Abs. 1 Satz 1 UWG 2008. Vgl. dazu Hefermehl/Köhler/Bornkamm UWG, 27. Aufl., § 5a Rn. 9 ff. mwN.
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2008 enthalten wie auch Art. 7 Abs. 4 und 5 UGP-Richtlinie keine erschöpfende Aufzählung aller wesentlichen Informationen.13 Die Vorschrift des § 5a Abs. 3 UWG 2008 bestimmt vielmehr (nur) für eine bestimmte Art von geschäftlichen Handlungen, nämlich für hinreichend konkrete Angebote von Waren oder Dienstleistungen, welche Informationen wesentlich sind. Durch den Verweis in § 5a Abs. 4 UWG 2008 kommt zudem allen im Gemeinschaftsrecht enthaltenen Informationsanforderungen das Attribut der Wesentlichkeit zu. 3. Die im Schrifttum schon vor der Umsetzung der UGP-Richtlinie geführte Diskussion darüber, ob hierin ein gegenüber der bisherigen Regelung im deutschen Unlauterkeitsrecht neues Informationspflichtenmodell zu sehen ist,14 läuft im Wesentlichen auf die Frage hinaus, ob die in den Absätzen 2 bis 4 des § 5a UWG 2008 (Art. 7 UGP-Richtlinie) geregelten Irreführungstatbestände schon dann erfüllt sind, wenn eine i.S. dieser Regelungen als wesentlich anzusehende Information nicht gegeben wird oder ob wie bei der Irreführung durch positives Tun die Eignung, eine Fehlvorstellung der angesprochenen Verbraucher herbeizuführen, und insbesondere die Relevanz der Irreführung für die geschäftliche Entscheidung der angesprochenen Verbraucher hinzutreten müssen. Dazu stehen sich im Grunde drei Meinungen gegenüber: Am Weitesten geht die Auffassung, der gesamte Bereich der Irreführung durch Unterlassen i.S. des Art. 7 UGP-Richtlinie stelle ein neues Informationsmodell in dem Sinne dar, dass bereits das Unterlassen der wesentlichen Information zur Unzulässigkeit führe, die Relevanz des Unterlassens also normativ vorausgesetzt werde und keiner gesonderten Prüfung mehr bedürfe.15 Eine andere Ansicht unterscheidet zwischen § 5a Abs. 2 UWG 2008 (Art. 7 Abs. 1 bis 3 der UGP-Richtlinie) einerseits und § 5a Abs. 3 und 4 UWG 2008 (§ 7 Abs. 4 und 5 UGP-Richtlinie) andererseits. Bei ersteren sollen die allgemeinen Grundsätze des Irreführungsverbots gelten, so dass hier insbesondere die Eignung zur Fehlvorstellung und die geschäftliche Relevanz zu fordern seien, während es sich bei letzteren um besondere Informationspflichten handele, deren Verletzung systematisch eher dem Rechtsbruchtatbestand des § 4 Nr. 11 UWG zuzuordnen sei.16 Daraus wird der Schluss gezogen, das Gesetz vermute in § 5a Abs. 3 und 4 UWG 2008 unwiderleglich, dass die Informationspflichtverletzung beim
13 Vgl. BT-Drs. 16/10145, S. 49, 52; Sosnitza WRP 2008, 1014, 1031; aA wohl Köhler NJW 2008, 3032, 3034; vgl. aber auch ders. WRP 2009, 109, 116. 14 Zum (angeblichen) Paradigmenwechsel zu einem Informationsmodell des lauterkeitsrechtlichen Verbraucherschutzes durch die UGP-Richtlinie vgl. insbesondere Fezer WRP 2007, 1021, 1026 und Keßler WRP 2007, 714, 720. 15 Vgl. Peifer WRP 2008, 556, 559. 16 Vgl. Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 12) § 5a Rn. 3 ff.; Seichter WRP 2005, 1087, 1092 ff.
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Kunden zu einer Fehlvorstellung führe und sich diese Fehlvorstellung auf die zu treffende Entscheidung auswirken könne.17 Von den Vertretern einer dritten Ansicht wird schließlich angenommen, dass die geschäftliche Relevanz in allen Fällen der Irreführung durch Unterlassen zu prüfen sei.18 Zur Begründung wird angeführt, aus der richtlinienkonformen Auslegung ergebe sich, dass auch im Rahmen der Informationspflichtverletzung nach § 5a Abs. 3 und 4 UWG 2008 das ungeschriebene Merkmal der geschäftlichen Relevanz zu prüfen sei. Das insoweit aus dem Aufbau der Richtlinie gewonnene Argument lautet, die Richtlinie verlange in Art. 7 Abs. 1 und 2, dass das Vorenthalten der wesentlichen Information geeignet sein müsse, den Verbraucher zu einer Entscheidung zu veranlassen, die er sonst nicht getroffen hätte; dies gelte auch für die in Art. 7 Abs. 4 und 5 UGP-Richtlinie geregelten Fälle.19 4. Wirft man zur Beantwortung der umstrittenen Frage, ob an die Irreführung durch Unterlassen nach § 5a Abs. 2 auf der einen und § 5a Abs. 3 und 4 UWG 2008 auf der anderen Seite unterschiedliche Anforderungen im Hinblick auf das Erfordernis der geschäftlichen Relevanz zu stellen sind, unter dem Gesichtspunkt der richtlinienkonformen Auslegung zunächst einen Blick auf den Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 UGP-Richtlinie, so ist festzuhalten, dass im ersten Teil dieser Vorschrift eine Geschäftspraxis als irreführend bezeichnet wird, wenn sie wesentliche Informationen vorenthält, die der durchschnittliche Verbraucher je nach den Umständen benötigt, um eine informierte geschäftliche Entscheidung zu treffen. Mit „Vorenthalten“ ist, wofür auch die englische („it omits“) und die französische („elle omet“) Fassung der Richtlinie sprechen, „Unterlassen“ gemeint.20 Die Umschreibung der wesentlichen Information als eine solche, die benötigt wird, um eine informierte geschäftliche Entscheidung zu treffen, soll ersichtlich nicht lediglich eine bestimmte Teilmenge aller wesentlichen Informationen bezeichnen, sondern es liegt wohl das Verständnis nahe, dass hiermit eine wesentliche Information als eine solche definiert werden soll, die für die jeweilige geschäftliche Entscheidung benötigt wird, um eine informierte und deshalb, wie es im Erwägungsgrund 14 heißt, effektive Wahl zu treffen.21 Im zweiten Teil von Art. 7 Abs. 1 UGP-Richtlinie wird sodann die Eignung der in dem Vorenthalten wesentlicher Informationen liegenden irreführenden Geschäftspraxis angesprochen, einen Durchschnittsverbraucher zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die er sonst nicht ge-
17 Vgl. Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 12) § 5a Rn. 5; anders allerdings aaO Rn. 37: Geschäftliche Relevanz sei nur für den Regelfall zu bejahen. 18 Vgl. Harte/Henning/Dreyer UWG, 2. Aufl., § 5a Rn. 15 ff.; Steinbeck WRP 2006, 632, 636. 19 Harte/Henning/Dreyer (Fn. 18) § 5a Rn. 46. 20 So schon Steinbeck WRP 2006, 632, 635 Fn. 31. 21 Zweifelnd Köhler WRP 2009, 109, 116.
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troffen hätte. Dieses Erfordernis wird mit den vorangehenden Tatbestandsmerkmalen durch das Wort „somit“ („thereby“ in der englischen Fassung) verknüpft. Es liegt jedenfalls nicht fern, diese Formulierung dahin zu verstehen, dass mit diesem letzten Halbsatz der Vorschrift nicht ein zusätzliches Erfordernis aufgestellt, sondern dadurch („somit“) nur ausgedrückt werden soll, dass die hier umschriebene Relevanz des Unterlassens einer wesentlichen Information für die geschäftliche Entscheidung des Verbrauchers schon „damit“ zu bejahen, also mit anderen Worten schon dann gegeben ist, wenn die betreffende Information i.S. des vorangehenden Regelungsteils benötigt wird, um eine informierte geschäftliche Entscheidung zu treffen. Für diese Auslegung spricht zunächst ein sachliches Argument: Aus welchen Gründen sollte es an der – lediglich erforderlichen – Eignung, den Verbraucher zu einer anderen Entscheidung zu veranlassen, noch fehlen können, wenn die betreffende Information benötigt wird, um eine informierte Entscheidung zu treffen. Zum anderen dürfte die Auslegung, dem letzten Halbsatz komme im Hinblick auf die geschäftliche Relevanz eine nur klarstellende Bedeutung zu, auch aus systematischen Gründen nahe liegen. Denn die in Art. 7 UGP-Richtlinie geregelte Irreführung durch Unterlassen stellt nach dem Aufbau der Richtlinie ebenso wie die in Art. 6, 8 und 9 UGPRichtlinie umschriebenen Geschäftspraktiken nur eine Konkretisierung des allgemeinen Verbots nach Art. 5 Abs. 1 und 2 UGP-Richtlinie dar, wie sich aus Art. 5 Abs. 4 UGP-Richtlinie und dem Erwägungsgrund 13 ergibt. Folglich erfüllen die in Art. 7 UGP-Richtlinie umschriebenen Verhaltensweisen nach der Vorstellung des Richtliniengebers auch die allgemeineren Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 2 UGP-Richtlinie. Nach Art. 5 Abs. 2 lit.b UGP-Richtlinie ist eine Geschäftspraxis unlauter, wenn sie das wirtschaftliche Verhalten des angesprochenen Durchschnittsverbrauchers wesentlich beeinflusst oder dazu geeignet ist. Eine wesentliche Beeinflussung in diesem Sinne ist nach der Definition in Art. 2 lit.e UGPRichtlinie gegeben, wenn eine Geschäftspraxis angewendet wird, um die Fähigkeit des Verbrauchers, eine informierte Entscheidung zu treffen, spürbar zu beeinträchtigen und „damit“ den Verbraucher zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die er andernfalls nicht getroffen hätte. Man wird wohl auch hier aus der Verknüpfung „damit“ den Schluss ziehen können, dass eine spürbare Beeinträchtigung der Entscheidungsfähigkeit des Verbrauchers jedenfalls dann gegeben ist, wenn er zu einer anderen geschäftlichen Entscheidung veranlasst wird oder wenn die Geschäftspraxis zumindest dazu geeignet ist, eine andere geschäftliche Entscheidung herbeizuführen. Demnach spricht aus dem Zusammenspiel von Art. 7 Abs. 1, Art. 5 Abs. 2 lit. b und Art. 2 lit. e UGP-Richtlinie einiges dafür, dass in Art. 7 Abs. 1 UGP-Richtlinie das Erfordernis der geschäftlichen Relevanz der Sache nach schon mit dem Begriff der wesentlichen Information i.S. einer Information
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umschrieben ist, die für eine informierte geschäftliche Entscheidung benötigt wird. Für diese Sicht können noch zwei weitere Auslegungsgesichtspunkte angeführt werden: Der Tatbestand der irreführenden Handlungen nach Art. 6 UGP-Richtlinie setzt in Abs. 1 und 2 dieser Vorschrift zwar gleichfalls das Erfordernis des Veranlassens zu einer anderen geschäftlichen Entscheidung oder jedenfalls die Eignung dazu voraus. Aber hier fehlt eine der Formulierung des Art. 7 Abs. 1 UGP-Richtlinie entsprechende Verknüpfung („somit“) mit den übrigen Tatbestandsvoraussetzungen. Darin kann ein inhaltlicher Unterschied gesehen werden, der sich damit erklären lässt, dass bei den in Art. 6 UGP-Richtlinie genannten Täuschungshandlungen – anders als bei dem Unterlassenstatbestand des Art. 7 Abs. 1 UGP-Richtlinie – eben gerade nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich die dort umschriebenen Handlungen generell auf wesentliche Informationen i.S. von notwendigen Informationen für die Entscheidungsfindung beziehen. So können beispielsweise die in Art. 6 Abs. 1 lit. f UGP-Richtlinie genannten Merkmale wie die Person oder bestimmte Eigenschaften des Geschäftspartners in dem einen Fall von wesentlicher Bedeutung für die geschäftliche Entscheidung des angesprochenen Verbrauchers sein, während diese Umstände in dem anderen Fall für die zu treffende Entscheidung ohne Belang sind. Aus diesem Grunde muss hier anders als bei der Regelung des Art. 7 Abs. 1 UGP-Richtlinie, bei der die Notwendigkeit der Information bereits ausdrücklich in der Umschreibung des Tatbestandselements der „wesentlichen Information“ enthalten ist, die Relevanz für die geschäftliche Entscheidung (gesondert) in jedem Einzelfall geprüft werden. Dasselbe kann man für solche Verhaltensweisen annehmen, die zwar aus Rechtgründen wie Unterlassungen behandelt werden, in denen man aber (zumindest) auch ein positives Tun sehen könnte. Solche Verhaltensweisen sind in Art. 7 Abs. 2 UGP-Richtlinie genannt. Danach gilt es als irreführende Unterlassung, wenn wesentliche Informationen i.S. des Art. 7 Abs. 1 UGPRichtlinie verheimlicht 22 oder auf unklare, unverständliche, zweideutige Weise oder nicht rechtzeitig bereitgestellt werden oder wenn der kommerzielle Zweck der Geschäftspraxis nicht kenntlich gemacht wird. Auch in Art. 7 Abs. 2 UGP-Richtlinie wird das Erfordernis der Relevanz für die geschäftliche Entscheidung wiederholt, allerdings – wie bei Art. 6 Abs. 1 UGPRichtlinie – gleichfalls ohne eine Verknüpfung durch „somit“ oder „damit“. Die Erklärung dafür könnte lauten, dass in den hier umschriebenen Fällen die benötigten Informationen nicht vollständig vorenthalten, sondern an sich gegeben werden. Allerdings geschieht die Informationserteilung unter Umständen, die im Allgemeinen die Gefahr begründen können, dass der ange-
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Besser: „versteckt“; vgl. englischen Fassung: „a trader hides“.
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sprochene Verbraucher die benötigten Informationen nicht erfasst, und die deshalb grundsätzlich die Beurteilung der entsprechenden Geschäftspraxis als unlauter rechtfertigen können. Da die Gefahr, dass die ihm an sich erteilte Information dem Verbraucher verborgen bleibt, bei den in Art. 7 Abs. 2 UGP-Richtlinie genannten Verhaltensweisen aber nach den konkreten Umständen auch eher gering sein kann, ordnet diese Bestimmung an, dass die Relevanz für die geschäftliche Entscheidung des Verbrauchers auch hier jeweils im Einzelfall festzustellen ist.
IV. Schlussbetrachtung Für die Auslegung der Regelungen in Art. 7 Abs. 4 und 5 UGP-Richtlinie, nach denen die dort genannten Informationen oder Informationsanforderungen als wesentlich gelten, bedeutet dies Folgendes: Ersichtlich ist mit dem in diesen beiden Bestimmungen verwendeten Begriff der Wesentlichkeit der Information auf Art. 7 Abs. 1 UGP-Richtlinie Bezug genommen. Somit gelten die in Abs. 4 genannten und in Abs. 5 in Bezug genommenen Informationen als wesentlich in dem Sinne, dass sie der angesprochene Durchschnittsverbraucher in jedem Fall benötigt, um eine informierte geschäftliche Entscheidung zu treffen. Nach dem zur Auslegung von Art. 7 Abs. 1 UGPRichtlinie Ausgeführten bedeutet dies weiter, dass nach der Richtlinie die Relevanz für die geschäftliche Entscheidung für die von Abs. 4 und 5 erfassten Informationen ohne Prüfung im Einzelfall generell vorausgesetzt wird. Für dieses Verständnis spricht auch Erwägungsgrund 14, in dem zu Art. 7 Abs. 4 UGP-Richtlinie ausgeführt wird, im Hinblick auf Unterlassungen lege diese Richtlinie eine bestimmte Anzahl von Basisinformationen („a limited number of key items of information“) fest, die der Verbraucher benötige, um eine informierte geschäftliche Entscheidung treffen zu können. Solche Informationen müssten nicht notwendigerweise in jeder Werbung enthalten sein, sondern nur dann, wenn der Gewerbetreibende zum Kauf auffordere; dieses Konzept werde in dieser Richtlinie klar definiert. Diese Umschreibung kann dahin verstanden werden, dass bei einer Aufforderung zum Kauf die in Art. 7 Abs. 4 UGP-Richtlinie genannten Informationen zwingend gegeben werden müssen. Geschieht dies weder ausdrücklich noch konkludent in dem Sinne, dass sich die erforderlichen Angaben unmittelbar aus den Umständen ergeben, sondern werden die betreffenden Informationen dem Verbraucher vorenthalten, so gilt die Geschäftspraxis als irreführend und damit unlauter, ohne dass es noch der gesonderten Prüfung der geschäftlichen Relevanz bedarf. Zusammenfassend folgt daraus zunächst auf die Richtlinie bezogen, dass in den Fällen des Art. 7 Abs. 1 und 2 UGP-Richtlinie die Relevanz für die geschäftliche Entscheidung des Verbrauchers jeweils im Einzelfall zu prüfen
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ist. Bei Art. 7 Abs. 1 UGP-Richtlinie ist die Relevanzprüfung in dem Merkmal der wesentlichen Information enthalten, die nur dann eine solche ist, wenn sie je nach den Umständen benötigt wird, um eine informierte Entscheidung zu treffen. Bei Abs. 2 ergibt sie sich aus der dort ausdrücklich vorausgesetzten jeweiligen Eignung der betreffenden Geschäftspraxis, den Durchschnittsverbraucher zu einer anderen Entscheidung zu veranlassen. In den Fällen des Art. 7 Abs. 4 und 5 UGP-Richtlinie ist dagegen eine gesonderte Relevanzprüfung nicht mehr geboten; die Relevanz wird für die dort in Bezug genommenen Informationen vielmehr unwiderleglich vermutet. Es steht in den Fällen von Art. 7 Abs. 4 und 5 UGP-Richtlinie bereits mit der Prüfung der dort jeweils genannten Voraussetzungen auch fest, dass die betreffende Geschäftspraxis i.S. von Art. 5 Abs. 2 lit. b, Art. 2 lit. e UGPRichtlinie geeignet ist, das wirtschaftliche Verhalten des betreffenden Durchschnittverbrauchers wesentlich zu beeinflussen. Eine zusätzliche Spürbarkeitsprüfung ist insoweit daher gleichfalls nicht mehr durchzuführen. Da die Vorschrift des § 5a UWG 2008 richtlinienkonform auszulegen ist, ist § 5a Abs. 2 UWG 2008 folglich so zu verstehen, dass der dort verwendete Begriff der wesentlichen Information mit dem in Art. 7 Abs. 1 UGP-Richtlinie verwendeten übereinstimmt. Es ist folglich zu prüfen, ob die betreffende Information benötigt wird, um eine informierte geschäftliche Entscheidung zu treffen. Ist die damit umschriebene geschäftliche Relevanz zu bejahen, sind – abgesehen von den Fällen des Art. 7 Abs. 2 UGP-Richtlinie – zwangsläufig auch die in § 3 Abs. 2 Satz 1 UWG 2008 genannten Voraussetzungen gegeben. Einer besonderen Prüfung des § 3 Abs. 2 UWG 2008 bedarf es dann nicht mehr. Ebenso wenig kommt eine Spürbarkeitsprüfung nach § 3 Abs. 1 UWG 2008 in Betracht, weil bei geschäftlichen Handlungen gegenüber Verbrauchern bereits die in Abs. 2 genannten Voraussetzungen zur Unzulässigkeit der betreffenden geschäftlichen Handlung führen („jedenfalls“). Für die Auslegung von § 5a Abs. 3 und 4 UWG 2008 muss nach dem zu Art. 7 Abs. 4 und 5 UGP-Richtlinie vertretenen Standpunkt konsequenterweise gelten, dass insoweit weder eine besondere Relevanzprüfung noch eine Spürbarkeitsprüfung nach § 3 Abs. 1 oder 2 UWG 2008 zu erfolgen hat. Die Folgerungen aus § 7 Abs. 2 UGP-Richtlinie bereiten demgegenüber etwas größere Schwierigkeiten, weil der deutsche Gesetzgeber davon abgesehen hat, diese Vorschrift zu übernehmen. Die dort geregelten Verhaltensweisen sollen jedoch in dem Begriff des Vorenthaltens in § 5a Abs. 2 UWG 2008 enthalten sein. Nach der hier vertretenen Auslegung zu Art. 7 Abs. 1 und 2 UGPRichtlinie ist dann bei § 5a Abs. 2 UWG 2008 danach zu unterscheiden, ob es sich bei dem jeweiligen Vorenthalten um ein Vorenthalten i.S. von Art. 7 Abs. 1 oder um eine der in Art. 7 Abs. 2 UGP-Richtlinie genannten Verhaltensweisen handelt. Im ersten Fall bleibt es dabei, dass keine besondere Relevanz- und Spürbarkeitsprüfung stattfindet. Im zweiten Fall, also bei den Irreführungen i.S. von Art. 7 Abs. 2 UGP-Richtlinie, hat dagegen im Einzelfall
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eine Relevanz- und Spürbarkeitsprüfung zu erfolgen, und zwar nach § 3 Abs. 2 UWG 2008. Abschließend sei noch auf zwei Gesichtspunkte hingewiesen, die die Reichweite der Informationspflichten nach Art. 7 Abs. 4 und 5 UGP-Richtlinie, § 5a Abs. 3 und 4 UWG 2008 betreffen. Zu den Informationspflichten im Falle der Aufforderung zum Kauf (Art. 7 Abs. 4 UGP-Richtlinie) wird im Erwägungsgrund 14 klargestellt, dass die mit der Richtlinie bezweckte vollständige Angleichung die Mitgliedstaaten nicht daran hindern soll, für bestimmte Produkte, z.B. elektrische Geräte, die wesentlichen Kennzeichen festzulegen, deren Weglassen bei einer Aufforderung zum Kauf rechtserheblich wäre. Allerdings wird nicht näher ausgeführt, was in diesem Zusammenhang mit rechtserheblich gemeint ist; insbesondere wird nicht klargestellt, ob damit auch über lediglich vertragsrechtliche Auswirkungen hinausgehende Rechtsfolgen angeordnet werden können. Die UGP-Richtlinie berührt ja generell nicht die individuellen Klagen und vertraglichen Rechte der durch eine unlautere Geschäftspraxis betroffenen Personen. Sehr deutlich und streng wird die Unterscheidung zwischen der aus der Unlauterkeit folgenden Unzulässigkeit einer Geschäftspraxis und bloßen vertragsrechtlichen Folgen beispielsweise bei den Informationsanforderungen nach Art. 7 Abs. 5 UGPRichtlinie (= § 5a Abs. 4 UWG 2008) in Verbindung mit den im Anhang II genannten Richtlinien hervorgehoben. Im Erwägungsgrund 15 wird insoweit ausgeführt, dass aufgrund der durch die Richtlinie eingeführten vollständigen Angleichung nur die nach dem Gemeinschaftsrecht vorgeschriebenen Informationen als wesentlich für die Zwecke des Art. 7 Abs. 5 UGP-Richtlinie betrachtet werden. Sofern die Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Mindestklauseln in (anderen) Richtlinien Informationsanforderungen eingeführt hätten, die über das hinausgingen, was im Gemeinschaftsrecht geregelt sei, komme das Vorenthalten dieser Extra-Informationen einem irreführenden Unterlassen nach der UGP-Richtlinie nicht gleich. Die Mitgliedstaaten könnten strengere Bestimmungen, sofern diese nach Gemeinschaftsrecht zulässig seien, aber aufrechterhalten oder einführen, um ein höheres Schutzniveau für die individuellen vertraglichen Rechte der Verbraucher zu gewährleisten. Das könnte etwa bedeuten, dass Verstöße gegen die Preisangabenverordnung (PAngV) möglicherweise (vorbehaltlich der Zulässigkeit einer strengeren Übergangsregelung nach Art. 3 Abs. 5 Satz 1und 2 UGPRichtlinie) nach dem UWG 2008 nur noch beanstandet werden können, sofern und soweit die betreffenden Vorschriften der PAngV auf einer entsprechenden Richtlinie beruhen,23 also z.B. das Gebot der Angabe des Grundpreises nach § 2 PAngV auf Art. 3 Abs. 4 der Verbraucherschutzricht-
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Vgl. dazu auch Köhler NJW 2008, 3032, 3035; ders WRP 2009, 109, 117.
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linie24 und die Pflicht zu Preisangaben bei Krediten nach § 6 PAngV auf der Verbraucherkreditrichtlinie.25 Im Übrigen kämen unter Umständen nur vertragsrechtliche Sanktionen in Betracht.
24 Richtlinie 98/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.2.1998 über den Schutz der Verbraucher bei der Angabe der Preise der ihnen angebotenen Erzeugnisse, ABl. EG Nr. L 80 v. 18.3.1998, S. 27. 25 Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG, ABL. EG Nr. L 133 v. 22.5.2008, S. 66.
Haftung des Scheinsozius Uwe Blaurock I. Einführung Es ist zur Normalität im anwaltlichen Berufsverkehr geworden, dass Anwaltsgesellschaften, die entweder in Form einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts oder einer Partnerschaft organisiert sind, auch solche Anwälte als Sozius in Erscheinung treten lassen, die in Wahrheit nicht der Partnerschaft angehören, sondern nur angestellt sind.1 Dem Mandanten werden auf diesem Wege der Eindruck von Bedeutung und Größe einer Anwaltskanzlei sowie die besondere Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit des betreuenden Anwalts vermittelt. Für den angestellten Anwalt mag die Aufnahme auf den Briefkopf der Kanzlei einen Prestigegewinn in der Kanzleihierarchie bedeuten.2 Dies ist für ihn allerdings dann teuer erkauft, wenn er mit seinem Privatvermögen für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft haftet, ohne an deren Ertrag zu partizipieren. Achim Krämer hat sich immer wieder mit dem anwaltlichen Berufs- und dem Wirtschaftsrecht auseinandergesetzt. Der folgende, dem Jubilar gewidmete Beitrag ist thematisch an der Schnittstelle zwischen Anwalts- und Gesellschaftsrecht angesiedelt und befasst sich mit der Frage, ob und inwieweit ein Scheinsozius für die Verbindlichkeiten einer Anwaltsgesellschaft haftet.
II. Voraussetzungen der Rechtsscheinhaftung Beauftragt ein Mandant einen Rechtsanwalt, der einer Sozietät angehört, so kommt der Anwaltsvertrag mit der Sozietät, also der (rechtsfähigen) 3 1 Aus der jüngeren Rechtsprechung BGH NJW 1999, 3040; BGH NJW 2001, 165; BGH ZIP 2008, 1120; BFH DStR 2006, 1649; OLG Saarbrücken NJW 2006, 2862; OLG München v. 12.12.2007, 15 U 3973/07 (zitiert nach Juris); OLG München BB 2001, 592. Eingehend W.-H. Roth in: FS Karsten Schmidt, 2009, 1375, 1376 f. 2 Grunewald in: FS Ulmer, 2003, 141, 144; Langenkamp/Jaeger NJW 2005, 3238; Knöringer AnwBl. 2002, 681, 683; zur wettbewerbsrechtlichen Problematik siehe OLG München BB 2001, 592; Grunewald S. 141, 148 f. 3 BGHZ 146, 341, 344 ff.
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Anwalts-GbR oder der Anwalts-Partnerschaft 4 zustande.5 Entstehen bei der Abwicklung des Mandats rechtliche Streitigkeiten, steht der Mandant vor der Frage, ob ihm die Partner der Gesellschaft mit ihrem Privatvermögen haften. Für Verbindlichkeiten der Gesellschaft haften die Gesellschafter akzessorisch gem. § 128 HGB analog (GbR) 6 bzw. nach § 8 Abs. 1 S. 1 PartGG. Hat der Mandant eine Partnerschaft beauftragt und waren nur einzelne Partner mit dem Auftrag befasst, so haften für berufliche Fehler – neben der Partnergesellschaft – nur diese (§ 8 Abs. 2 PartGG). Auf eine als GbR organisierte Sozietät findet diese Haftungsbeschränkung keine Anwendung.7 Ist der vom Mandanten in Anspruch genommene Anwalt selbst nicht Gesellschafter, kommt eine Haftung nur unter Rechtsscheingesichtspunkten in Betracht. Besteht zwischen den Anwälten erst gar keine Gesellschaft, sondern wird lediglich der Anschein erweckt, dass eine gemeinsame Sozietät besteht, so liegt eine Scheingesellschaft vor. Aus Sicht des Gesellschafters macht es allerdings keinen Unterschied, ob er als Scheingesellschafter einer bestehenden oder als Scheingesellschafter einer nicht bestehenden Scheingesellschaft persönlich haftet.8 1. Rechtsscheintatbestand Eine persönliche Haftung eines Anwalts kraft Rechtsscheins setzt einen entsprechenden Rechtsscheintatbestand voraus. Die gemachten Angaben müssen im Rechtsverkehr beim Mandanten den Eindruck erweckt haben, der betroffene Anwalt sei Gesellschafter der Anwaltssozietät. Damit der Scheingesellschafter kraft Rechtsscheins in Anspruch genommen werden kann, muss er den Rechtsschein veranlasst bzw. ein erhöhtes Risiko geschaffen haben.9 Verbreitet ist die Praxis, den angestellten Anwalt ohne weitere Angaben auf den Briefkopf oder das Kanzleischild zu nehmen. Ob der Rechtsverkehr anhand dieser Angaben davon ausgehen darf, die genannten Anwälte 4
§ 7 Abs. 2 PartGG i.V.m. § 124 Abs. 1 HGB. Heermann in: MünchKomm-BGB, 4. Aufl. 2005, § 675 Rn. 35; Karsten Schmidt NJW 2005, 2801, 2805; vgl. auch BGHZ 56, 355, 359; BGHZ 70, 247, 249; BGHZ 124, 47, 48 f., wonach der Vertrag mit allen Sozien geschlossen wurde. Nach Anerkennung der Rechtsfähigkeit der GbR kommt der Vertrag nun mit der GbR bzw. der Partnerschaft zustande. Zu Ausnahmen von diesem Grundsatz (Vertrag nur mit einem Sozius) siehe BGH NJW 1999, 3040 ff. (Vermögensverwaltung); BGH NJW 2000, 1560, 1561 mwN. 6 BGHZ 146, 341, 358. 7 Ulmer in: MünchKomm-BGB, 4. Aufl. 2004, § 716 Rn. 60; Karsten Schmidt NJW 2005, 2801, 2805; Heermann in: MünchKomm-BGB, § 675 Rn. 37; Lux NJW 2003, 2806, 2807; Römermann BB 2003, 1084, 1086; Hasenkamp DB 2003, 1166, 1167; Ulmer ZIP 2003, 1113, 1119; offen lassend BGH NJW 2003, 1803, 1805. 8 Karsten Schmidt Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, § 10 VIII 2. c), S. 326. 9 Vgl. zum Ganzen Canaris Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, 479 ff.; Vetter Altschuldenhaftung auf fehlerhafter Vertragsgrundlage, 1995, 33 f. mwN. 5
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seien Partner der Gesellschaft und würden persönlich haften, wird unterschiedlich beurteilt. Überwiegend wird es für ausreichend gehalten, dass der Name eines angestellten Anwalts auf dem Briefkopf geführt oder auf dem Kanzleischild erwähnt wird.10 In jüngerer Zeit wird dies zunehmend mit dem Hinweis abgelehnt, dass nach §§ 8, 10 Abs. 1 BORA auf eine berufliche Zusammenarbeit mit freien Mitarbeitern hingewiesen werden dürfe.11 Auch gehe der Rechtsverkehr nicht davon aus, dass jeder auf dem Briefkopf aufgeführte Anwalt zugleich Partner sei.12 Aus § 8 S. 1 BORA folgt jedoch lediglich, dass auf eine berufliche Zusammenarbeit mit freien Mitarbeitern „hingewiesen werden darf“. § 9 Abs. 1 BORA besagt, dass bei gemeinschaftlicher Berufsausübung auch mit einem freien Mitarbeiter eine Kurzbezeichnung geführt werden darf. § 10 Abs. 1 S. 1 BORA legt den Anwälten die Pflicht auf, auch bei Verwendung einer Kurzbezeichnung die Namen sämtlicher Gesellschafter auf dem Briefbogen anzugeben. Nach S. 3 muss mindestens eine der Kurzbezeichnung entsprechende Zahl von Gesellschaftern, Angestellten oder freien Mitarbeitern namentlich aufgeführt werden. Ob die freien Mitarbeiter ohne weiteren Zusatz auf den Briefkopf genommen werden dürfen, lassen diese Vorschriften aber gerade offen. Die Publizitätspflicht dient zum einen der Offenlegung von Interessenkonflikten, zum anderen soll dem Mandanten aber auch Klarheit über seinen Vertragspartner und die Zusammensetzung der Sozietät verschafft werden.13 Die Einschätzung der Liquidität seines Vertragspartners und die Frage nach der Durchsetzbarkeit von Ansprüchen sind für den Mandanten regelmäßig von gewichtigem Interesse. Handelt es sich um eine Anwalts-GbR, kann sich der Mandant nicht einmal Kenntnis von den Haftungsverhältnissen in einem öffentlichen Register verschaffen. Ebenso wenig ist es dem Mandanten zumutbar, sich vor der Erteilung eines Mandats durch einen Blick in das Partnerschaftsregister von dem Gesellschafterbestand Kenntnis zu verschaffen und zu überprüfen, welche der auf dem Briefkopf angegebenen Personen nun tatsächlich Partner ist.14 Vielmehr fällt es in den Risikobereich der Gesellschafter, durch einen einfachen Namenszusatz (etwa auch durch Hin-
10 BGHZ 70, 247, 249; BGH MDR 1996, 966 f.; BGH NJW 1999, 3040, 3041; BGH NJW 2002, 1419, 1421; BGH ZIP 2008, 1120, 1121; OLG Saarbrücken NJW 2006, 2862, 2863; OLG München v. 12.12.2007 (15 U3973/07), Rn. 54 (zitiert nach Juris); Grunewald (Fn. 2), S. 140, 144; Ulmer in: MünchKomm-BGB, 4. Aufl. 2004, § 8 PartGG Rn. 13; C. Schäfer DStR 2003, 1078, 1080; von der Recke in: Büchting, Beck’sches Rechtsanwaltshandbuch, 9. Aufl. 2007, Nr. 6, Rn. 49 f., W.-H. Roth (Fn. 1), 1375, 1382 f. 11 Henssler in: Henssler/Prütting, BRAO, § 8 PartGG Rn. 10; Langenkamp/Jaeger NJW 2005, 3238, 3239; Rahlmeyer/Sommer VersR 2008, 180, 181. 12 Römermann in: Hartung/Holl, Anwaltliche Berufsordnung, § 8 PartGG Rn. 34. 13 BGH NJW 2002, 1419. 14 Anders wohl Feit/Giedinghagen VersR 2007, 362, 363.
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weise in Fußnoten) für Klarheit zu sorgen, wenn sie die Namen der Anwälte auf dem Briefkopf nennen.15 Dies muss in ihren Verantwortungsbereich fallen. Der Rechtsverkehr darf davon ausgehen, dass die auf dem Briefkopf aufgeführten Anwälte diejenigen sind, die hinter der Gesellschaft als Gesellschafter stehen. 2. Schutzwürdigkeit des Gläubigers Eine Haftung des Scheinsozius kommt dann nicht in Betracht, wenn der Anwaltsvertrag ausnahmsweise nur mit einem Sozius und nicht mit der Gesellschaft zustande gekommen ist.16 Denn hier bleibt für eine akzessorische Gesellschafterhaftung nach § 128 HGB analog bzw. § 8 Abs. 1 PartGG von vornherein kein Raum. Erforderlich ist also stets, dass der Vertrag mit der Sozietät geschlossen wird. Ist dies der Fall, dann ist allerdings zweifelhaft, ob die Haftung eines Scheinsozius voraussetzt, dass gerade die Erfüllung einer Verbindlichkeit aus einem Mandatsverhältnis in Rede steht. In einer jüngeren Entscheidung formuliert der BGH: „Die Haftung eines Mitglieds einer Scheinsozietät setzt ein Mandatsverhältnis und damit eine anwaltstypische Tätigkeit voraus. Eine anwaltstypische Tätigkeit liegt jedoch dann nicht vor, wenn keine rechtsberatende oder rechtsvertretende Tätigkeit damit verbunden ist.“17 In dem zugrunde liegenden Fall hatte eine Rechtsanwalts-GbR bei der Klägerin Computer bestellt und Reparaturarbeiten an ihren Rechnern vornehmen lassen. Die beklagte Rechtsanwältin war nur angestellt, gleichwohl wie eine Partnerin auf dem Briefkopf der GbR aufgeführt worden. Allerdings hatte nur einer der Geschäftsführer der Klägerin von diesem Briefkopf Kenntnis, weil er in einer anderen Angelegenheit von der Rechtsanwalts-GbR vertreten wurde. Die Entscheidung ist im Ergebnis durchaus richtig, in der Begründung jedoch nicht ganz überzeugend.18 Der 8. Zivilsenat des BGH geht zwar einerseits davon aus, dass die Gesellschaft Vertragspartnerin der Klägerin wurde, wendet dann im Folgenden aber nicht § 128 HGB analog und die Lehre vom Scheingesellschafter an, sondern die Grundsätze über die Duldungs- und Anscheinsvollmacht.19 Einer Berücksichtigung dieser Grundsätze hätte es jedoch nur auf dem Boden der Doppelverpflichtungslehre bedurft, wonach ein mit Vertretungsmacht ausgestatteter Gesellschafter so-
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Zutreffend C. Schäfer DStR 2003, 1078, 1080. BGH NJW 1999, 3040, 3041; OLG Celle NJW 2006, 3431, 3432. 17 BGH ZIP 2008, 1120, 1121 = NJW 2008, 2330. 18 Ablehnend auch Lux NJW 2008, 2309, 2311 f. 19 BGH ZIP 2008, 1120, 1121 unter Berufung auf BGHZ 70, 247, 249. Ähnliche Begründungen bei OLG Saarbrücken NJW 2006, 2682, 2683; OLG München v. 12.12.2007 (15 U 3973/07), Rn. 43 (zitiert nach Juris). 16
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wohl die Gesamthand als auch die Gesellschafter persönlich verpflichtete und eine persönliche Haftung eine entsprechende Vertretung des Gesellschafters voraussetzt. Mit der Anerkennung der Teilrechtsfähigkeit der GbR und der akzessorischen Haftung ergibt sich die Gesellschafterhaftung ebenso wie bei der persönlichen Haftung eines OHG-Scheingesellschafters 20 aus allgemeiner Rechtsscheinhaftung.21 Hieraus folgt, dass es sich bei der Haftung eines Scheinsozius nicht – wie der Senat meint – um eine besondere Fallgruppe handelt, die ausschließlich bei der Begründung eines Mandatsverhältnisses zum Tragen kommt.22 Wird gegenüber anderen Geschäftspartnern und Nicht-Mandanten der Eindruck hervorgerufen, der Anwalt sei Gesellschafter der Sozietät, so haftet auch dieser als Scheingesellschafter nach § 128 HGB analog bzw. § 8 Abs. 1 S. 1 PartGG in Verbindung mit Rechtsscheingrundsätzen. Weshalb hier andere Grundsätze als im Recht der OHG gelten sollen, leuchtet nicht ein. Entscheidend ist dagegen, auf welchem Wege der Vertragspartner Kenntnis vom Rechtsschein erlangt hat. Hat etwa – so wie in dem dem BGH-Fall zugrunde liegenden Sachverhalt – der Geschäftsführer einer Gesellschaft in seiner Eigenschaft als Privatmann von dem Briefkopf Kenntnis erlangt, kann dies nicht ein berechtigtes Vertrauen der Gesellschaft im Zusammenhang mit einem ganz anderen Vertragsverhältnis begründen.23 Der Rechtsschein muss vielmehr gegenüber dem Vertragspartner gesetzt worden sein; die Rechtsscheinhaftung würde ausufern, wollte man die von einem Dritten erlangte und an den Vertragspartner weitergegebene Kenntnis ausreichen lassen. Ein schutzwürdiges Vertrauen kann der Vertragspartner auf einer solchen Grundlage nicht bilden. Hat der Gläubiger gegenüber der Anwaltssozietät eine Forderung zu einem Zeitpunkt erlangt, in dem der Scheingesellschafter noch gar nicht im Rechtsverkehr als Gesellschafter aufgetreten war, ist der Scheingesellschafter aber später auf den Briefkopf aufgenommen worden und hat der Gläubiger hiervon Kenntnis erlangt, so stellt sich die Frage, ob der Scheinsozius gegenüber diesem (Alt-)Gläubiger haftet. Eine unmittelbare persönliche
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Hierzu BGH NJW 1955, 985, 986; BGHZ 61, 59, 64 f. Zutreffend Lux NJW 2008, 2309, 2312. 22 Auch die Verweise der Entscheidung BGH ZIP 2008, 1120, 1121 auf BGH NJW 1999, 3040, 3041 sowie auf OLG Celle NJW 2006, 3431, 3433 gehen fehl. In der ersten Entscheidung erörtert der BGH lediglich, wann ein Anwaltsvertrag mit der Sozietät und nicht mit nur mit einem Sozius zustande kommt und stellt fest, dass der Sozius dann verpflichtet würde, wenn das Mandatsverhältnis sich auf Aufgaben bezöge, in denen Rechtsbetreuung völlig in den Hintergrund tritt. Die Entscheidung lässt sich hier nicht fruchtbar machen, weil hier ein Vertrag unstreitig mit der Sozietät geschlossen wurde. Auch die zweite Entscheidung handelt von der Sonderkonstellation eines Vertrages mit dem Scheinsozius. 23 Vgl. die Begründung der Vorinstanz OLG Saarbrücken v. 10.7.2007 (2 S 114/06), Rn. 27 ff. (zitiert nach Juris). 21
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Haftung als Vertragspartner käme nur auf der Grundlage der Doppelverpflichtungslehre in Betracht, wenn der Anwalt nachträglich in das Mandatsverhältnis einbezogen 24 worden ist.25 Nach Anerkennung der Rechtsfähigkeit der GbR und der Aufgabe der Doppelverpflichtungslehre ist nunmehr jedoch davon auszugehen, dass das Mandatsverhältnis nur mit der Gesellschaft zustande kommt und die Gesellschafter lediglich akzessorisch haften. Die entscheidende Frage ist deshalb, ob die Haftung eines Gesellschafters einer GbR analog § 130 HGB für Altverbindlichkeiten mit den Grundsätzen der Lehre vom Scheingesellschafter vereinbar ist. Ein neu eintretender Gesellschafter wird an dem vor seinem Eintritt erwirtschafteten Vermögen und der Marktposition der Gesellschaft beteiligt. Das Prinzip der akzessorischen Haftung umfasst deshalb im Gegenzug für diese Vorteile auch die Haftung für Altverbindlichkeiten.26 Daraus, dass dem Scheingesellschafter diese Vorteile eines eintretenden Gesellschafters nicht zustehen, ziehen das OLG Saarbrücken 27 und das OLG München 28 den Schluss, dass eine Haftung auf Rechtsscheinbasis analog § 130 HGB ausscheidet.29 Im Ergebnis bedeutet dies, dass die Interessen des Scheingesellschafters, den eine persönliche Haftung trifft, ohne auf das Gesellschaftsvermögen zugreifen zu können, höher gewichtet werden als das Vertrauen des Rechtsverkehrs in die Richtigkeit des Rechtsscheins. Der Gläubiger wird als weniger schutzwürdig angesehen. Zwar ist richtig, dass sich eine Haftung des Scheingesellschafters für Altverbindlichkeiten nicht mit korrelierenden Vorteilen begründen lässt. Bei dieser Argumentation wird aber nicht berücksichtigt, dass dem angestellten Anwalt in der Regel ein Freistellungsanspruch aus dem Arbeitsverhältnis gegenüber der Gesellschaft zusteht. Es ist auch nicht überzeugend, eine Haftung des Scheingesellschafters unter Hinweis auf dessen fehlende Beteiligung am Gesellschaftsvermögen abzulehnen, denn dann würde ein Scheingesellschafter auch nicht der Haftung analog § 128 HGB unterliegen.30 Die persönliche Haftung analog § 128 HGB bildet im Interesse des Verkehrsschutzes das notwendige Korrelat zur Entnahmefreiheit des Gesellschafters. Auch dieser Vorteil steht dem Scheingesellschafter nicht zu.
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Vgl. hierzu BGHZ 124, 47, 50 f. Anders aber OLG Saarbrücken NJW 2006, 2682, 2683; OLG München v. 12.12.2007 (15 U 3973/07), Rn. 43 (zitiert nach Juris), die zunächst eine Haftung kraft Duldungs- und Anscheinsvollmacht prüfen, sodann aber inkonsequent doch auf § 130 HGB analog und die akzessorische Haftung eingehen. 26 BGHZ 154, 370, 372 ff. 27 OLG Saarbrücken NJW 2006, 2682, 2684. 28 OLG München v. 12.12.2007 (15 U 3973/07), Rn. 61 (zitiert nach Juris). 29 Zustimmend Peres/Depping DStR 2006, 2261, 2263; Jungk/Chap/Grams BRAKMitt. 2006, 270, 271. 30 Zutreffend Lepczyk NJW 2006, 3391, 3392; Feit/Giedinghagen VersR 2007, 362, 363. 25
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Vielmehr ist hinsichtlich des Haftungsgrundes zwischen Gesellschaftern und Scheingesellschaftern zu differenzieren. Für Gesellschafter ergibt sich die Haftung aus den dargelegten Gründen. Die Haftung des Scheingesellschafters hingegen findet ihre Rechtfertigung im Verkehrsschutz.31 Berücksichtigt man die Abgrenzung der Verantwortungsbereiche und Risikosphären, muss der Scheingesellschafter die Verantwortung für die Verursachung des Rechtsscheins übernehmen. Er – und nicht der vertrauende Gläubiger – erscheint weniger schutzwürdig; das Entstehen des Rechtsscheins fällt in seine Risikosphäre. Nichts anderes gilt für eine Partnerschaftsgesellschaft. § 8 Abs. 1 S. 2 PartGG erklärt § 130 HGB für entsprechend anwendbar, so dass sich auch hier die Frage stellt, inwiefern aus Gründen des Verkehrsschutzes ein Scheinpartner analog § 130 HGB haftet. Auch wenn der Gläubiger erst nach Begründung der Verbindlichkeit Kenntnis vom Rechtsschein erlangt, erscheint er somit grundsätzlich schutzwürdig. 3. Disposition im Vertrauen auf den Rechtsschein Eine Rechtsscheinhaftung kommt allerdings nur dann in Betracht, wenn der Gläubiger gerade im Vertrauen auf die Richtigkeit des Rechtsscheins eine Disposition vornimmt.32 In den Fällen der Haftung für Neuverbindlichkeiten analog § 128 HGB liegt die erforderliche kausale Disposition im Eingehen des Mandatsverhältnisses im Vertrauen darauf, dass der Scheingesellschafter Gesellschafter ist und somit persönlich haftet. Auch wenn sich gerade bei größeren Kanzleien wohl sagen lässt, dass der Gläubiger nicht in Bezug auf jeden einzelnen auf dem Briefkopf genannten Anwalt ein konkretes Vertrauen entwickelt hat und er auch das Mandat der Anwaltsgesellschaft übertragen hätte, wenn der (Schein-)Sozius nicht auf dem Briefkopf genannt wäre, muss eine Kausalität bejaht werden. Denn der Mandant vertraut auf die Gesamtheit des Anwaltsbestands und damit indirekt auch auf jeden Einzelnen.33 Da der Mandant, der mit einer Anwaltsgesellschaft kontrahiert, zumindest einen persönlich haftenden Partner zur Absicherung seiner Forderungen in Anspruch nehmen können möchte, ist jeder auf dem Briefkopf genannte Name eines Partners zumindest mitursächlich für die Bildung des Vertrauens.34 Dass der Gläubiger gleichwohl auch ohne persönliche Haftung eines der Partner die Verbindlichkeit begründet
31 G. Roth EWiR 2007, 205, 206; Lepczyk NJW 2006, 3391, 3392; Möritz StudZR 2007, 595, 599. 32 Vgl. Canaris (Fn. 9), S. 510 ff. 33 Zutreffend OLG München v. 12.12.2007 (15 U 3973/07), Rn. 61 (zitiert nach Juris). 34 Anders aber Canaris (Fn. 9), S. 515.
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hätte, ist eine Frage des rechtmäßigen Alternativverhaltens.35 Die Beweislast für diesen Einwand muss der Rechtsscheinveranlasser tragen.36 Anders stellt sich die Situation eines erst nachträglich gebildeten Vertrauens in die Haftung des neu eintretenden Gesellschafters für Altverbindlichkeiten dar. Der Faustformel folgend, dass ein Scheingesellschafter gleich einem Gesellschafter hafte, soll es nach einigen Stimmen im Schrifttum ausreichen, dass der Rechtsschein einer Gesellschafterstellung zurechenbar begründet wurde.37 § 130 HGB schütze das abstrakte Vertrauen in die Mithaftung der Gesellschafter. Das abstrakte Vertrauen auf die Mithaftung eines Scheingesellschafters sei in gleichem Maße schutzwürdig.38 Richtigerweise ist die Lehre vom Scheingesellschafter jedoch in die allgemeine Rechtsscheinlehre einzuordnen.39 Denn gerade daraus, dass der Gläubiger Kenntnis vom Scheintatbestand erlangt und im Vertrauen darauf sein Verhalten ausrichtet, ergibt sich seine Schutzwürdigkeit. Noch nicht einmal Kenntnis vom Scheintatbestand zu verlangen, würde eine Haftung des Scheingesellschafters zu einem reinen Zufallsgeschenk machen.40 Dass die Haftung eines tatsächlich neu beitretenden Gesellschafters nach § 130 HGB nicht an die Voraussetzung einer kausalen Vertrauensdisposition geknüpft ist, beruht auf der im Gesetz zum Ausdruck gekommenen Entscheidung des Gesetzgebers. Man sollte jedoch nicht den Scheintatbestand einer Gesellschafterstellung dem tatsächlichen Beitritt eines neuen Gesellschafters gleichstellen, denn von den allgemeinen Voraussetzungen einer Rechtsscheinhaftung kann nur dann abgewichen werden, wenn besondere Gründe vorliegen. Solche sind hinsichtlich der Haftung eines Scheingesellschafters für Altverbindlichkeiten jedoch nicht ersichtlich. Weder gibt es eine gesetzliche Regelung, die geringe Anforderungen setzt, noch erscheint ein Abweichen aus Interessensgesichtspunkten angemessen.41 Nun bringen es die Fälle der Haftung für Altverbindlichkeiten zwangsläufig mit sich, dass das Mandatsverhältnis schon vor Entstehen des Rechtsscheintatbestandes eingegangen wurde, die Forderungen zu dem Zeitpunkt, zu dem der Rechtsschein gesetzt wurde, mithin schon begründet waren.42 Nur eine Disposition, die zeitlich nach Begründung des Rechtsscheins getroffen wird, kann jedoch auf diesem beruhen. Deshalb bedeutet allein die
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Zu diesem näher Schubert in: Beck’scher OK BGB, Stand: 1.2.2007, § 249 Rn. 94. Im Ergebnis ebenso Canaris (Fn. 9), S. 516; Feit/Giedinghagen VersR 2007, 362, 363. Emmerich in: Heymann, § 130 Rn. 4. Feit/Giedinghagen VersR 2007, 362, 363; wohl auch Lepczyk NJW 2006, 3391, 3392. So auch W.-H. Roth (Fn. 1), 1375, 1387. Canaris (Fn. 9), S. 507. Möritz StudZR 2007, 595, 601. BGHZ 154, 370, 375 f.
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Begründung des Mandatsverhältnisses keine für die Anwendung von § 130 HGB hinreichende Vertrauensdisposition.43 Auch wenn eine Haftung analog § 130 HGB daher regelmäßig ausgeschlossen ist, kann sie im Einzelfall doch gegeben sein. Erforderlich ist hierfür, dass der Gläubiger, nachdem er Kenntnis vom der vermeintlichen Gesellschafterstellung erlangt hat, im Vertrauen auf diese über die schon vorher begründete Forderung disponiert.44 Eine solche Folgedisposition kann in einer Forderungsstundung, einem Forderungserlass, einem Unterlassen von Maßnahmen zur Zwangsvollstreckung oder der bloßen Nichtgeltendmachung der fälligen Forderung liegen.45 Allerdings muss die Folgedisposition gerade im Vertrauen auf die Gesellschafterstellung und die damit verbundene persönliche Haftung des Scheingesellschafters getroffen werden. Die von einer solchen Folgedisposition ausgelöste Haftung des Scheingesellschafters für Altverbindlichkeiten umfasst auch die Haftung für deliktische Verbindlichkeiten.46 Zwar kann an sich im Unrechtsverkehr keine auf einem Vertrauen beruhende Disposition vorgenommen werden, jedoch geht es hier gerade um eine nachträgliche Disposition, die auf einer Vertrauensgrundlage beruht.
III. Konsequenzen der Rechtsscheinhaftung 1. Positiver oder negativer Vertrauensschutz? Hinsichtlich des Anspruchsinhalts stellt sich die Frage, ob der Vertrauende so gestellt wird, als ob der Rechtsschein der Wirklichkeit entspräche (positive Vertrauenshaftung) oder ob er lediglich in die Lage versetzt wird, die bestünde, wenn er die Vertrauensdisposition nicht im Hinblick auf den Rechtsschein getätigt hätte (negative Vertrauenshaftung). Lag der Rechtsschein schon bei Vertragsschluss vor, haftet der Scheinpartner auf Ersatz des positiven Interesses. Die Disposition liegt gerade im Abschluss des Vertrages und dem damit verbundenen Vertrauen in die Erfüllung der Verbindlichkeit. Der Scheingesellschafter muss sich so behandeln lassen, als ob er tatsächlich Gesellschafter wäre.47 43 G. Roth DB 2007, 616, 617; ders. EWiR 2007, 205, 206; Canaris (Fn. 9), S. 176; zu § 15 HGB ebenso Vetter (Fn. 9), S. 27. 44 G. Roth DB 2007, 616, 617; Vetter (Fn. 9), S. 28; Canaris (Fn. 9), S. 176; Möritz StudZR 2007, 595, 600 f. 45 G. Roth DB 2007, 616, 617; Canaris (Fn. 9), S. 176; Vetter (Fn. 9), S. 29. 46 Vetter (Fn. 9), S. 28; G. Roth DB 2007, 616, 617. 47 BGHZ 17, 13, 18 („Wer durch sein Auftreten im Geschäftsverkehr den Anschein erweckt, er sei persönlich haftender Gesellschafter einer Handelsgesellschaft, haftet für deren Verbindlichkeiten aus Geschäften, die ein Dritter im Vertrauen auf den Rechtsschein abschließt.“); Canaris (Fn. 9), S. 521.
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Zweifelhaft ist jedoch, ob die Rechtsscheinhaftung das positive Interesse auch dann abdeckt, wenn erst nach Begründung des Vertragsversprechens eine Disposition getroffen worden ist (z.B. Stundung, Erlass oder Nichtgeltendmachung der Forderung) und der Scheingesellschafter nach § 130 HGB analog zur Haftung herangezogen werden soll. Eine Rechtsscheinhaftung setzt voraus, dass der Anspruch nicht oder vorübergehend nicht mehr realisierbar ist.48 Ist die Forderung nicht mehr realisierbar, weil sie im Vertrauen auf die Haftung des Scheinpartners nicht geltend gemacht wurde und sich die Liquidität der Gesellschaft verschlechtert hat oder hat der Gläubiger der Gesellschafter die Forderung erlassen, so entsprechen positives und negatives Interesse einander; 49 denn bei Kompensation des negativen Vertrauensschutzes wird der Gläubiger so gestellt, wie wenn sein Vertrauen nicht enttäuscht worden wäre, also wie bei Durchsetzung der Forderung gegenüber der Gesellschaft. Ob der Gläubiger auch bei nachträglicher Vertrauensbetätigung Ersatz seines positiven Interesses nach § 130 HGB analog verlangen kann, ist noch weitgehend ungeklärt. Die wohl überwiegende Meinung 50 hält eine Haftung auf das positive Interesse grundsätzlich für möglich. Diese Lösung finde ihre Rechtfertigung darin, dass die Lehre vom Scheingesellschafter weniger auf dem Gedanken des Ausgleichs des Vertrauensschadens beruhe, sondern weitergehend den Schutz des Rechtsverkehrs bezwecke.51 Dem Gläubiger werde so der Nachweis eines Vertrauensschadens, eventuelle Prozessrisiken und Aufwand erspart sowie eine klare Kalkulationsgrundlage gegeben.52 Dabei beruft man sich teilweise auch auf den handelsrechtlichen Verkehrsschutz.53 Mit den Erfordernissen der Schnelllebigkeit und den Verkehrsschutzbedürfnissen des Handelsverkehrs kann jedoch im hier zu erörternden Zusammenhang allenfalls dann argumentiert werden, wenn die Rechtsanwaltssozietät eine kaufmännische Organisation aufweist.54 Im Schrifttum wird bisweilen auch eine Beschränkung der Haftung auf das negative Inte-
48 Lieb in: MünchKomm-HGB, 2. Aufl. 2005, § 25 Rn. 55; implizit auch Canaris (Fn. 9), S. 176 f. 49 Zutreffend Vetter (Fn. 9), S. 37. 50 Canaris (Fn. 9), S. 511; G. Roth DB 2007, 616, 617; Hopt/Hehl JuS 1979, 272, 274; Möritz StudZR 2007, 595, 600 (Fn. 29); so auch zur Haftung wegen handelsrechtlichen Geschäfts- und Firmenfortführung: Vetter (Fn. 9), S. 37; Lieb in: MünchKomm-HGB, § 25 Rn. 55. 51 Vetter (Fn. 9), S. 36. 52 Canaris (Fn. 9), S. 6. 53 Vetter (Fn. 9), S. 37 f. 54 Vgl. auch Canaris (Fn. 9), S. 52, der die Anwendung der Anscheinsvollmacht als spezielle Form der Rechtsscheinhaftung auf Rechtsanwaltsgesellschaften nur bei „Kaufmannsähnlichkeit“ für möglich hält.
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resse befürwortet.55 Wenn der Gläubiger im Vertrauen darauf, einen neuen Schuldner in Anspruch nehmen zu können, eine Disposition über seine Forderung treffe, könne ihm nur ein Anspruch auf Ersatz des negativen Interesses gewährt werden. Ausschlaggebend zur Beantwortung dieser Frage müssen letztlich Schutzzwecküberlegungen sein: Die Verkehrsnorm, sich nicht wahrheitswidrig als persönlich haftender Gesellschafter gerieren zu dürfen, dient auch der Absicherung der nach Entstehen einer Verbindlichkeit gebildeten Erwartung, einen bestimmten Gesellschafter persönlich in Anspruch nehmen zu können. Doch ist diese Erwartung auch in der Hinsicht zu schützen, dass sie zwingend zu einem Erfüllungsanspruch führen muss? Dies führt zu dem grundsätzlichen, hier nicht zu klärenden Problem, ob sich eine Haftung auf das positive Interesse immer nur aus dem Verwirklichen eines rechtsgeschäftlichen oder rechtsgeschäftsähnlichen Tatbestands oder auch aus „rechtlich relevantem Verhalten“ ergeben kann.56 Schließlich stellt sich die Frage, inwieweit der Scheingesellschafter haftet, wenn die Folgedisposition eine nur teilweise realisierbare Forderung betrifft. Folgt man der herrschenden Meinung, liegt auch hier eine Haftung auf das positive Interesse nahe, was zudem den Vorteil hätte, dass eine unter Umständen kaum mögliche Berechnung nicht notwendig wäre.57 Dies widerspricht allerdings dem Erfordernis einer Folgedisposition, denn der Gläubiger disponiert in diesem Fall nur über den realisierbaren Teil im Vertrauen auf die Haftung des Scheingesellschafters, nicht über die ganze Forderung. Richtigerweise haftet der Scheingesellschafter daher nur für den realisierbaren Teil der Forderung. 2. Rechtsfolgen in der Partnerschaft In der Partnerschaft haften die Partner persönlich (§ 8 Abs. 1 PartGG). Diese Haftung trifft gleichermaßen auch die Scheingesellschafter.58 Dies ergibt sich entweder aus den allgemeinen Grundsätzen über die Rechtsscheinhaftung oder aus § 5 Abs. 2 PartGG i.V.m. § 15 Abs. 3 HGB, wenn der Scheinpartner als Partner im Partnerschaftsregister eingetragen war.
55 Nickel NJW 1981, 102 f.; Deschler Handelsregisterpublizität und Verkehrsschutz, 1977, 198 f., 205 (jeweils zu § 25 Abs. 1 HGB). 56 Hierzu grundlegend Flume Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, Bd. 2: Das Rechtsgeschäft, 4. Aufl. 1992, § 10. 57 Möritz StudZR 2007, 595, 600 f. 58 Grunewald (Fn. 2), S. 141, 144 f.
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a) Haftungskonzentration und Haftung des Scheinsozius Waren in einer Partnerschaft nur einzelne Partner mit der Bearbeitung eines Auftrages befasst, so haften nur diese Partner mit ihrem Privatvermögen; die anderen Partner sind von einer persönlichen Haftung freigestellt (§ 8 Abs. 2 PartGG). Zunächst ist festzustellen, dass diese Haftungsfreistellung auch selbstverständlich für den nicht mit einem Auftrag befassten Scheinsozius gilt, wenn die Voraussetzungen des § 8 Abs. 2 in der Person eines Partners vorliegen.59 Umstritten ist aber, ob die Haftungskonzentration auch dann eingreift, wenn ein Scheinpartner mit einem Auftrag befasst war. Nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht soll eine Haftungskonzentration nach § 8 Abs. 2 PartGG ausscheiden und nur eine gesamtschuldnerische Haftung aller echten Partner nach § 8 Abs. 1 S. 1 PartGG in Betracht kommen.60 Für diese Ansicht wird die Gesetzesbegründung zum PartGG angeführt, wonach die ausschließliche Befassung eines angestellten Anwalts gerade kein Fall des Befassens eines Partners mit dem Auftrag sein und eine Haftungskonzentration nicht zum Zuge kommen sollte.61 Außerdem wird geltend gemacht, dass es keinen Grund gebe, warum der Rechtsschein zu einer Beschränkung der persönlichen Haftung der übrigen Partner führen solle, eine Haftung aber unberührt bleibe, wenn tatsächlich nur ein angestellter Anwalt mit dem Auftrag befasst gewesen sei. § 8 Abs. 2 PartGG sei tendenziell gläubigerunfreundlich und auf einen Scheinpartner daher nicht anzuwenden.62 Zum Teil stützt man sich auch auf das Schutzbedürfnis des nur angestellten Scheinpartners: Die Haftungskonzentration des § 8 Abs. 2 PartGG greift bereits dann ein, wenn ein echter Partner gemäß der kanzleiinternen Absprachen für die Überwachung eines Anwalts zuständig sei und diese Pflicht verletze. Dies führe zu einer Haftungskonzentration auf den echten Partner, den die Überwachungspflicht treffe. Dieser Partner sei maßgeblich für die Veranlassung des Rechtsscheins verantwortlich; es sei daher sachgerecht, die Haftung nach § 8 Abs. 2 PartGG nur auf diesen echten Partner zu konzentrieren.63
59 Unstreitig vgl. OLG München BB 2001, 592, 594; Rahlmeyer/Sommer VersR 2008, 180, 182; Henssler § 8 Rn. 47; G. Roth DB 2007, 616, 619. 60 Jawansky BB 2001, 2281, 2283; Michalski/Römermann § 8 Rn. 30c; Eigner Die Beschränkung der persönlichen Gesellschafterhaftung bei Gesellschaft bürgerlichen Rechts und Partnerschaft, 2004, 360 f. 61 BT-Drucks. 13/9820, S. 21 („Nach der Entwurfsformulierung (§ 8 Abs. 2 PartGG) ist daher auch der Fall ausgeschlossen (von § 8 Abs. 2 PartGG), dass kein Partner haftet, weil nur angestellte Mitarbeiter den Auftrag bearbeitet haben.“); diese Gesetzesmaterialien werden übersehen bei Rahlmeyer/Sommer VersR 2008, 180, 182, die davon ausgehen, dass der Gesetzgeber die Scheinpartnerschaft gerade nicht habe regeln wollen. 62 Rahlmeyer/Sommer VersR 2008, 180, 182; Michalski/Römermann § 8 Rn. 30c. 63 Rahlmeyer/Sommer VersR 2008, 180, 182.
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Nach Auffassung des OLG München dagegen soll § 8 Abs. 2 PartGG eingreifen und zu einer Haftungsbeschränkung auf den Scheinpartner führen. Es sei lediglich Raum für die Handelndenhaftung des § 8 Abs. 2 PartGG, eine „Ersetzung dieser Handelndenhaftung durch eine Haftung der echten Partner“ finde „im Gesetz keine hinreichende Stütze“.64 Ferner wird angeführt, dass der Rechtsschein eine umfassende Wirkung entfalte und auch § 8 Abs. 2 PartGG zur Anwendung gelangen müsse. Dem Gläubiger dürften nicht mehr Rechte zugesprochen werden, als wenn der Rechtsschein zutreffend gewesen wäre.65 Außerdem entspreche die Haftungsbeschränkung dem Wesen der Partnergesellschaft und müsse daher auch im Falle des Tätigwerdens eines Scheinpartners gelten.66 Wenn anerkannt sei, dass auch Scheinpartner gem. § 8 Abs. 1 PartGG haften würden, sei nicht anzuerkennen, wieso im Rahmen des § 8 Abs. 2 PartGG der Partnerbegriff anders ausgelegt werden solle.67 Bisweilen wird aber darauf hingewiesen, dass dem Gläubiger gleichwohl die Möglichkeit bleibe, die wahre Rechtslage gelten zu lassen und alle Partner bzw. die nach der kanzleiinternen Absprache zuständigen Partner nach § 8 Abs. 1, 2 PartGG in Anspruch zu nehmen.68 Teilweise wird auch vertreten, dass die Rechtsscheinhaftung nur dann eingreife, wenn der Partner im Register eingetragen worden sei. Für eine Rechtsscheinhaftung verbleibe dann kein Raum mehr.69 Dies hätte zur Konsequenz, dass die Rechtsscheinhaftung sich auf eine Haftung für falsche Registereintragungen beschränken würde. Die letztgenannte Ansicht lässt sich kaum mit den Grundsätzen der Rechtsscheinhaftung vereinbaren.70 Der Vertrauensschutz des Partnerschaftsregisters beschränkt sich nur auf die im Register eingetragenen bzw. dort 64
OLG München BB 2001, 592, 594 f. Langenkamp/Jaeger NJW 2005, 3238, 3239; im Ergebnis ebenso OLG München BB 2001, 592, 594 f.; Ulmer in: MünchKomm-BGB, § 8 PartGG Rn. 21. 66 Langenkamp/Jaeger NJW 2005, 3238, 3239. 67 Langenkamp/Jaeger NJW 2005, 3238, 3239 f. 68 G. Roth DB 2007, 616, 619; Langenkamp/Jaeger NJW 2005, 3238, 3239 f. Zweifelhaft sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen des OLG München BB 2001, 592, 595, das dem Gläubiger wohl ein Wahlrecht abspricht: „Eine Ersetzung dieser Handelndenhaftung (des Scheinpartners) durch eine Haftung der echten Partner findet im Gesetz keine hinreichende Stütze. Ebenso bedarf es bei der Rechtsform der Partnerschaft keines Rückgriffs auf die Rechtsscheinhaftung aller auf dem Briefkopf aufgeführten Patent- bzw. Rechtsanwälte nach den Grundsätzen der Außensozietät, denn einem entsprechenden Vertrauenstatbestand auf Seiten der Vertragspartner der Beklagten steht deren Auftreten als Partnerschaft, bei der – unabhängig von der Zahl der Partner – gerade nicht die Annahme gerechtfertigt ist, dass alle als Gesamtschuldner haften, entgegen.“ Das Wahlrecht des Gläubigers ebenfalls verkennend Rahlmeyer/Sommer VersR 2008, 180, 182; mit Recht ablehnend Jawansky DB 2001, 2281, 2283. 69 Michalski/Römermann § 8 PartGG Rn. 30b. 70 Zu Recht ablehnend Ulmer in: MünchKomm-BGB, § 8 PartGG, Rn. 13; C. Schäfer DStR 2003, 1078, 1080 f.; Eigner (Fn. 60), S. 359. 65
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nicht vermerkten Tatsachen, schränkt aber nicht die Vertrauenshaftung ein, die sich aus außerregisterlichem Handeln der Gesellschaft ergeben kann. So geht der BGH etwa in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass § 15 Abs. 2 HGB nicht einer Haftung des Geschäftsinhabers für ein Weglassen des Rechtsformzusatzes entgegensteht, wenn zwar die Haftungsbeschränkung im Handelsregister eingetragen ist, sie gleichwohl im Rechtsverkehr nicht kenntlich gemacht wird.71 Das Argument, dass eine Haftungsbeschränkung auf den Scheinpartner gläubigerfeindlich und daher nicht sachgerecht sei und § 8 Abs. 2 PartGG deswegen nicht für den Scheinpartner gelten könne, verliert an Überzeugungskraft, wenn man sich den Charakter der Rechtsscheinhaftung vergegenwärtigt: Die Rechtsscheinhaftung wirkt nur zugunsten, nicht aber zulasten des Vertrauenden.72 Der Vertrauende hat damit ein Wahlrecht 73, ob er den Rechtsschein gelten lassen möchte.74 Eine Rechtsscheinhaftung auf der Grundlage des § 8 Abs. 2 PartGG erweitert damit lediglich die Rechtsstellung des Gläubigers, schränkt sie aber keinesfalls ein. Auch wenn der Gläubiger davon ausging, nur der Scheinpartner sei ihm gegenüber zur Haftung verpflichtet, muss es ihm unbenommen bleiben, sich auf die tatsächlichen Verhältnisse zu berufen. Deshalb vermag auch der Hinweis auf die Gesetzesbegründung nicht zu überzeugen: Der Gesetzgeber wollte zwar eine umfassende Haftung der Partner für den Fall sicherstellen, dass nur ein angestellter Anwalt mit der Ausführung des Auftrags beschäftigt ist.75 Dieses Ziel wird aber durch die weitere Option der Inanspruchnahme eines Scheinpartners gem. § 8 Abs. 2 PartGG nicht konterkariert. Weshalb der Scheinpartner besonderen Schutz verdienen und die Haftungsbeschränkung des § 8 Abs. 2 PartGG nur den für die Überwachung des angestellten Anwalts zuständigen Partner treffen soll, leuchtet gleichfalls nicht ein. Es liegt viel eher in der Tendenz der Rechtsprechung, denjenigen 71
BGHZ 62, 216, 223; BGHZ 71, 354, 356 f.; grundlegend BGHZ 17, 13. BGHZ 55, 267, 273 (zu § 15 Abs. 1 HGB); BGH NJW-RR 1990, 737, 738 (zu § 15 Abs. 3 HGB); allgemein Canaris (Fn. 9), S. 519; Hopt in: Baumbach/Hopt, 33. Aufl. 2008, § 5 HGB Rn. 14. 73 BGH NJW-RR 1987, 1318, 319; BGH NJW-RR 1990, 737, 738; Canaris (Fn. 9), S. 519 ff.; kritisch zur Lehre vom Wahlrecht hingegen Karsten Schmidt (Fn. 8), § 14 II 4. b), S. 398 f., der betont, dass der Gläubiger nicht eine Rechtsfolge wählen könne, sondern es nur auf den vor Gericht vorgetragenen Sachverhalt ankomme. 74 Der BGH erkennt zwar nicht in allen Fällen der Rechtsscheinhaftung ein Wahlrecht an, so etwa bei der Frage, ob neben dem Anspruch gegen den kraft Anscheinsvollmacht Vertretenen der Vertreter haftet, vgl. BGHZ 86, 273, 275 f.; hierzu Karsten Schmidt in: FS Gernhuber, 1993, 435 ff. Hintergrund dieser Entscheidung ist, dass die Anscheinsvollmacht als Vollmacht den Vertretenen verpflichtet und für eine Haftung des Vertreters nach § 179 Abs. 1 BGB kein Raum mehr bleibt. Die Haftung nach § 8 Abs. 1 PartGG ergibt sich jedoch aus dem Gesetz und nicht aus einer rechtsgeschäftlichen Verpflichtungserklärung. 75 Zweifelnd hingegen die Stellungnahme des Bundesrats, BT-Drucks. 13/9820, S. 25. 72
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kraft Rechtsscheins haften zu lassen, der unmittelbar an dem Vertragsschluss beteiligt war.76 Zwar mag der echte Partner maßgeblich die Entstehung des Rechtsscheins beeinflusst haben und sein Veranlasserbeitrag den des angestellten Scheinpartners überwiegen. Der Rechtsschein stammt gleichwohl aus der Risiko- und Einflusssphäre des Scheinpartners; der Scheinpartner ist im Verhältnis zum Gläubiger wesentlich „näher an dem Risiko dran“ und genießt einen Informationsvorsprung.77 Der Scheinsozius muss daher die Konsequenzen der Irreführung tragen und nicht der vertrauende Gläubiger. Das Schutzbedürfnis des angestellten Anwalts fällt darüber hinaus umso weniger ins Gewicht, als ihm regelmäßig im Innenverhältnis Ausgleichsansprüche gegenüber der Gesellschaft zustehen.78 § 8 Abs. 2 PartGG ist daher auch dann anwendbar, wenn ausschließlich ein Scheinpartner mit der Ausübung des Mandats betraut war; wahlweise kann der Gläubiger sich auch auf die wahre Rechtslage berufen. b) Kumulative Haftung? Kann der Gläubiger sich somit entweder auf den Rechtsschein oder auf die wahre Rechtslage berufen, so ist zu klären, in welchem Verhältnis die Haftung der echten Partner im Verhältnis zur Haftung der Scheinpartner steht. War nur ein angestellter Anwalt mit dem Mandat betraut und ist ein hierfür intern zuständiger Partner seinen Überwachungspflichten nicht nachgekommen, so fragt sich, ob sich die Haftung auch auf diesen Partner konzentriert und ob neben seine Haftung die des Scheinpartners tritt. Nach h.M. reicht die Überwachungspflicht für ein „Befassen“ aus.79 Hierfür spricht bereits die insoweit eindeutige Gesetzesbegründung.80 Darüber hinaus will das Gesetz auch gerade den anderen Partnern Rechtssicherheit verschaffen und ihnen die Möglichkeit geben, sich durch Delegation der Aufgaben an einzelne Partner von der persönlichen Haftung zu befreien.81 Bedenken könnten allenfalls 76
Vgl. BGH NJW 1996, 2645; BGH NJW 2007, 1529, 1531. Zum Risikogedanken vgl. Canaris (Fn. 9), S. 479 ff., 482: „Denn mag er auch hoffen, durch diese werde niemand oder wenigstens nur derjenige, demgegenüber er sie gelten zu lassen bereit ist, getäuscht und zu einer ,Vertrauensinvestition‘ veranlasst werden, so schafft er doch eine Gefährdung, die für ihn weit besser überschaubar ist als für den gutgläubigen Dritten und die er ohne Schwierigkeit hätte vermeiden können.“ 78 Zutreffend Langenkamp/Jaeger NJW 2005, 3238, 3240. 79 Ulmer in: MünchKomm-BGB, § 8 PartGG Rn. 22; Grunewald ZAP 2001 Fach 23, 551, 555; Henssler § 8 PartGG Rn. 67, 69; Henssler in: FS Wiedemann, 2002, 907, 29; Jawansky DB 2001, 2281, 2282; Langenkamp/Jaeger NJW 2005, 3239, 3240; G. Roth DB 2007, 616, 618 f.; a.A. Michalski/Römermann § 8 PartGG Rn. 30c; Römermann GmbHR 1997, 530, 537; Römermann NZG 1998, 675, 676; Eigner (Fn. 60), S. 348 ff. 80 BT-Drucks. 13/9820, S. 21: „Befassung bedeutet, dass der Partner den Auftrag selbst bearbeitet oder seine Bearbeitung überwacht hat oder (Hervorhebung durch den Verf.) dies nach der internen Zuständigkeitsverteilung hätte tun müssen.“ 81 BT-Drucks. 13/9820, S. 21. 77
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insoweit bestehen, als der Gläubiger keinen Einblick in die interne Zuständigkeitsverteilung nehmen kann.82 Allerdings ist hierbei zu berücksichtigen, dass die Gesellschafter beweisbelastet sind und ihrerseits vortragen müssen, dass nach der internen Zuständigkeitsaufteilung ein Partner für die Überwachung des Mandats zuständig war.83 Keine Klarheit besteht darüber, in welchem Verhältnis die Haftung des Scheinpartners im Verhältnis zur Haftung der übrigen Partner steht. Hier wird man folgendermaßen differenzieren müssen: War neben dem Scheinsozius noch ein weiterer Partner befasst, so haften beide gem. § 8 Abs. 2 PartGG gesamtschuldnerisch.84 Liegt der Fall jedoch so, dass der Scheinsozius selbstständig agiert hat und kanzleiintern niemand für seine Überwachung zuständig war 85, so kommt eine kumulative gesamtschuldnerische Haftung von Scheinsozius und den echten Partnern nicht in Betracht. Grundsätzlich muss sich der Vertrauende, wenn er sich auf den Rechtsschein beruft, an der Rechtslage festhalten lassen, die eingetreten wäre, wenn der Rechtsschein der Wirklichkeit entsprochen hätte.86 Er darf nicht besser stehen als bei unterstellter Richtigkeit des Rechtsscheins.87 Wäre der Scheinpartner tatsächlich Partner gewesen, so hätte nur er den Gläubigern gem. § 8 Abs. 2 PartGG neben der Gesellschaft gehaftet. Eine zusätzliche Haftung der echten Partner scheidet daher aus; der Gläubiger muss sich entscheiden, wen er in Anspruch nimmt.88 War nach dem kanzleiinternen Verteilungsplan ein bestimmter Partner für die Überwachung des angestellten Scheinpartners zuständig, ist er dieser Aufgabe aber nicht nachgekommen, so würde im Prinzip eine Haftungsbeschränkung auf diesen Partner eintreten. Es ist indessen zweifelhaft, ob er neben dem Scheinpartner kumulativ in Anspruch genommen werden kann.89 Hierfür spricht zunächst, dass der Partner in jedem Fall für die Überwachung des Scheinsozius zuständig war. Jedoch nimmt die kanzleiinterne Zuständigkeit am Rechtsscheintatbestand selbst nicht teil. Ließe man eine kumulative Haftungskanalisierung auf Partner und Scheinpartner zu, so
82
Michalski/Römermann § 8 PartGG Rn. 30c. Ulmer in: MünchKomm-BGB, § 8 PartGG Rn. 22; Henssler § 8 PartGG Rn. 57; Jawansky DB 2001, 2281, 2282. 84 Insoweit zutreffend Langenkamp/Jaeger NJW 2005, 3238, 3240. 85 Eine Haftung der echten Partner kommt dann nur auf der Grundlage von § 8 Abs. 1 PartGG in Betracht, vgl. Henssler § 8 PartGG Rn. 71. 86 BGHZ 12, 105, 109. 87 Canaris (Fn. 9), S. 172, 520; v. Olshausen AcP 189 (1989), 223, 241 f. 88 Vgl. auch BGHZ 86, 273, 275 f.; Karsten Schmidt (Fn. 8), S. 435, 443 ff.: Keine Kumulative Haftung von Vertretenem und Anscheinsbevollmächtigtem. 89 Hierfür wohl Henssler § 8 PartGG Rn. 79; Jawansky DB 2001, 2281, 2284; Eigner (Fn. 60), S. 360. 83
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bedeutete dies letztlich eine Hinwendung zur „Rosinentheorie“ 90, wonach sich der Gläubiger auf den ein Tatbestandsmerkmal seines Anspruch stützenden Rechtsschein berufen kann, diesen Rechtsschein aber bezüglich anderer Anspruchsvoraussetzungen nicht gegen sich gelten lassen muss. Wäre der Scheinpartner tatsächlich Partner gewesen, so wäre nur er mit dem Mandat befasst (§ 8 Abs. 2 PartGG). Die bloße Zuständigkeit des echten Partners reicht – den Partnerstatus des Scheinpartners unterstellt – nicht aus, um von einem Befassen des echten Partners auszugehen: Denn grundsätzlich gilt richtigerweise, dass auch ein Partner, der intern für ein Mandat zuständig gewesen wäre, dann nicht haftet, wenn sich dann ein anderer Partner tatsächlich des Mandates annimmt.91 Eine kumulative Haftung von Partner mit Überwachungspflicht und Scheinpartner ist auch im Hinblick auf den Zweck der Norm zu verneinen, die lediglich sicherstellen will, dass ein Partner den Gläubigern persönlich haftet 92, nicht aber auf eine Qualitätssicherung der Rechtsberatung durch (möglicherweise besser qualifizierte) echte Partner zielt. Ist der echte Partner seiner Überwachungspflicht nachgekommen, hat aber bei der Überwachung einen Fehler begangen, so ist diese Überwachung lediglich ein Beitrag von untergeordneter Bedeutung, § 8 Abs. 2 HS. 2 PartGG. Dies ist bei der Kontrolle eines echten Partners so (etwa im Rahmen eines kanzleiinternen Vieraugenprinzips)93 und muss auch bei Scheinpartnern gelten, wenn der Gläubiger diese in die Haftung nehmen möchte; eine Haftung des überwachenden Partners scheidet dann aus. Es wäre widersprüchlich, wollte der Gläubiger den Angestellten als Partner behandelt wissen, im Rahmen der Rechtsfolge (Haftungskonzentration gem. § 8 Abs. 2 PartGG) sich aber nicht an die Beschränkungen halten, die sich dann ergäben, wenn der Angestellte tatsächlich Partner gewesen wäre. c) Scheinpartnerschaft Haben die Gesellschafter eine Gesellschaft gegründet und den Rechtsschein einer Partnerschaft erweckt, ohne jedoch im Register eingetragen zu sein, ist die Partnerschaft noch nicht wirksam.94 Die Registereintragung hat 90 BGHZ 65, 309, 310 f.; zustimmend Karsten Schmidt (Fn. 8), § 14 II 4. d), S. 402; dagegen zu Recht ablehnend Canaris (Fn. 9), § 5 Rn. 26; Altmeppen Disponibilität des Rechtsscheins, S. 164 ff.; Tiedtke DB 1979, 245; John ZHR 140 (1976), 236, 254; Schilken AcP 187 (1987), 1, 10 f. 91 Henssler § 8 PartGG Rn. 68; a.A. Wehrheim Die Partnergesellschaft, S. 66 f. 92 BT-Drucks. 13/9820, S. 21. 93 BT-Drucks.13/9820, S. 21 („konsularische Beiziehung“ als Fall des § 8 Abs. 2 HS. 2 PartGG); Henssler § 8 PartGG Rn. 73; Henssler ZIP 1997, 1481, 1490; Römermann NZG 1998, 675, 676. 94 Strittig ist lediglich, ob die vor Eintragung in Vollzug gesetzte Gesellschaft eine GbR oder eine Vor-Partnerschaft ist, vgl. hierzu Henssler § 7 PartGG Rn. 7 mwN.
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konstitutive Wirkung (§ 7 Abs. 1 PartGG).95 § 8 Abs. 2 PartGG darf daher keine Anwendung finden.96 Nicht anders ist die Rechtslage dann, wenn die Anwälte nicht einmal eine Gesellschaft gegründet haben, sondern lediglich als Partnerschaft firmieren. Will der Gläubiger auf den ihm nicht gegenüber in Erscheinung getretenen Anwalt zugreifen, so kann er dies gem. § 128 HGB analog tun. Denn selbst wenn seine Vorstellung der Wirklichkeit entsprochen hätte, wäre die Gesellschaft immer noch nicht im Partnerschaftsregister eingetragen und noch nicht konstitutiv entstanden.
IV. Scheinsozien ausländischer Anwaltsgesellschaften Die Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV) gewährt ausländischen Anwaltsgesellschaften das Recht, ihren Verwaltungssitz nach Deutschland zu verlegen und ihre Sozietät in ausländischer Rechtsform zu betreiben97: Die Niederlassungsfreiheit steht nach Art. 48 Abs. 2 EG nicht nur Gesellschaften bürgerlichen Rechts, sondern auch sonstigen juristischen Personen und damit allen rechtsfähigen Personengesellschaften zu.98 Auch für deutsche Anwälte mag es attraktiv erscheinen, sich in der Rechtsform einer Auslandsgesellschaft zu organisieren.99 Die englische und die US-amerikanische100 Limited Liability Partnership (LLP) bieten im Hinblick auf die Möglichkeit einer Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen101 interessante Rechtsformalternativen und erscheinen auch in Anbetracht der Fusionen international ausgerichteter Anwaltssozietäten mehr und mehr auf dem deutschen Anwaltsmarkt. Gerieren sich angestellte Anwälte ausländischer Anwaltsgesellschaften mit Verwaltungssitz in Deutschland bei der Bearbeitung deutscher Mandate als Partner, greift die deutsche Rechtsscheinhaftung ein, denn in Bezug auf die Rechtsscheinhaftung ist international-privatrechtlich an die Entstehung und die Wirkung des Rechtsscheins anzuknüpfen.102 Die Rechtsscheinhaftung
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Vgl. Michalski/Römermann § 7 PartGG Rn. 2; Henssler, § 7 PartGG Rn. 19. Vgl. Michalski/Römermann § 7 PartGG Rn. 5. 97 Vgl. EuGH Slg. 1999, I-1459 (Centros); EuGH Slg. 2002, I-9919 (Überseering). 98 Vgl. Bröhmer in: Calliess/Ruffert, EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 48 EGV Rn. 4 (erfasst sind nur rechtsfähige Gesellschaften). 99 Vgl. hierzu Siems ZVglRWiss 107 (2008), 60 ff. 100 Auch US-amerikanische Gesellschaften steht ein Recht auf Niederlassung in Deutschland zu, vgl. Art. XXV Abs. 5 S. 2 des Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika vom 29.10.1954 (BGBl II 1956, 488) sowie BGH BB 2004, 2595, 2596. 101 Vgl. hierzu eingehend Weller/Kienle DStR 2005, 1060, 1062 f. 102 BGHZ 43, 21, 27; BGH NJW 2007, 1529, 1530; Kindler in: MünchKomm-BGB, 4. Aufl. 2006, IntGesR Rn. 630; differenzierend Brinkmann IPRax 2008, 30, 33. 96
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beruht auf der Verletzung der Verkehrsnorm, den Rechtsverkehr nicht durch falsche Informationen zu Vertrauensdispositionen im Verhältnis zum Rechtsscheinveranlasser zu bringen. Diese Verkehrsnorm gilt auch für ausländische Gesellschaften. Zu einem anderen Ergebnis käme man lediglich dann, wenn die Verkehrspflichten im Zusammenhang mit der Nennung von Gesellschaftern gesellschaftsrechtlich zu qualifizieren wären.103 Dies ist jedoch weder kollisionsnoch europarechtlich geboten: Es geht hier nur um eine Tätigkeitsausübungsregelung, die den Schutz des inländischen Rechtsverkehrs bezweckt und gleichermaßen auch für inländische Gesellschaften gilt. Auch erschwert eine Rechtsscheinshaftung nicht den Zugang zum deutschen Markt – die Anwälte können unproblematisch durch entsprechende Zusätze als NichtPartner gekennzeichnet werden. Entsprechend der Keck-Rechtsprechung des EuGH104 stellt eine Anwendung der Rechtsscheinhaftung (nach deutschem Verkehrsmaßstab) auf Scheinsozien ausländischer Gesellschaften daher keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar.105 Ist eine Rechtsscheinhaftung des Scheinsozius dem Grunde nach möglich, so scheidet sie aber dann aus, wenn die Gesellschafter nach ausländischem Gesellschaftsrecht ohnehin nicht privat haften. Der Gläubiger wird nur so gestellt wie er stünde, wenn der Rechtsschein der Wirklichkeit entspräche. Ein schutzwürdiges Vertrauen in die persönliche Haftung eines Gesellschafters kann sich von vornherein dann nicht bilden, wenn der Mandant weiß, dass er es mit einer Gesellschaft ausländischen Rechts mit Haftungsbeschränkung zu tun hat.
V. Ergebnis 1. Ein Anwaltsvertrag kommt im Regelfall mit der rechtsfähigen GbR oder der Partnerschaft zustande. Sind angestellte Anwälte ohne näheren Zusatz auf dem Briefkopf der Sozietät aufgeführt, haften sie nach § 128 HGB analog bzw. § 8 Abs. 1 S. 1 PartGG i.V.m. Rechtsscheingrundsätzen, wenn die allgemeinen Voraussetzungen der Rechtsscheinhaftung vorliegen. 2. Die Rechtsfigur des Scheinsozius ist entgegen der Rechtsprechung des BGH nicht auf anwaltsspezifische Tätigkeiten beschränkt. Sie ist – den
103 Vgl. Römermann GmbHR 2007, 595 (gesellschaftsrechtliche Qualifikation der Pflicht zur Führung eines Firmenzusatzes). 104 EuGH Slg. 1993, I-6097, Rn. 16 (Keck und Mithouard). Zur Übertragung dieser Rechtsprechung auf die Niederlassungsfreiheit vgl. Eidenmüller in: Eidenmüller, Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, 2004, § 3 Rn. 16 mwN. 105 Vgl. zum Rechtsformzusatz entsprechend BGH NJW 2007, 1529, 1530; Rehberg in: Eidenmüller, § 5 Rn. 102.
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Grundsätzen der Lehre vom Scheingesellschafter entsprechend – auch auf andere Vertragsbeziehungen der Gesellschaft anwendbar. 3. Eine Haftung des Scheinsozius kann sich auch auf Altverbindlichkeiten gem. § 130 HGB analog erstrecken. Allerdings ist in diesen Fällen eine nachträgliche Vertrauensdisposition auf Seiten des Gläubigers erforderlich, die dazu führt, dass der Gläubiger seine Forderung gegenüber der Gesellschaft bzw. gegenüber den Mitgesellschaftern nicht oder nur noch in eingeschränktem Umfang durchsetzen kann. 4. Der Anspruch des Gläubigers umfasst grundsätzlich das positive Interesse. Der Gläubiger wird so gestellt, als ob der Rechtsschein der Wirklichkeit entspräche. Nimmt der Altgläubiger im Vertrauen auf die Haftung des neu eingetretenen Gesellschafters eine Disposition vor, so entsprechen negatives und positives Interesse einander regelmäßig. Ob in diesem Fall auf das positive Interesse gehaftet wird, ist eine grundlegende Frage der Rechtsscheinhaftung. 5. In der Partnerschaft kann es zu einer Haftungsbeschränkung nach § 8 Abs. 2 PartGG kommen. Dem Gläubiger steht ein Wahlrecht zu, ob er (neben der Gesellschaft) den Scheinpartner in Anspruch nehmen möchte oder die wahre Rechtslage gelten lassen will. Die Haftung konzentriert sich dann ggf. auf einen intern für das Mandat bzw. die Überwachung zuständigen Partner. Wählt der Gläubiger den Scheinpartner aus, scheidet allerdings eine kumulative Haftung der echten Partner nach § 8 Abs. 1, 2 PartGG aus. 6. Die Grundsätze der Rechtsscheinhaftung sind dem Grunde nach auch auf einen Scheinsozius einer Auslandsgesellschaft anwendbar. Sieht das Gesellschaftsstatut allerdings eine Beschränkung der Haftung auf das Gesellschaftsvermögen vor, scheidet eine persönliche Inanspruchnahme aus.
Rechtliche Überlegungen zu strukturierten Finanzinstrumenten – insbesondere zu US-CDO’s Dr. Helmut Bruchner I. Entwicklung strukturierter Finanzprodukte Die Ausreichung hypothekarisch gesicherter Darlehen an private Immobilienkäufer ist nicht nur für Hypotheken- bzw. Pfandbriefbanken, sondern für nahezu alle Kreditinstitute ein alltäglicher Vorgang. Seit den 70er Jahren wurden in den USA Konzeptionen entwickelt, wonach tausende von Darlehen gebündelt und auf eigens gegründete Zweckgesellschaften – sogenannte „Single Purpose Corporations“ – übertragen wurden. Die jeweilige Zweckgesellschaft gab sodann Wertpapiere, sogenannte Mortgage Backed Securities (MBS) aus, die an den hypothekarisch gesicherten Zins- und Rückzahlungen der privaten Immobilienkäufer entsprechend partizipieren. Eine Haftung der emittierenden Zweckgesellschaft bestand nicht. Die Wertpapiere wurden von angesehenen Rating-Agenturen geratet und sodann in großem Umfang von institutionellen Anlegern, insbesondere auch von Banken, erworben. Diese Wertpapiere amerikanischen Rechtes waren an keiner Börse notiert; gleichwohl bildete sich rasch ein informeller Markt.1 Auch in Deutschland wurde der Gedanke der Verbriefung von Forderungen in Form von „Asset Backed Securities“ (ABS) 2 umgesetzt. Danach konnten gleichartige unverbriefte oder verbriefte, gesicherte oder ungesicherte Forderungen auf eine Zweckgesellschaft übertragen und die Zahlungsansprüche gegen die Zweckgesellschaft sodann in Form von Wertpapieren bzw. Schuldscheinen verbrieft werden. Der Ausschluss des Regresses für die Uneinbringlichkeit ist ein charakteristisches Merkmal derartiger Transaktionen.3 Die Bonität der ABS wird regelmäßig durch eine Rating-Agentur bescheinigt. Üblich ist auch die Emission mehrerer Tranchen mit unterschiedlicher Bonität. Die bessere, meist volumenmäßig größere „Senior“-Tranche wird gegenüber einer kleineren „Junior“-Tranche vorrangig bedient; die „Junior“1 2 3
Vgl. Lutter Bankenkrise und Organhaftung, ZIP 2009, 197. Vgl. Rundschreiben des BAKred 4/97 vom 19.3.1997, WM 1997, 1821. Vgl. Jahn in: Bankrechtshandbuch § 114a, Rn. 4.
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Tranche übernimmt auf diese Weise gewissermaßen die Funktion eines Puffers, der Verluste abfängt.4 In den USA wurden sodann weitere strukturierte Finanzinstrumente auf der Basis von ABS-Konstruktionen, die „US-Collateralized Debt Obligations“ – auch kurz „US-CDO’s“ genannt – entwickelt, die in großen Volumen weltweit in Umlauf gebracht wurden. Mit diesen Wertpapieren werden Zahlungsansprüche gegen die jeweiligen Emittenten – meist eine Zweckgesellschaft – verbrieft, wobei die Zahlungsansprüche grundsätzlich durch einen von der Emittentin gehaltenen Bestand an Vermögenswerten in Form eines Sicherheitenpools gedeckt werden.
II. Einzelaspekte bei US-CDO’s 1. Sicherheitenpool Der von der Emittentin gehaltene Bestand an Vermögenswerten, der sogenannte Sicherheitenpool, kann verkehrsübliche Forderungen, z.B. Handelsforderungen oder Forderungen aus Immobilien-, Kreditkarten-, Studentendarlehen umfassen. Der Sicherheitenpool kann jedoch auch ganz oder teilweise wiederum aus US-CDO’s und/oder anderen Verbriefungstiteln bzw. strukturierten Wertpapieren bestehen. Auf diese Weise können sich mehrere Sicherheitsebenen mit sehr zahlreichen unterschiedlichen Vermögenswerten ergeben. 2. Mehrere Tranchen mit unterschiedlicher Bonität Die Zweckgesellschaft besorgt sich den Kaufpreis für den Erwerb der Sicherheiten durch die Emission von Anleihen, den US-CDO’s. Die Zweckgesellschaft erfüllt die durch die Emission von US-CDO’s begründeten Zahlungsverpflichtungen mit Hilfe der Zahlungsströme, die aus dem Sicherheitenpool fließen, also mit den Zins- und Tilgungsleistungen auf die verbrieften Forderungen. Der Sicherheitenpool wird von einem Treuhänder verwaltet; dieser zieht die Zahlungen aus den Sicherheiten ein und führt diese an die berechtigten Inhaber der US-CDO’s ab. Die von der Zweckgesellschaft emittierten US-CDO’s werden in Klassen – auch Tranchen genannt – gegliedert. Die verschiedenen Klassen spiegeln die in den umfangreichen Anlagebedingungen festgelegte Befriedigungsreihenfolge wieder. Der Treuhänder befriedigt mit den vorhandenen Mitteln zunächst nur die rangoberste Tranche. Da die rangniedrigeren Tranchen eine
4
Vgl. Jahn in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechtshandbuch § 114a, Rn. 4.
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geringere Bonität aufweisen, sind diese bei etwaigen Ausfällen von Sicherheitenschuldnern entsprechend betroffen. Werden infolge von Zahlungsausfällen die nachrangigen Tranchen zunächst nicht befriedigt, so verlängert sich die Laufzeit dieser US-CDO’s entsprechend. Jede Verlängerung der Laufzeit bringt jedoch einen Wertverlust des Wertpapiers mit sich, da die Zahlungen erst später eingehen. Da für rangniedrigere Tranchen ein höheres Ausfallrisiko besteht, wird zugleich den Inhabern derartiger US-CDO-Anleihen eine entsprechend höhere Verzinsung gewährt. 3. Hohe Komplexität Die US-CDO’s sind Finanzinstrumente von hoher Komplexität. Die strukturierten Anleihen sind nach US-Recht konzipiert; die Funktionsabläufe sind im einzelnen in sehr komplexen umfangreichen Vertragsbedingungen in englischer Sprache festgelegt. Sehr differenziert sind zum einen die Regelungen der Bedienungsrangfolge; hinzu kommen noch weitere Spezialregelungen, wie z.B. die häufig verwendete Trigger-Regelung. Danach kann der Zahlungsstrom zur vorzeitigen Tilgung bestimmter Tranchen vollständig umgelenkt bzw. ein Zwangsverkauf des Sicherheitenpools veranlasst werden, wenn bestimmte Schwellen erreicht sind. Vertragsbedingungen von US-CDO’s sehen ferner häufig vor, dass der Bestand aus Forderungen, den sogenannten Sicherheiten oder „Assets“, mit dem die Zahlungsansprüche aus Wertpapieren gedeckt sind, während der Laufzeit gegen andere Forderungen getauscht werden können. Da sich bereits auf der ersten Ebene des Sicherheitenpools eines CDO’s eine Vielzahl weiterer CDO’s und andere Verbriefungstitel befinden können, ergibt sich aufgrund der differenzierten umfangreichen Anlagebedingungen regelmäßig ein „verschachtelter“ Aufbau der Struktur der Anleihe. 4. Die Funktion von Rating-Agenturen Für das Geschäftsmodell der strukturierten Finanzierungsprodukte ist die Funktion der Rating-Agenturen von ganz erheblicher Bedeutung; im Vordergrund stehen insbesondere die Rating-Agenturen Fitch, Moody’s und Standard & Poors. Rating-Agenturen führen ein Monitoring von verbrieften Forderungen durch und bewerten diese.5 Institutionelle Investoren dürfen eine Anlage nur dann erwerben, wenn Rating-Agenturen eine bestimmte Qualitätsstufe attestieren. Ein positives Testat durch eine Rating-Agentur ist mithin Grundvor-
5 Vgl. Jahresgutachten 2007/08 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – „Das Erreichte nicht verspielen“ – S. 120 f., 159.
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aussetzung dafür, dass ein verbrieftes Finanzprodukt überhaupt einen Abnehmer findet. Die Funktion der Rating-Agenturen hat insbesondere im Zuge der Tranchierung von Kreditportfolios zusätzlich an Bedeutung gewonnen.6 Externe Ratings bestimmen in den bankaufsichtsrechtlichen Bestimmungen von Basel II zudem wesentlich die Eigenkapitalunterlegung für einzelne Aktiva. Nach Ansicht des Sachverständigenrates „übernehmen die RatingAgenturen in der Welt der Verbriefung de facto die Funktion einer globalen Bankaufsichtsbehörde, da die Ratings von den staatlichen Aufsichtsbehörden nicht mehr im einzelnen hinterfragt“ werden.7 Das Rating ist gleichsam das Prüfsiegel für strukturierte Finanzprodukte. Dies gilt in besonderem Maße für die hochkomplexen US-CDO’s. Das Ausfallrisiko der verschiedenen Tranchen eines US-CDO’s und der diesem Finanzinstrument zugrunde liegenden Sicherheiten wird daher von RatingAgenturen bewertet. Die Anleihebedingungen enthalten entsprechende Regelungen. An diesen Ratings orientieren sich die Investoren. Insbesondere bei komplexen Tranchierungsstrukturen sind die von den Rating-Agenturen vergebenen Ratings nach Aussagen des Sachverständigenrates oft der einzige Anhaltspunkt für die Bewertung von Forderungen.8
III. Bilanzierung der US-CDO’s – bewertungsrechtliche Aspekte 1. Einzelabschluss nach HGB Treibt eine Bank mit den US-CDO’s keinen Handel, sondern beabsichtigt diese, die Wertpapiere bis zur Endfälligkeit zu halten, so muss sie diese Wertpapiere in der Bilanz im „Anlagebuch“ halten. Im Gegensatz dazu müssen Investmentbanken und große Geschäftsbanken – wie z.B. die Deutsche Bank und die Commerzbank –, sofern sie mit US-CDO’s Handel betreiben, diese im „Handelsbuch“ führen. Diese Unterscheidung ist für den Fall von Bedeutung, dass sich die Frage von Abschreibung von Wertpapieren stellt, da sodann stark abweichende Verfahren durchgeführt werden müssen, um den jeweiligen Abschreibungsbedarf zu ermitteln.
6 7 8
Vgl. Jahresgutachten 2007/08 des Sachverständigenrates, S. 159. Vgl. Jahresgutachten 2007/08 des Sachverständigenrates, S. 120, 159. Vgl. Jahresgutachten 2007/08 des Sachverständigenrates, S. 158.
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2. Bilanzierung in der Konzernbilanz Gehört eine Bank, die US-CDO’s im Anlagebuch verbucht, einem Konzern an, so sind die US-CDO’s im Konzernabschluss der Muttergesellschaft (einer AG) nach den internationalen Rechnungslegungsstandards (IFRS) zu berücksichtigen. a) Konzernabschluss nach den internationalen Rechnungslegungsstandards IFRS Im internationalen Rechnungslegungsstandard IFRS werden strukturierte Finanzinstrumente – wie die US-CDO’s – nach IAS 39.9 in folgende Kategorien eingeteilt: • „Held for Trading“ („zu Handelszwecken gehalten“): In dieser Bewertungskategorie werden Finanzinstrumente erfasst, die zu Handelszwecken gehalten werden. Finanzinstrumente werden insbesondere dann zu Handelszwecken gehalten, wenn der Inhaber schon bei Erwerb beabsichtigt, diese kurzfristig weiter zu verkaufen. • „Held to Maturity“ („bis zur Endfälligkeit gehalten“): In diese Bewertungskategorie werden nicht derivative Finanzinstrumente mit festen und bestimmbaren Zahlungen sowie einer festen Laufzeit aufgenommen, die der Inhaber bis zur Endfälligkeit halten will. • „Loans and Receivables“ („Kredite und Forderungen“): Diese Bewertungskategorie dient der Erfassung nicht derivativer Finanzinstrumente mit festen und bestimmbaren Zahlungen, die nicht an einem aktiven Markt notiert sind und nicht den Kategorien „Held for Trading“ oder „Available for Sale“ zugeordnet werden. • „Available for Sale“ („zur Veräußerung verfügbar“): Hier werden alle nicht derivaten Finanzinstrumente verbucht, die zur Veräußerung verfügbar sind und nicht bereits einer anderen Kategorie zugeordnet werden. b) Bedeutung der Bewertungskategorien für die Folgebewertung Die Finanzinstrumente sind bei Erwerb nach IAS 39.43 in der Bilanz mit dem aktuellen Zeitwert (Fair Value) anzusetzen. Bei den Folgebewertungen ergeben sich jedoch unter Berücksichtigung der oben beschriebenen Kategorien folgende Unterschiede: • Für die Finanzinstrumente der Kategorie „Held for Trading“ ist der beizulegende Zeitwert maßgeblich. Wertänderungen werden in der Gewinnund Verlustrechnung erfasst. • Bei Finanzinstrumenten der Kategorien „Held to Maturity“ und „Loans and Receivables“ werden die Anschaffungswerte fortgeschrieben. Bei die-
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ser sogenannten „Fortschreibung“ werden etwaige Tilgungen und sogenannte „Impairments“ (vgl. unten III, 2c) in Abzug gebracht. • Bei Finanzinstrumenten der Kategorie „Available for Sale“ wird bei der Folgebewertung vom aktuellen Zeitwert ausgegangen. Anders als bei der Kategorie „Held for Trading“ werden Wertänderungen nicht ohne weiteres ergebniswirksam in der Gewinn- und Verlustrechnung erfasst. Vielmehr werden diese Wertänderungen ergebnisneutral im Eigenkapital in der sogenannten AfS-Rücklage erfasst. Eine ergebniswirksame Abschreibung ist erst bei Vorliegen eines Impairments vorzunehmen. c) Voraussetzungen für das Vorliegen eines Impairments Ein Impairment liegt vor, wenn objektive Hinweise auf eine dauerhafte Wertminderung vorliegen. Nach IAS 39.58 ist an jedem Bilanzstichtag zu ermitteln, ob ein sogenanntes Impairment gegeben ist. Sofern eine Gesellschaft nicht nur einen Jahresabschluss erstellt, sondern nach IFRS auch Quartalsabschlüsse veröffentlicht, sind die Finanzinstrumente jeweils zum Quartalsende auf das Vorliegen von Impairments zu überprüfen. Bei der Überprüfung eines Finanzinstrumentes auf Impairments ist zu untersuchen, ob aufgrund eines Ereignisses die in der Zukunft erwarteten Zahlungsströme nachhaltig gemindert sind. Bei der Bestimmung eines Impairments dürfen nur die zum Abschlussstichtag bereits eingetretenen Verluste berücksichtigt werden. Mögliche Verluste aus künftig erwarteten Ereignissen – etwa einer sich zuspitzenden Finanzkrise – dürfen nach IAS 39.59 ungeachtet der Eintrittswahrscheinlichkeit nicht erfasst werden. Verlustereignisse sind z.B. erhebliche finanzielle Schwierigkeiten des Schuldners, ein Vertragsbruch oder eine hohe Wahrscheinlichkeit eines Insolvenzverfahrens. Die Herabstufung eines Bonitätsratings, das Verschwinden eines aktiven Marktes für die Finanzinstrumente und eine Verminderung des Zeitwertes des Finanzinstrumentes sind dagegen allein noch kein Verlustereignis im Sinne von IAS 39.59. Bei der Prüfung, ob ein Impairment vorliegt, müssen auch die dem Finanzinstrument zugrunde liegenden Geschäfte durchgeschaut werden (sog. Durchschauprinzip). Maßgeblich ist, ob bei den zum Sicherheitenpool gehörenden Forderungen ein Verlustereignis eingetreten ist. Da bei US-CDO’s ein Teil des Sicherheitenpools wiederum US-CDO’s sind, hat das Durchschauprinzip zur Folge, dass über mehrere Ebenen die den jeweiligen USCDO’s zugrunde liegenden Forderungen und Verbriefungstitel überprüft werden müssen. Auch die Einteilung der US-CDO’s in verschiedene Tranchen und die daraus resultierende Bedienungsreihenfolge erschweren die Feststellung, ob ein Impairment vorliegt. Dabei ist von Interesse, dass sich nicht jeder Ausfall eines Sicherheitenschuldners als Impairment auswirkt, da manche Tranchen
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der US-CDO’s bei der Bedienung bevorrechtigt sind. Im Ergebnis muss deshalb nicht nur festgestellt werden, ob Sicherheitenschuldner ganz oder teilweise ausfallen, sondern es ist auch zu prüfen, ob und welche Folgen der Ausfall eines Sicherungsschuldners für die konkrete US-CDO-Tranche hat.
IV. Komplizierte Ermittlung des Wertberichtigungsbedarfs Die Schwierigkeiten bei der Bewertung der US-CDO’s und bei der Ermittlung von Impairments sind auf mehrere Ursachen zurückzuführen: 1. Wertermittlung trotz fehlender Marktpreise Die Krise an den Finanzmärkten hat ab Herbst 2007 zu einer tiefgreifenden Verunsicherung an den Kapitalmärkten mit der Folge geführt, dass Käufer für derartige Finanzinstrumente ausgeblieben sind. Dadurch kam der Handel mit US-CDO’s faktisch zum Erliegen. Damit fiel die Möglichkeit weg, den Preis für US-CDO’s mit Hilfe eines Marktpreises zu ermitteln. Der Wegfall dieser Methode der Preisermittlung zwingt die Finanzinstitute jedoch nicht zur Wertberichtigung; vielmehr darf und muss der Wert eines derartigen Finanzinstrumentes sodann mit Hilfe von komplexen und komplizierten Rechenmodellen ermittelt werden, die regelmäßig mit den Abschlussprüfern der Bankbilanz abzustimmen sind. Dabei sind zunächst die erwarteten Zahlungsströme unter Berücksichtigung der vereinbarten Fälligkeiten des Investments zu ermitteln und sodann mit dem Marktzins zu diskontieren, der aus Daten von externen professionellen Anbietern unter Berücksichtigung der aktuellen Bonitätsratings bestimmt wurde. Die Ermittlung von Marktwerten bei den hoch komplizierten strukturierten Finanzprodukten ist nach dem Wegfall der funktionierenden Märkte ein außerordentlich schwieriger und zeitraubender Prozess geworden. Da der Marktwert von vielerlei Faktoren abhängt, die sich seit Herbst 2007 dynamisch und schwer abschätzbar verändern, können kleine Änderungen in den Annahmen bereits zu drastischen Wertverlusten oder im günstigsten Fall zu einer großen Werterhöhung führen.9 2. Weitere Erschwerungen Auf die hohe Komplexität der strukturierten Finanzinstrumente wie der US-CDO’s sowie auf die komplizierte Regelung der Bedienungsrangfolge, die Möglichkeit des Austausches von Assets sowie den in sich „verschach9 Vgl. so zutreffend: Artikel in der FAZ vom 25.2.2009: „Strukturierte Anleihen sind derzeit kaum zu bewerten“, S. 20.
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telten“ Aufbau von strukturierten US-CDO-Finanzierungsinstrumenten wurde bereits oben (unter II, 2) hingewiesen. Darüber hinaus werden die Bewertungen von US-CDO-Tranchen dadurch erschwert, dass sich die Laufzeit rangniedriger Tranchen verlängert, weil aus dem Sicherheitenpool eingehende Zahlungen nur zur Befriedigung ranghöherer Tranchen gereicht haben. Es kommt hinzu, dass der in den letzten Jahren stark gewachsene Markt für Verbriefungen eine noch relativ „junge Disziplin“ darstellt und eine nachhaltige Erfahrung mit den Bewertungsmodellen fehlt. Bei den US-CDO’s liegt der Dreh- und Angelpunkt für das Rating – aber auch für die Ermittlung des Zeitwertes einer Tranche und das Feststellen eines Impairments – in der angemessenen Bestimmung der Ausfallwahrscheinlichkeit. Im Laufe der sich zuspitzenden globalen Finanzkrise, deren Ausmaße niemand für möglich gehalten hat, mussten erst neue Bewertungsmodelle entwickelt werden, da Erfahrungswerte oder Standards für Bewertungsfragen in Zeiten der Krise diesen Ausmaßes nicht gab. Bei der Bewertung sind alle Marktteilnehmer – und natürlich auch die Rating-Agenturen – nach Wegfall eines funktionierenden Marktes auf statistische Modelle angewiesen, die auf Ausfallwahrscheinlichkeiten und Korrelationen der Vergangenheit basieren. Selbst die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften der Banken stimmten sich wegen der Ausgestaltung neuer Bewertungsmodelle regelmäßig mit der Aufsichtsbehörde ab, um ihre Empfehlungen zu koordinieren. Dass die Bewertung von US-CDO’s und die Ermittlung eines etwaigen Abschreibungsbedarfes nicht auf „Knopfdruck“ möglich sind, sondern zeitintensive Prozessschritte, Überlegungen und Kontrollrechnungen erfordern, um zu konkreten belastbaren Zahlen-Ergebnissen zu kommen, versteht sich von selbst. 3. Auswirkung der bilanzrechtlichen Bewertungskategorie Der Zeitpunkt und die Höhe einer Wertberichtigung bei US-CDO’s hängt auch maßgeblich davon ab, welchen bilanziellen Bewertungskategorien das Finanzinstrument nach IAS 39.3 zugeordnet wird. Hat eine Investmentbank oder etwa eine große Geschäftsbank strukturierte Finanzierungsinstrumente zu Handelszwecken („Held for Trading“) erworben, so müssen Zeitwertverluste – unabhängig vom Vorliegen eines Impairments – in der Gewinn- und Verlustrechnung erfasst werden. Die Zeitverluste wirken sich nämlich auf das Ergebnis sofort aus, wenn die Verkaufsabsicht realisiert wird. Aus diesem Grunde mussten Banken, die US-CDO’s mit der Absicht des Weiterverkaufs erworben hatten, Abschreibungen auf das Finanzinstrument im Ergebnis bereits im Herbst 2007 vornehmen. In diesen Fällen durfte die Wertberichtigung nicht davon abhängig gemacht werden, ob ein „Impairment“ vorlag.
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Anders verhält es sich hingegen bei US-CDO’s, die nicht weiterverkauft, sondern bis zur Endfälligkeit gehalten werden; hier tritt ein „echter Verlust“ im Ergebnis nur bei Zahlungsausfällen – also bei Vorliegen eines Impairments ein. Bei dieser Fallkonstellation führen etwaige Zeitwertverluste nicht zu Abschreibungen, vielmehr werden derartige Zeitwertverluste in der AfS-Rücklage in der Bilanz ausgewiesen. Das Motiv für diese Bilanzregelung besteht darin, dass der Fiskus vermeiden wollte, dass die Inhaber derartiger Finanzinstrumente vorübergehend Minderungen des Zeitwertes zu Abschreibungen nutzen, um ihre Steuerlast zu mindern.
V. Schlussbemerkung Die außerordentlich hohe Komplexität der strukturierten Finanzinstrumente, und dies gilt in besonderem Maße für US-CDO’s, bringt es zwangsläufig mit sich, dass in der Öffentlichkeit, einschließlich der Wirtschaftspresse, teilweise unzutreffende Vorstellungen über die Funktionsweise, Einschätzung und Bewertung dieser Wertpapiere entstanden sind. Die vorstehenden Ausführungen sollen dazu beitragen, das Verständnis für strukturierte Finanzinstrumente zu fördern.
Die Kapitalgesellschaft als Rechtsform anwaltlicher Zusammenarbeit Katharina Deppert I. Einleitung Schon vor 17 Jahren forderte der frühere Präsident des Bundesgerichtshofs Prof. Walter Odersky 1 gesetzliche Regelungen, die es den Rechtsanwälten ermöglichen sollten, sich als juristische Personen mit dem Ziel der Haftungsbegrenzung zu organisieren. Er ging davon aus, dass dieses Ziel nur gesetzgeberisch, nicht aber über Gerichtsentscheidungen erreichbar sei.2 Gleichwohl blieb es zunächst den Gerichten überlassen, darüber zu befinden, ob und unter welchen Voraussetzungen sich die Rechtsanwälte als Kapitalgesellschaften organisieren können. Eine Vorreiterrolle kam insoweit dem I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs zu.3 Dieser hatte in seinem Urteil vom 25.11. 1993 entschieden, dass § 1 ZHG dem Angebot einer GmbH, ambulante Zahnbehandlungen als eigene vertragliche Leistungen anzubieten und zu erbringen, grundsätzlich nicht entgegensteht.4 Der Entscheidung konnten wesentliche, auch für die Zulässigkeit der Rechtsanwaltskapitalgesellschaft geltende Erwägungen entnommen werden. Im Hinblick auf Art. 12 GG kommt es nicht darauf an, ob es gesetzliche Bestimmungen gibt, die die in Rede stehende Geschäftstätigkeit einer juristischen Person zulassen, sondern es ist umgekehrt entscheidend, ob es rechtliche Regelungen gibt, die eine entsprechende Berufsausübung verbieten. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass das Bayerische Oberste Landesgericht 5 wenig später die Eintragungsfähigkeit einer Anwalts-GmbH in das Handelsregister bejahte. Das im Hinblick auf Art. 12 GG für eine Nichtanerkennung erforderliche Verbot konnte das Gericht weder den Gesetzen noch dem gewohnheitsrechtlich fixierten Berufsbild des Rechtsanwalts entnehmen. Mit dem Gesetz zur Änderung der Bundesrechtsanwalts1 2
AnwBl. 1991, 238, 242. So auch BGH, Urt. v. 25.6.1992 – I ZR 120/90, NJW 1992, 3037, 3039; BGHZ 119, 225,
234. 3 4 5
BGHZ 124, 224. Vgl. auch BGH, GRUR 1992, 175 = NJW-RR 1992, 430. Beschl. v. 24.11.1994, NJW 1995, 199, 200.
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ordnung, der Patentanwaltsordnung und anderer Gesetze vom 31.8.1998 6 wurde durch Einfügung der §§ 59c ff. BRAO der gesetzliche Ordnungsrahmen für die sogenannte Rechtsanwaltsgesellschaft, eine GmbH, deren Unternehmensgegenstand die Beratung und Vertretung in Rechtsangelegenheiten ist (vgl. § 59c BRAO), geschaffen. Zur Frage der Zulassung auch anderer Gesellschaftsformen, insbesondere von Aktiengesellschaften, als Anwaltsgesellschaften wollte der Gesetzgeber keine Aussage treffen.7 Insbesondere verzichtete er nach der von der Literatur geäußerten Kritik 8 auf das im Referentenentwurf noch vorgesehene verdeckte Verbot der Anwalts-AG durch Ausklammerung dieser Rechtsform aus Art. 1 § 3 Nr. 2 RBerG.9 Der Gesetzgeber sah sich zu einer Regelung der Anwalts-AG offensichtlich deshalb nicht veranlasst, weil eine Eintragung einer Anwalts-AG zum Zeitpunkt der gesetzlichen Neuregelung noch nicht beantragt worden war.10 Entsprechend der Entwicklung bei der Anwalts-GmbH dauerte es aber nicht lange, bis der Versuch unternommen wurde, auch eine Anwalts-AG in das Handelsregister eintragen zu lassen. Wieder war es das Bayerische Oberste Landesgericht, welches über die Eintragungsfähigkeit zu befinden hatte. Mit derselben Begründung, mit der es die Eintragungsfähigkeit der Rechtsanwalts-GmbH bejaht hatte, sprach es sich für die Eintragungsfähigkeit einer Anwalts-AG aus.11
II. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Zulassung der Rechtsanwaltsaktiengesellschaft Der Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts hatte zunächst nur für das handelsgerichtliche Eintragungsverfahren Bedeutung. Ungeklärt blieb die Frage, ob eine Rechtsanwalts-AG analog der nunmehr für die Rechtsanwalts-GmbH geltenden Regelungen nach § 59c ff. BRAO zugelassen werden kann.12 Diese Frage hatte der Anwaltssenat des Bundesgerichtshofs in seinem Beschluss vom 10.1.200513 zu beantworten.
6
BGBl. I, 2600. BT-Drucks. 13/9820, S. 11; dagegen ist wegen der erschöpfenden Aufzählung der zulässigen Gesellschaftsformen in § 1a österr. RAO in Österreich nur die GmbH, nicht auch die AG zulassungsfähig: Feil/Wennig Anwaltsrecht, 5. Aufl., § 1a Rn. 1; Benn-Ibler österr. AnwBl. 2008, 389 ff., 391. 8 Henssler ZIP 1997, 1481, 1489. 9 Vgl. Henssler ZIP 1997, 1481, 1489. 10 Muthers NZG 2001, 930; vgl. Henssler in: Henssler/Prütting, BRAO, 2. Aufl., Vorb. § 59c Rn. 19. 11 Beschl. v. 27.3.2000 – 3 ZBR 331/99, NJW 2000, 1647. 12 Vgl. Hergeth DStR 2000, 1154. 13 AnwZ (B) 27/03 und 28/03, BGHZ 161, 376 ff.; NJW 2005, 1568. 7
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Der Bundesgerichtshof ging wie zuvor das Bayerische Oberste Landesgericht in Übereinstimmung mit der herrschenden Lehre 14 davon aus, dass ein gesetzliches Verbot für die Tätigkeit einer Anwalts-AG nicht besteht. Diese Annahme ist berechtigt, weil der Gesetzgeber, wie aus der amtlichen Begründung hervorgeht, auf eine Aussage zur Zulässigkeit der Anwalts-AG bewusst verzichtet hatte. Mit der aus der Entscheidung zur Zahnbehandlungs-GmbH bekannten Begründung, wonach es lediglich darauf ankommt, ob es Regelungen gibt, die die entsprechende Berufungsausübung verbieten, hat der Anwaltssenat deshalb eine grundsätzliche Zulässigkeit der AnwaltsAG bejaht. Den Anspruch auf Zulassung als Rechtsanwaltsgesellschaft hat der Anwaltssenat aus Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 3 GG hergeleitet, weil die erkennbare Absicht des Gesetzgebers, sich einer Stellungnahme zur berufsrechtlichen Zulassung einer Anwalts-AG zu enthalten, einer Zulassung im Wege einer schlichten Analogie zu §§ 59c ff. BRAO entgegenstehe. Der Senat war der Ansicht, dass die Aktiengesellschaft in berufsrechtlicher Hinsicht nicht schlechter stehen darf als die GmbH, für die in §§ 59c ff. BRAO die Möglichkeit geschaffen wurde, als Rechtsanwaltsgesellschaft zugelassen zu werden. Daraus folgerte der Senat, dass ein Zulassungsanspruch dann besteht, wenn die Aktiengesellschaft in einer ihrer Rechtsform entsprechenden Weise den wesentlichen Anforderungen genügt, die an die Zulassung einer Kapitalgesellschaft zu stellen sind und die in §§ 59c ff. BRAO für die Zulassung einer GmbH ihren Niederschlag gefunden haben.
III. Die zulässigen Betätigungsformen einer Rechtsanwaltsaktiengesellschaft Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs hat Zustimmung 15, aber auch Kritik16 erfahren. So wird die Frage gestellt, ob es der Schaffung einer zulassungsfähigen Anwalts-AG bedarf oder ob nicht eine bloße Organisationsbzw. Besitzstandsgesellschaft den Bedürfnissen der Rechtsanwaltschaft genügt hätte. Hier bestehen jedoch gewichtige Unterschiede. Die Organisations- bzw. Besitzstandsgesellschaft – die Unterschiede zwischen diesen
14 Römermann Entwicklungen und Tendenzen bei Anwaltsgesellschaften, 1995 S. 183 ff.; ders., ZAP Fach 23, 461; Stabreit NZG 1998, 452; Heublein AnwBl. 1999, 304; Muthers NZG 2001, 930, 931; Henssler in: Henssler/Prütting, BRAO, 2. Aufl., Vorb. § 59c Rn. 18 f.; Brandi in: Kilian/vom Stein, Praxishandbuch für Anwaltskanzlei und Notariat, § 18 Rn. 141; a.A. Hommelhoff/Schwab WiB 1995, 115, 117. 15 Henssler AnwBl. 2005, 374, 377. 16 Römermann BB 2005, 1135; Pluskat AnwBl. 2005, 609; Kempter/Kopp BRAK-Mitt. 2005, 174, 175; Passarge NJW 2005, 1835.
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beiden Gesellschaften sind fließend 17 – kann die Anwaltsaufträge entgegennehmen, darf diese jedoch nur durch zugelassene Rechtsanwälte ausführen lassen und ihnen den hierfür erforderlichen organisatorischen Rahmen zur Verfügung stellen.18 Es handelt sich gleichsam um eine „Bürogemeinschaft in der Rechtsform der AG“ 19. Mit der Einfügung der §§ 59c ff. BRAO hat der Gesetzgeber die davon zu unterscheidende Rechtsanwaltsgesellschaft in der Rechtsform der GmbH anerkannt. Nach dem in § 59c Abs. 1 BRAO geäußerten Willen des Gesetzgebers, der als Unternehmensgegenstand der Rechtsanwaltsgesellschaften die Beratung und Vertretung in Rechtsangelegenheiten vorsieht, sind die Rechtsanwaltsgesellschaften „nicht nur Instrumente zur gemeinschaftlich rechtsbesorgenden Berufstätigkeit der in ihr verbundenen Personen“, sondern durch das ihnen zurechenbare Verhalten der sie vertretenden Personen (§ 59l Satz 3 BRAO) sind sie „selbst Erbringer der rechtsbesorgenden Dienstleistungen.20 Folgerichtig hat der Gesetzgeber in § 59l Satz 1 BRAO vorgesehen, dass eine zugelassene Rechtsanwalts-GmbH postulationsfähig ist. Hingegen dürfte eine nicht zugelassene Kapitalgesellschaft lediglich als Organisationsgesellschaft, also als bloßes Instrument zur gemeinschaftlichen rechtsbesorgenden Berufstätigkeit der in ihr verbundenen Personen 21, tätig werden. Sie würde anders als die zugelassene Rechtsanwaltsgesellschaft nicht wie ein Rechtsanwalt behandelt und könnte selbst keine Rechtsbesorgung wahrnehmen. Ihr würde der Zugang zur eigenen anwaltlichen Berufstätigkeit verwehrt. Mit der wohl herrschenden Meinung in der Literatur 22 und mit dem Bundesfinanzhof 23 ist davon auszugehen, dass der nicht zugelassenen Kapitalgesellschaft im Anwaltsprozess die Postulationsfähigkeit fehlen würde.24 Der Wortlaut des § 78 Abs. 1 ZPO setzt voraus, dass sich die Parteien in Anwaltsprozessen durch einen zugelassenen Rechtsanwalt vertreten lassen müssen. Dazu genügt es nicht, dass für die Anwalts-AG ihre selbst zugelassenen angestellten Rechtsanwälte tätig würden.25 Wenn die Prozessvollmacht lediglich der Anwalts-AG erteilt werden soll, ist sie die Prozess-
17 Vgl. Gail/Overlack Anwaltsgesellschaften, 2. Aufl. S. 8 Rn. 19; BayOblG, NJW 1996, 3217, 3218. 18 BayOblG, NJW 1996, 3217, 3218; Kempter/Kopp NJW 2001, 777, 778. 19 Henssler AnwBl. 2005, 374, 375. 20 Amtl. Begr. BT-Drucks. 13/9820, S. 11. 21 Vgl. Regierungsbegründung BT-Drucks. 13/9820. 22 Henssler NZG 2000, 875; ders. in: Henssler/Prütting, BRAO, 2. Aufl., Vorb. § 59c Rn. 25; Kilian NZG 2001, 150, 151; Brandi in: Kilian/vom Stein, Praxishandbuch für Anwaltskanzlei und Notariat, § 18 Rn. 143. 23 BFH, BRAK-Mitt. 2005, 93; BFH, BFH/NV 2005, 570. 24 A.A. Pluskat AnwBl. 2005, 609, 610; diess. AnwBl. 2003, 131, 139. 25 So aber Pluskat AnwBl. 2003, 131, 139.
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vertreterin, und sie muss auch zugelassen sein.26 Dies ist durch die mit dem Zulassungsverfahren verbundene berufsrechtliche Kontrolle gerechtfertigt.27
IV. Die zugelassene Rechtsanwaltsaktiengesellschaft Der Bundesgerichtshof hat die Zulassungsvoraussetzungen für die Rechtsanwalts-AG in Anlehnung an §§ 59c ff. BRAO bestimmt.28 Daran hat er trotz teilweise geäußerter Kritik 29 festgehalten.30 Zu einer analogen Anwendung der §§ 59c ff. BRAO sah sich der Anwaltssenat, wie bereits erwähnt, nicht ermächtigt, weil er im Hinblick auf den ausdrücklichen Regelungsverzicht des Gesetzgebers eine planwidrige Regelungslücke nicht erkennen konnte. Dagegen wurde vorgebracht, dass sich der Senat in Widerspruch zu dieser Prämisse setze, wenn er die Zulassungsvoraussetzungen dennoch nach §§ 59c ff. BRAO bestimme.31 Diese Kritik ist nicht berechtigt.32 Aus Art. 3 GG i.V.m. Art. 12 GG ergibt sich der Anspruch der Anwalts-AG, unter den gleichen Voraussetzungen als Rechtsanwaltsgesellschaft zugelassen zu werden wie die Anwalts-GmbH. Da die Anwalts-GmbH nur unter den in §§ 59d BRAO festgelegten Voraussetzungen als Rechtsanwaltsgesellschaft zugelassen werden kann, gelten diese Voraussetzungen deshalb auch für die Anwalts-AG. Gegen die Heranziehung der für die Anwalts-GmbH geltenden Zulassungsvoraussetzungen sprechen nicht die zwischen der GmbH und der Aktiengesellschaft bestehenden Strukturunterschiede.33 Allerdings sind die zwischen den beiden Rechtsformen bestehenden Unterschiede bei der Heranziehung der §§ 59c ff. BRAO zu berücksichtigen.34 Diesen Unterschieden hat der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 10.1.2005 dadurch Rechnung getragen, dass er den Zulassungsanspruch davon abhängig gemacht hat, dass die Aktiengesellschaft in einer „ihrer Rechtsform entsprechenden Weise“ den wesentlichen Anforderungen genüge, die an die Zulassung einer Kapitalgesellschaft zu stellen sind. Die zwischen der Aktien-
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Vgl. § 59l Satz 3 BRAO, § 62 Abs. 2 Satz 3 FGO und § 62 Abs. 2 FGO. Henssler NZG 2000, 875; Kilian NZG 2001, 150, 151. 28 BGHZ 161, 376, 377. 29 Römermann BB 2005, 1135; Passarge NJW 2005, 1835. 30 Beschl. v. 14.11.2005, ZIP 2006, 282, 284. 31 Römermann BB 2005, 1135. 32 Vgl. aber Henssler AnwBl. 2005, 374, 375, der darauf hinweist, dass eine Regelungslücke auch dann planwidrig ist, wenn die Rechtsordnung eine Regelung – unter Berücksichtigung des Gleichheitssatzes – an sich fordern würde. 33 A.A. Passarge NJW 2005, 1835. 34 So enthalten die §§ 59c ff. BRAO beispielsweise keine Vorschrift über die Besetzung des Aufsichtsrats, da dies kein typisches Organ dieser Rechtsform ist. 27
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gesellschaft und der GmbH bestehenden Strukturunterschiede rechtfertigen es aber nicht, vorrangig die für die Anerkennung als Steuerberatungs-AG oder Wirtschaftsprüfungs-AG geltenden Vorschriften (§§ 49 StBerG und §§ 27 f. WPO) heranzuziehen.35 Dem widerspricht bereits die unterschiedliche Zielrichtung der Anerkennungsverfahren nach §§ 49 ff. StBerG und §§ 27 f. WPO. Dort wird die Befugnis zu unbeschränkter Hilfeleistung in Steuersachen bzw. zur Wirtschaftsprüfertätigkeit verliehen, während die Anwalts-AG umfassend Rechtsbesorgung ausüben will. Die Ausgestaltung einer der Zulassung zugänglichen Anwalts-AG wirft eine Vielzahl ungeklärter Rechtsfragen auf.36 1. Die Firma § 59k Abs. 2 BRAO ordnet für die GmbH an, dass andere als zugelassene Rechtsanwaltsgesellschaften die Bezeichnung „Rechtsanwaltsgesellschaft“ nicht führen dürfen. Da eine zugelassene Anwalts-AG aus Art. 12 GG i.V.m. Art. 3 GG einen Anspruch darauf hat, wie die zugelassene Anwalts-GmbH im Rechtsverkehr auftreten zu können, muss man auch ihr das Recht zugestehen, die Bezeichnung „Rechtsanwaltsgesellschaft“ zu führen. In Verbindung mit § 4 AktG ist die zugelassene Aktiengesellschaft deshalb berechtigt und verpflichtet, sich „Rechtsanwaltsaktiengesellschaft“ zu nennen. § 59k Abs. 1 BRAO sieht für die zugelassene Anwalts-GmbH vor, dass die Firma der Gesellschaft den Namen wenigstens eines Gesellschafters, der Rechtsanwalt ist, enthalten muss. Diese Verpflichtung zur partiellen Personenfirma muss – unterstellt, sie hält einer verfassungsrechtlichen Prüfung stand 37 – auch für die zugelassene Anwalts-AG gelten.38 2. Erfordernis einer Berufshaftpflichtversicherung gemäß § 59j BRAO Wie der Bundesgerichtshof entschieden hat, ist die Zulassung der Rechtsanwalts-AG vom Nachweis einer den Anforderungen des § 59j BRAO ge-
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A.A. Passarge NJW 2005, 1835. Grunewald NJW 2008, 3621, 3622. 37 Für Verfassungswidrigkeit Henssler in: Henssler/Prütting, BRAO, 2. Aufl., § 59k Rn. 2. 38 Henssler in: Henssler/Prütting, BRAO, 2. Aufl., Vorb. § 59c BRAO Rn. 30; anders die wohl h.M., die allerdings nicht zwischen Organisations- und Anwalts-AG differenziert und lediglich für die nicht zugelassene Aktiengesellschaft Geltung haben dürfte: BayObLG, NJW 2000, 1647, 1648; Schumacher AnwBl. 2000, 409, 410; Pluskat AnwBl. 2003, 131, 138; Heublein AnwBl. 1999, 304, 306; Römermann ZAP Fach 23, 461, 471; Brandi in: Kilian/ vom Stein, Praxishandbuch für Anwaltskanzlei und Notariat, § 18 Rn. 145; Kleine-Cosack BRAO, 5. Aufl., § 59k Rn. 12; Muthers NZG 2001, 930, 933. 36
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nügenden Berufshaftpflichtversicherung der Aktiengesellschaft abhängig.39 Dass § 59j Abs. 2 BRAO über die Mindestversicherungssumme für die Rechtsanwalts-GmbH mit Art. 12 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist, hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 22.1.200140 entschieden. Gemäß § 59b Nr. 3 BRAO setzt eine Zulassung voraus, dass der Abschluss der Berufshaftpflichtversicherung nachgewiesen wird oder dass eine vorläufige Deckungszusage vorliegt. Diese Bestimmungen gelten entsprechend für die Anwalts-AG. 3. Anforderungen an den Gesellschaftsvertrag (Satzung) der zugelassenen Rechtsanwaltsaktiengesellschaft Der Bundesgerichtshof hat in der Entscheidung vom 10.1.2005 41 den Kreis der Aktionäre einer zugelassenen Anwalts-AG in Anlehnung an § 59e BRAO auf die in der Gesellschaft beruflich tätigen Rechtsanwälte und Angehörige der in § 59a Abs. 1, Abs. 3 BRAO genannten Berufe begrenzt. Um der Rechtsanwaltskammer die erforderliche Überprüfung der Zulassungsvoraussetzungen und ihres Fortbestandes zu ermöglichen, hat die Rechtsanwalts-AG in gleicher Weise wie jeder Rechtsanwalt an der Ermittlung des Sachverhalts mitzuwirken (§ 36a Abs. 2 BRAO) und ebenso wie die GmbH (§ 59m Abs. 1 BRAO) jede Änderung der Satzung, der Aktionäre, des Vorstands und des Aufsichtsrates sowie die Errichtung oder Auflösung von Zweigniederlassungen der Landesjustizverwaltung und der Kammer unverzüglich anzuzeigen. Dazu ist sie in der Lage, wenn die Aktien nach der Satzung als vinkulierte Namensaktien, deren Übertragung an die Zustimmung der Gesellschaft gebunden bleibt (§ 68 Abs. 2 AktG), ausgegeben werden. Die Anforderungen, die der Bundesgerichtshof an den Vorstand der zuzulassenden bzw. zugelassenen Anwalts-AG stellt, entsprechen denen, die gemäß § 59 f. BRAO für die Geschäftsführung einer GmbH gelten.42 Das bedeutet, dass der Vorstand der zugelassenen Rechtsanwalts-AG mehrheitlich und verantwortlich mit anwaltlichen Vorstandsmitgliedern besetzt werden muss. Dass dies zu einer Erschwerung interdisziplinärer Zusammenarbeit auf Geschäftsführungsebene führen kann 43, muss hingenommen werden. Da der Aufsichtsrat kein typisches Organ der GmbH ist, enthalten die §§ 59c ff. BRAO keine Vorschrift über dessen Besetzung. Hier hat der Bundesgerichtshof klargestellt, dass der Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft, die
39 BGHZ 161, 376, 387; a.A. Passarge NJW 2005, 1835, 1838; kritisch gegen deren Höhe grundsätzlich Kleine-Cosack AnwBl. 2007, 737, 738. 40 VersR 2001, 1272. 41 BGHZ 161, 376, 387. 42 BGHZ 161, 376, 387. 43 Pluskat AnwBl. 2003, 131, 137 und AnwBl. 2005, 609, 612.
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ihre Zulassung begehrt, dieselben Anforderungen erfüllen muss, wie sie für einen bei der GmbH gemäß § 52 Abs. 1 GmbHG gebildeten fakultativen Aufsichtsrat nach § 59f Abs. 1 Satz 1 gelten würden.44 Daraus ergibt sich, dass dieses Kontrollorgan bei der Aktiengesellschaft mit aktiv in der Gesellschaft tätigen Angehörigen sozietätsfähiger Berufe zu besetzen ist 45, wenn und soweit die Satzung vorsieht, dass bestimmte Arten von Geschäften mit seiner Zustimmung vorgenommen werden dürfen (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG). In diesen Fällen wird man entsprechend § 59f Abs. 1 Satz 2 BRAO verlangen müssen, dass die Aufsichtsratsmitglieder mehrheitlich Rechtsanwälte sind. Durch das Erfordernis der verantwortlichen Führung der Rechtsanwaltsgesellschaft durch Rechtsanwälte wollte der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung tragen, dass diese selbst rechtsbesorgend, also wie ein Rechtsanwalt tätig wird.46 Ist der Aufsichtsrat lediglich als Kontrollorgan tätig, lässt sich die generelle Beschränkung des Kreises der Aufsichtsratsmitglieder auf aktiv in der Aktiengesellschaft tätige Rechtsanwälte oder Angehörige der sozietätsfähigen Berufe damit rechtfertigen, dass das Einsichtsrecht des Aufsichtsrats zu Kollisionen mit dem anwaltlichen Berufsgeheimnis führen kann.47 Der hiergegen erhobene Einwand, dass § 59m Abs. 3 BRAO bei entsprechender Anwendung auf die Aktiengesellschaft die Gesellschafter und die Mitglieder des Aufsichtsrates ohnehin zur Verschwiegenheit verpflichten würde48, erscheint nicht zwingend. Ist gemäß § 96 AktG i.V.m. §§ 77, 76 Abs. 1 BetrVG 1952 wegen einer in der Aktiengesellschaft tätigen Arbeitnehmerzahl von über 500 der Aufsichtsrat zu einem Drittel mit Vertretern der Arbeitnehmer zu besetzen, hat dies zwangsläufig zur Folge, dass auch Nicht-Berufsträger in den Aufsichtsrat entsandt werden.49 Ohne eine klare gesetzgeberische Entscheidung können die Rechte der Arbeitsnehmer nicht beschnitten werden. Ob es zur Wahrung des Berufsgeheimnisses genügt, dass die Aufsichtsratsmitglieder entsprechend § 59m Abs. 3 BRAO der Verschwiegenheitspflicht unterliegen, ist allerdings fraglich.50
44 BGHZ 161, 376, 386 unter Verweis auf Henssler in: Henssler/Prütting, BRAO, 2. Aufl., § 59 f. Rn. 9. 45 So auch Henssler AnwBl. 2005, 374, 375. 46 BT-Drucks. 13/9820 S. 15. 47 Henssler AnwBl. 2005, 374, 375; Stabreit NZG 1998, 452, 453; Heublein AnwBl. 1999, 306; Schumacher AnwBl. 1998, 364, 366, der allerdings nicht die aktive Mitarbeit verlangt; a.A. Römermann Entwicklungen und Tendenzen bei Anwaltsgesellschaften, 1995, S. 183 ff. 48 Muthers NZG 2001, 930, 932. 49 Henssler in: Henssler/Prütting, BRAO, 2. Aufl, § 59f Rn. 10. 50 Muthers NZG 2001, 930, 932.
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V. Zulässigkeit einer Organisationsbzw. Besitzstandsaktiengesellschaft Nicht zu entscheiden hatte der Anwaltssenat, ob neben der zugelassenen Anwalts-AG auch weiterhin eine nicht zugelassene Organisations- bzw. Besitzstands-AG bestehen kann. Nach allgemeiner Meinung ist nach der Neuregelung der BRAO die Zulassung der Anwalts-GmbH Voraussetzung für ihre anwaltliche Berufsausübung.51 Als Organisationsgesellschaft darf die Anwalts-GmbH damit nicht mehr tätig werden. Ob für die Anwalts-AG ebenso wie für die Anwalts-GmbH ein Zulassungszwang besteht, ist streitig. Da der Anwaltssenat, als er einen Anspruch der Anwalts-AG auf die beantragte Zulassung aus Art. 12 GG und Art. 3 GG zugesprochen hat, eine Regelungslücke ausdrücklich verneint und die Vorschriften der BRAO über die Ausgestaltung der GmbH nur entsprechend herangezogen hat, wird es schon aus Rechtsgründen für ausgeschlossen gehalten, einer Organisations- und Besitzstands-AG die Anerkennung zu versagen.52 Nach Auffassung des OLG Hamm in seinem Beschluss vom 26.6.2006 besteht keine hinreichende Rechtsgrundlage für eine Zulassungspflicht der Anwalts-AG.53 Erhebliche Schwierigkeiten würden sich jedoch unter anderem hinsichtlich der Unterscheidbarkeit der beiden nebeneinander bestehenden unterschiedlichen Betätigungsformen der Anwalts-AG ergeben. Könnte sich die nicht zugelassene Aktiengesellschaft als Rechtsanwalts-AG bezeichnen, würde den angesprochenen Verkehrskreisen der unzutreffende Eindruck vermittelt, die Aktiengesellschaft sei zur Rechtsanwaltschaft zugelassen, sei selbst postulationsfähig und unterliege als solche dem Berufsrecht der Rechtsanwälte. Da es inzwischen die zugelassene Anwalts-AG gibt, kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass der Verkehr mit der Angabe „Rechtsanwaltsaktiengesellschaft“ lediglich die Vorstellung verbindet, die fragliche Gesellschaft werde von Rechtsanwälten verantwortlich geleitet. Die Gefahr einer Verwechslung der zugelassenen mit der nicht zugelassenen Aktiengesellschaft wird auch dann nicht ausgeräumt, wenn man trotz verfassungsrechtlicher Bedenken 54 für die zugelassene Anwalts-AG an dem Zwang zur partiellen Personenfirma nach § 59k Abs. 1 BRAO festhält, während es
51 Henssler in: Henssler/Prütting, BRAO, 2. Aufl., § 59c BRAO Rn. 1; Feuerich/Weyland BRAO, 6. Aufl., § 59c Rn. 8; Zuck MDR 1998, 1317, 1318; BT-Drucks. 13/9820, S. 12. 52 Henssler Festschrift für Busse, 2005, 127 f., 146; Henssler AnwBl. 2005, 374, 376; Henssler in: Henssler/Prütting, BRAO, 2. Aufl., Vorb. 59c Rn. 24, 25; Stabreit NZG 1998, 452, 454. 53 NJW 2006, 3434. 54 Vgl. Henssler in: Henssler/Prütting, BRAO, 2. Aufl., Vorb. § 59c BRAO Rn. 30, § 59k Rn. 2.
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der nicht zugelassenen Anwalts-AG ohne Weiteres erlaubt wäre, zwischen der Personen-, Sach- und Phantasiefirma zu wählen. Den angesprochenen Verkehrskreisen dürfte diese Unterscheidung nicht bekannt sein, und sie dürfte ihnen auch kaum erkennbar sein. Aus den dargelegten Gründen müsste der nicht zugelassenen Rechtsanwalts-AG die Firmierung als „Rechtsanwaltsaktiengesellschaft“ auch gemäß § 5 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 3 UWG verboten sein. Dies gilt wegen der Verwechselbarkeit zugleich für die Bezeichnungen „Anwaltsaktiengesellschaft“ und „Anwalts-AG“.55 Ließe man neben der zugelassenen Anwalts-AG die bloße OrganisationsAG zu, wäre diese nicht den Ordnungsvorschriften der §§ 59c ff. BRAO unterworfen, und es würde an einer Rechtfertigung dafür fehlen, ihr die für eine Rechtsanwaltsgesellschaft bestehenden Berufspflichten unmittelbar aufzuerlegen. Hinsichtlich des Erfordernisses einer Berufshaftpflichtversicherung wäre zu fragen, ob sich für sie eine entsprechende Verpflichtung aus § 59j BRAO ergeben könnte oder ob sich diese lediglich für die einzelnen Rechtsanwälte aus § 51 BRAO herleiten ließe, aus dem sich das generelle Verbot rechtsanwaltlicher Tätigkeit ohne versicherungsmäßige Absicherung ergibt.56 Für eine erhöhte Mindestversicherungssumme gegenüber der für den Rechtsanwalt gemäß § 51 Abs. 2 BRAO vorgesehenen Mindestversicherungssumme wird aber ein Bedürfnis gesehen. Bei der nicht zugelassenen Anwalts-AG ist dann, wenn die Verträge mit den angestellten Rechtsanwälten nicht selbst geschlossen werden, eine persönliche Haftung des Rechtsanwalts nur aus Delikt denkbar 57; dies gilt vor allem bei außergerichtlicher Tätigkeit, weil es hier einer Vollmacht des Einzelanwalts nicht bedürfte. Deshalb wird von der herrschenden Meinung in der Literatur vertreten, dass auch auf die Organisations-AG § 59j BRAO analoge Anwendung finden muss.58 Dem könnte aber nicht gefolgt werden. Da die Organisations-AG keinen Berufspflichten unterläge, ließe sich eine entsprechende Anwendung des immerhin belastenden § 59j BRAO methodisch nicht begründen. Der Rückgriff auf die Berufspflichten der in ihr organisierten Rechtsanwälte könnte es allenfalls rechtfertigen, von einer für diese nach § 51 Abs. 4 BRAO geltenden Mindestversicherungssumme auszugehen. Von diesen beispielhaft dargestellten Schwierigkeiten bei einem Nebeneinander von zugelassener Anwalts-AG und nicht zugelassener Organisations-/ Besitzstands-AG abgesehen, insbesondere der Gefahr der Irreführung der
55 Vgl. auch § 132a Abs. 2 StGB und die hierin zum Ausdruck kommende Wertung des Gesetzgebers. 56 So Pluskat AnwBl. 2003, 131, 140; Passarge NJW 2005, 1835, 1838; Schumacher AnwBl. 2000, 409, 410. 57 Vgl. für die Rechtsanwalts-GmbH Feuerich/Weyland BRAO, 6. Aufl. § 59c Rn. 6. 58 Kempter/Kopp NJW 2001, 777, 781; Pluskat AnwBl. 2003, 131, 140; Henssler in: Henssler/Prütting, BRAO, 2. Aufl., Vorb. § 69c Rn. 23.
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interessierten Verkehrskreise, ist zu überlegen, ob die Anerkennung einer bloßen Organisations-AG schon deshalb gerechtfertigt sein muss, weil eine Analogie zu den §§ 59 ff. BRAO für die GmbH ausscheidet. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 10.1.2005 59 beruht auf der Erwägung, den Vorschriften über die Zulässigkeit der Anwalts-GmbH und über ihre Ausgestaltung sei nicht zu entnehmen, dass der Gesetzgeber eine Anwalts-AG verbieten wollte. Diese gesetzgeberische Offenheit hat es dem Anwaltssenat erlaubt, einen Anspruch der Anwalts-AG auf Ausübung ihrer Tätigkeit unmittelbar auf Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 3 GG zu stützen. Mit der Anerkennung einer anwaltlich tätigen Berufsausübungsgesellschaft ist aber der verfassungsrechtliche Anspruch der Anwalts-AG erschöpft.60 Ihr verfassungsrechtlicher Anspruch aus Art. 3 GG auf Gleichbehandlung mit der Anwalts-GmbH geht nicht über das hinaus, was der Gesetzgeber der GmbH zugebilligt hat. Mit Rücksicht auf Art. 12 GG ist ein Bedürfnis auf Anerkennung einer anwaltlichen Organisations-AG gleichfalls nicht gegeben. Wird der Anwalts-AG wie der GmbH das Recht eingeräumt, als Rechtsanwaltsgesellschaft zur Berufsausübung zugelassen zu werden, ist ihr nicht aus Gründen des Art. 12 GG noch zusätzlich die Möglichkeit zu gewähren, stattdessen auch als Organisationsgesellschaft tätig zu werden. Wäre dies anders zu sehen, wäre das gesetzliche Verbot für die Anwalts-GmbH, als bloße Organisationsgesellschaft tätig zu sein, gleichfalls zu überdenken.61
VI. Beiordnung einer zugelassenen RechtsanwaltsKapitalgesellschaft im Wege der Prozesskostenhilfe oder als Pflichtverteidiger Hat eine Partei, die einen Prozess durch eine Rechtsanwalts-Kapitalgesellschaft führen lassen will, Prozesskostenhilfe beantragt oder ließ sie sich einen Notanwalt bestellen, ist zu fragen, ob die Kapitalgesellschaft auch als solche beigeordnet werden kann. Bei einer zugelassenen Anwalts-Kapitalgesellschaft ist dies zu bejahen.62 Sie ist als juristische Person zur Rechtsanwaltschaft zugelassen und übt die Mandate durch ihre Mitglieder aus.
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BGHZ 161, 376. Ebenso im Ergebnis Pluskat AnwBl. 2005, 609, 610; Römermann BB 2005, 1135; a.A. OLG Hamm, NJW 2006, 3434. 61 So folgerichtig Henssler in: Henssler/Prütting, BRAO, 2. Aufl. § 59c Rn. 4, wonach auch eine Anwalts-Organisations-GmbH weiter zulässig bleiben soll; nicht eindeutig Henssler Festschrift für Busse, 2006, 127 f., 146. 62 Vgl. für die GmbH Schultz Festschrift für Hirsch, 2008, 525, 534; Musielak/Fischer ZPO, 6. Aufl., § 121 Rn. 6 a.E.; Zöller/Philippi ZPO, 26. Aufl. § 121 Rn. 2; OLG Nürnberg, NJW 2002, 3715; OLG Frankfurt, OLGR 2001, 153. 60
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Die GmbH wird nach § 59l Abs. 1 BRAO als Prozess- und Verfahrensbevollmächtigte der Partei beauftragt; sie hat die Rechte und Pflichten eines Rechtsanwalts und ist prozess- und postulationsfähig. Sie kann daher der bedürftigen Partei als Rechtsanwalt beigeordnet werden, wie auch der Bundesgerichtshof inzwischen entschieden hat.63 Nur die rechtliche Möglichkeit, als solche beigeordnet zu werden, wird der Stellung der zugelassenen GmbH als einer dem Einzelanwalt gleichberechtigten Person gerecht. Als Strafverteidiger kann jedoch die GmbH nach § 59l Satz 4 BRAO nicht tätig werden. In dieser Beziehung ist die gesetzliche Gleichstellung mit den Rechten der natürlichen Person durchbrochen.64 Damit wird der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Genüge getan, wonach eine Personenvereinigung, gleich welcher Art, als solche nicht „Verteidiger“ sein kann.65 Das Gesetz verwendet den Begriff „Verteidiger“ ausschließlich im Sinne einer natürlichen Person.66 Aus diesem Gesichtspunkt erklärt sich der Umstand, dass der GmbH nach dem Gesetz eine Pflicht zur Übernahme von Pflichtverteidigungen nicht auferlegt wird, wie sich aus einem Verweis in § 59m Abs. 2 BRAO auf § 49 BRAO ergibt. Eine Beiordnung als Pflichtverteidiger gemäß § 141 StPO ist nach der ausdrücklichen Regelung in § 59l Satz 4 BRAO rechtlich nicht möglich, eine Verpflichtung zur Übernahme einer Pflichtverteidigung ginge daher ins Leere.67 Eine Verteidigung erfolgt durch die für die Gesellschaft handelnden Personen, die auch verpflichtet bleiben, eine Pflichtverteidigung zu übernehmen.68 Von einem gesetzgeberischen Versehen kann daher nicht gesprochen werden.69 Das oben Ausgeführte gilt sinngemäß für eine Anwalts-AG. Ist sie zugelassen und damit prozess- und postulationsfähig, kann sie zwar gemäß § 121 ZPO selbst im Wege der Prozesskostenhilfe und als Notanwalt beigeordnet werden, die Möglichkeit, als solche Verteidigungen zu übernehmen, bleibt ihr aber schon aus verfassungsrechtlichen Gründen versagt.
63 Vgl. Beschl. v. 17.9.2008 – IV ZR 343/07, NJW 2009, 440 ff. mit zust. Anm. Horn; soweit der BGH auch die Beiordnung einer in der Rechtsform einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) betriebenen – rechts- und parteifähigen (BGHZ 146, 341 f.) – Anwaltssozietät für zulässig hält, ist dies mit Rücksicht auf den im Prozesskostenhilferecht geltenden Grundsatz der Waffengleichheit und aus Gründen der Praktikabilität (Ganter AnwBl. 2007, 847; Schultz Festschrift für Hirsch, 2008, 525, 526) zu rechtfertigen. 64 Kleine-Cosack BRAO, 5. Aufl. § 59l Rn. 3. 65 BVerfGE 43, 79 = NJW 1977, 99. 66 BVerfGE 43, 79. 67 Im Ergebnis ebenso Henssler in: Henssler/Prütting, BRAO, 2. Aufl. § 59l Rn. 8. 68 Henssler in: Henssler/Prütting, BRAO, § 59l Rn. 6 und 8. 69 So aber Feuerich/Braun BRAO, 5. Aufl., § 59l Rn. 6.
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VII. Die Zulässigkeit einer „Limited“ als Rechtanwaltsgesellschaft Das Recht ausländischer Kapitalgesellschaften, eine Zulassung als Rechtsanwaltsgesellschaft zu erwirken, beschäftigt nunmehr auch die Rechtsprechung. Der AGH Berlin hat in seinem Beschluss vom 5.4.2007 die Zulassungsfähigkeit einer englischen Private Company Limited by Shares als Rechtsanwaltsgesellschaft bejaht, „wenn ihre Zweigniederlassung in Deutschland im Handelsregister eingetragen ist und eine Deckungszusage einer Berufshaftpflichtversicherung vorliegt“.70 Zu einer Entscheidung über die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde ist es nicht gekommen, weil die Gesellschaft inzwischen gelöscht worden war; der nach § 91a ZPO analog erlassene Kostenbeschluss musste inhaltlich nicht zu der Zulassungsfrage Stellung nehmen.71 Der AGH Berlin hat den Anspruch der Limited auf Zulassung auf Art. 43, 48 EGV gestützt und die Voraussetzungen für eine Zulassung in Anlehnung an § 59c ff. BRAO bestimmt. Art. 43 EGV verbietet i.V.m. Art. 48 EGV Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit (auch) für Gesellschaften und juristische Personen, die nach den Vorschriften eines Mitgliedsstaates gegründet wurden und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben. Gemäß Art. 11 der Richtlinie 98/5 EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.2.1998 (EG-Niederlassungsrichtlinie für Rechtsanwälte) ist es grundsätzlich nicht erforderlich, dass sich die Rechtsanwälte der Organisationsformen des Aufnahmestaates bedienen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ist daher die in einem Vertragsstaat nach dessen Vorschriften wirksam gegründete Gesellschaft unabhängig von dem Recht ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes in der Rechtsform anzuerkennen, in der sie gegründet wurde.72 Dabei stellt die bewusste Ausnutzung unterschiedlicher Rechtssysteme noch keinen Missbrauch dar, es sei denn, es ist beabsichtigt, sich durch missbräuchliche oder betrügerische Berufung auf Gemeinschaftsrecht der Anwendung des nationalen Rechts zu entziehen.73 Die Gründungstheorie gilt allgemein für die Staaten der Europäischen Union und des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), wie auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshof anerkannt hat.74 70
BRAK-Mitt. 2007, 171. BGH, Beschl. v. 9.7.2008, AnwZ (B) 44/07. 72 EuGH, Urteile vom 9.3.1999, NJW 1999, 2027 „Centros“, vom 5.11.2002, NJW 2002, 3614 „Überseering“ und vom 30.9.2003, NJW 2003, 3331 „Inspire Act“; der Gründungsstaat darf aber durch nationales Recht ein Verlegungsverbot des Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat anordnen: EuGH, Urteil vom 16.12.2008 – C-210/06 – Cartesio NJW 2009, Heft 3, S. VI. 73 EuGH, Urteil vom 9.3.1999, NJW 1999, 2027; 2028; vgl. Grunewald/Müller NJW 2005, 465, 466. 74 Urteile vom 13.3.2003, BGHZ 154, 185 = NJW 2003, 1461 und vom 14.3.2005, NJW 2005, 1648; eine allgemeine Geltung der Gründungstheorie wird aber bisher noch abge71
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Sie findet auf den deutsch-amerikanischen Freundschafts-Handels- und Schifffahrtsvertrag gleichfalls Anwendung.75 Der AGH Berlin hat zu Recht der im Ausland wirksam gegründeten englischen Limited grundsätzlich einen Anspruch aus Art. 43, 48 EGV auf Zulassung zur deutschen Rechtsanwaltschaft zuerkannt. Unter Berufung auf die sogenannte „Centros-Entscheidung“ des EuGH 76 hat der Oberste Gerichtshof in Frankreich dementsprechend entschieden, dass eine deutsche Rechtsanwaltsgesellschaft in Frankreich grundsätzlich zur Kammer zugelassen werden muss, und zwar unabhängig davon, ob eine Zweigniederlassung gegründet oder die Gesellschaft zu dem Zweck gegründet wurde, sich auf dem französischen Markt für anwaltliche Dienstleistungen zu betätigen. Die deutschen Rechtsanwaltsgesellschaften sollen prinzipiell den gleichen berufsrechtlichen Vorschriften wie vergleichbare inländische Gesellschaftsformen in Frankreich unterliegen.77 Der Ansicht, dass die Zulassung der Limited zur Rechtsanwaltschaft in Deutschland nach europäischem Recht nicht geboten sei, weil Art. 11 der Richtlinie nicht eingreife und darüber hinaus ein Missbrauch nahe liege 78, kann bei Zugrundelegung der Rechtsprechung des EuGH nicht gefolgt werden. Die in Art. 43 EGV garantierte Niederlassungsfreiheit gilt auch für juristische Personen.79 Nach Ansicht des EuGH ist, wie dargetan, die bewusste Ausnutzung der Vorteile eines fremden Rechtssystems allein nicht als Missbrauch zu werten. Ein Missbrauchstatbestand, der in Umsetzung der Rechtsprechung des EuGH etwa dann vorliegen könnte, wenn sich ein Inländer der Gründung einer Auslandsgesellschaft und deren Zweigniederlassung im Inland bedienen würde, um einer ihm im Inland untersagten Tätigkeit dennoch nachgehen zu können80, war in dem dem Anwaltsgerichtshof zugrunde liegenden Sachverhalt nicht gegeben. Bei der Anwendung des Art. 11 der Niederlassungsrichtlinie darf nicht übersehen werden, dass diese Vorschrift bezüglich der sich aus Art. 43, 48 EGV ergebenden Niederlassungsfreiheit nur klarstellenden, aber nicht einschränkenden Charakter hat.81 Für ausländische Kapitalgesellschaften gelten die Vorschriften der §§ 59c ff. BRAO analog. Da sich der Gesetzgeber anders als bei der Frage der Zulassung der Anwalts-AG nicht ausdrücklich einer Regelung enthalten hat lehnt, vgl. BGH, Urteile vom 27.10.2008, II ZR 158/06, NJW 2009, 289 mit Anm. Kieninger und II ZR 290/07. 75 BGHZ 153, 353. 76 Urt. v. 9.3.1999, NJW 1999, 2027. 77 Vgl. NJW-Spezial 2008, 607 und FAZ vom 29.7.2008, S. 13. 78 Knöfel AnwBl. 2007, 742; gegen eine Zulassung in Österreich mit beachtlichen Argumenten Benn-Ibler österr. AnwBl. 2008, 389 ff., 393. 79 Kleine-Cosack AnwBl. 2007, 737. 80 BGH, Beschl. v. 7.5.2007, BGHZ 172, 200 = NJW 2007, 2328. 81 Henssler Festschrift für Busse, 2005, 127 f., 140.
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und daher insoweit eine planwidrige Lücke vorliegt, stehen einer analogen Anwendung methodische Hindernisse nicht entgegen.82 Nicht zu entscheiden hatte der AGH Berlin, ob sich die ausländische Limited einem Zulassungsverfahren unterziehen muss, um selbst postulationsfähig zu sein. Dies ist zu bejahen, weil die Vorschrift des § 59l BRAO ebenso wie für die Anwalts-AG auch für die Limited heranzuziehen ist. Europarechtliche Gesichtspunkte stehen dem nicht entgegen, wenn § 59l BRAO in nicht diskriminierender Weise angewandt wird, die Heranziehung dieser Vorschrift aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls gerechtfertigt und geeignet ist, die Verwirklichung des mit ihm verfolgten Ziels zu gewährleisten und wenn sie schließlich nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (sogenannte Vier-Punkte-Regel).83 Da nur durch das berufsrechtliche Zulassungsverfahren sichergestellt ist, dass die besonderen Anforderungen eingehalten werden, die an eine anwaltliche Kapitalgesellschaft zu stellen sind, und nur auf diese Weise eine kammerrechtliche Überprüfung und Kontrolle stattfindet, ist es nach den dargestellten europarechtlichen Grundsätzen erlaubt, die Bestimmungen des § 59c ff. BRAO auf eine im Ausland wirksam gegründete anwaltliche Kapitalausübungsgesellschaft zu übertragen84, und zwar sowohl auf eine Gesellschaft mit Verwaltungssitz in Deutschland als auch auf eine Zweigniederlassung, selbst wenn diese bereits ein berufsrechtliches Zulassungsverfahren im Gründungs- und Sitzungsstaat durchlaufen hat.85 Für die ausländische Limited besteht ebenso wie für die Anwalts-GmbH und die Anwalts-AG ein Zulassungszwang.86 Dies würde sich gemäß § 59l BRAO schon dann ergeben, wenn die analoge Anwendung der Vorschriften über die Anwalts-GmbH folgerichtig umgesetzt würde. Aber auch bei Übertragung der Grundsätze über die Ausgestaltung der Anwalts-AG auf ausländische Kapitalgesellschaften rechtfertigt sich eine Zulassungspflicht. Wie dargetan, ist ein Bedürfnis für eine neben der Berufsausübungsgesellschaft handelnde anwaltliche Organisations- und Besitzgesellschaft als Kapitalgesellschaft, die von einer Zulassung unabhängig ist, nicht gegeben. Darüber hinaus würden die oben im Zusammenhang mit der Anwalts-AG aufgeführten Gesichtspunkte (Verwechslungsgefahr, Frage der Anwendung des § 59j BRAO über die erhöhte Mindestversicherungssumme) auch hier gegen die Anerkennung einer solchen Gesellschaft sprechen. Die von Art. 43, 48 EGV in Verbindung mit der Niederlassungsrichtlinie geforderte weitgehende Zu-
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Henssler Festschrift für Busse, 2005, 127 f., 145. EuGH, Urteile vom 30.11.1995, NJW 1996, 579, 581 Rn. 37; und vom 30.9.2003, NJW 2003, 3331, 3334 Rn. 133. 84 Grunewald/Müller NJW 2005, 465, 468. 85 Henssler Festschrift für Busse, 127 f., 145 und 148. 86 A.A. Henssler Festschrift für Busse, S. 127 f., 146. 83
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lassung von ausländischen Kapitalgesellschaften steht einer standesrechtlichen Zulassungspflicht nicht entgegen. Die ausländische Limited wird damit der Anwalts-GmbH und der Anwalts-AG gleichgestellt, die mit guten Gründen derselben Einschränkung unterliegen. Die europarechtliche VierPunkte-Regel für eine Übertragbarkeit des inländischen Standesrechts ist damit gleichfalls eingehalten.
VIII. Zulassungsfähigkeit ausländischer RechtsanwaltsKapitalgesellschaften im Fremdbesitz Im Zusammenhang mit der Zulassungsfähigkeit ausländischer Kapitalgesellschaften als Rechtsanwaltsgesellschaften gewinnt das aus § 59e i.V.m. § 59a BRAO für die Anwalts-GmbH herzuleitende Fremdbeteiligungsverbot (vgl. auch § 27 BORA) an Bedeutung. Für anwaltliche Inlandskapitalgesellschaften stehen aus verfassungsrechtlichen Gründen – wegen eines möglichen Verstoßes gegen das Übermaßverbot – schon jetzt die Zulässigkeit der weitgehenden Beschränkung der sozietätsfähigen Berufe (§ 59e Abs. 1 und 4 i.V.m. § 59a Abs. 1 Satz 1 BRAO) und das Gebot der aktiven Mitarbeit (§ 59e Abs. 1 Satz 2 BRAO) auf dem Prüfstand.87 Mit der Zulassung ausländischer Anwalts-Kapitalgesellschaften wird die Frage in den Vordergrund gerückt, ob Rechtsanwaltsgesellschaften im Fremdbesitz hier als Rechtsanwaltsgesellschaft tätig werden dürfen. Auf die Vorlage des Verwaltungsgerichts Saarlouis vom 20. und 21.3.2007 in Sachen des niederländischen Versandunternehmens „Doc-Morris“,88 wird der Europäische Gerichtshof darüber zu befinden haben, ob das inländische Fremdbesitzverbot für Apotheken nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 7 und § 8 ApoG mit den Vorschriften der Art. 43, 48 EGV vereinbar ist. Die Fremdbesitzverbote bei Freiberuflergesellschaften sollen deshalb unhaltbar sein, weil als milderes Mittel die Beschränkungen auf den externen Bereich der Dienstleistungen, die Kundenbeziehungen, begrenzt werden können, während der interne Bereich der Inhaberschaft, das Eigentum, davon ausgenommen werden soll.89 Ohne der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vorgreifen zu wollen, sei hier auf die Schlussanträge des Generalanwalts Bot vom 16.12. 2008 90 verwiesen. Der Generalanwalt sieht in dem Fremdbeteiligungsverbot für Apotheken zwar eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit (Rn. 34
87 Vgl. Hellwig NJW 2005, 1217, 1222; vgl. die großzügigere Regelung des § 21c Abs. 1 österr. RAO. 88 3 K 361/06 und 3 K 364/06. 89 Kleine-Cosack AnwBl. 2007, 737, 738. 90 C-171/07 und C-172/07, BeckRS 2008, 71343.
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bis 3991), hält diese aber für gerechtfertigt. Er stellt auf den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung als zwingenden Grund des Allgemeininteresses ab, der nach Art. 46 Abs. 1 EGV Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit erlauben kann (Rn. 42). Das gewählte Mittel des Fremdbesitzverbotes sieht er als geeignet an, dieses Ziel zu erreichen. Das Argument der Unterscheidung zwischen internen Aspekten (Eigentum, Führung und Leitung der Apotheke) und externen Aspekten (Beziehungen zu Dritten) erscheint ihm nicht überzeugend, ja sogar gekünstelt (Rn. 73), weil der berufsfremde Betreiber zwangsläufig die Geschäftspolitik bestimme, da er die Kontrolle darüber ausübe und es kaum vorstellbar erscheine, dass er nicht – wenn auch möglicherweise nur mittelbar – in die Beziehungen zu den Kunden eingreife. Im Hinblick auf die sogenannte Optiker-Entscheidung des EuGH vom 21.4.200592 führt der Generalanwalt aus, dass anders als dort das Erfordernis der ständigen Anwesenheit einer Fachkraft sowie das Vorhandensein zivilrechtlicher Haftungsbestimmungen und einer Berufshaftpflichtversicherung wegen des im Gesundheitswesen notwendigen hohen Schutzniveaus nicht ausreichend sind (Rn. 83 bis 90). Bei der Frage der Übertragbarkeit der Grundsätze dieser Schlussanträge auf anwaltliche Fremdkapitalbeteiligungen ist zwar nicht zu verkennen, dass der Generalanwalt die herausragenden Gesichtspunkte des Gesundheitsschutzes betont und zugleich das Ermessen der Mitgliedsstaaten bei Verfolgung der hierzu erforderlichen Maßnahmen nach Art. 152 Abs. 5 EGV herausstellt. Dennoch sollte sich den Grundsätzen dieser Schlussanträge entnehmen lassen, dass das für Rechtsanwälte geltende Fremdbesitzverbot gleichfalls der gemeinschaftsrechtlichen Vier-Punkte-Regel standhält. Das Anliegen der Rechtsuchenden, in ihren Rechtsangelegenheiten einen Fachmann in Rechtsfragen als unabhängigen Berater zur Seite zu haben, ist ein zwingender Grund des Allgemeininteresses. Im Vordergrund der Intentionen, die mit der gesetzgeberischen Einschränkung verfolgt werden, steht die Absicht, die in § 1 BRAO den Rechtsanwälten eingeräumte Stellung eines unabhängigen Organs der Rechtspflege zu sichern.93 Hinzu kommt die Wahrung der anwaltlichen Schweigepflicht als eines gleichfalls geschützten Rechtsgutes. Ob einer Gefährdung der Schweigepflicht durch Anwendung des § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB und bei der Anwalts-AG darüber hinaus des § 131 Abs. 3 Nr. 1 AktG begegnet werden könnte 94, erscheint zweifelhaft.
91 A.A. Hellwig NJW 2005, 1217, 1222, der im Anschluss an die „Golden-Shares“ – Urteile des EuGH vom 4.6.2002 – Rs. C-483/99 und Rs. C-367/98, NJW 2002, 2305 und 2306, und vom 13.5.2003 – Rs. C-463/00 und Rs. C-98/01, NJW 2003, 2663 und 2666 auf die Kapitalverkehrsfreiheit abstellt. 92 Rs. C-140/03, EuGHE 2005, 3177, Rn. 34. 93 BT-Drucks. 13/9820 S. 14. 94 Römermann ZAP Fach 23, 461, 466; Michalski/Römermann NJW 1996, 3233, 3235 f.
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Kapitalmäßige Beteiligungen – seien sie auch nur mittelbar – gefährden die Stellung als unabhängiges Organ der Rechtspflege, weil nicht auszuschließen ist, dass die Gesellschaft externen wirtschaftlichen Einflussnahmen ausgesetzt ist. Der Mandant ist wegen der auch in Rechtsdingen asymmetrischen Informationsverteilung auf einen kompetenten und objektiven Rat angewiesen, und er muss volles Vertrauen hierauf setzen können95. Mit der rein kaufmännischen Denkweise, die unmittelbar auf Rentabilität und Gewinn ausgerichtet ist und damit die fachlich nötige Unabhängigkeit berühren könnte, ist die Tätigkeit des Rechtsanwalts, die auch dem Schutz der Verbraucherinteressen (Art. 153 EGV) zu dienen hat, nicht vereinbar. Bei einem Fremdbesitz besteht wegen der Möglichkeit der Einflussnahme eines kapitalkräftigen Investors die Gefahr, dass der Rechtsanwalt nicht mehr die für seine Tätigkeit nötige innere Freiheit besitzt. Hier ist die Unterscheidung zwischen internen und externen Aspekten gleichfalls wenig hilfreich. Auch wenn – wie beispielsweise bei der Rechtsanwalts-AG – in der Satzung der Kapitalgesellschaft Weisungen hinsichtlich der anwaltlichen Berufsausübung ausgeschlossen werden können und die Geschäftsleitung ohnehin die Befugnis und die Pflicht hat, die Einflussnahme von Aktionären auf die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte abzuwehren96, darf nicht übersehen werden, dass eine kapitalmäßig stark mit Berufsfremden besetzte Aktionärschaft tatsächlich versuchen wird, ein gewichtiges Wort in der Aktiengesellschaft mitzusprechen. Schließlich gelten auch hier die Erwägungen des Generalanwalts, dass die Existenz einer Kontrolle und zivil- und strafrechtlicher Schutzregelungen als Schutzmaßnahmen die nötigen Vorbeugungsmaßnahmen nicht ersetzen können. Wenn der Generalanwalt in diesem Zusammenhang ausführt, die Existenz von Kontrollbehörden und von rechtlichen Haftungsregelungen hätten im Bankengeschäft „in tragischer Weise ihre Grenzen und ihr Unvermögen offenbart, die Auswüchse einer Denkweise zu unterbinden oder zu kontrollieren, die dem Ertrag des eingesetzten Kapitals den Vorrang einräumt“97, ist dem nichts hinzuzufügen. Man darf gespannt sein, ob sich der EuGH den Schlussanträgen des Generalanwalts anschließt 98 und wie sich dies auf die Rechtsprechung zur Zulässigkeit kapitalmäßiger Beteiligung an Rechtsanwaltsgesellschaften auswirkt.
95 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts C-171/07 und C-172/07, Rn. 51, BeckRS 2008, 7143. 96 Vgl. Römermann ZAP Fach 23, 461, 466 – für die Aktiengesellschaft. 97 Schlussanträge des Generalanwalts C-171/07 und C-172/07, Fn. 24, BeckRS 2008, 71343. 98 Kritisch Bungenberg NJW 2009, Heft 6, NJW-Editorial.
Thumbnails als Zitate? Zur Reichweite von § 51 UrhG in der Informationsgesellschaft Thomas Dreier I. Problemstellung Beiträge in Festschriften genießen unter anderem das Privileg, sich in einiger Tiefe und dennoch nur skizzenhaft Detailproblemen widmen zu können, die an anderer Stelle entweder ausführlich erörtert oder aber nur kurz gestreift werden, falls sie überhaupt als juristische Fragestellung wahrgenommen werden. Eine solche skizzenartige Auseinandersetzung mit einem bislang nur wenig erörterten Detailproblem ist hier deshalb angebracht, weil sich der durch die Festschrift Bedachte in seiner beruflichen Praxis als BGHAnwalt fortwährend mit derartigen Detailfragen auseinandersetzen muss. Im Urheberrecht kreisen viele dieser Detailfragen um die Anwendung gesetzlicher Bestimmungen, die noch weitgehend an den Charakteristika der analogen Werkverwertung ausgerichtet sind, auf die Werknutzung in digitalen Medien. Das reicht von der Frage, wann beim digitalen Zugriff auf geschützte Werke in digitalen Kommunikationsnetzen eine Vervielfältigung liegt, über Subsumtionsfragen im Lichte technischer und wirtschaftlicher Konvergenz von Geräten und Dienstleistungen bis hin zur Reichweite urheberrechtlicher Schrankenbestimmungen im digitalen Umfeld de lege lata und de lege ferenda. Eine Reihe dieser Fragen hat der durch die Festschrift Bedachte vor dem BGH selbst ausgefochten.1 Andere werden sich in Zukunft unweigerlich stellen, ermöglichen Digitalisierung und Kommunikationsnetze doch zahlreiche neue Dienstleistungen unter Verwendung fremden urheberrechtlich geschützten Materials, die im analogen Bereich nicht möglich waren (von den Wirtschaftswissenschaftlern „neue Geschäftsmodelle“ genannt), und auf die das Urheberrechtsgesetz in seiner gegenwärtigen Form mithin nicht notwen1 BGH GRUR 2008, 245 – Drucker und Plotter sowie GRUR 2008, 993 – Kopierstationen, GRUR 2008, 786 – Multifunktionsgeräte und GRUR 2009, 53 – PC. – Auch Ausführungen des BGH beginnend mit der Drucker- und Plotter-Entscheidung wären eine kritische Anmerkung wert (vgl. dazu v. Ungern-Sternberg GRUR 2008, 247; Dreier/Schulze Urheberrechtsgesetz, 3. Aufl., 2008, vor §§ 44a Rn. 1 und 9 sowie § 54 Rn. 4), doch betrifft der Kern der dortigen Argumentation lediglich die Rechtslage bis Ende 2007.
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dig zugeschnitten ist. Spannend sind diese Fragen dort, wo es nicht lediglich um die Subsumtion neuer technischer Sachverhalte unter bestehende Rechtsnormen geht, sondern wo das digitale Medium zu einem Strukturwandel der Werknutzung führt und es fraglich ist, ob der bestehende Wortlaut des geltenden Rechts den neuen Sachverhalt überhaupt noch adäquat zu erfassen vermag. Hier stehen grundsätzlich zwei Wege offen: Entweder man erkennt an, dass ein Sachverhalt aufgrund des Strukturwandels funktional dem von der bisherigen Regelung unter eine Norm subsumierten Sachverhalt entspricht und wendet diese Norm trotz Schwierigkeiten bei der wörtlichen Subsumtion auch auf den neuen Sachverhalt an. Oder aber man sieht den neuen Sachverhalt vom bisherigen Gesetzeswortlaut nicht mehr als gedeckt an und überlässt es vielmehr dem Gesetzgeber, ihn gegebenenfalls adäquat zu regeln. Die Rechtsprechung des BGH urteilt hier von Fall zu Fall. So finden sich Beispiele für beide Arten von Reaktionen. Kopienversanddienste durch Bibliotheken etwa hat der BGH – wenngleich unter Ergänzung um einen im Wege der Analogie abgeleiteten Vergütungsspruch – unter den bestehenden Gesetzeswortlaut subsumiert.2 Auch einen über digitale Verweise personalisierten digitalen Nachrichtendienst sah der BGH vom geltenden Recht noch als gedeckt an, nicht mehr hingegen mit dem Kopienversand allgemein verbundene weitergehende Recherchedienstleistungen3. Auch im Hinblick auf Drucker- und Plotter, Kopierstationen sowie Festplatten von PCs hat der BGH das bis zum 31.12.2007 geltende Recht in einer Reihe von Entscheidungen nicht für anwendbar gehalten.4 Eine weitere Frage, mit der sich der BGH in absehbarer Zeit befassen muss, geht dahin, ob die Anfertigung und das Bereithalten von Thumbnails durch die Betreiber von Bildsuchmaschinen vom Zitatrecht nach § 51 UrhG gedeckt ist oder nicht. Um das Ergebnis des vorliegenden Beitrags vorweg zu nehmen: Es sei hier die These vertreten, dass die Technik des Zitierens und Verweisens im Netz gegenüber den bisherigen Formen des analogen Zitats einen Strukturwandel darstellt, der es rechtfertigt, auch Thumbnails vom Zitatrecht des § 51 UrhG als gedeckt anzusehen. Das mag auf den ersten Blick im Ergebnis überraschen; dennoch sei hier der Versuch einer Begründung gewagt.
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BGH GRUR 1999, 707 – Kopienversanddienst. BGH GRUR 2003, 958 – Paperboy zum einen und GRUR 1997, 459 – CB-Infobank I sowie GRUR 1997, 464 – CB-Infobank II zum anderen. 4 BGH GRUR 2008, 245 Drucker und Plotter GRUR 2008, 993 – Kopierstationen und GRUR 2009, 53 – PC. – Anders hingegen GRUR 2008, 786 – Multifunktionsgeräte. 3
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II. Urheberrechtliche Zulässigkeit von Thumbnails Die urheberrechtliche Beurteilung der Zulässigkeit von Thumbnails ist bereits Gegenstand einer Reihe untergerichtlicher Entscheidungen gewesen.5 In einem dieser Fälle ist inzwischen sogar bereits die Revision beim BGH anhängig.6 Nun wirft die urheberrechtliche Zulässigkeit von Thumbnails nicht nur die Frage des Zitatrechts auf. So ist zunächst die Herstellung der Thumbnails, also die Anfertigung eines verkleinerten Bilddatensatzes, als Vervielfältigung gem. § 16 UrhG anzusehen, (sofern man Thumbnails nicht als bloße Inhaltsmitteilungen entsprechend Abstracts vom Urheberschutz gänzlich ausnehmen will 7), nicht hingegen als Bearbeitung gem. § 23 UrhG. Denn der immaterielle Gehalt des Originalbildes, der eigentliche Schutzgegenstand, bleibt bei der Verkleinerung des Bildes in seiner Struktur unverändert.8 Darüber hinaus liegt im Bereithalten der Thumbnails zum Abruf durch die Nutzer im Rahmen von Suchanfragen ein Akt der öffentlichen Zugänglichmachung nach § 19a UrhG. Soweit so gut. Daran schließen sich jedoch im Wesentlichen drei bislang sämtlich nur unbefriedigend gelöste Problemkreise an. Zum einen ließe sich schon hinterfragen, ob Vervielfältigung und öffentliche Zugänglichmachung im urheberrechtlichen Sinne tatsächlich dem Suchmaschinenbetreiber zuzurechnen sind, und nicht etwa demjenigen, der sich der Suchmaschine als eines Teils der mit dem Internet verbundenen Infrastruktur bedient. Freilich ist es unbestritten der Suchmaschinenbetreiber, der die genannten Handlungen vornimmt. Doch werden nicht alle Handlungen urheberrechtlich demjenigen zugerechnet, der sie tatsächlich vornimmt. Zum Teil ist eine solche Zurechnung an eine andere als die konkret handelnde Person – wie im Fall der Anfertigung von Kopien durch Dritte – im Gesetz aus-
5 OLG Jena, MMR 2008, 408; LG Hamburg, MMR 2009, 55 und GRUR-RR 2004, 313 – thumbnails; AG Bielefeld, ZUM-RD 2005, 455. – S. auch die Vorinstanzen LG Erfurt, MMR 2007, 393 sowie eine Reihe weiterer unveröffentlichter erstinstanzlicher Verfahren (allein vor der 8. Zivilkammer des LG Hamburg waren insgesamt fünf Verfahren anhängig, zwei gegen Google, sowie je eines gegen AOL, t-online und freenet). 6 Hinsichtlich der Entscheidung des Thüringischen OLG Jena, MMR 2008, 408. – Mit der mündlichen Verhandlung ist nach Auskunft der Geschäftsstelle nicht vor Herbst 2009 zu rechnen. 7 S. dazu Nolte Informationsmehrwertdienste und Urheberrecht, 2009, S. 252 f., der dies dann für möglich hält, wenn „ein tatsächlicher Werkgenuss praktisch ausgeschlossen ist und insofern in keiner Weise eine Substituierung der Originalbilder ermöglicht wird“. 8 Das verkennen sowohl das Thüringische OLG, MMR 2008, 408, als in der Literatur auch Ott K&R 2008, 306, 308, Schrader/Rautenstrauch UFITA 2007, 761, 762 ff. und neuerdings auch Leistner/Stang CR 2008, 499, 501 (allerdings ohne nähere Begründung der Abgrenzung von Vervielfältigung und Bearbeitung). Wie hier jedoch Schack MMR 2008, 414.
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drücklich so festgelegt,9 zum Teil aber auch – wie etwa bei der Frage, wer eine Sendung i.S.v. §§ 20, 20a UrhG vornimmt 10 – eine Frage der Auslegung. Bei Suchmaschinen handelt es sich um eine angesichts der Informationsfülle für das Funktionieren des Internet unverzichtbare Dienstleistung, die aufgrund der Vielzahl von Einzeltransaktionen und der konsequenterweise automatisierten Vorgehensweise eine individuelle Lizenzierung in der überwiegenden Zahl der Fälle ausschließt. Überdies kann sich der einzelne betroffene Rechteinhaber durch robot.txt-Dateien sowohl auf Seiten- als auch auf Verzeichnisebene technisch gegen eine unerwünschte Indexierung seiner ins Netz gestellten Bilder schützen. Möglicherweise lässt sich also schon insoweit ein Strukturwandel konstatieren, der zunächst selbstständige Handlungen inzwischen als unselbstständige technische Hilfs- und Ergänzungsleistungen und letztlich als Bestandteil der Infrastruktur des Netzes erscheinen lässt, die derjenige in Anspruch nimmt, der seine Werke ins Netz stellt, damit diese dort gefunden werden.11 Der Zweite Problemkreis betrifft die Frage, inwieweit Anfertigung und Vorrätighaltung der Thumbnails durch urheberrechtliche Schrankenbestimmungen privilegiert sind. Hier kommen neben § 44a UrhG (der allerdings nur Vervielfältigungen betrifft), § 53 UrhG (mit einer vergleichbaren Zurechnungsproblematik) sowie das Zitatrecht (§ 51 UrhG) in den Blick. Das soll nachfolgend hinsichtlich des Zitatrechts näher untersucht werden. Sollten bei den Thumbnails in Suchmaschinen jedoch keine Schrankenbestimmungen greifen, so stellte sich als Drittes die Frage, inwieweit dem Betreiber einer Bildsuchmaschine zuzurechnende Handlungen eventuell durch die konkludente Zustimmung desjenigen gedeckt sind, der die in Form der Thumbnails indexierten Originalbilder ins Netz gestellt hat und dort
9
§ 53 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 sowie § 53a UrhG. Sendender i.S.v. § 20 UrhG ist demnach nicht derjenige, der die Sendemittel zur Verfügung stellt und für den technischen Transport der Sendesignale zuständig ist, sondern wem die Sendung als sozialer Akt der Werknutzung zugerechnet wird. Gleiches gilt auch hinsichtlich der europäischen Satellitensendung nach § 20a UrhG, bei der es gem. § 20a Abs. 3 UrhG darauf ankommt, unter wessen Kontrolle und Verantwortung die Eingabe der Signale in die ununterbrochene Sendekette stattfindet. Auch für die Kabelweiterleitung gem. § 20b UrhG ließe sich argumentieren, dass ein Kabelunternehmen, das im Auftrag eines Sendeunternehmens handelt, dessen Sendung i.S.v. § 20 UrhG ausführt und nicht eine Weitersendung einer fremden Sendung i.S.v. § 20b UrhG vornimmt. 11 S. dazu eingehend Wimmers/Schulz CR 2008, 170 ff.; auch Leistner/Stang CR 2008, 499, 501 halten das dem Grundsatz nach zumindest für „bedenkenswert“, wenngleich sie die Nutzung der Bilder in Form von Thumbnails trotz des Hinweises, dass Thumbnails vor allem den Nutzern des Bildersuchdienstes dienen, im Ergebnis jedoch nach wie vor dem Betreiber der Suchmaschine zuordnen, da insoweit die Nutzung „gerade der Optimierung der eigenen Dienstleistung des Suchmaschinenbetreibers“ im Vordergrund stehe. Ähnliche Bedenken hegt Nolte (Fn. 7) S. 253 ff., wegen des „auch eigenen Interesses der Suchdienste“. 10
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zum Abruf durch Mitglieder der Öffentlichkeit bereit hält. Das Thüringische OLG hat in diesem Zusammenhang zwar eine konkludente Zustimmung abgelehnt, dem Unterlassungsbegehren gleichwohl jedoch unter Hinweis auf eine darin liegende vorgeblich missbräuchliche Rechtsausübung in den Fällen, in denen der Kläger selbst dafür gesorgt hat, dass seine Seiten von Suchmaschinen gefunden werden, den Erfolg versagt.12 Das ist ebenso umständlich wie in der Herleitung des Ergebnisses wenig überzeugend. Die Lösung ist vielmehr im Wege der Auslegung der mit der Einstellung von Bildern ins Netz verbundenen Willenserklärung des Rechtsinhabers nach dem Horizont des objektiven Erklärungsempfängers zu ermitteln.13 Ähnlich hat dies auch der BGH in seiner Drucker- und Plotter-Entscheidung bereits angedeutet.14 Die meisten dieser Fragen sind in der Literatur bereits erörtert worden.15 Die Reichweite des Zitatrechts dagegen hat dabei bislang allenfalls am Rande Beachtung gefunden und wird – so sie denn überhaupt thematisiert wird – für Thumbnails in Suchmaschinen sowohl von der Rechtsprechung16 als auch in der Literatur bislang regelmäßig verneint17. Wenn jedoch das Zitatrecht eingreift, dann treten sämtliche übrigen Rechtsfragen in den Hintergrund, und zwar sowohl in Bezug auf Thumbnails von rechtmäßig wie auch von rechtswidrig ins Netz gestellten Originalbildern, denen ansonsten wohl nur im Wege einer eigenen Haftungsfreistellung für Suchmaschinen im TMG zu helfen wäre18. Rechtssystematisch kommt mit der Frage nach der Zulässigkeit von Bildverweisen in Suchmaschinen zugleich die rechtliche Einordnung anderer Verweisarten – insbesondere also von Links wie auch von Textauszügen – in den Blick, deren rechtliche Zulässigkeit auch ohne Zustimmung des
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OLG Jena, MMR 2008, 408, 411 ff. Ebenso Nolte (Fn. 7) S. 249 ff.; Hoeren MMR 2009, 62; Leistner/Stang CR 2008, 499, 504 ff.; Ott ZUM 2007, 119, 126 f.; Berberich MMR 2005, 145, 147 sowie im Zusammenhang mit Deeplinks bereits Sosnitza CR 2001, 693, 699. – A.A. hingegen Schack MMR 2008, 414 (Nutzungen jenseits der Schrankenbestimmungen nicht konsentiert und in der Verwendung von Metatags auch kein widersprüchliches Verhalten). 14 BGH GRUR 2008, 245, 247 (Ziff. 27) – Drucker und Plotter („kann unter Umständen eine konkludente Einwilligung in Vervielfältigungen anzunehmen sein“). 15 Berberich, MMR 2005, 145, 147; Ott, ZUM 2007, 119, 126 f.; Schrader/Rautenstrauch UFITA 2007, 761, 762 ff.; Ott K&R 2008, 306 und ders. ZUM 2009, 345; Leistner/Stang CR 2008, 499; Schack MMR 2008, 414; Hoeren MMR 2009, 62; Nolte (Fn. 7) S. 248. 16 Mit der bislang ausführlichsten Begründung OLG Jena, MMR 2008, 408, 410 f.; ebenso LG Hamburg, MMR 2009, 55, 60 f. 17 Ott ZUM 2007, 119, 125; Berberich MMR 2005, 145, 147; Schack MMR 2008, 414, 415; Nolte (Fn. 7) S. 248, und wohl auch Schricker/Schricker 3. Aufl., § 51 Rn. 8 (gegen eine allgemeine Interessenabwägung unter Nennung auch der thumbnail-Entscheidung des LG Hamburg). Leistner/Stang CR 2008, 499, 502, halten eine Erweiterung des Zitatrechts zwar für möglich, nicht jedoch dessen Anwendung auf die Konstellation der Bildersuche im Internet (allerdings ohne nähere Begründung). 18 Hoeren MMR 2009, 62. 13
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Urhebers, auf dessen geschütztes Werk durch einen Link oder im Wege eines Textauszuges verwiesen wird, der BGH bereits in der Paperboy-Entscheidung festgestellt hat 19.
III. Inhalt und Umfang des Zitatrechts In seiner ursprünglichen, bis zum 31.12.2007 geltenden Form umfasste das Zitatrecht des § 51 UrhG das Recht einer Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe, „wenn in einem durch den Zweck gebotenen Umfang (1.) einzelne Werke nach dem Erscheinen in ein selbstständiges wissenschaftliches Werk zur Erläuterung des Inhalts aufgenommen werden, (2.) Stellen eines Werkes nach der Veröffentlichung in einem selbstständigen Sprachwerk angeführt werden, oder (3.) einzelne Stellen eines erschienenen Werkes der Musik in einem selbstständigen Werk der Musik angeführt werden.“20 Diese Vorschrift wurde von der Rechtsprechung freilich schon früh als zu eng empfunden und – entgegen dem lange aufrecht erhaltenen Grundsatz einer engen Schrankenauslegung 21 – einer erweiternden Auslegung für zugänglich erachtet. Zum einen hat der BGH das Zitatrecht analog auch auf andere, in § 51 UrhG zuvor nicht explizit genannte Werkarten angewandt,22 und zum anderen haben die Instanzgerichte auch das Bildzitat zugelassen, wenn der Zitatzweck über die Wiedergabe von Bildteilen hinaus die Wiedergabe des ganzen Bildes erfordert.23 Allerdings war in allen drei der in § 51 UrhG a.F. genannten Fälle Voraussetzung, dass die Übernahme in ein als solches selbstständig schutzfähiges
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BGH GRUR 2003, 958 – Paperboy. Ein Sonderproblem stellt die zitatweise Übernahme aus gem. §§ 87a ff. UrhG geschützten Datenbanken dar. Zwar gestattet § 87c UrhG ein Zitat nur im Rahmen des eigenen wissenschaftlichen Gebrauchs, doch ist eine zitatweise Übernahme einzelner Elemente aus einer fremden geschützten Datenbank eine nur unwesentliche Entnahme. Diese ist vom Schutzrecht selbst dann, wenn sie wiederholt und systematisch erfolgt, nur erfasst, wenn sie die berechtigten Interessen des Inhabers der Datenbank verletzt. Das setzt nach der Rechtsprechung des EuGH, Rs. C-203/02, Slg. 2004 I-10415 – British Horseracing, voraus, dass die kumulative Wirkung der einzelnen Entnahmen die in die geschützte Datenbank getätigte Gesamtinvestition „schwerwiegend beeinträchtigt“. Davon ist bei den Thumbnails schon aufgrund von deren fehlendem Eigenwert in aller Regel nicht auszugehen. – Ebenso für die Ausgabe und Anzeige kleinerer Textbestandteile bereits BGH GRUR 2003, 958 – Paperboy. 21 S. zu diesem „Grundsatz“ statt vieler nur Dreier/Schulze (Fn. 1) Vor §§ 44a ff., Rn. 7 mwN, sowie die Nachweise bei Nolte (Fn. 7) S. 163 f. 22 BGH GRUR 1987, 362 – Filmzitat. 23 OLG Hamburg, GRUR 1993, 666 – Altersfoto; GRUR 1990, 36 – Foto-Entnahme; zu weiteren Nachw. s. etwa Dreier/Schulze (Fn. 1) § 51 Rn. 24 – Noch dahingestellt gelassen von BGH GRUR 1983, 25, 28 – Presseberichterstattung und Kunstwerkwiedergabe. 20
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Werk erfolgte 24. Dass die auf die Eingabe eines Suchbegriffs hin ausgegebene Liste von Thumbnails als solche ein urheberrechtsschutzfähiges Werk in Form eines Datenbankwerkes i.S.v. § 4 Abs. 2 UrhG darstellt, ist zwar nicht schon allein aufgrund der Automatisierung des Vorgangs ausgeschlossen. Denn auch einer automatisch generierten Auswahl vermag Urheberschutz zukommen, wenn nur die der automatisierten Auswahl zugrunde liegenden Kriterien der Auswahl und/oder Anordnung i.S.v. § 2 Abs. 2 UrhG hinreichend schöpferisch sind. Allerdings erfolgt die Auswahl der Ergebnisse einer Bildsuchmaschine weitgehend nach inhaltlichen Sachkriterien, wie auch die konkrete Anzeigereihenfolge der von der Bildersuchmaschine auf eine Anfrage hin angezeigten Thumbnails von der vermuteten Wichtigkeit für den Benutzer abhängt, mithin also in der Regel gerade nicht schöpferisch sein dürfte.25 Offen geblieben ist, ob für eine Privilegierung nach § 51 a.F., ggf. die Übernahme in eine Datenbank nach den §§ 87a ff. UrhG ausreichend gewesen ist. Voraussetzung wäre dann immerhin noch gewesen, dass die Thumbnailliste eine für den Schutz nach den §§ 87a ff. UrhG hinreichende Investition erfordert hat. Dabei mag ein Datenbankschutz für den vom Suchmaschinenbetreiber insgesamt erstellten Thumbnailbestand bestehen, mangels hinreichender Investition in die Beschaffung, Überprüfung oder Darstellung der Suchergebnisse vermutlich jedoch nicht für jede einzelne der auf eine Suchanfrage hin angezeigten Thumbnaillisten. Allerdings hatte der BGH, der in seiner Entscheidung Handbuch moderner Zitate 26 die Übernahme in ein selbstständig geschütztes Werk als Voraussetzung angesehen hatte, die Übernahme von Zitaten in eine „bloße“ Zitatensammlung vor allem deshalb für unzulässig erachtet, weil er darin die Gefahr der Beeinträchtigung persönlichkeitsrechtlicher Belange der betroffenen Urheber sah. Seiner Ansicht nach könnten Zitatsammlungen „nicht nur zu einer fehlsamen Einschätzung der in der Quellenangabe angeführten Werke führen und ihren Absatz mindern, statt fördern“, sondern es könnten „darüber hinaus … durch derartige aus dem Zusammenhang gerissene Wiedergaben einzelner Werkstellen die persönlichkeitsrechtlichen Belange der betroffenen Autoren empfindlich verletzt werden.“ Diese Interessen sind bei Thumbnaillisten in Bildsuchmaschinen jedoch regelmäßig nicht berührt. In neueren Entscheidungen, in denen es um eine analoge Anwendung des Zitatrechts ging, ist allerdings nicht mehr von der Aufnahme in ein geschütztes Werk die Rede, sondern nur noch davon, dass „eine innere Verbindung mit den eigenen Gedanken hergestellt“ worden ist und „selbstständige Aus-
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So auch BGH GRUR 1973, 216, 217 f. – Handbuch moderner Zitate. Im Ergebnis ablehnend Koch in: Lowenheim, Handbuch des Urheberrechts, § 78 Rn. 54. 26 BGH GRUR 1973, 216, 217 f. – Handbuch moderner Zitate. 25
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führungen des Zitierenden“ vorliegen27. Freilich mögen derart selbstständige Ausführungen in vielen Fällen den Voraussetzungen an den Werkschutz gem. § 2 Abs. 2 UrhG genügen, notwendig erscheint dies hingegen nicht. Schon nach altem Recht standen einer analogen Anwendung des Zitatrechts also jedenfalls keine unüberwindlichen Hindernisse entgegen.
IV. Neufassung des § 51 UrhG ab 1.1.2008 Im Rahmen des Zweiten Gesetzes zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft 28 hat § 51 UrhG weiterhin eine Neufassung erfahren. Nach dessen Satz 1 ist die zitatweise Nutzung eines veröffentlichten Werkes jetzt ganz generell zulässig, „sofern die Nutzung in ihrem Umfang durch den besonderen Zweck gerechtfertigt ist.“ Nach eigenem Bekunden wollte der Gesetzgeber damit „die Schranke der Zitierfreiheit mit Blick auf weitere Werkarten vorsichtig“, zugleich jedoch „nicht grundlegend erweiter[n]“.29 Das ist dann kein Wiederspruch, wenn der Schwerpunkt der Erweiterung in der Ausdehnung auf andere Werkarten, nicht hingegen in einer Ausdehnung im Übrigen gesehen wird. Zugleich hat der Gesetzgeber – ohne darauf in der Begründung allerdings näher einzugehen – den Gesetzestext dahingehend geändert, dass die Übernahme des Zitats in ein als solches geschütztes Werk nach dem nun geltenden Wortlaut nicht mehr Voraussetzung ist.30 Das scheint der eigenen Bekundung, die Schranke der Zitierfreiheit nicht grundlegend erweitern zu wollen, zu widersprechen. Immerhin setzen aber auch die international-rechtlichen Vorgaben, welche die Grenzen festlegen, was Einzelstaaten als Zitat urheberrechtsfrei stellen dürfen, eine Übernahme in ein Werk nicht explizit voraus.31 Mithin bedarf es für die zitatweise Übernahme in ein anderes als ein selbstständig geschütztes Werk nach dem Wortlaut des deutschen Rechts fortan nicht mehr einer Analogie zu § 51 UrhG, sondern nurmehr dessen nicht restriktiver Auslegung. Voraussetzung ist allein, dass die Anführung des frem-
27 BGH GRUR 2008, 693, 696 (Ziff. 47) – TV-Total unter Berufung auf BGHZ 28, 234, 239 f. – Verkehrskinderlied; BGH GRUR 1987, 363, 364 – Filmzitat; GRUR 1987, 34, 35 – Liedtextwiedergabe I; GRUR 1986, 59, 60 – Geistchristentum. – S. auch BGH GRUR 1968, 607, 609 – Kandinsky („Gedankengang des Verfassers“ und „Erläuterung des textlichen Inhalts“). 28 Vom 26.10.2007, BGBl. I S. 2513. 29 Amtl. Begr., BT-Drucks. 16/1828, S. 25. 30 So auch das Thüringische OLG, MMR 2008, 408, 410; Dreier/Schulze (Fn. 1) § 51, Rn. 6 und insbesondere 24 – A.A. hingegen Kubis ZUM 2006, 370, 376. 31 S. Art. 10 Abs. 1 RBÜ wie auch Art. 5 Abs. 3 Buchst. d der Urheberrechtsrichtlinie 2001/29/EG.
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den geschützten Werkes einem Zitatzweck genügt und dass der Umfang der Übernahme den durch den Zitatzweck gebotenen Umfang nicht überschreitet.
V. Verweisungen in der Informationsgesellschaft Um mit der letzteren dieser beiden Voraussetzungen zu beginnen: Dass die Ausgabe von Thumbnails auf eine bestimmte Suchanfrage hin dasjenige nicht übersteigt, was als Suchergebnis geboten ist, dürfte kaum zweifelhaft sein. Das gilt im Hinblick auf die Anzeige ganzer Bilder in verkleinerter Form ebenso wie auf die Zahl der ausgegebenen Bilder insgesamt. Denn die Abbildung des jeweils ganzen Bildes in der Ergebnisliste ist deshalb geboten, weil eine lediglich verbale Beschreibung der Bilder für das Auffinden der Bilder ebenso wenig ausreichen oder es doch zumindest über Gebühr erschweren würde, wie eine nur teilweise Wiedergabe der einzelnen Bilder.32 Weiterhin ist diejenige Auflösung erforderlich, die gerade ausreicht, damit der Nutzer den Bildinhalt erkennen und auf seine Suchbedürfnisse hin zutreffend beurteilen kann. Diese Grenzen sind bei Thumbnails ebenfalls nicht überschritten. Die Vielzahl der auf eine Suchanfrage hin ausgegebenen Bilder schließlich spiegelt lediglich die Fülle der im Netz vorhandenen Informationen wieder. Bei jeder Suchanfrage stellt die Ergebnisliste den Ausschnitt aus dieser Informationsflut dar, der ganz speziell auf die Suchanfrage hin zugeschnitten ist und den möglichst zielgenau und klein zu halten schon im wirtschaftlichen Selbstinteresse des Bildsuchmaschinenanbieters liegt. Damit geht es bei der Frage, ob Thumbnails in Bildersuchmaschinen vom Zitatrecht gedeckt sind, letztlich darum, inwieweit dabei ein Zitatzweck verfolgt wird. Nach der Begriffsbestimmung, wie sie die Rechtsprechung der Anwendung von § 51 UrhG zu Grunde legt, ist das Zitat durch das Anführen eines – Teils eines – fremden geistigen Werkes „als Belegstelle oder Erörterungsgrundlage für selbstständige Ausführungen des Zitierenden“33 charakterisiert bzw. durch das Ziel, „unter Heranziehung fremden Gedankenguts einen Beleg für die eigenen Ausführungen zu geben und diese damit zu erläutern.“34 Das Hauptaugenmerk liegt also darauf, dass ein fremdes geistiges
32 Das gestehen selbst die Befürworter eines Verbots von Thumbnails ein; s. nur Schack MMR 2008, 414, 416 („lästig oder unzumutbar“); LG Hamburg, MMR 2009, 55, 61 („nicht unerhebliche Auswirkungen auf die Existenz der Bildersuche insgesamt“). 33 So zuletzt wieder BGH GRUR 2008, 693, 696 – TV-Total mit Hinweisen auf BGH GRUR 1987, 34, 35 – Liedtextwiedergabe I; GRUR 1986, 59, 60 – Geistchristentum, wiederum mwN. 34 BGH GRUR 1969, 607, 608 – Kandisky.
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Gut in die eigene Gedankenäußerung hereingeholt wird. An einer solchen Gedankenäußerung scheint es bei einer Bilderliste jedoch zu fehlen, jedenfalls sofern man nicht schon die – automatisierte – Antwort auf eine individuelle Suchanfrage des Nutzers hin als Gedankenäußerung im weitesten Sinn verstehen will. Mit Hereinholen des fremden Werkes allein ist der Charakter des Belegs und mithin das Wesen des Zitats jedoch nicht vollständig umschrieben. Denn das Zitat verweist aufgrund des Hereinholens des fremden Werkes in den eigenen Kontext zugleich immer auch aus dem eigenen Kontext hinaus auf das fremde Werk. Das Zitat beinhaltet die kommunikative Geste des „seht her“ ebenso wie die des „seht hin“. Das Zitat aus einem fremden Werk wirkt als Beleg für die eigenen Ausführungen und es verweist zugleich auf eben dieses Werk als eigenständige Quelle. Mit anderen Worten, indem das Gesetz das Zitat zulässt, erlaubt es mit dem Heranziehen des fremden Werkes als Beleg für die eigene Meinung zugleich auch den Verweis auf das fremde Werk. Betrachtet man dies nun im Zusammenhang mit dem Strukturwandel, der sich beim Übergang vom analogen Bereich in das digitale und vernetzte Umfeld vollzogen hat, so wird deutlich, dass die Geste des Verweises nach Außen im analogen Bereich untrennbar mit dem Hereinholen des fremden Werkes in die eigene Gedankenführung verbunden ist. Das Eine geht im Anderen auf, so dass es insoweit auch keiner eigenständigen Behandlung des im Zitat liegenden Verweises bedarf. Ein isolierter Verweis hingegen ist im analogen Bereich allenfalls in Form eines bibliografischen Hinweises möglich, der urheberrechtlich schon immer für gänzlich unbeachtlich angesehen wurde, so dass es insoweit nicht einmal einer diesbezüglichen Schrankenbestimmung bedurfte. Rechtlich in Form einer Ausnahmebestimmung zu regeln ist im analogen Bereich daher allein der Akt des Hereinholens. Hier bedarf es einer Beschränkung auf das Hereinholen in eine eigene Gedankenführung als Beleg, weil ansonsten die missbräuchliche Aneignung fremden geistigen Gutes zu befürchten steht. Im digitalen, vernetzten Kontext dagegen gibt es zwar ebenfalls die Situation des zitatweisen Anführens eines fremden Werkes in eigenen geistigen Ausführungen, doch tritt jetzt der in seinem Kern isolierte Verweis auf ein fremdes Werk hinzu. Ihren Grund hat diese Zunahme isolierter Verweise in der digitalen vernetzten Umgebung schlichtweg in der Fülle der im weltweiten Netz gleichzeitig zugänglichen Informationen. Diese bedürfen, um für den Nutzer überhaupt handhabbar und auffindbar zu sein, der Vorauswahl wie auch des konkreten Fundstellennachweises, kurz also des Verweises. Genau darin aber liegt der Strukturwandel des Nachweises: Ging dieser im Analogen im Zitat und der Geste des Hereinholens eines fremden Werke in die eigene Gedankenführung auf, so treten Verweise in der digitalen Vernetzung zunehmend isoliert auf. Um einen derartigen isolierten Verweis handelt es sich bei den Thumbnails der Bildersuchmaschinen. Ihre Anfertigung und Vorrätighaltung zum öffent-
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lichen Abruf dient allein dazu, dem Nutzer einen Nachweis auf den Inhalt jedes einzelnen, auf die Suche hin gefundenen Bildes zu geben. Die eigene geistige Leistung des Verweisenden beschränkt sich insoweit notwendig in der Auswahl und Anordnung der einzelnen Verweise. Dass der Verweis hier ohne eine vollständige Abbildung des Werkes, auf das verwiesen wird, nicht auskommt, liegt – wie der Vergleich zum Textverweis im Wege eines Hyperlink oder unter Anführen von kleinen, als solchen urheberrechtlich nicht geschützten Textauszügen (sog. Snippets) zeigt – einzig in der Natur des Bildes begründet, nicht hingegen im Verweis selbst. Und dass der Anbieter der Suchdienstleistung mit diesem Angebot zugleich seine eigenen geschäftlichen Zwecke fördern mag, beeinflusst den Charakter des Verweises ebenso wenig.
VI. Normative Verankerung und Kontrollerwägungen Mit der Konstatierung dieses Strukturwandels und der Charakterisierung der Thumbnails als Verweise allein ist jedoch noch keine Entscheidung darüber getroffen, ob ein isolierter Verweis im digitalen vernetzten Umfeld der bestehenden gesetzlichen Regelung unterworfen ist – mit anderen Worten, ob also auch ein bloßer Verweis den Zitatzweck erfüllt35 – oder ob insoweit gegebenenfalls der Gesetzgeber aufgerufen ist, eine eigenständige, neue Regelung zu schaffen. Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es – wenn man nicht schon die Auswahlleistung als solche für die vom Zitatrecht traditionell geforderte geistige Auseinandersetzung ausreichen lassen will – vielmehr noch ergänzender normativer Überlegungen. In Betracht kommen hier vor allem zwei Ausgangspunkte: zum einen eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Verzichts auf die traditionelle Belegfunktion und zum anderen der Vergleich mit der urheberrechtlichen Einordnung sonstiger Verweise. Ausgangspunkt einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung ist die normative Verortung der Beschränkung des verfassungsrechtlich geschützten Urheberrechts im Allgemeinen und des Zitatrechts im Besonderen, in der Verwirklichung anderer verfassungsrechtlich geschützter Grundfreiheiten. So verlangt es etwa – wie vom Bundesverfassungsgericht in der Germania 3Entscheidung ausgeführt – die durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geforderte 35 Das Vorliegen eines Zitatzwecks verneint allerdings das Thüringische OLG, MMR 2008, 408, 410, das im bloßen Anführen keine geistige Auseinandersetzung sieht und auch den neu gefassten § 51 UrhG nach wie vor eng auslegen will; ebenso LG Hamburg, MMR 2009, 55, 60. Dem zustimmend Ott K&R 2008, 306, 308 und Schack MMR 2008, 414, 415. Dagegen halten Leistner/Stang CR 2008, 499, 502 eine Erweiterung des Zitatrechts zwar für möglich, erachten § 51 UrhG jedoch auch in seiner neuen Fassung – allerdings ohne nähere Begründung – auf die Konstellation der Bildersuche im Internet nicht für übertragbar. Auch die Anwendung des § 59 UrhG im Sinne einer Freiheit des „Straßenbildes des virtuellen Raumes“ lehnen die Verf. im Ergebnis für den vorliegenden Fall ab.
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kunstspezifische Betrachtung, bei der Auslegung und Anwendung des Zitatrechts über die bloße Belegfunktion hinaus auch die innere Verbindung der zitierten Stellen mit den Gedanken und Überlegungen des Zitierenden als Mittel künstlerischen Ausdrucks und künstlerischer Gestaltung anzuerkennen.“ Danach greift das Zitatrecht nicht nur, wie noch zuvor von der Rechtsprechung angenommen, dann, wenn sich der Künstler mit dem fremden Werk „auseinandersetzt, sondern maßgeblich ist allein, ob dieses sich funktional in die künstlerische Gestaltung und Intention des Werkes einfügt und damit als integraler Bestandteil einer eigenständigen künstlerischen Aussage erscheint.36 Auch wenn hier nach wie vor eine Übernahme – ein „Hereinholen“ – in Gedanken und Überlegungen des Zitierenden gefordert wird, so führt die Berücksichtigung konfligierender Grundrechte doch immerhin dazu, dass § 51 UrhG zu einem Anwendungsbereich zu verhelfen ist, der weiter ist als bei anderen, nichtkünstlerischen Sprachwerken.37 Das führt dann zu der Frage, ob in vergleichbarer Weise, wie der Kern der Kunstfreiheit die Übernahme unter allein künstlerischen Gesichtspunkten rechtfertigt, ohne dass es auf einen Belegzweck ankommt, die Übernahme nicht auch aufgrund anderer verfassungsrechtlicher Grundfreiheiten zu rechtfertigen ist.38 In Betracht kommt hier die für das Internet bedeutsame Informationsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1, 2. Alt. GG, die ihrerseits wiederum Grundlage des Rechts auf freie Meinungsäußerung nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. GG ist.39 Insoweit hatte der BGH schon in der Kan36 BVerfG, GRUR 2001, 149, 151 f. – Germania 3. – S. auch BGH GRUR 2008, 693, 696 – TV-Total. 37 Die Entscheidung „Germania 3“ des BVerfG hat in der Literatur jedoch nicht nur Zustimmung erfahren. Das kann im Rahmen dieses Beitrags jedoch nicht näher vertieft werden. S. dazu nur etwa Kakies Kunstzitate in Malerei und Fotografie, 2007, S. 80 ff. mwN; Seifert Das Zitatrecht nach „Germania 3“, in: FS Erdmann, 2002, S. 195; Garloff GRUR 2001, 476, sowie zuvor bereits Haas ZUM 1999, 834 und Bornkamm Ungeschriebene Schranken des Urheberrechts? – Anmerkungen zum Rechtsstreit Botho Strauß/Theater Heute, in: FS Piper, 1996, S. 641. 38 Die Rechtsprechung der Instanzgerichte hat die Reichweite der „Germania 3“-Entscheidung des BVerfG z.T. jedoch auf die Kunstfreiheit beschränkt sehen wollen; so etwa OLG Hamburg, GRUR-RR 2003, 33, 38 – Maschinenmenschen (nicht auf die Pressefreiheit) und KG, GRUR-RR 2002, 313, 315 – Das Leben, dieser Augenblick (nicht auf die Wissenschaftsfreiheit); dagegen LG München I, ZUM 2005, 407, 410 (Anwendung auf Freiheit der Lehre). – Der BGH hingegen versteht das BVerfG dahingehend, dass eine erweiternde Auslegung bestehender (im Gegensatz zur Schaffung neuer) Schranken generell beim Vorliegen eines „gesteigerten öffentlichen Interesses“ zulässig ist, so dass „im Einzelfall … die enge, am Wortlaut orientierte Auslegung einer großzügigeren, der verfassungsrechtlich geschützten Position des Verwerters Rechnung tragenden Interpretation weichen muss“; BGH GRUR 2002, 605, 606 – Verhüllter Reichstag, und GRUR 2003, 956, 957 – Gies-Adler. 39 Das erkennt grundsätzlich auch das LG Hamburg, MMR 2009, 55, 61 an, gelangt dann jedoch zu einer anderen als der hier vorgenommenen Abwägung; kritisch dazu die Anmerkung von Hoeren MMR 2009, 62 („die Entscheidung des BVerfG in Sachen Germania 3 komplett ins Gegenteil verkehrt“).
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dinsky-Entscheidung hervorgehoben, dass das Zitatrecht dem geistigen Schaffen anderer und damit „zum Nutzen der Allgemeinheit der Förderung des kulturellen Lebens“ dient.40 Wenn Information aber ohne Vorselektion aus der Informationsflut und ohne Verweis auf die einzelne Information nicht bzw. nur noch schwer möglich ist, dann erfasst zumindest der Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie auch die Tätigkeit des Verweises. Dass der Verweisende die Information, auf die er verweist, nicht selbst nutzt, sondern deren Nutzung durch den Verweis Dritten erschließt, vermag daran nichts zu ändern. Denn auch bei der Übernahme aus künstlerischen Zwecken und selbst beim klassischen Zitat ist die durch das Hereinholen des fremden Werks ermöglichte geistige Auseinandersetzung ja nicht auf die Auseinandersetzung durch den Zitierenden begrenzt, sondern – das Zitatrecht greift erst dann, wenn das Zitat öffentlich gemacht wird – sie ermöglicht gerade die geistige Auseinandersetzung der Nutzer der Suchmaschine mit dem zitierten Werk. Allerdings bedarf es insbesondere angesichts des Gesetzesvorbehalts in Art. 5 Abs. 2 GG der Abwägung mit konfligierenden Grundrechten im Wege der praktischen Konkordanz. Diese ist vor allem mit dem Eigentumsschutz herzustellen, den das Urheberrecht nach Art. 14 GG genießt. Aus dem Eigentum fließt zunächst die abstrakte Kontrollbefugnis des Urhebers, darüber bestimmen zu können, wer sein Werk nutzen dürfen soll und wer nicht. Diese Kontrollbefugnis entgegen dem Allgemeininteresse ausüben zu können, ist im Rahmen der verfassungsrechtlichen Abwägung jedoch kein zu berücksichtigendes Interesse von Gewicht. Vielmehr geht es, wie auch vom BGH immer wieder hervorgehoben, vor allem um das Interesse des Urhebers an einer tunlichen Teilhabe an den Erlösen der wirtschaftlichen Verwertung.41 Nun mögen die Anbieter von Suchmaschinen aus deren Betrieb Erlöse aufgrund von Werbeinnahmen erzielen; zwingend notwendig ist das hingegen nicht.42 Und selbst wenn Erlöse erzielt werden, gründen diese – da die Thumbnails für sich genommen keinen Werkgenuss der abgebildeten Bil-
40 BGH GRUR 1969, 607, 608 – Kandisky. – Ähnlich auch BGH GRUR 1973, 607, 609: „der Freiheit der geistigen Auseinandersetzung mit fremden Gedanken dienen“. Auch in der Entscheidung GRUR 2003, 958, 963 – Paperboy erkennt der BGH ausdrücklich den „erheblichen zusätzlichen Nutzen durch die gemeinsame Erschließung dieser Informationsquellen“ für die Allgemeinheit an. – S. auch die amtl. Begründung zu den Schrankenbestimmungen, die betont, dass „nach den Rechtsgedanken, die dem Urheberrecht immanent sind, die ausschließliche Herrschaftsmacht des Werkschöpfers über sein Geistesgut an überwiegenden Bedürfnissen der Allgemeinheit ihre Grenze“ findet; BT-Drucks, IV/270. 41 S. nur BGH GRUR 1995, 673, 675 – Mauer-Bilder, mwN. 42 So ist der Google-Bildersuchdienst als solcher werbefrei und dürfte daher wegen seiner Eigenschaft als Zusatzleistung des Gesamtprodukts „Google“ nur mittelbar für den Werbeumsatz in anderen Bereichen von Bedeutung sein.
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der ermöglichen43 – weit weniger in der Verwertung der urheberrechtlich geschützten Werkes selbst, als vielmehr in der Dienstleistung des Nachweises der Originalbilder auf eine bestimmte Suchanfrage hin. Vor allem aber haben die Verwertungsinteressen im Vergleich zu den Nutzungsinteressen, wie das BVerfG im Vergleichbaren Fall der Abwägung von Urheberschutz und Kunstfreiheit ausgeführt hat, dann zurückzutreten, wenn „nur ein geringfügiger Eingriff in die Urheberrechte ohne Gefahr merklicher wirtschaftlicher Nachteile (z.B. Absatzrückgänge)“ der entgegenstehenden Grundrechtsposition gegenüberstehen (dort der Kunstfreiheit, hier entsprechend also der Informationsfreiheit).44 Gering sind die Eingriffe in fremde Urheberrechte hier insbesondere deshalb, weil Thumbnails lediglich einen informationstechnischen Zwischenschritt darstellen, der den Nutzern der Bildsuchmaschine die Teilhabe an und den Zugriff auf allgemein zugängliche Quellen i.S.v. Art. 5 Abs. 1 GG ermöglicht. Insoweit unterscheiden sich die auf eine Suchanfrage hin ausgegebenen Thumbnails denn auch deutlich von einer Kompilation fremder Musikstücke oder – wie im Fall einer Zitatensammlung – ganzer fremder Texte. Bei diesen ist der volle Werkgenuss aufgrund der Kompilation möglich, bei Thumbnails hingegen nicht. Dass dieses auf der Grundlage einer verfassungsrechtlichen Argumentation gewonnene Ergebnis nicht systemfremd ist, erweist zuletzt der Vergleich mit der urheberrechtlichen Einordnung sonstiger Verweise. Dazu zählen im analogen Bereich insbesondere die klassischen Fußnoten und auch Abstracts, im digitalen Bereich Hyperlinks sowie die in den Ergebnislisten von Suchmaschinen aufgelisteten kleinen Ausschnitte aus den Texten, auf die in den Suchresultaten verwiesen wird. Fußnoten waren im analogen Umfeld schon immer urheberrechtlich irrelevant. Auch Abstracts werden von der Rechtsprechung dann urheberrechtlich für zulässig gehalten, wenn sie die Lektüre des Originaltextes nicht ersetzen, wenn sie also lediglich eine reine 43 Eine Nutzung könnte allenfalls eingeschränkt auf kleinen Displays in Betracht kommen, wie sie aber selbst bei Mobiltelefonen schon bald der technischen Vergangenheit angehören dürften. Dagegen lässt sich auch nicht argumentieren, wirtschaftlich unbedeutend seien die Thumbnails nur solange, wie sie nicht lizenziert würden (was gerade zu zeigen ist). Denn die vom LG Hamburg, GRUR-RR 2004, 313 – thumbnails angedeutete Lösung einer individuellen Lizenzierung mag in dem insoweit anders gelagerten Fall, in dem Bilder aus einzelnen Quellen übernommen werden, praktikabel sein. Im Internet scheidet eine individuelle Lizenzierung dagegen von vornherein aus (ebenso Schack MMR 2008, 414, 416). Auch die von Schack aaO statt dessen vorgeschlagene Lösung einer kollektiven Wahrnehmung der Thumbnail-Rechte durch die VG-Bild-Kunst setzte einen erheblichen Transaktionsaufwand voraus, da alle Rechteinhaber ihre Rechte insoweit der Verwertungsgesellschaft individuell zur Wahrnehmung einräumen müssten, sofern nicht der Gesetzgeber im Wege einer gesetzlichen Lizenz tätig wird; ähnlich wie hier auch Ott K&R 2008, 306, 308. – Zu gängigen Pixelgrößen von Thumbnails s. http://en.wikipedia.org/wiki/Thumbnail# Dimensions. 44 BVerfG, GRUR 2001, 149, 151 – Germania 3.
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Verweisfunktion erfüllen bzw. ihr Informationsgehalt dem Nutzer ermöglicht, für ihn wichtige Quellen, auf die verwiesen wird, ohne Konsultation der Originaldokumente von unwichtigen zu unterscheiden.45 Aber auch die den Thumbnails näher stehenden Hyperlinks und Textauszüge hat der BGH in seiner Paperboy-Entscheidung urheberrechtlich ohne gesonderte Zustimmung der Rechteinhaber für zulässig erachtet, erstere, weil er in ihnen schon gar keine Vervielfältigung gesehen hat, letztere, weil die Auszüge die Schwelle der Schutzfähigkeit nicht überschreiten.46 Sofern hier bei den Thumbnails ganze Bilder gezeigt werden, muss auch insoweit letztlich die gleiche Wertung gelten, wie sie die Rechtsprechung schon bei der Rechtfertigung des Bildzitats aus der Notwendigkeit des Zeigens des ganzen Bildes abgeleitet hat. Dass mit diesem Ergebnis der richtige Weg beschritten ist, zeigt auch ein Blick ins Ausland. Auch dort hat die Rechtsprechung Thumbnails im Rahmen von Bildersuchmaschinen ebenfalls für zulässig erachtet. Wenn dies etwa in den USA im Rahmen der flexiblen Schranke des fair use geschieht,47 so deutet dies darauf hin, dass die Lösung im deutschen Recht, das eine derartige flexible Schrankenbestimmung – jedenfalls bislang48 – nicht kennt, unter dem Blickwinkel des Grundgesetzes im Wege der Auslegung bestehender Schrankenbestimmungen zu suchen ist. Das schließt freilich eine klärende Anpassung des Gesetzes de lege ferenda nicht aus; zwingend notwendig ist sie nach der hier skizzierten Argumentation jedoch nicht.
45 S. OLG Frankfurt, ZUM-RD 2003, 525, 535 und ZUM 2008, 233, 235, sowie die weiteren Nachw. bei Schricker/Dietz Urheberrecht, 3. Aufl., 2006, § 12 Rn. 29; Nolte (Fn. 7) S. 252; Erdmann Urheberrechtliche Grenzen der Informationsvermittlung in Form von abstracts, in: FS Tilmann, 2003, S. 21, 36. 46 BGH GRUR 2003, 958, 961 – Paperboy. 47 Kelly v. Arriba Soft Corporation, 280 F.3d 934 (9th Cir. 2002) und 336 F.3d 811 (9th Cir. 2003); ebenso Perfect 10, Inc. v. Amazon.com, Inc., 487 F.3d 701 (9th Cir 2007) unter Aufhebung der Vorinstanz Perfect 10 v. Google, Inc., et al., 416 F. Supp. 2d 828 (C.D. Cal. 2006), die eine Beeinträchtigung des Marktes für Handylogos angenommen hatte. – Insgesamt zurückhaltender und im Ergebnis entgegen BGH GRUR 2003, 958 – Paperboy für den Dienst Google News hingegen Tribunal de première instance Bruxelles, Google v. Copiepresse, v. 13.2.2007, http://www.copiepresse.be/copiepresse_google.pdf. 48 Zur Anregung einer Flexibilisierung auch des deutschen Schrankensystems s. jüngst nur etwa GRUR, Stellungnahme zum Grünbuch „Urheberrechte in der wissensbestimmten Wirtschaft KOM (2008) 466 endg.“, GRUR 2009, 135; Förster Fair Use, 2008, S. 211 ff.; s. auch bereits Hoeren Urheberrecht in der Informationsgesellschaft, GRUR 1997, 866, 871, und zum Problemkreis einer flexiblen Schranke gegenüber einem begrenzten Schrankenkatalog insgesamt Kur Of Oceans, Islands, and Inland Water – How Much Room for Exceptions and Limitations under the Three Step-Test?, Max Planck Institute for Intellectual Property, Competition & Tax Law Research Paper Series No. 08-04, http://papers.ssrn.com/ sol3/papers.cfm?abstract_id=1317707.
Der Konflikt zwischen kirchlichen Werkeigentümern und Urhebern Zugleich ein Beitrag zum methodischen Vorgehen bei der Prüfung von Werkänderungen Cornelie von Gierke I. Einleitung Zwischen Kunst und Kirche besteht eine enge Verbindung. Diese spiegelt sich im reichen sakralen Kunsterbe der über 2000-jährigen Geschichte der Kirche wider. Seit ihren Anfängen hat die Kirche die Kunst durch Anregungen und als Auftraggeberin unterstützt; kulturelles Engagement gehört seit je zu ihrem Selbstverständnis. Umgekehrt hat auch die Kunst schon immer einen eigenen Beitrag zum Verständnis der christlichen Botschaft geleistet. Trotz der engen Verbindung sind Kirche und Kunst aber stets autonom geblieben. Kardinal Lehmann1 hat ihr Verhältnis zueinander einmal anschaulich „als verbundenes Getrenntsein oder getrenntes Verbundensein“ charakterisiert. Darin kommt bereits zum Ausdruck, dass aus der Autonomie von Kirche und Kunst bei aller Verbundenheit auch Konflikte erwachsen können. Solche Konflikte treten in der Regel dann auf, wenn die Kirche unter Berufung auf ihr kirchliches Selbstbestimmungsrecht aus theologischen oder liturgischen Gründen Änderungen an einem künstlerischen Werk vornimmt, die mit dem Integritätsinteresse des Künstlers kollidieren, sein Werk in dem Zustand zu belassen, in dem er es geschaffen und für die Mit- und Nachwelt freigegeben hat. Beharren beide Seiten auf ihren Vorstellungen, so wird der Streit bei der Öffentlichkeit zugänglichen Gebäuden oft nicht nur in die Medien getragen – man denke etwa an die breite Diskussion über die Deckengestaltung im Untergeschoss des Berliner Hauptbahnhofs –, sondern auch zur Kognition durch die Gerichte gestellt. Dazu ist es bis in die jüngste Vergangenheit insbesondere auch bei Änderungen an Kirchengebäuden gekommen. Dabei geht es nicht nur um Änderungen an der äußeren Gestaltung einer Kirche wie z.B. beim Wiederaufbau einer aufgrund von Kriegseinwir1
Hoops (Hrsg.), Religion aus Malerei? Kunst der Gegenwart als theologische Aufgabe, 2005, S. 24.
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kungen teilweise zerstörten Kirche 2 oder bei der Teilvernichtung eines Kirchengebäude-Ensembles 3, sondern insbesondere auch um die vom Architekten nicht autorisierte Umgestaltung von Kircheninnenräumen, sei es, dass anstelle der vom Architekten geplanten Pfeifenorgel eine elektronische Orgel eingebaut wird,4 dass die räumliche Anordnung von Altar, Tabernakel und Marienstatue verändert wird 5 oder – wie jüngst – der Altarraum umgestaltet wird.6 Der zuletzt entschiedene Fall soll Ausgangspunkt der nachfolgenden Betrachtung sein. Er ist zum einen wegen des methodischen Prüfungsvorgehens der Rechtsprechung für die Praxis bedeutsam, sodann aber auch im Blick auf die bei der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Kriterien.
II. Der Integritätsanspruch des Urhebers Bei Werkänderungen wird der Urheber in erster Linie an einer Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes interessiert sein, d.h. er wird einen Beseitigungsanspruch nach § 97 Abs. 1 UrhG geltend machen, der eine widerrechtliche Urheberrechtsverletzung voraussetzt. Es ist daher zunächst zu prüfen, ob ein urheberrechtlich geschütztes Werk vorliegt (nachfolgend unter 1), und sodann, ob eine Urheberrechtsverletzung gegeben ist, d.h. ein Eingriff in ein dem Urheber zugeordnetes Recht (nachfolgend unter 2). Auf ein Verschulden kommt es für den Beseitigungsanspruch nicht an. 1. Urheberrechtsschutzfähigkeit Die BGH-Entscheidung „St. Gottfried“7 macht einmal mehr deutlich, dass die Urheberrechtsschutzfähigkeit in der Regel auch dann einer sorgfältigen Prüfung bedarf, wenn sie – wie bei individuell gestalteten Kirchengebäuden – im Einzelfall relativ unproblematisch ist. Dies aus zweierlei Gründen: Zum einen ist es in jedem Falle notwendig, die eigenschöpferische Züge eines Werkes herauszuarbeiten; denn die Werkbeeinträchtigung muss sich – wie der BGH in der Entscheidung „Kirchen-Innenraumgestaltung“ 8 noch einmal betont hat – auf den künstlerischen Gesamteindruck und damit auf die diesen prägenden schutzfähigen Gestaltungselemente beziehen. Sodann ist in der Regel auch der schöpferische Eigentümlichkeitsgrad zu ermitteln, da er nach
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OLG Nürnberg Schulze OLGZ Nr. 28 – Reformationsgedächtniskirche. OLG München GRUR 2001, 177. BGH GRUR 1982, 107 ff. – Kirchen-Innenraumgestaltung. OLG Karlsruhe NJW 2004, 608 ff. – Kirchenchorraum. BGH GRUR 2008, 984 ff. – St. Gottfried. BGH GRUR 2008, 984 ff. BGH GRUR 1982, 107, 110.
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der Rechtsprechung Einfluss auf den Schutzumfang eines Werkes hat. Der Schutzumfang ist umso größer, je erheblicher die Eigenprägung des Werkes ist; kleiner dagegen, wenn es sich um ein Werk von geringer Individualität handelt.9 Die dabei anzulegenden Prüfungsmaßstäbe sind inzwischen gesichert und gelten uneingeschränkt auch bei Werken, die im Auftrage der Kirche erstellt werden. Bei zweckfreien „reinen“ Kunstwerken wie Altarbildern, Madonnendarstellungen und künstlerisch gestalteten Kirchenfenstern werden in der Regel keine hohen Anforderungen an die nach § 2 Abs. 2 UrhG erforderliche persönliche geistige Schöpfung gestellt. Zur Vermeidung eines künstlerischen Wert- oder Unwerturteils10 hat die Rechtsprechung in diesem Bereich seit langem die sog. kleine Münze anerkannt, d.h. es reicht aus, dass die formgebende Tätigkeit nur einen relativ geringen Schöpfungsgrad aufweist.11 Anders liegt es bei Gebrauchszwecken dienenden Werken der angewandten Kunst und der Baukunst i.S. des § 2 Abs. 1 Nr. 4 UrhG. Bei derartigen Werken hat die Rechtsprechung das – verfassungsrechtlich unbedenkliche 12 – Erfordernis einer schöpferischen Gestaltungshöhe im Sinne eines deutlichen Überragens der Durchschnittsgestaltung aufgestellt.13 Bei der Prüfung geht sie methodisch in zwei Schritten vor, indem sie zunächst durch Gesamtvergleich mit dem vorbekannten Formengut untersucht, ob sich überhaupt eigenschöpferische (individuelle) Züge ermitteln lassen, und weiter, ob die festgestellten schöpferischen Eigenheiten die nötige Gestaltungshöhe besitzen. Zu Letzterem ist erforderlich, dass nach dem maßgebenden Gesamteindruck das rein handwerksmäßige, alltägliche, durchschnittliche Schaffen auf dem jeweiligen Gebiet deutlich überragt wird. Allerdings ist dazu nicht – wie teilweise angenommen14 – ein ästhetischer Überschuss zu verlangen. Bei Bauwerken kann die eigenschöpferische Gestaltung ihren Ausdruck und Niederschlag nicht nur in der äußeren Gesamtgliederung und Formgebung, sondern auch in der Gesamtgliederung und Gestaltung des baulichen Innenraums finden.15 Je nach der Art des Eingriffs kann es daher im Einzelfall entweder nur auf die Außen- oder die Innenarchitektur ankommen. Dementsprechend hat der BGH in der Ausgangsentscheidung „St. Gottfried“, in der es allein um die unautorisierte Umgestaltung des Altarraums 9
St. Rspr.; vgl. u.a. BGH GRUR 1987, 360, 361 – Werbepläne. Die Gerichte sind dazu grundsätzlich nicht berufen, vgl. BGH GRUR 1959, 289, 290 – Rostenthal-Vase; 1981, 267, 268 – Dirlada. 11 Vgl. BGH GRUR 1968, 321, 324 – Haselnuß; 1981, 267, 268 – Dirlada; 1988, 812, 814 – Ein bißchen Frieden; 1991, 533 – Brown Girl II. 12 Vgl. BVerfG GRUR 2005, 410 – Laufendes Auge. 13 St. Rspr.; vgl. u.a. BGHZ 94, 276, 286 = GRUR 1985, 1041 – Inkasso-Programm; BGH GRUR 1987, 704, 705 – Warenzeichenlexika. 14 Vgl. BGHZ 24, 55, 66 f. = GRUR 1957, 391 ff. – Ledigenheim. 15 Vgl. BGH GRUR 1982, 107 ff. – Kirchen-Innenraumgestaltung. 10
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ging, auch nur auf die Gestaltung des Kircheninnenraums mit der Chorinsel als beherrschendem Element abgestellt und unberücksichtigt gelassen, ob und inwieweit die architektonische Außengestaltung der Kirche Schutz genießt. Aufgrund der tatrichterlichen Feststellungen ist er davon ausgegangen, dass die ursprüngliche Gestaltung des Kircheninnenraumes der St.-Gottfried-Kirche das übliche Kirchenbauschaffen überragt. Der BGH hat dabei den in ständiger Rechtsprechung anerkannten Grundsatz berücksichtigt, dass auch die Verwendung allgemein bekannter, gemeinfreier Gestaltungselemente einer Urheberrechtsschutzfähigkeit nicht entgegensteht, wenn durch die Kombination dieser Elemente eine besondere eigenschöpferische Wirkung und Gestaltung erzielt wird.16 Der so begründete Urheberrechtsschutz war deshalb auch mit den Ausführungen des Sachverständigen vereinbar, dass der vom Architekten geschaffene Altarraum typisch für den Kirchenbau der Nachkriegszeit sei und genau der bereits seit dem Jahre 1920 bekannten Idee der Messopferkirche entspreche. Die festgestellte Originalität führte allerdings nur zur Annahme einer durchschnittlichen Gestaltungshöhe. Hinreichende Anhaltspunkte für einen hohen Schöpfungsgrad waren nicht festgestellt worden, auch wenn der Kircheninnenraum nach dem Klagevorbringen einen „Meilenstein in der Kirchenbaukunst der Nachkriegszeit“ darstellen sollte. Zwar kann der besonderen Anerkennung in der Fachwelt eine den künstlerischen Rang eines Werkes und damit dessen Schöpfungsgrad steigernde Wirkung zukommen,17 indessen hatte das Berufungsgericht seine Beurteilung der Gestaltungshöhe nicht auf diesen Gesichtspunkt gestützt.18 Die Bewertung der kulturhistorischen Bedeutung der Kirchen-Innenraumgestaltung war in den Vorinstanzen umstritten.19 Der BGH konnte deshalb die Frage offenlassen, da sie nicht zur revisionsrechtlichen Überprüfung stand.20 Über den Einzelfall hinaus sind für die Praxis auch die Ausführungen des BGH zur Darlegungs- und Beweislast bedeutsam. Wer sich auf eine urheberrechtlich geschützte Leistung beruft, hat grundsätzlich nicht nur das betreffende Werk oder bei Werken, bei denen wie bei Bauwerken eine Vorlage nicht in Betracht kommt, eine entsprechende Dokumentation vorzulegen, sondern auch die konkreten Gestaltungselemente darzulegen, aus denen sich die urheberrechtliche Schutzfähigkeit ergibt.21 Insoweit dürfen allerdings bei Kunstwerken einschließlich der Werke der angewandten Kunst und der Bau16
Vgl. u.a. BGH GRUR 1989, 416, 417 – Bauaußenkante. Vgl. Dreier/Schulze UrhG, 3. Aufl. 2008, § 2 Rn. 62; Schricker/Dietz Urheberrecht, 3. Aufl. 2006, § 14, Rn. 31. 18 So ausdrücklich BGH GRUR 2008, 984, 986 Tz 27 aE – St. Gottfried. 19 Vgl. OLG Hamm ZUM 2006, 641, 646. 20 Ebenso Steinbeck in Anm. zu BGH GRUR 2008, 984, 988, 989. 21 St. Rspr.; u.a. BGH GRUR 1974, 740, 741 – Sessel; 1981, 820, 822 – Stahlrohrstuhl II; 1991, 456 – Goggolore. 17
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werke keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Denn bei ihnen ist die Schwierigkeit nicht zu verkennen, ästhetisch wirkende Formen überhaupt mit den Mitteln der Sprache auszudrücken. Da es auf den Eindruck der mit schöpferischen Gestaltungen der jeweiligen Art einigermaßen vertrauten und dafür aufgeschlossenen Verkehrskreise ankommt,22 ist es als zulässig anzusehen, wenn sich die Gerichte die notwendige Sachkunde vielfach selbst zutrauen, um den schöpferischen Gesamteindruck zu ermitteln.23 Dementsprechend hat es der BGH im Falle „St. Gottfried“ sogar unbeanstandet gelassen, dass das Berufungsgericht sich bei der Beurteilung der Schöpfungshöhe nicht auf das vom Landgericht eingeholte Sachverständigengutachten, sondern auf den unstreitigen Parteivortrag und die vom Kläger vorgelegten Fotografien gestützt hat. Er hat dabei auf den Grundsatz zurückgegriffen, dass der Kläger bei einem Werk, bei dem es – wie hier bei der Innenraumgestaltung eines Bauwerkes – zur Ermittlung der den Urheberrechtsschutz begründenden Elemente wesentlich auf den sich aufgrund der Betrachtung des Objekts ergebenden Gesamteindruck ankommt, der sich oft einer genauen Wiedergabe durch Worte entzieht, seine Darlegungslast auch durch Vorlage von Fotografien des Werkes genügen kann, wenn die maßgeblichen Umstände hieraus ausreichend deutlich zu erkennen sind.24 2. Urheberrechtsverletzung Als Rechtsverletzung kommt in Fällen der vorliegenden Art ein Eingriff in das in den §§ 14, 39 UrhG enthaltene Recht des Urhebers auf Werkintegrität in Betracht. Das Verhältnis dieser Bestimmungen zueinander und ihre Voraussetzungen sind umstritten. In seiner Entscheidung „St. Gottfried“ vermeidet der BGH eine nähere Auseinandersetzung mit den divergierenden Auffassungen und geht einen praktikablen Prüfungsweg, an dem sich die Praxis in Fällen der Werkänderung orientieren kann. a) Recht auf Werkintegrität (§§ 14, 39 UrhG) Das Recht auf Werkintegrität ist aus dem Urheberpersönlichkeitsrecht (§ 11 UrhG) abgeleitet und hat seinen gesetzlichen Niederschlag in den Bestimmungen der §§ 14, 39 UrhG gefunden. Aus den geistigen und persönlichen Beziehungen des Urhebers zu seinem Werk folgt das Recht, dass das von ihm geschaffene Werk, in dem seine individuelle künstlerische Schöpfer22 Vgl. BGHZ 24, 55, 68 = GRUR 1957, 391 ff. – Ledigenheim; BGHZ 22, 331, 336 f. = GRUR 1974, 675 ff. – Schulerweiterung; BGH GRUR 1982, 107, 110 – Kirchen-Innenraumgestaltung; 1982, 369, 371 – Allwetterbad. 23 BGH GRUR 1986, 458, 459 – Oberammergauer Passionsspiele. 24 Vgl. BGHZ 112, 264, 269 = GRUR 1991 449 – Betriebssystem; BGH GRUR 231, 233 – Staatsbibliothek.
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kraft ihren Ausdruck gefunden hat, der Mit- und Nachwelt in seiner unveränderten individuellen Gestaltung zugänglich gemacht wird.25 Das Gesetz verwendet für die Eingriffe in das Recht auf Werkintegrität verschiedene Begriffe, die sich nur schwer voneinander abgrenzen lassen. Es spricht in § 39 UrhG von Änderung, in § 14 UrhG von Beeinträchtigung und Entstellung. Diese Begriffe finden in der in Art. 6bis Abs. 1 RBÜ enthaltenen Formulierung „Entstellung, Verstümmelung oder sonstigen Änderung … oder jede andere Beeinträchtigung“ eine Entsprechung. Im Schrifttum wird der Begriff der Beeinträchtigung ganz überwiegend als Oberbegriff verstanden, der die Änderung und Entstellung mit umfasst.26 Der BGH ist hingegen in der Entscheidung „Kirchen-Innenraumgestaltung“27 davon ausgegangen, dass das Änderungsverbot des § 39 UrhG und das Entstellungsverbot des § 14 UrhG selbstständig nebeneinander stehen und grundsätzlich auch selbständig zu prüfen sind. Er hält es bei Änderungen im Rahmen eines Nutzungsverhältnisses für zweckmäßig, vorrangig der Frage der Werkänderung nachzugehen, da eine unzulässige Abänderung regelmäßig das Urheberrecht tiefgreifender verletzt als ein nach § 14 UrhG unzulässiger Eingriff. Er sieht den Unterschied darin, dass das Recht gegen Änderungen sowohl einen vermögens- als auch einen urheberpersönlichkeitsrechtlichen Gehalt hat und sich gegen eine Verletzung des Bestandes und der Unversehrtheit des Werkes selbst in seiner konkret geschaffenen Gestaltung richtet. Wenn er von einem Eingriff in die Werksubstanz spricht,28 so ist damit allerdings nicht – wie verschiedentlich gemeint wird 29 – der Eingriff in die körperliche Substanz eines Werkexemplars gemeint. Denn Gegenstand des Urheberrechtsschutzes kann immer nur das Werk als immaterielles Gut sein.30 Das Werk ist der geistige Gehalt,31 der sich in dem Werkstück lediglich konkretisiert. Eine urheberrechtlich relevante Änderung kommt daher allein bei einem Eingriff in die geistige Substanz des Werkes in Betracht, der sich bei einem Werk der Baukunst in der Änderung der Werkverkörperung nur manifestiert, z.B. in der baulichen Umgestaltung des Altarraums. Demgegenüber richtet sich das Recht gegen Entstellungen gegen eine Beeinträchtigung der geistigen und persönlichen Urheberinteressen auch durch Form und Art der Werkwieder-
25 St. Rspr.; schon RGZ 79, 397, 399 – Freskogemälde; ihm folgend BGHZ 62, 331, 338 – Schulerweiterung; BGH GRUR 1999, 230, 231 – Treppenhausgestaltung. 26 Vgl. Schricker/Dietz Urheberrecht, 3. Aufl. 2006, § 14 Rn. 5; Dreier/Schulze UrhG, 3. Aufl. 2008, § 14 Rn. 5. 27 BGH GRUR 1982, 107, 109. 28 BGH GRUR 1982, 107, 109 – Kirchen-Innenraumgestaltung; 2008, 984, 986 – St. Gottfried. 29 Dreyer/Kotthoff/Meckel UrhG, 2004, § 14 Rn. 9. 30 BGH GRUR 1999, 230, 231 – Treppenhausgestaltung, mwN. 31 BGH GRUR 2002, 532, 534 – Unikatrahmen.
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gabe und Werknutzung.32 Bei der geschützten Innenraumgestaltung einer Kirche kann eine Entstellung beispielsweise in der anderweitigen Aufstellung und Gestaltung von Einrichtungsgegenständen zu erblicken sein, wenn diese Gegenstände entsprechend der architektonischen Planung derart in die bauliche Innenraumgestaltung miteinbezogen sind, dass sie das Raumbild entscheidend mitprägen.33 b) Prüfungsvorgehen Der BGH macht nunmehr in seiner Entscheidung „St. Gottfried“ deutlich, dass in der Praxis sowohl die begriffliche Zuordnung als auch das Verhältnis der §§ 14 und 39 UrhG zueinander in der Regel dahinstehen kann. Dahinter steht die Erwägung, dass die Regelung des Änderungsverbots in § 39 UrhG nur eine klarstellende Funktion hat, auch wenn sie ihrem Wortlaut und ihrer systematischen Stellung nach nur gegenüber dem Inhaber eines Nutzungsrechts gilt. Der BGH geht vom Bestehen eines grundsätzlichen Änderungsverbots aus, das vom Gesetz stillschweigend als selbstverständlich vorausgesetzt wird und seine Grundlage in Wesen und Inhalt des Urheberrechts hat. Es ist dem Urheberrecht als einer Herrschaftsmacht des schöpferischen Menschen über sein Geisteswerk immanent und besagt, dass auch der Werkeigentümer des Werkoriginals grundsätzlich keine in das fremde Urheberrecht eingreifenden Änderungen an dem ihm gehörenden Original vornehmen darf.34 Dieses Verständnis eröffnet die Möglichkeit, beide Bestimmungen im Zusammenhang zu lesen und zu interpretieren.35 Denn die Grenze des in den §§ 14, 39 UrhG geregelten Integritätsschutzes ist letztlich immer im Rahmen einer umfassenden Güter- und Interessenabwägung zu bestimmen.36 Für die Rechtsanwendungspraxis ist das Vorgehen des BGH in seiner jüngsten Entscheidung bedeutsam, sogleich in die Abwägung der jeweils betroffenen Interessen einzutreten. Dies erscheint gerechtfertigt und erspart der Praxis das an sich gebotene dreistufige Prüfungsverfahren (1. Vorliegen einer Beeinträchtigung oder Entstellung bzw. einer Änderung, 2. Eignung zur Interessengefährdung, 3. Interessenabwägung).37 Die schwierigen Abgrenzungsfragen, die sich bei einem schulmäßigen Vorgehen stellen, lassen sich im 32
BGH GRUR 1982, 107, 109 – Kirchen-Innenraumgestaltung. BGH GRUR 1982, 107, 110 – Kirchen-Innenraumgestaltung. 34 BGHZ 55, 1, 2 = GRUR 1971, 35, 37 – Maske in Blau; BGHZ 62, 331, 332 f. = GRUR 1974, 675, 676 – Schulerweiterung; BGH GRUR 1982, 107, 109 – Kirchen-Innenraumgestaltung; 2008, 984, 986 – St. Gottfried. 35 Vgl. auch Schricker Urheberrecht auf dem Weg zur Informationsgesellschaft, 1997, S. 89 f. 36 So zutreffend Schricker/Dietz Urheberrecht, 3. Aufl. 2006, § 14 Rn. 1 ff. 37 Schricker/Dietz Urheberrecht, 3. Aufl. 2006, § 14 Rn. 18 ff.; Dreier/Schulze UrhG, 3. Aufl. 2008, § 14 Rn. 9 ff. 33
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Rahmen der umfassenden Interessenabwägung leichter und zielführender erfassen. c) Interessenabwägung Dieser Ausgangspunkt setzt allerdings voraus, dass für die Interessenabwägung nach § 14 UrhG und nach § 39 Abs. 2 UrhG identische Maßstäbe gelten. Davon ist mit der h.M.38 auszugehen. Bei der Abwägung ist auf objektive Kriterien abzustellen.39 Übertriebene Empfindlichkeiten oder eine übersteigerte Eitelkeit des Urhebers bleiben von vornherein außer Betracht.40 aa) Urheberinteressen Auf Seiten des Urhebers ist sein aus dem Urheberpersönlichkeitsrecht fließendes Bestands- und Integritätsinteresse zu berücksichtigen, d.h. sein Interesse, selbst darüber zu bestimmen, in welcher Gestalt seine Schöpfung an die Öffentlichkeit treten soll.41 (1.) Auf Seiten des Urhebers kommt es maßgebend auf Art, Umfang und Intensität des Eingriffs an, die sich wiederum nach der Gestaltungshöhe des betroffenen Werkes bestimmen.42 Je größer die Gestaltungshöhe, desto stärker sind die persönlichen Bindungen des Urhebers an sein Werk und desto eher ist eine Gefährdung der urheberpersönlichkeitsrechtlichen Interessen anzunehmen.43 In der Entscheidung „St. Gottfried“ hat der BGH aus der als durchschnittlich angesehenen Gestaltungshöhe (vgl. oben II 1) auf ein auch nur durchschnittliches Erhaltungsinteresse des Urhebers geschlossen. (2.) Überdies kann auch der Zeitfaktor eine Rolle spielen. Der Streitfall gab dem BGH Veranlassung, an den Grundsatz zu erinnern, dass die Urheberinteressen Jahre oder Jahrzehnte nach dem Tod des Urhebers nicht notwendig dasselbe Gewicht haben wie zu seinen Lebzeiten.44 Denn die streitgegenständlichen Umbaumaßnahmen erfolgten mehr als 50 Jahre nach dem Bau der Kirche und mehr als 35 Jahre nach dem Tode des Kirchenkünstlers, dessen Tochter als Klägerin aufgetreten war.
38 KG ZUM 1997, 208, 212 = KG-Report 1997, 3, 6; Schricker/Dietz Urheberrecht, 3. Aufl. 2006, § 14 Rn. 4; Möhring/Nicolini/Kroitzsch UrhG, 2. Aufl., § 14 Rn. 7; Wandtke/ Bullinger/Grunert UrhG, 2. Aufl. 2006, § 39 Rn. 21. 39 OLG Hamburg UFITA 81 (1978), S. 263, 268 – Reihenhaus. 40 Schricker/Dietz Urheberrecht, 3. Aufl. 2006, § 14 Rn. 29 mwN. 41 BGH GRUR 1974, 675, 676 – Schulerweiterung. 42 BGHZ 62, 331 ff. = GRUR 1974, 675, 676 – Schulerweiterung; vgl. auch BGH GRUR 1999, 230, 231 f. – Treppenhausgestaltung. 43 Erdmann in: Festschrift Piper, 1996, S. 655, 672. 44 BGH GRUR 1989, 106, 107 – Oberammergauer Passionsspiele II.
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bb) Eigentümerinteressen Der Eigentümer kann sich grundsätzlich auf sein Recht nach § 903 BGB berufen, mit seiner Sache nach Belieben zu verfahren, soweit nicht Rechte Dritter entgegenstehen. Er hat also das an einer Sache bestehende Urheberrecht zu beachten. Dies schließt allerdings Eingriffe in das Urheberrecht nicht aus, sofern seine Interessen im Einzelfall gewichtiger sind als das Erhaltungsinteresse des Urhebers. (1.) Auf Seiten des nutzungsberechtigten Baueigentümers kommt es zunächst auf den vertraglich eingeräumten Verwertungszweck an, insbesondere den intendierten Gebrauchszweck. Dieser hat Einfluss auf das Erhaltungsinteresse des Urhebers, der das auf einen bestimmten Gebrauchszweck gerichtete Nutzungsinteresse des Baueigentümers kennt und damit rechnen muss, dass sich aufgrund des bestimmungsgemäßen Gebrauchs ein Bedarf nach Veränderungen des Bauwerks ergeben kann.45 Der BGH hat daher im Ausgangsfall auch darauf abgestellt, dass dem Architekten als Gestalter eines Kircheninnenraums bewusst ist, dass die Kirchengemeinde als Eigentümerin das Gotteshaus für ihre Gottesdienste nutzen möchte. Er muss deshalb damit rechnen, dass sich wandelnde Überzeugungen hinsichtlich der Gestaltung des Gottesdienstes das Bedürfnis nach einer entsprechenden Umgestaltung des Kircheninnenraums entstehen lassen.46 (2.) Dementsprechend kommt es bei der Abwägung vor allem auch auf den Anlass für die Änderungen an. Meist liegt die Ursache entweder in einer geänderten Zweckbestimmung eines Bauwerks (z.B. der Umgestaltung eines Bürogebäudes in ein Wohnhaus) oder im Kosteninteresse des Eigentümers (z.B. bei Kostenüberschreitung in der Bauphase).47 In der Entscheidung „St. Gottfried“ hatte sich der BGH erstmals mit der Frage zu befassen, ob liturgische Gründe die Umgestaltung eines Kircheninnenraumes rechtfertigen können. Das Berufungsgericht 48 hatte die von der Kirchengemeinde angeführten liturgischen Interessen nicht ausreichen lassen, sondern darin lediglich einen Wandel der ästhetischen Auffassungen gesehen. In der Tat berechtigen ästhetische Interessen den Eigentümer noch nicht zu Veränderungen seines Bauwerks.49 Der BGH hat es ausreichen lassen, dass die beklagte Kirchengemeinde ihre geänderte Liturgieauffassung 45
Vgl. BGH GRUR 1974, 675, 676 – Schulerweiterung. BGH GRUR 1982, 107, 110 f. – Kirchen-Innenraumgestaltung; 2008, 984, 988 – St. Gottfried. 47 BGH GRUR 1974, 675 ff. – Schulerweiterung; BGH GRUR 1982, 107 ff. – KirchenInnenraumgestaltung. 48 OLG Hamm ZUM 2006, 641, 646. 49 BGH GRUR 1999, 230, 231 f. – Treppenhausgestaltung; Schricker/Dietz Urheberrecht, 3. Aufl. 2006, § 14 Rn. 36. 46
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substantiiert und nachvollziehbar darlegt. Davon konnte im Streitfall aufgrund des Beklagtenvorbringens ausgegangen werden, dass die Pfarrgemeinde sich nach einer lang geführten Diskussion für die durchgeführte Umgestaltung entschieden habe, um die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils in der St.-Gottfried-Kirche räumlich umzusetzen. Nach dem Verständnis der Beklagten zielte die Liturgiereform auf eine verstärkte Einbeziehung der Kirchenbesucher in das gottesdienstliche Geschehen. Um dies zu verwirklichen, ist insbesondere der Abstand der Gottesdienstbesucher zum Altarraum deutlich verringert worden. Die Entscheidung darf aber nicht dahin verallgemeinert werden, dass der das Bauwerk ändernde Eigentümer seine Änderungsgründe stets nur nachvollziehbar darzulegen braucht. Vielmehr kommt dieses Privileg allein der Kirche aufgrund ihrer besonderen Stellung zu. Eine andere Auffassung, die der Kirche mehr als eine nachvollziehbare Darlegung ihrer Glaubensüberzeugung abverlangen würde, würde letztlich zu einer Bewertung dieses Glaubenserkenntnisses führen, der sich der Staat und seine Gerichte zu enthalten haben. Dies hat der BGH 50 überzeugend mit dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV) und dem Grundrecht der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) begründet. Nach der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung 51 garantiert das kirchliche Selbstbestimmungsrecht den Religionsgemeinschaften, also auch den Kirchen, die Freiheit, ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes zu ordnen und zu verwalten. Zu diesen Angelegenheiten gehören auch die Errichtung und Ausstattung der Kirchengebäude und damit auch die Gestaltung der Kircheninnenräume. Dieses Selbstbestimmungsrecht wird durch die Gewährleistung des Grundrechts der Religionsfreiheit verstärkt,52 auf das sich auch eine katholische Kirchengemeinde als Untergliederung der katholischen Kirche berufen kann.53 Welche Aktivitäten hierzu zu zählen sind, richtet sich allein nach dem Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft.54 Allerdings wird das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nicht schrankenlos gewährleistet, sondern unterliegt dem Vorbehalt der allgemeinen Gesetze, zu denen auch das Urheberrecht zählt, dem nach Art. 1 und 2 Abs. 1 GG sowie Art. 14 GG ebenfalls Verfassungsrang zukommt.55 Hier hat die eigentliche
50
BGH GRUR 2008, 984, 987 – St. Gottfried. BVerfGE 53, 366, 391 = NJW 1980, 1895; BVerfGE 70, 138, 162 = NJW 1986, 367. 52 BVerfGE 70, 138, 176 = NJW 1986, 367 mwN; v. Campenhausen in: Festschrift Delbrück, 2005, S. 113, 125 f. 53 BVerfGE 53, 366, 386 ff. = NJW 1980, 1895. 54 BVerfGE 70, 138, 166 = NJW 1980, 1895; Dreier/Morlok Grundgesetz, 2. Aufl., Art. 4 Rn. 101. 55 BVerfGE 31, 229, 238; 49, 382, 392. 51
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und streitentscheidende Güter- und Interessenabwägung stattzufinden. Der BGH hat überzeugend dargelegt, dass das Erhaltungsinteresse des Vaters der Klägerin gegenüber den liturgischen Interessen der Kirchengemeinde als Eigentümerin des Gotteshauses zurücktreten muss. Denn während dem urheberrechtlichen Erhaltungsinteresse angesichts der durchschnittlichen Gestaltungshöhe des Kircheninnenraums auch nur ein durchschnittliches Gewicht zukommt, wiegen die liturgischen Gründe für die Umgestaltung des Kircheninnenraums, die – der Liturgiereform entsprechend – auf eine verstärkte Einbeziehung der Kirchenbesucher in das gottesdienstliche Geschehen zielt, angesichts des auf der Verfassung beruhenden kirchlichen Selbstverständnisses schwerer und verdienen deshalb den Vorrang.
III. Zusammenfassung 1. Kirche und Kunst sind autonom, auch wenn zwischen ihnen seit den Anfängen der Kirche eine enge Verbindung besteht. 2. Konflikte zwischen Kirche und Kunst sind daher nach den allgemein geltenden gesetzlichen Regeln zu lösen. 3. Bei der Umgestaltung von Gotteshäusern einschließlich des Kircheninnenraums hat die Kirchengemeinde als Eigentümerin den aus dem Urheberpersönlichkeitsrecht hergeleiteten Integritätsanspruch und das darauf beruhende Änderungsverbot des Urhebers zu beachten. 4. Da sich das urheberrechtliche Änderungsverbot nur auf die den künstlerischen Gesamteindruck prägenden schutzfähigen Gestaltungselemente bezieht, ist es in jedem Einzelfall notwendig, bei der vorgelagerten Prüfung der Urheberrechtsschutzfähigkeit die eigenschöpferischen Züge des Werkes herauszuarbeiten. Außerdem ist die Gestaltungshöhe zu ermitteln, da sie für das Erhaltungsinteresse des Urhebers bedeutsam ist. 5. Bei Kunstwerken einschließlich Werken der Baukunst sind an die Darlegungslast hinsichtlich der konkreten Gestaltungselemente keine übertriebenen Anforderungen zu stellen. Bei einem Bauwerk kann der Kläger seiner Darlegungslast angesichts der Schwierigkeit, ästhetisch wirkende Formen mit den Mitteln der Sprache auszudrücken, auch durch Vorlage von Fotografien genügen, wenn diese das Werk hinreichend erkennen lassen. 6. Bei der unautorisierten Umgestaltung eines Werkes kann in der Regel dahinstehen, ob eine Änderung i.S. des § 39 UrhG oder eine Entstellung oder sonstige Beeinträchtigung i.S. des § 14 UrhG vorliegt. Es reicht die Feststellung aus, dass gegen das vom Urheberrechtsgesetz stillschwei-
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gend als selbstverständlich vorausgesetzte grundsätzliche Änderungsverbot verstoßen worden ist. 7. Die Grenze des in den §§ 14 und 39 UrhG geregelten Integritätsschutzes ist stets im Rahmen einer umfassenden Güter- und Interessenabwägung zu bestimmen, für die identische Maßstäbe gelten. 8. Bei der gebotenen Interessenabwägung kommt es auf Seiten des Urhebers vor allem auf das Erhaltungsinteresse, das sich maßgebend aus der Gestaltungshöhe des Werkes ergibt, sowie auf Art, Umfang und Intensität des Eingriffs an. Auf Seiten des nutzungsberechtigten Eigentümers sind insbesondere der vertraglich eingeräumte Verwertungszweck, also der Gebrauchszweck, sowie die Gründe maßgebend, die Anlass für die Änderung gegeben haben. 9. Ein durchschnittliches Erhaltungsinteresse des Urhebers hat in der Regel hinter anerkennenswerten liturgischen Interessen an einer Umgestaltung des Kircheninnenraums zurückzutreten, wenn die Kirchengemeinde ihre Glaubensüberzeugung (hier: das Verständnis einer Liturgiereform im Sinne einer stärkeren Einbeziehung der Kirchenbesucher in das gottesdienstliche Geschehen) nachvollziehbar darlegt. Dies ist aufgrund des verfassungsrechtlich garantierten kirchlichen Selbstbestimmungsrechts und der Gewährung des Grundrechts der Religionsfreiheit gerechtfertigt.
Zum Schicksal der Sozialverbindlichkeiten beim Gesellschafterwechsel in der Personengesellschaft Wulf Goette I. Einleitung Rechtsanwalt beim BGH Professor Dr. Achim Krämer ist nicht nur ein extrem fleißiger Vertreter seiner Mandanten, deren Interessen er gewissenhaft, mit Augenmaß, großem Ideenreichtum und meistens mit einem Schuss Ironie vertritt, sondern lässt auch die Mitglieder des II. Zivilsenats mit großer Freude an diesem Fleiß teilhaben, indem er Revisionen, Nichtzulassungsbeschwerden, Rechtsbeschwerden und – selbst das kommt vor – Anhörungsrügen dem Senat zur Entscheidung gibt – oder auf der Gegenseite agierend den Senat davon abzuhalten sucht, den „hochverehrten Damen und Herren Kollegen“ in deren dogmatische Irre zu folgen; immer wird in bewundernswerter dogmatischer Klarheit, mit Blick für die Strukturen und das „gerechte“ Ergebnis schriftlich und mündlich vorgetragen, fair und offen mit dem Senat diskutiert und kreativ um die richtige Lösung gerungen. Einem solchen Streiter für das Recht mit einem Beitrag zu seinem großen Geburtstag eine Freude zu machen, ist schwer – hat er doch die meisten „hochinteressanten Fragen“ längst durchdacht und schriftsätzlich und/oder mündlich zu ihnen vorgetragen; die Erfüllung der Aufgabe ist auf der anderen Seite aber auch leicht, weil der Autor auf einen Leser trifft, der nicht nur in beeindruckender Weise rundum interessiert ist, sondern auch die Gabe besitzt, zuzuhören und dadurch neue Ideen, ja selbst Nuancen aufnimmt und sie kreativ weiter bearbeitet. Deswegen ist zu hoffen, dass der Jubilar sich bei der Lektüre dieses kleinen Beitrags zu einem eher am Rande der Arbeit der Gesellschaftsrechtler stehenden Thema nicht langweilen wird.
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II. Grundlagen 1. 1
Es entspricht inzwischen allgemeiner Auffassung, dass ein Wechsel im Mitgliederbestand einer Personengesellschaft vollzogen werden kann, ohne dass die Gesellschaft zwischen den bisherigen Gesellschaftern aufgelöst und ein neuer Gesellschaftsvertrag zwischen den verbleibenden und dem oder den neu hinzutretenden Gesellschaftern geschlossen werden muss. Ist die Mitgliedschaft also als solche übertragbar, weil in ihr „alle Rechtsbeziehungen aufgrund des Gesellschaftsverhältnisses, sowohl im Verhältnis zur Gruppe wie zu den anderen Gesellschaftern als Gliedern“ aufgehen,2 so ist in erster Linie sicher zu stellen, dass die anderen Mitglieder der Gruppe davor geschützt werden, ohne oder gar gegen ihren Willen den gemeinsamen Zweck mit einem anderen als dem Gesellschafter verfolgen zu müssen, mit dem vor Zeiten der Vertrag geschlossen worden ist. Dies geschieht dadurch, dass ohne die Zustimmung der von dem Mitgliedschaftswechsel betroffenen Mitgesellschafter eine solche Änderung der Zusammensetzung des Gesellschafterkreises nicht von statten gehen kann.3 Dieses Zustimmungserfordernis ist das – wie Flume 4 treffend gesagt hat –, was von der ursprünglichen Vorstellung der Unübertragbarkeit der Mitgliedschaft übrig geblieben ist. 2. Dabei spielt es keine Rolle, wie der Übergang konstruktiv gestaltet ist, ob also nach der Theorie des sog. Doppelvertrages5 der ausscheidende und der eintretende Gesellschafter jeweils Vereinbarungen mit den übrigen Mitgliedern über den Wechsel treffen – bei dieser Gestaltung ist die Mitwirkung der verbleibenden Gesellschafter schon durch die Konstruktion des Geschäfts sichergestellt – oder ob der bisherige Gesellschafter zugunsten des neuen
1 Vgl. die Nachweise zur überwundenen, den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers allerdings entsprechenden früheren Auffassung, die sich von dem Gedanken nicht lösen mochte, dass das Gesellschaftsverhältnis allein als Schuldverhältnis zwischen den mehreren Mitgliedern der Gesellschaft verstanden werden kann, ein Mitgliedschaftsverhältnis als solches mithin gar nicht besteht, in BGHZ 13, 179, 185 f., ferner Flume Allg. Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. I, 1 „Die Personengesellschaft“ § 17 I, S. 345 f. mwN; folgerichtig hat der II. Zivilsenat deswegen auch eine gleichzeitige Auswechselung sämtlicher Gesellschafter einer Personengesellschaft, „ohne dass dadurch der Fortbestand der Gesellschaft berührt wird“, für unbedenklich gehalten, vgl. BGHZ 44, 229, 231 mwN. 2 Flume (Fn. 1) § 17 II S. 349 unter Bezugnahme auf aaO § 9 S. 125 ff. 3 Vgl. Staudinger/Habermeier BGB, 2003, § 719 Rn. 8 ff. 4 Flume (Fn. 1) § 17 II S. 349. 5 MK. z. BGB Ulmer/Schäfer 5. Aufl., § 719 Rn. 17.
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Mitglieds über seine Mitgliedschaft verfügt. Denn auch in dieser zweiten Variante – nur sie lässt im Übrigen den gleichzeitigen Austausch sämtlicher Gesellschafter zu6 – ist Wirksamkeitsvoraussetzung die Zustimmung aller anderen Gesellschafter. Nachdem sich inzwischen die „Gruppenlehre“, also die Erkenntnis, dass jedenfalls bei der Außengesellschaft die Gesellschaft gegenüber ihren Mitgliedern gegenüber verselbständigt ist,7 weitgehend durchgesetzt hat, ist die Zulassung der Verfügung über den Gesellschaftanteil durch Übertragung vollständig abgesichert. 3. Soweit der Mitgliedschaftswechsel auf dem Wege des Doppelvertrages vollzogen wird, richten sich die Folgen für den bisherigen und den neuen Gesellschafter nach den jeweils getroffenen Vereinbarungen. Die Einbindung der anderen Mitglieder der Gesellschaft in diesen Prozess sichert ihnen, und zwar jedem von ihnen, weil der Wechsel nur mit Zustimmung sämtlicher Gesellschafter vollzogen werden kann, nicht nur – wie bemerkt – die Möglichkeit, auf die Auswahl des neuen Gesellschafters in Gestalt eines Vetorechts Einfluss zu nehmen; sie erhalten zugleich die Möglichkeit, auf dem Wege der individuellen Vertragsgestaltung8 den Übergang von Sozialansprüchen oder die Befreiung von bzw. die fortdauernde Haftung für in der Vergangenheit begründete Sozialverbindlichkeiten zu regeln. 4. Bei der Anteilsübertragung im eigentlichen Sinn ist diese Mitwirkung der anderen Gesellschafter nicht schon durch die Form des abzuschließenden Geschäfts gesichert. Da der höchstpersönliche Charakter des Zusammenschlusses9 aber auch bei dieser Form des Wechsels der Mitgliedschaft die
6
Vgl. BGHZ 44, 229, 231. Vgl. BGHZ 146, 341 – ARGE Weißes Ross; BGHZ 148, 291; BGHZ 151, 204; BGHZ 154, 88; nachvollzogen für das Grundbuchrecht BGH Beschl. v. 4.12.2008 – V ZB 74/08, DStR 2009, 284; eingehend zur Wirkungsgeschichte der von Flume angestoßenen und vornehmlich zunächst von Ulmer aufgenommenen Ideen s. MK. z. BGB Ulmer 5. Aufl., § 705 Rn. 296 ff; ferner Staudinger/Habermeier (Fn. 3) Vor § 705 Rn. 6 f, mwN auch zu der nach wie vor vertretenen „traditionellen“ Lehre; strikt ablehnend Canaris ZGR 2004, 69 ff. „Rechtsfortbildung contra legem“. 8 Darauf weisen Ulmer/Schäfer (Fn. 4) § 719 Rn. 24 mit Recht hin: „Fragen der Vertragsauslegung“. 9 Die Notwendigkeit der Zustimmung aller ergibt sich entgegen der überholten früheren Auffassung – vgl. BGHZ 13, 179, 183; Hueck OHG, 4. Aufl., § 27 II 2, S. 395 f. – nicht aus § 719 Abs. 1, 1. Fall BGB, s. dazu Ulmer/Schäfer (Fn. 4) § 719 Rn. 4; ferner MK. z. HGB K. Schmidt 2. Aufl., § 105 Rn. 218; Staudinger/Habermeier (Fn. 3) § 719 Rn. 8. 7
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Zustimmung aller Gesellschafter zwingend erfordert, geht die heute hM davon aus, dass der Vertrag zwischen Anteilsveräußerer und Erwerber so lange schwebend unwirksam10 ist, bis die Zustimmung erteilt worden ist. Mit der Erteilung der Zustimmung tritt der Erwerber in vollem Umfang in die Rechtsstellung seines Vorgängers ein,11 soweit es sich nicht um Rechte handelt, die dem Veräußerer als höchstpersönliche und deswegen mit der Anteilsübertragung mangels gegenteiliger Vereinbarungen mit den anderen Gesellschaftern untergehende zuerkannt waren.12 a) Soweit es um die Sozialansprüche13 des bisherigen Gesellschafters geht, gilt im Grundsatz, dass sie – da auf der Mitgliedschaft beruhend – per se auf den Erwerber übergehen. Eine Ausnahme ist indessen für solche Ansprüche anzunehmen, die bereits vor dem Wechsel entstanden sind und über die der Altgesellschafter nach § 717 Satz 2 BGB ohne Weiteres selbständig verfügen könnte.14 Da hier das Abspaltungsverbot nicht greift, sind die beiden Vertragspartner auch nicht gehindert, anderweitige Abreden zu treffen, wobei den Veräußerer die Darlegungs- und notfalls Beweislast dafür trifft, dass eine solche Vereinbarung geschlossen worden ist, die Mitgliedschaft und die aus ihr bereits entstandenen Ansprüche also getrennt werden sollen. Die Mitgesellschafter sind bei derartigen Vereinbarungen nicht in ihren Rechten betroffen, deswegen kommt es auf ihre Zustimmung nicht an. b) Hinsichtlich der Sozialverbindlichkeiten dagegen sind die Mitgesellschafter sehr wohl in ihren Rechten betroffen, wenn der Veräußerer und der Erwerber ohne ihre Mitwirkung vereinbaren, es solle nicht, wie es die Regel ist,15 der Erwerber in die Pflichtenstellung neben dem Veräußerer eintreten (Schuldmitübernahme), sondern an dessen Stelle allein für die früher gegen-
10
Vgl. nur Ulmer/Schäfer (Fn. 4) § 719 Rn. 29 mwN. Schon BGHZ 81, 82, 89 für § 171 Abs. 1 HGB; ferner Urt. v. 5.5.1986 – II ZR 163/85, WM 1986, 1314; Urt. v. 2.12.2002 – II ZR 194/00, DStR 2003, 1040; Urt. v. 2.10.1997 – III ZR 2/96, ZIP 1997, 2082; Urt. v. 9.12.1998 – XII ZR 170/96, DStR 1999, 290. 12 Vgl. BGH, Urt. v. 24.11.2008 – II ZR 116/08, DStR 2009, 280 Tz. 8 – Schutzgemeinschaftsvertrag II: Position als geschäftsführende und zur Durchsetzung der Abreden zuständige Gesellschafterin der Schutzgemeinschaft „hängt“ an der Person; Ulmer/Schäfer (Fn. 4) § 719 Rn. 41. 13 S. näher Wertenbruch Die Haftung von Gesellschaften und Gesellschaftsanteilen in der Zwangsvollstreckung, 2000, S. 508 ff. 14 Aus der Rechtsprechung vgl. BGH, Urt. v. 5.5.1986 – II ZR 163/85, WM 1986, 1314. 15 Vgl. Flume (Fn. 1) § 17 III, S. 353; v. Gerkan/Haas in: Röhricht/Graf v. Westphalen, HGB, 3. Aufl., § 105 Rn. 85 mwN; Staudinger/Habermeier (Fn. 3) § 719 Rn. 16. 11
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über der Gesellschaft begründeten Pflichten einstehen, so dass der bisherige Gesellschafter aus seiner Haftung entlassen wird (privative Schuldübernahme). Hier das Feld allein den beiden Betroffenen überlassen zu wollen, widerspricht nicht nur den allgemeinen Regeln des Schuldrechts, nach denen einem Gläubiger kein anderer Schuldner gegen seinen Willen aufgezwungen werden kann.16 Auch unter rein gesellschaftsrechtlichen Aspekten ist dies nicht hinzunehmen, weil die Mitgesellschafter u.U. – spätestens, wenn es um den Verlustausgleich nach § 739 BGB geht, stellt sich diese Frage – mit ihrem eigenen Vermögen für den durch einen früheren Gesellschafter verursachten Fehlbetrag einstehen müssen. c) Nichts anderes kann aus eben diesen Gründen gelten, wenn ohne Mitwirkung der anderen Gesellschafter zwischen dem Veräußerer und dem Erwerber verabredet wird, der neue Gesellschafter solle für die ausstehenden Sozialansprüche des ausscheidenden Gesellschafters der Gesellschaft gegenüber gar nicht haften.17 Derartige Abreden entfalten deswegen – solange die anderen Gesellschafter nicht ihr Einverständnis gegeben haben – allein Wirkung im Innenverhältnis der beiden Partner des Anteilsübertragungsvertrages.
III. BGHZ 45, 221 und die These von der Entbehrlichkeit der Zustimmung der Altgesellschafter zur Befreiung von Sozialansprüchen Gegenüber diesen mit den allgemeinen Regeln des Schuldrechts konform gehenden Anforderungen an die Notwendigkeit der Mitwirkung der Mitgesellschafter jedenfalls bei der Freistellung eines der beiden an der Anteilsübertragung Beteiligten von der Haftung für die Sozialverbindlichkeiten wird im Schrifttum allgemein dem II. Zivilsenat18 zugeschrieben, er betrachte hier jedwede Vereinbarung zwischen Veräußerer und Erwerber als wirksam, sofern die Mitgesellschafter der Anteilsübertragung – und sei es antizipiert – zugestimmt hätten.19 Dieses Verständnis der höchstrichterlichen Judikatur gründet auf folgende Aussagen in der Leitentscheidung:
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Vgl. paradigmatisch MK. z. BGB Möschel 5. Aufl., vor § 414 Rn. 1 ff. mwN. Ulmer/Schäfer (Fn. 4) § 719 Rn. 44. 18 BGHZ 45, 221 = WM 1966, 615. 19 Vgl. Flume (Fn. 1) § 17 III, S. 353; Ulmer/Schäfer (Fn. 4) § 719 Rn. 44; Staudinger/ Habermeier (Fn. 3) § 719 Rn. 16; Erman/Westermann BGB, 12. Aufl., § 719 Rn. 12; Baumbach/Hopt HGB, 33. Aufl., § 105 Rn. 72; Teichmann NJW 1966, 2336 ff; Ganssmüller DB 1967, 891 ff. 17
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„Ob und inwieweit Sozialansprüche und Sozialverpflichtungen bei Übertragung eines Gesellschaftsanteils auf den Erwerber übergehen, kann nicht allgemein und für jeden Fall festgelegt werden. Den Vertragschließenden steht es grundsätzlich frei, im Abtretungsvertrag nach eigenem Ermessen zu vereinbaren, in welchem Umfange solche Rechte und Pflichten beim Veräußerer verbleiben oder vom Erwerber übernommen werden sollen. Das ergibt sich aus dem Grundsatz der Vertragsfreiheit. Schutzwürdige Interessen des oder der Mitgesellschafter stehen der Anwendung dieses Grundsatzes nicht entgegen, wenn diese der Übertragung – wie im vorliegenden Falle – im Voraus ohne Vorbehalt zugestimmt haben. Denn sie haben es in der Hand, über ihre Zustimmung erst nach Kenntnis der Person des Erwerbers oder des Inhalts des Abtretungsvertrages zu entscheiden oder ihre Zustimmung von vornherein an Bedingungen zu knüpfen, die sie in ihrem Interesse für notwendig halten. Die Beantwortung der Frage, wer nach der Übertragung des Anteils Träger der in der Person des Veräußerers entstandenen Sozialansprüche und -verbindlichkeiten ist, setzt deshalb im Einzelfall die Feststellung voraus, was die Vertragspartner jeweils erklärtermaßen gewollt haben.“
Sie wird auch deswegen als gesicherte Linie der Judikatur angesehen, weil der II. Zivilsenat in späteren Entscheidungen 20 auf dieses Urteil Bezug genommen hat.21
IV. Die einschlägigen Judikate des II. Zivilsenats Betrachtet man indessen die einschlägigen Judikate des II. Zivilsenats näher, so erweist sich, dass das gängige Verständnis, der – aus diesem Grund seit Jahrzehnten heftig kritisierte – II. Zivilsenat vertrete die Auffassung, auch eine antizipiert erteilte, für jedwede Anteilsübertragung vorbehaltlos erteilte Zustimmung der Mitgesellschafter eröffne den an der Anteilsübertragung Beteiligten „eigenes Ermessen“,22 wie sie die künftige Haftung auch für die alten Sozialverbindlichkeiten regeln wollen, mit der Rechtsprechung nicht in Einklang steht. 1. Verursacht worden ist das Missverständnis offenbar von dem Nebensatz in der oben wörtlich wiedergegebenen Textpassage 23, „wenn diese der Übertragung – wie im vorliegenden Falle – im Voraus ohne Vorbehalt zugestimmt
20 Vgl. BGH. Urt. v. 4.4.1968 – II ZR 68/66, WM 1968, 892; v. 7.12.1972 – II ZR 98/70, WM 1973, 169; v. 5.5.1986 – II ZR 163/85, WM 1986, 1314 und (derselbe Fall) Urt. v. 2.11.1987 – II ZR 50/87, WM 1988, 265; v. 2.12.2002 – II ZR 194/00, WM 2003, 442. 21 Dies ist möglicherweise eine Folge der „Segnungen“ von Datenbanken, die oftmals solche Zitatenketten besonders ausweisen. 22 Ulmer/Schäfer (Fn. 4) § 719 Rn. 44. 23 Vgl. auch den der Entscheidung vorangestellten Leitsatz, der gleichfalls geeignet ist, dasselbe Missverständnis zu befördern.
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haben“ und dem Umstand, dass von dem am 25.4.1966 ergangenen Urteil in der sog. „Amtlichen Sammlung“ nur ein Teil der Entscheidungsgründe abgedruckt ist, während die Mitteilung des Sachverhalts gänzlich fehlt. Der Fall, über den der Senat zu entscheiden hatte – das belegt ein Blick in den Urteilsabdruck in WM 1966, 615 und seine Wiedergabe bei juris –, war aber davon gekennzeichnet, dass der auf Rückzahlung einer eigenmächtig entnommenen Tätigkeitsvergütung beklagte frühere Gesellschafter einer zweigliedrigen Gesellschaft in der Weise aus derselben ausschied, dass er ein ihm unterbreitetes Angebot annahm und „diesem (scil. dem neuen Gesellschafter und jetzigen Kläger zu 2) mit Zustimmung der Klägerin zu 3 (d.h. seiner Mitgesellschafterin) für 110.000 DM seinen Gesellschaftsanteil“ übertrug. Es handelte sich folglich entgegen der missverständlichen Formulierung des genannten Entscheidungstextes nicht um eine „ohne Ansehen der Person“, also sozusagen „blind“ erteilte Zustimmung der Mitgesellschafterin, sondern diese wusste genau, wer ihr künftiger Mitgesellschafter war und hatte deswegen auch die Möglichkeit, etwaigen Bedenken Rechnung zu tragen, falls sie es nicht hinnehmen wollte, dass der bisherige Mitgesellschafter durch eine Abrede mit dem Erwerber wegen seiner unerlaubten Entnahmen aus der Haftung entlassen wurde oder umgekehrt der neue Gesellschafter von vornherein von der Haftung für diese Altverbindlichkeit freigestellt wurde. Hatte die bisherige Mitgesellschafterin aber die Möglichkeit, ihre Interessen – notfalls durch Verweigerung der Zustimmung zur Anteilsübertragung – zu wahren, steht die Entscheidung im Einklang mit den oben näher dargestellten Erfordernissen einer wirksamen Anteilsübertragung. Kann danach der Leitentscheidung schon der ihr zugeschriebene abstrakte Leitsatz nicht entnommen werden, so ist derselbe auch deswegen ohne jede tatsächliche Fundierung, weil nach den weiteren Aussagen des genannten Urteils feststeht, dass die beiden Vertragspartner weder ausdrücklich noch stillschweigend24 eine Abrede dahin getroffen haben, dass entgegen den allgemeinen Regeln der ausscheidende Gesellschafter von seiner Haftung für die Entnahmen befreit werden sollte; es kam also auf die Frage, ob und in welcher Weise die Mitgesellschafterin einer Abrede des Beklagten und seines Anteilskäufers über die Haftung für die Sozialverbindlichkeiten aus der Ver-
24 Der Senat stellt in diesem Zusammenhang darauf ab, dass nicht angenommen werden könne, dass der neue Gesellschafter Verbindlichkeiten übernehmen wolle, von denen er keinerlei Kenntnis hat haben können, weil sie im Rechenwerk der Gesellschaft keinen Niederschlag gefunden habe (BGHZ 45, 222 f.). Ob dieser Rechtssatz verallgemeinerungsfähig ist, ist durchaus zu bezweifeln, weil Fälle denkbar sind, in denen es dem neuen Gesellschafter so wichtig ist, Mitglied der Gesellschaft zu werden, dass er auch ihm unbekannte Altverbindlichkeiten des Veräußerers zu tragen bereit ist; für eine solche Haltung werden sich regelmäßig, aber nicht stets Anhaltspunkte in den Vertragsverhandlungen finden, auf die der II. Zivilsenat zunächst abgestellt hat.
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gangenheit zugestimmt hatte, gar nicht an, weil eine solche Vereinbarung überhaupt nicht getroffen war. Merkwürdig 25 an der Entscheidung mutet schließlich an, wie der Senat die Klagebefugnis des Klägers zu 2, des neuen Gesellschafters, begründet hat: Er hebt nicht auf dessen Mitgliedschaftsrecht, das ja – wie oben bemerkt – immerhin wegen der Fehlbetragshaftung nach § 739 BGB betroffen sein kann, ab, sondern leitet den Anspruch ausschließlich aus dem internen Verhältnis der beiden Beteiligten aus der Anteilsübertragung her; insofern soll also offenbar der kaufrechtliche Gewährleistungsanspruch zu einem Freistellungsanspruch gegen den Veräußerer führen. 2. In dem nächsten, am 4.4.1968 ergangenen Urteil 26 hatte ein Kommanditist seinen Kommanditanteil an einen Mitgesellschafter übertragen, die anderen Gesellschafter hatten hierzu ihre Zustimmung erklärt. Später entstand Streit darum, ob der ausgeschiedene Gesellschafter bezogene Gewinnanteile zurückzuzahlen hatte, weil sich nachträglich erwiesen hatte, dass die Gesellschaft keinen Gewinn erwirtschaftet hatte. In diesem Fall ist der Beklagte damit durchgedrungen, dass er mit dem erwerbenden Mitkommanditisten ausdrücklich vereinbart hatte, dieser solle für die Folgen einer nachträglichen Änderung der Gewinn- und Verlustergebnisse allein einstehen. Diese Vereinbarung musste nach diesem Urteil auch die Gesellschaft gegen sich gelten lassen, weil ihre Gesellschafter – wie es in den Gründen heißt – der Anteilsübertragung zugestimmt haben. Der Leitsatz, an die oben behandelte Leitentscheidung anschließend, geht darüber noch hinaus, wenn dort davon die Rede ist, die Gesellschafter hätten der Übertragung „vorbehaltlos zugestimmt.“ Gleichwohl ist auch dieses Urteil kein Beleg für die oben unter III. wieder gegebene These, weil auch hier die Mitgesellschafter den Erwerber als bisheriges Mitglied der Kommanditgesellschaft genau kannten und deswegen bei der Erteilung ihrer Zustimmung zum Anteilserwerb abschätzen konnten, ob ihre mitgliedschaftlichen Interessen berührt waren oder nicht, sie also erwarten durften, dass durch den Mitgliedschaftswechsel nicht einmal eine Risikoerhöhung hinsichtlich der Fehlbetragshaftung eintreten werde. Der Sache nach kann man die Entscheidung deswegen dahin interpretieren, dass die Mitgesellschafter mit der Erteilung der Zustimmung sich konkludent auch mit einer privativen Schuldübernahme einverstanden erklärt haben. Dass später die Gesellschaft gegen den ehemaligen Kommanditisten geklagt
25 26
Irritiert auch Flume (Fn. 1) § 17 III, S. 353 f. II ZR 68/66, WM 1968, 892.
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hat, beruhte auch offensichtlich nicht darauf, dass der Erwerber außerstande gewesen wäre, die Ansprüche auf Rückzahlung des zu Unrecht ausgezahlten „Gewinns“ zu erfüllen; vielmehr – die mehreren gestaffelt abgetretenen Ansprüche des Erwerbers gegen den Veräußerer aus Darlehen und aus dem Übertragungsvertrag belegen dies – hat die KG, wirtschaftlich betrachtet, den Rechtsstreit für den Erwerber geführt. 3. In dem Fall, welcher den II. Zivilsenat zweimal, am 5.5.1986 und am 2.11. 1987 27 beschäftigt hat, knüpfen Leitsatz 28 und Entscheidungsgründe an die Leitentscheidung aus dem Jahr 1966 an und mögen bei flüchtigem Lesen den Eindruck vermitteln, es handele sich inzwischen um eine gefestigte Rechtsprechung, dass eine vorbehaltlos von den Mitgesellschaftern erteilte Zustimmung zur Anteilsübertragung den Beteiligten des Übertragungsvertrages die völlige Freiheit eröffne, wie sie die Folgen der Übertragung auch mit Wirkung für die Mitgesellschafter regeln. Abgesehen davon, dass auch in diesem Fall die Person des Anteilserwerbers den zustimmenden Mitgesellschaftern bekannt war, handelt die Entscheidung gar nicht von Sozialverbindlichkeiten, sondern von Sozialansprüchen. Es ging nämlich um einen Darlehensanspruch, den der übertragende Gesellschafter gegen die Gesellschaft hatte und über den er nach § 717 BGB, ohne dass Belange der Mitgesellschafter berührt sein konnten, frei verfügen konnte. Ob er diesen Anspruch sich vorbehalten hatte oder er mit dem Gesellschaftanteil auf den neuen Gesellschafter übergegangen war, war die zu entscheidende Frage, die das Berufungsgericht im ersten Fall nicht geklärt hatte, so dass die Sache zur neuen Verhandlung an die Vorinstanz zurückverwiesen werden musste. Im zweiten Durchgang hat das Berufungsgericht dann nicht die Überzeugung gewinnen können, dass der ausgeschiedene Gesellschafter sich die Darlehensforderung vorbehalten hatte. 4. Zuletzt in der Judikatur des II. Zivilsenats hat die Frage des Übergangs der Rechtsstellung eines Gesellschafters bei der Anteilsübertragung auf seinen Nachfolger in einem Fall eine Rolle gespielt, in dem es darum ging, ob der Erwerber eines Gesellschaftanteils daran gebunden ist, dass der übertragende Gesellschafter zusammen mit seinen Mitgesellschaftern vor der Anteilsüber-
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221“.
II ZR 163/85, WM 1986, 1314; II ZR 50/87, WM 1988, 265. So ausdrücklich im Leitsatz 2. des Urteils vom 5.5.1986: „Festhaltung … BGHZ 45,
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tragung ein steuerliches Wahlrecht – die Inanspruchnahme einer Sonderabschreibung nach dem Fördergebietsgesetz – für ein bestimmtes Geschäftsjahr ausgeübt hatte.29 Hier hat der Senat angenommen, dass mit dem Beschluss der Gesellschafterversammlung die Willensbildung der Gesellschaft, auf die es nach dem einschlägigem Gesetz ankam, abgeschlossen war und spätere Änderungen im Mitgliederbestand hieran nichts mehr ändern können. Auch dieses Urteil kann danach nicht für die oben unter III. wiedergegebene These in Anspruch genommen werden.30 Die Analyse der Entscheidungen des II. Zivilsenats, die seit BGHZ 45, 221 die Kritiker auf den Plan gerufen hat, hat damit gezeigt, dass der Rechtssatz, an dem sich die – berechtigte – Kritik entzündet hat, in Wahrheit nicht existiert, sondern dass es allein um das Problem geht, wie eine von den Mitgesellschaftern vorbehaltslos erteilte Zustimmung zu einer Anteilsübertragung auszulegen ist. Hier mag man im Einzelfall Zweifel hegen, ob es wirklich den anderen Gesellschaftern gleichgültig ist, ob sie sich nur an das alte oder nur an das neue Mitglied der Gesellschaft wegen der Sozialansprüche halten dürfen; jedenfalls steht fest, dass mit der Zustimmung zur Anteilsübertragung als solcher – auch nach der Auffassung des II. Zivilsenats – nicht automatisch Einverständnis mit einer partiellen Haftungsbefreiung des Übertragenden oder des Erwerbers verbunden ist.
V. Ergebnis Der höchstrichterlichen Rechtsprechung kann – nimmt man die Judikate als Ganzes zur Kenntnis, statt nur auf einzelne Sätze zu sehen, mögen sie noch so abstrakt formuliert sein – nicht entnommen werden, dass mit jeder „vorbehaltlos“ erteilten Zustimmung zu einer Anteilsübertragung den an diesem Geschäft Beteiligten frei gestellt werde, wie sie die künftige Haftung für bis dahin begründete Sozialverbindlichkeiten des ausscheidenden Gesellschafters regeln. Vielmehr gelten hinsichtlich dieser Ansprüche der Gesellschaft gegen den alten und den neuen Gesellschafter die allgemeinen Regeln: Prinzipiell tritt gesamtschuldnerische Haftung beider, des übertragenden und des übernehmenden Gesellschafters ein. Etwas anderes kommt nur dann in Betracht, wenn die von der Haftungsfreistellung des einen oder des anderen selbst potentiell betroffenen Gesellschafter einer entsprechenden Abrede
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Urt. v. 2.12.2002 – II ZR 194/00, WM 2003, 442. Vgl. jetzt Urt. v. 9.2.2009 – II ZR 231/07, DStR 2009, 984, in welchem – Tz 18, 19 – der Senat die Streitfrage problematisiert, aber nicht entscheiden muss, weil eine individuelle Zustimmungserklärung vorlag. Der Einleitungstext in Tz 19 („wie dies nach der früheren, vom Berufsgericht herangezogenen Rechtsprechung des Senats bereits ausreichend war“) spricht für das entsprechende Verständnis des II. Zivilsenats. 30
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zustimmen. Dies kann ausdrücklich geschehen, indem individuell dem geschlossenen Vertrag die Zustimmung erteilt wird. Eine solche individuell erteilte ausdrückliche Zustimmung ist entbehrlich, wenn die Gesellschafter – auch antizipiert, z.B. im Gesellschaftsvertrag – deutlich machen, dass sie die Regelung der Rechtsfolgen der Anteilsübertragung, auch soweit sie von ihr selbst betroffen sind, den Vertragsschließenden überlassen wollen; in einem solchen Fall kann es nur darum gehen, ob im Einzelfall diese Befugnis treuwidrig ausgenutzt wird. Davon abgesehen können die Gesellschafter diese erforderliche Zustimmung auch konkludent erteilen; jedenfalls dann, wenn sie den Erwerber kennen und sich dann ohne jeden Vorbehalt mit der Übertragung einverstanden erklären, wird man regelmäßig annehmen dürfen, dass sie sich in ihren mitgliedschaftlichen Rechten durch den Mitgliedschaftswechsel nicht betroffen sehen, mithin stillschweigend den zwischen Veräußerer und Erwerber auch hinsichtlich der Haftung für die alten Sozialverbindlichkeiten getroffenen Vereinbarungen zustimmen wollen.
Alter Hut oder neues Gewand? Darlegungslast, Schlüssigkeit und Substantiierung im KapMuG-Verfahren Reiner Hall I. Einleitung 1. Individualistischer Ansatz des deutschen Zivilprozesses Der deutsche Zivilprozess tut sich schwer mit Sammelklagen. Er verfolgt einen ganz individualistischen Ansatz; in seinem Zentrum steht das Rechtssubjekt, sei es natürliche oder juristische Person. Die Rechtswissenschaft blickt zwar immer häufiger nach Westen über Frankreich und den Ozean hinaus, um sich Inspiration für die Lösung anstehender Probleme zu holen; sie hat die „Bündelung gleichgerichteter Interessen im Prozess“ 1 längst als ergiebiges und auch hierzulande für den wissenschaftlichen Diskurs fruchtbares Thema erkannt. Der Gesetzgeber aber ist, was den kollektiven Rechtsschutz im Zivilverfahren angeht, bislang zurückhaltend geblieben.2 Lediglich punktuelle Eingriffe sind erfolgt. So hat sich etwa die Verbandsklage zur Durchsetzung bestimmter Verbraucherinteressen und im Wettbewerbsrecht etabliert.3 Die Gruppenklage ist dem Zivilprozessrecht jedoch nach wie vor fremd. 2. Zielsetzung des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes Das Streben nach einem funktionierenden Rechtsschutz bei Massenschäden wird derzeit im Kapitalanlegerschutz auf eine harte Probe gestellt. Überfordert ist jedoch nicht das Gesetz, sondern die Gerichte sind es. Das Funk-
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So der Titel des von Basedow/Hopt/Kötz/Baetge im Jahr 1999 herausgegebenen Sammelbandes; hervorgehoben sei der Beitrag von Hopt/Baetge Rechtsvergleichung und Reform des deutschen Rechts – Verbandsklage und Gruppenklage, S. 11 ff.; vgl. auch Stadler Bündelung von Verbraucherinteressen im Zivilprozess, in: Brönneke, Kollektiver Rechtsschutz im Zivilprozessrecht (2001), S. 1 ff.; Haß Die Gruppenklage (1998). 2 Siehe exemplarisch den Regierungsentwurf zum KapMuG, BT-Drs. 15/5091, S. 15 f. 3 Vgl. §§ 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG, 3 Abs. 1 Nr. 2 UKlaG.
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tionieren der Rechtspflege (allen voran des Landgerichts Frankfurt 4) ist bedroht, seitdem die Spätfolgen des Versuchs teils windiger, aber auch seriöser Geschäftsleute, die Deutschen zu einem Volk von Börsenspekulanten, Immobilienhaien und Filmproduzenten zu machen, sichtbar werden. Mit dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) 5 vom 16.08.2005 hat der Gesetzgeber das Zivilprozessrecht um ein Element kollektiven Interessensschutzes erweitert mit dem Ziel, der Prozesswelle Herr zu werden, die tausende Anleger in der Überzeugung, betrogen worden zu sein, ausgelöst haben. Dem geschädigten Kapitalanleger soll das neue Gesetz vor allem zu Hilfe kommen, indem es Prozesskosten und -dauer senkt; die Gerichte soll es entlasten. Mittel zum Zweck ist ein beim Oberlandesgericht angesiedeltes Musterverfahren, im dem für eine Vielzahl von Klagen relevante Tatsachenund Rechtsfragen vorab mit bindender Wirkung für alle Kläger und Beklagten festgestellt werden können.6 Da der Musterentscheid des mit der Sache befassten Oberlandesgerichts rechtskraftfähig 7 und die Wiederholung einer Beweisaufnahme über die in dem Verfahren getroffenen Feststellungen im Prinzip nicht statthaft ist 8, sind alle in ihm abgehandelten Gesichtspunkte aus den jeweiligen Individualklagen ausgegliedert. Damit stellt sich im Hinblick auf die mögliche Beweisaufnahme über streitige Tatsachen das Problem, welche Anforderungen an den Vortrag der Parteien zu stellen sind, soll dieser zulässigerweise Gegenstand eines entsprechenden Musterverfahrens werden. Diese Frage, mit der der Jubilar womöglich einmal in einem KapMuG-Verfahren vor dem Bundesgerichtshof befasst sein wird, soll nachfolgend etwas näher beleuchtet werden.
4 Der Vorsitzende Richter am Landgericht (in Frankfurt) Wösthoff soll die Dauer der Abarbeitung aller Telekom-Einzelklagen im „klassischen“ Verfahren auf bis zu 15 Jahren geschätzt haben, vgl. Die Welt v. 24.11.2004, S. 17; siehe auch Jahn Der Telekom-Prozess, ZIP 2008, 1314 ff. 5 BGBl. I, 2005, S. 2437. 6 Für einen Überblick zum KapMuG siehe D. Assmann FS Vollkommer, 2006, S. 119 ff.; Heß/Michailidou Das Gesetz über Musterverfahren, ZIP 2004, 1381 ff.; aktuell Vollkommer Neue Wege zum Recht, NJW 2007, 3094 ff. 7 Zur Bindungswirkung des Musterentscheids im Einzelnen Lüke Der Musterentscheid nach dem neuen Musterverfahrensgesetz, ZZP 119 (2006), 131 ff.; Gebauer Bindungswirkung des Musterentscheids, ZZP 119 (2006), 159 ff. 8 Zu den damit verbundenen Problemen Vorwerk/Wolf KapMuG, § 16 Rn. 6 ff.
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II. Darlegungslast, Schlüssigkeit und Substantiierung im Zivilprozess Unter der Zivilprozessordnung ist die Darlegungslast nichts anderes als die durch den Beibringungsgrundsatz veranlasste Umsetzung des Prozessrisikos in eine Handlungsanweisung an die Parteien.9 Jede Partei trägt bekanntlich die Darlegungslast für diejenigen tatsächlichen Umstände, hinsichtlich derer sie auch beweisbelastet ist. Letzteres wiederum richtet sich nach den Tatbestandsvoraussetzungen der Norm, deren Rechtsfolge die Partei für sich reklamiert, in Verbindung mit den Grundsätzen der Beweislastverteilung.10 Ihrer Darlegungslast muss eine Partei, will sie ihr Prozessziel erreichen, stets genügen, der Beweislast hingegen nur insoweit, als der Prozessgegner die fraglichen Tatbestandsvoraussetzungen in Abrede stellt. Die Anforderungen, die an den Tatsachenvortrag der Parteien konkret zu stellen sind und deren Vorliegen von den Gerichten zu überprüfen ist, werden gemeinhin mit den Begriffen Schlüssigkeit und ausreichende Substantiierung umschrieben. Schlüssig ist die Klage, wenn die Gesamtheit des Parteivortrags den Schluss auf die begehrte Rechtsfolge erlaubt.11 Zum Vortrag einzelner Anspruchsvoraussetzungen kann schon eine bloße Rechtsbehauptung genügen. Daher ist die Darlegungslast einem Doppelspänner vergleichbar, dessen zweites Zugpferd die Substantiierungslast ist. Sie betrifft die Anforderungen an die inhaltliche Genauigkeit des Vortrags, dessen Gehalt und Greifbarkeit. Selten weisen die Gerichte eine Klage wegen mangelnder Schlüssigkeit ab, viel häufiger aber wegen (angeblich) fehlender Substanz des Vortrags.12 Dass die darlegungspflichtige Partei in Vorleistung treten muss, dient allen Beteiligten: Die (gut beratene) Partei ist schon vor Aufnahme des Prozesses gezwungen, sich mit den Erfolgsaussichten ihres Rechtsschutzbegehrens auseinander zu setzen, der Prozessstoff bleibt auf das Notwendige beschränkt, die Parteien werden zur notwendigen Mitwirkung angehalten, das Verfahren insgesamt gestrafft und die Gerichte entlastet. Gleichwohl ist nicht selbstverständlich, dass jene Grundsätze unverändert auf das neue Musterverfahren übertragen werden können. Im Zivilprozess richten sich die Anforderungen an Parteivortrag, wie eben gezeigt, nach den
9 Hierzu Stürner Beweislastverteilung und Beweisführungslast, FS Stoll, 2001, S. 691, 695 mwN. 10 Vgl. BGH NJW 1989, 161, 162; aus dem Schrifttum Jauernig Zivilprozeßrecht, 29. Aufl., § 50 I; Rosenberg/Schwab/Gottwald Zivilprozessrecht, 16. Aufl., § 114 Rn. 39. 11 BGH NJW 2002, 2682, 2683; ZIP 2001, 28, 30; JZ 1985, 184; vgl. auch Zöller/Greger ZPO, 26. Aufl., vor § 253 Rn. 22 ff. 12 Für kritische Stimmen aus der Richterschaft selbst siehe Wassermann Der soziale Zivilprozess, 1978, 178 f.; Lange NJW 1990, 3233 f.
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Tatbestandsvoraussetzungen der maßgeblichen Anspruchsnorm, welche wiederum (letztlich vom Gericht: iura novit curia) aus dem zur Entscheidung gestellten Streitgegenstand zu ermitteln ist. Zwar spricht auch das KapMuG vom Streitgegenstand des Verfahrens (§ 16 Abs. 1 KapMuG); dem gängigen zivilprozessualen Streitgegenstandsbegriff 13 kann dieser jedoch nicht entsprechen, da über den Klageantrag nicht zu entscheiden ist. Ohnehin decken sich die Streitgegenstände der jeweiligen (Einzel-)Verfahren schon begrifflich nicht, da jeweils ein anderer Kläger in aller Regel einen eigenen Anspruch geltend macht.14 Die Streitgegenstände sind noch nicht einmal zwangsläufig analog. Denkbar ist etwa, dass Kläger 1 den Prospektherausgeber aus Prospekthaftung im engeren Sinne, Kläger 2 einen weiteren Prospektverantwortlichen aus Prospekthaftung im weiteren Sinne (c.i.c.) und Kläger 3 den Hintermann aus Delikt in Anspruch nimmt usw. Kommt es für den Erfolg der Klagen darauf an, ob der Prospekt fehlerhaft ist, kann diese Frage „Streitgegenstand“ eines Musterverfahrens sein.15 Damit zeichnet sich bereits der Konflikt ab, den die Gerichte bei der Prüfung eines Antrags auf Durchführung eines Musterfeststellungsverfahrens zu bewältigen haben: Werden die betreffenden Voraussetzungen zu weit gefasst, erfolgt gegebenenfalls eine kostspielige und zeitaufwändige Beweisaufnahme über Umstände, die für die Einzelverfahren ohne Belang sind. Falls die Anforderungen an die Darlegungslast hingegen zu hoch angesetzt werden, könnte es in unzähligen Verfahren erforderlich werden, die Beweisaufnahme über die Richtigkeit einer bestimmten Behauptung doch noch durchzuführen.
III. Vorgaben des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes 1. Neue Terminologie Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz ist schon auf den ersten Blick als ein Stück moderner Gesetzgebung zu erkennen, nämlich an dem beachtlichen Umfang einzelner Paragraphen. Auch von der sprachlichen Eleganz, die der zivilrechtlichen Gesetzgebung lange Zeit eigen war, ist nicht viel geblieben. Vor allem aber macht die teilweise neu in das Zivilprozessrecht
13 MünchKomm/Becker-Eberhard ZPO, 3. Aufl., Vor §§ 253 ff. Rn. 32 ff.; Musielak/ Musielak ZPO, 6. Aufl., Einl. Rn. 68 ff.; Thomas/Putzo/Reichhold ZPO, 29. Aufl., Einl. II. 14 Der Gesetzgeber hat die Begriffe Streitgegenstand und Rechtskraft vor allem mit Blick auf die Voraussetzungen der (internationalen) Anerkennung von Entscheidungen nach der EuGVVO in das KapMuG übernommen, siehe BT-Drs. 15/509, S. 30; vgl. Schneider Auswirkungen des KapMuG, BB 2005, 2249, 2256. 15 Zu den Einzelheiten KölnKomm/Kruis KapMuG, § 1 Rn. 89 ff.
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eingeführte Terminologie 16 deutlich, dass der Gesetzgeber gewillt war, prozessuales Neuland zu betreten. So wird das Verfahren durch einen Musterfeststellungsantrag (§ 1 KapMuG) eingeleitet; die Verfahrensbeteiligten sind als Musterkläger, Musterbeklagter und Beigeladene bezeichnet (§ 8 Abs. 1 KapMuG); in der Sache geht es um die Klärung von Feststellungszielen (§ 1 Abs. 1 KapMuG), denen sog. Streitpunkte (§ 1 Abs. 2 Satz 2 KapMuG) zugrunde liegen. 2. Das Verfahren im Überblick Den Ausgangspunkt des Verfahrens 17 bildet stets ein entsprechender Antrag beim Prozessgericht, den sowohl Kläger als auch Beklagter stellen können (§ 1 Abs. 1 KapMuG). Die Individualklage muss also bereits erhoben sein. Dem Prozessgericht obliegt die Prüfung der Zulässigkeit des Antrags, dessen Zurückweisung nur in Betracht kommt, wenn einer der in § 1 Abs. 3 KapMuG abschließend aufgeführten Gründe zu seiner Unzulässigkeit führt. Ist solches jedoch nicht der Fall, hat das Prozessgericht den Antrag in dem neu geschaffenen Klageregister bekannt zu machen (§ 2 Abs. 1 KapMuG), wodurch der laufende Prozess von Gesetzes wegen unterbrochen wird (§ 3 KapMuG). Kommt das erforderliche Quorum von zehn „gleichgerichteten“ Anträgen innerhalb von vier Monaten zusammen, legt das zeitlich zuerst mit einem Musterfeststellungsantrag befasste Prozessgericht die Anträge dem ihm übergeordneten Oberlandesgericht vor (§ 4 Abs. 1 KapMuG). Dieser Beschluss ist bindend. Das Oberlandesgericht macht seinerseits die Feststellungsziele des Musterverfahrens, den von ihm bestimmten Musterkläger, den Musterbeklagten sowie die jeweiligen gesetzlichen Vertreter öffentlich bekannt (§ 6 KapMuG). Es setzt alle Verfahren von Amts wegen aus, deren Entscheidung von den zu treffenden Feststellungen oder zu klärenden Rechtsfragen abhängt (§ 7 KapMuG), und führt das Verfahren hauptsächlich nach den Vorgaben der ZPO durch (§ 9 KapMuG). Seinen Abschluss findet das Verfahren in einem rechtskraftfähigen 18 Musterentscheid, der weitgehende Bindungswirkung für die sodann fortzusetzenden einzelnen Prozesse entfaltet (§§ 14, 16 KapMuG).
16 Zutreffend die Beobachtung von KölnKomm/Hess KapMuG, Einl. Rn. 56, wonach die (teilweise) ins Gesetz aufgenommenen Legaldefinitionen nicht für eine abschließende Klärung sorgen, sondern Klärungsbedarf schaffen. 17 Ausführliche Darstellungen des Verfahrensablaufs bei D. Assmann FS Vollkommer, S. 119, 121 ff.; Reuschle KapMuG, S. 25 ff.; Rößler KapMuG, S. 8 ff. 18 Kritisch hierzu Vorwerk/Wolf KapMuG, § 16 Rn. 3 ff.
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3. Bestimmungen zur Behauptungslast Das Gesetz verhält sich nicht eindeutig zu der Frage, welche Anforderungen für den Vortrag des Antragstellers gelten, der die Durchführung eines Musterverfahrens anstrebt. Hinweise, die Rückschlüsse auf die Ausgestaltung der Darlegungslast erlauben, hat der Gesetzgeber aber an unterschiedlichen Stellen im Gesetz verstreut. Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 KapMuG kann mit dem Antrag (in tatsächlicher Hinsicht) allein „die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens anspruchsbegründender oder anspruchsausschließender Voraussetzungen“ begehrt werden, was zugleich den ersten Teil der Legaldefinition des Begriffs Feststellungsziel darstellt. § 1 Abs. 2 Satz 2 KapMuG verlangt vom Antragsteller sodann Angaben zu allen zur Begründung des Feststellungsziels dienenden tatsächlichen und rechtlichen Umständen (sog. Streitpunkte).19 Der Antrag ist nach § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 KapMuG als unzulässig zurückzuweisen, wenn die Darlegungen des Antragstellers ihn nicht rechtfertigen. Gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 2 KapMuG enthält der Vorlagebeschluss alle „entscheidungserheblichen“ Streitpunkte. Schließlich kann das durchführende Oberlandesgericht den Beigeladenen aufgeben, klärungsbedürftigen Vortrag einer Musterpartei zu ergänzen. Wie sich all das zu den eingangs dargestellten Grundsätzen über die zivilprozessuale Darlegungslast verhält, hat der Gesetzgeber indes nicht weiter geregelt.
IV. An den Parteivortrag zu stellende Anforderungen 1. Schlüssigkeit des Parteivortrags als Verfahrensvoraussetzung? Die derzeit herrschende Meinung geht ohne weiteres davon aus, Gegenstand eines Musterverfahrens könnten nur solche Anspruchsvoraussetzungen sein, die erforderlich sind, um die Schlüssigkeit der jeweiligen Einzelklage herzustellen.20 Soweit dies überhaupt begründet wird, werden dafür zwei Überlegungen angeführt: Vorwerk 21 schließt auf das Erfordernis einer Schlüssigkeitsprüfung aus § 1 Abs. 1 S. 1 KapMuG, wonach allein die Feststellung anspruchsbegründender oder anspruchsausschließender Voraussetzungen begehrt werden könne, und auch dies nur, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von diesen Umständen abhänge; gerade letzteres sei aber bei
19 Zu der (nicht unproblematischen) Abgrenzung von Feststellungszielen und Streitpunkten vgl. LG Stuttgart, ZIP 2008, 2175, 2176 f. 20 Etwa Reuschle KapMuG, S. 35; Vorwerk/Wolf KapMuG, § 1 Rn. 69; D. Assmann FS Vollkommer, 2006, S. 119, 127; am vom Gesetz verwendeten Begriff der Entscheidungserheblichkeit festhaltend KölnKomm/Kruis KapMuG, § 1 Rn. 225. 21 In: Vorwerk/Wolf, KapMuG, § 1 Rn. 70 ff.
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unschlüssigem Vortrag nicht der Fall. Das Kammergericht 22 hat darüber hinaus auf § 1 Abs. 3 Nr. 3 KapMuG verwiesen, der den Gerichten die Möglichkeit einer Beweisantizipation einräume: Da die Zurückweisung eines Antrags wegen Ungeeignetheit des Beweismittels sogar bei schlüssigem Vortrag möglich sei, müsse diese Möglichkeit den Gerichten erst recht an die Hand gegeben sein, wenn es schon an einem schlüssigen Klagevortrag fehle. a) Möglichkeit einer Beweisantizipation? Beide Begründungen sind nicht frei von Bedenken. Das Argument des Kammergerichts kann im Grunde schon deshalb nicht verfangen, weil die Fragen der Beweisantizipation und der Schlüssigkeit des Vortrags ganz unterschiedliche Problemkreise betreffen, zwischen denen kein Zusammenhang der vom Kammergericht vorausgesetzten Art besteht. Fraglos hat § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 KapMuG nicht den Zweck, den Gerichten die Möglichkeit zu eröffnen, unliebsame Beweisaufnahmen aus dem Musterverfahren herauszuhalten; solches wäre verfassungsrechtlich mehr als bedenklich.23 Der Regierungsentwurf, der selbst von der Möglichkeit einer Beweisantizipation spricht,24 leistet keine Aufklärung darüber, welcher tiefere Sinn hinter dieser Vorschrift steckt. Freilich ist im Prozessrecht längst anerkannt, dass eine Beweisaufnahme unterbleiben kann, wenn das angebotene Beweismittel ungeeignet ist.25 Soll die fragliche Regelung nicht völlig bedeutungslos sein – was aber tatsächlich am nächsten liegt –, so muss sie demnach wohl den Sinn haben, den Entscheidungsspielraum der Gerichte zu erweitern. Da auf die Bekanntmachung des Feststellungsbegehrens grundsätzlich ein Anspruch besteht (arg. § 2 Abs. 1 Satz 1 KapMuG, Art. 103 Abs. 1 GG), ist die Zurückweisung des Antrags aufgrund einer Beweisantizipation aber nur dann denkbar, wenn berechtigte Interessen des Antragstellers dadurch nicht beeinträchtigt werden. Berücksichtigt man dies, kommt die Beweisantizipation nur in Betracht, wenn sie dazu dient, die Interessen des Antragstellers und möglicher Beigeladener gerade zu wahren. Anlass hierzu kann bestehen, wenn schon bei Antragstellung abzusehen ist, dass das angebotene Beweismittel die erforderliche Überzeugung des Gerichts nicht wird begründen können. Dann besteht die Gefahr, dass für die Verfahren, die von der Bindungswirkung des § 16 KapMuG erfasst werden, dieses Tatbestandsmerkmal ohne Not endgültig „verloren“ ist. In einem sol-
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Beschluss vom 5.11.2007 – 24 SCH 3/07 KapMuG. § 1 Abs. 3 Nr. 3 KapMuG wird wohl allgemein als problematisch angesehen, vgl. KölnKomm/Kruis KapMuG, § 1 Rn. 219 ff. 24 So wörtlich die Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 15/5091, S. 21. 25 Vgl. BGH MDR 1974, 382; NJW 2007, 2122, 2124. 23
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chen Fall mag es unter Umständen als vorteilhafter erscheinen, den betreffenden Gesichtspunkt nicht in das Verfahren aufzunehmen, um den einzelnen Klägern die Möglichkeit zu erhalten, noch ein geeigneteres Beweismittel zu finden, mit dem sie ihre jeweiligen Individualklagen zum Erfolg führen können. b) Entscheidungserheblichkeit gleich Schlüssigkeit? Die Argumentation Vorwerks hat zwar mehr für sich als diejenige des Kammergerichts, ist aber ebenfalls nicht zwingend. Denn das Gesetz lässt letztlich offen, wann Erheblichkeit in dem von ihm gemeinten Sinne vorliegt, d.h. die Entscheidung des Rechtsstreits von der als klärungsbedürftig bezeichneten Frage abhängt.26 Nähme man den Gesetzgeber hier beim Wort, könnte es für die Erheblichkeitsprüfung nicht allein auf die Schlüssigkeit des Klagevorbringens ankommen, sondern Einwendungen und Einreden (etwa diejenige der Verjährung) des Beklagten müssten ebenso Berücksichtigung finden. Die Entscheidung des Rechtsstreits hinge also nur dann von (beispielsweise) dem als Feststellungsziel geltend gemachten Prospektfehler ab, wenn feststünde, dass die Einrede der Verjährung nicht durchgreift. Da diese Frage jedoch wegen des jeweils individuell festzustellenden Beginns der Verjährung einer Überprüfung im KapMuG-Verfahren nicht zugänglich ist, wäre hierüber zunächst im Individualverfahren Beweis zu erheben, bevor ein Musterfeststellungsantrag überhaupt zu erwägen wäre. Konsequent zu Ende gedacht, wäre damit das Gegenteil dessen erreicht, was das Musterverfahren zum Ziel hat. Es müssten nämlich zunächst alle individuellen Streitfragen geklärt werden, da sich erst danach abschließend beurteilen lässt, ob die mit Breitenwirksamkeit versehenen Feststellungsziele für das konkrete Einzelverfahren tatsächlich von Belang sind. Wollte man die Entscheidungserheblichkeit in dem von § 1 Abs. 1 Satz 1 KapMuG gemeinten Sinne hingegen ausschließlich auf die Schlüssigkeit des Vortrags des jeweiligen Antragstellers beziehen mit der Folge, dass das Vorbringen des Prozessgegners außer Betracht zu bleiben hätte, wäre zu fragen, warum der Gesetzgeber ein solches (sehr spezielles) Verständnis nicht einfach klargestellt hat. Dies wäre ohne Schwierigkeiten zu bewerkstelligen gewesen. Die aufgeworfenen Zweifel werden zusätzlich dadurch genährt, dass weder § 1 Abs. 3 Nr. 4 KapMuG, der den in Rede stehenden Unzulässigkeitsgrund bestimmt, noch § 1 Abs. 2 Satz 2 KapMuG, der die zur Begründung des Feststellungsziels an den Tatsachenvortrag zu stellenden Anforderungen umschreibt, auf das Erfordernis der Schlüssigkeit oder der Entscheidungserheblichkeit zurückkommt. 26 Ähnlich sieht dies KölnKomm/Kruis KapMuG, § 1 Rn. 225 unter Verweis auf Reuschle Entwurf eines Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes, WM 2004, 2334, 2335.
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Berücksichtigt man mit Blick auf § 4 Abs. 1 KapMuG schließlich, dass der neu eingeführte Terminus des Feststellungsziels nichts anderes sein dürfte als ein Oberbegriff für Tatbestandsvoraussetzungen und Einreden bzw. Einwendungen, ergänzt um die nun vorab mögliche Klärung einer Rechtsfrage, und dass die sog. Streitpunkte neben dem insoweit relevanten Tatsachenvortrag auch die Rechtsausführungen der Parteien umfassen, spricht nur noch wenig dafür, die Zulässigkeit des Antrags von einer Schlüssigkeitsprüfung des Vortrags abhängig zu machen. Die Unterscheidung, die das Gesetz zwischen Feststellungsziel und Streitpunkten trifft, dürfte sich häufig als nur vermeintlich trennscharf erweisen; in Wirklichkeit ist der Übergang vom einen zum anderen zumeist fließend. c) Zumindest hypothetische Erheblichkeit? Einen gewissen Charme hat demgegenüber der Vorschlag von Kruis,27 den Vortrag der Partei nicht vollständig abzuklopfen, sondern danach zu fragen, ob der Ausgang des Rechtsstreits hypothetisch von dem betreffenden Feststellungsziel abhängen kann. Meines Erachtens kann auf eine Schlüssigkeitsprüfung aber auch getrost verzichtet werden. Denn wer einen Musterfeststellungsantrag stellt, muss ohnehin darlegen, dass der begehrten Entscheidung Bedeutung auch für weitere, ähnlich gelagerte Rechtsstreitigkeiten zukommen kann (§ 1 Abs. 2 Satz 3 KapMuG). Wenn wenigstens zehn Antragstellern dies gelingt, so besteht wenig Veranlassung, noch für jeden Einzelfall und hinsichtlich jedes strittigen Gesichtspunkts eine (nicht notwendig immer ganz einfache) Erheblichkeitsprüfung vorzunehmen. Zudem droht dabei die paradoxe Situation einzutreten, dass die Schlüssigkeit nicht abschließend geprüft werden kann, weil das zur Prüfung berufene Gericht (darüber hinaus) eine Rechtsfrage zum Musterentscheid bringt, von deren Beantwortung die Schlüssigkeit abhängt. Insgesamt liegt deshalb insoweit trotz aller unverkennbaren Unterschiede im Übrigen eine Parallele zu dem selbstständigen Beweisverfahren gemäß §§ 485 ff. ZPO nahe, für dessen Einleitung die Erheblichkeit des Beweisthemas ja ebenfalls keine Voraussetzung ist.28 2. Umfang der Substantiierungslast Noch nicht beantwortet ist damit die Frage, welche Anforderungen an den Gehalt des Parteivortrags zu stellen sind. Versucht man, aus der zivilprozessualen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 29 Rückschlüsse zu ziehen,
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In KölnKomm, KapMuG, § 1 Rn. 225. Dazu BGH NJW 2000, 960; Zöller/Herget ZPO, 26. Aufl., § 490 Rn. 3. Grundlegend BGH NJW 1961, 826; JZ 1985, 185.
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kann der Befund nur lauten, dass die Substantiierungslast niedrig anzusetzen ist. Denn in den Fällen der vorliegenden Art geht es häufig um Umstände, die sich außerhalb des Wahrnehmungsbereichs der beweisbelasteten Partei abgespielt haben. Ist die sich daraus ergebende Beweisnot unverschuldet, muss dies bei der Bestimmung der Substantiierungslast berücksichtigt werden.30 Im KapMuG-Verfahren kann das selbstverständlich nicht anders sein. Eher mögen dort weniger strenge Anordnungen an die erforderliche Substantiierung herrschen. Denn einer Partei, die die Durchführung eines Musterverfahrens beantragt, wird insoweit die dem Zivilprozess sonst eigene, sich aus dem Hin und Her von Rede und Gegenrede ergebende Dialektik kaum zugute kommen. Dass § 138 ZPO den Prozessgegner verpflichtet, auf substantiierten Vortrag auch mit konkreten Einlassungen zu antworten,31 und vor allem die von der Rechtsprechung 32 entwickelte sekundäre Behauptungslast dazu führen kann, dass eine sich in Unkenntnis bestimmter Umstände befindliche Partei von der Verpflichtung zum konkreten Vortrag dieser Umstände entbunden ist, wirkt sich hier nicht aus. Denn die Parteien werden vom Gesetz dazu angehalten, den Antrag auf Durchführung eines Musterverfahrens frühzeitig im Prozess zu stellen (vgl. §§ 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 2, 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KapMuG). Daher kann die beweisbelastete Partei nicht darauf bauen, dass ihr jene prozessualen Aufklärungsmittel zu Hilfe kommen. Das spricht dafür, die Anforderungen an die Substantiierung des Parteivortrags in den betreffenden Fällen eher niedrig anzusetzen. 3. Zeitpunkt der Prüfung Schließlich stellt sich die Frage, in welchem Verfahrensabschnitt der Parteivortrag auf den erforderlichen Gehalt zu prüfen ist. Denkbar sind an sich drei mögliche Zeitpunkte: vor der Bekanntmachung im Klageregister (§ 2 Abs. 1 i.V.m. § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 KapMuG), vor dem Erlass des Vorlagebeschlusses (§ 4 Abs. 1 KapMuG) oder danach, also im Laufe des Musterverfahrens vor dem Oberlandesgericht (§§ 6 ff. KapMuG). Das Gesetz äußert sich dazu nicht ausdrücklich. Eine erstmalige Prüfung der fraglichen Voraussetzungen durch das Oberlandesgericht scheidet aber schon deshalb aus, weil dieses an den Vorlagebeschluss gebunden ist (§ 4 Abs. 1 Satz 2 KapMuG). Naheliegenderweise wird man davon auszugehen haben, dass die Schlüssigkeitsprüfung, wenn sie denn für erforderlich zu halten sein sollte, von dem
30 Vgl. etwa BGH 1996, 1826, 1827; NJW-RR 1999, 360; vgl. auch Stein/Jonas/Leipold ZPO, 22. Aufl., § 284 Rn. 44. 31 BGH NJW 2002, 1708; VersR 1990, 656, 657; siehe auch Baumbach/Lauterbach/ Hartmann ZPO, 66. Aufl., § 138 Rn. 30. 32 Etwa BGHZ 120, 320, 327 f.; 145, 170, 184; BGH NJW 1989, 161, 162; 1996, 315, 317; 2003, 1039, 1040; VersR 2006, 1230.
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jeweiligen Prozessgericht vorgenommen wird, ehe dieses den Musterfeststellungsantrag im Klageregister bekannt macht – auch wenn eine Konzentration der Prüfung bei dem vorlegenden Prozessgericht an sich durchaus wünschenswert wäre. Gegen eine die Bekanntmachung ablehnende Entscheidung des Prozessgerichts steht dem Antragsteller die sofortige Beschwerde offen.33 Einer solchen Überprüfung der Ausgangsgerichte bedarf es auch, gerade wenn man an dem Erfordernis der Schlüssigkeit festhalten will. Denn ob die Klage schlüssig ist bzw. der Parteivortrag über die erforderliche Substanz verfügt, unterliegt einer wertenden Entscheidung des Gerichts. Da Musterfeststellungsanträge bundesweit gestellt werden können, ihr Erfolg aber vom Erreichen des erforderlichen Quorums abhängt, muss eine übergeordnete Instanz (auch zum Schutze der anderen Antragsteller) für die gebotene Einheitlichkeit der Bewertung sorgen.
IV. Fazit Grundlegend neue Fragen stellen sich nicht, wenn es darum geht, die Darlegungslast des Antragstellers im KapMuG-Verfahren zu bestimmen. Unterschiede zum üblichen Klageverfahren bestehen aber durchaus. Sie legen es nahe, die Anforderungen an den Tatsachenvortrag nicht hoch anzusetzen.
33 Arg. § 567 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO i.V.m. § 3 Abs. 1 EGZPO; vgl. Vorwerk/Wolf KapMuG, § 1 Rn. 77.
Das Folgerecht an Originalen der bildenden Künste (§ 26 UrhG) und die deutsche Auktionspraxis Eine kritische Betrachtung zur „Folgerechtsumlage“ Erik Jayme I. Der Ausgangsfall: Hans am Ende Der Verfasser dieser Betrachtungen ersteigerte vor kurzem bei einem norddeutschen Auktionshaus zwei Graphiken des Worpsweder Künstlers Hans am Ende (1864–1918). Es handelte sich jeweils um eine Radierung mit Aquatinta; die erste ist in der Platte auf das Jahr 1898 datiert, für die zweite ist im Katalog „Um 1900“ angegeben.1 Der Zuschlag erfolgte auf Grund eines schriftlichen Gebots. Die Rechnung enthielt außer dem Hammerpreis noch 29 % Aufgeld sowie folgende „zuzügliche Kosten“: Transport incl. Versicherung, Folgerechtsumlage und 19 % Umsatzsteuerkosten. Hier interessiert allein die „Folgerechtsumlage“. Betrachtet man die Vorschrift des § 26 Abs. 1 UrhG, so ergibt sich, dass ein Folgerecht für Werke von Hans am Ende nicht besteht. Das Urheberrecht dieses im Jahre 1918 verstorbenen Künstlers ist 70 Jahre nach seinem Tode erloschen (§ 64 UrhG). Diese allgemeine Schutzdauer gilt auch für das Folgerecht.2 Die Frage, ob die genannten Blätter als „Originale“ i.S.d. § 26 UrhG anzusehen sind, taucht nicht auf.3 Der Schuldner des sich aus dem Folgerecht ergebenden Geldanspruchs ist im Übrigen nicht der Zweiterwerber, sondern der Veräußerer. Ihm kommt im Regelfall die Wertsteigerung zugute, weshalb er der Adressat der Norm und Anspruchsgegner des Folgerechts ist.4 Denk1 Das Werk ist abgebildet in Holz Hans am Ende – Ein Worpsweder Maler, Fischerhude 2005, S. 33. Es heißt dort „Tief im Moor“ und wird „um 1895“ datiert. Das Datum spielt im Zusammenhang dieser Untersuchung eine Rolle, da die Folgerechtsumlage meist Werke betrifft, die im 20. Jahrhundert entstanden sind. 2 Katzenberger in: Schricker (Hrsg.), Urheberrecht, Kommentar, 3. Aufl. 2006, § 26 Rn. 46. 3 Vgl. hierzu Jayme Original und Fälschung – Beiträge des Rechts zu den Bildwissenschaften, in: Reichelt (Hrsg.), Original und Fälschung im Spannungsfeld von Persönlichkeitsschutz, Urheber-, Marken- und Wettbewerbsrecht, Wien 2007, S. 23 ff., 29 f. 4 Gusia Das Folgerecht des bildenden Künstlers, in: Hoeren/Holznagel/Ernstschneider, Handbuch Kunst und Recht, Köln 2008, S. 95 ff., 117 ff.
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bar ist allerdings, dass der Versteigerer im Außenverhältnis selbst haftet: „Ist der Veräußerer eine Privatperson, so haftet der als Erwerber 5 oder Vermittler beteiligte Kunsthändler oder Versteigerer neben ihm als Gesamtschuldner; im Verhältnis zueinander ist der Veräußerer allein verpflichtet“ (§ 26 Abs. 1 Satz 3 UrhG). Der Bieter in einer Auktion, der für seine private Kunstsammlung das Werk erstmals erwirbt, ist aber nicht der Schuldner des Künstlers. Insgesamt ergibt sich aus § 26 UrhG kein gesetzlicher Anspruch des Auktionshauses gegen den Erwerber einer Graphik von Hans am Ende. Nun könnte man daran denken, dass ein vertraglicher Anspruch zwischen dem Auktionshaus und dem Bieter besteht. Ein schriftliches Gebot erfolgt stets auf der Grundlage der Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Auktionshauses. Ein Blick in die im Auktionskatalog abgedruckten Versteigerungsbedingungen ergibt aber unter Nr. 5 („Kaufpreis/Fälligkeit/Abgaben“) keine Erwähnung einer Folgerechtsumlage.6 Fazit: sie ist unter keinem Gesichtspunkt rechtlich geschuldet.7 Der Fall lädt zu einer kritischen Betrachtung des Folgerechts in der deutschen Auktionspraxis ein. Andere Versteigerer, welche die Folgerechtsumlage in ihren Bedingungen nicht erwähnen, erheben keine Folgerechtsumlage.8 Viele Auktionshäuser haben die Folgerechtsumlage ausführlich in ihren Versteigerungsbedingungen geregelt. Einige solcher Klauseln sollen zunächst näher dargestellt und beleuchtet werden (II.), ehe die Grundsatzfrage nach ihrer Inhaltskontrolle i.S.d. § 307 BGB gestellt wird (III.). Einbezogen wird auch ein Blick auf das Lauterkeitsrecht (IV.). Diese Betrachtungen sind einem großzügigen Förderer und besonderen Kenner des Kunst- und Urheberrechts in herzlicher Verbundenheit gewidmet, mit dem mich auch die Vorliebe für manche Strömungen der Kunst des 19. Jahrhunderts, wie der Deutsch-Römer zur Zeit von Anselm Feuerbach sowie für Opern von Richard Strauss verbindet.
5 Gemeint ist nicht der Zweiterwerber. Angesprochen ist der Fall, dass der private Ersterwerber einen Kunsthändler mit der Weiterveräußerung betraut und ihm zu diesem Zwecke das Eigentum überträgt. Zum Begriff des Erwerbers i.S.d. § 26 UrhG siehe BGH, 17.7.2008, GRUR 2008, 989 ff., 992 f. 6 Ketterer Kunst Hamburg Auktionskatalog Alte und Neuere Meister Nr. 346 (25.10. 2008), Versteigerungsbedingungen § 5. 7 Interessant ist die Tatsache, dass diese Folgerechtsumlage von den Bietern durchweg klag- und fraglos gezahlt wird. Über den Grund hierfür kann man nur spekulieren. 8 Z.B. Stahl Hamburg Auktionskatalog I Gemälde und Graphik (13.9.2008) § 6.
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II. Die Umlage zu Lasten des Zweiterwerbers in den Versteigerungsbedingungen 1. Vorbemerkungen a) Einlieferungsbedingungen Das Bild der „Folgerechtsumlage“ wäre unvollständig, wenn man nicht zuvor erwähnte, dass der Einlieferer ebenfalls mit Kosten belastet wird. In den Musterbedingungen für Versteigerer findet sich folgende Klausel: „Zur Abgeltung des gesetzlichen Folgerechts (§ 26 UrhG) leistet das Auktionshaus eine Abgabe auf den Verkaufserlös für alle Originalwerke der bildenden Kunst seit Entstehungsjahr 1900 an die Ausgleichsvereinigung Bild-Kunst. Der Einlieferer trägt von dieser Abgabe einen Anteil in Höhe von 1 % des Zuschlagspreises, mit der er von eigenen Verpflichtungen aus dem Folgerecht freigestellt wird.“ Diese Klausel ist in hohem Maße irreführend. Dem Einlieferer wird suggeriert, es träfen ihn eigene Verpflichtungen in allen Fällen, in denen das Kunstwerk nach 1900 entstanden ist. Das ist gerade nicht der Fall. Vielmehr stellt das Gesetz auf das Urheberrecht des Künstlers ab, das 70 Jahre nach seinem Tode erlischt (§ 64 UrhG). Eine Freistellung in den übrigen Fällen ist ebenfalls fraglich, weil es darauf ankommt, welche Künstler die Wahrnehmung ihrer Rechte der Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst übertragen haben. Hierzu gibt es eine von Bild-Kunst veröffentlichte „Urheberliste“, in welcher die einzelnen Künstler aufgeführt sind.9 Die Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst gibt nämlich eine solche „Urheberliste für folgerechtspflichtige Verkäufe gemäß § 26 UrhG“ für die jeweiligen Jahre heraus. „Die Liste enthält Namen von Bildenden Künstlern verschiedener Nationalität, die berechtigt sind, in der Bundesrepublik Deutschland Folgerechte wahrzunehmen.“ Die Rechte dieser Künstler werden durch die Verwertungsgesellschaft „Bild-Kunst“ wahrgenommen. Für alle anderen Künstler zahlt der Einlieferer eine Umlage, ohne dass eine Freistellung erfolgt, weil insoweit direkte Ansprüche des Künstlers und seiner Erben gegen den Veräußerer bestehen. In vielen Fällen ist schließlich eine eigene Verpflichtung des Einlieferers aus dem Folgerecht nicht gegeben, weil das Urheberrecht des Künstlers bereits erloschen ist; eine „Freistellung“ entbehrt insoweit jeder Grundlage.
9 Vgl. hierzu und zum folgenden: Bild-Kunst 2005 – Folgerechte – Urheberliste für folgerechtspflichtige Verkäufe gemäß § 26 UrhG im Jahre 2004, Bonn 2005.
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b) Die Neufassung des § 26 UrhG Für die Prozentsätze ist es wichtig, die am 16.11.2006 in Kraft getretene Neufassung des § 26 UrhG10 ins Bewusstsein zu heben, dessen Absätze 2 und 3 lauten: … „(2) Die Höhe des Anteils am Veräußerungserlös beträgt: 1. 4 Prozent für den Teil des Veräußerungserlöses bis zu 50 000 Euro, 2. 3 Prozent für den Teil des Veräußerungserlöses von 50 000,01 bis 200 000 Euro, 3. 1 Prozent für den Teil des Veräußerungserlöses von 200 000,01 bis 350 000 Euro, 4. 0,5 Prozent für den Teil des Veräußerungserlöses von 350 000,01 bis 500 000 Euro, 5. 0,25 Prozent für den Teil des Veräußerungserlöses über 500 000 Euro. (3) Der Gesamtbetrag der Folgerechtsvergütung aus einer Weiterveräußerung beträgt höchstens 12 500 Euro.“ Die Versteigerungsbedingungen sind an diese gegenüber der früheren Regelung geringeren, neuen Prozentsätze ganz offensichtlich noch nicht angepasst worden. c) Vereinbarung der Verwertungsgesellschaft „Bild-Kunst“ mit den Versteigerern Die Versteigerer haben mit der VG Bild-Kunst die „Ausgleichsvereinigung Kunst“ (im folgenden AV) gegründet.11 Es wurde ein Rahmenvertrag geschlossen. „Kunstvermarkter können der Ausgleichsvereinbarung beitreten und haben dann die Möglichkeit, die Abgaben, die sich sowohl aus dem Folgerecht als auch aus dem Künstlersozialversicherungsrecht ergeben, gebündelt abzuführen.“ 12 Abgeführt wird eine Pauschale an die AV und zwar berechnet im Hinblick auf den Jahresumsatz für alle Originale der bildenden Kunst seit 1900. „Diese Pauschale muss also auch für die Verkaufserlöse von solchen Werken gezahlt werden, deren Urheberrecht schon … erloschen ist.“13 10 Fünftes Gesetz zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes vom 10.11.2006 (im Anhang), BGBl. 2006 I 2587 (Nr. 52 v. 15.11.2006). Vgl. hierzu Müller-Katzenburg Folgerecht – Aktuelles aus Gesetzgebung und Rechtsprechung, in: Weller/Kemle/Lynen (Hrsg.), Des Künstlers Rechte – die Kunst des Rechts, Baden-Baden 2008, S. 75, 76 ff. 11 Sturm 10 Fragen – 10 Antworten zum Thema Folgerecht, http://www.arbeitskreiskunsthandel.de, Frage 8; Pfennig Die Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst, in: Hoeren/ Holznagel/Ernstschneider (Hrsg.), Handbuch Kunst und Recht, Frankfurt am Main 2008, S. 151 ff., 160 f. 12 Vorige Note. 13 Sturm oben Note 11.
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In den Auktionsbedingungen findet sich nun vielfach ein Hinweis auf eine Vereinbarung der Versteigerer mit der Verwertungsgesellschaft „BildKunst“. Auf diese Vereinbarung wird dann die Folgerechtsumlage gestützt. Näheres lässt sich aus den ganz unterschiedlichen Bedingungen der Versteigerer nicht entnehmen. Man kann nur festhalten, dass die Vertragsparteien keine Bestimmungen treffen können, welche etwa die Zweiterwerber binden. Besonders gravierend ist es, dass in den Versteigerungsbedingungen nicht deutlich wird, dass die Zweiterwerber auch die Künstlersozialabgabe mitfinanzieren. 2. Die „Grisebach“-Klausel Das Berliner Auktionshaus „Villa Grisebach“ verwendet für das Folgerecht folgende Klausel 14: „Folgerecht Für Werke bis zu einem Hammerpreis von einer Million Euro leistet die Villa Grisebach zur Abgeltung des gesetzlichen Folgerechts (§ 26 UrhG) an die VG Bild-Kunst eine pauschale Abgabe auf den Hammerpreis für alle Originalwerke der bildenden Kunst, die seit 1900 entstanden sind. Der Käufer trägt davon einen Teil in Form der pauschalen Umlage von 1% auf den Hammerpreis.“ Zunächst ist festzuhalten, dass die Entstehungszeit des Kunstwerks für das Folgerecht irrelevant ist. Es kommt allein auf die Lebensdaten des Künstlers an. Max Liebermann ist 1935 verstorben. Seine Werke sind heute im Jahre 2008 folgerechtsfrei. Nimmt man die Katalog Nr. 5R „Strandleben“, entstanden 1916, deren Schätzpreis 500 000–700 000 Euro beträgt, so erfolgt unter Bezug auf § 26 UrhG eine Umlage auf den Käufer für ein Werk, das nach dem Gesetz keinem Folgerecht unterliegt. Was den Hinweis auf die Vereinbarung mit Bild-Kunst angeht, so kennt das Zivilrecht keine Vereinbarung zu Lasten Dritter. Selbst wenn ein Folgerecht bestünde, so wäre die Höhe des Anspruchs nach der Neufassung des § 26 UrhG weit geringer. Nicht deutlich wird, dass auch die Künstlersozialabgabe umgelegt wird. Erzielt das Bild einen Hammerpreis von 700 000 Euro, so nimmt der Versteigerer je 7000 Euro von Einlieferer und Zweiterwerber, also 14 000 Euro ein. Höchstbetrag des Folgerechts ist aber 12 500 Euro. Hinzu tritt, dass Max Liebermann folgerechtsfrei ist. Eine „Abgeltung“ entbehrt insoweit jeder Grundlage. Insgesamt handelt es sich schlicht um eine durch den Hinweis auf § 26 UrhG verschleierte Preiserhöhung.15 14
Zitiert nach dem Auktionskatalog der Auktion Nr. 160 (Ausgewählte Werke, 28.11. 2008) § 5 1.a) b. 15 Ähnlich Lempertz Auktionskatalog Moderne Kunst Auktion 932 (6.12.2008) § 9: „Für Originalkunstwerke und Photographien, die nach dem 1.1.1900 entstanden sind, wird
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3. Die Ketterer-Klausel Noch weiter geht die Ketterer-Klausel, weil sie nämlich für „alle Kunstwerke“ – im konkreten Versteigerungskatalog auch für ein Bild von Delacroix (1798–1863) – eingreift.16 Zu den Angaben gehören 1,5 % Folgerechtsumlage. In einem Klammersatz ist ausgeführt, dass die Folgerechtsumlage bei allen Kunstwerken fällig wird und mit 1,5 % nur ein Anteil des vom Versteigerer abzuführenden Betrages ist. Die Umlage hat hier mit dem Folgerecht, wie es der Gesetzgeber geschaffen hat, nichts zu tun. 4. Die Winterberg-Klausel Näher am Gesetz orientiert ist die Winterberg-Klausel 17: „Bei Künstlern des 20. Jahrhunderts fällt auf den Zuschlag 1 % Folgerechtsabgabe an.“ Unklar bleibt, wann ein Künstler dem 20. Jahrhundert zugerechnet wird, ob hierfür das Geburts- oder das Todesdatum eine Rolle spielt. Betrachtet man den Katalog, so ist z.B. der 1918 verstorbene Hans am Ende bei den Künstlern des 19. Jahrhunderts eingeordnet. Es scheint also beachtet, dass nur bei Künstlern, die nach 1938 gestorben sind, das Folgerecht anfällt. In ähnlicher Weise verfährt das Auktionshaus Karbstein, Düsseldorf: „Steht hinter dem Künstlernamen ein (F), wird eine anteilige Gebühr von 1 % für Urheberechte erhoben.“18 Eine Durchsicht des Katalogs ergibt, dass das „F“ nur für Künstler angegeben wird, die nach 1938 verstorben sind. 5. Zwischenergebnis Schon dieser knappe Überblick über die Klauselwerke der Versteigerer zeigt, dass die „Umlage“ mit dem Hinweis auf das Folgerecht des § 26 UrhG nicht gerechtfertigt werden kann. Daher stellt sich die Frage, ob die Klauseln der Versteigerungsbedingungen einer Inhaltskontrolle (§ 307 BGB) standhalten. zur Abgeltung des gemäß § 26 UrhG anfallenden Folgerechts eine Umlage für das Folgerecht von 1,9 % erhoben.“ Vgl. auch Neumeister Auktionskatalog Alte Kunst Auktion 342 (3.12.2008), Versteigerungsbedingungen § 8: „… wird auf den Zuschlagspreis ein Aufgeld von 24 % zuzüglich einer eventuell anfallenden Folgerechtsumlage erhoben (Zur Abgeltung des gesetzlichen Folgerechts (§ 26 UrhG) leistet ein Versteigerer für alle Originawerke aus der Entstehungszeit seit dem 1.1.1900 eine Abgabe auf den Verkaufserlös an die Ausgleichsvereinigung Kunst)“. Das Verhältnis von Folgerecht, Abgaben und Umlage wird mangels genauer Angaben nicht deutlich. 16 Ketterer Kunst München Auktion 342 (3.12.2008), § 9 Nr. 5.4. 17 Winterberg/Kunst Heidelberg, Auktion 77 (25.10.2008) Nr. 4 Satz 2. 18 Auktionskatalog 102. Kunstauktion (20.9.2008) § 6.
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III. Inhaltskontrolle der Folgerechtsumlage-Klauseln in den Allgemeinen Versteigerungsbedingungen der Auktionshäuser 1. Vorbemerkungen a) Die Interessen der Versteigerer Versteigerer können die Preise für die Bietobjekte so ansetzen, wie sie es im Hinblick auf den Markt für richtig halten. Das Gesetz setzt für die Preisgestaltung nur äußerste Grenzen (vgl. § 138 Abs. 2 BGB).19 Was das Folgerecht angeht, so ist es offenbar die bürokratische Abwicklung, welche im Kunsthandel als besondere Belastung empfunden wird. Hinzu tritt, dass man befürchtete, Einlieferer abzuschrecken, wenn sie insoweit belastet werden. Die private Veräußerung unterliegt nämlich nicht dem Folgerecht. Der Rahmenvertrag mit der Verwertungsgesellschaft habe „zu einer weitgehend störungsfreien Wahrnehmung des Folgerechts in Deutschland“ geführt.20 Problematisch ist diese „Umlage“ nicht nur, weil sie weit über das Folgerecht des § 26 UrhG hinausgeht, sondern auch deshalb, weil sie sich auf das Folgerecht beruft. b) Der Bieter und Kunstsammler als Verbraucher Ein Kunstkauf, wenn er durch einen Kunstsammler erfolgt, ist ein Rechtsgeschäft, das weder dem gewerblichen noch der selbstständigen beruflichen Tätigkeit des Erwerbers zugerechnet werden kann (vgl. § 13 BGB). Der private Kunstsammler ist also „Kunstverbraucher“.21 Es sind daher die Verbraucherschutzvorschriften anwendbar (vgl. z.B. § 310 Abs. 3 BGB). 2. Transparenzgebot Gemäß § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB kann sich eine unangemessene Benachteiligung auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist. Angesprochen ist damit das Transparenzgebot. Die Klausel darf nicht irreführend sein. Für eine Verletzung des Täuschungsverbots genügt die objektive Eignung der Klausel. Der BGH hat folgenden Grundsatz aufgestellt: 22 „Bereits die Klauselfassung muss der Gefahr vorbeugen, dass der Kunde von der Durchsetzung bestehender Rechte abgehalten wird. Durch eine 19
Vgl. für einseitige Preisbestimmungen auch § 315 BGB. Gusia, oben Note 4, S. 120. 21 Vgl. hierzu Mangold, Verbraucherschutz und Kunstkauf im deutschen und europäischen Recht, Frankfurt am Main 2009, S. 115–121 22 BGH, 27.9.2000, NJW 2001, 292 ff., 296. 20
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Klausel, die die Rechtslage unzutreffend oder missverständlich darstellt und auf diese Weise dem Verwender die Möglichkeit eröffnet, begründete Ansprüche unter Hinweis auf die Klauselgestaltung abzuwehren, wird der Vertragspartner entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligt.“ Irreführend sind m.E. alle Klauseln in den Versteigerungsbedingungen der Auktionshäuser, welche Abgaben und Umlagen zu Lasten des Bieters unter Hinweis auf den § 26 UrhG begründen. Das Transparenzgebot ist vor allem dann verletzt, wenn die Umlage Künstler betrifft, deren Folgerecht bereits erloschen ist. Solche Klauseln sind gemäß § 307 BGB unwirksam. Den Hinweisen auf die pauschalierte Abgabe an die Verwertungsgesellschaft BildKunst ist ebenfalls mit § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB unvereinbar. Es wird nicht klar, wie hoch diese Abgaben sind, die zudem eine offengelegte Orientierung an den Prozentsätzen des § 26 UrhG n.F. vermissen lassen. Aus den Klauseln wird ferner nicht deutlich, dass der Bieter die Künstlersozialabgabe mitfinanziert. Ergebnis: keine der oben genannten Klauseln ist mit dem Transparenzgebot vereinbar. 3. Wesentliche Grundgedanken der gesetzlichen Regelung (§ 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB) Der Grundgedanke des Folgerechts geht dahin, dass der Künstler, dem ein Urheberrecht zusteht, an dem Gewinn, den der Ersterwerber bei einer weiteren Veräußerung erzielt, beteiligt werden soll. Die Überwälzung der Lasten des Folgerechts auf den Zweiterwerber verdreht den Sinn dieses Rechtsinstituts. Der Zweiterwerber wird erst dann zum Schuldner des Urhebers, wenn er seinerseits zum Veräußerer wird. Die Vorschrift des § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB bezieht sich zwar nur auf Änderungen des dispositiven Rechts, welche Allgemeine Geschäftsbedingungen vornehmen; das Folgerecht ist aber unverzichtbar (§ 26 Abs. 3 Satz 2 UrhG). Allerdings kann der Urheber nach der Entstehung des Folgerechtsanspruchs auf diesen verzichten, bzw. ihn nicht geltend machen.23 Allgemeine Geschäftsbedingungen der Auktionshäuser, welche die Ansprüche aus dem Folgerecht auf die Zweiterwerber abwälzen, die noch gar keinen Gewinn erzielt haben, sind mit den Grundgedanken des Folgerechts nicht vereinbar. Sie halten daher einer Inhaltskontrolle i.S.d. § 307 Abs. 1 Nr. 1 BGB nicht stand.
23
Bullinger in: Wandtke/Bullinger, Praxiskommentar zum Urheberrecht, 3. Aufl., 2009, § 26 UrhG, Rn. 19, S. 396 oben.
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IV. Recht des unlauteren Wettbewerbs – Irreführung des Verbrauchers Das Gesetz über den unlauteren Wettbewerb (im Folgenden: UWG) ist durch Art. 1 des Gesetzes vom 22.12.2008 24 neu gefasst worden. § 5 UWG enthält eine Vorschrift über „irreführende geschäftliche Handlungen“; § 5a UWG betrifft die Irreführung durch Unterlassen. Beide Vorschriften sind durch die Klauseln der Auktionshäuser betroffen. Irreführend ist der Hinweis auf das Folgerecht, insbesondere die Nennung des § 26 UrhG in allen Fällen, in denen das Folgerecht nicht mehr besteht, weil das Urheberrecht des Künstlers erloschen ist. Bei der Preisberechnung 25 wird verschwiegen, dass die „Folgerechtsumlage“ auch Fälle betrifft, in denen ein Folgerecht gar nicht gegeben ist. Hinzu tritt, dass auch eine Umlage vom Zweiterwerber dann erhoben wird, wenn kein Folgerecht besteht und kein Fall der Folgerechtsumlage gegeben ist, weil das Werk im 19. Jahrhundert entstanden ist (siehe oben: Hans am Ende). Dass die sogenannte Umlage nicht an die Neufassung des § 26 UrhG angepasst wurde, wird ebenfalls nicht artikuliert. Es handelt sich um verschleierte Preiserhöhungen, deren Charakter durch die Bezeichnung „Folgerechtsumlage“ verdeckt wird. Keine der erwähnten Klauseln lässt sich vor den §§ 5 und 5a UWG halten.
V. Schlussbetrachtung Im Urheberrecht stehen die Interessen hart im Raum. Autoren und Verbraucher sind zu schwach, um ihre – berechtigten – Interessen gegenüber der Lobby des Kunsthandels und der Verwertungsgesellschaften durchzusetzen.26 Umso wichtiger ist, dass die allgemeinen Kontrollmöglichkeiten, die das BGB und das UWG enthalten, gegenüber der verwerflichen Klauselpraxis eingesetzt werden.
24 BGBl. 2008 I, 2949. Siehe hierzu Hamacher Abmahnwellen vorgezeichnet – Wie wirkt sich das neue Wettbewerbsrecht auf die Praxis aus?, Frankfurt Allgemeine Zeitung 11-2-2009, Nr. 35, S. 21. 25 Siehe hierzu vgl. § 5a Abs. 3 Nr. 3 UWG. 26 Vgl. hierzu auch Braun Der ganze Spaß – Warum Urheberrechtler gegen die VG Wort klagen wollen, Süddeutsche Zeitung 21.1.2009. Der Zeitungsartikel betrifft vor allem § 63a UrhG.
Paralipomena zum Ombudsmann der privaten Banken Gerhart Kreft
Seit Jahrzehnten als Rechtsanwalt bei dem Bundesgerichtshof zugelassen, ist der Freund Achim Krämer neben seiner Vorliebe für die öffentlich-rechtlichen Materien insbesondere des III. Zivilsenats nicht selten in bankrechtlichen Verfahren aufgetreten,1 die zunächst in die Zuständigkeit des II. Zivilsenats fielen und seit Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts dem XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs zugewiesen sind. Dies mag es rechtfertigen, in der zu Ehren des Jubilars erscheinenden Festschrift auf ein bankrechtliches Verfahren einzugehen, das weniger im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht, aber auf effektive Weise dem Ausgleich zwischen Banken und ihren Kunden dient: das Verfahren zur Schlichtung von Kundenbeschwerden im deutschen Bankgewerbe.
I. Historische Entwicklung Einem durch die Empfehlung der EG-Kommission vom 14.2.1990 zur Transparenz der Bankkonditionen bei grenzüberschreitenden Finanzaktionen 2 verstärkten Trend in Europa folgend,3 hat der Vorstand des Bundesver1
Vgl. den Bericht von Ahlers WM 1998, 1561, 1567 f. ABl. EG v. 15.3.1990, Nr. L 67, S. 39. 3 Hellner Die Bank 1991, 666, 667; Brödermann in: Derleder/Knops/Bamberger (Hrsg.), Handbuch zum deutschen und europäischen Bankrecht, 2. Aufl. 2009, § 66 Rn. 6; Steuer in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 3 Rn. 9, 20; Zawal-Pfeil in: Hellner/Steuer (Hrsg.), Bankrecht und Bankpraxis (Loseblatt), Rn. 2/1072a, 1072b. Zur Entwicklung der Schlichtung in Europa allgemein Steuer aaO, § 3 Rn. 20, 21 und Rn. 9c (hier auch zu dem von der Europäischen Kommission im Jahre 2001 geschaffenen Netzwerk zur Behandlung der grenzüberschreitenden Beschwerden für Finanzdienstleistungen [Consumer Complaints Network for Financial Services – FINNET – dazu ebenfalls Brödermann aaO, § 66 Rn. 9 bis 14, 49 bis 64, 69, 70, 72] und zu dem European Consumer Centers Network – ECC-Net – vgl. auch Brödermann aaO, § 66 Rn. 3). Zu Schlichtungsstellen im Bankgewerbe von Großbritannien und der Schweiz Gude Der Ombudsmann der privaten Banken in Deutschland, Großbritannien und der Schweiz, Diss. Bonn, 1998, S. 138 ff (Großbritannien) und S. 161 ff (Schweiz); Thomas von Hippel Der Ombudsmann im Bank- und Versicherungswesen, 2000, § 12 = S. 117 ff (Großbritannien), § 13 = S. 185 f (Schweiz); Brödermann aaO, § 66 Rn. 65 (Schweiz); von Däne2
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bandes deutscher Banken zum 1.7.1992 die Einführung eines Schlichtungsverfahrens beschlossen, mit dem „Meinungsverschiedenheiten zwischen Banken und ihren privaten Kunden schnell, unbürokratisch und – gegenüber gerichtlichen Auseinandersetzungen – wesentlich kostengünstiger bereinigt werden können.“ 4 Damit hatte der Bundesverband deutscher Banken eine Vorreiterrolle unter den Verbänden der Kreditinstitute und den Sparkassenorganisationen in Deutschland übernommen. Unterdessen haben die anderen Verbände nachgezogen.5 Das Schlichtungsverfahren hat sich ungeachtet kritischer Stimmen vor allem von Seiten der Verbraucherschutzeinrichtungen6 relativ rasch durchgesetzt 7 und ist heute, nach 17 Jahren seiner Etablierung, kaum noch wegzudenken 8. Das schließt nicht aus, auch nach den bisherigen Änderungen der Verfahrensordnung 9 – die vor allem in der Einführung einer Begründungspflicht, der ausschließlichen Kompetenz des Ombudsmanns zur Entscheidung über Zulässigkeitsfragen, insbesondere über die Beweisbedürftigkeit von Behauptungen, der Beteiligung des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände (Verbraucherzentrale Bundesverband – VZBV) in Form einer Anhörung an der Bestellung des Ombudsmannes, der Streitschlichtung auf dem Gebiet des Überweisungsrechts und des Missbrauchs von Zahlungskarten 10 sowie der Veröffentlichung von Jahresberichten über die Schlichtungstätigkeit 11 bestanden – weiter über mögliche Verbesserungen des Schlichtungsverfahrens nachzudenken.
mark Scherpe Zum Problem der Neutralität in der außergerichtlichen Streitbeilegung, RabelsZ 64 (2000), 625 ff; ders. Außergerichtliche Streitbeilegung in Verbrauchersachen, 2002, S. 171 ff; von Australien Reich WM 1992, 809 ff; Buck/Sonnberg ZBB 1993, 15 ff. Eine Übersicht über sämtliche am FIN-NET beteiligten Länder nach dem Stand vom 15.8. 2008 gibt Brödermann aaO, § 66 Rn. 64. 4 Hellner Die Bank 1991, 666. Vgl. auch Heinsius WM 1992, 478. 5 Vgl. Brödermann (Fn. 3), § 66 Rn. 35 Teil A; Steuer (Fn. 3), § 3 Rn. 17; zu den Sparkassen insbes. Rn. 18, 19. 6 Vgl. Zawal-Pfeil Die Bank 1993, 620; Hoeren NJW 1994, 362, 364; Steuer (Fn. 3), § 3 Rn. 69. 7 Zawal-Pfeil Die Bank 1993, 620 ff; Parsch WM 1993, 238; ders. Die Bank 1994, 480 f; ders. WM 1997, 1228, 1231; Hoeren NJW 1994, 362, 363, 365; Bundschuh ZBB 1998, 2, 6; Däubler-Gmelin WM 2002, 1342 f; Upmeier Die Bank 2007 (7.2007), 38, 39, 41. 8 Nach der Einschätzung der Leiterin der Kundenbeschwerdestelle des Bundesverbandes deutscher Banken sind die mit dem Ombudsmannverfahren des Bankenverbandes gemachten Erfahrungen der spürbaren Erleichterung des Zugangs zum Recht und der deutlichen Entlastung der Justiz gute Gründe, den beschrittenen Weg konsequent fortzusetzen, Upmeier Die Bank 2007 (7.2007), 38, 41 a.E. 9 Dazu Scherpe WM 2001, 2321 ff; Steuer (Fn. 3), § 3 Rn. 44 ff. 10 Steuer (Fn. 3), § 3 Rn. 46j. 11 Steuer (Fn. 3), § 3 Rn. 46i. Abzurufen im Internet unter www.bankenverband.de.
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II. Institutionelle Aspekte Rechtliche Grundlage des Schlichtungs- oder Ombudsmannverfahrens ist die vom Vorstand des Bundesverbandes deutscher Banken erlassene Verfahrensordnung für die Schlichtung von Kundenbeschwerden im deutschen Bankgewerbe.12 1. Danach beruht das Schlichtungsverfahren auf drei „Säulen“:13 der bei dem Bundesverband deutscher Banken eingerichteten Kundenbeschwerdestelle, den bankinternen Schlichtungssystemen und dem Ombudsmann14. Dieser wird durch den Vorstand des Bundesverbandes auf Vorschlag der Geschäftsführung für die Dauer von drei Jahren bestellt. Die Bestellung kann wiederholt werden. Er kann vor Ablauf seiner Amtszeit vom Vorstand des Bundesverbandes nur abberufen werden, wenn Tatsachen vorliegen, die eine unabhängige Erledigung der Schlichtertätigkeit nicht mehr erwarten lassen, wenn er nicht nur vorübergehend an der Wahrnehmung seines Amtes gehindert ist oder wenn ein vergleichbar wichtiger Grund gegeben ist (Nr. 1 Abs. 1 der Verfahrensordnung [fortan: VerfO]). Vor Bestellung des Ombudsmanns teilt der Bundesverband (der deutschen Banken) der Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) den Namen und den beruflichen Werdegang der als Ombudsmann vorgesehenen Person mit. Werden innerhalb von zwei Monaten von dem VZBV schriftlich keine Tatsachen vorgetragen, welche die Qualifikation oder Unparteilichkeit der vorgesehenen Person in Frage stellen, oder sind erhobene Einwendungen geklärt, kann die Bestellung erfolgen (Nr. 1 Abs. 2 VerfO). Der Ombudsmann muss die Befähigung zum Richteramt haben. Er darf in den letzten drei Jahren vor Amtsantritt weder beim Bundesverband noch bei einem Kreditinstitut tätig gewesen sein. Der Ombudsmann ist in seiner Eigenschaft als Schlichter unabhängig und nicht an Weisungen gebunden (Nr. 1 Abs. 3 VerfO). Zum Ombudsmann sind zwei oder mehr Personen zu bestellen. Die Geschäftsverteilung einschließlich der Vertretungsregelung legt der Vorstand des Bundesverbandes im Einvernehmen mit diesen Personen mindestens vor jedem Geschäftsjahr fest. Während des Geschäftsjahres ist eine Änderung nur aus wichtigem Grund zulässig (Nr. 1 Abs. 4 VerfO). Ein Ombudsmann darf nicht in Streitfällen tätig werden, an deren Abwicklung er selbst beteiligt war. Hierüber entscheidet seine Vertretung (Nr. 1 Abs. 5 VerfO). 12 Vgl. Bekanntmachung im Bundesanzeiger vom 5.3.2003, S. 3901 f; abgedruckt bei Steuer (Fn. 3), § 3 Rn. 28. 13 Bundschuh ZBB 1998, 2; ders. in: Hadding/Hopt/Schimansky (Hrsg.), Kartengebundener Zahlungsverkehr – Außergerichtliche Streitbeilegung, Bankrechtstag 1998, 1999, S. 211, 212 ff; Scherpe RabelsZ 64 (2000), 614, 618 f; ders. Außergerichtliche Streitbeilegung (Fn. 3), S. 151 ff. 14 Zur Bedeutung des aus dem Schwedischen entlehnten Wortes Ombudsmann Brödermann (Fn. 3), § 66 Rn. 4.
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2. Mit diesen Vorgaben werden die Anforderungen der Empfehlung der EU-Kommission vom 30.3.1998 betreffend die Grundsätze für Einrichtungen, die für außergerichtliche Streitbeilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten zuständig sind,15 – sog. Alternative Dispute Resolution (ADR) – erfüllt.16 Gleichwohl wurden im Hinblick auf das Bestellungsverfahren namentlich von Verbraucherseite die Unabhängigkeit und Neutralität der Ombudsmänner des Bankenverbandes in Frage gestellt. So hat Hoeren angemerkt, es hätte sich empfohlen, den Ombudsmann parallel zu seinem britischen Kollegen durch einen „Council“ zu bestellen, der aus Mitgliedern der Verbraucherschutzverbände und Repräsentanten einzelner Banken zusammengesetzt sei.17 Dem hat sich von Hippel im Grundsatz angeschlossen.18 Freilich ist diese Kritik durchweg zu einer Zeit ergangen, als die mit Wirkung vom 1.9.2001 in die Verfahrensordnung eingefügte Pflicht zur Anhörung des VZBV vor Bestellung eines Ombudsmanns19 noch nicht bestand. Seitdem scheint die Kritik zumindest weitgehend verstummt zu sein.20 3. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass mit einer Abkoppelung des Ombudsmannes vom Bundesverband deutscher Banken etwa durch Zwischenschaltung einer Stiftung, wie bei dem Schweizerischen Bankenombudsman,21 oder eines Vereins nebst einem Beirat, wie bei dem deutschen Versicherungsombudsmann,22 auf Seiten der Öffentlichkeit und der Bankkunden eine größere Bereitschaft zur Anerkennung der Unabhängigkeit und Neutralität des Ombudsmanns verbunden sein könnte. Das dürfte insbesondere zutreffen, wenn in die Bestellung des Bankenombudsmanns – entsprechend derjenigen des Versicherungsombudsmanns – ein Gremium einbezogen wird, dem neben Vertretern der Banken und des Bundesverbandes eine gleich hohe Zahl von Verbrauchervertretern sowie Vertreter der Bankenaufsicht, Vertreter der Wissenschaft und Vertreter der Bundestagsfraktionen, möglicherweise auch noch weitere Personen angehören.
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ABl. EG 1998 L 115, S. 31. Scherpe RabelsZ 64 (2000), 614, 630 ff. 17 Hoeren NJW 1992, 2727, 2728. Vgl. auch ders. NJW 1994, 362, 364; zu Australien Buck/Sonnberg ZBB 1993, 15, 18. 18 Thomas von Hippel Der Ombudsmann (Fn. 3), S. 240 f. 19 Vgl. Zawal-Pfeil (Fn. 3), Rn. 2/1077g, 2/1079a mit Fn. 3. 20 Vgl. Däubler-Gmelin WM 2002, 1342; Zypries Bericht des Bundesverbandes über die Schlichtungstätigkeit, 2003, Geleitwort; Steuer (Fn. 3), § 3 Rn. 16. 21 Dazu Gude Der Ombudsmann der privaten Banken (Fn. 3), S. 168 (der indes wegen der Zusammensetzung der Stiftung Schweizerischer Bankenombudsman die Unabhängigkeit und Neutralität des Ombudsman bezweifelt); Thomas von Hippel Der Ombudsmann (Fn. 3), S. 185. Informationen im Internet unter www.bankingombudsman.ch. 22 Vgl. den vom Versicherungsombudsmann e.V. herausgegebenen Jahresbericht 2007 „Ombudsmann für Versicherungen“. Abzurufen im Internet unter www.versicherungsombudsmann.de. 16
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4. Letztlich steht und fällt der Erfolg eines Schlichtungsverfahrens jedoch mit der Persönlichkeit des Ombudsmannes. Insoweit hatte der Bundesverband deutscher Banken mit seinem erheblich schlankeren Bestellungsverfahren, in das die Verbraucherseite seit vielen Jahren jedenfalls mit einem Anhörungsrecht einbezogen ist, bislang eine glückliche Hand. Wer – wie die bisherigen Ombudsmänner – viele Jahre als hoher Richter oder, ggf. nach einer richterlichen Tätigkeit, als hochrangiger Ministerialbeamter wirkte, wird auch als Ombudsmann unabhängig und neutral entscheiden. Das ist durch die Bekanntgabe der Viten insbesondere im Internet und in den Jahresberichten auch der Öffentlichkeit und vor allem den Beschwerde führenden Bankkunden zu vermitteln. Deshalb ist die Frage, wie eng der Bankenombudsmann an den Spitzenverband der privaten Banken (oder den jeweiligen Spitzenverband anderer Kreditinstitute) angebunden sein soll, nicht notwendig im Sinn einer institutionalisierten Distanz zu beantworten. Das könnte sich ändern, wenn die Akzeptanz der Schlichtungssprüche gerade wegen des starken Einflusses des Bankenverbandes auf die Auswahl des Ombudsmannes und wegen seiner vertraglichen Verbindung zum Bundesverband durch die (unterlegenen) Bankkunden nicht nur vereinzelt in Frage gestellt wird, was sich wohl nie vermeiden lässt, sondern in erheblichem Ausmaß nicht (mehr) gewährleistet wäre. Davon kann aber nach meinem Eindruck auch nicht entfernt die Rede sein. 5. Während das Schweizerische Bankenombudsman-Verfahren und das Verfahren des deutschen Versicherungsombudsmanns jeweils nur einen einzigen Ombudsmann kennen, dem ein Stab von sachkundigen Personen zugeordnet ist, die in seinem Auftrag entscheiden, ist das vom Bundesverband deutscher Banken geschaffene Schlichtungsverfahren dadurch gekennzeichnet, dass mehrere – zur Zeit fünf – Ombudsmänner ihre Entscheidungen wie ein Einzelrichter in alleiniger Zuständigkeit und Verantwortung treffen. Beide Konzepte haben Vor- und Nachteile. Bei nur einem Ombudsmann, dem ein Stab zuarbeitet, könnte die Einheitlichkeit der Entscheidungen über dieselbe Rechtsfrage besser gewährleistet sein. Hier hängt die Güte des Schlichtungsverfahrens in besonderer Weise von der Persönlichkeit des Ombudsmannes und seinen Qualitäten ab. Dahinter werden Zuschnitt und Qualität der Zuarbeiter regelmäßig nicht unerheblich zurückbleiben. Hochrangige Persönlichkeiten werden kaum bereit sein, weisungsabhängige Arbeit zu leisten. Bei mehreren gleichberechtigten Ombudsmännern scheint auf den ersten Blick die Gefahr divergierender Entscheidungen über dieselben Rechtsfragen zu bestehen. Bei Lichte besehen ist diese Gefahr jedoch derart gering, dass sie vernachlässigt werden kann. Die Ombudsmänner halten untereinander regen Kontakt. Mindestens einmal im Jahr treffen sie sich zu einem zweitägigen Gedankenaustausch, in dem vor allem neue Probleme erörtert werden mit dem Ziel, eine einheitliche Lösung zu finden. In aller Regel gelingt dies. Ferner stehen die Ombudsmänner über E-Mail und Tele-
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fon in ständiger Verbindung. Sie fragen einander nach der Meinung, wenn eine neue Rechtsfrage zur Entscheidung ansteht, legen Entscheidungsentwürfe mit der Bitte um kritische Durchsicht vor, bevor sie entscheiden, und tauschen Entscheidungen über neue Fragen aus. Die Zahl der Fälle, in denen sich ein Konsens wegen grundsätzlicher Meinungsverschiedenheit nicht herstellen lässt, ist verschwindend gering und tendiert gegen Null. Die Bestellung mehrerer gleichberechtigter Ombudsmänner hat den kaum zu überschätzenden Vorteil, dass sich ausgesuchte Spitzenkräfte für das Amt des Ombudsmanns gewinnen lassen. Freilich ist deren Zahl nicht beliebig vermehrbar. Sollte der Geschäftsanfall derart steigen, dass er etwa nur noch von zehn Ombudsmännern zu bewältigen wäre, müsste wohl über einen Systemwechsel nachgedacht werden.
III. Zum Schlichtungsverfahren 1. Zugangsvoraussetzungen a) Das Schlichtungsverfahren steht nur offen, wenn sich die Bank, gegen welche die Beschwerde gerichtet ist, dem Schlichtungsverfahren angeschlossen hat. Über die dem Schlichtungsverfahren angeschlossenen Banken führt die Kundenbeschwerdestelle eine Liste. Diese wird in den Berichten des Bundesverbandes über die Schlichtungstätigkeit (Nr. 5 Abs. 5 VerfO) veröffentlicht. Ist die in Anspruch genommene Bank dem Schlichtungsverfahren nicht angeschlossen, gibt die Kundenbeschwerdestelle die Beschwerde unter Benachrichtigung des Beschwerdeführers an die zuständige Schlichtungsstelle ab, wenn es eine solche gibt. Andernfalls leitet die Kundenbeschwerdestelle die Beschwerde an den Beschwerdeführer zurück (Nr. 3 Abs. 3 VerfO). b) Das Schlichtungsverfahren ist ferner nur dann zulässig, wenn der Beschwerdeführer ein Kunde der Bank ist, genauer: im Zeitpunkt des der Beschwerde zugrunde liegenden Ereignisses war. Die Notwendigkeit dieser Bank-Kunde-Beziehung ist nicht in einer besonderen Vorschrift der Verfahrensordnung geregelt. Sie ergibt sich aus der Bezeichnung der Verfahrensordnung als „Verfahrensordnung für die Schlichtung von Kundenbeschwerden im deutschen Bankgewerbe“ und daraus, dass es im Vorspann vor Nr. 1 VerfO heißt: „Der Bundesverband deutscher Banken (Bundesverband) hat für die ihm angeschlossenen Banken ein Schlichtungsverfahren zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten zwischen Banken und Kunden geschaffen.“23 Dabei ist Kunde regelmäßig nur, wer auf vertraglicher Grundlage Dienstleistungen einer Bank gegen Entgelt in Anspruch nimmt; zumindest müssen aber vertragliche Beziehungen zwischen dem Beschwerdeführer und 23
Vgl. Steuer (Fn. 3), § 3 Rn. 46k.
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der in Anspruch genommenen Bank bestehen.24 So ist eine Bank-KundeBeziehung etwa bei einer gegenüber der Bank eingegangenen Bürgschaft angenommen worden, obwohl der Bürge aufgrund des Bürgschaftsvertrages Dienstleistungen der Bank nicht in Anspruch nimmt.25 Demgegenüber fehlt eine Bank-Kunde-Beziehung zwischen dem auf ein Fremdkonto Überweisenden und der Empfängerbank oder zwischen demjenigen, der Bank-Zertifikate über seine Hausbank erwirbt und der davon verschiedenen Emittentin dieser Wertpapiere. Dies wird von Beschwerdeführern nicht selten übersehen. c) In der Schlichtungspraxis wird aus der Notwendigkeit einer BankKunde-Beziehung weiter gefolgert, dass Gegenstand der Meinungsverschiedenheit zwischen Bank und Kunde ein Bankgeschäft oder eine Finanzdienstleistung im Sinn von § 1 Abs. 1, 1a KWG sein muss. Deshalb wurde bei einer Beschwerde, mit welcher die Bank für Verluste haftbar gemacht wurde, die aus dem Verkauf von Genussscheinen nach (angeblichen) Falschaussagen des Bankvorstandes und daraus folgenden Kurseinbrüchen abgeleitet wurden, gemäß Nr. 4 Abs. 4 Satz 3 VerfO von einer Beschwerde abgesehen. Ähnlich wurde in einem Fall entschieden, in dem der Beschwerdeführer durch Erwerb eines Teilhabebriefes stiller Mitgesellschafter der Bank geworden war und seine Mithaftung für Verluste dadurch zu vermeiden suchte, dass er der Bank Managementfehler vorwarf. Der Ombudsmann nahm an, für solche gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzungen sei das Schlichtungsverfahren nicht vorgesehen. Aus dem gleichen Grund wurde bei einer Streitigkeit zwischen einem Erben und einer Bank aus der Vereinbarung über das Honorar für eine Erbenermittlung eine Schlichtung für nicht statthaft gehalten. Diese Vertragsbeziehung habe mit eigentlichen Bankgeschäften nichts zu tun. d) Nach Nr. 2 Abs. 1a VerfO kann der Ombudsmann bei Beschwerden angerufen werden, wenn es sich bei dem Beschwerdeführer um einen Verbraucher handelt; das Verfahren findet demgemäß keine Anwendung, wenn der streitige Geschäftsvorfall der gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit des Beschwerdeführers zuzurechnen ist. (Ausnahmen von der zwingenden Verbrauchereigenschaft des Kunden bestehen nach Buchst. b und c dieser Vorschrift nur bei Streitigkeiten über grenzüberschreitende Überweisungen innerhalb der europäischen Union und der EWR-Staaten aus der Anwendung des Überweisungsrechts oder bei [sonstigen] Streitigkeiten aus der Anwendung des Überweisungsrechts oder dem Missbrauch einer Zahlungskarte.26) Zur Abgrenzung von Verbraucher und Nichtverbraucher ist grundsätzlich auf §§ 13, 14 BGB zu verweisen.27 24
Vgl. Zawal-Pfeil (Fn. 3), Rn. 2/1107 und 2/1109; Steuer (Fn. 3), § 3 Rn. 64 bis 67. Dazu Steuer (Fn. 3), § 3 Rn. 65, 66. 26 Vgl. § 14 Abs. 3 Unterlassungsklagengesetz (UklaG) in Verbindung mit § 7 SchlichtungsstellenverfahrensVO; dazu Steuer (Fn. 3), § 3 Rn. 9a, 16. 27 Vgl. Steuer (Fn. 3), § 3 Rn. 63. 25
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e) Die Schlichtung durch den Ombudsmann ist auch dann nicht statthaft, wenn der Beschwerdegegenstand bereits vor einem Gericht anhängig ist, in der Vergangenheit anhängig war oder von dem Beschwerdeführer während des Schlichtungsverfahrens anhängig gemacht wird, wenn die Streitigkeit durch außergerichtlichen Vergleich beigelegt oder ein Antrag auf Prozesskostenhilfe mangels Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung abgewiesen wurde (Nr. 2 Abs. 2 Satz 1a VerfO). Der Grund für das Schlichtungshindernis der gerichtlichen Anhängigkeit oder der Abweisung eines Prozesskostenhilfeantrags wegen fehlender Erfolgsaussicht liegt vornehmlich darin, eine unterschiedliche Beurteilung desselben Sachverhalts durch das staatliche Gericht einerseits und den Ombudsmann andererseits zu vermeiden, wobei dem Gericht der Vorrang zukommt. Soweit diese Regelung auch dann anzuwenden ist, wenn eine gerichtliche Entscheidung nicht erging, etwa weil eine Klage zurückgenommen oder übereinstimmend für erledigt erklärt wurde, dürfte der Gesichtspunkt mangelnden Rechtsschutzinteresses eine Rolle spielen. Das gilt jedenfalls in den Fällen, in denen das Nichtergehen einer gerichtlichen Entscheidung (auch) auf einer Prozesshandlung des Kunden beruht. Wenn allein die Bank nach einer von ihr bei Gericht eingereichten Klage eine gerichtliche Entscheidung verhindert hat – etwa durch einseitige Klagerücknahme vor Beginn der mündlichen Verhandlung (§ 269 Abs. 1 ZPO) –, trägt der Gesichtspunkt fehlenden Rechtsschutzinteresses nicht. Ob die Zulässigkeit des Schlichtungsverfahrens in einem solchen Fall unter Einschränkung des Wortlauts von Nr. 2 Abs. 2 Satz 1a VerfO nur bei rechtsmissbräuchlichem Handeln der Bank oder ganz allgemein bejaht werden kann, weil es für eine Unzulässigkeit keinen Sachgrund gibt, bedarf noch der Klärung. Dass ein (wirksamer) außergerichtlicher Vergleich einer Schlichtung entgegen steht, dürfte darauf beruhen, dass der Kunde sich vertraglich gebunden hat und diese Bindung nicht durch das abweichende Ergebnis einer Schlichtung in Frage gestellt werden darf (pacta sunt servanda). f) Nach Nr. 2 Abs. 2 Satz 1b VerfO findet eine Schlichtung nicht statt, wenn die Angelegenheit bereits Gegenstand eines Schlichtungsverfahrens einer Schlichtungsstelle nach § 14 UklaG oder einer anderen Gütestelle, die Streitbeilegung betreibt, ist oder war. Diese Regelung findet auch Anwendung, wenn es sich um ein Schlichtungsverfahren nach der Verfahrensordnung des Bundesverbandes deutscher Banken handelt(e). g) Die Einordnung der erfolgreichen Erhebung der Verjährungseinrede als Unzulässigkeitsgrund (Nr. 2 Abs. 2 Satz 1c VerfO) vermag nicht voll zu überzeugen. Nach allgemeinem Zivilrecht ist dies ein Sachgrund für die Abweisung einer Klage. Im Ergebnis ist freilich ohne wesentliche Bedeutung, ob die Verjährungseinrede zur Unzulässigkeit oder Unbegründetheit einer Kundenbeschwerde führt. Der häufigste Fall einer Verjährung ist die Verjährung von Schadensersatzansprüchen wegen fehlerhafter Beratung der Bank im
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Zusammenhang mit dem Erwerb von Wertpapieren gemäß § 37a Wertpapierhandelsgesetz (WpHG). Diese Norm mit ihrer dreijährigen Verjährungsfrist knüpft abweichend von § 199 Abs. 1 BGB n.F. ausschließlich an objektive Gegebenheiten an. Nach Art. 4 Nr. 1b, Nr. 5, 7 des Regierungsentwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse bei Schuldverschreibungen aus Gesamtemissionen und zur verbesserten Durchsetzbarkeit von Ansprüchen von Anlegern aus Falschberatung vom 18.2.2009 28 soll § 37a WpHG mit Wirkung vom Inkrafttreten dieses Gesetzes an entfallen und das allgemeine Verjährungsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs Anwendung finden. h) Eine dem Wortlaut nach nicht sehr gelungene Unzulässigkeitsregelung enthält Nr. 2 Abs. 2 Satz 2 VerfO. Danach soll der Ombudsmann die Schlichtung ablehnen, wenn diese die Klärung einer grundsätzlichen Rechtsfrage beeinträchtigen würde. Diese am 1.9.2001 in Kraft getretene Fassung mag auf der Befürchtung beruhen, eine Entscheidung des Ombudsmanns über höchstrichterlich nicht entschiedene Fragen zugunsten des Kunden könnte bei niedrigen Streitwerten und einer daraus folgenden Bindung der Bank (Nr. 4 Abs. 5a VerfO) einer Klärung durch den Bundesgerichtshof kaum zugeführt werden.29 Nach der Meinung eines der Väter der Verfahrensordnung obliegt es aufgrund dieser Neuregelung der Beurteilung des Ombudsmanns, ob deren Voraussetzungen vorliegen. Auch wenn eine grundsätzliche Frage zu beantworten ist, darf der Ombudsmann eine (Sach-)Entscheidung treffen.30 In der Praxis machen die Ombudsmänner von dieser Bestimmung nur sehr zurückhaltend Gebrauch. Sie wurde etwa angewendet und eine Schlichtung abgelehnt, solange der Beitritt zu einem sog. Schrottfonds und der zur Finanzierung des Beitritts geschlossene Darlehensvertrag – anders als der zur Finanzierung des Erwerbs einer sog. Schrottimmobilie geschlossene Darlehensvertrag und dieser Erwerb – vom II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs als verbundenes Geschäft im Sinn von § 9 VerbrKrG eingeordnet wurden. Ferner haben sich die Ombudsmänner darauf verständigt, die Rechtsfrage, ob bei einer Nichtaufklärung der Bank über den Anfall sog. Kickbacks ein Anspruch des Kunden auf Herausgabe dieser Zuwendungen besteht, bis zu einer gerichtlichen Klärung als grundsätzlich zu werten und deshalb insoweit eine Schlichtung abzulehnen.
28 29 30
BR-Drucks. 180/09; BT-Drucks. 16/12 814. Vgl. Scherpe WM 2001, 2321, 2323. Steuer (Fn. 3), § 3 Rn. 68.
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2. Sachentscheidungsvoraussetzungen a) Erste Voraussetzung für eine Sachentscheidung in einem zulässigen Schlichtungsverfahren ist eine möglichst präzise Schilderung des Geschehens (unter Beifügung der notwendigen Unterlagen wie Kontoauszüge, Überweisungsbelege, Abrechnungen über den Erwerb oder den Verkauf von Wertpapieren, Darlehensverträge), aus der hervorgeht, was der Kunde von der Bank begehrt.31 Ein genau gefasster Antrag ist zu wünschen, aber nicht zwingend notwendig, wenn das Beschwerdevorbringen im Übrigen erkennen lässt, um was es dem Kunden geht. Deshalb gilt auch der Grundsatz „ne ultra petita“ (§ 308 Abs. 1 ZPO) im Schlichtungsverfahren nur eingeschränkt.32 Ist der Vortrag des Kunden nicht hinreichend verständlich und werden die Defizite auch durch die Stellungnahme der Bank nicht beseitigt, kann der Ombudsmann entsprechend § 139 ZPO dem Kunden im Wege einer Zwischenverfügung aufgeben, seine Darlegungen zu ergänzen und/oder sein Begehren zu präzisieren; auch die Bank kann er zu weiterer Stellungnahme auffordern (Nr. 4 Abs. 4 Satz 1 VerfO). Nach dieser Bestimmung ist auch eine mündliche Anhörung der Parteien durch den Ombudsmann möglich. Davon wird jedoch in der Praxis wegen des mit einer solchen Anhörung verbundenen Aufwands an Kosten (die allerdings bei einem für den Kunden positiven Ausgang des Schlichtungsverfahrens nach Nr. 5 Abs. 3 Satz 3 VerfO insgesamt von der Bank zu tragen sind) und Zeit kein Gebrauch gemacht. b) Von großer Bedeutung ist die bei Bankkunden nicht immer bekannte Regelung in Nr. 4 Abs. 4 Satz 2 VerfO, wonach der Ombudsmann – abgesehen vom Urkundenbeweis – keine Beweisaufnahme durchführt. Eine weitere Ausnahme von dem Verbot der Beweisaufnahme ergibt sich aus Nr. 5 Abs. 2 Satz 2, 3 VerfO. Danach hat die Bank für den Fall, dass eine fremde Rechtsordnung Anwendung findet und der Bank zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde, dem Bundesverband die Auslagen zu erstatten, die durch die Einholung von erforderlichen Rechtsgutachten über die fremde Rechtsordnung entstanden sind. Daraus folgt, dass eine Beweisaufnahme über das in einem anderen Staat geltende Recht (vgl. § 293 ZPO) zulässig ist. Gelangt der Ombudsmann zu dem Ergebnis, dass über die Beschwerde nur nach einer im Ombudsmannverfahren unzulässigen Beweisaufnahme in der Sache entschieden werden kann, hat er von einer Schlichtung abzusehen (Nr. 4 Abs. 4 Satz 3 Fall 2 VerfO). Das trifft insbesondere zu, wenn über eine zwischen Kunden und Bank streitige Behauptung Beweis durch Zeugen- und/oder Parteivernehmung oder durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zu erheben ist. Ein Beweis durch Zeugenund/oder Parteivernehmung ist nicht selten erforderlich, wenn der Kunde 31 32
Vgl. Nr. 3 Abs. 1 Satz 2 VerfO; Brödermann (Fn. 3), § 66 Rn. 31. Vgl. Steuer (Fn. 3), § 3 Rn. 62a.
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der Bank eine fehlerhafte Beratung im Zusammenhang mit dem Erwerb oder der Veräußerung von Wertpapieren vorwirft und die Bank behauptet, die Beratung sei ordnungsgemäß erfolgt. Eine Beweisbedürftigkeit setzt in einem solchen Fall allerdings eine dezidierte Schilderung des Beratungsgesprächs durch den Kunden voraus. Fehlt es daran, kann der Beschwerde mangels Schlüssigkeit des Kundenvorbringens der Erfolg zu versagen sein. Umgekehrt kann die Bank, sofern ein Beratungsfehler schlüssig vorgetragen ist, sich insbesondere dann, wenn der behauptete Fehler in einer Unterlassung – etwa der nicht oder nur unzulänglich erfolgten Aufklärung über Risiken eines Wertpapiers – bestehen soll, nicht auf ein bloßes Bestreiten beschränken. Das Bestreiten ist vielmehr nur erheblich, wenn die Bank möglichst genau darlegt, wie sich die Beratung aus ihrer Sicht vollzogen hat. Unterlässt sie dies, kann die Beschwerde ohne Beweisaufnahme begründet sein. Insoweit dürften vergleichbare Regeln gelten wie im Anwaltshaftungsprozess, wenn es darum geht, ob ein notwendiger Hinweis unterlassen oder fehlerhaft erteilt wurde.33 Eine Beweisaufnahme durch Einholung des Gutachtens eines Sachverständigen kommt in Betracht, wenn – beispielsweise in Schlichtungsverfahren über sog. Schrottimmobilien – der Wert einer Eigentumswohnung streitig ist, oder wenn es darum geht, ob die Prognose über die künftige Entwicklung eines Wertpapiers aufgrund der Marktgegebenheiten bei Abgabe der Prognose berechtigt war. Grundsätzlich untersagt ist dem Ombudsmann nach dem Wortlaut der Nr. 4 Abs. 4 Satz 2 VerfO auch die Erhebung des Beweises durch Augenschein. Ein solcher Beweis ist auch die Abhörung eines Tonbandes, auf dem ein Telefongespräch zwischen Kunde und Bank – etwa über die Erteilung einer Order zum Kauf oder Verkauf eines Wertpapiers – aufgezeichnet wurde.34 Hier könnte sich wegen der in der Regel ohne weiteren Aufwand möglichen Abhörung eines solchen Tonbandes durch den Ombudsmann eine entsprechende Anwendung der Regel über den Urkundenbeweis anbieten. Die Frage ist bislang ungeklärt. c) Ist nach Meinung des Ombudsmanns eine im Schlichtungsverfahren unzulässige Beweisaufnahme durchzuführen und daher an sich von einer Schlichtung abzusehen, kann er den Parteien statt dessen einen Vergleichsvorschlag unterbreiten, um ihnen einen mit Kosten und Mühen verbundenen Prozess vor Gericht zu ersparen. Ähnlich kann der Ombudsmann verfahren, wenn er aufgrund der Rechtslage zu Lasten des Kunden entscheiden müsste, er aber eine solche Entscheidung etwa wegen einer unglücklichen Entwicklung in den Verhältnissen des Kunden, z.B. infolge Krankheit oder Arbeitslosigkeit, die dazu führt, dass der Kunde einen Kredit nicht mehr verein33 Vgl. Fischer in: Zugehör/Fischer/Sieg/Schlee Handbuch der Anwaltshaftung, 2. Aufl. 2006, Rn. 957 ff. 34 Vgl. Zöller/Greger ZPO, 27. Aufl. 2009, § 371 Rn. 1 ff; Zöller/Geimer aaO, § 415 Rn. 2; Eichele in: Saenger (Hrsg.), ZPO, 2. Aufl. 2007, Vor § 415 Rn. 1, 2.
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barungsgemäß bedienen kann, für nicht angemessen hält. Auf diese Weise gelingt es nicht selten, zu einer für beide Seiten befriedigenden Lösung zu kommen. Mit einem solchen Vergleichsvorschlag wird das Schlichtungsverfahren ebenso abgeschlossen wie mit einem Schlichtungsspruch oder der Entscheidung, dass von einer Schlichtung abgesehen wird. Nach dem Wesen eines Vergleichsvorschlags ist dieser für den Kunden und für die Bank ohne Rücksicht auf den Beschwerdewert nur bindend, wenn er von beiden Parteien angenommen wird. 3. Der Schlichtungsspruch a) Ist das Schlichtungsverfahren zulässig, bedarf es keiner im Ombudsmannverfahren unzulässigen Beweisaufnahme und macht der Ombudsmann keinen Vergleichsvorschlag, erlässt er einen Schlichtungsspruch. Dieser ergeht auf der Grundlage der gesetzlichen Bestimmungen, doch darf und muss der Ombudsmann auch Gesichtspunkte der Billigkeit berücksichtigen (Nr. 4 Abs. 4 Satz 4 VerfO). Die Einbeziehung von Billigkeitserwägungen ermöglicht dem Ombudsmann in beachtlichem Maße eine Würdigung der Umstände des Einzelfalls. Hat die Beschwerde des Kunden ganz oder teilweise Erfolg, spricht der Ombudsmann regelmäßig eine Verpflichtung der Bank aus, die z.B. auf die Zahlung eines bestimmten Betrages oder die Rückabwicklung eines Geschäfts, etwa über den Erwerb eines Wertpapiers, gerichtet ist. Möglich ist aber auch eine Entscheidung über den Grund (entsprechend § 304 ZPO) oder ein Feststellungsausspruch. Dieser muss nicht ausdrücklich beantragt werden, weil in jedem Leistungsantrag ein Feststellungsbegehren als ein Minus enthalten ist.35 Auch ein negatives Feststellungsbegehren ist grundsätzlich zulässig, etwa dahin, dass die Bank entgegen ihrer Berühmung nicht oder nur in eingeschränktem Umfang berechtigt ist, eine Vorfälligkeitsentschädigung zu erheben. Der Schlichtungsspruch ergeht schriftlich und enthält eine kurze und verständliche Begründung (Nr. 4 Abs. 4 Satz 6 VerfO). Bei komplexem Sachverhalt mit einer Vielzahl von Anträgen oder bei der Beantwortung schwieriger Rechtsfragen ist die Einhaltung dieser Bestimmung nicht immer ganz leicht. Im Allgemeinen haben Schlichtungsansprüche eine Länge von weniger als einer Seite bis zu zwei Seiten. b) Eine besondere Regelung hat die Empfehlung der Spitzenverbände der deutschen Kreditwirtschaft zum Girokonto für jedermann – sog. ZKA-Empfehlung – gefunden.36 Beschwert sich ein Verbraucher darüber, dass die Bank 35
Vgl. Zöller/Greger (Fn. 32), § 256 Rn. 15c. Der Wortlaut der ZKA-Empfehlung ist abgedruckt bei Schimansky in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Fn. 3), § 47 Rn. 4. 36
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ihm kein Girokonto – zumindest auf Guthabenbasis – einrichtet, überprüft der Ombudsmann, ob die Bank die ZKA-Empfehlung beachtet hat (Nr. 4 Abs. 4 Satz 5 VerfO). Der Schlichtungsspruch beschränkt sich bei einem Erfolg der Beschwerde auf die Feststellung, dass die Bank die ZKA-Empfehlung nicht beachtet hat. Diese Regelung beruht darauf, dass nach ganz überwiegender Meinung der Grundsatz der Vertragsfreiheit es jeder Bank ermöglicht, frei darüber zu entscheiden, ob sie dem Antrag auf Eröffnung eines Girokontos stattgibt oder ein bestehendes Girokonto kündigt, und dass es der bloße Empfehlungscharakter der ZKA-Empfehlung ausschließt, aus ihr einen Anspruch auf Einrichtung oder Beibehaltung eines Girokontos abzuleiten.37 Im Allgemeinen wird ein solcher Schlichtungsspruch von der betroffenen Bank zugunsten des Kunden umgesetzt. Hat die Bank die ZKA-Empfehlung beachtet, bleibt die Beschwerde erfolglos. Der von der Freien Hansestadt Bremen im Bundesrat eingebrachte „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Kreditwesen“,38 der zur gesetzlichen Verankerung eines Rechts auf ein Girokonto auf Guthabenbasis führen soll, und vergleichbare Initiativen haben bislang nicht zu einer gesetzlichen Einschränkung der Vertragsfreiheit der Kreditinstitute im Zusammenhang mit der Eröffnung oder Kündigung von Girokonten geführt. Die in einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ergangene Berufungsentscheidung des Landgerichts Berlin vom 8.5.2008,39 wonach auch ein privates Kreditinstitut einem „unerwünschten“ Kunden ggf. ein Girokonto auf Guthabenbasis einrichten muss, hat sich bisher nicht durchgesetzt. 4. Kosten Nach Nr. 5 Abs. 3 Satz 2 VerfO trägt jede Partei ihre eigenen Kosten und die ihres Vertreters selbst. Dies gilt – wie sich aus Nr. 5 Abs. 3 Satz 1 VerfO ergibt, wonach es den Parteien freigestellt ist, sich in dem (Schlichtungs-)Verfahren sachkundig vertreten zu lassen – nur für solche Kosten, die durch die Einleitung und während des Schlichtungsverfahrens entstanden sind. Soweit es um Kosten geht, die vor Einleitung des Schlichtungsverfahrens angefallen sind, gelten die allgemeinen Vorschriften, insbesondere diejenigen über die positive Forderungsverletzung (§ 280 Abs. 1 BGB) und über den Verzug (§ 280 Abs. 2, § 286 BGB). So hat die Bank, der eine Pflichtverletzung zur Last fällt, die sie zum Schadensersatz verpflichtet, nach den zuletzt genannten Normen grundsätzlich die Kosten zu tragen, die vor Einleitung des
37 38 39
Vgl. Berresheim ZBB 2005, 420 bis 426; Koch WM 2006, 2242 bis 2249 mwN. BR-Drucks. 653/08. 21 S 1/08, WM 2008, 1825.
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Schlichtungsverfahrens nach Eintritt des Verzuges durch die Einschaltung eines Rechtsanwalts entstanden sind. Ferner kann die Bank, die zu Unrecht eine Kontoverbindung gekündigt und eine entsprechende Meldung an die SCHUFA gemacht hat, aus dem Gesichtspunkt der positiven Forderungsverletzung gemäß §§ 249 ff BGB verpflichtet sein, die Kosten zu ersetzen, die dem Kunden durch Telefonate mit der oder Schreiben an die Bank entstanden sind, in denen um „Rückgängigmachung“ der Kündigung und Löschung des SCHUFA-Eintrags nachgesucht wurde. In dem Schlichtungsverfahren hat der Kunde exakt zwischen Kosten, die vor Einleitung des Verfahrens und solchen, die nach dessen Einleitung entstanden sind, zu unterscheiden. Ein immer wieder geltend gemachter Anspruch auf Ersatz für Zeitaufwand steht dem Kunden nach geltendem Recht allerdings regelmäßig nicht zu. 5. Bindungswirkung Der Schlichtungsspruch ist für den Kunden stets ohne jede Bindung. Der Kunde ist durch die Schlichtung im Fall des Unterliegens nicht gehindert, den Beschwerdegegenstand im Umfang des Unterliegens vor Gericht zu bringen (Nr. 4 Abs. 5a Satz 3, Abs. 5b Satz 1 VerfO). Durch das Schlichtungsverfahren erleidet er keinen Nachteil, weil die Verjährung für die Dauer des Schlichtungsverfahrens für die Ansprüche des Beschwerdeführers (jedoch nicht für Ansprüche der Bank, auch nicht für solche, gegen die sich der Kunde mit einem negativen Feststellungsbegehren in einem Schlichtungsverfahren wehrt) 40 nach Nr. 5 Abs. 1 VerfO als gehemmt gilt.41 Will er die Gerichte anrufen und benötigt er hierzu eine Bescheinigung über einen erfolglosen Einigungsversuch vor einer außergerichtlichen Gütestelle, wird ihm diese erteilt (Nr. 4 Abs. 5a Satz 4 VerfO). (Möchte der Kunde vor Beendigung des Schlichtungsverfahrens die Gerichte anrufen und benötigt er hierzu eine Bescheinigung über einen erfolglosen Einigungsversuch vor einer außergerichtlichen Gütestelle, wird ihm diese nach Ablauf von drei Monaten ab Zugang der Beschwerde bei der Kundenbeschwerdestelle auf schriftlichen Antrag erteilt. Mit der Erteilung dieser Bescheinigung ist das [Schlichtungs-] Verfahren beendet [Nr. 4 Abs. 6 VerfO]). Die Bank ist durch einen Schlichtungsspruch nur gebunden, wenn der Beschwerdegegenstand den jeweils nach dem Gerichtsverfassungsgesetz maßgeblichen Höchstbetrag für vermögensrechtliche Klagen vor den Amtsgerichten (nach § 23 Nr. 1 GVG derzeit 5.000 €) nicht übersteigt.42 Schlichtungssprüche in Verfahren mit einem höheren Beschwerdegegenstand entfal40
Vgl. Palandt/Heinrichs BGB, 68. Aufl. 2009, § 204 Rn. 19 in Verbindung mit Rn. 3. Vgl. zusätzlich § 204 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 BGB; dazu Palandt/Heinrichs (Fn. 40), § 204 Rn. 19, 37, 46 ff. 42 Zur dogmatischen Begründung der Bindungswirkung Steuer (Fn. 3), § 3 Rn. 54 bis 60. 41
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ten auch für die Bank keine Bindung (Nr. 4 Abs. 5b Satz 1 VerfO). Diese Voraussetzung liegt auch dann vor, wenn der Kunde gegen die Bank einen Anspruch von mehr als 5.000 € geltend macht, ihm aber lediglich ein Betrag von 3.000 € zugesprochen wird und die Beschwerde wegen des restlichen Anspruchs keinen Erfolg hat. Auch in einem solchen Fall ist die Bank an den Schlichtungsspruch nicht gebunden. Eine derartige Bindung soll über den Wortlaut der Bestimmung hinaus auch ausscheiden, wenn der Kunde von einem über 5.000 € liegenden Anspruch mit der Beschwerde lediglich einen Betrag von 5.000 € oder weniger geltend macht, jedenfalls sofern er nicht verbindlich erklärt, von der Geltendmachung eines weiteren Anspruchs endgültig abzusehen. Die Bemessung des Wertes des Beschwerdegegenstands und damit ggf. eine Bindungswirkung des Schlichtungsspruchs für die Bank richtet sich grundsätzlich nach den Normen der §§ 3 ff ZPO. Insbesondere bleiben Früchte, Nutzungen, Zinsen und Kosten unberücksichtigt, wenn sie als Nebenforderungen geltend gemacht werden (§ 4 Abs. 1 Halbs. 2 ZPO). Kommt die Bank einem sie bindenden Schlichtungsspruch nicht nach, kann der Kunde aus dem Schlichtungsspruch gegen die Bank im Klagewege vorgehen.43 Eine solche Klage müsste vor Gericht ohne weiteres Erfolg haben. Zu derartigen Gerichtsverfahren kommt es jedoch – wenn überhaupt – nur ganz vereinzelt. Klagt der Kunde nach einem ihm günstigen, die Bank bindenden Schlichtungsspruch nicht unter Beschränkung auf diesen Schlichtungsspruch, sondern trägt er einen ergänzten oder sonst veränderten Sachverhalt vor und stellt einen veränderten Antrag, läuft er Gefahr, dass das Gericht das Geschehen anders wertet oder Beweis erhebt und die Klage abweist. Schlichtungssprüche in Verfahren mit einem 5.000 € übersteigenden Beschwerdegegenstand können von den Parteien innerhalb von sechs Wochen ab Zugang durch eine schriftliche Mitteilung an die Kundenbeschwerdestelle beim Bundesverband angenommen werden. Nach Ablauf der Frist teilt die Kundenbeschwerdestelle den Parteien das Ergebnis mit. Mit dieser Mitteilung ist das (Schlichtungs-)Verfahren beendet (Nr. 4 Abs. 5b Satz 2, 4, 5 VerfO).
43
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Bankaufsichtsrecht und öffentliche Förderbanken Thomas Mayen I. Problemstellung Nach § 25a Abs. 1 Satz 1 KWG müssen Institute über eine ordnungsgemäße Geschäftsorganisation verfügen, die die Einhaltung der vom Institut zu beachtenden gesetzlichen Bestimmungen und der betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten gewährleistet. Dies umfasst insbesondere ein angemessenes und wirksames Risikomanagement, das auf der Grundlage von Verfahren zur Ermittlung und Sicherstellung der Risikotragfähigkeit die Festlegung von Strategien sowie die Einrichtung interner Kontrollverfahren mit einem internen Kontrollsystem und einer internen Revision beinhaltet (§ 25a Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 KWG) und die Festlegung eines angemessenen Notfallkonzepts einschließt (§ 25a Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 KWG). Die Ausgestaltung hängt von Art, Umfang, Komplexität und Risikogehalt der Geschäftstätigkeit ab. Seine Angemessenheit und Wirksamkeit ist vom Institut regelmäßig zu überprüfen (§ 25a Abs. 1 Satz 4 KWG). Für die ordnungsgemäße Geschäftsorganisation des Instituts sind die in § 1 Abs. 2 Satz 1 KWG bezeichneten Personen (Geschäftsleiter) verantwortlich (§ 25a Abs. 1 Satz 2 KWG). Nach AT 3 Satz 3 der von der BaFin als Rundschreiben 5/2007 erlassenen MaRisk werden die Geschäftsleiter dieser Verantwortung nur gerecht, wenn das Risikomanagement ihnen ermöglicht, die Risiken zu beurteilen und die erforderlichen Maßnahmen zu ihrer Begrenzung zu ergreifen. Hierbei wird die Notwendigkeit der Alleinverantwortlichkeit der Geschäftsleitung betont; damit sollen satzungsmäßige oder andere Entscheidungsvorbehalte zugunsten Dritter einschließlich des Aufsichtsrats oder der Anteilseigner, die über die typische Aufsichtsfunktion hinaus in die Geschäftsleitung eingriffen, nicht vereinbar sein.1 Öffentlich-rechtliche Förderbanken sind Kreditinstitute, die vom Staat in die Subventionsgewährung eingeschaltet werden, teilweise schon bei der Bewilligung, jedenfalls bei der Abwicklung behördlich bewilligter Subventionen (z.B. durch Gewährung zinsvergünstigter Förderdarlehen). Die Fördervolumina, die Höhe der Zinsvergünstigungen gegenüber dem Markt1 Vgl. Szagunn/Haug/Ergenzinger § 1 KWG, Rn. 74; Boos/Fischer/Schulte/Mattler KWG, 3. Aufl., § 33 Rz. 27.
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niveau (die die eigentliche Subvention ausmachen) und die Fördervoraussetzungen werden bisher durch die Regierung und die zuständigen Ministerien in Form von Förderprogrammen und Förderrichtlinien festgelegt. Bewilligungsentscheidung, Förderprogramme und Förderrichtlinien beinhalten indessen Vorgaben, die für das Risikomanagement der Förderbank von Bedeutung sein können. Verlangt hier § 25a KWG, dass für alle diese Fragen dem Vorstand der Förderbank als ihrem Geschäftsleiter eigenverantwortliche Entscheidungsspielräume verbleiben? Das hiermit aufgeworfene verfassungsrechtliche Problem ist evident: Die Subventionsverwaltung und auch die Förderbanken als Teil der mittelbaren Staatsverwaltung unterliegen den Anforderungen des Demokratiegebots. Danach sind weisungsfreie Räume nur unter sehr engen Voraussetzungen zulässig. Sind diese Voraussetzungen in den geschilderten Fällen nicht erfüllt, hätte dies fatale Auswirkungen: Die öffentliche Fördertätigkeit des Bundes und der Länder könnte nicht durch öffentliche Banken erfolgen, sondern müsste anderen Stellen unmittelbarer oder mittelbarer Staatsverwaltung vorbehalten bleiben, die nicht dem KWG unterliegen.
II. Verfassungsrechtliche Anforderungen In der durch das Grundgesetz verfassten freiheitlichen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland geht alle Staatsgewalt vom Volk aus. Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Volkssouveränität und die daraus folgenden Grundsätze der demokratischen Organisation und Legitimation von Staatsgewalt gehören zu den Grundentscheidungen des Art. 20 Abs. 2 GG, die gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG auch für die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern verbindlich sind.2 1. Das Gebot demokratischer Legitimation von Staatsgewalt Das Gebot demokratischer Legitimation verlangt, dass das Volk einen effektiven Einfluss auf die Ausübung der Staatsgewalt durch die Staatsorgane hat. Deren Akte müssen sich auf den Willen des Volkes zurückführen lassen und ihm gegenüber verantwortet werden.3 Als Ausübung von Staatsgewalt, die demokratischer Legitimation bedarf, stellt sich jedenfalls alles amtliche Handeln mit Entscheidungscharakter dar.
2 Vgl. BVerfGE 9, 268, 281; 47, 253, 272; 83, 60, 71; 93, 37, 66; ebenso jüngst VerfGH NRW, Urteil vom 18.02.2009 – VerfGH 24/08, JURIS Rn. 46. 3 BVerfGE 38, 258, 271; 47, 253, 272; 77, 1, 40; 83, 60, 71; 93, 37, 66; 107, 59, 87.
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Dies sind nicht nur Entscheidungen, die unmittelbar nach außen wirken, sondern auch solche, die nur behördenintern die Voraussetzungen für die Wahrnehmung der Amtsaufgaben schaffen.4 Für die Beurteilung, ob ein hinreichender Grad an demokratischer Legitimation erreicht wird, ist nicht die Form der demokratischen Legitimation staatlichen Handelns entscheidend, sondern deren Effektivität im Sinne eines bestimmten Legitimationsniveaus.5 Dieses kann bei den verschiedenen Erscheinungsformen von Staatsgewalt unterschiedlich ausgestaltet sein. Innerhalb der Exekutive ist auch die Funktionenteilung zwischen der für die politische Gestaltung zuständigen, parlamentarisch verantwortlichen Regierung und der zum Gesetzesvollzug verpflichteten Verwaltung zu berücksichtigen.6 a) Erforderliche Befugnisse der Regierung Die Regierung hat die Aufgabe, in Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung und von ihr getragen, der gesamten Staatstätigkeit eine bestimmte Richtung zu geben und für die Einhaltung dieser Linie durch die ihr unterstellten Instanzen zu sorgen. In jedem Fall erhalten bleiben müssen der Regierung die Befugnisse, die erforderlich sind, damit sie selbständig und in eigener Verantwortung gegenüber Volk und Parlament ihre „Regierungs“Funktion erfüllen kann. Dies verlangt ein Letztentscheidungsrecht der Regierung; „Verantwortung kann nicht tragen, wer in seiner Entscheidung inhaltlich in vollem Umfang an die Willensentscheidung eines anderen gebunden ist“7. b) Legitimationsniveau für die mit dem Gesetzesvollzug befasste Exekutive Für die mit dem Gesetzesvollzug befasste Exekutive fordert das BVerfG jedenfalls für den Bereich der unmittelbaren Staatsverwaltung und der kommunalen Selbstverwaltung eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern.8 Die Ausübung von Staatsgewalt ist dann demokratisch legitimiert, wenn sich die Bestellung der Amtsträger – personelle Legitimation vermittelnd – auf das Staatsvolk zurückführen lässt und das Handeln der Amtsträger selbst eine ausreichende sachlich-inhaltliche Legitimation erfährt, d.h. die Amtsträger im Auftrag und nach Weisung der Regierung handeln und die Regierung
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Vgl. BVerfGE 47, 253, 272 f.; 77, 1, 40; 83, 60, 73; 93, 37, 68; 107, 59, 87. Vgl. BVerfGE 83, 60, 72; 93, 37, 66 f.; 107, 59, 87. Vgl. BVerfGE 83, 60, 71 f.; 93, 37, 66. BVerfGE 9, 268, 281 (unter Bezugnahme auf BayVfGH N.F. Bd. 4 Teil 11, S. 30 ff., 47). Vgl. BVerfGE 47, 253, 275; 52, 95, 130; 77, 1, 40; 83, 60, 72 f.; 93, 37, 66; 107, 59, 87.
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damit in die Lage versetzen, die Sachverantwortung gegenüber Volk und Parlament zu übernehmen.9 aa) Personelle demokratische Legitimation Uneingeschränkt personell legitimiert ist ein Amtsträger, wenn er sein Amt im Wege einer Wahl durch das Volk oder das Parlament oder durch einen seinerseits personell legitimierten Amtsträger oder mit dessen Zustimmung erhalten hat. Wird er von einem Gremium mit nur zum Teil personell legitimierten Amtsträgern bestellt, erfordert die volle demokratische Legitimation, dass die die Entscheidung tragende Mehrheit aus einer Mehrheit unbeschränkt demokratisch legitimierter Mitglieder des Kreationsorgans besteht (Prinzip der doppelten Mehrheit).10 bb) Sachlich-inhaltliche Legitimation In Bezug auf die sachliche Legitimation hat das Bundesverfassungsgericht danach differenziert, in welchem Umfang die Entscheidung typischerweise die verantwortliche Wahrnehmung des Amtsauftrags betrifft.11 – Einer nur abgeschwächten inhaltlichen Legitimation bedarf es lediglich bei Angelegenheiten, die in ihrem Schwerpunkt die Beschäftigten in ihrem Beschäftigungsverhältnis betreffen, typischerweise aber nicht oder nur unerheblich die Wahrnehmung von Amtsaufgaben gegenüber dem Bürger berühren. Für solche Maßnahmen kann der Gesetzgeber vorsehen, dass sie an die Mitbestimmung der Personalvertretung gebunden und ggfs. der Entscheidung einer weisungsunabhängigen Einigungsstelle überlassen werden. – Maßnahmen, die den Binnenbereich des Beschäftigungsverhältnisses betreffen, die Wahrnehmung des Amtsauftrages jedoch typischerweise nicht nur unerheblich berühren, bedürfen eines höheren Maßes an demokratischer Legitimation, die nach dem Prinzip der doppelten Mehrheit hergestellt werden kann. – Innerdienstliche Maßnahmen hingegen, die schwerpunktmäßig die Erledigung von Amtsaufgaben betreffen, unvermeidlich aber auch die Interessen der Beschäftigten berühren, sind stets von so großer Bedeutung für die Erfüllung des Amtsauftrages, dass die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung für sie keine substantielle Einschränkung erfahren darf; solche Maßnahmen dürfen nicht auf Stellen zur Alleinentscheidung übertragen werden, die Parlament und Regierung nicht verantwortlich sind.
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Vgl. BVerfGE 93, 37, 67 f. BVerfGE 93, 37, 67 f. BVerfGE 93, 37, 67 f.
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– Der Amtsauftrag selbst schließlich, d.h. die Ausübung staatlicher Herrschaft gegenüber dem Bürger muss – unbeschadet möglicher Einschränkungen bei Aufgaben von besonders geringem Entscheidungsgehalt – stets den demokratisch legitimierten Amtsträgern vorbehalten sein (sog. Verantwortungsgrenze).12 Hierzu muss das Letztentscheidungsrecht derart legitimierter Amtsträger sichergestellt sein; diese dürfen in ihrer Entscheidung inhaltlich nicht an die Willensentscheidung eines anderen gebunden sein.13 cc) Möglichkeit der Substitution einzelner Legitimationselemente Insbesondere die in ständiger Rechtsprechung wiederholte Aussage des Bundesverfassungsgerichts, aus verfassungsrechtlicher Sicht entscheidend sei nicht die Form der demokratischen Legitimation staatlichen Handelns, sondern deren Effektivität im Sinne eines bestimmten Legitimationsniveaus (oben vor aa), hat immer wieder die Frage nach der Möglichkeit der Substitution einzelner Legitimationselemente durch andere, das Legitimationsniveau sichernde Mittel aufgeworfen. Insoweit sind die Grenzen allerdings nicht beliebig.14 Zum einen kann eine Substitution fehlender sachlich-inhaltlicher Legitimation durch eine striktere Gesetzesbindung in Betracht kommen. Erforderlich ist allerdings, dass die Kompetenzen gegenständlich und auch ihrem Umfang nach eng begrenzt sind und die zu treffenden Entscheidungen inhaltlich soweit vorstrukturiert sind, dass sie sich auf „die messbar richtige Plan- oder Gesetzesdurchführung“ beschränken.15 Zum anderen muss auch hier stets die Verantwortungsgrenze (oben bb) gewahrt werden. Nach hier vertretener Auffassung kann schließlich eine formale Weisungsgebundenheit unter bestimmten Voraussetzungen durch eine faktische Ingerenz ersetzt werden.16 2. Bedeutung für eigenverantwortliche Entscheidungsspielräume der Geschäftsleiter öffentlicher Förderbanken Mit diesen Maßstäben sind eigenverantwortliche Entscheidungsspielräume der Geschäftsleiter öffentlicher Förderbanken bei der Ausführung und Festlegung öffentlicher Förderprogramme nicht vereinbar. 12
Vgl. BVerfGE 83, 60, 73 f.; 93, 37, 67. BVerfGE 9, 268, 281 (unter Berufung auf BayVfGH N.F. Bd. 4 Teil 11, S. 30 ff., 47). 14 In diesem Sinne auch Böckenförde in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, § 22 Rn. 23 („Sie können sich zwar keineswegs vollständig ersetzen, wohl aber in einem gewissen Umfang substituieren“ – Hervorhebung nicht i.O.). 15 So ausdrücklich BVerfGE 83, 60, 73 f.; 93, 37, 67. 16 Dazu im Einzelnen Mayen DÖV 2004, 45, 49, 50. 13
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Die Bewilligungsentscheidungen sind amtliche Entscheidungen der Staatsgewalt, die unmittelbar nach Außen wirken. Hier greift die Verantwortungsgrenze. Die Ausübung staatlicher Herrschaft gegenüber dem Bürger muss stets Amtsträgern vorbehalten sein, die in Verantwortung gegenüber Parlament und Regierung handeln. Für den Geschäftsleiter der Förderbank ist dies nicht der Fall. Bei der Aufstellung der Förderprogramme geht es bereits um originäre Aufgaben der Regierung. Dieser müssen in jedem Fall diejenigen Entscheidungsbefugnisse erhalten bleiben, die notwendig sind, damit sie selbständig und in eigener Verantwortung gegenüber Volk und Parlament ihre „Regierungs“-Funktion erfüllen kann. Dies setzt selbständige politische Entscheidungsgewalt der Regierung voraus. Ein Letztentscheidungsrecht einer anderen Stelle ist damit nicht vereinbar. Die Förderrichtlinien schließlich sind Verwaltungsvorschriften, d.h. Weisungen in generell-abstrakter Form einer vorgesetzten an eine nachgeordnete Stelle. Auch solche Weisungen sind Handlungen mit Entscheidungscharakter.17 In der Typologie des Bundesverfassungsgerichts handelt es sich um innerdienstliche Maßnahmen, die nicht nur schwerpunktmäßig, sondern ausschließlich die Erledigung von Amtsaufgaben betreffen. Auch bei der Wahrnehmung solcher Aufgaben darf die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung keine substanzielle Einschränkung erfahren; sie dürfen nicht Stellen zur Alleinentscheidung übertragen werden, die Parlament und Regierung nicht verantwortlich sind. 3. Ausnahmen vom Erfordernis demokratischer Legitimation Solche Entscheidungsspielräume der Geschäftsleiter öffentlicher Förderbanken können auch nicht unter einen der (begrenzten) Ausnahmetatbestände gefasst werden, die das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die Anforderungen demokratischer Legitimation staatlichen Handelns zugelassen hat.18 a) Funktionale Selbstverwaltungseinrichtungen Die jüngste Ausnahme ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Gesetze zum Lippeverband und zur Emschergenossenschaft.19 Allerdings ist die Bedeutung dieser Aussagen auf den Bereich der funktionalen Selbstverwaltung beschränkt. Eine Verallgemeinerung dieser Grund-
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Hierzu VerfGH Berlin, Urteil vom 21.10.1999 – VerfGH 42/99, NVwZ 2000, 794. Überblick hierzu etwa bei Mayen DÖV 2004, 45 ff. BVerfGE 107, 59, 91 ff. Im Einzelnen dazu Mayen aaO, S. 47 bis 51.
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sätze in Richtung auf eine allgemeine Einschränkung des Verbots weisungsfreier Räume für den Bereich der mittelbaren Staatsverwaltung durch Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts ist nicht zulässig. Sie findet in den Urteilsgründen des Bundesverfassungsgerichts keine Stütze. Das Gericht stellt darauf ab, sowohl das Demokratieprinzip in seiner traditionellen Ausprägung einer ununterbrochen auf das Volk zurückzuführenden Legitimationskette für alle Amtsträger als auch die funktionale Selbstverwaltung als organisierte Beteiligung der sachnahen Betroffenen an den sie berührenden Entscheidungen verwirklichten die sie verbindende Idee des sich selbst bestimmenden Menschen in einer freiheitlichen Ordnung. Hierauf bezogen heißt es dann: „Das demokratische Prinzip des Art. 20 Abs. 2 GG erlaubt deshalb, durch Gesetz […] für abgegrenzte Bereiche der Erledigung öffentlicher Aufgaben besondere Organisationsformen der Selbstverwaltung zu schaffen. Dadurch darf zum einen ein wirksames Mitspracherecht der Betroffenen geschaffen 20 und verwaltungsexterner Sachverstand aktiviert werden. Mit der Übertragung der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben in Formen der Selbstverwaltung darf der Gesetzgeber zum anderen das Ziel verfolgen, einen sachgerechten Interessenausgleich zu erleichtern, und so dazu beitragen, dass die von ihm beschlossenen Zwecke und Ziele effektiver erreicht werden.“21 Es ist nicht erkennbar, dass es sich bei der Tätigkeit öffentlicher Förderbanken um einen solchen Fall funktionaler Selbstverwaltung handeln würde. Eine organisierte Beteiligung der sachnahen Betroffenen an den sie berührenden Entscheidungen, die ihnen ein wirksames Mitspracherecht schaffen und verwaltungsexterner Sachverstand aktivieren soll,22 findet bei der Übertragung eines staatlichen Förderauftrags auf eine Förderbank nicht statt. b) Fälle geringer politischer Tragweite Vor allem in der frühen Rechtsprechung des BVerfG wurde erwogen, ministerialfreie Räume bei Verwaltungsentscheidungen mit geringer politischer Tragweite zuzulassen.23 Der 1. Senat hat diesen Gedanken sehr viel später (1990) aufgegriffen und hierüber die Weisungsunabhängigkeit der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften gerechtfertigt.24 Der 2. Senat hat ihn allerdings nur sehr modifiziert übernommen. Nach der Entscheidung zum Ausländerwahlrecht für die Hamburgischen Bezirksvertretungen kann dies nur in Betracht kommen, „wenn Kompetenzen gegenständlich im Ein-
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Gerade dies ist das Wesen funktionaler Selbstverwaltung. BVerfGE 107, 59, 91, 92 – Hervorhebungen nicht im Original. BVerfGE 107, 59, 92. BVerfGE 9, 268, 282. BVerfGE 83, 130, 150.
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zelnen und auch ihrem Umfang nach eng begrenzt sind und die zu treffenden Entscheidungen inhaltlich soweit vorstrukturiert sind, dass sie sich etwa auf die messbar richtige Plan- oder Gesetzesdurchführung beschränken“25. Im vorliegenden Zusammenhang muss dies nicht weiter vertieft werden. Denn es kann keine Rede davon sein, dass die Fördertätigkeit öffentlicher Förderbanken stets von geringer politischer Tragweite wäre. c) Keine Ausnahmen für die staatliche Leistungsverwaltung Demgegenüber hat das Bundesverfassungsgericht jenseits des Bereichs der klassischen Eingriffsverwaltung nicht die Anforderungen an das gebotene demokratische Legitimationsniveau reduziert. Im Gegenteil: In der Entscheidung zum Mitbestimmungsgesetz Schleswig-Holstein stellt es darauf ab, ob der Amtsauftrag selbst, d.h. die „Ausübung staatlicher Herrschaft gegenüber dem Bürger“ betroffen ist.26 Dies aber kann keineswegs gleichgesetzt werden mit dem Bereich der klassischen Eingriffsverwaltung. Wesentlich für die Ausübung der Grundrechte sind nicht nur Eingriffe des Staates in Freiheit und Eigentum; auch Maßnahmen staatlicher Leistungsgewährung können von teilweiser erheblicher Grundrechtsintensität sein. Aus diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht eine Ausdehnung des Gesetzesvorbehalts auch auf den Bereich der Leistungsverwaltung bestätigt.27 Die dafür maßgeblichen Gründe sind auch für die vorliegende Frage zulässiger Ausnahmen vom Gebot demokratischer Legitimation einschlägig. Denn auch die sog. Wesentlichkeitstheorie begründet das Bundesverfassungsgericht mit dem Gebot demokratischer Legitimation der Entscheidung (die hier freilich durch das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren hergestellt wird).28 d) Zwingende verfassungsrechtliche Gegengründe? Über die vorgenannten Fälle hinaus sind Ausnahmen vom Verbot weisungsfreier Räume bisher nur im Schrifttum befürwortet worden. Die insoweit zu beachtenden Anforderungen werden unterschiedlich formuliert. Umstritten ist insbesondere, ob jeder sachliche zwingende Gegengrund ausreicht oder ob es sich verfassungsrechtliche zwingende Gegengründe handeln muss.29 In Anbetracht der Verwurzelung des Grundsatzes der Weisungsgebundenheit der Verwaltung in dem staatstragenden Fundamentalprinzip des Demokratiegebots genügt nach hier vertretener Auffassung nicht 25 26 27 28 29
BVerfGE 83, 60, 74; ebenso BVerfGE 93, 37, 67. BVerfGE 93, 37, 67. BVerfGE 40, 237, 249; 49, 89, 127; 58, 257, 277; 76, 1, 75; 77, 170, 230 f. BVerfGE 40, 237, 249. Überblick bei Mayen DÖV 2004, 45, 50 mwN.
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das Vorliegen besonderer sachlicher oder gewichtiger Gründe. Vielmehr muss es sich um zwingende Gründe handeln, die sich gerade aus verfassungsrechtlichen Strukturelementen ableiten lassen.30 Es genügt, ist aber auch geboten, dass andere verfassungsrechtliche Gegengründe eine Durchbrechung des Gebots sachlich-inhaltlicher Legitimation unabweisbar machen. Die (hier zunächst unterstellten) Erfordernissen des Bankaufsichtsrechts, namentlich der Eigenverantwortlichkeit des Geschäftsleiters bei der Erfüllung der Aufgaben des Risikomanagements und der Risikokontrolle gem. § 25a KWG, erfüllen diese Anforderungen nicht. Selbst wenn man dies als gesetzlich gebotenen Inhalt des KWG voraussetzt, handelt es sich um eine einfachgesetzlich begründete Position, die das vorrangige Verfassungsrecht nicht aushebeln kann. Für die öffentlichen Banken der Länder wird dem vielfach der Einwand entgegengehalten, das KWG sei als Bundesgesetz gemäß Art. 31 GG vorrangig und damit für den Landesgesetzgeber nicht disponibel. Diese Erwägung ist verfassungsrechtlich nicht haltbar. Sie blendet zu Unrecht die Frage aus, ob denn § 25a KWG seinerseits mit den Anforderungen des Demokratiegebots vereinbar ist. Eben dieser Frage kann weder der Landes- noch der Bundesgesetzgeber ausweichen. Den Ländern ist die Verpflichtung auf das Demokratiegebot nicht (nur) durch Landesverfassungsrecht, sondern bereits durch das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG vorgegeben.31 Diese Anforderungen des Demokratiegebots gelten als bundesverfassungsrechtliche Anforderungen nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern. Gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG sind die Grundentscheidung des Art. 20 Abs. 2 GG auch für die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern verbindlich. Zu diesen Grundsätzen gehören auch die Volkssouveränität und die daraus folgenden Grundsätze der demokratischen Organisation und Legitimation von Staatsgewalt.32 Schon aus diesem Grund geht es bei einer Kollision von Anforderungen des KWG und Demokratiegebot nicht um eine Kollision von Bundes(gesetzes)recht und Landesverfassungsrecht, bei der sich wegen Art. 31 GG die bundesgesetzlichen Anforderungen des KWG durchsetzen würden.33 Vielmehr kollidiert hier einfaches Gesetzesrecht mit (höherrangigem) Bundesverfassungsrecht. Die Länder wären deshalb kraft Bundesverfassungsrechts gehindert, eine landesgesetzliche Regelung zu treffen, die den (vermeintlichen) Vorgaben des KWG Rechnung trägt, hiermit aber gegen das Demokratiegebot des Grundgesetzes (hier in Gestalt des Verbots weisungsfreier Räume) verstieße. 30
Mayen DÖV 2004, 45, 50. BVerfGE 83, 60, 71; 93, 37, 66. 32 Vgl. BVerfGE 9, 268, 281; 47, 253, 272, 83, 60, 71; 93, 37, 66; ebenso jüngst VerfGH NRW, Urteil vom 18.02.2009 – VerfGH 24/08, JURIS Rn. 46. 33 Zum Vorrang von Bundesgesetzen auch vor Landesverfassungsrecht: BVerfGE 36, 342, 366. 31
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Auch für den Bundesgesetzgeber kann diese verfassungsrechtliche Perspektive nicht ausgeblendet werden. Gerade wenn man sich den Vorrang des Bundesgesetzes gegenüber Landesrecht vor Augen hält (und das bedeutet auch: die Geltung des bundesgesetzlichen Rechtsbefehls in den Ländern), darf der Bundesgesetzgeber nur solche Regeln treffen, die mit den in Bund und Ländern verbindlichen Vorgaben des GG vereinbar sind. Denn auch der Bundesgesetzgeber ist den Bindungen des höherrangigen Bundesverfassungsrechts unterworfen. Dies bedeutet konkret: Der Bundesgesetzgeber darf im KWG keine Regeln erlassen, die für öffentliche Förderbanken (des Bundes wie der Länder) dazu führen, dass dem Geschäftsleiter der Förderbank weisungsfreie Räume eingeräumt werden müssen, die mit dem Demokratiegebot des Grundgesetzes nicht vereinbar sind. Das KWG muss den Vorrang des Verfassungsrechts beachten, nicht steht umgekehrt das Verfassungsrecht unter dem Vorbehalt seiner Vereinbarkeit mit dem KWG.34
III. Konsequenzen für die Einbeziehung öffentlicher Förderbanken in die staatliche Fördertätigkeit Aus alledem folgt, dass eine bankaufsichtsrechtliche Vorgabe, wonach die Geschäftsleiter öffentlicher Förderbanken eigenverantwortliche Entscheidungsspielräume bei der Ausführung und Festlegung der Förderprogramme haben müssen, verfassungswidrig wäre. Noch offen ist damit, inwieweit das Bankaufsichtsrecht tatsächlich künftig der Einbeziehung öffentlicher Förderbanken in die staatliche Fördertätigkeit entgegensteht oder ob es zumindest einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich ist. 1. Bankaufsichtsrechtliche Anforderungen des KWG Zum einen bestehen durchgreifende Zweifel gegenüber der These, dass die einschlägigen Bestimmungen des KWG tatsächlich Bindungen öffentlicher Förderbanken durch Förderprogramme und Förderrichtlinien ausschließen. Dies kann in diesem Rahmen aus Platzgründen nicht abschließend untersucht werden. An dieser Stelle können nur thesenartig die Haupteinwände aufgezeigt werden. – § 25a KWG enthält nur Anforderungen an die Organisation eines Kreditinstituts. Derartige organisationsrechtliche Bindungen schließen materiellrechtliche Vorgaben für die Tätigkeit des Instituts jedenfalls dem Grundsatz nach nicht aus. Die Grenze wäre erst dort erreicht, wenn durch
34 Zur Geltung des Art. 31 GG nur für gültiges Bundesrecht vgl. etwa P. Huber in: Sachs, Grundgesetz, Art. 31 Rn. 5.
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Förderprogramme die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Förderbank überfordert werden, ohne dass zugleich entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt werden, namentlich wenn die Bank hierdurch nicht mehr über ausreichende Eigenmittel verfügt. Ob ein solcher Fall allerdings überhaupt eintreten kann, ist schon deshalb fraglich, weil die Gewährträger bei öffentlichen Förderbanken im Rahmen ihrer Anstaltslast sicherstellen müssen, dass die Förderbank ihre Aufgaben erfüllen kann; ihre Aufgaben kann sie aber dann nicht erfüllen, wenn sie nicht mehr über die nach § 10 KWG erforderlichen Eigenmittel verfügt. Denn die Förderbank wird bei der Aufgabenerfüllung als Kreditinstitut tätig und muss deshalb die hierfür geltenden gesetzlichen Vorgaben einhalten. – Auch der Grundsatz der Alleinverantwortlichkeit der Geschäftsleiter schließt externe Bindungen durch Rechtsvorschriften nicht aus. So ist anerkannt, dass der Grundsatz der Alleinverantwortlichkeit nicht isoliert von vielfältigen Handlungsverpflichtungen im Rahmen gesetzlicher, vertraglicher, kooperativer oder sozialer Natur betrachtet werden kann. In den Erläuterungen der Bafin zur MaRisk heißt es deshalb: „Vom Einholen eines weiteren Votums kann auch dann abgewichen werden, wenn die Entscheidungsabläufe durch Dritte so stark normiert werden, dass es zu einer Standardisierung der Abläufe im Institut und damit zu einer Beschränkung der Ermessensspielräume bei der Kreditvergabe kommt.“35 Die Trennlinie zwischen Alleinverantwortlichkeit des Vorstands und zulässigen Mitwirkungsrechten einschließlich Zustimmungsvorbehalten anderer Personen oder Organe wird in der Literatur dort gesehen, wo der Unternehmenserfolg des Instituts aufgrund des Erfordernisses der Mitwirkung eines anderen Organs spürbar beeinträchtigt oder die Einhaltung bankaufsichtsrechtlicher Anforderungen infrage gestellt sein kann.36 Solche Formeln sind auf allgemeine Geschäftsbanken zugeschnitten und können kaum auf öffentliche Förderbanken übertragen werden. Während bei einer privaten Geschäftsbank das Geschäft regelmäßig auf die Gewinnerzielung gerichtet ist, ist der Geschäftszweck einer Förderbank die Unterstützung der staatlichen Förderpolitik. Externe Vorgaben des Staates in Bezug auf diese Unterstützung sind hierin notwendig eingeschlossen. – Das KWG selbst setzt die Existenz solcher öffentlichen Förderbanken durchaus voraus, wie etwa aus § 19 Abs. 3 KWG abgeleitet werden kann. Damit hat der Gesetzgeber auch die für Förderbanken typischen Eigenarten gebilligt. Zu ihnen gehört namentlich die staatliche Bestimmung der öffentlichen Förderaufgabe und des Förderziels. Sie ist den öffentlichen Förderbanken geradezu begriffsimmanent. Öffentliche Förderbanken lei35 36
Erläuterungen zu den MARisk i.d.F. vom 30.10.2007, S. 25. Vgl. Fischer in: Boos/Fischer/Schulte/Mattler, KWG, 3. Aufl., § 33 Rz. 27.
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ten ihre Existenzberechtigung allein aus dem Förderauftrag ab. Anstaltslast und Gewährträgerhaftung sind beihilfenrechtlich untrennbar daran geknüpft, dass es sich bei den Förderbanken um Stellen staatlicher Förderpolitik und nicht um Institute handelt, die unabhängig vom Förderauftrag Bankgeschäfte wie eine Geschäftsbank betreiben.37 Die Teilnahme am Fördergeschäft ist damit keine der Geschäftsleitung vorbehaltene „strategische Entscheidung“, sondern eine sämtlichen Entscheidungsspielräumen der Geschäftsleitung vorgelagerte Aufgabenzuweisung. Wenn aber der öffentliche Förderauftrag als gesetzlich vorgegebene Aufgabe die bankaufsichtsrechtliche Eigenständigkeit des Geschäftsleiters bei Risikomanagement und Risikosteuerung nicht unzulässig einschränkt, dann gilt dies auch nicht für die Konkretisierung dieses Förderauftrags durch Vorgabe von Förderzielen und Fördergegenständen in den Förderprogrammen. Wenn der Gesetzgeber diese Förderziele und -gegenstände sogleich im Gesetz geregelt hätte, wäre dies bankaufsichtsrechtlich ebenso hinzunehmen wie die Vorgabe der Förderaufgaben in gesonderten Förderprogrammen und Förderrichtlinien. 2. Zulässigkeit verfassungsrechtlich unbedenklicher Entscheidungsspielräume von legitimierten Organen der Förderbanken Zum anderen wäre es verfassungsrechtlich unbedenklich, Entscheidungen über die Festlegung der Förderprogramme und Förderrichtlinien, die relevant für die Risikosteuerung der öffentlichen Förderbank sind, zwar nicht an die Zustimmung des Geschäftsleiters der Bank zu knüpfen, wohl aber an die Zustimmung solcher Vertreter in den Organen der Bank, die vom Bund bzw. Land hierin entsendet worden sind. Diese Personen können – ungeachtet ihrer Eigenschaft als Mitglieder dieses Organs kraft demokratischer Legitimation handeln. So hat es der Verfassungsgerichtshof von Berlin in seiner Entscheidung über das Gesetz zur Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe für die erforderliche demokratische Legitimation ausreichen lassen, dass legitimationsbedürftige Entscheidungen einer privaten Aktiengesellschaft an die Zustimmung eines Aufsichtsratsausschusses gekoppelt sind, in dem vom Land Berlin entsandte (und damit abberufbare) Vertreter entscheidenden Einfluss haben. Die Landesvertreter nehmen diese Aufgabe entweder infolge Entsendung durch das Land
37 Vgl. hierzu Ziff. 2a) des Dritten Teils der sog. Verständigung II zwischen der Europäischen Kommission und der Bundesregierung (Entscheidung der Kommission vom 27.3. 2002 C (2002) 1286). Danach müssen Förderinstitute „auf die Unterstützung der Strukturund Wirtschaftspolitik sowie der Sozialpolitik und der öffentlichen Aufgaben ihrer staatlichen Träger ausgerichtet“ sein; ihre öffentlichen Förderaufgaben müssen in der „Durchführung und Verwaltung von Fördermaßnahmen im staatlichen Auftrag“ bestehen.
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oder als parlamentarisch verantwortliche Minister wahr. Insofern handeln sie – entsprechend den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts – als Personen, die Parlament und/oder Regierung des Landes verantwortlich sind.38 Es ist nicht erkennbar, weshalb diese Grundsätze nicht für Anstalten des öffentlichen Rechts gelten sollen, denen die Verpflichtung auf eine öffentlichen Aufgabe – anders als bei einer juristischen Person des Privatrechts – durch Gesetz und nicht nur durch (von der Gesellschaft änderbare) Satzung vorgegeben ist. Aufgrund der Verpflichtung der Aufgabe der Förderbank auf Landesaufgaben ist die Mitwirkung der Landesvertreter in den Organen der Bank Teil ihres auf die Wahrnehmung von Landesaufgaben verpflichteten Amtsauftrags, nicht hiervon getrennte persönliche Tätigkeit.
IV. Schluss Das KWG mag zu Recht als Grundgesetz des Bankrechts bezeichnet werden. Verfassungsrechtliche Qualität kommt ihm aber selbstverständlich nicht zu. Unter Berufung auf das KWG können auch weisungsfreie Räume bei öffentlichen Förderbanken nicht gerechtfertigt werden. Förderbanken sind Teil der mittelbaren Staatsverwaltung und unterscheiden sich in diesem Punkt grundlegend von „normalen“ Geschäftsbanken. Sie unterliegen damit den Anforderungen des Gebots demokratischer Legitimation nicht anders als andere Anstalten, Körperschaften oder Stiftungen des öffentlichen Rechts auch. Insoweit vermittelt ihnen ihre Eigenschaft als Kreditinstitut keinen verfassungsexemten Raum. Entscheidungsspielräume der Bank bestehen daher nur, soweit das Verfassungsrecht dies zulässt, nicht das KWG dies fordert. Sie sind nur für demokratische legitimierte Vertreter in den Organen der Bank möglich, nicht hingegen für den Geschäftsleiter.
38 VerfGH Berlin, Urteil vom 21.10.1999 – VerfGH 42/99, NVwZ 2000, 794, 795; dazu Mayen DÖV 2004, 45, 51; ders. DÖV 2001, 110, 115.
Die Zahlung von debitorischen Konten – ein Fall der Gläubigerbenachteiligung im Sinne des § 129 InsO? Nina Polt
Die Frage der anfechtungsrechtlichen Behandlung von Zahlungen zu Lasten eines debitorischen Kontos betrifft die Schnittstelle zwischen dem Insolvenzrecht und dem Bankrecht. Beides sind Rechtsgebiete, denen sich Achim Krämer in den vergangenen Jahren mit Interesse gewidmet hat. Im Dialog sowohl mit dem IX. als auch mit dem XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat Achim Krämer sich um die Fortentwicklung der Rechtsprechung auf beiden Gebieten verdient gemacht. Dies bietet Anlass, sich im Rahmen dieser Festschrift mit einem bank- und insolvenzrechtlichen Thema zu befassen, das den Bundesgerichtshof in den vergangenen Jahren mehrfach beschäftigt, in der juristischen Diskussion jedoch bislang wenig Beachtung gefunden hat. Erörtert werden soll die Frage, ob eine Zahlung, die ein Schuldner aus Kreditmitteln vornimmt, seine Gläubiger benachteiligt und insolvenzrechtlich anfechtbar ist. Der IX. Senat des Bundesgerichtshofs bejaht dies in Fällen einer vertraglich vereinbarten Kreditgewährung, während es im Falle einer bloß geduldeten Kontenüberziehung an einer unmittelbaren Benachteiligung der Gläubiger fehlen soll. Untersucht wird in dem folgenden Beitrag, was der Ansatz für eine solche Differenzierung ist und ob diese Unterscheidung – insbesondere unter Berücksichtung der ratio der Insolvenzanfechtung – sachgerecht ist.
I. Die Zahlung von debitorischen Konten: Vertraglich vereinbarte oder geduldete Überziehung? Was dem juristischen Laien kaum jemals bewusst ist, bietet dem Bundesgerichtshof einen Ansatzpunkt für eine grundlegende Weichenstellung: Die Frage, ob die Zahlung von einem debitorischen Konto sich innerhalb eines zuvor vereinbarten Kreditrahmens hält oder von der kontoführenden Bank lediglich geduldet wird. Diese Unterscheidung ist in vielen Fällen nicht so eindeutig, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag. Schwierigkeiten bereiten die Fälle, in denen der Kunde einen ihm in der Vergangenheit eingeräumten Kreditrahmen überzieht.
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Der Bundesgerichtshof hat wiederholt entschieden,1 dass die Überziehung eines bereits eingeräumten Kreditrahmens vertraglich vereinbart werden kann.2 In diesem Fall entsteht ein Anspruch des Kunden auf Auszahlung der zugesagten Kreditmittel.3 Anders ist die Rechtslage nach Auffassung des Bundesgerichtshofs in den Fällen einer lediglich geduldeten Kontenüberziehung: Die bloße Duldung einer Kontenüberziehung soll dem Kunden keinen Anspruch auf Kredit geben.4 Dagegen ist eingewendet worden, bei der geduldeten Überziehung werde eine „juristische Sekunde“ vor der Ausführung der Zahlungsanweisung durch das Kreditinstitut zumindest konkludent ein Darlehensvertrag geschlossen und damit ein Anspruch des Kunden auf Auszahlung der Darlehensvaluta begründet.5 Dieser Auffassung hat der Bundesgerichtshof eine Absage erteilt. Im Falle der ungenehmigten Kontenüberziehung bestehe vor der im Belieben der Bank stehenden Durchführung der Zahlungsanweisung – die zugleich die konkludente Annahme des Kundenangebots auf Abschluss des Darlehensvertrags darstelle – kein Anspruch auf Kredit, sondern lediglich eine Chance, dass die Bank die Überziehung dulde.6 Zu klären ist danach im jeweiligen Einzelfall, ob der Kunde und die Bank vor Ausführung des Überweisungsauftrags eine Vereinbarung über eine weitere Darlehensgewährung getroffen haben. Dies ist in der Praxis häufig mit Schwierigkeiten verbunden, da es an einer ausdrücklichen Darlehensvereinbarung oftmals fehlt. Das Verhalten der Parteien ist in diesem Fall auf eine konkludente Darlehensabrede zu prüfen. Den konkludenten Abschluss eines Darlehensvertrags hat der Bundesgerichtshof etwa in dem Fall angenommen, in dem die Bank den Schuldner auffordert, eine Überweisung zu Lasten eines im Soll befindlichen Kontos vorzunehmen, und der Kunde einen entsprechenden Überweisungsauftrag erteilt.7
1 BGH, Urt. v. 17.6.1999 – IX ZR 62/98, NJW 1999, 3780/3781; Urt. v. 22.1.1998 – IX ZR 99/97, WM 1998, 569/571; mwN. 2 Der in § 493 Abs. 1 BGB legaldefinierte Begriff des Überziehungskredits wird oftmals – juristisch ungenau – auch für die nur geduldete Überziehung eines vereinbarten Kreditlimits verwandt. 3 BGH, Urt. v. 28.2.2008 – XI ZR 213/06, NJW-RR 2008, 919 ff. 4 BGH, Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, BGHZ 170, 276/281; Urt. v. 29.3.2001 – IX ZR 34/00, BGHZ 147, 193/202; Urt. v. 24.1.1985 – IX ZR 65/84, BGHZ 93, 315/325. 5 Grunsky JZ 1985, 490/491; Wagner ZIP 985, 849/853; Peckert ZIP 1986, 1232/1234; Mock ZInsO 2007, 561/562; Spliedt NZI 2007, 228 f. 6 BGH, Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, BGHZ 170, 276/282. 7 BGH, Urt. v. 28.2.2008 – IX ZR 213/06, NJW-RR 2008, 919 ff.
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II. Unmittelbare Gläubigerbenachteiligung durch Zahlung zu Lasten eines debitorischen Kontos Die Frage, ob eine Zahlung zu Lasten eines debitorischen Kontos die Gläubiger des Kunden benachteiligt, ist von entscheidender Bedeutung für die Behandlung einer solchen Zahlung im Insolvenzfall. Nur dann, wenn die Gläubiger des Insolvenzschuldners durch die Zahlung objektiv benachteiligt werden, kommt eine Insolvenzanfechtung – gleich aus welchem Anfechtungsgrund – in Betracht, § 129 Abs. 1 InsO. 1. Begriff der unmittelbaren Gläubigerbenachteiligung Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs liegt eine unmittelbare Gläubigerbenachteiligung vor, wenn durch die fragliche Handlung entweder die Schuldenmasse vermehrt oder die Aktivmasse verkürzt und dadurch der Zugriff auf das Schuldnervermögen vereitelt, erschwert oder verzögert wird,8 wenn sich mit anderen Worten die Befriedigungsmöglichkeiten der Insolvenzgläubiger ohne die Handlung bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise günstiger gestaltet hätten.9 2. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Der Bundesgerichtshof differenziert für die Frage, ob eine Zahlung zu Lasten eines debitorisch geführten Kontos die Insolvenzgläubiger benachteiligt, zwischen den Fällen der vertraglich vereinbarten und der geduldeten Überziehung. Für den Fall einer lediglich geduldeten Überziehung hat der Bundesgerichtshof eine Gläubigerbenachteiligung in einer Grundsatzentscheidung im 170. Band verneint10. En passant hat er – ohne dies ausdrücklich zu erwähnen – bereits in einer Entscheidung aus dem Jahr 200411 im Falle einer vertraglich vereinbarten Überziehung eine Gläubigerbenachteiligung angenommen. Diese Auffassung hat er in späteren Entscheidungen bestätigt.12
8 BGH, Urt. v. 10.1.1985 – IX ZR 2/84, WM 1985, 427/428; Urt. v. 17.6.1999 – XI ZR 176/98, NJW 1999, 2969/2970. 9 BGH, Urt. v. 19.9.1988 – II ZR 255/87, BGHZ 105, 168/187; Urt. v. 11.11.1993 – IX ZR 257/92, BGHZ 124, 76/78 f.; Urt. v. 27.5.2003 – IX ZR 169/02, ZIP 2003, 1506/1508. 10 Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, BGHZ 170, 276 ff. 11 Urt. v. 22.1.2004 – IX ZR 39/03, BGHZ 157, 350 ff. 12 BGH, Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, BGHZ 170, 276/280; Urt. v. 28.2.2008 – IX ZR 213/06, NJW-RR 2008, 919/920.
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a) Geduldete Überziehung In den Fällen einer nur geduldeten Kontoüberziehung fehlt es nach Auffassung des Bundesgerichtshofs an einer unmittelbaren13 Gläubigerbenachteiligung.14 Bei der ungenehmigten Kontenüberziehung bestehe vor der – im Belieben der Bank stehenden – Durchführung der Zahlungsanweisung kein Anspruch des Schuldners auf den Kredit, sondern nur die Chance, dass die Bank die Überziehung dulde.15 Die zusätzliche Liquidität, die der Schuldner durch eine geduldete Kontenüberziehung erhalte, sei daher kein den Insolvenzgläubigern haftendes Vermögen, solange der fragliche Betrag nicht an den Schuldner ausbezahlt oder auf ein im pfändbaren Bereich geführtes Konto übertragen werde.16 Ob es sich insoweit tatsächlich nur um eine – sich im Vermögen des Schuldners nicht niederschlagende – Chance handelt, erscheint fraglich: Die Finanzverwaltung vertritt die Auffassung, dass der Kunde regelmäßig davon ausgehen darf, dass die Bank eine Überziehung der vereinbarten Kontokorrentlinie bis zu 15 % duldet.17 b) Vertraglich vereinbarte Überziehung Haben der Kunde und die Bank eine Überziehung der Kreditlinie vertraglich vereinbart, entsteht ein Anspruch auf Auszahlung des Darlehens, der nach Auffassung des Bundesgerichtshofs vom Insolvenzbeschlag erfasst wird. Durch die Tilgung einer Gläubigerforderung mit den gewährten Darlehensmitteln werde das Aktivvermögen des Schuldners zu Lasten der übrigen Insolvenzgläubiger verringert, wenn die Masse im eröffneten Verfahren nicht zur Befriedigung sämtlicher Gläubiger ausreiche.18 Man mag hiergegen einwenden, die Entscheidung des Schuldners, zugunsten eines bestimmten Gläubigers eine Kreditverbindlichkeit einzugehen, sei eine höchstpersönliche, mit der Folge, dass die Darlehensmittel nicht zur Befriedigung sämtlicher Gläubiger zur Verfügung stünden. Diesem Einwand hat der Bundesgerichtshof jedoch schon in einem Urteil betreffend die Einzelzwangsvollstreckung 19 eine Absage erteilt und entschieden, dass die Ansprüche des Bankkunden aus einem vereinbarten Dispositionskredit pfändbar sind, soweit der Kunde den Kredit in Anspruch nimmt. Auch wenn der 13
Zur Frage der mittelbaren Gläubigerbenachteiligung nachfolgend unter Ziff. 3. BGH, Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, BGHZ 170, 276/279 ff.; Urt. v. 1.2.2007 – IX ZR 248/05, ZIP 2007, 601/602; Urt. v. 28.2.2008 – IX ZR 213/06, NJW-RR 2008, 919/920; Urt. v. 16.10.2008 – IX ZR 147/07, ZIP 2008, 2182/2183. 15 Dazu unter vorstehender Ziff. 1. 16 BGH, Urt. v. 28.2.2008 – IX ZR 213/06, NJW-RR 2008, 919/920. 17 BMF, Schreiben vom 30.1.2005, S. 4. 18 BGH, Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, BGHZ 170, 276/280; Urt. v. 28.2.2008 – IX ZR 213/06, NJW-RR 2008, 919/920. 19 BGH, Urt. v. 29.3.2001 – IX ZR 34/00, BGHZ 147, 193/196 ff. 14
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Schuldner nicht verpflichtet sei, zur Begleichung seiner Schuld einen Kredit aufzunehmen, bedeute dies nicht, dass er unter Ausschaltung eines Vollstreckungsgläubigers einen tatsächlich in Anspruch genommenen Kredit anderweitig verwenden dürfe.20 Diese Rechtsprechung überträgt der Bundesgerichtshof auch auf die Gesamtvollstreckung.21 Konsequent hat der Bundesgerichtshof in einer späteren Entscheidung 22 gefordert, dass dann, wenn die angefochtene Zahlung über ein Bankkonto erfolgt ist und die Gläubigerbenachteiligung vom Anfechtungsgegner bestritten wurde, vom Anfechtungsgläubiger darzulegen ist, dass die Zahlung aus einem Guthaben oder im Rahmen einer vorab eingeräumten Kreditlinie erbracht wurde. 3. Folgen für die Praxis Die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Differenzierung hat zur Folge, dass ein und dieselbe Zahlungsanweisung innerhalb des Kreditrahmens zu einem dem Insolvenzbeschlag unterfallenden Auszahlungsanspruch und damit zu einer Gläubigerbenachteiligung führen soll, während außerhalb des Kreditrahmens der Auszahlungsanspruch mit der Darlehensgewährung zusammenfällt und eine Gläubigerbenachteiligung nicht vorliegt.23 Die Auswirkungen in der Praxis sind massiv. Schon die Beantwortung der Frage, ob die Kreditlinie im Zeitpunkt der Auszahlung bereits ausgeschöpft war, bereitet Probleme: 24 Kommt es auf eine minutengenaue Betrachtung an oder kann auf den jeweiligen Tagessaldo abgestellt werden? Sind Ansprüche auf Gutschrift ergänzend zu berücksichtigen? Müssen Scheckgutschriften beachtet werden, die gemäß Nr. 9 Abs. 1 AGB-Banken unter dem Vorbehalt der Einlösung gebucht werden? Sind Kontobelastungen einzubeziehen, die im Lastschriftverfahren erfolgen und bis zur Genehmigung durch den Schuldner nur technische Buchungen, aber keine Kreditinanspruchnahme darstellen? Die möglichen Fallgestaltungen sind vielfältig und eröffnen nicht nur dem Zufall, sondern auch einem möglichen Missbrauch Raum.25 Die Anfechtbarkeit der Zahlung aus einer vertraglich vereinbarten Überziehung lässt sich weitgehend dadurch umgehen, dass ein Schuldner, der ausgewählte Einzelgläubiger vorab befriedigen will, dafür sorgt, dass entsprechende Zahlungen nur aus einer geduldeten Überziehung erfolgen.26 20
BGH, Urt. v. 29.3.2001 – IX ZR 34/00, BGHZ 147, 193/198. BGH, Urt. v. 1.11.2007 – IX ZR 31/05, BGHZ 170, 276/280; kritisch zu dieser Parallele Bitter in: Festschrift für Gero Fischer, S. 15/33 ff. 22 BGH, Beschl. v. 1.2.2007 – IX ZB 248/05, ZIP 2007, 601/602. 23 Kritisch aus diesem Grund Spliedt NZI 2007, 228; Mock ZInsO 2007, 911/913; Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl., Bd. 1 § 33 Rn. 83. 24 Spliedt NZI 2007, 228/229. 25 Stiller ZInsO 2005, 72/74. 26 Bitter in: Festschrift für Gero Fischer, S. 15/26. 21
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Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat daher in der Literatur Kritik erfahren.27 Die Kritiker wollen Zahlungen aus einer vertraglich vereinbarten sowie einer nur geduldeten Überziehung einheitlich der Insolvenzanfechtung unterwerfen, indem sie entweder auch in den Fällen einer lediglich geduldeten Überziehung das (konkludente) Zustandekommen eines der Auszahlung zeitlich vorgelagerten Kreditvertrags konstruieren28 oder den Begriff der Gläubigerbenachteiligung normativ interpretieren.29 Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs ist jedoch der Umstand, dass mehrere dem Schuldner zu Gebote stehende Gestaltungsmöglichkeiten unterschiedliche anfechtungsrechtliche Konsequenzen haben können, grundsätzlich hinzunehmen.30 4. Dogmatische Betrachtungen Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs mag auf den ersten Blick überzeugen: Besteht ein Anspruch des Schuldners auf Auszahlung der Darlehensvaluta, so liegt eine Gläubigerbenachteiligung vor, weil der Anspruch auf Darlehensauszahlung mit Verfahrenseröffnung dem Insolvenzbeschlag unterfallen wäre. Entsteht kein Anspruch auf Darlehensauszahlung, weil die Bank die Überziehung lediglich geduldet hat, ist den Gläubigern kein Nachteil entstanden, weil ein bloßer Passivtausch vorliegt. Statt der Leistung an den ursprünglichen Gläubiger schuldet der Schuldner nun der Bank die Rückzahlung des Darlehens.31 Zweifel an der Richtigkeit dieser Überlegungen melden sich jedoch dann, wenn man sich auf den Zweck der hier regelmäßig in Betracht kommenden Deckungsanfechtung – die Vorverlagerung der Insolvenzwirkungen – zurückbesinnt. Dann wird deutlich, dass die vom Bundesgerichtshof gefundene Lösung über das anfechtungsrechtliche Gebot der Massemehrung hinausschießt und in den Fällen einer vertraglich vereinbarten Überziehung innerhalb des kritischen Zeitraums zu einer insolvenzrechtlich nicht gebotenen Besserstellung der Insolvenzgläubiger führt. a) Ratio der besonderen Insolvenzanfechtung Die Erfahrung hat gezeigt, dass schon lange vor Stellung des Insolvenzantrags einzelne Gläubiger, die enge Beziehungen zum Schuldner haben oder 27 Spliedt NZI 2007, 228; Mock ZInsO 2007, 911/913; Marotzke ZInsO 2007, 897/900; Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl., Bd. 1 § 33 Rn. 83; ders. in: Festschrift für Gero Fischer, 2008, S. 15/27 f. 28 Spliedt NZI 2007, 228; Mock ZInsO 2007, 911/913. 29 Marotzke ZInsO 2007, 897/900. 30 BGH, Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, BGHZ 170, 276/282. 31 Zur Frage der mittelbaren Gläubigerbenachteiligung in diesen Fällen vgl. nachfolgende Ziff. 3.
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über dessen finanzielle Verhältnisse besonders gut unterrichtet sind oder ihre Interessen außergewöhnlich hart durchsetzen, wegen ihrer Forderungen noch im kritischen Zeitraum vor der Verfahrenseröffnung voll oder wenigstens teilweise befriedigt werden, während die meisten Gläubiger in der späteren Insolvenz nahezu leer ausgehen. Eine solche Besserstellung Einzelner soll durch die besondere Insolvenzanfechtung vermieden werden. Die Wirkungen der Insolvenz werden durch §§ 130–132 InsO in eingeschränkter Form zeitlich vorverlegt.32 Eine Benachteiligung der Gläubiger durch Rechtshandlungen oder Rechtsgeschäfte während des kritischen Zeitraums der §§ 130–132 InsO wird ausgeglichen, indem anfechtbar erworbene Gegenstände wieder der Insolvenzmasse zugeführt werden und damit als Haftungsobjekte für sämtliche Insolvenzgläubiger zur Verfügung stehen.33 Das Gesetz lässt die für die besondere Insolvenzanfechtung maßgebende kritische Zeit drei Monate vor dem Eröffnungsantrag beginnen, wenn der Schuldner zur Zeit der Handlung zahlungsunfähig war (materielle Insolvenz). Weil die materielle Insolvenz – anders als die Eröffnung des Insolvenzverfahrens – nicht publiziert werden kann, hat der Gesetzgeber in den §§ 130, 131 Abs. 1 Nr. 3, 132 InsO davon abgesehen, die Insolvenzwirkungen allein schon mit dem objektiven Tatbestand der materiellen Insolvenz eintreten zu lassen. Vielmehr ist aus Gründen des Verkehrsschutzes die besondere Insolvenzanfechtung in diesen Fällen davon abhängig, dass der Anfechtungsgegner die Krise des Schuldners oder jedenfalls Umstände kennt, die auf die Krise schließen lassen. Unter diesen Voraussetzungen werden die Wirkungen des Insolvenzverfahrens – insbesondere der das Insolvenzverfahren beherrschende Grundsatz der par conditio – auf den Zeitpunkt der Eintritt der materiellen Insolvenz vorverlagert.34 Die Gläubiger werden durch die besondere Insolvenzanfechtung so gestellt, als sei das Insolvenzverfahren bereits im Zeitpunkt des Eintritts der materiellen Insolvenz eröffnet worden. b) Kontrollüberlegung: Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Zeitpunkt der materiellen Insolvenz Anzustellen ist die Kontrollüberlegung, wie die Insolvenzgläubiger stünden, wäre das Insolvenzverfahren bereits im Zeitpunkt der materiellen Insolvenz eröffnet worden. Bezweckt die besondere Insolvenzanfechtung eine Vorverlagerung der Insolvenzwirkungen auf diesen Zeitpunkt, so können die Insolvenzgläubiger nach erfolgter Anfechtung jedenfalls nicht besser stehen,
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BGH, Urt. v. 25.9.1972 – VIII ZR 216/71, BGHZ 59, 230/232; noch zur KO. Piekenbrock WM 2007, 141/144. 34 Vgl. aus den Materialien bei Hahn Die gesammelten Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, Bd. 4, Nachdruck 1898, S. 113; vgl. entsprechend Beiner/Luppe NZI 1005, 15/18; Piekenbrock WM 2007, 141/144. 33
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als sei das Verfahren bereits mit Eintritt der materiellen Insolvenz eröffnet worden. Mit der Verfahrenseröffnung verliert der Schuldner die Befugnis, über das zur Insolvenzmasse gehörige Vermögen zu verfügen, § 80 Abs. 1 InsO. Vom Schuldner nach Verfahrenseröffnung vorgenommene Verfügungen über massezugehörige Gegenstände sind absolut unwirksam, § 81 Abs. 1 Satz 1 InsO. Zu berücksichtigen ist ein Weiteres: Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners endet kraft Gesetzes auch der mit der Bank bestehende Kontokorrent- bzw. Dispositionskredit, §§ 116 Satz 1, 115 Abs. 1 InsO.35 Damit erlischt das Abrufrecht des Schuldners ebenso wie die Möglichkeit, Überziehungen über den vereinbarten Kreditrahmen hinaus vorzunehmen. Kreditverträge ohne Kontokorrentbindung bestehen zwar über den Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens hinaus fort. Die Bank wird jedoch spätestens die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Kunden zum Anlass nehmen, das mit dem Kunden bestehende Kreditverhältnis nach Nr. 19 Abs. 3 AGB-Banken 36 zu kündigen. Selbst ohne eine solche Kündigung kann die Bank spätestens nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens einem Auszahlungsverlangen des Kunden die Unsicherheiteneinrede des § 321 Abs. 1 Satz 1 BGB entgegenhalten. Diese wird durch das Kündigungsrecht nach § 490 Abs. 1 BGB bzw. das Sonderkündigungsrecht in Nr. 19 Abs. 3 AGB-Banken nicht verdrängt.37 Verlagert man nun – im Rahmen einer Kontrollüberlegung – die Eröffnungswirkungen auf den Zeitpunkt der materiellen Insolvenz vor, so folgt hieraus, dass der Schuldner nach Eintritt der materiellen Insolvenz eine Überziehung des Kontos – gleichviel ob vertraglich vereinbart oder nur geduldet – nicht mehr hätte vornehmen können. Ein Anspruch auf Auszahlung des Darlehens, der zur Befriedigung der Gläubiger zur Verfügung gestanden hätte, hätte nicht mehr entstehen können. Dies bedeutet jedoch, dass nach der vom Bundesgerichtshof vertretenen Auffassung,38 wonach bei Zahlungen aus einer vertraglich vereinbarten Überziehung eine unmittelbare Gläubigerbenachteiligung vorliegen und ein Anfechtungsrecht eröffnet sein soll,39 die Gläubiger besser gestellt würden, als sie stünden, wäre das Insolvenzverfahren bereits mit Eintritt der materiellen Insolvenz eröffnet worden. In diesem Fall hätte ein Anspruch auf Darlehensauszahlung nicht mehr entstehen können; die Darlehensvaluta hätten
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BGH, Urt. v. 22.1.2004 – IX ZR 39/03, BGHZ 157, 350/356 f. § 26 Nr. 2 AGB-Sparkassen. 37 Weidenkaff in: Palandt, BGB, 68. Aufl., § 490 Rn. 5; Schürnbrand in: Münchener Kommentar, BGB, 5. Aufl., Bd. 3, § 490 Rn. 73. 38 BGH, Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, BGHZ 170, 276/280; Urt. v. 28.2.2008 – IX ZR 213/06, NJW-RR 2008, 919/920. 39 Vorstehend unter Ziff. 2 lit. b) bb). 36
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auch in diesem Fall nicht zur Befriedigung der Gläubiger zur Verfügung gestanden. Die Auffassung des Bundesgerichtshofs führt zu einer anfechtungsrechtlich nicht gebotenen Besserstellung der Gläubiger. Ebenso wenig wie es Zweck der Insolvenzanfechtung ist, der Masse Vermögensvorteile zu verschaffen, die sie ohne die anfechtbare Rechtshandlung nicht erlangt hätte,40 ist es Sinn des Anfechtungsrechts, den Gläubigern eine Befriedigungsmasse zu verschaffen, die ihnen auch bei Verfahrenseröffnung bereits im Zeitpunkt der materiellen Insolvenz nicht zur Verfügung gestanden hätte. c) Realisierbarkeit des Auszahlungsanspruchs durch den Insolvenzverwalter Hinzu kommt, dass der im Falle der vertraglich vereinbarten Überziehung entstehende Anspruch auf Darlehensauszahlung auch nach Verfahrenseröffnung nicht zur Befriedigung der Insolvenzgläubiger zur Verfügung gestanden hätte. Selbst wenn es dem Insolvenzverwalter gelingen sollte, die Bank nach Verfahrenseröffnung zur Auszahlung des Darlehens zu bewegen, stünde das auf diese Weise vereinnahmte Geld nicht zur Verteilung an die Insolvenzgläubiger zur Verfügung. Auch der Insolvenzverwalter müsste das Darlehen bei Fälligkeit zurückzahlen; hierbei handelt es sich um eine Masseverbindlichkeit im Sinne des § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 InsO, die gemäß § 53 InsO vorweg – also im Rang vor den nach § 129 Abs. 1 InsO geschützten Insolvenzgläubigern – zu begleichen wäre.41 Entsprechend hat auch der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs zu § 64 Abs. 2 GmbHG, § 130a Abs. 2, 3 Satz 1 HGB ausgeführt,42 dass Zahlungen von einem debitorischen Bankkonto einer insolvenzreifen Gesellschaft nicht zum Nachteil der Gesellschaftergesamtheit gehen, sondern eine Zahlung mit Kreditmitteln einen bloßen Gläubigertausch zur Folge hat. An die Stelle der mit Kreditmitteln erfüllten Forderung tritt eine entsprechende Verbindlichkeit gegenüber der Bank. Eine Differenzierung danach, ob die Zahlung aus Mitteln einer vertraglich vereinbarten oder geduldeten Überziehung erfolgt, findet sich in der Entscheidung des II. Senats nicht. d) Korrektur Berücksichtigt man die ratio der Vorschriften über die besondere Insolvenzanfechtung, so ist ein Anfechtungsrecht in den Fällen nicht geboten, in denen eine Überziehung des Kreditrahmens – gleichviel ob geduldet oder vertraglich vereinbart – zeitlich nach Eintritt der materiellen Insolvenz er-
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BGH, Urt. v. 26.5.1971 – VIII ZR 61/70, WM 1971, 908/909, noch zur KO. Marotzke ZInsO 2007, 897/901 f. BGH, Urt. v. 26.3.2007 – II ZR 310/05, ZIP 2007, 1006/1007.
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folgt. Die Gläubiger werden durch die Verfügung über einen im kritischen Zeitraum entstandenen Auszahlungsanspruch nicht schlechter gestellt, als sie bei einer – anfechtungsrechtlich bezweckten – Vorverlagerung des Insolvenzzeitpunktes stünden. Auch hätte der Darlehensauszahlungsanspruch nach Verfahrenseröffnung nicht zur Befriedigung der Insolvenzgläubiger zur Verfügung gestanden, mit der Folge, dass die Gläubiger durch die Verfügung über diesen Anspruch nicht unmittelbar benachteiligt werden.
III. Mittelbare Gläubigerbenachteiligung durch Zahlung zu Lasten eines debitorischen Kontos Mit den vorstehenden Ausführungen ist indes noch nichts darüber gesagt, ob Zahlungen zu Lasten eines debitorischen Kontos insgesamt der Insolvenzanfechtung entzogen sind. Für die Tatbestände der Deckungsanfechtung (§§ 130, 131 InsO) bedarf es keiner unmittelbaren Gläubigerbenachteiligung; auch eine mittelbare Gläubigerbenachteiligung ist ausreichend. 1. Begriff der mittelbaren Gläubigerbenachteiligung Eine mittelbare Gläubigerbenachteiligung liegt nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung vor, wenn es zwar an einer unmittelbaren Benachteiligung durch die Rechtshandlung fehlt, wenn die angefochtene Rechtshandlung jedoch in Verbindung mit einem weiteren, außerhalb des Geschäfts liegenden Umstand eine Gläubigerbenachteiligung auslöst.43 Dies ist etwa dann der Fall, wenn in den Fällen eines bloßen Passivtauschs der Neugläubiger über bessere Sicherheiten verfügt als der Altgläubiger und der Anspruch des Neugläubigers daher für die Masse ungünstiger ist. Entsprechend hat der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung im 170. Band 44 zur Insolvenzanfechtung bei geduldeter Kontoüberziehung entschieden, dass eine mittelbare Gläubigerbenachteiligung dann vorliegt, wenn der Schuldner einen Gläubiger aus Mitteln einer nur geduldeten Kontenüberziehung befriedigt und der Anspruch auf Rückzahlung des Kredits, auf dessen Gewährung die Masse keinen Anspruch hatte, für die Insolvenzmasse ungünstiger ist, als der Anspruch des befriedigten Gläubigers, insbesondere weil die Bank für ihren Darlehensrückzahlungsanspruch über (bessere) Sicherheiten verfügt. 43 BGH, Urt. v. 30.9.1993 – IX ZR 227/92, BGHZ 123, 320/322 f.; Urt. v. 11.11.1993 – IX ZR 257/92, BGHZ 124, 76/79, jeweils noch zur KO; Urt. v. 9.12.1999 – IX ZR 102/97, BGHZ 143, 246/253. 44 BGH, Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, BGHZ 170, 276/279 f., bestätigt durch Urt. v. 1.2.2007 – IX ZR 248/05, ZIP 2007, 601/602; Urt. v. 28.2.2008 – IX ZR 213/06, NJW-RR 2008, 919/920.
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2. Gläubigerbenachteiligende Sicherungen Eine mittelbare Gläubigerbenachteiligung kann mithin darin liegen, dass die Bank für den ihr aufgrund einer – vertraglich vereinbarten oder geduldeten – Überziehung zustehenden Rückzahlungsanspruch besser gesichert ist als der Gläubiger, dessen Forderung mit den Darlehensmitteln beglichen wurde. Dies wird in den Fällen relevant, in denen die Bank mit dem Kunden eine weite Sicherungsabrede des Inhalts getroffen hat, dass die zugunsten der Bank bestellten Sicherheiten sämtliche Ansprüche aus der Geschäftsbeziehung sichern sollen. Überzieht der Kunde den ihm eingeräumten Kreditrahmen, so ist auch der hieraus resultierende Rückzahlungsanspruch von der Sicherungsabrede grundsätzlich erfasst.45 a) Drittsicherheiten Nicht jede zugunsten der Bank bestehende Sicherung führt indes zu einer Gläubigerbenachteiligung. Eine Gläubigerbenachteiligung scheidet von vorneherein aus, wenn der Anspruch der Bank durch Sicherheiten eines Dritten besichert ist. Bestellt ein Dritter eine Sicherheit für die Forderungen gegen den späteren Insolvenzschuldner, so tritt eine Gläubigerbenachteiligung hierdurch nicht ein, da die Sicherheit des Dritten kein den Insolvenzgläubigern haftendes Vermögen darstellt. b) Untersicherung Darüber hinaus scheidet eine Gläubigerbenachteiligung auch in den Fällen aus, in denen der Wert der zugunsten der Bank bestellten Sicherheiten bereits durch bestehende Verbindlichkeiten ausgeschöpft wird.46 Da sich die Bank aus den zu ihren Gunsten bestehenden Sicherheiten nicht über deren Wert hinaus befriedigen kann, findet eine Schlechterstellung der Gläubiger in diesem Fall nicht statt. Dies wirft die Frage auf, in welcher Weise, insbesondere auf welchen Stichtag eine Bewertung der Sicherheiten zu erfolgen hat. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Gläubigerbenachteiligung bei bloß mittelbarer Benachteiligung der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung, auf die in der letzten Tatsacheninstanz das Urteil im Anfechtungsprozess ergeht.47 Eine mittelbare Gläubi-
45 Zur Unwirksamkeit einer formularmäßigen weiten Sicherungserklärung im Falle von Personalsicherheiten vgl. Kieninger in: Münchener Kommentar, BGB, 5. Aufl., Bd. 2, § 307 Rn. 254 f. 46 Marotzke ZInsO 2007, 897/906. 47 BGH, Urt. v. 24.9.1996 – IX ZR 190/95, ZIP 1996, 1907/1908; Urt. v. 27.3.1984 – IX ZR 49/83, ZIP 1984, 753/755.
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gerbenachteiligung liegt danach vor, wenn die angefochtene Rechtshandlung im Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung im Anfechtungsprozess die Möglichkeit der Gläubiger, sich aus dem Schuldnervermögen zu befriedigen, beeinträchtigt hat. Wertsteigerungen, die seit der Vornahme der angefochtenen Rechtshandlung eingetreten sind, sind grundsätzlich zugunsten des Anfechtungsgläubigers zu berücksichtigen.48 Hat bis zu diesem Zeitpunkt eine Verwertung der Sicherheit bereits stattgefunden, so entstehen regelmäßig keine Probleme, da in diesem Fall auf den tatsächlich erzielten Verwertungserlös abzustellen ist. Ist eine Verwertung noch nicht erfolgt, hat eine Bewertung der Sicherheit auf den Stichtag stattzufinden. Für die Frage, ob der Wert der zugunsten der Bank bestellten Sicherheiten bereits durch die bestehenden Verbindlichkeiten ausgeschöpft wird, mit der Folge, dass durch die Entstehung weiterer, der Sicherungsabrede unterfallender Forderungen auch keine mittelbare Benachteiligung der Gläubiger erfolgt, kann indes nicht einfach der Nominalbetrag der gesicherten Forderungen dem Wert der Sicherheit gegenüber gestellt werden. Zum einen können der Bank über den Forderungsbetrag hinaus Verwertungskosten anfallen, zum anderen kann der Sicherungswert, d.h. der aus der Sicherheit zu erzielende Verwertungserlös, unter dem Schätzwert liegen. Der Tatsache, dass Sicherheiten oft nur deutlich unter ihrem wahren Wert veräußert werden können, trägt das Gesetz für den Pfandverkauf beweglicher Sachen in § 237 Satz 1 BGB Rechnung. Der Große Senat des Bundesgerichtshofs hat eine analoge Anwendung des § 237 Satz 1 BGB insoweit befürwortet, als es um die nachträgliche Entstehung eines Freigabeanspruchs bei formularmäßig bestellten revolvierenden Globalsicherungen geht und hieraus die widerlegliche Vermutung abgeleitet, dass dem Sicherungsinteresse des Gläubigers durch einen Abschlag von einem Drittel vom Nenn- bzw. Schätzwert der Sicherheit ausreichend Rechnung getragen wird.49 Es erscheint sachgerecht, diese Wertung auch auf den vorliegenden Fall zu übertragen, mit der Folge, dass eine Gläubigerbenachteiligung dann nicht vorliegt, wenn die bereits bestehenden Forderungen der Bank zwei Drittel des Schätzwerts der Sicherheiten ausschöpfen. Es ist in diesem Fall Sache des für das Vorliegen der mittelbaren Gläubigerbenachteiligung darlegungs- und beweispflichtigen Insolvenzverwalters,50 im Einzelfall darzutun, dass der Sicherungswert oberhalb der Zwei-Drittel-Grenze liegt und durch die bereits bestehenden Forderungen der Bank nicht ausgeschöpft wird. Dieser Beweis wird vom Insolvenzverwalter im Falle der Besicherung durch Grundpfandrechte oftmals ohne größere Schwierigkeiten geführt werden können, da die
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BGH, Urt. v. 24.9.1996 – IX ZR 190/95, ZIP 1996, 1907/1908. BGH, Beschl. v. 27.11.1997 – GZS 1 und 2/97, BGHZ 137, 212/233 ff. BGH, Urt. v. 11.7.1991 – IX ZR 230/90, NJW 1992, 624/626.
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Banken dem Verwertungsrisiko regelmäßig bereits aufgrund ihrer internen Beleihungswertgrenzen Rechnung tragen. Ein Anspruch auf Herausgabe der bankinternen Einwertungsgutachten steht dem Insolvenzverwalter nicht zu, der Beweis ist durch Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens zu führen. Darüber hinaus entstehen dem Gläubiger infolge der Verwertung der Sicherheiten regelmäßig Kosten, die den Verwertungserlös mindern. Die Insolvenzordnung setzt die Feststellungskosten mit 4% und die Verwertungskosten mit 5 % des Verwertungserlöses an, § 171 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 InsO. Die Feststellungskosten hat der Gläubiger auch dann an die Masse abzuführen, wenn ihm die Verwertung der Sache vom Insolvenzverwalter überlassen worden ist, § 170 Abs. 2 InsO. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 51 sind die Verwertungskosten durch einen pauschalen Aufschlag von 10 % auf die gesicherte Forderung berücksichtigt worden. Dies lässt es angemessen erscheinen, einen derartigen Zuschlag auch für den vorliegenden Fall vorzunehmen. Die Verwertungskosten mindern den Verwertungserlös und stehen nicht zur Befriedigung der Insolvenzgläubiger zur Verfügung. Wird der Sicherungswert bereits durch die bestehenden Forderungen der Bank zuzüglich der Kosten für die Verwertung in Höhe von pauschal 10 % des Forderungswerts ausgeschöpft, so werden die Gläubiger durch die Begründung weiterer, der Sicherungsabrede unterfallender Forderungen nicht benachteiligt.
IV. Fazit Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach zwar Zahlungen aus Mitteln einer vertraglich vereinbarten Überziehung, nicht aber solche aus einer nur geduldeten Überziehung insolvenzrechtlich anfechtbar sein sollen, führt in der Praxis zu oftmals zufälligen Ergebnissen und öffnet Raum für Missbrauch. Statt mit den Kritikern dieser Rechtsprechung Zahlungen aus Mitteln einer vertraglich vereinbarten sowie einer nur geduldeten Überziehung einheitlich der Insolvenzanfechtung zu unterwerfen, gelangt der vorliegende Beitrag zu dem Ergebnis, dass es nicht nur im Falle der geduldeten, sondern auch im Falle der vertraglich vereinbarten Überziehung an einer unmittelbaren Gläubigerbenachteiligung fehlt. Ansatzpunkt für diese Überlegung ist die Frage, ob es insolvenzrechtlich geboten ist, den Gläubigern eine Befriedigung zu
51 BGH, Beschl. v. 27.11.1997 – GZS 1 und 2/97, BGHZ 137, 212/229; Urt. v. 2.12.1992 – VIII ZR 241/91, BGHZ 120, 300/303; Urt. v. 20.3.1985 – VIII ZR 342/83, BGHZ 94, 105/ 115.
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Nina Polt
ermöglichen, die ihnen auch dann nicht zustünde, wäre das Insolvenzverfahren bereits im Zeitpunkt des Eintritts der materiellen Insolvenz eröffnet worden. Lehnt man eine unmittelbare Gläubigerbenachteiligung ab, stellt sich die Frage, ob die Gläubiger dadurch benachteiligt werden, dass der aus der Überziehung resultierende Rückzahlungsanspruch am Vermögen des Schuldners besichert ist. Eine mittelbare Benachteiligung scheidet stets in den Fällen aus, in denen der Wert der zugunsten der Bank bestellten Sicherheiten bereits durch die bestehenden Verbindlichkeiten des Schuldners ausgeschöpft wird. Zugunsten der Bank ist hierbei ein Risikoabschlag von einem Drittel sowie eine Verwertungskostenpauschale in Höhe von 10% zu berücksichtigen.
Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz: Stresstest für den Telekom-Prozess Andreas W. Tilp I. Einleitung Kurz nach Beendigung der ersten Verhandlungsrunde im Musterverfahren vor dem OLG Frankfurt gegen die Deutsche Telekom (DT) wegen eventueller Ansprüche ihrer (Ex)-Aktionäre im Zusammenhang mit dem sog. dritten Börsengang 2000 (DT 3) stellte Jahn die These auf, dass der Telekom-Prozess ein „Stresstest für das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz“ (KapMuG) sei.1 Bekanntlich hat der deutsche Gesetzgeber 2 mit Inkrafttreten des KapMuG 3 zum 1.11.2005 den Versuch unternommen, mit einer speziellen Verfahrensordnung kapitalmarktrechtliche Massenprozesse, insbesondere die Frankfurter Telekom-Klagen, handhabbar zu machen. Das Gesetz ist mit einem automatischen Verfallsdatum versehen, dem 31.10.2010, der sog. Sunset-Klausel. Derzeit findet eine Evaluation des KapMuG statt.4 In Umkehrung der Jahn’schen Feststellung soll vorliegend gezeigt werden, dass dogmatisch wie praktisch das KapMuG einen Stresstest für den Telekom-Prozess darstellt. Oder als Frage formuliert: Kann dieser Prozess trotz des KapMuG vernünftig zu Ende geführt werden? Dass er mit dem KapMuG als einheitlicher Prozess ja erst beginnbar wurde, steht außer Frage – aber macht es ihn auch (durch)führbar?
1
ZIP 2008,1314. Die Bundesrepublik Deutschland ist eine der Beklagten in diesem Prozess. 3 BGBl. 2005 I, 2437; zum Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens siehe Reuschle Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz – KapMuG, Bundesanzeiger Verlag, 2006; zum KapMuG vgl. im Übrigen die Kommentarwerke von Hess/Reuschle/Rimmelspacher Kölner Kommentar zum KapMuG, 2008 sowie Vorwerk/Wolf KapMuG, 2007. 4 Vgl. die Ausschreibung des Bundesamtes für Justiz über die Vergabe eines Forschungsvorhabens zum Thema „Evaluation des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes“ vom 5.9.2008, Bundesanzeiger Amtlicher Teil Nr. 143, Seite 3414; mit der Evaluation wurde zwischenzeitlich die Frankfurt School of Finance & Management beauftragt, zum Leiter des Forschungsprojektes wurde Axel Halfmeier ernannt, vgl. http://www.frankfurt-school. de/content/de/news/newsfolder/2009/01/30012009_n.html. 2
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Andreas W. Tilp
Die Darstellung erfolgt aus der Perspektive eines Rechtsanwaltes, welcher die beiden jeweiligen Musterkläger in den zwei Telekom-Musterverfahren vor dem OLG Frankfurt 5 vertritt, sowie weitere knapp 300 dort auf Klägerseite Beigeladene. Aus Sicht des Autors gehört es sich, die eigene Betroffenheit am Thema nicht zu kaschieren.6 Der Beitrag stellt schwerpunktmäßig die rechtstatsächliche Gemengenlage sowie die bisherigen Inhalte der dualen Verfahrensstränge vor dem LG als Prozessgericht einerseits und vor dem das Musterverfahren betreibenden OLG andererseits dar. Eine materiell-rechtliche Bewertung des Streitgegenstandes des Telekom-Prozesses wird nicht vorgenommen, ebenso wenig eine Kritik der bisherigen verfahrensrechtlichen Behandlung durch das LG und das OLG. 1. Etwas Statistik An Superlativen für den Prozess fehlt es nicht: „Mammutprozess“ 7, „größter Anlegerprozess Deutschlands“ 8 oder gar „juristisches Monster“ 9. Andererseits fällt auf, dass weder der Prozess noch das KapMuG Gegenstand eines eigenständigen Eintrags in Wikipedia sind.10 Unter Berücksichtigung von zwischenzeitlichen Klagerücknahmen ergibt sich zum Stand Juni 2009 folgende Momentaufnahme, wobei fortan die Terminologie aus dem KapMuG verwendet wird. Die genannten Zahlen sind kumuliert für beide Musterverfahren DT 2 und DT 3: Vor dem Prozessgericht, der 7. Kammer für Handelssachen des LG Frankfurt, sind ca. 2.650 Klagen rechtshängig, welche etwa 17.000 Kläger mit einer Gesamtschadenssumme von rund 100 Mio. € repräsentieren. Der durchschnittliche Streitwert beläuft sich damit auf knapp 5.900,00 €. Auf Klägerseite sind ca. 900 Kanzleien (un)tätig. Neben der Musterbeklagten DT (MB) finden sich auf der Beklagtenseite auch die Bundesrepublik und die KfW (in jeweils rund 250 Klagen), die Deutsche Bank (in ca. 70 Klagen) sowie die weiteren Globalen Koordinatoren des Börsenganges Goldman Sachs und Dresdner Kleinwort; Ron Sommer ist aus der insoweit einzigen Klage nach richterlichem Hinweis auf ihre Unsubstantiiertheit durch Teil-Klagerück5 Das Musterverfahren DT 3 trägt das AZ 23 Kap 1/06 (vormals 23 Sch/06), das zum zweiten Börsengang 1999 (DT 2) das AZ 23 Kap 2/06 (vormals 23 Sch 2/06). 6 Dies sieht Schmitz augenscheinlich anders: Als Rechtsanwalt der Musterbeklagten DT verliert er in seiner im Übrigen lesenswerten Kommentierung zum KapMuG im Handbuch der Kapitalmarktinformation, herausgegeben von Habersack/Mülbert/Schlitt 2008, § 32 „Der Kapitalmarktinformationshaftungsprozess“, auf über 80 Druckseiten weder ein Wort zu seiner dementsprechenden Funktion noch benennt er den Telekom-Prozess oder die Telekom namentlich. 7 ARD Report Mainz vom 7.4.2008. 8 sueddeutsche.de vom 7.4.2008, 11:46. 9 DER SPIEGEL vom 3.3.2008, S. 84. 10 Vgl. http://de.wikipedia.org.
Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz: Stresstest für den Telekom-Prozess
333
nahme ausgeschieden. Unter den Klägern befindet sich kein institutioneller Investor, der einzige klagende Institutionelle hat – in Übersee ansässig – seine Klage im knapp zweistelligen Millionenbereich nach Anforderung der Prozesskostensicherheit zurückgenommen. Seit November 2003 ist beim LG der Vorsitzende Richter Meinrad Wösthoff zuständig, Nachfolger des routinemäßig geplant umgesetzten Vorsitzenden Richters Peppler, welcher dem aufgrund kurzer und schwerer Krankheit verstorbenen Vorsitzenden Richter Wöhler, bei welchem Anfang 2001 die ersten Klagen eingingen, nachgefolgt war.11 Im Jahr 2001 waren ca. 350 Klagen zu DT 2 eingereicht worden, im Jahr 2003 folgten ca. 1.700 Klagen zu DT 3. Zur Verhinderung des Eintritts der Verjährung der börsengesetzlichen Prospekthaftungsansprüche (27.05.2003)12 haben darüber hinaus im Jahr 2003 etwa 17.000 weitere Aktionäre ihre Ansprüche bei der Öffentlichen Rechtsauskunfts- und Vergleichsstelle Hamburg (ÖRA) angemeldet.13 2. Einführend zum KapMuG Beim Telekom-Prozess handelt es sich um ein atypisches KapMuG-Verfahren. Dies deshalb, weil – von Nachzügler-Klagen abgesehen – das Gros der Kläger ja schon vor Inkrafttreten des KapMuG, nämlich bis zum 27.5. 2003, beim LG angelandet war, also nach Eintritt der Verjährung der Hauptansprüche aus Prospekthaftung. Erst diese Flut war dann (mit)ursächlich für die anschließende Geburt des KapMuG, welches quasi in die zweite mündliche Verhandlung vor dem LG14 hinein gezeugt wurde. Teilweise wird das Gesetz als Lex Telekom bezeichnet.15 Jedenfalls aber ist klar, dass das KapMuG konzeptionell die Durchführung des Telekom-Prozesses bewältigen soll.16 Das KapMuG sollte die Antwort sein auf das mit diesem Prozess „überforderte Recht“.17 11 Vgl. Pressemitteilung des Präsidenten des LG Frankfurt a.M. vom 8.6.2004, http:// www.lg-frankfurt.justiz.hessen.de unter Presse, Pressemeldungen. 12 Gemäß § 46 BörsG a.F. 13 Vgl. http://www.hamburg.de/oera/; unter welchen Voraussetzungen derartige Anträge gemäß § 204 I Nr. 4 BGB die Verjährung hemmen, ist umstritten, vgl. einerseits Nobbe ZBB 2009, 93, 108 (restriktiv), andererseits Schwintowski BKR 2009, 89, 97. 14 Vom 25.10.2005. 15 DER SPIEGEL vom 4.4.2008, http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,545168,00. html. 16 Wolf/Vorwerk/Scharf/Schunder NJW-Sonderheft 3, Hannoveraner ZPO-Symposion, 2006, 1; Hess ZIP 2005, 1713. 17 Vgl. http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/640/438384/text vom 7.4.2008, 7: 01; in der Pressemitteilung des Präsidenten des LG Frankfurt a.M. vom 8.6.2004 (Fn. 11) heißt es: „Diese Verfahren sind vermutlich für die Bundesrepublik Deutschland bislang beispiellos und stellen das Gericht vor völlig neue Herausforderungen.“
334
Andreas W. Tilp
Der genaue Ablauf eines KapMuG-Prozesses wird unten im Kapitel V.1. dargestellt. An dieser Stelle lediglich in kurzen Worten, worum es geht: Das KapMuG gibt den Beteiligten eines erstinstanzlichen Rechtsstreits, in dem ein Schadensersatzanspruch wegen falscher, irreführender oder unterlassener Kapitalmarktinformation oder ein Erfüllungsanspruch aus Vertrag, der auf einem Angebot nach dem WpÜG beruht, geltend gemacht wird, die Möglichkeit, in einem prozessualen Zwischenverfahren, dem sogenannten Musterverfahren, die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens anspruchsbegründender oder anspruchsausschließender Voraussetzungen oder die Klärung von Rechtsfragen zu beantragen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits davon abhängt (§ 1 Abs. 1 S. 1 KapMuG). Antragsberechtigt sind der Kläger wie auch der Beklagte. Dabei hat der Antragsteller u.a. darzulegen, dass der Entscheidung über seinen sogenannten Musterfeststellungsantrag (MFA) Bedeutung über den einzelnen Rechtsstreit hinaus zukommen kann (§ 1 Abs. 2 S. 3 KapMuG). Mit dem MFA können daher ausschließlich Feststellungen begehrt werden, die mehrere Rechtstreite betreffen.
II. Aktuelle Fassung des Vorlagebeschlusses im Musterverfahren DT 3 1. Die Hauptvorwürfe der Kläger In den Medien und der sonstigen Öffentlichkeit herrscht der Eindruck vor, der Prozess drehe sich beinahe ausschließlich um die Komplexe Immobilien(fehl)bewertung sowie VoiceStream. Hierfür mitursächlich dürfte sein, dass es zu diesen beiden jeweils Ad hoc-Meldungen der DT gegeben hat: Am 24.7.2000, also nur knapp fünf Wochen nach dem Börsengang, vermeldete die DT den Erwerb von VoiceStream für 50,7 Mrd. US-Dollar;18 der diesbezügliche Vorwurf der Kläger geht dahin, dass der Verhandlungsstand zu diesem Giga-Deal unzureichend prospektiert war und eine Prospektaktualisierungspflicht der Beklagten auch noch für die Zeit nach dem Börsengang ausgelöst hat. Mit Ad hoc-Meldung vom 21.2.2001 gab die DT die Neubewertung ihres Immobilienvermögens bekannt, welche zu einer pauschalen Wertberichtigung auf der Aktivseite von 2 Mrd. € geführt hat. Zusammen mit den seit Juli 2000 laufenden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Bonn wegen Verdachts auf Falschbilanzierung führte dies zum Vorwurf der Kläger auf fehlerhafte Prospektierung rund um die Immobilienbewertung.19 18 19
Zu recherchieren über http://www.dgap.de/dgap/static/Archiv/. Recherchierbar wie in Fn. 18.
Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz: Stresstest für den Telekom-Prozess
335
Tatsächlich stellen diese beiden Komplexe zwar wichtige, aber bei weitem nicht die alleinigen wesentlichen Vorwürfe dar. Dies zeigt bereits ein Blick in den Vorlagebeschluss (VB) zu DT 3,20 welcher in seiner Ursprungsversion 193 Druckseiten mit 33 Streitpunkten nebst zahlreichen Unterstreitpunkten umfasst. Der Musterkläger (MK) hat darüber hinaus am 24.10.2008 beim LG beantragt, weitere Vorwürfe als Streitpunkte in den VB gemäß § 13 KapMuG mit aufzunehmen, so beispielsweise zu dem nachfolgend dargestellten Komplex Globaler Übernahmevertrag. Zusätzliche Erweiterungsanträge aufgrund der zwischenzeitlich im Musterverfahren gewonnenen Erkenntnisse bereitet der MK aktuell vor. 2. Das Arbeitsprogramm für das Musterverfahren Das KapMuG gibt als Arbeits- und Gewaltenteilung vor,21 dass das LG als Prozessgericht aufgrund von mindestens zehn gleichgerichteten MFA aus den Ausgangsverfahren einen Vorlagebeschluss (VB) verfasst, welcher quasi als Arbeitsprogramm durch das OLG im sich anschließenden Musterverfahren abzuarbeiten ist. Dabei ist der VB jedoch nach der Konzeption des KapMuG nicht statisch, sondern dynamisch angelegt, kann er doch verändert werden, beispielsweise durch Erweiterungsanträge gemäß § 13 KapMuG. Zu derartigen Veränderungen des VB kam es auch beim VB DT 2,22 vor allem aber beim VB DT 3, der nachfolgend allein Gegenstand der Darstellung sein soll.23 Der ursprüngliche VB DT 3 24 wurde bis dato vom LG mittels fünf Folgebeschlüssen verändert,25 ebenso nahm das OLG Korrekturen am VB vor durch Streichungen mit übereinstimmender Einwilligung der Musterparteien.26
20 Vom 11.7.2006, 3/7 OH 1/06 KapMuG Vorl.; die Beschlüsse des LG sowohl zu DT 2 wie auch DT 3 finden sich im Klageregister des Elektronischen Bundesanzeigers, vgl. http://www.ebundesanzeiger.de/ebanzwww/wexsservlet, dort im Suchebereich Gerichtlicher Teil, dort Klageregister. 21 M.E. ist das OLG gesetzlicher Richter, Art. 19 Abs. 4, 101 Abs. 1 S. 2 GG, insoweit, als nur es in KapMuG-Rechtsstreiten über die mit zulässigem MFA beantragten Feststellungsziele und Streitpunkte erstinstanzlich entscheiden darf, nicht das LG. 22 Beschluss vom 22.11.2006, 3/7 OH 2/06 KapMuG Vorl, erweitert auf Antrag der MB gemäß § 13 KapMuG mit Beschluss vom 23.4.2007. 23 Seit Bestimmung des Musterklägers auch für das Musterverfahren DT 2, vgl. Beschluss des OLG vom 16.3.2007, 23 Sch 2/06, ruht dieses zweite Musterverfahren faktisch; der Name des Musterklägers zu DT 2 lautet Winkler, der zu DT 3 Kiefer. 24 Vom 11.7.2006, 3/7 OH 1/06 KapMuG Vorl. 25 Beschlüsse vom 27.10.2006, 23.4.2007 (gemäß § 13 KapMuG auf Antrag der MB), 25.4.2008 (gemäß § 319 ZPO analog auf Antrag des MK), 8.6.2008 sowie 24.2.2009 (gemäß § 13 KapMuG auf Antrag des MK). 26 Vgl. Protokolle zu den mündlichen Verhandlungen vom 7.4.2008 und 8.4.2008.
336
Andreas W. Tilp
3. Die aktuelle Fassung des VB DT 3 Nachfolgend wird ein kleiner Auszug aus dem aktuellen VB in der Fassung des hierzu zuletzt ergangenen Beschlusses vom 24.2.2009 wiedergegeben, nämlich insbesondere das sog. Feststellungsziel sowie exemplarisch die sog. Streitpunkte Ziff. 6 zum Komplex VoiceStream, Ziff. 11 zum Komplex Immobilienbewertung, Ziff. 26 zum Komplex deliktische Schutzgesetzhaftung, Ziff. 30 zum Komplex Prospektaktualisierungspflicht, sowie zum gemäß § 13 KapMuG durch den Musterkläger (MK) neu eingeführten Komplex der kompensationslosen Übernahme der Prospekthaftung.27 Die nachfolgend mit Fettdruck hervorgehobenen Passagen hat das LG dem ursprünglichen VB hinzugefügt, der als durchgestrichen markierte Satzteil wurde vom LG gestrichen, die Änderungen werden durch jeweilige Fußnoten belegt: „Der Rechtsstreit wird zur Herbeiführung eines Musterentscheids im Rahmen des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes zur Entscheidung über die von den Parteien mit dem Feststellungsziel der in ausreichender Zahl (§ 4 Abs. 1 Ziff. 1 KapMuG) eingegangenen Musterfeststellungsanträge, nämlich der Feststellung, dass die in dem Aktienprospekt (Prospekt nach dem Wertpapierprospektgesetz i.S. § 1 WpPG) der Beklagten vom 26.5.2000, dessen Gegenstand 512.000.000 € auf den Namen lautende Stückaktien der Deutschen Telekom AG, eingeteilt in 200.000.000 Stückaktien mit einem auf die einzelne Stückaktie entfallenden rechnerischen Anteil am Grundkapital von 2,56 €, sowie bis zu 76.800.000 € auf den Namen lautende Stückaktien der Deutschen Telekom AG, eingeteilt in bis zu 30.000.000 Stückaktien mit einem auf die einzelne Stückaktie entfallenden rechnerischen Anteil am Grundkapital von 2,56 € im Hinblick auf die den Konsortialbanken eingeräumte Mehrzuteilungsoption, jeweils aus dem Bestand der Kreditanstalt für Wiederaufbau, jeweils mit Gewinnberechtigung ab dem 1. Januar 2000 ist, für die Beurteilung der angebotenen Wertpapiere enthaltenen wesentlichen Angaben unrichtig bzw. unvollständig sind28 und den Klägern daher ein Anspruch aus Prospekthaftung gemäß § 44 Börsengesetz zusteht und sich Ansprüche der Kläger hieraus und/oder im Zusammenhang hiermit ergeben können.29 vorgetragenen, nachfolgend wiedergegebenen Streitpunkte dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main vorgelegt. Folgende Streitpunkte – sowohl zu tatsächlichen als auch rechtlichen Umständen im Sinne von § 1 Abs. 2 Satz 2 KapMuG – sind Gegenstand des 27
„Globaler Übernahmevertrag“, vgl. hierzu die Urteile des LG Bonn vom 1.6.2007, ZIP 07, 1267 sowie des Berufungsgerichtes OLG Köln vom 28.5.2009, 18 U 108/07. 28 Ursprungs-VB vom 11.7.2006, 3/7 OH 1/06 KapMuG Vorl. 29 Ergänzung gemäß Beschluss vom 18.6.2008 auf sofortige Beschwerde der MB.
Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz: Stresstest für den Telekom-Prozess
337
Vorlageverfahrens (die Angaben der Ziffern der einzelnen Anträge beziehen sich auf die Nummerierung in den Schriftsätzen der genannten Anwälte) und werden zur Entscheidung vorgelegt: 6) Feststellung der Fehlerhaftigkeit des Prospekts der Beklagten (DT) vom 26.5.2000 wegen fehlender Angaben zum Erwerb der amerikanischen Telefongesellschaft VoiceStream Wireless Corp. (…) 11) Festzustellen, dass der Prospekt der Beklagten (DT) vom 26.5.2000 fehlerhaft ist, weil die Angaben zur Immobilienbewertung falsch sind, bzw. Angaben hierzu fehlen. (…) 26) Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen für eine Haftung der Beklagten aus § 823 II. (…) 30) Feststellungen zu einer Aktualisierungspflicht der Beklagten (DT) Festzustellen, dass die Beklagte (DT) verpflichtet war, zu ihrem Prospekt vom 26.5.2000 Nachträge vorzunehmen und/oder diesen zu aktualisieren und dies auch nach dem Börsengang.30 (…) Es wird festgestellt, dass im streitgegenständlichen Verkaufsprospekt zur dritten Tranche und im Zusammenhang damit der Hinweis fehlt, dass – die Deutsche Telekom AG mit interner Vereinbarung vom 16.6.1999 („Globaler Übernahmevertrag“) kompensationslos die Prospekthaftung für die zweite und dritte Tranche übernahm (…)“31
III. Chronologie der Ereignisse 1. Tabellarischer Überblick Ohne Anspruch auf Vollständigkeit folgt ein chronologischer Überblick über die Ereignisse beginnend mit dem ersten Börsengang der DT im Jahr 1996. Soweit es um Vorgänge vor dem Prozessgericht (LG) geht, sind die Zeilen dunkelgrau hinterlegt; soweit es um Vorgänge im Musterverfahren (OLG) geht, sind die Zeilen hellgrau hinterlegt. In der 1. Spalte finden sich Einträge, soweit es um rechtsförmliche Verfahren geht. Hierzu die Legende: USA: StA Bonn: 30
dort eingereichte Unterlagen für den dortigen Börsengang DT 3 staatsanwaltschaftliche(s) Ermittlungsverfahren
Dieser wie die vorzitierten Streitpunkte waren bereits im Ursprungs-VB vom 11.7. 2006 enthalten. 31 Der VB wurde um diesen Streitpunkt zum Thema Globaler Übernahmevertrag erweitert gemäß § 13 KapMuG durch Beschluss vom 24.2.2009 auf Antrag des MK.
338
Andreas W. Tilp
class action: 28 USC § 1782:
US-Sammelklage gegen DT u.a. (et al) Dokumentenherausgabeverlangen in den USA durch deutsche Kläger/den MK BGH: Urteil des 4. Zivilsenats wegen Prüfung einer Prospekthaftungsklage eines Telekom-Aktionärs ÖRA: Öffentliche Rechtsauskunft- und Vergleichsstelle Hamburg BVerfG: Kammer-Beschluss wegen des inaktiven TelekomProzess LG Bonn/OLG Köln: Prozess der DT gegen die Bundesrepublik und die KfW wegen der US-Vergleichszahlung § 299 II ZPO: Akteneinsichtsbegehren des MK in die Prozessakten zu LG Bonn und OLG Köln
USA
USA
16.11.1996
DT 1: Prospektveröffentlichung, Emissionskurs EUR 14,57
18.11.1996
Börsengang DT 1: Erstnotiz
26.6.1999
DT 2: Prospektveröffentlichung, Emissionskurs EUR 39,50
28.6.1999
Börsengang DT 2: Erstnotiz
22.5.2000
Registration statement FORM F-3 an SEC
26.5.2000
Verkaufsprospekt DT 3
27.5.2000
DT 3: Prospektveröffentlichung, Emissionskurs EUR 63,50
5.2000
Nachtrag Nr. 1 zum Verkaufsprospekt DT 3
6.2000
Nachtrag Nr. 2 zum Verkaufsprospekt DT 3
6.2000
Nachtrag Nr. 3 zum Verkaufsprospekt DT 3
17.6.2000
Prospectus
19.6.2000
Sog. Börsengang DT 3/Umplatzierung: Erstnotiz
24.7.2000
Ad hoc der DT wegen Übernahme VoiceStream
StA Bonn
24.7.2000
Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts auf Falschbilanzierung, 42 Js 108/00 („Ursprungsverfahren“)
Class action
13.12.2000
erste US-Klagen gegen DT
21.2.2001
Ad hoc der DT: pauschale Wertberichtigung auf das Immobilienvermögen i.H.v. 2 Milliarden €
LG
12.4.2001
erste Klageschrift von TILP Rechtsanwälte
Class action
31.5.2001
consolidated amended complaint
LG
Bis Ende 2001
Ca. 350 Klagen wg. DT 2
Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz: Stresstest für den Telekom-Prozess
Class action
339
29.10.2002
class certification
13.3.2003
Schreiben des DT-RA Schmitz: Ablehnung einer Abrede über Verjährungsverzicht
28 USC § 1782
24.4.2003
US District Court, S.D. New York (Schmitz et al. vs. Bernstein Liebhard et al.)
BGH
21.5.2003
4. Zivilsenat: Urteil zum Rechtsschutz für Prospekthaftungsklage eines Telekom-Aktionärs
27.5.2003
Verjährungsfrist-Ende Prospekthaftung DT 3
ÖRA
Bis 27.5.2003
Anträge von ca. 17.000 DT-Aktionären zur Verjährungshemmung
Class action
31.10.2003
Frist für Abschluss der pre-trial discovery
LG
Bis Ende 2003
Ca. 1.700 Klagen wg. DT 3
28 USC § 1782
20.7.2004
US Court of Appeals, Second Circuit (Schmitz et al. vs. Bernstein Liebhard et al.)
BVerfG
27.7.2004
Kammer-Beschluss: Das LG ist gehalten, dem Telekom-Verfahren beschleunigt Fortgang zu gewähren
LG
23.11.2004
1. mündliche Verhandlung der 10 Pilotverfahren
Class action
28.1.2005
settlement agreement
Class action
04.2.2005
Zahlung der 120 Mio. USD Vergleichssumme
LG
21.3.2005
TILP Rechtsanwälte: Assmann-Gutachten zum Komplex Immobilienbewertung
StA Bonn
27.4.2005
410 Js 247/05 (ausgetrennt aus 42 Js 108/00): Einstellungsverfügung gemäß § 170 II StPO
StA Bonn
17.5.2005
LG Bonn-Beschluss: lediglich beschränkte Einsichtsgewährung in Akten 42 Js 108/00
LG
30.5.2005
Fleischer-Gegen-Gutachten für DT
StA Bonn
31.5.2005
42 Js 108/00: Einstellungsverfügung gemäß § 153a I StPO
LG
25.10.2005
2. mündliche Verhandlung der 10 Pilotverfahren
1.11.2005
KapMuG tritt in Kraft
28 USC § 1782
9.11.2005
BMJ-Schreiben
28 USC § 1782
21.11.2005
US District Court, S.D. New York (Winkler vs. Cravath Swaine et al.)
LG
11.7.2006
VB DT 3
OLG
25.7.2006
Bestimmung MK Kiefer für DT 3-Musterverfahren (23 Sch 1/06)
340
Andreas W. Tilp
LG
27.10.2006
VB DT 3: Berichtigungs- und Ergänzungsbeschluss
LG
22.11.2006
VB DT 2
LG
6.3.2007
VB DT 2: Berichtigungs- und Ergänzungsbeschluss
OLG
16.3.2007
Bestimmung MK Winkler für DT 2–Musterverfahren (23 Sch 2/06)
LG
23.4.2007
VB DT 2: Erweiterungsbeschluss gemäß § 13 KapMuG auf Antrag des MB
LG
23.4.2007
VB DT 3: Erweiterungsbeschluss gemäß § 13 KapMuG auf Antrag des MB
LG Bonn
1.6.2007
Urteil in Sachen DT gegen Bundesrepublik und KfW wegen US-Vergleichszahlung
299 II ZPO
10.10.2007
Ablehnungsbescheid gegen Akteneinsicht MK DT 2 durch den Präsident des OLG Köln
OLG
13.12.2007
Musterverfahrens-Website an die Beteiligten
OLG
15.2.2008
Beweisbeschluss bzgl. Komplex VoiceStream
OLG
31.3.2008
Verfügung: Bzgl. § 10 S. 3 KapMuG: wechselseitige Kenntnis der Schriftsätze der Beigeladenen via OLG-Website; Bzgl. § 8 III KapMuG: Parteien der noch nicht ausgesetzten Ausgangsverfahren werden vorläufig als Beigeladene zugelassen
OLG
07.4.2008
1. Tag der mündlichen Verhandlung
OLG
08.4.2008
2. Tag
OLG
14.4.2008
3. Tag: Zeuge Sommer (Ex-Vorstandsvorsitzender DT)
OLG
15.4.2008
4. Tag: Zeuge Winkhaus (Ex-AR-Vorsitzender DT); Parteianhörung Eick (Vorstandsmitglied)
OLG
21.4.2008
5. Tag: Zeuge Schütte; Zeuge Balz (Leiter Rechtsabteilung DT)
OLG
22.4.2008
6. Tag: Zeuge Siegfried (KfW), Zeuge Siewert (Ex BMF)
OLG
23.4.2008
7. Tag: Zeuge Harrer (Linklaters); Zeuge Claus (BMF)
LG
25.4.2008
VB DT 3: Berichtigungsbeschluss bzgl. Feststellungsziel analog § 319 ZPO (Neufassung des Feststellungszieles) auf Antrag des MK
OLG
28.4.2008
8. Tag: Zeuge Palenberg (US-Anwalt), Zeuge Brunckhorst (Deutsche Bank)
Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz: Stresstest für den Telekom-Prozess
341
OLG
29.4.2008
9. Tag: Zeuge Hirschberger (Ex-Leiter Konzernbüro DT); Zeuge Ricke (Ex-Vorstandsvorsitzender T-Mobile)
OLG
30.4.2008
10. Tag: Zeuge Grebe (Dresdner Kleinwort)
299 II ZPO
2.5.2008
OLG Köln, 7 VA 4/07: Zurückweisung des Antrags des MK DT 2 auf gerichtliche Entscheidung
OLG
19.5.2008
11. Tag: Zeuge Hedberg (Ex-Vorstand DT)
OLG
21.5.2008
12. Tag: Zeuge Herres (Ex-Mitarbeiter DT)
OLG
28.5.2008
13. Tag: Hinweisbeschluss zum Komplex Immobilienbewertung; Zeuge Copp (Leiter M&A DT)
LG
18.6.2008
VB DT 3: Teilabhilfebeschluss auf Beschwerde der MB wegen Neufassung des Feststellungszieles
OLG
1.8.2008
Beschluss: Vorlage von depositions gemäß § 142 ZPO durch MB
5.9.2008
Bundesamt für Justiz: Ausschreibung eines Forschungsvorhabens zum Thema „Evaluation des KapMuG“
299 II ZPO
29.12.2008
OLG Köln, 7 VA 4/07: Nichtabhilfebeschluss gegen die Gegenvorstellung des MK DT 2
OLG
15.1.2009
14. Tag
OLG
28.4.2009
Dt. Generalkonsulat San Francisco: Zeuge Stapelton (Ex-board member VoiceStream); Zeuge Mosa (T-Mobile Deutschland)
OLG
29.4.2009
Dt. Generalkonsulat San Franciso: Zeuge Stanton (Ex-CEO VoiceStream)
OLG
1.5.2009
Dt. Generalkonsulat New York: Zeuge Friedman (Ex-DLJ)
LG
24.2.2009
VB DT 3: (Teil-)Erweiterungsbeschluss gemäß § 13 KapMuG auf Antrag des MK
LG
14.5.2009
Nichtabhilfebeschluss gegen Beschwerde des MK gegen Beschluss vom 24.2.2009
OLG Köln
28.5.2009
Berufungsurteil zu LG Bonn wegen US-Vergleichszahlung
342
Andreas W. Tilp
2. Exkurs: Ermittlungsverfahren der StA Bonn Seit Juli 2000 ermittelte die Staatsanwaltschaft Bonn u.a. gegen Verantwortliche der DT im Zusammenhang mit den Börsengängen. Das Ursprungsverfahren 32 wurde wegen des Verdachts auf Falschbilanzierung eingeleitet. Im April 2005 kam es in dem aus diesem Verfahren abgetrennten Verfahren 33 zur Einstellungsverfügung gemäß § 170 Abs. 2 StPO bezüglich des Vorwurfs der Falschbilanzierung für die Jahre 1998 und 1999 sowie des Kapitalanlagebetrugs im Zusammenhang mit dem Börsenverkaufsprospekt vom Mai 2000 (DT 3). Im Mai 2005 kam es im Ursprungsverfahren 34 zur Einstellungsverfügung gemäß § 153a Abs. 1 StPO bezüglich des Verdachts der Falschbilanzierung hinsichtlich der Jahresabschlüsse für 1995 bis 1997 (einschließlich der nicht unterschriebenen Eröffnungsbilanz zum 1.1.1995) und des Kapitalanlagebetrugs hinsichtlich des Börsenprospektes von 1996. Dies betraf insbesondere das ehemalige Vorstandsmitglied der DT Kröske. Im Hinblick auf diese Einstellungsverfügung hatte sich die DT zur Abwendung einer Verbandsgeldbuße gemäß § 30 OWiG zur Zahlung von Spenden an gemeinnützige Organisationen in Höhe von 5 Mio. € verpflichtet und diese auch bezahlt.35 In diesem Zusammenhang führt die Staatsanwaltschaft Bonn auszugsweise aus:36 „In den Bilanzen für die Jahre 1995 bis 1997 ist die Überhöhung des Eigenkapitals auch als wesentlich anzusehen (…) Die Wesentlichkeitsgrenze in Bezug auf das Eigenkapital wird in Literatur und Rechtsprechung bei 2 % bis 5 % des Eigenkapitals diskutiert (…) Da das Eigenkapital von 1995 um 9,4 %, für 1996 um 5,16 % und für 1997 um 4,89 % überhöht dargestellt worden ist, war die Wesentlichkeitsgrenze jeweils überschritten (…) Der Beschuldigte Kröske hat in Kenntnis der überhöhten Werte und des sich daraus ergebenden Abwertungsbedarfs die Jahresabschlüsse der DT AG für die Jahre 1995 bis 1997 in seiner Eigenschaft als Finanzvorstand unterzeichnet und damit als Mitglied des vertretungsberechtigten Organs der Gesellschaft die Verhältnisse des Unternehmens in diesen Bilanzen unrichtig wiedergegeben. Er hat sich daher der vorsätzlichen unrichtigen Darstellung gemäß § 331 Abs. 1 Ziff. 1 HGB, § 25 Abs. 1 StGB in drei Fällen schuldig gemacht.“
32 33 34 35 36
42 Js 108/00. 410 Js 247/05. 42 Js 108/00. Verfügung der StA Bonn vom 14.9.2005, 42 Js 108/00. 42 Js 108/00, Vermerk vom 25.4.2005, Band XXXI, S. 130 ff.
Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz: Stresstest für den Telekom-Prozess
343
Und zum Börsenprospekt 1996: „Der Börsenprospekt der DTAG (…) enthielt unzutreffende Angaben zum Wert des Bilanzpostens Grundstücke und Gebäude sowie zur Höhe des Eigenkapitals (…) Da das Eigenkapital des Konzerns auch bei der hier angestellten Betrachtungsweise um 12,1 % zu hoch dargestellt worden ist, betrafen die unrichtigen Angaben einen für die Kaufentscheidung erheblichen Umstand (…) Als für den Prospektinhalt mitverantwortliches Vorstandsmitglied hatte der Beschuldigte Kröske (…) sich dadurch des Kapitalanlagebetrugs gemäß §§ 264a Abs. 1, 25 Abs. 1 StGB schuldig gemacht.“ 3. Exkurs: US class action Beim sog. dritten Börsengang (DT 3) wurden 200 Mio. Aktien der DT an Anleger in Europa, den USA (dort als sog. American Depositary Shares, ADS), Kanada und Asien verkauft (sog. secondary public offering oder Umplatzierung, da die Aktien bereits an den Börsen platziert waren).37 In den USA musste die DT hierzu u. a. ein registration statement form F-3 einreichen38 sowie einen Prospekt vorlegen.39 Beide vorgenannten Unterlagen wurden also vor Erstnotiz der Aktien in Deutschland publiziert.40 Im Dezember 2000 wurden wegen DT 3 erste Klagen gegen die DT in den USA im Rahmen einer class action eingereicht. Die Vorwürfe lauteten dahingehend, dass die beiden vorgenannten US-Unterlagen falsch und täuschend gewesen seien im Hinblick auf die Übernahmegespräche mit VoiceStream sowie die Immobilienbewertung. In der Folgezeit kam es zu einer umfangreichen pre-trial discovery, in deren Rahmen die US-Klägeranwälte mehr als 1,9 Mio. Dokumentenseiten sichteten und über 30 Zeugen vernahmen.41 Soweit dabei eidliche Aussagen geleistet wurden, handelt es sich dabei um sog. depositions. Die pre-trial discovery wurde Ende Oktober 2003 abgeschlossen. Im Januar 2005, also rund vier Jahre nach der ersten US-Klage, kam es zum Abschluss eines Vergleiches.42 Die DT verpflichtete sich zur Zahlung einer Vergleichssumme in Höhe von 120 Mio. US-Dollar. Anspruchs- und anmeldeberechtigt waren alle Per-
37
Vgl. Urteil des OLG Köln vom 28.5.2009, 18 U 108/07, S. 3. Mit Datum vom 22.5.2000. 39 Prospectus vom 17.6.2000. 40 Am 19.6.2000. 41 Stipulation and agreement of settlement vom 28.1.2005, Civil Action No. 00-CV-9475 (SHS), S. 5, vgl. http://securities.stanford.edu/1016/USD00/2005128_r04s_00CV9475.pdf. 42 Stipulation and agreement of settlement vom 28.1.2005, Civil Action No. 00-CV-9475 (SHS), S. 5, vgl. Fn. 41. 38
344
Andreas W. Tilp
sonen, welche DT-Aktien in Form von ADS innerhalb der Periode von 19.6.2000 bis 21.2.2001 erworben hatten.43
IV. Prozessverlauf bis Inkrafttreten des KapMuG Als die US class action kurz vor Vergleichsabschluss stand, begann das LG Frankfurt a.M. gerade mit der ersten mündlichen Verhandlung.44 Bevor diese Prozessphase dargestellt wird, einige weitere Exkurse: 1. Exkurs: BGH-Versicherungssenat Eine der höchsten Barrieren für den Zugang zum Recht und damit für effektiven Rechtsschutz stellt das Kostenrisiko eines Prozesses dar. Das nach den gesetzlichen Bestimmungen berechnete Gesamtkostenrisiko eines deutschen Zivilprozesses beläuft sich bei einem Streitwert bis 17.000,00 € auf etwas über denselben Betrag. Das bedeutet, dass der Risikofaktor bei dem durchschnittlichen Streitwert im Telekom-Prozess 45 noch schlechter ist. Am 21.5.2003 46 entschied der Versicherungsrechtsenat des BGH, dass dem Rechtsschutzbegehren eines Telekom-Aktionärs für eine Schadensersatzklage wegen DT 3 nicht der Aufschlussgrund der Wahrnehmung rechtlicher Interessen aus dem Bereich des Rechts der Handelsgesellschaften entgegenstehe. Die Geltendmachung börsengesetzlicher Prospekthaftungsansprüche falle nämlich nicht hierunter. Die Rechtsnatur von § 45 BörsG a. F. sei als eine auf Leistung von Schadensersatz gerichtete gesetzliche Haftpflichtbestimmung zu qualifizieren. Dieses Urteil erging sechs Tage vor Ablauf der Verjährungsfrist für die börsengesetzlichen Prospekthaftungsansprüche.47 Es fand noch am selben Tag starke Medienpublizität.48 2. Exkurs: ÖRA Wie dargestellt 49 haben bis Ablauf der Prospekthaftungs-Verjährungsfrist mehr als 17.000 Antragsteller die ÖRA Hamburg zwecks Verjährungshem43 Stipulation and agreement of settlement vom 28.1.2005, Civil Action No. 00-CV-9475 (SHS), S. 3, vgl. Fn. 41. 44 Am 23.11.2004. 45 Siehe hierzu oben Kapitel I.1: knapp € 5.900,00. 46 Urteil vom 21.5.2003, NJW 03, 2384. 47 Vgl. § 46 BörsG a.F.: drei Jahre ab Prospektveröffentlichung, mithin Fristablauf 27.5. 2003. 48 Vgl. Pressemitteilung von TILP Rechtsanwälte vom 21.5.2003, http://www.tilp.de/ 110_383.htm. 49 Vgl. oben Kapitel I.1.
Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz: Stresstest für den Telekom-Prozess
345
mung gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 4 BGB angerufen.50 Nach dem Ablauf des 27.5. 2005 gingen bis dato noch mehrere hundert Telekom-Klagen beim LG Frankfurt a.M. ein, welche ca. 2.000 Kläger repräsentieren. Im Jahr 2008 waren es keine hundert mehr, in 2009 gerade noch zwei. Gemessen an dem ursprünglichen Ansturm auf die ÖRA beschritten nur verhältnismäßig wenige der dortigen Antragsteller den späteren Klageweg. Nach Auskunft der ÖRA waren alle Anträge von Telekom-Aktionären im Laufe des Jahres 2007 abgearbeitet. 3. Exkurs: BVerfG Auch das BVerfG war bereits mit dem Telekom-Prozess befasst. Elf Beschwerdeführer aus dem aus August 2001 eingereichten Ausgangsverfahren 3-07 O 271/01 hatten Verfassungsbeschwerde gegen die Untätigkeit des LG Frankfurt a.M. und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt.51 Die 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat am 27.7.2004 einstimmig beschlossen, die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen.52 Die Kammer führt aus, eine überlange, die Gewährung effektiven Rechtsschutzes unzumutbar beeinträchtigende und deshalb verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbare Verfahrensdauer sei noch nicht gegeben. Es sei nicht feststellbar, dass sich das LG Frankfurt a.M. nicht um eine Förderung des Verfahrens bemüht habe. Der Telekom-Prozess sei sowohl tatsächlich wie rechtlich außerordentlich komplex, die in Frankfurt inzwischen anhängigen mehr als 2.000 Verfahren müssten aufeinander abgestimmt und einem Verfahrensweg zugänglich gemacht werden, der es ermögliche, in einigen wenigen Verfahren über die ganze „Fallbreite“ zu entscheiden. Die Kammer gehe davon aus, dass das LG dem Verfahren nunmehr beschleunigt Fortgang gebe und die für Ende des Jahres 2004 geplante mündliche Verhandlung tatsächlich auch stattfinden werde. 4. LG: Zehn Pilotverfahren Zu dieser ersten mündlichen Verhandlung kam es dann auch, nämlich am 23.11.2004 und unter starkem Interesse der Medien. In deren Vorbereitung teilte der Vorsitzende Richter Meinrad Wösthoff mit, dass er aus der Gesamtheit der Telekom-Klagen zehn Klageverfahren, welche von zehn verschiede-
50 Auf diese Möglichkeit hatte auch die Kanzlei TILP Rechtsanwälte hingewiesen, vgl. Pressemitteilung vom 21.5.2003, Fn. 48. 51 vgl. http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk20040727_ 1bvr119604. html. 52 Beschluss vom 27.7.2004, NJW 04, 3320.
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Andreas W. Tilp
nen Kanzleien geführt werden, als „Pilotverfahren“ ausgewählt und terminiert habe. Und zwar deshalb, weil in diesen Verfahren eine Fülle von übereinstimmenden komplexen Problemstellungen gegeben sei und sich allein durch eine gemeinsame Verhandlung ständige zeitraubende Wiederholungen vermeiden ließen. Die individuellen Probleme der Einzelverfahren würden am Ende der Sitzung angesprochen. Eine Güteverhandlung erscheine aussichtslos.53 Am 23.11.2004 waren die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Bonn aus deren Ursprungsverfahren 54 Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Mit den Parteivertretern der zehn Pilotverfahren wurden die von ihnen wegen DT 2 und DT 3 klageweise geltend gemachten Bedenken erörtert. Darüber hinaus wurden im großen Umfang Probleme der Darlegungs- und Beweislast sowie des Substantiierungszwangs und darüber hinaus Probleme der Verjährung behandelt. Sinngemäß führte Wösthoff aus, in der in den Prospekten nicht offengelegten Bewertung der überwiegenden Zahl der Grundstücke der DT nach dem Clusterverfahren sehe er einen Verstoß gegen die gesetzliche vorgeschriebene Einzelbewertung der Grundstücke. Dies stelle jedoch für sich genommen noch keinen erheblichen Prospektmangel dar, weil auch das unzulässigerweise angewandte Clusterverfahren zu einer zutreffenden Bewertung der Grundstücke habe führen können. Deshalb sei es Sache der Kläger nachzuweisen, dass eine Bewertung der Grundstücke im Einzelbewertungsverfahren zur Ermittlung eines geringeren Grundstückswertes geführt hätte und in der Wertdifferenz ein erheblicher Prospektmangel liege. Aus seiner Sicht bedürfe es eines entsprechenden Sachverständigengutachtens. Termin zur Fortsetzungsverhandlung wurde bestimmt auf Juni 2005.55 Mit Schriftsatz vom 31.3.2005 führte der Pilotkläger Winkler ein Rechtsgutachten von Heinz-Dieter Assmann zum Komplex Immobilienbewertung ein.56 Assmann kommt auf der unterstellten Basis der von Wösthoff vorzitierten geäußerten Rechtsansicht zum Ergebnis, es sei im Rahmen eines widerleglichen Anscheinsbeweises zugunsten der Kläger als erwiesen anzusehen, dass es sich bei den Angaben über die durch ein unzulässiges Bewertungsverfahren ermittelten Grundstückswerte um fehlerhafte Prospektangaben handele, welche auch wesentlich im Sinne des Prospektrechtes seien. Ein Prospektmangel könne darüber hinaus darin gesehen werden, dass die Prospekte
53 Vgl. Verfügung vom 3.9.2004 i. S. Winkler zum AZ 3-07 O 53/01; dieses Verfahren stellt das Pilotverfahren von TILP Rechtsanwälte dar. 54 42 Js 108/00. 55 Protokoll vom 23.11.2004 zum Verfahren 3/7 O 53/01. 56 Vgl. Anlage K 95 zum Schriftsatz TILP Rechtsanwälte vom 31.3.2005, Rechtsgutachten Assmann vom 21.3.2005.
Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz: Stresstest für den Telekom-Prozess
347
keine Auskunft über das angewandte Bewertungsverfahren geben und damit die Erkenntnis vereiteln würden, dass ein ungewöhnliches und des Weiteren auch gesetzlich unzulässiges Bewertungsverfahren angewandt worden sei. Das angewandte Bewertungsverfahren für die Ermittlung des Wertes der Immobilien einer Gesellschaft sei aber per se von prospektrechtlich erheblicher Bedeutung. In Reaktion auf das Assmann-Gutachten führte die Beklagte DT im Pilotverfahren Winkler ein Gegen-Rechtsgutachten von Holger Fleischer ein.57 Fleischer kommt zum Ergebnis, dass eine Prospektunrichtigkeit nur gegeben wäre, wenn die Bewertung der Grundstücke nach dem Vereinfachungsverfahren zu höheren Bilanzansätzen geführt hätte als nach einem Verfahren ohne Inanspruchnahme von Vereinfachungsmöglichkeiten. Die Beweislast für die Bewertungsdifferenz läge bei den Klägern. Ein Anscheinsbeweis scheide aus. Beide Rechtsgutachten beschäftigen sich ausschließlich mit dem Komplex Immobilienbewertung. Rechtsgutachten zu anderen Komplexen sind bis dato, soweit ersichtlich, nicht in den Telekom-Prozess eingeführt worden. Zu der für Juni 2005 geplanten Fortsetzungsverhandlung kam es nicht, vielmehr fand die zweite mündliche Verhandlung am 25.10.2005 statt. Zwischenzeitlich war das KapMuG beschlossen worden.58 Im Hinblick darauf stellte der Pilotkläger Winkler bereits vor der zweiten mündlichen Verhandlung, also noch vor Inkrafttreten des Gesetzes 59, hilfsweise einen MFA nach § 1 KapMuG.60 Auch dieser zweite Verhandlungstermin fand ein sehr starkes Medieninteresse. Wösthoff wies auf das in Kürze in Kraft tretende KapMuG hin und legte dar, wie nach seinem Dafürhalten die MFA zu fassen wären.61 Erörtert wurde insbesondere die Frage des in § 1 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 KapMuG aufgeführten Unzulässigkeitsgrundes der Entscheidungsreife und dass diese nach seiner Auffassung nicht gegeben sei.
57
Mit Schriftsatz vom 31.5.2005 mittels Anlage CC28, Fleischer-Gutachten vom 30.5.
2005. 58
Gesetz vom 16.8.2005, BGBl. 2005 I, S. 2437. 1.11.2005. 60 Schriftsatz TILP Rechtsanwälte vom 17.10.2005 im Pilotverfahren Winkler 3-7 O 53/01. 61 Damit ergriff das LG die Initiative zur Einleitung des Musterverfahrens, was gemäß § 139 Abs. 1 S. 2 ZPO nicht nur zulässig (so auch explizit für eine solche Initiativergreifung Vollkommer NJW 2007, 3094, 3098) sondern auch geboten sein dürfte. 59
348
Andreas W. Tilp
V. Ablauf eines KapMuG-Prozesses 1. Visualisierte Darstellung Im Kapitel I.2. wurde das KapMuG-Verfahren bereits einführend dargestellt. Nochmals sei betont, dass der Telekom-Prozess ein atypisches KapMuG-Verfahren darstellt. Wie aufgezeigt,62 hatte Wösthoff in der zweiten mündlichen Verhandlung kurz vor Inkrafttreten des KapMuG richterliche Hinweise gegeben, wie seines Erachtens nach die MFA zu fassen wären. Damit liegt auch insoweit kein Normalfall eines KapMuG-Verfahrens vor, da dieses seiner Konzeption nach ein reines Antragsverfahren ist. Inwieweit hier Einflussmöglichkeiten oder gar Einflussnahmepflichten der Gerichte bestehen, wird nachfolgend in Kapitel V.2. erörtert. Nur also auf Antrag einer Partei des Ausgangverfahrens kommt der KapMuG-Prozess nach der Konzeption des Gesetzes überhaupt in Gang. Dieser ist zweistufig ausgestaltet, führt also zu einer Verdoppelung des Instanzenzuges: Die erste Stufe stellt als Zwischenverfahren das Musterverfahren vor dem OLG dar, welches regelmäßig mit Musterentscheid des BGH enden dürfte.63 Dieses Zwischenverfahren ist wiederum dual ausgestaltet, da das LG als Prozessgericht durch Verfertigung und Eintragung des VB im Klageregister das OLG-Musterverfahren in Gang bringt, andererseits der zwischen dem OLG und dem LG durch die Beteiligten vermittelten Interaktion, schon etwa im Hinblick auf Erweiterungsanträge gemäß § 13 KapMuG, maßgebliche Bedeutung zukommt. Nach Abschluss des Zwischenverfahrens werden auf einer zweiten Stufe die jeweiligen Individualrechtsstreite in dem dann insoweit „normalen“ Instanzenzug entschieden. Am besten lässt sich der Ablauf eines KapMuG-Prozesses visualisiert darstellen:64 1. Stufe: LG („Prozessgericht“)
OLG („Musterverfahren“)
Individualrechtsstreit („Ausgangsverfahren“): erstinstanzliches Verfahren (§ 1 I 1) Musterfeststellungsantrag – MFA (§ 1) Bekanntmachung des MFA im Klageregister (§ 2) 62
Siehe oben Kapitel IV.4. Da gemäß § 15 Abs. 1 KapMuG gegen den Musterentscheid stets die Rechtsbeschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung stattfindet. 64 Im Übrigen sei die Darstellung bei Schmitz Fn. 6, zur Lektüre empfohlen. 63
Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz: Stresstest für den Telekom-Prozess
349
Verfahrensunterbrechung mit Bekanntmachung (§ 3) 9 weitere gleichgerichtete MFA binnen 4 Monaten nach Bekanntmachung (§ 4 I 1 Nr. 2) Vorlagebeschluss – VB (§ 4 I, II) Bekanntmachung des VB im Klageregister (§ 4 III) Bestimmung der Musterparteien (§ 8 II) Bekanntmachung des ergänzten VB im Klageregister (§ 6) Aussetzungsverfahren (§ 7): Anhörungsverfahren (§ 7 I 3); Aussetzungsbeschluss – AB (§ 7 I 4) Beiladungsverfahren: Nicht-Musterparteien werden durch AB zu Beigeladenen (§ 8 III 2) 2-Wochen-Frist ab Zustellung des AB für Klagerücknahme (§ 8 III 3 Nr. 2) Weitere Durchführung des Musterverfahrens (§§ 9 ff) Erweiterungsverfahren des VB (§ 13)
Beschwerde gegen Nichterweiterung (§ 567 ZPO) Musterentscheid (§ 14) BGH: Rechtsbeschwerde (§ 15)
2. Stufe: LG: Entscheidung des jeweiligen Individualrechtsstreits OLG: Berufung BGH: Nichtzulassungsbeschwerde/ Revision
2. Konsolidierendes Verfahren/Hinweispflichten von LG und OLG Beim KapMuG-Prozess handelt es sich um ein konsolidierendes Verfahren in zweierlei Hinsicht: Das den VB verfassende und erlassende LG berücksichtigt im Regelfall nicht nur einen MFA, sondern zumindest die zehn im Klageregister veröffentlichten gleichgerichteten. Ist, wie im Telekom-Pro-
350
Andreas W. Tilp
zess, nur ein LG65, ja nur eine Kammer ausschließlich mit sämtlichen Ausgangsverfahren befasst, steht dem Gericht die volle „Fallbreite“66 zur Verfügung. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob das Gericht diese „Stoffsammlung“ nicht nur berücksichtigen kann, sondern sogar berücksichtigen muss.67 Zu dieser Frage findet sich bisher soweit ersichtlich nur ansatzweise Literatur.68 Aber auch in der Interaktion zwischen LG und OLG findet im Zwischenverfahren eine Konsolidierung des Streitstoffes statt. Regelmäßig werden bei der Durchführung des Musterverfahrens noch nicht oder nicht ausreichend berücksichtigte rechtstatsächliche wie rechtliche Umstände hervortreten, welche den VB beeinflussen, beispielsweise mittels Erweiterungsanträgen gemäß § 13 KapMuG. Insoweit stellt sich die weitere Frage, ob und inwieweit hier Hinweispflichten des OLG bestehen. Anerkannt ist, dass für beide Gerichte die ZPO-Hinweispflichten gelten, insbesondere gemäß §§ 136 Abs. 3, 139 ZPO; für das OLG folgt deren Anwendung aus § 9 KapMuG, für das LG aus Art. 3 EGZPO. 3. Umstrittene Nomenklatur 69 Für den KapMuG-Prozess von maßgeblicher Bedeutung sind folgende Begriffe: Streitgegenstand, Lebenssachverhalt, Feststellungsziel und Streitpunkte. Der Begriff des Streitgegenstandes wird im KapMuG nicht legal definiert, aber in § 16 Abs. 1 S. 2 KapMuG verwendet, nämlich im Hinblick auf die Rechtskraft des Musterentscheides. Dieser „ist der Rechtskraft insoweit fähig, als über den Streitgegenstand des Musterverfahrens entschieden ist.“ Dabei wirkt der Musterentscheid gemäß § 16 Abs. 1 S. 3 KapMuG „für und gegen alle Beigeladenen des Musterverfahrens unabhängig davon, ob der Beigeladene selbst alle Streitpunkte ausdrücklich geltend gemacht hat.“ 65 Was angesichts des seit 1.11.2005 geltenden ausschließlichen Gerichtsstandes des § 32b ZPO die Regel sein dürfte. 66 So die Diktion aus der Pressemitteilung des Präsidenten des LG Frankfurt a.M., vgl. Fn. 11, sowie auch die des BVerfG, vgl. Fn. 52. 67 Kramer, Präsident des LG Frankfurt a.M., weist zutreffend darauf hin, dass das Gericht gemäß §§ 136 Abs. 3, 139 ZPO die Verantwortung für die erschöpfende Verhandlung eines Rechtsstreits trägt, vgl. NJW-Sonderheft 3 Hannoveraner ZPO-Symposium, 2006, 8, 10; Fellner Richter am KapMuG-Senat des OLG München, spricht sich de lege ferenda für weitgehende Einflussmöglichkeiten von LG und OLG aus, vgl. Das KapMuG aus der Sicht des OLG München, S. 10, 4. Tag des Bank- und Kapitalmarktrechtes, Potsdam, 22.11.2007, abrufbar unter http://www.bankundkapitalmarkt.de/veranstaltungsarchiv/ rueckblick-auf-den-4-tag-des-bank-und-kapitalmarktrechts-2007-in-potsdam.html. 68 Schmidt-Räntsch weist zutreffend auf die Notwendigkeit eines „möglichst breiten Klärungseffektes“ hin, vgl. NJW-Sonderheft 3. Hannoveraner ZPO-Symposium, 2006, 27, 35. 69 Vgl. zu den unterschiedlichen Interpretationen dieser Begrifflichkeiten die Nachweise bei Schmitz Fn. 6, Rz. 81 ff.
Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz: Stresstest für den Telekom-Prozess
351
Der Begriff Lebenssachverhalt wird ebenso wenig im KapMuG legal definiert, aber in § 2 Abs. 1 S. 5 verwendet. Danach sind „gleichgerichtete Musterfeststellungsanträge“ solche, „deren Feststellungsziel den gleichen zugrunde liegenden Lebenssachverhalt betrifft.“ Der Begriff des Feststellungsziels wird dagegen legal definiert in § 1 Abs. 1 S. 1 KapMuG. Danach ist das Feststellungsziel das Begehren der „Feststellung des Vorliegens oder Nicht-Vorliegens anspruchsbegründender oder anspruchsausschließender Voraussetzungen oder die Klärung von Rechtsfragen.“ Schließlich wird der Begriff Streitpunkte legal definiert, und zwar in § 1 Abs. 2 S. 2 KapMuG. Danach sind Streitpunkte die „Angaben zu allen, zur Begründung des Feststellungsziel dienenden tatsächlichen und rechtlichen Umstände.“ Damit kommt den vier vorbezeichneten Begriffen zentrale Bedeutung für den gesamten KapMuG-Prozess zu, nämlich für seine Initiierung 70, für seine Durchführung 71 und für sein Ende 72.
VI. Prozessverlauf seit dem 1. November 2005 1. VB DT 3 durch das LG Wie dargelegt, hat das LG den diesbezüglichen VB am 11.7.2006 erlassen. Zugrunde lagen ihm die MFA derjenigen zehn Kanzleien, welche die zehn Pilotkläger vertreten. Diese Kanzleien – und nur diese – haben nach Inkrafttreten des KapMuG beim LG gleichgerichtete MFA gestellt. 2. Bestimmung des MK durch das OLG Mit Beschluss vom 25.7.2006 hat das OLG den MK im Musterverfahren DT 3 bestimmt.73 Die Begründung lautet: „Die Auswahl berücksichtigt die Höhe des von dem Musterkläger (…) geltend gemachten Anspruchs, der Gegenstand des Musterverfahrens ist (§ 8 Abs. 2 KapMuG). Eine Verständigung mehrerer Kläger auf einen Musterkläger ist nicht bekannt.“
70
Bezüglich der Gleichgerichtetheit der MFA, vgl. § 2 Abs. 1 S. 5 KapMuG. Wegen der Fassung des VB, welcher gemäß § 4 Abs. 2 KapMuG das Feststellungsziel sowie die Streitpunkte zu enthalten hat. 72 Hinsichtlich der Rechtskrafterstreckung, die ja nur insofern greift, als über den Streitgegenstand des Musterverfahrens entschieden ist, vgl. § 16 Abs. 1 S. 1 KapMuG. 73 23 Sch 1/06, Musterkläger Kiefer. 71
352
Andreas W. Tilp
3. Aussetzungsverfahren durch das LG Nach Bestimmung des MK wurde der gemäß § 6 KapMuG ergänzte VB vom OLG im Klageregister öffentlich bekannt gemacht. Danach hatte das LG gemäß § 7 KapMuG das Aussetzungsverfahren von Amts wegen durchzuführen. Gemäß § 7 Abs. 1 S. 3 KapMuG sind die Parteien im Aussetzungsverfahren anzuhören, es sei denn, sie hätten darauf verzichtet. Gemäß Satz 4 dieser Vorschrift ist der Aussetzungsbeschluss nicht anfechtbar. Die DT hatte sich im Aussetzungsverfahren in rund 73 % der Ausgangsverfahren gegen eine Aussetzung ausgesprochen.74 Wösthoff bezeichnet das Aussetzungsverfahren als einen „echten Stolperstein des Gesetzes“.75 Maßgebliche Voraussetzung für die Aussetzung eines Rechtsstreits ist, ob seine „Entscheidung von der im Musterverfahren zu treffenden Feststellung oder der im Musterverfahren zu klärenden Rechtsfrage abhängt“. Der Ausgang des Musterverfahrens muss also entscheidungserheblich für den jeweiligen Rechtstreit sein. Eine Abhängigkeit ist auch dann zu bejahen, wenn der dem auszusetzenden Rechtsstreit zugrunde liegende Streitstoff nur partiell mit dem Lebenssachverhalt des Musterverfahrens übereinstimmt.76 Eine Abhängigkeit von den Feststellungen des Musterverfahrens scheidet insbesondere dann aus, wenn der Rechtstreit bereits entscheidungsreif ist. Fraglich ist, ob ein hoher Prüfungsmaßstab an die Aussetzungsfähigkeit anzulegen ist oder diese lediglich kursorisch geprüft werden muss.77 Problematisch ist insoweit insbesondere der Umstand, dass die Kosten des Musterverfahrens anteilig von demjenigen zu tragen sind, dessen Verfahren ausgesetzt wird.78 Per dato sind sämtliche Ausgangsverfahren ausgesetzt; per 7.4.2008, dem Beginn der ersten mündlichen Verhandlung vor dem OLG, hatte das LG ca. 95 % der Aussetzungen erledigt. Keine einzige Klage der Ausgangsverfahren wurde vom LG abgewiesen. Denn es ging „eher pragmatisch als dogmatisch“ vor.79
74 Wösthoff Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz zwischen Theorie und Praxis, S. 10, 4. Tag des Bank- und Kapitalmarktrechtes, Potsdam, 22.11.2007, abrufbar unter http: //www.bankundkapitalmarkt.de/veranstaltungsarchiv/rueckblick-auf-den-4-tag-desbank-und-kapitalmarktrechts-2007-in-potsdam.html. 75 Ebenda, Fn. 75, S. 9 76 Vgl. Schmitz Fn. 6, Rz. 177. 77 Vgl. Schmitz Fn. 6, Rz. 180. 78 Vgl. Schmitz Fn. 6, Rz. 181. 79 So wörtlich Wösthoff vgl. Fn. 74, S. 13.
Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz: Stresstest für den Telekom-Prozess
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4. Exkurs: Urteile des LG Bonn und OLG Köln zum Komplex Globaler Übernahmevertrag Während das LG noch mitten in den Aussetzungsverfahren war und das OLG noch nicht terminiert hatte, erging am 1.6.2007 zugunsten der vor dem LG Bonn gegen die Bundesrepublik und die KfW klagenden DT ein Grundurteil im Hinblick auf die von der DT in der US class action bezahlten Vergleichssumme.80 Das LG Bonn meinte, die DT habe kompensationslos die Prospekthaftung für den Börsengang DT 3 übernommen, was eine verbotene Einlagenrückgewehr und damit einen Verstoß gegen §§ 57, 62 AktG darstelle. Mit Berufungsurteil vom 28.5.2009 81 wurde das Urteil abgeändert und die Klage der DT abgewiesen. Die Revision wurde zugelassen wegen grundsätzlicher Bedeutung und zur Fortbildung des Rechts im Hinblick auf die unterschiedlichen Literaturauffassungen zu § 57 AktG und die Bedeutung der Frage für die Mitwirkung einer Gesellschaft am Verkauf von Aktien durch ihren Aktionär. Das OLG Köln führt aus, dass das von der DT in den USA eingegangene Prospekthaftungsrisiko aufgrund des Umfangs der Aktienemission und im Hinblick auf die geführten Übernahmeverhandlungen mit amerikanischen Mobilfunkunternehmen hoch gewesen 82 und die Prospekthaftung nach USamerikanischem Recht verschuldensunabhängig ausgestaltet sei.83 5. Exkurs: Akteineinsichtsbegehren gemäß 28 USC § 1782 sowie § 299 Abs. 2 ZPO a) 28 USC § 1782 Im Januar 2003 stellten mehrere Kläger der Frankfurter Ausgangsverfahren vor dem United States District Court, Southern District New York, ein Dokumentenherausgabeverlangen gemäß 28 USC § 1782.84 Es ging ihnen um Einsicht in Unterlagen, die zum damaligen Zeitpunkt im Rahmen der US class action von der DT in den USA vorgelegt worden waren. Die dortige pre-trial discovery war zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen. Die von den Antrag stellenden deutschen Klägern in den USA als Antragsgegnerin in Anspruch genommene US-Kläger-Kanzlei Cravath Swaine legte
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LG Bonn, Urteil vom 1.6.2007, ZIP 07, 1267. OLG Köln, Urteil vom 28.5.2009, 18 U 108/07. 82 OLG Köln, Urteil vom 28.5.2009, 18 U 108/07, S. 35. 83 OLG Köln, Urteil vom 28.5.2009, 18 U 108/07, S. 9. 84 Vgl. zu diesem Verfahrensrecht Tilp/Schiefer DAJV-NL 2007, 199, 205 sowie Schmitz Fn. 6, Rz. 54. 81
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im dortigen Dokumentenherausgabeverfahren Schreiben der Staatsanwaltschaft Bonn sowie des BMJ vor, welche beinhalteten, dass die Herausgabe an bzw. die Einsicht der Dokumente durch die Antragsteller zum damaligen Zeitpunkt das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren in Deutschland und die Rechte der dortigen Beschuldigten beeinträchtigen würde.85 Vor diesem Hintergrund wurde das Begehren der deutschen Kläger in den USA sowohl erstinstanzlich 86 wie auch zweitinstanzlich87 abgewiesen. Nach Abschluss sowohl der pre-trial discovery in der US class action wie auch der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren in Deutschland beantragte Winkler, MK DT 2, ebenfalls dieses Verfahren. Die Antragsgegner des dortigen Verfahrens legten ein Schreiben des BMJ vom 9.11.2005 vor, welches beinhaltete, dass das LG Bonn mit Beschluss vom 17.5.2005 88 die Absicht der Staatsanwaltschaft Bonn bestätigt hatte, Einsicht in die Akten im Ermittlungsverfahren 42 Js 108/00 lediglich in einem eingeschränkten Umfang zu gewähren. Vor diesem Hintergrund würde die begehrte Auslieferung der Dokumente aus den USA deutsche Hoheitsrechte gefährden. Unterlagen der Staatsanwaltschaft Bonn seien von der DT zur Einreichung im Rahmen der pre-trial discovery in der US class action angefordert worden. Die Staatsanwaltschaft Bonn habe diese Dokumente für diesen Zweck beschafft, allerdings unter der ausdrücklichen Bedingung, dass diese Dokumente ausschließlich in der dortigen US class action Verwendung fänden. Würde dem Dokumentenherausgabeverlagen des MK Winkler stattgegeben werden, würde dies die Befugnis der deutschen Staatsanwälte und der deutschen Richter über die Gewährung von Akteneinsicht beeinträchtigen. Vor diesem Hintergrund wies das angerufene US-Gericht das Begehren zurück.89 b) § 299 Abs. 2 ZPO Nachdem das Urteil des LG Bonn 90 veröffentlicht worden war, beantragte der MK DT 2 Winkler gemäß § 299 Abs. 2 ZPO Einsicht in die dortigen Ver-
85 Vgl. die Entscheidung des United States Court of Appeals, Second Circuit vom 20.7.2004, Schmitz v. Bernstein 376 F. 3d 79 (2d Cir. 2004), abrufbar unter http://bulk. resource.org/courts.gov/c/F3/376/376.F3d.79.03-7556.html. 86 Entscheidung des United States District Court S. D. New York vom 24.4.2003, In re Application of Schmitz, 259 F.Supp.2d 294, 300 (S.D.N.Y.2003). 87 Wie Fn. 85. 88 LG Bonn, Beschluss vom 17.5.2005, 27 AR 14/05. 89 United States District Court S. D. of New York, Entscheidung vom 21.11.2005, M 19-88 (RCC), In the matter of application Dieter Winkler, 05SD5316, (S.D.N.Y. 2005). 90 Vom 1.6.2007, ZIP 2007, 1267.
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fahrensakten. Der Präsident des OLG Köln lehnte dies mit Bescheid vom 10.10.2007 ab.91 Den vom MK hierauf gemäß Art. 23 ff. EGGVG gestellten Antrag wies das OLG Köln mit Beschluss vom 2.5.2008 zurück.92 Auszugsweise heißt es in der Begründung: „Die Durchsetzung von Ansprüchen gegen die DTAG (…) steht in keinem unmittelbaren rechtlichen Bezug zu dem Gegenstand des Rechtsstreites, in dessen Akten die Einsicht begehrt wird. Die Frage nämlich, ob der DTAG in ihrem Zuständigkeitsbereich, zu dem die Prospekterstellung gehörte, ihr anzulastende Fehler unterlaufen sind, ist unabhängig davon zu beantworten, ob und inwieweit sie wegen der im Zusammenhang mit dem Börsengang in den USA aufgewandte Kosten bei den von ihr in Anspruch genommenen Beklagten regressieren kann. Ein rechtlicher Konnex zwischen diesen beiden Problemkreisen ist eindeutig zu verneinen, allenfalls berühren sie sich marginal.“ Die hiergegen von Winkler erhobene Gegenvorstellung wies das OLG Köln mit Beschluss vom 29.12.2008 zurück.93 6. OLG: Weitere Durchführung des Musterverfahrens vor dem OLG Während das LG die Aussetzungsverfahren betrieb, bereitete das OLG die mündliche Verhandlung zum Musterverfahren DT 3 vor, welche dann ab dem 7.4.2008 unter der Leitung des Vorsitzenden Richters Christian Dittrich begann. Zur Chronologie der weiteren Durchführung dieses Musterverfahrens: a) Verfügung vom 25.9.2007 Mit dieser Verfügung teilt der Senat dem MK DT 3 mit, er habe die in der Literatur geäußerten Bedenken94 gegenüber der sich aus § 10 S. 3 KapMuG ergebenden Einschränkung des rechtlichen Gehörs der Beigeladenen aufgegriffen und ermögliche auch diesem Kreis der Prozessbeteiligten auf Antrag die wechselseitige Kenntnisnahme vom Inhalt ihrer Schriftsätze. Sämtliche an das OLG gerichteten Schriftsätze aller Beteiligten würden für die Prozessbevollmächtigten der Beigeladenen in einen passwortgeschützten Bereich des Internets gestellt. Das Passwort dürfe ausschließlich von den Prozessbevollmächtigten genutzt und nicht weitergegeben werden.95 91 92 93 94 95
AZ 1451-2758 (6 A). OLG Köln, Beschluss vom 2.5.2008, 7 VA 4/07. OLG Köln, Beschluss vom 29.12.2008, 7 VA 4/07. Zur Problematik vgl. Parigger in: Vorwerk/Wolf, Fn. 3, § 10 Rz. 8 Vgl. Verfügung vom 25.9.2007, 23 Kap. 1/06.
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Der Senat gehe weiter davon aus, dass bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung in allen Ausgangsverfahren eine Entscheidung über die Aussetzungen getroffen sein würde. Widrigenfalls würde der Senat die noch nicht ausgesetzten Verfahren bis zu einer Entscheidung über ihre jeweilige Aussetzung vorläufig als Beigeladene im Musterverfahren zulassen. Diese zunächst an den MK DT 3 gerichtete Verfügung wurde inhaltsgleich am 31.3.2008, also eine Woche vor Beginn der mündlichen Verhandlung, erlassen. b) Beweisbeschluss vom 15.2.2008 zum Komplex VoiceStream Das Beweisthema lautet wie folgt: „Die Beklagte habe in der Zeit des Aktienangebots vom 26.5.2000 an bis zum Ende der Zeichnungsfrist am 16.6.2000 den Erwerb von VoiceStream aufgrund konkreter Gespräche bereits beschlossen gehabt; jedenfalls seien die Fusionsverhandlungen weit fortgeschritten gewesen.“ Geladen wurden Zeugen für die Zeit ab dem 3. Verhandlungstag, den 14.4. 2008, u.a. der Ex-Vorstandsvorsitzende der DT Ron Sommer. c) Die ersten beiden Verhandlungstage, 7.4.2008 und 8.4.2008 Für die bis Ende Mai 2008 angesetzten 16 mündlichen Verhandlungstage wurde von der Justizverwaltung das Frankfurter Bürgerhaus SAALBAU Bornheim angemietet, ein Veranstaltungszentrum mit großer Kapazität. Der erwartete Ansturm der interessierten Öffentlichkeit blieb jedoch aus. Das Interesse der Medien überwiegte bei Weitem. Diese wurden auch durch eine kontinuierliche Informationspolitik des OLG mittels Pressemitteilungen96 fortlaufend informiert. An den ersten beiden Verhandlungstagen besprachen die Beteiligen mit dem Senat vor allem Verfahrensfragen und den Inhalt des VB. An diesem wurden unter übereinstimmender Zustimmung der Musterparteien Streichungen vorgenommen.97 d) Zeugenvernehmungen ab dem 3. Verhandlungstag Ab dem 14.4.2008, 3. Tag, wurden – beginnend mit Ron Sommer – Zeugen zum Komplex VoiceStream vernommen. Die vorläufig letzte Zeugenvernehmung in Deutschland fand am 13. Tag, den 28.5.2008 statt.
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Abrufbar unter http://www.olg-frankfurt.justiz.hessen.de § 12 KapMuG bezeichnet die Musterparteien als „Hauptparteien“; die Beigeladenen dürfen sich nach dieser Vorschrift mit ihren Erklärungen und Handlungen nicht in Widerspruch zu denen der Hauptparteien setzen. 97
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e) Hinweis auf die „Allgemeinverantwortung“ des MK am 8. Tag In der Verhandlung vom 28.4.2008 erteilte der Senat durch Aufnahme in das Sitzungsprotokoll dem MK folgenden Hinweis: „Der Senat ist der Auffassung, dass der Musterkläger gegebenenfalls auch Anträge nach § 13 KapMuG stellen muss, wenn es sich um Behauptungen handelt, die lediglich von Beteiligten, die nicht von ihm vertreten werden, aufgestellt wurden. Die Entscheidung, wer der richtige Antragsteller ist, liegt aber beim Landgericht.“98,99 f) Hinweisbeschluss vom 28.5.2008 zum Komplex Immobilienbewertung Am 13. Verhandlungstag erging ein Hinweisbeschluss zum Komplex Immobilienbewertung, welcher nachfolgend auszugsweise wiedergegeben wird: „Nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand sieht der Senat in den Angaben der Beklagten im Prospekt zu den Immobilienbewertungen (Vorlagebeschluss Ziff. 11, S. 29) im Ergebnis keinen erheblichen Prospektfehler. Dabei wäre die Anwendung des § 252 Abs. 2 HGB ein im Prospekt aufzunehmender Aspekt gewesen. Der fehlende Hinweis auf diese, in ihrer Pauschalität zumindest ungewöhnliche Bewertungsmethode stellt ihrerseits nur dann einen wesentlichen Prospektfehler dar, wenn man zu der Überzeugung kommen sollte, dass die Anwendung dieser Methode zu einer Überbewertung des Anlage- bzw. Immobilienvermögens in erheblichem Umfang geführt hat. Die Bejahung einer Unrichtigkeit im Prospekt enthebt den Senat nicht von der Prüfung der Erheblichkeit, da es sich insofern um ein zusätzliches, erst eine Haftung begründendes Tatbestandsmerkmal handelt. Der Senat geht – wie in der mündlichen Verhandlung bereits mehrfach im Einzelnen ausgeführt – unter Berücksichtigung des Vortrags der Parteien bzw. Beteiligten von einer maximalen Differenz von ca. 12% zwischen den Ergebnissen der verschiedenen Formen der Bewertung der Immobilien aus, was als solches nicht ausreichend ist, einen Prospektfehler zu begründen, da sich diese Abweichung bei vorläufiger Würdigung des Sach- und 98 Dagegen vertritt Wösthoff in seinem Teil-Erweiterungsbeschluss gemäß § 13 KapMuG vom 24.2.2009, S. 15, die Auffassung, der MK sei nicht verpflichtet „auch im Interesse der Beigeladenen Erweiterungsanträge zu stellen“. Im Übrigen setze die Zulässigkeit eines Erweitungsantrages voraus, dass der „neu eingebrachte Streitpunkt (auch) für den Rechtsstreit desjenigen, der den Erweitungsantrag stellt, für die Entscheidung seines Rechtsstreits von Bedeutung ist, d.h. sein kann“. 99 Die Frage, ob dem MK Treuepflichten gegenüber den klagenden Beigeladenen obliegen, ist streitig, vgl. hierzu ablehnend Gundermann/Härle MK-Vertreter, VuR 2006, 457, 460; bejahend Hess ZIP 2005, 1713, 1719.
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Streitstands nicht als derart gravierend darstellt, dass sie zur Unrichtigkeit des Prospekts führen könnte. Der Senat berücksichtigt dabei, dass es bei Immobilien immer Bewertungsunsicherheiten gibt mit der Folge, dass es einen „absolut richtigen“ zweifelsfreien Preis nicht gibt.“ Weiter wies der Senat darauf hin „(…) dass etwaige, von dem Musterkläger bzw. den auf Klägerseite Beigeladenen behauptete Bilanzunrichtigkeiten der Vorjahre für den in 2000 erstellten Prospekt nur von sehr begrenzter Relevanz sind.“ g) Auflagenbeschluss vom 1.8.2008 auf Herausgabe von depositions Im Verlauf der mündlichen Verhandlung hatten der MK wie auch vereinzelt auf Klägerseite Beigeladene verschiedene Anträge auf Urkundenvorlegung gemäß § 142 ZPO gestellt. Mit Beschluss vom 1.8.2008 gab der Senat der MB auf, eine Reihe von Unterlagen vorzulegen, so u.a. die depositions der Herren Sommer, Eick, Hedberg und Ricke, welche diese im Rahmen der US class action abgegeben hatten, soweit sie den Erwerb von VoiceStream betreffen. Dabei räumte der Senat der MB die Möglichkeit ein, Passagen in den Protokollen, welche anderweitige Fragenkomplexe betreffend, durch Schwärzen bzw. Entfernung von Bereichen unkenntlich zu machen. Die MB machte von dieser Möglichkeit zunächst Gebrauch. Zwischenzeitlich sind die kompletten depositions herausgegeben. h) Tag 14, 15.1.2009 Der MK hatte am 24.10.2008 beim LG einen Erweiterungsantrag gemäß § 13 KapMuG gestellt, über welchen am 14. Verhandlungstag noch nicht entschieden war. Dieser Erweiterungsantrag war gleichwohl bereits Gegenstand der Erörterung am 14. Tag. i) Zeugenvernehmungen in den USA Ende April 2009 Ebenfalls zum Komplex VoiceStream kam es am 28.4. und 29.4.2009 im Deutschen Generalkonsulat San Francisco sowie am 1.5.2009 im Deutschen Generalkonsulat New York zur Vernehmung von insgesamt vier Zeugen durch den jeweiligen Generalkonsul. Dies geschah in Gegenwart des Senats sowie der Musterparteien, welchen jeweils Fragerechte erteilt wurden. j) Marginale Beteiligung der beigeladenen Kläger im Musterverfahren Die beigeladenen Kläger 100 verhalten sich bisher ganz überwiegend untätig, sowohl was die schriftliche Beteiligung am Musterverfahren betrifft, 100
Immerhin durch rund 900 verschiedene Kanzleien vertreten.
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als auch die mündlichen Verhandlungen. Waren am ersten und dritten Verhandlungstag noch rund zwei Dutzend Klägerkanzleien vertreten, waren es am zweiten Verhandlungstag nur noch die Hälfte und ab dem vierten Verhandlungstag jeweils keine zehn mehr. 7. Ergänzung und Erweiterung des VB In Kapitel II.2. sowie in der tabellarischen Chronologie des Kapitels III.1. wurden die bis dato vorgenommenen Ergänzungen101 und Erweiterungen des VB DT 3 aufgezeigt. Aktuell läuft die Beschwerde des MK vor dem OLG gegen den Nichtabhilfebeschluss des LG vom 14.5.2009 bezüglich seiner Beschwerde geben den Teil-Erweiterungsbeschluss des LG vom 24.2.2009.
VII. Vorläufiges verfahrensrechtliches Fazit zum Telekom-Prozess Für die eingangs aufgeworfene Frage, ob der Telekom-Prozess trotz des KapMuG vernünftig zu Ende geführt werden kann, sind drei der bisherigen Prozess-Entwicklungen von besonderer Bedeutung: Das Landgericht hat die Aussetzungsverfahren „eher pragmatisch als dogmatisch“ betrieben.102 Das Oberlandesgericht hat entgegen dem Wortlaut des § 10 Satz 3 KapMuG den Beigeladenen ermöglicht, dass ihnen auch die Schriftsätze der übrigen Beigeladenen mitgeteilt werden. Und schließlich sind die auf Klägerseite Beigeladenen faktisch untätig. Die beiden erstgenannten Punkte dürften jedenfalls praktisch nicht mehr veränderbar sein, der dritte Punkt dagegen schon. Wie wahrscheinlich eine zukünftig regere Beteiligung der auf Klägerseite Beigeladenen ist, bleibt abzuwarten. Eine restriktivere Handhabung des Aussetzungsverfahrens hätte den Prozess wohl um weitere Jahre verzögert.103 Die aufgezeigte Handhabung des OLG, auch die Kläger in den noch nicht ausgesetzten Ausgangsverfahren als Beigeladene zu behandeln, stößt auf erhebliche Bedenken, was letztlich wegen zeitlicher Überholung jedoch für den vorliegend allein interessierenden Telekom-Prozess dahinstehen kann.104 Die ganz überwiegende Untätigkeit der auf Klägerseite Beigeladenen schließlich ist ein faktisch hinzunehmender Umstand, das KapMuG dagegen 101 Ob Ergänzungen außerhalb des § 13 KapMuG zulässig sind, ist streitig, vgl. Varadinek/Asmus ZIP 2008, 1309. 102 Vgl. Fn. 74. 103 So auch die Einschätzung von Wösthoff Fn. 74, S. 13. 104 Für KapMuG-Verfahren ganz generell empfiehlt sich diese Handhabung allerdings nicht.
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sieht sie nicht vor, ganz im Gegenteil: Gemäß § 16 Abs. 2 KapMuG dürfte ihre Untätigkeit im Regelfall bedeuten, dass sie nach rechtskräftigem Abschluss des Musterverfahrens auf der zweiten Stufe, also der individuellen Verhandlung ihrer Ausgangsverfahren, mit Einwendungen gegen den Musterentscheid ausgeschlossen sind. Ob diese Konsequenz den beigeladenen Klägern bewusst ist, erscheint zumindest zweifelhaft – ihren Anwälten aber muss sie es sein. Würde sich dagegen jeder oder auch nur ein wesentlicher Teil der beigeladenen Kläger aktiv beteiligen, wäre der Prozess faktisch lahmgelegt.105 Damit hat sich gezeigt, dass die Dogmatik des KapMuG der Führbarkeit des Telekom-Prozesses an sich entgegensteht 106; lediglich die praktische Handhabung der beiden am Prozess beteiligten Gerichte sowie der klagenden Beigeladenen, welche jeweils im Gegensatz zur Konzeption des KapMuG steht, hat den Prozess bisher führbar gemacht. Damit aber erweist sich gerade das KapMuG als Stresstest für den Telekom-Prozess. Ob das neue Verfahrensgesetz jenseits des atypischen KapMuG-Prozesses Telekom überhaupt generell den Anforderungen effektiven Rechtsschutzes genügt, ist eine für vorliegenden Beitrag nicht gestellte weitere Frage und daher hier nicht zu beantworten.107
105 Man stelle sich nur vor, jede der 900 verschiedenen Kläger-Kanzleien würde (noch nicht einmal für alle der von ihr vertretenen Beigeladenen, sondern für jeweils nur einen) auch nur je einen Schriftsatz an das OLG einreichen und jede Kanzlei würde wechselseitig von der vom OLG eingeräumten Möglichkeit der Kenntnisnahme der jeweils anderen Beigeladenen-Schriftsätze Gebrauch machen, und es würde dann nur die MB (und noch nicht einmal die beigeladenen Beklagten) auch nur jeweils einmal erwidern. 106 Auch Wösthoff beklagt die praktischen Schwierigkeiten bei „echten Massenverfahren“, vgl. Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz KapMuG in der Praxis, in: Bamberger Verbraucherrechtstage 2009, 96. 107 Vgl. hierzu Tilp/Roth Wege zur kollektiven Rechtsdurchsetzung – wider die Schäderindustrie, in: Bamberger Verbraucherrechtstage 2009, 90.
Der Kirchenraum – ein rechtsfreier Raum? Eike Ullmann I. Die Sehnsucht nach einem rechtsfreien Raum Das Leben ist durchdrungen von rechtlichen Regeln. Der Mensch unserer Gesellschaft ist eingebunden in das Netzwerk von Verhaltensvorschriften und Ordnungsregeln. Jede Bewegung, jede Äußerung kann an vorgegebenen rechtlichen Strukturen gemessen werden. Die Beurteilung des Zustands des Menschen als Rechtssubjekt lautet entweder rechtmäßig oder rechtswidrig. Wer sich in eine staatlich verfasste Gesellschaft begibt, verliert die Option, sich im rechtsfreien Raum zu bewegen. Es gibt zwar Lebensbereiche, die keiner rechtlichen Regelung unterliegen, wie Liebe, Freundschaft, Erholung, Vergnügen, Glaube oder künstlerisches Schaffen.1 Gleichwohl steht der Mensch auch in den genannten Bereichen in rechtlicher Verantwortung, da sie nicht beziehungslos gelebt werden können. Überall stehen Rechtsgüter anderer im Raum. Wo geschützte Rechtsgüter betroffen sind oder betroffen sein können, greift das Netzwerk des Rechts. Die Liebe kann nicht ohne den Körper einer anderen Person gelebt werden, der Gläubige grenzt sich vom Andersgläubigen oder vom Ungläubigen ab, der Kunstschaffende wendet sich an die Sinne seiner Mitmenschen. Auch der Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben verschafft keinen vom Recht freien Raum. Die dem Bürger obliegenden Pflichten bestehen fort. Er verliert aber auch nicht seine Rechte, die ihm letztlich den Schutz der privaten Sphäre verschaffen.2 Wer von einem rechtsfreien Raum spricht, baut eine Illusion auf. Ihm ist mit Skepsis zu begegnen. Die illusionäre These eines rechtsfreien Raums dient entweder dazu, einen anderen rechtlos zu stellen, oder sich selbst der rechtlichen Verantwortung zu entziehen. Ist Guantanamo hierfür ein Beispiel 3 oder ist es das Internet 4 als vielfach propagierter rechtsfreier Raum? 1
Engisch ZStaatsW 108 (1952), 385, 389, 409 f. BGHZ 131, 333, 338; BGH GRUR 2004, 438 Tz. 19; Koeppen Rechtliche Grenzen der Kontrolle der E-Mail und Internetnutzung am Arbeitsplatz (Diss), 2006, passim; v. Gerlach JZ 2003, 41, 42. 3 Hierzu Tomuschat Guantanamo als rechtsfreier Raum?, AnwBl. 2004, 397, 399; Book/ Geneuss Gefangene jenseits des Rechts?, ZIS 2008, 325, 328; R. Müller, FAZ 2002 Nr. 53, 12. 4 Wenning Das Internet – ein rechtsfreier Raum?, JurPC 1997 Web-Dok 16/1997; Loy Ullmann in: Haupt/Ullmann, Urheberrecht von A–Z , München 2006, 158. 2
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Die Sehnsucht nach einem rechtsfreien Raum ist groß. Sie kann und darf nicht gestillt werden. Selbst die Kirche hilft in der modernen Gesellschaft hier nicht weiter. Der Beitrag befasst sich mit der Frage, ob und wieweit der Freiraum der Kirche zu eigenständiger Organisation für das Recht im Kircheninnenraum als Ort der Zuflucht oder als Ort künstlerischer Gestaltung rechtlich bedeutsam ist.
II. Der Kirchenraum als Ort der Zuflucht 1. Stoff als Oper Schon immer wird der Kirchenraum nicht nur als Ort der Stille, sondern auch als Ort der Zuflucht gesucht. Nach dem Libretto von Guiseppe Giacosa und Luigi Illica zu Puccinis Oper Tosca flüchtet Cesare Angelotti, der Anführer der aufständischen napoleonfreundlichen Republikaner, in die Kirche San Andrea della Valle. Dies tut er nicht nur in der Gewissheit, dass seine Schwester für ihn den Schlüssel einer Kapelle bereit gelegt hat, in welche er sich verstecken kann, sondern auch in der stillen Hoffnung, dass Polizei und Militär die Schwelle des heiligen Orts nicht überschreiten würden. Doch nach dem Gang des Geschehens erweist sich diese Hoffnung als trügerisch. Der Polizeichef Scarpia höchstpersönlich verfolgt den Flüchtigen und lässt von seinen Schergen den Kirchenraum durchsuchen. 2. Stoff des Lebens – Kirchenasyl In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beherrschte das Schlagwort vom Kirchenasyl die Gazetten. Rund 200 evangelische und katholische Gemeinden waren nach Angaben der ökumenischen Arbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“ bereit, in kirchlichen Einrichtungen von der Abschiebung bedrohten Asylsuchenden Zuflucht zu gewähren. Eine große Zahl von Ausländern wurde auf diese Weise vor der Abschiebung bewahrt.5 Die EKD und einzelne Würdenträger der katholischen Kirche hatten dazu aufgerufen, in Wahrung des christlichen Gebots der Nächstenliebe und der Freiheit der Gewissensentscheidung in den Kirchengemeinden Asyl zu gewähren. Auch wenn die gewählten Maßnahmen rechtswidrig seien und den dafür vorgesehenen staatlichen Sanktionen unterlägen, müssten sie als Anfragen an Inhalt und Form demokratischer Entscheidungen ernst genommen werden,
5 V. Münch „Kirchenasyl“: ehrenwert, aber kein Recht, NJW 1995, 565; ders., NJW 1995, 2271 mit Fällen gewährten Kirchenasyls und der politischen Auseinandersetzung hierzu.
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lautete die tröstliche Botschaft mancher kirchlicher Würdenträger an die Samariter der Gemeinde.6 Eine Rechtsgrundlage, den kirchlichen Raum als einen vom Zugriff der staatlichen Gewalt geschützten rechtsfreien Raum anzusehen, gab es und gibt es nicht. Die staatliche Rechtsordnung sieht den kirchlichen Raum nicht als exterritorialen Raum vor. Er ist der Rechtsordnung des Staates und damit dessen Gewaltmonopol genauso zugänglich wie das Privateigentum seiner Bürger. Der Kirchenraum ist also nicht als res sacra der staatlichen Rechtsordnung entzogen.7 a) Innerkirchliches Recht Sonderregeln, wie sie noch im Codex Iuris Canonici von 1917 enthalten waren, wonach ein Missetäter, der in eine Kirche geflohen ist, Asylrecht genieße und für gewöhnlich nicht herausgeholt werden dürfe, ohne dass der Pfarrer seine Zustimmung hierzu gegeben habe,8 finden sich im neuen Codex von 1983 nicht mehr. Unter Hinweis auf die mangelnde Anerkennung des Kirchenasyls durch den staatlichen Gesetzgeber wurde der Asyl-Canon gestrichen.9 b) Freiheit des Gläubigen – Freiheit des Ungläubigen Eine andere Frage ist, ob und inwieweit der Asyl Gewährende sein Handeln mit dem verfassungsrechtlichen Schutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit und dem Recht auf ungestörte Ausübung seiner religiösen Überzeugung zu rechtfertigen vermag. Hier kann eine Interessen- und Güterabwägung angebracht sein. Darf diese Abwägung dazu führen, den gläubigen Asylgewährenden – anders als den Agnostiker? – von seiner der Gemeinschaft obliegenden ordnungsrechtlichen Verpflichtung oder von strafrechtlichen Sanktionen gänzlich freizustellen? Dafür gibt es Stimmen.10 Eine solche Rechtfertigung muss aber bezweifelt werden.11 Hier kann es allein darum gehen, ob Konflikte im Gewissen des Handelnden, die auch unabhängig von einer (religiösen) Gläubigkeit auftreten können, dessen Einsichtsfähigkeit in seine dem Staat obliegenden Verpflichtung beeinträchtigen können und damit Schuld und Verschulden mindern. Die religiöse Prägung der einzelnen 6
Nachweis bei Tocha/Drobinski Kirchenasyl (Publik-Forum-Materialmappe), 1990, 38. V. Münch „Kirchenasyl“: ehrenwert aber kein Recht, NJW 1995, 565; Kaltenborn Kirchenasyl, DVBl. 1993, 25, 27. 8 Canon 1179; hierzu Landau in: Barwig/Bauer, Asyl am Heiligen Ort, 1994, 47; Kaltenborn DVBl. 1993, 25, 26. 9 Kaltenborn, DVBl. 1993, 25, 26; hierzu auch Robbers Kirchliches Asylrecht, AöR 1988, 30, 39. 10 Kaltenborn DVBl. 1993, 25, 28; Robbers, AöR 1988, 30, 44 f.; Geis Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, JZ 1997, 60, 61 mwN. 11 V. Münch NJW 1995, 565, 565. 7
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Handlung hat bei der gebotenen Interessenabwägung kein eigenständiges Gewicht.12 Sie vermag allein dazu beizutragen, den aufgetretenen Gewissenskonflikt des Handelnden plausibel zu machen. c) Kirchliches Selbstverwaltungsrecht und staatliche Gewalt Der in Art. 137 Abs. 3 WRV (i.V.m. Art. 140 GG) den Religionsgesellschaften zugestandene Raum für autonomes Handeln hilft in den Asylfällen weder der Kirche als Institution noch dem einzeln Gemeindeglied weiter. Nach Art. 137 Abs. 1, 3 WRV ordnet und verwaltet jede Religionsgesellschaft ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Die Kirche verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde (Art. 147 Abs. 3 Satz 2 WRV). So ist es selbstverständlich, dass staatliche Gewalt auf die von Papst Benedikt XVI. eröffnete Rückführung der 1988 von Paul II. exkommunizierten Bischöfe in die römisch-katholische Kirche keinen rechtlichen Einfluss nehmen kann.13 Aber ebenso selbstverständlich ist es, dass die staatliche Gewalt nicht zurückschrecken darf, wenn Bischof Richard Williamson den Holocaust leugnet, ob von der Kanzel oder vor einer Marienstatue in Feld und Aue. Nach dem kirchenpolitischen System des Grundgesetzes ordnet und verwaltet jede Religionsgesellschaft ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.14 Der den Religionsgesellschaften zukommende Bereich der Selbstverwaltung liegt als solcher außerhalb der vom Staat gesetzlich geregelten und zu regelnden Ordnung. Er wird nicht als solcher aus dem Netzwerk gesetzten Rechts herausgenommen.15 Er bleibt lediglich als innerkirchlicher Organisationsbereich staatsfern. Im innerkirchlichen Bereich hat das staatliche Gesetz keine Wirkung.16 Die Verfassungsgarantie des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts bedeutet keine Ausklammerung aus der staatlichen Rechtsordnung im Sinne rechtsfreier Räume, sondern sie begründet im Gegenteil eine die gemeinschaftliche Freiheitsausübung respektierende Sonderstellung innerhalb der staatlichen Rechtsordnung.17 Die Religionsgesellschaften werden als Institutionen privi12 Grzeszick Staatlicher Rechtsschutz und kirchliches Selbstbestimmungsrecht, AöR 2004, 168, 215. 13 Unbenommen bleibt es den politischen Organen – wie jedem Bürger – kirchliches Handeln zu kritisieren und politischen Druck auszuüben, wie dies Angela Merkel gegenüber Benedikt XVI. im Fall Williamson (nicht ohne Erfolg) getan hat, hierzu Geyer FAZ 2009/30, 31. 14 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvR 717/08 Tz. 3 – bei juris dokumentiert; BVerfGE 18, 385, 386. 15 So aber Geis JZ 1997, 60, 61 („exemt“). 16 BVerfGE 72, 278, 289; BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvR 717/08 – bei juris dokumentiert. 17 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvR 717/08 Tz. 4 – bei juris dokumentiert; Grzeszick, AöR 2004, 168, 203.
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legiert, nicht aber vollkommen vor Staat und Verfassung immunisiert.18 Die politisch verfasste Gesellschaft kann nur innerkirchlichem Handeln keinen Einhalt gebieten. Geraten die Regionsgesellschaften oder ihre Mitglieder bei der Ausübung religiösen Bekenntnisses in Konflikt mit Rechtsgütern anderer, haben sie ihr Verhalten an den Normen zum Schutz der Rechtsgüter messen zu lassen. So verhält es sich auch, wenn die Ausübung religiösen Bekenntnisses die Umgestaltung des als urheberrechtliche Werkleistung geschützten Innenraums einer Kirche bedingt.
III. Der schöpferisch gestaltete Kirchenraum als zweckgebundener Raum 1. Aktuelle Fälle In jüngerer Zeit sind zwei Fälle bekannt geworden, in denen Künstler (oder deren Erben) den Schutz ihres mit der Gestaltung des Innenraums von Kirchen geschaffenen Werks gegen kirchliche Umbaumaßnahmen durchzusetzen versuchten.19 Im Fall des OLG Karlsruhe aus dem Jahr 2003 20 hatte der Bildhauer Klaus Ringwald im Auftrag der Katholischen Kirchengemeinde St. Peter und Paul in Karlsruhe in den 70-er Jahren Arbeiten im Innenraum der Kirche ausgeführt, die unter anderem die Gestaltung und Positionierung des Altars, die Schaffung eines Ambos, eines Steinsockels für den Tabernakel und einer Madonna mit Kind umfassten. Auf Wunsch einiger Kirchgänger hatte die Gemeinde den Tabernakel und die Marienstatue umgruppiert. Der Künstler sah darin eine Verletzung seiner Urheberrechte. Er hatte mit seinem Begehren keinen Erfolg. Im Fall des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2008 21 hatte der 1966 verstorbene Kirchenkünstler Hans Dinnendahl beim Bau der Kirche St. Gottfried in Münster in den Jahren 1952/53 mitgewirkt und dabei den Innenraum geschaffen. Im Jahr 2002 gestaltete die katholische Kirchengemeinde den Altarraum neu. Die Tochter des Künstlers als Erbin sah darin eine Urheberrechtsverletzung. Sie hatte mit ihrem Begehren, den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen, beim OLG Hamm22 Erfolg. Beim BGH setzte sich die Gemeinde durch.
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Grzeszick AöR 2004, 168, 210. Zum urheberrechtlichen Schutz von Kircheninnenraum vgl. schon BGH GRUR 1982, 107 – Kirchen-Innenraumgestaltung. 20 V. 11.6.2003 – 6 U 132/02, GRUR 2004, 232. 21 V. 19.3.2008 – I ZR 166/05, GRUR 2008, 984 – St. Gottfried. 22 ZUM 2006, 641. 19
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Die Gemeinde hatte sich darauf berufen, mit der Umgestaltung des Altarraums die Liturgieform des Zweiten Vatikanischen Konzils umzusetzen. Nach ihrem Verständnis erfordere die Reform der Liturgie eine stärkere Einbindung der Gläubigen in das Geschehen des Gottesdienstes. Die baulichen Veränderungen verringerten den Abstand zum Altar, der nunmehr an drei Seiten und nicht mehr nur an der Frontseite von Kirchenbänken umgeben sei. 2. Spannungsverhältnis Urheber – Leistungsempfänger Die beiden Fälle betreffen das Spannungsverhältnis der persönlichkeitsrechtlichen Interessen des Urhebers an der unveränderten Beibehaltung des Erscheinungsbilds des von ihm geschaffenen Werks zum Interesse des Eigentümers, mit seiner Sache nach Belieben zu verfahren. a) Urheberpersönlichkeitsrecht Sedes materiae zum Schutze des nicht übertragbaren, aber vererblichen Urheberrechts (§ 29 Abs. 1, § 28 Abs. 1 UrhG) sind das Recht des Urhebers zu bestimmen, ob und wie sein Werk zu veröffentlichen ist (§ 12 Abs. 1 UrhG), und das damit kohärente Recht zu verbieten, dass sein Werk in einer Weise beeinträchtigt wird, die seine berechtigten geistigen oder persönlichen Interessen am Werk gefährden. Hieraus wird ein allgemeines Änderungsverbot des urheberrechtlich geschützten Werks abgeleitet23, das als solches auch ausdrücklich Erwähnung findet im Verhältnis zum Nutzungsberechtigten (§ 39 UrhG) und innerhalb der Schrankenregelungen des 6. Abschnitts (§ 62 UrhG). Zu beachten ist hierbei, dass nach dem Wortlaut des Gesetzes die Urheber (dessen Erben) nicht strikt jeden ändernden Eingriff in ihr Werk unterbinden können, sondern nur soweit berechtigte geistige oder persönliche Interessen am Werk gefährdet sind.24 Diese bilden den Kern des Urheberrechts, das den „Urheber in seinen geistigen und persönlichen Beziehungen zum Werk und in der Nutzung des Werks schützt“ (§ 11 UrhG). Eine Beeinträchtigung im Sinne des § 14 UrhG erfordert indes nicht, dass die Änderung zu einer Verschlechterung des ästhetischen Erscheinungsbilds führt, was häufig nur als Einschätzung des persönlichen Geschmacks angesehen werden kann. Eine Verletzung des Urheberpersönlichkeitsrechts kann vielmehr auch gegeben sein, wenn die Änderung den künstlerischen Wertgehalt erhöht oder gar
23
BGH GRUR 1974, 675, 676 – Schulerweiterungsbau. Dreier/Schulze UrhG, 3. Aufl., § 14 Rn. 8; Schricker/Dietz Urheberrecht, 3. Aufl. § 14 Rn. 4. 24
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selbst ein neues urheberrechtlich schutzfähiges Werk hervorbringt.25 Eine Änderung liegt vor, wenn das Werk in seiner Gesamtheit nicht mehr mit dem Ursprungswerk identisch ist. Im Zweifel sind damit auch die berechtigten Interessen des Urhebers betroffen, weil das Werk der Öffentlichkeit nicht mehr in der Form präsentiert wird, in welcher es geschaffen wurde. Aber eben nur im Zweifel. b) Berechtigte Interessen Die Beurteilung der Berechtigung der Interessen des Urhebers darf nicht allein aus der Sicht des Urhebers vorgenommen werden. Sie muss, weil der Urheber mit seiner Persönlichkeit ein Glied der rechtlich vernetzten Gesellschaft ist, auch Anlass und Beweggrund desjenigen berücksichtigen, der in das Werk eingreift. Aber auch dessen Interessen dürfen nicht egoman gewertet werden, sondern müssen sich am Rechtskreis des Urhebers messen lassen. Das bedeutet für den Eigentümer eines urheberrechtlich geschützten Werkes, dass er damit nicht nach Belieben verfahren darf. Er hat die in seinem Eigentum verkörperten (Persönlichkeits-)Rechte des Urhebers zu beachten, um der vom Gesetz (§ 903 BGB) angeordneten Einschränkung seiner Befugnisse „soweit nicht Rechte Dritter entgegenstehen“ gerecht zu werden.26 c) Position von Religionsgesellschaften Für die Religionsgesellschaften und ihre Gemeinden bedeutet dies, dass auch sie der dem Eigentum immanenten sozialen Verpflichtung nachzukommen haben. Der mit Art. 137 Abs. 3 WRV (i.V.m. Art. 140 GG) für innerkirchliche Zwecke gewährte institutionelle Freiraum befreit nicht von dieser Rechtslast. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht ist nicht zur Missachtung Rechter Dritter geschaffen. Die Kirche als Eigentümerin steht damit in derselben rechtlichen Verantwortung gegenüber dem Urheber wie Jedermann als Eigentümer eines urheberrechtlich geschützten Gebäudes. Die Tatsache, dass die Handlung – Umbau des Kircheninnenraums – der Verwirklichung eines bestimmten liturgischen Konzepts dient, ist als solche nicht geeignet, das Verhalten zu rechtfertigen oder ihm im Rahmen des allseits angestellten Interessenausgleichs27 besonderes Gewicht zu verleihen. Die Religionsausübung als solche wird durch die Beibehaltung der Architektur, die für diesen Zweck ja geschaffen worden ist, nicht gehindert. So lässt sich auch nicht
25 V. Ungern-Sternberg in: Weller/Kemle/Lynen, Des Künstlers Rechte – die Kunst des Rechts (2008), 47, 55, 56. 26 BGH GRUR 1999, 230, 232 – Treppenhausgestaltung; Dreier/Schulze UrhG, 3. Aufl., § 14 Rn. 25. 27 BGH GRUR 1999, 230, 232 – Treppenhausgestaltung; Dreier/Schulze UrhG, 3. Aufl., § 14 Rn. 16.
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generalisierend sagen, dass das Urheberpersönlichkeitsrecht der Umsetzung neuer Praktiken der Gottesdienstgestaltung oder geänderter Glaubensgrundsätze zu weichen habe. d) Kein rechtsfreier Raum Der Wandel religiöser Überzeugungen rechtfertigt es nicht, urheberrechtlich geschützte Werke, welche die überkommene Lehre umsetzen, zu verändern. Beschließt ein Konzil, die Himmelfahrt Mariens oder von der Kirche anerkannte Wunder als märchenhafte Mystifizierung oder als Aberglaube herabzustufen, so folgt daraus nicht das Recht der Kirche, zur Wahrung einer in Zukunft ungestörten Ausübung des neu formulierten Glaubens bildliche Darstellungen dieser Geschehnisse unter Missachtung der Persönlichkeit des Urhebers entsprechend zu korrigieren und übermalen zu lassen. Ebenso wenig rechtfertigt die Lust, christlichen, islamischen oder jüdischen Gottesglauben singend zu bekennen, die Lieder von The Beatles mit religiösem Text zu belegen und zur Kirchenmusik zu erheben. Das Handeln der Religionsgesellschaften, ihrer Organe oder ihrer Mitglieder, das mit Rechten Dritter konfligiert, ist im Vergleich zum Handeln eines Jedermann nicht privilegiert. Die Kirche verfügt nicht über einen den Schutz der Rechte anderer ausschließenden rechtsfreien Raum. Gleichwohl hat die Besonderheit des kirchlichen Raums als Ort der religiösen Betätigung Bedeutung für die Beurteilung der Reichweite des Urheberpersönlichkeitsrechts. e) Das Werk bemisst das Persönlichkeitsrecht des Urhebers Die Reichweite des Urheberpersönlichkeitsrechts liegt nicht abstrakt fest. Es wird determiniert von Art und Inhalt des geschaffenen Werks.28 Anders als der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, der jedem Menschen zukommt, erwächst das Urheberpersönlichkeitsrecht erst aus dem geschaffenen Werk. Es ist immer werkbezogen und deshalb auch danach zu bemessen. Die Art des Werks aus dem Katalog des § 2 Abs. 1 UrhG und die sich hieraus ergebende Zweckbindung der Nutzung des Werks schlagen auf die Beurteilung und Bemessung der berechtigten persönlichen und geistigen Interessen des Urhebers im Sinne des § 14 UrhG durch. Für die Beurteilung der Streitfälle ergibt sich daraus: Der kirchliche Raum ist ein zweckgebundener Raum. Die Determination des Raums begrenzt den Rahmen des Urheberpersönlichkeitsrechts des Künstlers, der diesen Raum als Kirchenraum geschaffen hat. Die Religionsausübung charakterisiert die Nutzung des Raums. Bei Museen, Fabrikationshallen oder bei verkehrstechnischen Anlagen sind es andere Determinanten, welche die Position des künstlerischen Raumgestalters und des Architekten 28
Dreier/Schulze UrhG, 3. Aufl., § 14 Rn. 2.
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im Verhältnis zum verfügungsberechtigten Eigentümer bestimmen. Es geht nicht um individuelle Absprachen.29 Die Zweckbindung kann sich aus der Art des geschaffenen Werks ergeben. Im Zweifel ist künstlerisches Schaffen, das die Sinne des Menschen anspricht, zweckungebunden (im hier verstandenen Sinne). Die Werkschöpfung richtet sich an jedermann. Der Roman, das Musikstück, das Gemälde sind für eine nicht definierte Öffentlichkeit geschaffen. Anders sieht es aus bei Werken, deren Nutzung notwendigerweise mit der Nutzung des darin verkörperten Sacheigentums zusammenfällt. f) Zweckbindung des Werks Die dem Eigentümer zugeordnete Nutzungsbestimmung des geschaffenen Werks spiegelt das Maß der berechtigten persönlichen und geistigen Interessen des Urhebers an unverändertem Bestand des Werks wider. Wer für einen bestimmten Betrieb Individualsoftware erstellt, hat es – auch ohne besondere vertragliche Absprache – hinzunehmen, dass deren technische Funktion ungeachtet des urheberrechtlichen Schutzes der Entwicklung des Betriebs angepasst wird. Wer ein Gebäude plant und gestaltet, schafft ein zweckgebundenes Werk. Der Zweck der Nutzung wird nicht durch die bei der konkreten Planung vorgegebene Nutzungsmöglichkeit begrenzt, sondern bemisst sich nach der in die Zukunft gerichteten objektiven Funktion des geschaffenen Werks, sei es Individualsoftware, Schulgebäude oder religiöser Raum.30 Der Nutzungszweck ist zukunftsorientiert.31 g) Keine statische Nutzung Auf den Kircheninnenraum bezogen bedeutet dies, dass veränderte Riten zur Nutzung des Raums als religiösen Festsaals vor einer Umgestaltung des urheberrechtlich geschützten Werks „Kircheninnenraum“ nicht Halt machen müssen. Der Kircheninnenraum ist für eine lebendige Gemeinde bestimmt. Leben bedeutet Verändern. Das gilt auch für das religiöse Leben. Einer Rechtfertigung dafür, warum die Riten durch die Gläubigen geändert wurden, bedarf es nicht. Es bedarf auch keiner Darlegung, dass diese nicht auch mit einer weniger einschneidenden räumlichen Umgestaltung vollzogen werden könnten. Es kommt folglich auch nicht darauf an, ob der Eingriff in die Raumgestaltung auf einer Umsetzung geänderter Liturgie nach kirchenoffi-
29 Diese können natürlich zur Vermeidung eines Streits zwischen Urheber und (Erst-) Eigentümer beitragen, wie Steinbeck GRUR 2008, 988, 989, in: Anmerkung zu BGH GRUR 2008, 984 – St. Gottfried zu Recht bemerkt. 30 BGH GRUR 2008, 984 Tz. 38 – St. Gottfried. Diese Begründung hätte zur Entscheidung des Falls genügt. 31 BGH GRUR 1974, 675, 676 – Schulerweiterungsbau.
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zieller Vorgaben beruht 32 oder auf einem Bedürfnis der Kirchengemeinde nach einer intimeren Gebetsandacht.33 h) Keine Relevanz des kirchlichen Selbstverwaltungsrechts Es kommt nicht einmal darauf an, ob der für religiöse Andachten gestaltete Raum für eine vom Staat als Kirche anerkannte Religionsgemeinschaft bestimmt ist und genutzt wird oder von einer nicht als Kirche anerkannten Sekte. Für die urheberrechtliche Betrachtung der berechtigten Interessen des künstlerischen Gestalters des Raums ist der verfassungsrechtliche Status der Gläubigen ohne Bedeutung. Die Begrenztheit der persönlichkeitsrechtlichen Interessen des Werkschöpfers von Gebäude und Raum beruht auf der Zweckbindung des geschaffenen Werks.34 Der Urheber hat die übliche, dem Zweck entsprechende Nutzung hinzunehmen. Diese ist nicht statisch. Sie kann entsprechend der Widmung des Gebäudes von vernünftigen wirtschaftlichen Interessen getragen sein oder bei Kirchenräumen durch geänderte Überzeugung vom religiösen Leben in der Gemeinde. Die Beurteilung, dass der Gestalter eines für religiöse Zwecke bestimmten Raums dessen Änderung durch den religiösen Nutzer hinzunehmen hat, kommt ohne Rückgriff auf das kirchliche Selbstverwaltungsrecht aus.35 Ein solcher Rückgriff ist auch nicht angebracht. Auch Glaubensgemeinschaften oder Sekten, welche nicht als Religionsgesellschaften anerkannt sind, nutzen einen für ihre Zwecke errichteten Raum zweckgebunden religiös und dürfen ihn im für geboten erachteten Umfang verändern.36 Sekten können im Verhältnis zum Urheber nicht schlechter dastehen als anerkannte Religionsgemeinschaften.
32 So geltend gemacht im Fall des BGH GRUR 2008, 984 – St. Gottfried: Der neu geschaffene Zentralraum sollte entsprechend der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils den Gläubigen näher zum und rund um den Altar bringen. 33 So der Fall OLG Karlsruhe GRUR 2004, 232: Der Betende sollte der Marienstatue näher kommen. 34 Vgl. hierzu auch v. Ungern-Sternberg in: Weller/Kemle/Lynen, Des Künstlers Rechte – die Kunst des Rechts (2008), 47, 57: „Der Eigentümer eines Gebäudes darf aber auch nicht so gestellt werden. Als sei dieses nur eine begehbare zweckfreie Skulptur oder ein Edelstein, der einmal geschliffen so hingenommen werden muss, wie er ist.“. 35 Anders BGH GRUR 2008, 984 Tz. 37 – St. Gottfried, zustimmend Steinbeck GRUR 2008, 988, 989. 36 Auch sie handeln dabei im Schutz des Art. 4 GG, vgl. BVerfG 104, 337 – ohne dass hierauf rekurriert werden müsste, anders BGH GRUR 2008, 984 Tz. 37 – St. Gottfried. Die gebundene Rechtstellung des Urhebers ergibt sich aus der Zweckbindung des geschaffenen Werks.
Der Kirchenraum – ein rechtsfreier Raum?
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IV. Zusammenfassung Der Freiraum der Kirche zu eigenständiger Organisation (Art. 147 WRV i.V.m. Art. 140 GG) hat keinen Einfluss auf die Frage, welches Recht im Kircheninnenraum gilt. Der Kirchenraum als Ort der Zuflucht wie als Ort künstlerischer Gestaltung ist vom Netzwerk der staatlichen Gesetze erfasst. Im Konflikt mit Rechten Dritter haben sich die kirchlichen Institutionen den Regeln zu unterwerfen, wie sie für jeden Bürger gelten. Allein die Zweckbindung des Raums als Ort religiöser Betätigung beschränkt die Interessen des Gestalters an einem unveränderten Fortbestand seines Werks.
Neues zur Risikolage der Anleger in geschlossenen Immobilienfonds Harm Peter Westermann
I. Von der Hochkonjunktur (der Steuervorteile) zur Bedrohung (durch das Privatrecht) 1. Die Risiken Um die Entwicklung der Kapitalanlagen in geschlossenen Immobilienfonds im Absturz vom Boom zur Krise zu kennzeichnen, bedarf es nicht vieler Worte, und es liegt auch auf der Hand, dass den mit den privatrechtlichen Fragen befassten Anwalt (wie den Jubilar) oder Wissenschaftler derzeit fast nur noch die Risikolage der Anleger interessiert. Allerdings sollte klar sein, dass nicht selten die zahlreichen Personen, die namhafte Geldbeträge in diesen Anlageformen platziert hatten, durchaus die versprochenen Steuervorteile genossen haben, wenn sich auch für die Zukunft diese Anreize weitgehend verflüchtigt haben. Deutlich im Vordergrund stehen mittlerweile die zahlreichen „notleidenden“ Fonds,1 wofür verschiedene Umstände ursächlich sind: Nicht selten, wenn auch keineswegs so oft, wie es nach den Kampagnen in der Tagespresse den Anschein hat, sind die durch den Fonds in Auftrag gegebenen Bauten – meist Wohnanlagen – nicht oder nur mit erheblichen Mängeln oder Verzögerungen errichtet worden. Häufiger konnten die Mietgarantien nicht eingehalten werden, die dem Erwerber kreditfinanzierter Objekte ermöglichen sollten, seinen Zinsverpflichtungen nachzukommen. Öfter erwies sich auch die geplante – und in Prospekten vorgeführte – Finanzierung des Gesamtvorhabens als unzureichend, auch ist es – wenn auch wiederum nicht in dem die öffentliche Aufmerksamkeit rechtfertigenden Ausmaß – zu Untreue- oder Betrugshandlungen einzelner an dem Geschäft verdienender Initiatoren oder Vermittler gekommen 2. Bekanntlich hat sich hieraus ein reichhaltiges Katastrophen-Szenario insbesondere auch im Hinblick auf die Bankenhaftung für Anlageberatung ergeben –
1
Dazu Wagner NZG 1998, 289; ders. NZG 1999, 886. Zur Charakterisierung der Situation auch bereits H.P. Westermann, ZIP 2002, 189 ff., 240 ff. 2
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Harm Peter Westermann
der Jubilar und der Verfasser haben an einzelnen diesbezüglichen Fällen einschlägige Studien treiben können.3 Dies ist zwar der Hintergrund, aber nicht der eigentliche Fragenkreis, von dem im Folgenden gehandelt werden soll. Besondere privatrechtliche Probleme ergeben sich aus dem Umstand, dass vielfach – um nicht zu sagen: typischerweise – die Verträge über das Zustandekommen des Fonds, also Gründungs- und Beitrittsakte, aber auch die Finanzierung durch Darlehen an die einzelnen Anleger oder an den in der Rechtsform der Gesellschaft bürgerlichen Rechts betriebenen Fonds, unwirksam oder vernichtbar sind, wobei als Fehlerquellen das RBerG, verbraucherrechtliche Vorschriften oder auch mangelnde Aufklärung und arglistige Täuschung im Vordergrund stehen. Die Unwirksamkeit, die bei verbundenen Geschäften von den gesellschaftsrechtlichen Akten auf das Finanzierungsgeschäft ausstrahlen kann, würde es in nicht wenigen Fällen dem Anleger erlauben, sich aus den Engagements, insbesondere auch aus der Fonds-Gesellschaft zu lösen. Das führt dann aber zu der Frage, wie sich die Abfindungs- und Ausgleichsansprüche und auf der anderen Seite Haftungsrisiken eines aus diesen Gründen ausgeschiedenen und diejenigen der im Fonds verbliebenen Anleger entwickeln,4 wobei bisher davon auszugehen war, dass Beitrittsmängel gewöhnlich nicht zum Ausscheiden des betreffenden Anlegers ex tunc oder zur Ungültigkeit seiner Gesellschafterstellung führten, sondern bis zu einem gewissen Grade durch die Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft „aufgefangen“ wurden 5. Das hatte zur Folge, dass der Anleger ohne weiteren wichtigen Grund, aber nur mit Wirkung ex nunc, ausscheiden konnte, sich aber andererseits bei seiner Abfindung auch den fortgeltenden Ansprüchen aus der Gesellschafterstellung einschließlich der Haftungsfolgen ausgesetzt sah.6 Diese im Ausgangspunkt wohl gesicherte, wenn auch nicht in allen Einzelheiten geklärte Rechtslage ist neuerdings stark verunsichert durch die Tatsache, dass aufgrund einer Vorlage durch den BGH7 der EuGH darüber zu befinden haben wird, ob bei Angreifbarkeit des Beteiligungsgeschäfts aus verbraucherrechtlichen Normen die Anwendung der Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft gegen Europarecht verstößt, woraus sich Risiken für die Gesellschafter ergeben können 8. 3 Siehe H.P. Westermann FS für Horn, 2006, S. 143 ff.; ders. Vertrieb von drittfinanzierten Immobiliengeschäften, in: Horn/Krämer (Hrsg.), Bankrecht 2002, S. 237 ff. Es erscheint aber angebracht, darauf hinzuweisen, dass die nachfolgenden Überlegungen nicht durch Gutachtenaufträge veranlasst sind. 4 Umfassend dazu Wagner ZfIR 2005, 605 ff. 5 Dazu BGHZ 148, 201; 154, 214, 221; H.P. Westermann, Die Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft bei Anlagegesellschaften des Personengesellschaftsrechts, in: Gesellschaftsrechtliche Vereinigung, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2008, 2009, S. 145 ff 6 Ausführlich dazu Wagner ZfIR 2005, 605, 612 ff. 7 ZIP 2008, 1018 ff. mit Anmerkung Schäfer S. 1023, s. auch Oechsler NJW 2008, 2471 ff. 8 Dazu näher H.P. Westermann in: Gesellschaftsrechtliche Vereinigung 2009, S. 145, 157 ff.
Neues zur Risikolage der Anleger in geschlossenen Immobilienfonds
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Aber auch dies ist nicht der Kern der folgenden Überlegungen, die sich speziell mit Fragen der Haftung des Anlegers befassen, freilich nicht der Haftung für die Einlagen – die meist mit der Gründung der Gesellschaft voll erbracht sind – oder ihrer Rückgewähr, sondern mit der Art und dem Umfang der Verbindlichkeiten der Fonds-Gesellschafter aus den weiteren Finanzierungsgeschäften, in erster Linie der dem Fonds gewährten Bankkredite. Hier würde die Anwendung der seit einiger Zeit für die BGB-Gesellschaft durchgesetzten Akzessorietätslehre 9 an sich eine gesamtschuldnerische Haftung der Gesellschafter zur Folge haben, zu deren Vermeidung aber allenthalben Bereitschaft besteht. Eine Lösung wird verbreitet in einer „quotalen“ Haftungsbeschränkung gesehen, deren Begründung und inhaltliche Entwicklung im Laufe der Existenz des Fonds eine Reihe hier näher zu erörternder Fragen aufwirft. Diese sind in der Praxis bereits aufgekommen und werden möglicherweise demnächst den BGH beschäftigen.10 Das gilt weniger für die von den Anlegern schon häufig eingewendete, in der Rechtsprechung aber zurückgewiesene Verteidigung mit dem Einwand, bei dem (fehlerhaften) Beitritt zu einer bestehenden Gesellschaft und beim Schuldbeitritt zu einem Darlehensvertrag habe die Darlehensforderung bereits bestanden, und die Voraussetzungen für eine Haftung entsprechend § 130 HGB seien nach der Vertrauensschutzrechtsprechung des BGH wegen des fehlenden Bewusstseins der Anleger von einer Haftung mit ihrem Privatvermögen nicht gegeben. Dies ist auch nach der neuesten Rechtsprechung nicht erfolgversprechend.11 Anders liegt es aber womöglich im Hinblick auf die Haftung des Fondsmitglieds für Zinsen und Kosten, die mit dem Kredit verbunden sind, und neuerdings besonders unter dem Aspekt der Veränderungen der Verbindlichkeit eines „quotal“ haftenden Anlegers durch eine sinkende Valutierung der Gesellschaftsschuld sowie durch Veränderungen im Gesellschafterkreis. Hier hat es den Anschein, als wirkten sich gewisse Unklarheiten im Grund der Ansprüche auf die Behandlung der Folgefragen aus; obwohl die Konsequenzen der Lösung für die Größe des Haftungsrisikos des Anlegers nicht in jedem Fall besonders schwer wiegen mögen, mag sich eine nähere Betrachtung noch lohnen. 9 Grundlegend BGHZ 142, 315, 319; K. Schmidt NJW 2001, 993; Wertenbruch NJW 2002, 327 ff.; MünchKomm/BGB/Ulmer/Schäfer § 714 Rn. 34. 10 Aufgrund von Urteilen des KG vom 11.11.2008, NZG 2009, 299 ff sowie vom 12.11. 2008, ZIP 2009, 1118 ff; so auch das Urteil OLG Frankfurt vom 25.2.2009, AktZ 23 U 18/07; zum Problem bereits Loddenkemper ZfIR 2006, 707 ff.; Lehleiter/Hoppe BKR 2008, 323 ff. 11 Zur Anwendbarkeit des § 130 HGB auf die Gesellschaft bürgerlichen Rechts BGHZ 154, 370, 373 = ZIP 2003, 899. Zur Nichtanwendbarkeit der Vertrauensschutzrechtsprechung bei bestehenden Versorgungsverträgen BGH NJW 2006, 765; BGH NJW 2006, 2980, 2983; siehe auch das KG NZG 2009, 299; anders noch Wagner ZfIR 2005, 605, 614; siehe aber auch Wertenbruch in: H.P. Westermann/Wertenbruch, Handbuch der Personengesellschaft, Rn. 729, 764; Kleindiek FS für Röhricht, 2005, 315 ff.; Erman/H.P. Westermann § 714 BGB Rz. 17.
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2. Besonderheiten im sozialen Wohnungsbau Die Ursachen für die „Not“, an der die Fonds-Gesellschaft leidet, liegen in aller Regel – wie auch bei anderen unternehmerisch tätigen Rechtssubjekten – in der Schwierigkeit, über so lange Zeiträume, wie sie hier betroffen sind, und ungeachtet der Schwankungen in den Mieteinnahmen und eventuell steigenden Kreditkosten die vom Fonds aufgenommenen Darlehen planmäßig zu verzinsen und zu tilgen. In einer großen Zahl von Fällen, die sich offenbar sämtlich im Berliner Raum ergeben haben und durch Besonderheiten der dort in den vergangenen Jahren gebräuchlichen Finanzierungsmethoden verursacht sind, ist aber ein besonderes und für die Fonds kaum überwindbares Problem aufgetreten.12 Zugrunde liegen folgende Umstände. Das Land Berlin förderte in den Jahren 1972 bis 1997 den sozialen Wohnungsbau auf der Grundlage von am 1.1.1997 in Kraft getretenen Richtlinien.13 Danach erhielten private Investoren, die die Gebäude errichten wollten, über die Investitionsbank des Landes eine Förderung in Gestalt eines rückzahlbaren Aufwendungsdarlehens und eines nicht rückzahlbaren Aufwendungszuschusses, wobei der letztere das Darlehen bis zur doppelten Höhe übersteigen konnte. Die Rückzahlung des Darlehens war bis zur Rückzahlung von z.T. deutlich höheren Darlehen eines privatrechtlichen Kreditinstituts ausgesetzt, wobei diese Kredite teilweise (in Höhe der Beleihungsgrenze) durch ein Grundpfandrecht an dem dem Fonds gehörenden Grundstück und im Übrigen durch eine Ausfallbürgschaft Berlins gesichert waren. Da für das fertige Gebäude nicht kostendeckende Mieten vorgeschrieben waren, war für die ersten 15 Förderjahre der genannte Aufwendungszuschuss vorgesehen, wobei aber die Beteiligten annahmen, dass auch nach Ablauf dieser Zeit noch ein Fehlbetrag bestehen würde, der aus Eigenmitteln der Gesellschaft nicht zu decken sein würde, so dass für einen weiteren Förderungszeitraum ein Aufwendungszuschuss und ein weiteres Darlehen nötig sein würden, die wiederum aus öffentlichen Mitteln kommen sollten. Indessen stellte Berlin mit Beschluss des Senats vom 4.2.2003 die geschilderte Förderung des sozialen Wohnungsbaus ein, was (nach Darstellung der betroffenen Fondsgesellschaften) dazu führt, dass den von ihnen inzwischen geschaffenen Werten auch bei planmäßiger Tilgung im ersten Förderzeitraum an dessen Ende an Investition und Haftung Passiva in Höhe eines Vielhundertfachen der Aktiva gegenüberstehen werden.
12 Nachzulesen etwa in einem unveröffentlichten Urteil des KG vom 29.9.2008 (26 U 211/07), das nicht rechtskräftig ist und gegen das die Revision nicht zugelassen wurde; s. auch Grundmann FS für H.P. Westermann, 2008, S. 227, 230 ff. 13 Richtlinie über die Förderung des sozialen Wohnungsbaus in Berlin (WFB 1977) vom 28.7.1977, Amtsblatt für Berlin vom 25.8.1977, S. 1188.
Neues zur Risikolage der Anleger in geschlossenen Immobilienfonds
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Die im Verwaltungsrechtsweg angegriffene Entscheidung des Senats von Berlin ist vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 11.5.2006 14 mit der Begründung bestätigt worden, das Land sei zu einer Anschlussförderung der erwarteten Art nicht verpflichtet. Im Zivilrechtsstreit hatte das KG in dem genannten Urteil somit nicht die Richtigkeit der Ansicht des BVerwG zu prüfen, sondern hatte sich mit dem Vorwurf der gegen die Investitionsbank klagenden Fondsgesellschaft auseinanderzusetzen, die Bank habe die für den Fonds handelnden Personen nicht ausreichend über die Unsicherheiten bezüglich der Fortsetzung der Förderung aufgeklärt, und außerdem sei durch die (allenthalben überraschende) Entscheidung des Senats von Berlin die Geschäftsgrundlage für die Darlehensverträge weggefallen. Beide Argumente blieben vorerst erfolglos, wobei die Behauptung einer Aufklärungspflichtverletzung mit dem angeblichen Wegfall der Geschäftsgrundlage insofern zusammenhängt, als der Kenntnisstand und die Erwartungen der Beteiligten bezüglich der Sicherheit der Anschlussförderung in Rede stehen; rechtlich geht es u.a. um die Wertung von Verhaltensweisen und Aussagen im politischen Raum als Geschäftsgrundlage. Da dies die allgemeine Risikolage möglicherweise in existenzgefährdender Weise beeinflusst, ist über die darin liegende „Neuerung“ im Folgenden ebenfalls nachzudenken, wozu auch der Umstand Anlass gibt, dass die Frage in einer großen Zahl weiterer Prozesse 15 eine Rolle spielt, so dass nicht auszuschließen ist, dass sie doch noch zum BGH gelangt.
II. Risken aus der quotalen Haftung 1. Zur Begründung der Haftung Nach der Akzessorietätslehre müssten die Gesellschafter eines als Gesellschaft bürgerlichen Rechts konstruierten Immobilienfonds mit ihrem Privatvermögen voll für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft, also auch für die von der Geschäftsführung programmgemäß aufgenommenen Darlehen, einstehen. Dies wird durchweg für unpassend, praktisch sicher auch als inhibitorisch für diese Art der Kapitalsammlung angesehen, so dass anerkannt ist, dass der Grundsatz der persönlichen Haftung entsprechend § 128 HGB für die Gesellschafter geschlossener Immobilienfonds nur eingeschränkt gilt.16 Nach der Wende der Rechtsprechung, die zur analogen Anwendbarkeit der §§ 128 ff. HGB führte, hatte es zunächst so ausgesehen, als könne
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NVwZ 2006, 1184. Die Rede ist derzeit von ungefähr 30 Verfahren mit einem durchschnittlichen Streitwert von 3 Millionen Euro. 16 Grundlegend BGH NJW 2006, 3716 f. 15
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solchen Gesellschaftern, die vor dem 29.1.2001 ihrer Gesellschaft beigetreten waren, auf dem Wege über einen Vertrauensschutz entsprechend der Rechtsprechung zu § 130 HGB geholfen werden.17 Der Vertrauensschutz griff danach bei einem Beitritt nach Bekanntwerden des BGH-Urteils zu § 130 HGB ein, das am 7.4.2003 erging. Danach kam es auf die Zumutbarkeit einer Kenntnisnahme vom Bestehen einer zur Finanzierung des Projekts eingegangenen, praktisch nur durch Zusammenwirken aller Anleger absicherbaren Darlehensforderung an. Die Rechtsprechung geht aber inzwischen davon aus, dass der Anleger mit derartigen Verbindlichkeiten unbedingt rechnen muss, dies selbst dann, wenn weder im Gesellschaftsvertrag noch im Prospekt darauf hingewiesen wird, dass die zur Finanzierung benötigten Kredite bereits aufgenommen sind.18 Das gilt verständlicherweise auch dann, wenn der Beitretende sich im Innenverhältnis zur anteiligen gesetzlichen Haftung für ihm bekannte Altverbindlichkeiten verpflichtet hat.19 Das begründet für die Anleger, die ja zumeist den Gesellschaftsvertrag und seine Anlagen nicht kennen, diese Unterlagen beim Beitritt über einen Vermittler oder Treuhänder häufig auch gar nicht in die Hand bekommen, ein erhebliches Haftungsrisiko, das sich nach der Rechtsprechung, die auch insoweit eine Erleichterung für Publikumsgesellschaften im Auge hatte, durch eine klauselmäßige Einschränkung der Gesellschafterhaftung beschränken lässt, die also nicht den hier sonst geltenden Ansprüchen an eine Individualvereinbarung genügen muss 20. Grundlage kann also der Darlehensvertrag selbst sein, aber auch eine Regelung im Gesellschaftsvertrag, der ja der finanzierenden Bank bekannt sein wird. Im Einzelnen gibt es unterschiedliche Möglichkeiten einer Haftungsbeschränkung. Nach wie vor wäre vorstellbar, dass die Vertretungsmacht der geschäftsführenden Gesellschafter dahin beschränkt wird, dass die Gesellschaft nur wirksam verpflichtet wird, wenn in diesem Geschäft zugleich die akzessorische Haftung der Anleger – auch und gerade der künftig Beitretenden – eingeschränkt oder gar ausgeschlossen wird 21. Das erweckt allerdings Zweifel unter dem Aspekt der Inhaltskontrolle nach § 307 BGB, wobei Rechtsfolge nicht ohne weiteres die Unwirksamkeit jeglicher Einschränkung
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Dazu BGHZ 154, 370, 372 = NJW 2003, 1803, 1804 f.; Wertenbruch NZG 2006, 408,
416. 18 BGH NJW 2006, 765. Zur Anwendung auf Darlehensverträge OLG Dresden ZIP 2005, 486; Abram DZWiR 2006, 168; Erman/H.P. Westermann § 714 Rn. 17; ablehnend aber Gutmann NZG 2005, 544. 19 OLG Brandenburg NotBZ 2005, 263. 20 BGHZ 150, 1, 5 = NJW 2002, 1642; Casper JZ 2002, 1112, 1113; Goette DStR 2002, 818 f.; Wertenbruch NZG 2006, 408, 417; MünchKomm/BGB/Ulmer/Schäfer § 714 Rn. 61. 21 Näher dazu Armbrüster FS für Th. Raiser, 2005, 38 ff.; Soergel/Hadding § 714 BGB Rn. 31; Erman/H.P. Westermann § 714 Rn. 18.
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der Vertretungsmacht sein muss; 22 es könnte auch ein vollmachtloses Handeln des Vertreters angenommen werden,23 das aber durch einen Rechtsscheinstatbestand überwunden sein könnte.24 Wahrscheinlich sind diese Unsicherheiten aber im Fall der geschlossenen Immobilienfonds nicht zu befürchten, weil hier der Hauptgläubiger, der das zur Finanzierung des Projekts unentbehrliche Darlehen gewährt hat, entweder durch den Gesellschaftsvertrag oder durch die Ausgestaltung des Darlehensvertrages sich auf die beschränkte Haftung der Anleger, die sich allerdings auf ihr Privatvermögen erstrecken wird, eingelassen hat.25 So viel ist jedenfalls von der Abdingbarkeit des § 714 BGB übrig geblieben. Nun ist der auf diesem rechtstechnischen Weg (vielleicht) erreichbare gänzliche Haftungsausschluss in den Fällen der geschlossenen Immobilienfonds sicher nicht zu haben, da das Finanzierungskonzept gerade darauf beruht, dass als Sicherheit für das die eigentliche Baumaßnahme ermöglichende Darlehen das im Eigentum des Fonds stehende Grundstück nicht ausreicht. Für die Anleger liegt danach – wohl auch unter steuerrechtlichen Aspekten – die Übernahme einer persönlichen, also das Privatvermögen erfassenden, Verpflichtung folgerichtig und unvermeidbar auf der Hand. Dabei liegt aber auch einiges daran, für jeden Anleger den Umfang seiner möglichen Haftung unmissverständlich deutlich zu machen. Dazu werden in der Praxis wiederum etwas unterschiedliche Wege beschritten.26 Die Anleger sind verpflichtet, eine Einlage zu leisten, die regelmäßig in einem absoluten Betrag angegeben wird; da nicht immer bei der Fixierung des Beitrittsgeschäfts bereits alle Anleger und ihre Einlagen bekannt sind, wird dies dann nach „Schließung“ des Fonds in einer alle Gesellschafter namhaft machenden Liste festgehalten,27 die ergibt, wie sich das Eigenkapital auf die Gesellschaf-
22 So Schäfer ZGR 2003, 1225, 1233; Dauner-Lieb DStR 2001, 361; zur Frage, ob hier überhaupt eine Inhaltskontrolle nach AGB-Grundsätzen passt, s. Canaris FS für Ulmer, 2003, 1072, 1081. 23 Hasenkamp BB 2004, 231, 237. 24 Armbrüster FS für Th. Raiser, S. 39; zum Ganzen näher H.P. Westermann, FS für Konzen, 2006, 957 ff. 25 Erman/H.P. Westermann § 714 Rn. 19. 26 Das ist also ein anderes, für die Anleger z.T. bedeutend gefährlicheres Konzept als die bei Wagner ZfIR 2005, 605, 610 vorgeführten Modelle, deren erstes auf einer Objektfinanzierung durch den Fonds in Höhe von 80 % per Absicherung durch das Grundpfandrecht und hinsichtlich des Rests durch Einlagen der Gesellschafter beruht, während das zweite die Finanzierung durch Kreditverträge zwischen den einzelnen Gesellschaftern und einer Bank in Höhe des jeweiligen Beteiligungsteils vorsah, für die zwar eine Besicherung auf dem Grundstück geboten wurde, ohne dass aber die Anleger auch eine Einlage zu leisten hatten. Zu dem heute überwiegend angewendeten Modell auch bereits H.P. Westermann Anm. LM Nr. 26 zu § 366 BGB. 27 Siehe hierzu und zum folgenden die Darstellung durch Loddenkemper ZfIR 2006, 707 f.; ähnlich schon Wagner ZfIR 2005, 605, 616.
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ter verteilt. I.d.R. wird dabei die Beteiligungsquote jedes Anlegers, die sich aus dem Verhältnis seiner Einlage zum gesamten Kapital ergibt, genau angegeben. In etwas anders gelagerten Fällen stehen in dieser Liste, die als Anlage zu jeder Beitrittserklärung geführt wird, die Einlage, die Beteiligungsquote und ein absoluter Betrag nebeneinander, der die Höhe der jeden Anleger treffenden Darlehensschuld zeigt; das ist also eine summenmäßig beschränkte Haftung.28 Schließlich kommt es vor, dass entweder im Rahmen der gesellschaftsvertraglichen Regelung der Vertretungsmacht der Geschäftsführer oder wiederum in einer Anlage zum Darlehensvertrag nur eine Haftungsbeschränkung in Höhe der Beteiligungsquote ausgesprochen wird. Man kann davon ausgehen, dass diese Konzepte für die Begründung einer nur beschränkten Haftung der Anleger für die Darlehensschuld der Gesellschaft in Ordnung gehen.29 Hinsichtlich des genauen Inhalts dieser Haftung, vor allem bei Veränderungen der Gesellschafts- und der Gesellschafterschuld, besteht aber noch Klärungsbedarf, der auch die Phase der Vollstreckung aus dem Darlehen, aus etwaigen Schuldversprechen und dem Grundpfandrecht betrifft. 2. Zum Inhalt der „quotalen“ Haftung a) Die Haftung ist als Einschränkung der akzessorischen Haftung gem. §§ 128 ff. HGB analog konzipiert, ist aber in Grund und Umfang wie die gesetzliche ausgestaltet. Das würde bedeuten, dass sich die Verbindlichkeit durch die Versäumung rechtzeitiger Zinszahlung und durch Kosten, etwa für Mahnung und Vollstreckungsversuche, erhöhen würde. Denn die Gesellschafterhaftung hängt in Entwicklung, Fortbestand und Durchsetzbarkeit voll von der jeweiligen Rechtslage im Verhältnis zwischen Gläubiger und Gesellschaft ab,30 § 425 BGB gilt nicht. Allerdings sind abweichende Vereinbarungen möglich.31 Bezieht sich die Vereinbarung im Darlehensvertrag auf eine Quote der Beteiligung am Gesellschaftsvermögen, so kann dies allerdings nur bedeuten, dass die quotale Haftung nunmehr von dem erhöhten 28
Loddenkemper aaO, S. 709. Nicht wesentlich anders stellen sich die Dinge dar, wenn der Darlehensvertrag ursprünglich nur mit den Gründungsgesellschaftern geschlossen wurde, die entweder im Gesellschaftsvertrag – mit Kenntnis der Bank – oder im Darlehensvertrag selber ihre Haftung entweder auf das Gesellschaftsvermögen beschränkt haben oder ebenfalls nur quotal haften sollten, was aber dann nur bis zu dem Zeitpunkt gelten soll, in dem die Anleger sich zur Rückführung des Darlehens (quotal oder nach Maßgabe eines angegebenen Teilbetrages) verpflichtet haben, was etwa im Fall das KG (NZG 2009, 299) durch selbständige Schuldversprechen der Anleger begründet wurde. 30 BGHZ 39, 319, 323 f.; 97, 273, 276; BGH NJW 1986, 2364; Habersack AcP 198 (1998), 152, 159 ff.; MünchKomm(BGB)Ulmer/Schäfer § 714 Rn. 47; Erman/H.P. Westermann § 714 Rn. 22. 31 MünchKomm(BGB)Ulmer/Schäfer § 714 Rn. 47. 29
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Betrag der Gesellschaftsschuld zu berechnen ist, der Gesellschafter trägt also anteilig das Risiko einer Verzögerung oder Nichterfüllung der Gesellschaftsschuld. Anders, wenn der Ausgangsbetrag der „quotalen“ Haftung summenmäßig genau festgelegt ist; dann kann davon ausgegangen werden, dass der Gesellschafter nur maximal bis zur Höhe des für ihn angegebenen anteiligen Betrages der Darlehensschuld einzustehen hat.32 Damit hängt die Höhe der Gesellschafterhaftung für Zinsen und Kosten von der Vertragsregelung ab, die folglich auszulegen ist. Somit kann das Maß der Haftung nur durch die Beteiligungsquote angegeben sein, ohne dass ein Höchstbetrag beziffert ist; dann liegt das Risiko einer Ausweitung der Haftung beim Gesellschafter-Darlehensnehmer. In den Verträgen, die nur einen bestimmten Betrag der Beteiligung des Gesellschafters an der Darlehensschuld angeben, bleibt es trotz Veränderung der Gesellschaftsschuld bei diesem Betrag. Zweifelhaft ist die Auslegung solcher Regelungen, die, wie es vorkommt, eine Beteiligungsquote (möglicherweise erläutert durch den absoluten Betrag der Einlage), aber auch einen genauen Teilbetrag der Darlehensschuld benennen. Hier wird vom Empfängerhorizont aus, der von der regelmäßig nur ungenauen Einsicht in das Verhältnis von Einlagepflicht und Haftung für die Gesellschaftsschuld bestimmt sein dürfte, im Normalfall die zweite Sichtweise den Vorzug verdienen, wenn sich nicht, was durchaus wirksam wäre, aus dem Vertrag ein Hinweis auf die Risikoverteilung für Erhöhungen der Gesellschaftsschuld unter den genannten Aspekten ergibt. b) Größere Schwierigkeiten mit der Inhaltsbestimmung der „quotalen“ Gesellschafterhaftung zeigen sich, wenn die Gesellschaft oder einzelne Gesellschafter – dazu von der Gläubigerin oder der Gesellschaft veranlasst – Zahlungen auf die Darlehensschuld geleistet haben; dies ist der eigentliche, hoffentlich demnächst noch einmal höchstrichterlich zu durchdenkende Streitpunkt.33 Dabei muss wie zur Haftung für Zinsen und Kosten danach unterschieden werden, ob lediglich auf die quotale Beteiligung verwiesen wurde oder ob (zugleich oder ausschließlich) eine summenmäßige Begrenzung vereinbart ist.34
32 BGHZ 134, 224, 226 = NJW 1997, 1580; Wagner ZfIR 2005, 605, 616; ähnlich Lehleiter/ Hoppe aaO, Fn. 10 S. 326. 33 Hierzu im Anschluss an das Urteil BGHZ 134, 224; K. Schmidt NJW 1997, 2201 ff.; H.P. Westermann aaO, Fn. 26; Loddenkemper aaO, Fn. 27; Lehleiter/Hoppe BKR 2008, 323 ff.; zur diesbezüglichen Situation der nach dem Ausscheiden einzelner Gesellschafter im Fonds verbliebenen Gesellschafter auch Wagner ZfIR 2005, 605, 618 f. 34 Nur den zweiten Fall, also ohne Nennung eines Höchstbetrages, behandelt das Urteil des KG NZG 2009, 299 ff; ähnlich anscheinend KG ZIP 2009, 1118.
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aa) Teilleistungen der Gesellschaft auf die Darlehensverbindlichkeit vermindern diese und müssen sich folglich auch auf die nach Maßgabe der Beteiligungsquote bestimmte Gesellschafterschuld auswirken. Das heißt aber nicht schon, dass damit die konkrete Teil-Verbindlichkeit des Gesellschafters entsprechend reduziert würde. Allerdings hat der II. Senat des BGH in seinem Urteil vom 16.12.1996 35 für den Fall einer durch Schuldbeitritt übernommenen persönlichen Haftung des Gesellschafters in Höhe seiner Beteiligungsquote keinen nach oben hin offenen, variablen Haftungsrahmen angenommen, sondern geht von einer summenmäßigen Haftungshöchstgrenze in Höhe der Quote des Darlehensbetrages aus. Der Leitsatz der Entscheidung erwähnt nur Teilleistungen auf die Darlehensschuld aus dem Gesamthandsvermögen, der BGH unterschied aber in den Gründen zwischen den von dem beklagten Gesellschafter persönlich, den von seinen Mitgesellschaftern erbrachten und den aus dem Gesellschaftsvermögen stammenden Tilgungsleistungen.36 Bezüglich der vom Gesellschafter persönlich geleisteten Zahlung, die sich auf die Gesellschaftsschuld bezogen habe, trete gem. § 422 Abs. 1 BGB eine anteilige Erfüllungswirkung auch bei seiner quotenmäßig übernommenen Verbindlichkeit ein, wobei die Anwendung der Norm damit begründet wurde, zwischen der Gesellschaft und dem Gesellschafter bestehe im Umfang des summenmäßig beschränkten Schuldbeitritts ein – zumindestes unechtes – Gesamtschuldverhältnis.37 So gesehen, kommt es dann nicht entscheidend darauf an, ob ein zahlender Gesellschafter auf seine eigene Schuld oder auf die Gesellschaftsschuld geleistet hat, was ihm wegen der Anwendung des § 422 Abs. 1 BGB zugute kommt.38 Diese Lösung hat jedoch einen Pferdefuß, da der Senat ein gesamtschuldähnliches Verhältnis zwar zwischen der Gesellschaftsschuld und derjenigen des Gesellschafters, nicht aber zwischen den einzelnen Gesellschaftern annahm, woraus dann folgte, dass es sich insoweit nur um Teilschulden handelte, so dass Leistungen eines Gesellschafters nur Erfüllungswirkung hinsichtlich des jeweiligen privaten Haftungsanteils des Leistenden hätten.39 Die Annahme eines beschränkten Gesamtschuldverhältnisses – so der BGH weiter – führe dazu, dass sich die von den Gesellschaftern persönlich übernommenen Verbindlichkeiten durch unterschiedliche Inanspruchnahme seitens des Gläubigers auch verschieden ent-
35
BGHZ 134, 224 = NJW 1997, 1580 = ZIP 1997, 682. So geht auch K. Schmidt in seiner Besprechung des Urteils (NJW 1997, 2201 ff.) vor. 37 Hinweis auf BGHZ 47, 376, 378 = NJW 1967, 2155; dazu H.P. Westermann aaO, Fn. 26. 38 K. Schmidt aaO, Fn. 36, S. 2002. 39 AaO, Fn. 25 S. 1580 r. Sp.; auch insoweit zustimmend K. Schmidt aaO, S. 2002 r. Sp., allerdings nicht bezüglich der Anwendung des § 422 BGB; Vorbehalte auch bei H.P. Westermann aaO, Fn. 26. 36
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wickeln könnten. Das hatte nach den vom BGH zu beurteilenden konkreten Abläufen u.a. zur Folge, dass bezüglich der erbrachten Zahlungen, konsequenterweise auch denjenigen aus dem Gesellschaftsvermögen, eine „Anrechnungsproblematik“ auftrat. Der BGH ging nämlich davon aus, es sei nicht sicher, dass überhaupt eine insgesamt 100 % ausmachende quotale Haftung aller Fonds-Gesellschafter vorhanden war, auch sei festgestellt worden, dass nach einem Anwachsen der Gesellschaftsschuld durch Zinsen und Kosten aus dem Gesamthandsvermögen auch Leistungen auf solche Teile der Darlehensschuld erbracht worden sind, für die es an einer „Absicherung“ durch die quotale Haftung der Gesellschafter gefehlt habe.40 Die hierdurch begründete Anrechnungsproblematik soll dann nach Maßgabe der §§ 366, 367 BGB gelöst werden, was bedeute, dass es bezüglich der nicht von einem Gesellschafter (mit Wirkung für sich selber) erbrachten Zahlungen auf eine Tilgungsbestimmung durch den jeweils Zahlenden, also bei Leistungen aus dem Gesellschaftsvermögen der Gesellschaft, ankommt, was in Anwendung des § 366 Abs. 2 BGB weiter zur Folge habe, dass eine verhältnismäßige Tilgung der persönlichen Schuld jedes Gesellschafters nur in Betracht kommt, wenn sämtliche nach der gesetzlichen Tilgungsreihenfolge vorgehenden Anrechnungen ausschieden, so dass eine Anrechnung zunächst auf ungesicherte, weil gegen insolvente Gesellschafter gerichtete, Teil-Forderungen zu erfolgen hat. Das war im entschiedenen Fall für den Beklagten ungünstig, weil insgesamt 14% der beteiligten Gesellschafter vermögenslos waren.41 bb) Das ist schon abgesehen von der Frage, ob die Anwendung der Akzessorietätstheorie zu anderen Schlüssen führen muss, unbefriedigend. Einmal sollte nicht auf einem solchen bloß konstruktiven Weg die wertungsmäßig schwierige Frage, ob der Gläubiger oder jeder einzelne Gesellschafter das Risiko eines Ausfallens der Mitgesellschafter trägt, entschieden werden müssen. Zum anderen bliebe zu überlegen, ob es wirklich einer von der Gesellschaft abzugebenden Tilgungsbestimmung überlassen werden soll, ob und inwieweit Leistungen aus dem Gesellschaftsvermögen den haftenden Gesellschaftern zugute kommen. Auch besteht eine gewisse Gefahr – obwohl der BGH so weit nicht gegangen ist –, dass in der Art einer probatio diabolica eine Erklärung der Gesellschaft dahin, dass zugunsten der Gesellschafter geleistet wird, als gänzlich unwahrscheinlich verworfen wird.42 In der Praxis
40 Dies wirkt freilich erst dann gravierend zum Nachteil der Bank, wenn die Gesellschaftsschuld und die Summe, auf die sich sämtliche auf den Nominalbetrag des Darlehens bezogene Gesellschafterschulden belaufen, sehr weit auseinanderklaffen (Goette DStR 1997, 712). 41 Kritisch zur Maßgeblichkeit einer von der Gesellschaft (auch: schlüssig) zu treffenden Tilgungsbestimmung K. Schmidt aaO, Fn. 36, S. 2003 l. Sp. 42 Dazu auch schon H.P. Westermann aaO, Fn. 26.
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wird der Gläubiger versuchen, eine Tilgungsbestimmung zum Vorteil der Gesellschafter vertraglich (also formularmäßig) auszuschließen, was zur Frage nach einer Inhaltskontrolle führt. Das sind also speziell auf die quotale Haftung bezogene Bedenken. Daneben könnte es in den eingangs geschilderten Fällen der Publikums-GbR43 sein, dass zahlreiche oder auch alle Gesellschafter nicht wirksam beigetreten sind, so dass ihre Haftung unter Berücksichtigung der Folgen ihres mittlerweile betriebenen Ausscheidens zu bemessen ist,44 wobei möglicherweise auch Aspekte des Verbraucherschutzes einzubeziehen sind, was um so größerer Schwierigkeiten nach sich zieht, wenn derartige Modifikationen der Stellung und der Pflichten des FondsGesellschafters nur einen Teil der Anleger treffen.45 Aber auch konstruktiv überzeugt die Anwendung der §§ 366, 367 BGB auf derartige Fälle nicht recht. Zwar ist die analoge Anwendung des § 366 auf das Verhältnis von gesicherten und ungesicherten Schulden, auch bei Aufteilbarkeit einer Forderung in einen gesicherten und einen ungesicherten Teil, anerkannt.46 Aber durch die unterschiedliche Entwicklung der Verbindlichkeiten der einzelnen Gesellschafter, die ja nicht als Gesamtschuld zu betrachten sind, und die sich z.B. auch aus persönlichen Einwänden eines einzelnen Gesellschafters wie einer nur mit ihm getroffenen Stundungsabrede ergeben kann, entstehen keine selbständigen Forderungsteile; 47 dagegen spricht schon der einheitliche Entstehungstatbestand sowie das Bestreben, immer eine Sicherheit aus dem Privatvermögen der Gesellschafter nach Möglichkeit für die gesamte Gesellschaftsschuld zu beschaffen. Wenn nun noch, wie es heute wohl gängige Praxis ist, der Anleger nach der dem Darlehensformular beigefügten Liste von einer betragsmäßig genau festgelegten Maximalhöhe seiner persönlichen Schuld ausgehen kann, sollte klar sein, dass aus seiner Perspektive Zahlungen seiner Mitgesellschafter, wenn der Zahlende es nicht anders bestimmt, immer nur diesem zugute kommen, nicht aber Leistungen aus dem Gesellschaftsvermögen, die aus den von allen zur Zweckerreichung geleisteten Beiträgen finanziert sind, ohne dass die Geschäftsführung etwa eine Anrechnung auf alle Gesellschafter-Schulden durch eine abweichende Tilgungsbestimmung abwenden oder umdirigieren kann.
43
Um eine solche handelte es sich im Fall des BGH allerdings nicht. Dazu eingehend Wagner ZfIR 2005, 606 ff.; zu den Folgen verbraucherrechtlicher Schutzvorkehrungen auch H.P. Westermann aaO, Fn. 5. 45 Dazu H.P. Westermann aaO, vorige Note. Gegen die Anwendbarkeit der § 366, 367 von der vermögensmäßigen Seite her auch KG NZG 2009, 299, 301; OLG Frankfurt aaO Fn. 10 S. 13; anders KG ZIP 2009, 1118, 1120; krit. Loddenkemper aaO, Fn. 27, S. 709 r. Sp. 46 K. Schmidt NJW 1997, 2203 l. Sp. bezieht sich insoweit auf BGH NJW 1973, 1689 f.; BGH NJW-RR 1991, 169; S. weiter Erman/H.P. Westermann/Buck/Heeb § 366 Rn. 6. 47 K. Schmidt aaO; ein nicht aus § 366 gewonnenes Ergebnis würde wohl auch Wagner aaO, Fn. 6, S. 617 bevorzugen. 44
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Etwas weitergehend wird angenommen,48 dass anstelle der Figur der mehr oder weniger unechten Gesamtschuld die Teilschuld den Ausgangspunkt der Wertung bilde. Eine quotenmäßig beschränkte Haftung für die Darlehensverbindlichkeiten bedeutet also jedenfalls dann, wenn eine absolute Maximalhöhe der Verbindlichkeit jedes Gesellschafters angegeben ist, dass sich die Quote auf die noch offene Restforderung des Gläubigers gegen die Gesellschaft bezieht, so dass dem Gesellschafter jedenfalls durch Leistungen aus dem Gesellschaftsvermögen nicht erst dann eine Entlastung zuteil wird, wenn die Restschuld der Gesellschaft unter den Betrag seiner Quote an der ursprünglichen Gesellschaftsschuld abgesunken ist. Das trifft für Leistungen aus dem Gesellschaftsvermögen das Richtige, ist allerdings zweifelhaft für die von einem Mit-Anleger geleisteten Zahlungen. Diese dienen aus der Sicht des Leistenden wohl am ehesten der Verminderung seiner persönlichen Verbindlichkeit und müssen auf diese voll angerechnet werden, nicht nur mit der Quote, die beim Zahlenden „ankommt“, wenn in dieser Höhe die alle Gesellschafter treffende Gesellschaftsschuld verringert wird (gerade dies verhält sich bei Leistungen aus dem Gesellschaftsvermögen anders). cc) Nun ist das Urteil des BGH, das im Jahre 1996 erging, noch auf die frühere Konstruktion der Haftung der Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts nach Maßgabe der sogenannten „Doppelverpflichtungstheorie“ bezogen, die davon ausging, dass der für die Gesellschaft rechtsgeschäftlich Handelnde die Gesamtheit der Gesellschafter und alle Partner – ihn selbst eingeschlossen – verpflichtete.49 Wie schon in der Auseinandersetzung mit dem BGH erwähnt wurde,50 muss der Fragenkreis nach der rechtsfortbildenden Durchsetzung der Akzessorietätslehre, also der entsprechenden Anwendung der §§ 128 ff. HGB, neu durchdacht werden. Aus der Akzessorietät wird geschlossen, dass Erweiterungen und Verringerungen der Gesellschaftsschuld auch die Haftungsverbindlichkeit der Gesellschafter beeinflussen.51 Dann befreit eine Leistung aus dem Gesellschaftervermögen in entsprechender Höhe alle Gesellschafter. Wendet man in diesem Haftungsmodell für das Verhältnis der Gesellschafter untereinander § 422 BGB an, was jetzt möglich ist, so kommt die Leistung eines Gesellschafters auch den Mitgesellschaftern zugute, die allerdings dem Leistenden aus § 426 BGB verpflichtet sind.52 Wenn nun die gesamtschuldnerische Haftung durch eine 48 Dazu und zum Folgenden KG NZG 2009, 299, 301; anders im Ergebnis KG ZIP 2009, 1118, 1120. 49 BGHZ 74, 240, 242; BGH NJW 1992, 3037; Henssler JZ 1993, 155; Hennrichs/Kießling WM 1999, 877, 890; Hüffer ZHR 144, 518, 520. 50 K. Schmidt aaO, Fn. 36, S. 2004; darin stimmen jetzt auch die Urteile KG NZG 2009, 299 und OLG Frankfurt aaO Fn. 10 S. 13 überein. 51 Näher Habersack Großkommentar HGB, § 128, Rn. 28, 30; Wertenbruch in: H.P. Westermann/Wertenbruch Handbuch der Personengesellschaft, Rn. I 741. 52 Dazu Loddenkemper aaO, Fn. 27, S. 710; anders KG ZIP 2009, 1118, 1120.
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quotale ersetzt wird, ändert dies nichts an der das Verhältnis von Gesellschafts- und Gesellschafterschuld bestimmenden Akzessorietät, sondern sagt nur, dass die in Grund und Inhalt der Gesellschaftsschuld folgende Gesellschafterschuld betragsmäßig beschränkt ist.53 Was bei einer Gesamtschuld der Gesellschafter möglich wäre, nämlich eine Inanspruchnahme eines Gesellschafters im Außenverhältnis, die nicht seiner „Quote“ und damit der Verteilung im Innenverhältnis entspricht, soll bei der bloß quotalen Haftung nicht stattfinden. Andernfalls würde – um ein vom KG gebildetes Beispiel aufzugreifen – bei einem aus zehn Gesellschaftern zusammengesetzten Fonds, der ein Darlehen über 100.000 € erhalten hat, jeder der zu 10 % beteiligten Gesellschafter, der also am Anfang auf seine Quote, d.h. 10.000 € haftet, bei einem Rückgang der Gesellschaftsschuld auf 10.000 € nicht weiterhin auf diese Summe, sondern nur auf die 10 % der verbliebenen Gesellschaftsschuld, also auf 1.000 € haften; entschiede man anders, so würde in diesem Augenblick aus einer quotalen eine Gesamtschuld. Dies hätte dann folgerichtig bei Zahlungen aus dem Gesellschaftsvermögen wie aus dem Vermögen von Mitgesellschaftern zu gelten. Der letztere Punkt führt allerdings zu einer Rückfrage. Leistet ein Gesellschafter mit der Folge, dass die Gesellschaftsschuld und mittelbar jede Gesellschafterschuld, wenn auch nur in Höhe der Quote, ermäßigt wird, so steht der Leistende vor der Notwendigkeit, wegen seiner Zahlung die Gesellschaft und u.U. die begünstigten Gesellschafter in Regress zu nehmen, während er doch aus seiner Sicht lediglich seine eigene Verbindlichkeit verringern wollte. Das legt es nahe, dass er nur auf die Gesellschafts- und seine eigene Schuld leisten wollte, was dem die Leistung annehmenden Gläubiger, der mehr als die restliche Gesellschaftsschuld nicht fordern kann, sei es aus dem Gesellschaftsvermögen oder demjenigen der Gesellschafter, gleichgültig sein kann. Dieses Ergebnis, das im wissenschaftlichen Schrifttum mit einer entsprechenden Anwendung des auf die Haftung der Mitreeder im Verhältnis zur Reederei zugeschnittenen § 507 HGB begründet worden ist, der auf das Modell einer Teilbürgschaft verweist,54 unterscheidet sich von der noch auf der älteren Gesamthandslehre fußenden Lösung dadurch, dass für Leistungen aus dem Gesellschaftsvermögen der nicht passende § 366 BGB ausscheidet und im Verhältnis der quotal, aber akzessorisch für die Gesellschaftsschuld Haftenden der Rechtsgedanke des § 422 BGB als abbedungen
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So die Gründe des KG im Urteil NZG 2009, 299, 300 f. K. Schmidt aaO, Fn. 36, S. 2004 f., dem folgend Loddenkemper aaO, Fn. 27, S. 711: Das habe – so Loddenkemper ebenda – weiter zur Folge, dass sich die Quote des einzelnen Gesellschafters nicht reduziert, solange die Gesellschaftsschuld betragsmäßig noch über der Summe aller Haftungshöchstbeträge der Gesellschafter liegt. Mit anderer Begründung für eine Nichtanrechnung der Leistungen von Mitgesellschaftern Lehleiter/Hoppe aaO, Fn. 10, S. 326. 54
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anzusehen ist, da es in diesem Verhältnis auf die Haftungsquote ankommt. Dieses aus der Interessenlage der Publikumspersonengesellschaft gewonnene Verständnis hat nicht die Schwierigkeit zu überwinden, dass zwischen einer Partenreederei, die gewöhnlich nur wenige wirtschaftlich starke Partner verbindet, und einer Publikumspersonengesellschaft kaum analogiefähige Ähnlichkeiten bestehen. dd) Bevor auf die Konsequenzen einzugehen ist, die diese Lösung bei einem Ausfallen von Mitgesellschaftern hat, muss allerdings auf denkbare Einwände eingegangen werden, wie sie im Schrifttum auch geäußert worden sind.55 Ausgangspunkt der Kritik ist die Annahme, aus dem akzessorischen Charakter der Gesellschafterschuld folge nicht, dass eine Ermäßigung der Gesellschaftsschuld die Verbindlichkeit haftender Gesellschafter berühre, sondern lediglich, dass ein Gesellschafter nicht in seiner Person begründete Einwendungen immer nur insoweit geltend machen kann, als sie auch von der Gesellschaft erhoben werden können. In der Vereinbarung einer quotalen Haftung liege eine teilweise Suspendierung von der Akzessorietät. Dies entspricht aber nicht dem Denkmodell der Gesellschafterhaftung nach § 128 HGB, das besagt, dass die Gesellschafterhaftung nicht nur Hinblick auf die Einwendungen zugunsten und zu Ungunsten des Gesellschafters, sondern schlechthin in Bestand und Umfang von der „fremden Schuld der Gesellschaft dauernd abhängig“ ist.56 Die Vereinbarung einer quotalen Haftung begründet keine Verbindlichkeit des Gesellschafters, sondern beschränkt diese, ohne sie von ihrem Ursprung aus der Schuld der Gesellschaft ganz zu lösen. Dass die Zahlung eines Gesellschafters auf seine eigene Verbindlichkeit nicht die quotale Haftung seiner Mitgesellschafter ermäßigt, weil sonst einem an sich prozentual gleich haftenden, später in Anspruch genommenen Gesellschafter die Kürzung der Gesellschaftsschuld und damit das Absinken seiner Quote auf einen geringeren absoluten Betrag zugute käme,57 entspricht dem hier angenommenen Lösungsmodell, während umgekehrt die Akzessorietät vernachlässigt würde, wenn man auch Zahlungen der Gesellschaft nur dann zugunsten der Gesellschafter berücksichtigt, wenn hierdurch die Gesellschaftsschuld auf einen Betrag absinkt, der unterhalb der Haftungsgrenze jedes Gesellschafters, berechnet nach dem Nominalbetrag des Ursprungsdarlehens plus Zinsen und Nebenkosten, liegt.58
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Hierzu und zum Folgenden Lehleiter/Hoppe aaO, Fn. 10, S. 326 ff. Hillmann in: Ebenroth/Boujong/Joost § 128 HGB Rn. 20; ähnlich v. Gerkan/Haas in: Röhricht/v.Westphalen, HGB, 3. Aufl. 2008, § 128 Rn. 7. 57 Beispiel von Lehleiter/Hoppe aaO, Fn. 10, S. 327. 58 So Lehleiter/Hoppe ebenda und im Ergebnis auch KG ZIP 2009, 1118, 1120 f. 56
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Spricht man der Akzessorietät die volle inhaltsbestimmende Wirkung für die Gesellschaftsschuld ab, so ist nicht nur für Leistungen der Gesellschafter, sondern auch für solche aus dem Gesellschaftsvermögen möglicherweise mit dem BGH auf § 366 BGB zurückzugreifen, der aber, wie gezeigt, hier nicht passt. Das Unbehagen an einer solchen Lösung verschärft sich, wenn man berücksichtigt, dass dies auch für Leistungen gelten müsste, die der Gläubiger durch Zwangsverwaltung des Fonds-Objekts oder durch Zwangsversteigerung erlangt hat, weil in diesem Stadium einer Tilgungsbestimmung durch die Gesellschaft, die regelmäßig auf das Grundpfandrecht und die „persönliche“ Gesellschaftsschuld zahlt,59 keine rechtfertigende Wirkung zugunsten oder zum Nachteil der Gesellschafter mehr zukommt. Allerdings müssen die bisherigen Teilergebnisse noch im Hinblick auf die Richtigkeit der Risikoverteilung bei wirtschaftlichen Ausfällen eines Gesellschafters überprüft werden. ee) Im Ausgangspunkt ist das Risiko des Ausfallens eines von mehreren Mitschuldnern dem Gläubiger zugewiesen, der dies bei Vereinbarung einer Gesamtschuld abwälzt. Bei einer quotalen Beschränkung der Verpflichtungen der Anleger ist das nicht so sicher, zumal der auch hier einschlägige Gesichtspunkt der Akzessorietät hierfür nichts hergibt.60 Beim Ausfallen eines Gesellschafters ändert sich am Bestand und an den Durchsetzungsmöglichkeiten der Gesellschaftsschuld zunächst nichts, es schwächt sich lediglich eine von mehreren Sicherheiten in Gestalt der Zugriffsmöglichkeiten auf Privatvermögen von Gesellschaftern ab. Bisweilen wird die Bank, insbesondere wenn sie den Kredit zugesagt hat, bevor der Fonds nach Beitritt aller Gesellschafter geschlossen war, auch nicht eine 100 % ausmachende quotale Haftung der Gesellschafter mit ihrem Privatvermögen erreichen.61 Da ferner die Zahlung eines Gesellschafters auf die Darlehensschuld die Haftung der Mitgesellschafter, wie gezeigt, nicht verändert, sondern nur seine eigene, könnte man den Standpunkt vertreten, für den Ausfall eines Partners gelte dasselbe. Nun hat es den Anschein, als versuche die Praxis aus der Gestaltung der quotalen Haftung einen anderen Schluss zu ziehen, indem gesagt wird, beim
59 Nach KG NZG 2009, 299, 301 ist Befriedigung aus der Zwangsvollsteckung als Leistung des Eigentümers auf das Grundpfandrecht anzusehen, die dann erlischt, während die gesicherte Forderung untergeht, wenn zugleich auf sie geleistet wird, was bei Identität des Eigentümers und des persönlichen Schuldners anzunehmen ist (BGH NJW 1987, 503); das ist unabhängig von der zusätzlichen Sicherung durch die Haftung der Gesellschafter hier anzunehmen. 60 Insoweit ist den Überlegungen von Lehleiter/Hoppe aaO, Fn. 10 beizupflichten. 61 Darauf weist auch das KG (NZG 2009, 299, 301) hin, allerdings im Rahmen der Auseinandersetzung mit BGHZ 134, 224.
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Ausscheiden eines – wohl meist insolventen – Gesellschafters aus dem Teilhaberkreis 62 wachse seine Beteiligung am Gesellschaftsvermögen den anderen Gesellschaftern an, so dass sich ihre Quote am Gesellschaftsvermögen und damit auch an dessen Passiva, also auch der Darlehensforderung, entsprechend erhöhe. Dagegen ist Verschiedenes zu sagen.63 Richtig ist zunächst, dass die „Quote“ eines jeden Gesellschafters variabel gestaltet werden kann, sich also durch Veränderungen des Gesellschafterkreises mitverändern kann. Dies ist aber nicht der Eindruck, der sich bei unbefangener Lektüre der oben I 1 geschilderten Beitrittserklärungen ergibt, die entweder eine summenmäßige Höchstgrenze erkennen lassen oder eine Höchstquote angeben, die dem ursprünglichen Anteil an der Aufbringung des Gesellschaftskapitals entspricht. Wer in einem früheren Stadium einen bestimmten Betrag gezeichnet hat, den er einzulegen hat, muss auch nicht befürchten, entgegen § 707 BGB seine Einlage erhöhen zu müssen, wenn wider Erwarten das vorgesehene und in aller Regel in einem vorher besprochenen Verhältnis zu den Darlehensmitteln stehende Kapital nicht voll aufgebracht werden kann.64 Auf der anderen Seite haben es die ursprünglichen Vertragsschließenden in der Hand, das Gesamtpaket an Sicherheiten, also Grundstück, sonstiges Gesellschaftsvermögen wie etwaige Mieteinnahmen und natürlich auch die Privatvermögen der Gesellschafter zu bewerten, und dieses Paket auf seine Angemessenheit im Verhältnis zur Höhe des Darlehens zu prüfen. Auch wenn man, trotz der Konstellation der persönlichen Gesellschafterhaftung nach dem Akzessorietätsprinzip, das Verhältnis zwischen den Verbindlichkeiten der Gesellschaft und der Gesellschafter untereinander nach § 366 BGB bestimmt, so wäre das in Abs. 2 dieser Vorschrift niedergelegte Verhältnis der Teilschulden, auf die eine Zahlung vorrangig zu verrechnen wäre, kein Maßstab für eine Regel, nach der wirtschaftlich noch leistungsfähige Mitschuldner für Ausfälle eines der ihren einzutreten hätten. Will das Gesetz derartiges, ohne auf ein Gesamtschuldverhältnis zurückgreifen zu können, so muss es 62 Nach § 728 Abs. 2 BGB wird bei Insolvenz eines Gesellschafters die Gesellschaft aufgelöst. Obwohl die Norm zwingend ist, steht sie nicht einer Fortsetzungsklausel des Inhalts entgegen, dass der Gemeinschuldner ausscheidet und gem. § 728 BGB abzufinden ist, MünchKomm(BGB)Ulmer/Schäfer § 728 Rn. 43; Erman/H.P. Westermann § 728 Rn. 8. 63 So wohl auch Wagner ZfIR 2005, 615: Weder bezüglich einer prozentualen noch bezüglich der betragsmäßig quotalen Haftung ändere sich etwas daran, dass Gesellschafter aus der BGB-Gesellschaft ausscheiden und sich dadurch aufgrund des Anwachsungsprinzips der Beteiligungsprozentsatz verändert. Für die Zuweisung des Ausfallrisikos an die Bank wegen ihres deutlich höheren Einflusses auf die Vertragsgestaltung Loddenkemper aaO, Fn. 27, S. 712; OLG Frankfurt aaO Fn. 10 S. 14 ff.; KG NZG 2009, 299, 300; anders wiederum KG ZIP 2009, 1118, 1120. 64 Zu – ausnahmsweise bestehenden – Nachschusspflichten in der Personengesellschaft, die aber einer gesellschaftsvertraglichen Regelung bedürften, zuletzt Armbrüster ZGR 2009, 1, 3 ff.; Erman/H.P. Westermann § 707 Rn. 1; eine lediglich aus der Treupflicht begründete Nachschusspflicht stößt auf große Zurückhaltung, BGH ZIP 2007, 766; ZIP 2005, 1368; Armbrüster aaO, S. 20 ff.; Wertenbruch DStR 2007, 1680 1682.
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deutlich angeordnet sein, wie es etwa bei der Ausfallhaftung der GmbHGesellschafter in § 24 GmbHG geschehen ist. 3. Zur Reihenfolge der Vollstreckungsmöglichkeiten Wenn die Gesellschaft die Zinsen und Tilgungsraten schuldig bleibt und die Gesellschaftsschuld fällig gestellt worden ist, hat die Darlehensgläubigerin Zugriff auf das Grundstück und die Privatvermögen der Gesellschafter, die somit zur Zahlung aufgefordert werden. Kann dagegen eingewendet werden, die Bank möge sich zunächst aus dem Grundpfandrecht zu befriedigen versuchen? Dies wird im Schrifttum zum Teil bejaht,65 wobei die Stoßrichtung allerdings hauptsächlich dahin geht, die in den Darlehensverträgen gewöhnlich der Bank eingeräumte Freiheit, die persönliche Haftung unabhängig von Eintragung und Bestand des Grundpfandrechts und ohne vorherige Zwangsvollstreckung in dieses Objekt geltend zu machen, an den verschiedenen Möglichkeiten einer Inhaltskontrolle der Vertragswerke scheitern zu lassen. Nun kann es tatsächlich sein, dass die Angaben der verschiedenen den Empfängerhorizont der Anlegers und damit den Inhalt seiner Erklärungen bestimmenden Verträge und Verlautbarungen, etwa auch der Prospekte, bezüglich der Reihenfolge, in der die Bank ihre Rechte geltend machen kann, widersprüchlich sind.66 Dies gilt, abgesehen von der Frage, welche dieser Angaben dem Kreditinstitut zugerechnet werden können, und ob die Vertretungsmacht eines Vermittlers oder Treuhänders so weit reicht, Vereinbarungen über die Verwertungsreihenfolge zu treffen. Soweit diese Verträge und die notarielle Urkunde über die Unterwerfung unter die sofortige Zwangsvollstreckung keine klaren Anhaltspunkte bezüglich einer der Bank vorgegebenen oder ihr freigestellten Vollstreckungsreihenfolge ergeben, ist also nach der objektiven Interessenlage zu entscheiden. Beließe man es, was die Erfüllungswirkung von Leistungen aus dem Gesellschaftsvermögen für die (quotale) Haftung der Gesellschafter anbelangt, bei der Lösung des BGH aus dem Jahre 1996, so hätte die Gläubigerin die Möglichkeit, zunächst die Verwertung des Grundstücks in Gang zu setzen, die sich erfahrungsgemäß lange hinziehen kann, und sodann die Gesellschafter voll und besonders ohne Berücksichtigung etwaiger Erlöse aus einer Zwangsverwaltung in Anspruch zu nehmen, um anschließend noch den Erlös aus einer Zwangsversteigerung zu vereinnahmen. Damit könnte sie namentlich das Risiko aus dem Ausfall insolventer Gesellschafter vermei-
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Barchewitz MDR 2007, 1176; anders insoweit OLG Frankfurt aaO Fn. 10 S. 9. Zu den gebräuchlichen Regeln Loddenkemper aaO, Fn. 27, S. 714, dort auch zur diesbezüglichen Vertretungsmacht des Handelnden. 66
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den.67 Daraus kann sich im Einzelfall – nicht notwendig immer – die Gefahr einer bei Abwägung aller Belange ungerechtfertigten Besserstellung der Gläubigerin ergeben, was dann nach § 242 BGB in dem Sinne korrigiert werden muss, dass die Bank doch gehalten ist, zunächst ins Gesellschaftsvermögen zu vollstrecken und dann die – durch die Erlöse modifizierte – quotale Haftung der Gesellschafter geltend zu machen. Dies gilt auch, wenn vertraglich eine andere Reihenfolge der Vollstreckungsmöglichkeiten vorgesehen ist – das Gebot einer schonenden Rechtsausübung greift auch dann, es bedarf aber für eine Abweichung vom Vertrag schwerwiegender Gründe.
III. Risiken aus dem Ausfall der Anschlussförderung öffentlich geförderter Projekte 1. Ursachen des Risikos und Reaktion auf seine Realisierung Wie dargestellt (oben I 2), war durch die privaten Darlehen und öffentlichen Finanzierungshilfen nicht gesichert, dass das Projekt innerhalb des zunächst abgedeckten Förderungszeitraums so weit erfolgreich sein konnte, dass es sich hinfort wirtschaftlich trägt. Also hatte es die öffentliche Verwaltung in der Hand, nach Gutdünken – und den natürlich für sie maßgebenden öffentlich-rechtlichen Prinzipien – über die Fortsetzung der öffentlich-rechtlichen Fördermaßnahmen zu befinden. Unter zivilrechtlichen Gesichtspunkten muss man sich die hieraus folgende Ausgangssituation klar machen: Im Zusammenwirken von öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Maßnahmen, die beiderseits der Finanzierung eines Projekts dienten, das vorerst wirtschaftlich nicht auskömmlich würde operieren können, wurden verlorene und rückzahlbare Fremdmittel gewährt, von denen klar war, dass sie im Verlauf der ersten Förderungsperiode nicht zum endgültigen Erfolg würden führen können. Unter diesen äußeren Umständen kann auch davon ausgegangen werden, dass sich die an der Finanzierung beteiligten Institute darüber klar waren, dass ein Erfolg des von ihnen finanzierten Projekts nicht aus den Eigenmitteln des Anlegerkreises und auch nicht aus demnächst zu erwartenden Einnahmen würde erreicht werden können. Die eingangs vorgeführten Zahlenverhältnisse zeigen auch deutlich, dass weder die privatrechtlich noch die öffentlich-rechtlich handelnden Finanzierungsinstitute glauben konnten, dass ihre Zusagen ohne die der jeweils anderen Seite sinnvoll sein würden, und man kann durchaus unterstellen, dass ein Bedingungszusammenhang zwischen den Finanzierungsinstrumenten bestand.68 Das ist 67
Siehe das Beispiel von Loddenkemper aaO, Fn. 27, S. 714. So wird im Urteil des KG (aaO, Fn. 12) darauf hingewiesen, dass die vorgelegte Wirtschaftlichkeitsberechnung im Interesse der die Förderung bewilligenden staatlichen Stellen erstellt worden sei. 68
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also ähnlich wie bei Sanierungsmaßnahmen, die die öffentliche Hand – aus allgemein politischen Gründen – wünscht oder sich von der öffentlichen Meinung aufzwingen lässt, und bei denen eine Zusammenarbeit von privatrechtlichen oder verwaltungs-privatrechtlichen Maßnahmen dazu führt, dass Inhalt und vertragliche Risikoverteilung der verschiedenen Verträge einer gegenseitigen Beeinflussung unterliegen.69 Da in dem Fall, über den das KG zu entscheiden hatte,70 die gegen die Investitionsbank gerichtete Klage vorwiegend mit einem Verstoß gegen Beratungspflichten begründet war, die die Zweifel am Bestehen eines öffentlichrechtlichen Anspruchs auf Anschlussförderung umfasst hätten, lag es für das Gericht nahe, sich über das Bestehen solcher Zweifel bei der Erarbeitung des Finanzierungskonzepts Klarheit zu verschaffen. Dabei stellte sich heraus, dass bezüglich eines solchen Anspruchs die beiden beteiligten Senatsverwaltungen etwas unterschiedlicher Meinung gewesen waren. Die Annahme, dass die Bank nicht verpflichtet gewesen sei, die Fonds-Betreiber über solche Zweifel aufzuklären, ist mit dem Fehlen eines Beratungsvertrages begründet, der sich, wie auch sonst häufig angenommen wird,71 aus den Umständen ergeben müsste, mag auch anzumerken sein, dass gerade der BGH mit der Annahme eines solchen Vertrages manchmal recht schnell bei der Hand ist.72 Aber nach den Feststellungen des KG konnte angesichts der unterschiedlichen Meinungen der Behörden auch bei den beteiligten Kreditinstituten von einem konkreten Wissensvorsprung73 gegenüber den Fonds-Betreibern, die in dieser Branche gewerblich tätig waren, wohl nicht die Rede sein. Allerdings kann man darüber streiten, ob es für die Feststellung etwaiger Aufklärungspflichten eine Rolle spielte, dass – offenbar unstreitig74 – jedermann von einer klaren politischen Willensbildung ausging, dass es für alle Wohnungsbauprogramme ab 1972 grundsätzlich eine Anschlussförderung geben solle; demgemäß entsprach die Bewilligung der Anschlussförderung unstreitig der damaligen Praxis. Wenn es, wie durch das BVerwG entschieden, einen Anspruch auf eine Anschlussförderung nicht gibt, obwohl davon zur Zeit der Planung des
69 Näher H.P. Westermann Kreditwirtschaft und öffentliche Hand als Partner bei Unternehmenssanierungen, 1983, S. 13 ff. 70 Oben Fn. 12. 71 Beispiele zur Verletzung von Beratungspflichten BGHZ 168, 1; BGH NJW 2007, 1874; s. auch bereits BGH NJW 2006, 2099; eingehend dazu Erman/Ehman § 675 BGB Rn. 84 ff. 72 Dazu etwa H.P. Westermann FS für Horn, 2006, S. 143 ff. 73 Dazu etwa BGH ZIP 2007, 1854; BGH NJW 2006, 2099; Erman/Ehmann § 675 Rn. 37. 74 So das KG aaO, Fn. 12 auf S. 10 ff., wo insbesondere als gerichtsbekannt dargestellt wird, dass bis zum Jahre 1977 „keine politischen Signale dahin öffentlich abgegeben worden waren“, dass es einen Wechsel in der Wohnungsbaupolitik geben werde.
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Projekts (und vieler ähnlich konzipierter) allenthalben ausgegangen wurde, so ist das Vertragswerk, das ja aus mehreren Verträgen unter verschiedenen Personen besteht, in diesem Punkt unzulänglich konstruiert. Daneben ist ein Schadensersatzanspruch aus Aufklärungspflichtverletzung zwar nicht ausgeschlossen, aber auch nicht leicht begründbar, solange nicht klar ist, dass die im konkreten Fall in Anspruch genommene Bank für ein eigenes oder ein ihr sonst zuzurechnendes Fehlverhalten verantwortlich ist. Daher richtet sich das Augenmerk auf die Frage, ob die Darlehensverträge nicht am Wegfall der Geschäftsgrundlage leiden. Das zwingt zur Prüfung zunächst des Grundes eines solchermaßen begründeten Mangels des Vertrages, ferner der Rechtsfolgen. Das KG 75 lehnte diese Lösung im Ergebnis ab. 2. Voraussetzungen eines Wegfalls der Geschäftsgrundlage Ob, wie der Senat in seiner kurzen Begründung einleitend sagt, Bewilligung oder Versagung der Anschlussförderung einen Umstand darstellt, der mit dem privatrechtlichen Darlehensvertrag in keinem Zusammenhang steht, ist schon angesichts der vom Land Berlin als weitere Sicherheit gewährten Ausfallbürgschaft (oben I 2) überaus zweifelhaft, im Gegenteil kann von einem Netzwerk von Verträgen gesprochen werden, die nur im Zusammenwirken den erstrebten Erfolg ermöglichen76. Nicht besser steht es insoweit mit dem – wenn auch durch die Judikatur des BVerwG77 belegten – Satz, ein öffentlich-rechtliches Verhältnis könne für die Beurteilung der zivilrechtlichen Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage nicht herangezogen werden. Die Rechtsprechung zur diesbezüglichen Relevanz von Gesetzesänderungen,78 darunter sogar, wenn auch mit gebotener Zurückhaltung, des Steuerrechts,79 ist anders. So würde gerade in der jetzigen Wirtschaftskrise ein Vertrag mit einer Bank, der von der ihr durch Kabinettsbeschluss zugesagten Eigenkapitalverstärkung als Datum ausgeht, bei einer Rücknahme dieser Zusage kaum unverändert bestehen bleiben können, und man könnte auch nicht sagen, dass hier – wie bei der Hoffnung auf Gewährung
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S. 16 ff. der Gründe aaO, Fn. 12. Grundmann aaO, Fn. 12, S. 234 f. 77 BVerwG v. 25.10.1972, Az. VIII C 179.71. 78 Siehe etwa BAG NJW 1980, 1812 (verhältnismäßige Gehaltserhöhung bei Chefärzten nach Einschränkung der Privatliquidation durch das Bundespflegesatzrecht); OLG Naumburg OLG-NL 1995, 82 sowie BGHZ 127, 212, 218 und BGH NJW 1998, 1702, 1705 (für Rechtsänderungen im Rahmen der Wiederherstellung der deutschen Einheit); s. auch BGH WM 1962, 625. 79 Abl. wegen der Unzuverlässigkeit des Steuerrechts OLG München NJW-RR 1999, 557; Beyer DB 1995, 1062; anders aber OLG Köln DB 1995, 421 (Steuerfreiheit von Zinsen als Geschäftsgrundlage für den Erwerb von Pfandbriefen); zum Umsatzsteuerrecht BFH BStBl II 1973, 14. 76
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von Subventionen – der Vertragspartner der Bank allein das Veränderungsrisiko trägt. Auch wenn der öffentlich-rechtliche Akt rechtmäßig war, kann er zu einem Wegfall der Grundlage privatrechtlicher Geschäfte führen, bei Licht betrachtet sogar nur dann. Würdigt man die hier ineinandergreifenden Verträge, so könnte man zugespitzt sogar davon sprechen, dass der „Netzzweck“ Geschäftsgrundlage war.80 Also sind die jetzt aus § 313 BGB ersichtlichen Voraussetzungen einer relevanten Grundlagenstörung zu untersuchen. Ob die Aussicht auf eine Anschlussförderung als Geschäftsgrundlage für die Partner jedenfalls der wohl dem Wirtschaftsprivatrecht zuzurechnenden Darlehensverträge, wie sie mit der Investitionsbank geschlossen waren, qualifiziert werden kann, lässt sich nicht mit dem Hinweis ablehnen, es habe keinen Anspruch auf eine solche Vergünstigung gegeben. Denn die einzelnen Teile des Förder-Konzepts hängen für alle Beteiligten ersichtlich, und auch so gewollt, unlösbar zusammen, und es kann schwerlich angenommen werden, dass die öffentlich-rechtlich und die privatrechtlich motivierten Darlehenszusagen ohne diejenige der Gewährung des (verlorenen) Aufwendungszuschusses gegeben worden wären; das Erfordernis, dass sich auf dieser Annahme der Geschäftswille „aufbaut“,81 war erfüllt. Es kann dann auch nicht mit dem KG82 davon gesprochen werden, dieser Umstand falle, wie etwa die Verwendung geliehener Mittel, in die Risikosphäre allein des Darlehensnehmers, der vielmehr, wovon alle Beteiligten ausgingen und ausgehen mussten, dieses Risiko niemals hätte übernehmen können und dürfen. Dass die Pflichten und die Risikoverteilung aus privaten Verträgen durch das eigenartige Zusammenwirken privatrechtlicher und wirtschaftsprivatrechtlicher oder auch voll öffentlich-rechtlicher Elemente verschoben werden können, zeigt auch das hier bereits erwähnte Feld der Unternehmenssanierungen unter Einschaltung der öffentlichen Hand; hier ist nämlich zu beobachten, dass die Gewährung einer Bürgschaft (durch das Land) erhebliche Pflichten und Risiken nicht etwa des Hauptschuldners, sondern der Bank als der eigentlichen Hauptgläubigerin nach sich zieht 83. Dass in den hier erörterten Fällen die Beseitigung der Anschlussförderung eine tiefgreifende Änderung der Durchführbarkeit und der Gerechtigkeitsgewähr der Verträge bedeutet, wird rein tatsächlich kaum bezweifelt werden können. Bei der danach ausschlaggebenden Frage nach der Zuweisung des hier verwirklichten Risikos zur Interessensphäre einer oder beider Vertragsparteien, aus der sich dann auch die Zumutbarkeit des Festhaltens am Vertrag (oder 80
Grundmann aaO, Fn. 12, S. 235. Hierzu BGH NJW 1991, 1478; NJW 1997, 320, 323; NJW 2002, 3695, 3697; Erman/ Hohloch § 313 BGB Rn. 17. 82 S. 16 der Gründe aaO, Fn. 12. 83 Näher H.P. Westermann aaO, Fn. 69, S. 17 ff. 81
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seiner Änderung) ergibt,84 muss der Umstand berücksichtigt werden, dass die hier vorliegende Art von Projektfinanzierung in ein umfassendes Konzept der öffentlichen Wohnbauförderung einbezogen war, in dem private – nur langfristig zu erzielende – Gewinne und sonstige Vorteile mit dem öffentlichen Nutzen verbunden waren, den man offenbar in der Begrenzung der Miethöhe sah. Beide Seiten würden bei Kenntnis der Zweifelhaftigkeit der Anschlussförderung andere Wege zur Erreichung ihrer Ziele eingeschlagen haben und hätten dies auch tun müssen, um nicht Gefahr zu laufen, öffentliche Mittel wie den sehr namhaften Aufwendungszuschuss in ein nicht durchführbares und dann für die privaten Investoren existenzgefährdendes Vorhaben gesteckt zu haben. Unterstellt man umgekehrt, dass die Entwicklung des Wohnungsbaus in Berlin und der Leerstände die Beschränkung der Miethöhe unzweckmäßig erscheinen ließe und diesbezügliche Bindung der Geschäftstätigkeit der Fonds aufgehoben würde, so würde möglicherweise eine Änderung der Bedingungen für die Gewährung der Darlehen und des Zuschusses die Geschäftsgrundlage erfassen und müsste von der Darlehensnehmerin akzeptiert werden. Insgesamt kann somit auch der Annahme des KG,85 die Sache habe keine grundsätzliche Bedeutung, nicht zugestimmt werden; insbesondere geht es rechtssystematisch nicht an, in Bezug auf die der Bank vorgeworfene Verletzung von Aufklärungspflichten bezüglich der Unsicherheit der Anschlussförderung davon auszugehen, alle Beteiligten seien insoweit sicher vom Fortbestand der aktuellen Lage ausgegangen, um dann gewissermaßen im nächsten Atemzug die Qualifikation dieses Kenntnisstandes als Geschäftsgrundlage zu verneinen. 3. Zu den Rechtsfolgen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage Unter den Rechtsfolgen eines Wegfalls der Geschäftsgrundlage steht bekanntlich die Anpassung des Vertragswerks ganz im Vordergrund. Das ist insbesondere bei Notwendigkeit einer Verteilung der Anpassungslast unter mehr als zwei Beteiligte eine Aufgabe, die vollständige Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls erfordert. Dazu kann im Grunde nicht Stellung genommen werden, solange über die Wertung der einzelnen Elemente des mehrschichtigen Vertragswerks mit den Maßstäben der Geschäftsgrundlagenlehre keine Klarheit besteht. Vorher ist auch über die Zumutbarkeit einzelner Vertragsänderungen für die eine oder andere Vertragspartei nicht zu urteilen. Es muss daher bei einigen kursorischen Bemerkungen sein Bewenden haben.
84 Zur Bedeutung dieses Kriteriums BGH NJW 1995, 48; s. auch schon RGZ 112, 329, 333; 132, 342, 344; BGH NJW 2001, 1204; Erman/Hohloch § 313 Rn. 27, 29. 85 S. 17 der Gründe aaO, Fn. 12.
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So wäre vorstellbar, dass wegen des Wegfalls der Anschlussförderung die Finanzierung durch die früher gewährten Darlehen fortgesetzt wird, möglicherweise unter Ermäßigung der Zinslast; ob das für den Fortbestand des Fonds genügt, müsste dann geprüft werden. In Betracht käme auch eine Umschuldung unter Beteiligung der öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Kreditinstitute, durch deren Konditionen das Ausfallen eines Aufwendungszuschusses, auf den ja kein Anspruch besteht, kompensiert würde. Auf Seiten des Fonds sind erhöhte Anstrengungen, möglicherweise durch Nachschüsse der Anleger,86 zumutbar und vielleicht auch durchsetzbar. Vorstellbar ist aber auch, dass der Niedergang des Fonds nicht mehr aufzuhalten ist, dann wird zu überlegen sein, ob die Folgen, etwa die persönliche Inanspruchnahme der Gesellschafter aus den Verbindlichkeiten, für die sie – gesamtschuldnerisch oder quotal – haften, mit Rücksicht auf den auch die persönlichen Vertragsbeziehungen ergreifenden Wegfall der Geschäftsgrundlage modifiziert werden müssen. Hierdurch verursachte Einbußen wären den Darlehensgebern, sowohl den dem öffentlichen Bereich angehörenden als auch den privaten, angesichts des gewöhnlichen Risikos bei der Finanzierung von Immobilienfonds wohl zumutbar.
V. Schluss Mit der letzten Bemerkung schließt sich der Kreis. Die Probleme mit der quotalen Haftung der Gesellschafter eines geschlossenen Immobilienfonds, wie sie im zweiten Teil dieser Untersuchung behandelt wurden, resultieren hauptsächlich aus der wirtschaftlichen Schwäche einzelner Anleger und/oder der ganzen Fonds-Gesellschaft, aber auch aus komplizierten Finanzierungskonzepten, wie sie im Mittelpunkt des dritten Teils stehen. Der rechtsdogmatische Zusammenhang ist nur lose, der wirtschaftliche umso enger. Deshalb mag es am Ende gerechtfertigt sein, zwei Seiten eines – noch um einiges komplexeren – Vorgangs im Beitrag zu Ehren eines Juristen zusammenzufassen, der Erfahrung mit der gegenseitigen Durchdringung rechtlicher – bis zu einem gewissen Grade auch prozessrechtlicher – und wirtschaftlicher Notwendigkeiten und Entwicklungsströme unter Einbeziehung stärker wissenschaftlicher Überlegungen hat.
86 Erfahrungsgemäß ist die Aussicht, die Anleger notleidender Immobilienfonds zu Nachschüssen zu bewegen, zum Teil vertraglich geregelt und auch sonst nicht ganz gering.
§ 723 Abs. 3 BGB als „Einbruchstelle“ der Berufsfreiheit in das Gesellschaftsrecht Thomas Winter
Mit dem Lüth-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht das Zivilrecht für die Wertmaßstäbe der Verfassung geöffnet und für sich in Anspruch genommen, die Beachtung dieser Maßstäbe jenseits des bürgerlich-rechtlichen Instanzenzugs zu überprüfen.1 Über die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte als objektive Grundsatznormen hat damit nahezu jeder Streitfall einen – durch das Bundesverfassungsgericht überwachten und effektuierten – grundrechtlichen Bezug gewonnen.2 Diesen Bezug im Einzelfall herzustellen und die sich hinter der Anwendung zivilrechtlicher Dogmatik verbergenden Wertentscheidungen offen zu legen, war und ist Achim Krämer ein besonderes Anliegen. Durch den Rückgriff auf die Grundrechte, namentlich bei der Konkretisierung zivilrechtlicher Generalklauseln, sieht er die Akzeptanz höchstrichterlicher Urteile auch in Zivilsachen gesteigert.3 Damit ist nicht zweifelhaft, dass der Grundrechtsbezug auch das Plädoyer des Revisionsanwalts – namentlich des Jubilars – adelt, verleiht er dem eigenen Standpunkt doch die Autorität der Verfassung und erinnert er das Revisionsgericht daran, dass es zwar höchstrichterlich, aber nicht letztinstanzlich entscheidet. Der Hinweis auf die Wertmaßstäbe des Grundgesetzes ist allerdings nicht zwingend die Krönung des anwaltlichen Vortrags. Sie kann ebenso Ausflucht aus einer dem Mandanten ungünstigen Dogmatik sein.4 Auch die These von der Überzeugungskraft grundrechtlich begründeter Urteile ist nicht frei von Zweifeln. Der Richter ist der Versuchung ausgesetzt, einfachgesetzlichen Begründungsaufwand zu vermeiden, seine aus sonstigen außerrechtlichen Maßstäben gewonnene Überzeugung mit dem guten Ruf der Verfassung zu bemänteln oder unter dem Vorwand eines vermeintlich grundrechtlich gebotenen Schutzes fürsorglich und besserwisserisch in eine als schlicht unge1
BVerfGE 7, 198, 205 ff. Böckenförde EuGRZ 2004, 598, 603, Wieland in Dreier, GG, 2. Aufl., Art. 12 Rn. 158; zu Recht kritisch Zöllner AcP 196 (1996), 1 ff; diff. Krämer in FS Schimansky, 1999, 367, 371 ff. 3 Krämer in FS Röhricht, 2005, 335, 336. 4 Vgl. allgemein zur Versuchung einzelner Partner einer privaten Rechtsbeziehung, die „Dignität“ der ihren Vorstellungen evtl. hilfreichen öffentlichen Belange für sich auszunutzen, Westermann AcP 208 (2008), 141, 173. 2
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recht empfundene Vertragsgestaltung der Parteien einzugreifen.5 Schließlich ist auch der materielle Erkenntnisgewinn aus der Bezugnahme auf die Grundrechte fraglich. So lässt sich etwa der von Achim Krämer dargestellten Entwicklung der Rechtsprechung zu den nachvertraglichen Wettbewerbsverboten entnehmen, dass sich die vorkonstitutionelle Rechtsprechung des Reichsgerichts, die frühe ohne Grundrechtsbezug auskommende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und die späteren ausdrücklich auf Artikel 12 GG abstellenden höchstrichterlichen Urteile in ihrem Ergebnis nicht wesentlich unterscheiden.6 Auch der Vorsitzende des Gesellschaftsrechtssenats des Bundesgerichtshofs sah sich bei einem Vortrag über gesellschaftsrechtliche Grundfragen nur in einem einzigen Fall veranlasst, zur Begründung einer „über die Regelung technischer Fragen hinausgehenden Rechtsordnung“ die Verfassung zu bemühen,7 während sich seinem Senat in der Vielzahl der übrigen Fälle „die in den Grundentscheidungen des Gesetzgebers zum Ausdruck gekommenen Gerechtigkeitsvorstellungen“ offenbar ohne Rückgriff auf die Grundrechte erschlossen haben.8 Auch in dem Ausnahmefall, indem der II. Zivilsenat die Vereinbarung einer 30-jährigen Bindung eines Rechtsanwalts an seine Sozietät verwarf, war die Berufung auf Artikel 12 GG zur Begründung des im Ergebnis richtigen Urteils nicht erforderlich; die kritische Würdigung der Entscheidung streitet vielmehr – exemplarisch – für eine zurückhaltende verfassungsrechtliche Argumentation im Gesellschaftsrecht.
I. Vertragsfreiheit versus „Selbstentmündigung“ Die höchstrichterliche Rechtsprechung nimmt für sich in Anspruch, die richtige Balance zwischen der Respektierung der privatautonomen Gestaltung der Zusammenarbeit mehrerer Gesellschafter und ihrem Schutz vor „Selbstentmündigung“ herzustellen.9 Sie folgt damit der den Zivilgerichten durch das Bundesverfassungsgericht auferlegten Pflicht, darauf zu achten, dass Verträge nicht als Mittel der Fremdbestimmung dienen.10 Soweit die 5 Zöllner FS 100 Jahre GmbHG, 85, 124 spricht in diesem Zusammenhang von „Gefühlsjurisprudenz“. 6 Krämer in FS Röhricht, 2005, 335, 337 ff. 7 Es handelt sich um das Urteil des BGH vom 18.9.2006 – II ZR 137/04, ZIP 2006, 2316 ff. 8 Goette ZGR 2008, 436 ff. 9 Goette ZGR 2008, 436, 441 ff. 10 BVerfGE 81, 242, 256; BVerfGE 89, 214, 234; BVerfGE 114, 1, 34; von Teilen der Literatur wird die Inhaltskontrolle von Gesellschaftsverträgen als besonders wichtig angesehen, da sich das Versagen der Privatautonomie dort besonders „fatal“ auswirke, vgl. Becker WM 1999, 709, 713; zu Recht krit. hingegen Reul DNotZ 2007, 184, 195 ff.; Zöllner AcP 196 (1996), 1 ff.; Krämer in FS Schimansky, 1999, 367, 379 f.
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Richter zu diesem Zweck auf zwingende Vorschriften des Privatrechts zurückgreifen, ist gegen diesen – vom Grundsatz her höchst problematischen – Eingriff des Staates in die „Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben“ nichts zu erinnern; auch die Privatautonomie besteht, obwohl sie ein Strukturelement der freiheitlichen Gesellschaftsordnung und ihrerseits verfassungsrechtlich verbürgt ist, nur im Rahmen der geltenden Gesetze, die sich ihrerseits – so sei hier unterstellt 11 – in die verfassungsmäßige Ordnung einfügen.12 So war es – um nur ein Beispiel zu nennen – zweifellos richtig, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung dem Ausschluss des ordentlichen Kündigungsrechts in einem Gesellschaftsvertrag über die Errichtung einer offenen Handelsgesellschaft in Anwendung des § 723 Abs. 3 BGB die Wirksamkeit versagt hat.13 Diese Bestimmung ist zwingend; ihr liegt der allgemeine Rechtsgedanke zugrunde, dass es in jedem Fall mit der persönlichen Freiheit des Gesellschafters unvereinbar ist, eine Bindung ohne zeitliche Begrenzung und ohne Kündigungsmöglichkeit vorzusehen.14 Die Kontrolle des Richters endet nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allerdings auch dann nicht, wenn der Gesetzgeber kein zwingendes (Gesellschafts-)Vertragsrecht geschaffen hat.15 In diesem Fall sollen ergänzend die als Übermaßverbote wirkenden zivilrechtlichen Generalklauseln eingreifen, bei deren Konkretisierung und Anwendung die Grundrechte maßgeblich zu beachten sind.16 Da die Privatautonomie einschließlich des Grundsatzes pacta sunt servanda allerdings ihrerseits verfassungsrechtlich verbürgt ist17 und sich daher auch diejenigen Gesellschafter auf grundrechtliche Gewährleistungen berufen können, die an einer im Gesellschaftsvertrag vereinbarten Regelung festhalten wollen, verbindet sich mit dem Hinweis auf die Verfassung jedenfalls für das Gesellschaftsrecht kein über das Gebot des Ausgleichs der betroffenen Grundrechtspositionen hinausgehender Erkenntnisgewinn: Den denkbar unbestimmten Normen der Ver-
11 Kritisch Zöllner AcP 196 (1996), 1, 2 mwN; zur Zunahme zwingenden, die Vertragsfreiheit beschränkenden Rechts vgl. Bruns JZ 2007, 385, 388 ff. 12 BVerfGE 81, 242, 254; BVerfGE 89, 214, 231 ff.; BVerfGE 103, 89, 100 f. 13 BGH Urt. v. 14.11.1953 – II ZR 232/52, NJW 1954, 106. 14 BGH Urt. v. 14.11.1953 – II ZR 232/52, NJW 1954, 106; ausf. Oetker Das Dauerschuldverhältnis und seine Beendigung, 1994, 485 ff. 15 Tettinger DVBl 1999, 679, 683 spricht in diesem Zusammenhang davon, die Richter seien zur Inhaltskontrolle „verdonnert“. 16 Vgl. grundlegend nochmals BVerfGE 7, 198, 206; außerdem BVerfGE 81, 242, 256; BVerfGE 89, 214, 229. Zöllner AcP 196 (1996), 1 ff. ist dieser Grundrechtsanwendung im Schuldrecht mit beachtlichen Gründen entgegengetreten; da die so genannte mittelbare Drittwirkung der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allerdings zementiert ist, wird sie im Rahmen dieses Beitrags als im Grundsatz anerkannt zugrunde gelegt. 17 Vgl. hierzu nur BVerfGE 114, 1, 34 mwN.
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fassung lässt sich – wie auch das Bundesverfassungsgericht einräumt18 – weder entnehmen, ob Ungleichgewichtslagen19 inhaltlich so schwer wiegen, dass die Vertragsfreiheit begrenzt oder ergänzt werden darf noch wie ein solcher Konflikt aufzulösen ist.20 Die verfassungsrechtlich verlangte Herstellung praktischer Konkordanz21 wiederum ist lediglich das Synonym für die im Zivilrecht ohnehin bekannte und praktizierte Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalls. Auch bei der Anwendung der Generalklauseln kommt daher maßgebliche Bedeutung dem einfachen Recht und den darin enthaltenen Wertvorstellungen des Gesetzgebers zu.22 Bezogen auf den gewählten Beispielsfall einer 30-jährigen Sozietätsbindung folgt hieraus: Aus der Verfassung ergibt sich weder, dass die Vorschrift des § 723 Abs. 3 BGB auf eine langfristig vereinbarte Bindungsdauer, die hinter der ausdrücklich gesetzlich geregelten Grenze des Verbots der lebzeitigen Verpflichtung zurückbleibt, Anwendung findet, noch lässt sich – erst recht – den Grundrechten entnehmen, wann eine von den Gesellschaftern selbst gewählte Dauer zu lang bemessen ist. Die Antwort auf die Frage, ob und unter welchen Umständen einem Gesellschafter entgegen seiner anders lautenden Zustimmung im Gesellschaftsvertrag die ordentliche Kündigung erlaubt ist, ist vielmehr im Zivilrecht zu suchen.
II. Die verfassungskonforme Auslegung des § 723 Abs. 3 BGB durch den II. Zivilsenat Diese Suche hat der II. Zivilsenat bei der ihm aufgegeben Entscheidung über die Zulässigkeit einer langfristigen Sozietätsbindung von Rechtsanwälten nicht unternommen, sondern stattdessen mit der Berufsfreiheit des kündigungswilligen Gesellschafters argumentiert. Als Einbruchstelle des Verfassungsrechts in das Zivilrecht diente ihm dabei nicht die klassische Generalklausel des § 138 BGB, sondern in Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung das Verbot kündigungsbeschränkender Vereinbarungen in § 723 Abs. 3 BGB. 18
BVerfGE 81, 242, 255. Nach Zöllner FS 100 Jahre GmbHG, 85, 116 ist bereits der Begriff der Ungleichgewichtslage „eine mystifizierende Metapher dafür, dass man mit dem inhaltlichen Ergebnis eines Vertragsschlusses nicht einig geht und dieses korrigiert wissen will.“ Vgl. ausf. auch ders., AcP 196 (1996), 1, 15 ff. 20 Bruns JZ 2007, 385, 390 konstatiert zu Recht kritisch, dass die Grenzen in der Abwägung individueller Grundrechtspositionen bei Beachtung der Verhältnismäßigkeit mehr oder weniger beliebig verschiebbar erscheinen. 21 Vgl. zu diesem Erfordernis BVerfGE 89, 214, 232. 22 BVerfGE 89, 214, 234; Becker WM 1999, 709; Bydlinski Zulässigkeit und Schranken „ewiger“ und extrem langdauernder Vertragsbindung, 1991, 27 f.; Krämer in FS Schimansky, 1999, 367, 381. 19
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1. Der Rückgriff auf § 723 Abs. 3 BGB und die Berufsfreiheit Im Urteil vom 18.9.2006 hat der Gesellschaftsrechtssenat den Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kündigung eines Rechtsanwalts-Sozietätsvertrags über einen Zeitraum von 30 Jahren als unzulässig erachtet.23 Zur Begründung hat er ausgeführt, die Bindungsfrist verstoße gegen die durch Artikel 12 GG geschützte Berufsfreiheit, deren Schutz bei der Auslegung der bürgerlichrechtlichen Vorschriften zu beachten sei; die vereinbarte Dauer erweise sich daher als unzulässige Kündigungsbeschränkung im Sinne des § 723 Abs. 3 BGB.24 Entgegen einer früheren Entscheidung sei diese Vorschrift auch auf zeitliche Beschränkungen des Kündigungsrechts anwendbar; der Auffassung, dass als Grenze allein ein Verstoß gegen § 138 BGB in Betracht komme, sei nicht zu folgen.25 Vielmehr sei an den in der späteren Rechtsprechung erkannten Zweck des § 723 Abs. 3 BGB anzuknüpfen, wonach Beschränkungen des Kündigungsrechts unwirksam seien, bei denen die Bindung der Gesellschafter an die Gesellschaft ganz unüberschaubar sei und infolgedessen ihre persönliche und wirtschaftliche Betätigungsfreiheit unvertretbar eingeengt werde. Eine derartige zeitliche Unüberschaubarkeit bestehe auch bei einer Bindung von so langer Dauer, dass bei Vertragsschluss die Entwicklungen und damit die Auswirkungen auf die Gesellschafter unübersehbar seien. Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung, die Freiheit des einzelnen zu wahren, erforderten daher bei bestimmten Gesellschaftsverträgen den Ausschluss einer übermäßigen Bindung, wenn diese in ihrer praktischen Wirkung einem Kündigungsausschluss auf unbestimmte Zeit gleich komme.26 Dies sei in einem Anwalts-Sozietätsvertrag bei einem Ausschluss des Kündigungsrechts für einen Zeitraum von 30 Jahren der Fall. Der im Zeitpunkt der Gesellschaftsgründung 30-jährige Kläger habe dieser Dauer bei Abschluss des Gesellschaftsvertrags im Jahr 1989 zwar zugestimmt; auch der Grundsatz der Vertragsfreiheit erlaube ihm die rechtsgeschäftliche Bindung über einen derart unübersehbaren Zeitraum jedoch nicht.27 Eine vertragliche Regelung, die einem Rechtsanwalt nahezu für die gesamte Zeit seiner Berufstätigkeit die Möglichkeit nehme, beruflich auf Veränderungen des Anwaltsmarkts zu reagieren und die damit verbundenen Chancen zu ergreifen, enge die aus Artikel 12 Abs. 1 GG folgende Berufsausübungsfreiheit, die das Recht zur Aufgabe eines Arbeitsplatzes beinhalte, unvertretbar ein. Der in den letzten Jahrzehnten eingetretene Wandel des Anwaltsberufs führe dazu, 23
BGH Urt. v. 18.9.2006 – II ZR 137/04, ZIP 2006, 2316 ff. BGH Urt. v. 18.9.2006 – II ZR 137/04, ZIP 2006, 2316 Tz. 7. 25 BGH Urt. v. 18.9.2006 – II ZR 137/04, ZIP 2006, 2316 f., Tz. 9 f. 26 BGH Urt. v. 18.9.2006 – II ZR 137/04, ZIP 2006, 2316, 2317, Tz. 10 f. 27 BGH Urt. v. 18.9.2006 – II ZR 137/04, ZIP 2006, 2316, 2317, Tz. 15 unter Hinweis auf BVerfGE 108, 150, 166. 24
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dass die bei Vertragsschluss wirksame Vertragsbestimmung sich zu einer unzulässigen Kündigungsbeschränkung im Sinne des § 723 Abs. 3 BGB entwickelt habe.28 Ob (auch) die Voraussetzungen einer sittenwidrigen Knebelung nach § 138 BGB erfüllt seien, könne daher dahinstehen.29 2. § 723 Abs. 3 BGB als gesellschaftsrechtliche Generalklausel Auf der Ebene des einfachen Rechts liegt die Entscheidung auf der Linie einer generellen Verdrängung des § 138 BGB durch § 723 Abs. 3 BGB, die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bei der Beurteilung gesellschaftsvertraglicher Regelungen im Zusammenhang mit der Beendigung der Mitgliedschaft zu beobachten ist.30 Gestützt auf das Verbot von Kündigungsbeschränkungen greift der Gesellschaftsrechtssenat unabhängig von den Voraussetzungen der Sittenwidrigkeit in die Vertragsfreiheit der Gesellschafter namentlich bei der Beurteilung von Abfindungsbeschränkungen ein.31 Auch die Regelung, die einen aus einer Anwaltssozietät ausscheidenden Gesellschafter zur Fortzahlung von Versorgungsansprüchen verpflichtet, hat der Senat nicht nach § 138 BGB beurteilt, sondern gemäß § 723 Abs. 3 BGB als unwirksam verworfen.32 Indem er nunmehr auch zeitliche Beschränkungen des Kündigungsrechts entgegen der Intention des Gesetzgebers33 an dieser Vorschrift statt an § 138 BGB misst, ist nicht nur die insoweit explizit gegenteilige Aussage einer früheren Entscheidung überholt;34 wesentlich gravierender ist, dass sich mit der Unterscheidung zwischen beiden Normen eine inhaltliche Differenzierung verbindet, mittels derer sich die Rechtssprechung ein Recht zum Eingriff in die Privatautonomie unterhalb der Grenze der Sittenwidrigkeit verschafft.35 Noch im Urteil vom 21.3.2005 hatte der Senat demgegenüber die §§ 138, 242 und 723 Abs. 3 BGB in einem Zug als Grenze einer langfristigen Bindung 28
BGH Urt. v. 18.9.2006 – II ZR 137/04, ZIP 2006, 2316, 2317, Tr. 16 f. BGH Urt. v. 18.9.2006 – II ZR 137/04, ZIP 2006, 2316 Tz. 7. 30 Krit. Zöllner FS 100 Jahre GmbHG, 85, 123; Oetker Das Dauerschuldverhältnis und seine Beendigung, 1994, S. 490 ff. weist darauf hin, dass unterhalb der Voraussetzungen des § 138 BGB eine zeitliche Begrenzung methodisch überzeugend kaum zu begründen ist. 31 Vgl. zuletzt etwa BGH Urt. v. 7.4.2008 – II ZR 181/04, ZIP 2008, 1276, 1279 Tz. 19; Urt. v. 13.3.2006 – II ZR 295/04, ZIP 2006, 851 f. mwN. 32 BGH Beschl. v. 18.2.2008 – II ZR 88/07, ZIP 2008, 967. 33 Vgl. dazu Oetker Das Dauerschuldverhältnis und seine Beendigung, 1994, 487 f. mwN. 34 BGH Urt. v. 17.6.1953 – II ZR 205/52, BGHZ 10, 91, 98. 35 Hiervon abweichend hat der II. Zivilsenat in einer Entscheidung zum nachvertraglichen Wettbewerbsverbot eines aus einer Gesellschaft ausscheidenden Tierarztes die Voraussetzungen des § 138 Abs. 1 BGB bejaht und – lediglich als nicht tragende – Hilfsbegründung im Hinblick auf § 723 Abs. 3 BGB „Bedenken“ geäußert (BGH, Urt. v. 14.7. 1997 – II ZR 238/96, WM 1997, 1707, 1709). 29
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zitiert und die Laufzeit eines Gesellschaftsvertrags – ohne Grundrechtsbezug – inhaltlich anhand der Maßstäbe der Sittenwidrigkeit beurteilt; entscheidend sei, ob durch die Vereinbarung die persönliche und wirtschaftliche Handlungsfreiheit derart beschränkt werde, dass die eine Seite der anderen in einem nicht mehr hinnehmbaren Übermaß, auf „Gedeih und Verderb“ ausgeliefert sei.36 Ebenso werden im Urteil vom 13.3.2006 die inhaltlichen Voraussetzungen der § 723 Abs. 3 BGB und § 138 BGB gleich gesetzt, wenn es heißt, der Vorschrift des § 723 Abs. 3 BGB liege der allgemeine Rechtsgedanke zugrunde, „dass eine Bindung ohne zeitliche Begrenzung und ohne Kündigungsmöglichkeit mit der persönlichen Freiheit der Gesellschafter unvereinbar ist, selbst wenn sich die Vertragsschließenden damit einverstanden erklärt haben (§ 138 Abs. 1 BGB).“ 37 Diese Übereinstimmung gibt der Senat in der Entscheidung vom 18.9.2006 auf, wenn er die Frage, ob die 30-jährige Bindung als sittenwidrig zu qualifizieren ist, mit der Begründung dahinstehen lässt, dass sie wegen des Einflusses von Artikel 12 GG jedenfalls gegen § 723 Abs. 3 BGB verstoße.38 Anstatt die Unwirksamkeit der Bindungsdauer an die Voraussetzungen des § 138 BGB – etwa die Ausnutzung wirtschaftlicher Übermacht durch die übrigen Gesellschafter oder eine nach den Maßstäben dieser Vorschrift zu bejahende „Knebelung“ des kündigungswilligen Gesellschafters, die regelmäßig Ausdruck solcher Übermacht ist 39 – zu knüpfen, begründet der Gesellschaftsrechtssenat die Unanwendbarkeit der Vereinbarung mit dem seit Vertragsschluss eingetretenen tatsächlichen Wandel des anwaltlichen Berufsbilds, mithin also gravierenden Veränderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Die Rechtfertigung des Eingriffs in die Vertragsfreiheit der Gesellschafter gründet sich damit auf Erwägungen zum Wegfall der Geschäftsgrundlage, ohne allerdings Feststellungen zu den Erwartungen der Parteien bei Abschluss des Gesellschaftsvertrags oder zu einer etwaig geregelten Risikoverteilung bei Eintritt unvorhergesehener Umstände zu treffen.40 Auf der Rechtsfolgenseite wirkt sich die Unterscheidung dahin aus, dass die Vereinbarung der 30-jährigen Bindung nicht als von Anfang an nichtig angesehen wird, sondern sich die Gesellschafter, die der Kündigung entgegengetreten sind, auf die Regelung im Zeitpunkt der Kündigung gemäß § 242 BGB nicht berufen können.41 36
BGH Urt. v. 21.3.2005 – II ZR 310/03, NJW 2005, 1784, 1786. BGH Urt. v. 13.3.2006 – II ZR 295/04, ZIP 2006, 851 f., Tz. 11. 38 BGH Urt. v. 18.9.2006 – II ZR 137/04, ZIP 2006, 2316, Tz. 7. 39 Armbrüster in Münchener Kommentar BGB, 5. Aufl., § 138 Rn. 72. 40 Zu diesen Voraussetzungen bei der Anwendung der Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage vgl. nur Roth in Münchener Kommentar, BGB, 5. Aufl., § 313 Rn. 28 ff. 41 Vgl. so auch für den Fall der „ungünstig gewordenen“ Abfindungsbeschränkung grundlegend BGH, Urt. v. 20.9.1993 – II ZR 104/92, BGHZ 123, 281, 283 ff.; Urt. v. 24.5.1993 – II ZR 36/92, WM 1993, 1412, 1413 f. 37
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3. Die Bedeutung der Berufsfreiheit für das ordentliche Kündigungsrecht Stellt der II. Zivilsenat weder die Voraussetzungen des § 138 BGB noch des Wegfalls der Geschäftsgrundlage fest, erhellt daraus die konstitutive Bedeutung, die er Artikel 12 GG bei der Entscheidung des konkreten Falls beigemessen hat. Der Stellenwert, den die Berufsfreiheit bei der Auslegung des § 723 Abs. 3 BGB gewinnt, wird außerdem dadurch unterstrichen, dass die Vereinbarung einer 30-jährigen Bindung unter BGB-Gesellschafter nicht schlechthin ausgeschlossen wird.42 Für eine „Lotto-Spiel-Gesellschaft“, die weder unter dem Einfluss der grundrechtlich geschützten Berufsfreiheit stehe noch sonst sich vergleichbarer dramatischer Veränderungen der Verhältnisse ausgesetzt sehe, könne eine solche Dauer ohne weiteres vereinbart werden.43 In einer Entscheidung aus dem Jahr 1967 hatte der II. Zivilsenat eine Bindung der Gesellschafter bis zu 30 Jahren sogar noch ohne jede Differenzierung als „im Allgemeinen unbedenklich“ angesehen.44
III. Kritik an der verfassungsrechtlichen Argumentation Der Stellenwert, den der Gesellschaftsrechtssenat der Berufsfreiheit in dem zitierten Urteil zumisst, kommt ihr für die Entscheidung des Falles nur scheinbar zu. Richtig wäre die mit Artikel 12 GG als geradezu zwingend begründete Korrektur des Gesellschaftsvertrags nur, wenn das Grundrecht generell den Vorrang vor einem privatautonom vereinbarten Kündigungsausschluss beanspruchte. Dies ist indessen nicht der Fall. Erforderlich ist auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vielmehr die Abwägung der wechselseitigen Grundrechte unter Beachtung der besonderen Bedeutung, die der Privatautonomie zukommt. Der II. Zivilsenat hat weder diesen Aspekt erwogen, noch die sonstigen Maßstäbe der Handelsvertreterentscheidung beachtet, die den Eingriff in eine privatrechtliche Vereinbarung von einer strukturellen Unterlegenheit des kündigungswilligen Gesellschafters bei Vertragsschluss abhängig machen. Der Sprung ins Verfassungsrecht war allerdings ohnehin nicht angezeigt, wie die Rechtsprechung anderer Senate des Bundesgerichtshofs zum zeitlichen Übermaß langfristig geschlossener Vereinbarungen belegt. Schließlich wird die grundrechtliche Argumentation durch die Inhaltskontrolle von Gesellschaftsverträgen in anderen Fällen, in
42
BGH Urt. v. 18.9.2006 – II ZR 137/04, ZIP 2006, 2316, 2317, Tz. 13. Goette DStR 2007, 36; ders. ZGR 2008, 436, 442 f. 44 BGH Urt. v. 19.1.1967 – II ZR 27/65, WM 1967, 315, 316 unter Ziffer II.6 am Ende; so bis zuletzt auch die Kommentarliteratur vgl. nur Staudinger/Habermeier BGB, 13. Bearb. 2003, § 723 Rn. 8 mwN. Zustimmend auch BGH Urt. v. 22.4.1986 – X ZR 59/85, LM § 138 (Bc) BGB Nr. 40 Bl. 3. 43
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denen sich der II. Zivilsenat auch ohne verfassungsrechtliche Rechtfertigung vor einem Eingriff in die Privatautonomie nicht scheut, methodisch mit Zweifeln belegt. 1. Vollständiger Ausschluss des Kündigungsrechts trotz Artikel 12 GG Die Vertragsfreiheit erlaubt auch im Schutzbereich des Artikel 12 Abs. 1 GG die Vereinbarung des vollständigen Ausschlusses des ordentlichen Kündigungsrechts; nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts steht es etwa dem Arbeitgeber frei, sein aus der Berufsfreiheit herzuleitendes Recht auf privatautonome Beendigung von Arbeitsverhältnissen zu beschränken oder sogar aufzugeben,45 während der Arbeitnehmer vor einer solchen Aufgabe durch die ausdrückliche gesetzliche Regelung in § 624 BGB und § 15 Abs. 4 TzBfG geschützt wird. Die Erfurter Richter sichern diesen Befund durch die Erwägung ab, dass der – per se als verhandlungsstärker angesehene – Arbeitgeber im Gegenzug zur Kündigungsausschlussklausel häufig eine geringere Vergütung des Arbeitnehmers vereinbaren oder einen für ihn besonders wertvollen Arbeitnehmer gewinnen und halten kann.46 Der Eingriff in die Vertragsfreiheit der Gesellschafter ist verfassungsrechtlich auch im Schutzbereich der Berufsfreiheit also keineswegs zwingend. Der Hinweis des II. Zivilsenats, dass die wechselseitige Beschränkung Privater durch Vertragsschluss der Kontrolle am Maßstab des Artikels 12 Abs. 1 GG unterliege,47 besagt daher noch nicht, dass sie dieser Kontrolle nicht standhält. Ob die Vertragsfreiheit eine Einschränkung verlangt, erhellt erst der Blick auf die Umstände bei Vertragsschluss, insbesondere die Verhandlungsstärke der Parteien, sowie die Leistungen, welche sich die Vertragspartner im Gesellschaftsvertrag wechselseitig gewährt haben. Zu beiden auf der Ebene des einfachen Rechts, insbesondere in der Rechtsprechung zu § 138 BGB verorteten Aspekten finden sich in der Entscheidung vom 18.9.2006 jedoch keine Feststellungen. 2. Entfernung von den Vorgaben der Verfassungsrechtsprechung Der Gesichtspunkt der ungleichen Verhandlungsstärke findet sich auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Danach ist der Eingriff in die Privatautonomie Fällen vorbehalten, in denen sie ob des Fehlens eines annähernden Kräftegleichgewichts der Beteiligten bei Vertragsschluss ihrer Grundlage entbehrt.48 Ist diese Bedingung erfüllt, bietet allein das Vertrags45 46 47 48
BAG Urt. v. 25.3.2004 – 2 AZR 153/03, BB 2004, 2303, 2305. BAG Urt. v. 25.3.2004 – 2 AZR 153/03, BB 2004, 2303, 2305. BGH Urt. v. 18.9.2006 – II ZR 137/04, ZIP 2006, 2316, 2317, Tz. 15. BVerfGE 81, 242, 254 f.
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recht keine Gewähr für einen ansonsten zu vermutenden sachgerechten Interessenausgleich durch die Verständigung der Parteien.49 Das Prinzip der Selbstbestimmung erfährt also nur Einschränkungen, wenn es aufgrund der faktischen Übermacht eines Vertragsteils zur Fremdbestimmung wird, wobei schon aus Gründen der Rechtssicherheit nicht jede Störung des Verhandlungsgleichgewichts Anlass bietet, einen Vertrag nachträglich in Frage zu stellen oder zu korrigieren.50 Eine Reaktion der Zivilrechtsordnung wird nur dort verlangt, wo sich eine strukturelle Unterlegenheit eines Vertragsteils erkennen lässt51 oder eine konkrete Ungleichgewichtslage besteht und die Folgen des Vertrags für einen Vertragspartner ungewöhnlich belastend sind.52 Der II. Zivilsenat nimmt zwar auf die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung Bezug,53 stellt aber weder eine strukturelle Unterlegenheit des kündigungswilligen Gesellschafters bei Vertragsschluss noch eine konkrete Ungleichgewichtslage der Parteien zu diesem Zeitpunkt fest. Damit verbietet sich die Annahme, der Gesellschafter habe auf sein Kündigungsrecht nicht selbstbestimmt verzichtet, sondern sei hierzu fremdbestimmt angehalten worden. Dass die vertraglich eingegangene Bindung gleichwohl hinter der Berufsfreiheit zurücktreten muss, lässt sich nach den herangezogenen verfassungsgerichtlichen Maßstäben also nicht rechtfertigen. Die persönliche und berufliche Freiheit des kündigungswilligen Gesellschafters verdient daher nur dann den Vorzug vor seiner selbst eingegangenen Bindung, wenn ihm die Rechtsordnung eine solche Selbstbindung aus anderen Gründen – unabhängig von den Voraussetzungen einer Fremdbestimmung – versagt. 3. Verzicht der Rechtsprechung auf den verfassungsrechtlichen Bezug in Parallelfällen Die Suche nach solchen Gründen hebt den Blick über die Grenzen des Gesellschaftsrechts hinaus. Die lang dauernde Bindung der Vertragspartner ist keine Besonderheit gesellschaftsrechtlicher Vereinbarungen, die Frage der Wirksamkeit einer langfristigen oder gar zeitlich unbefristeten Bindung stellt sich vielmehr bei allen Dauerschuldverhältnissen und wird von der höchstrichterlichen Rechtsprechung regelmäßig nach dem Maßstab von Treu und
49 50
BVerfGE 81, 242, 254 f.; BVerfGE 89, 214, 232; BVerfGE 103, 89, 100 f. BVerfGE 89, 214, 232; ebenso BGH Urt. v. 13.6.1994 – II ZR 38/93, BGHZ 126, 226,
240. 51 BVerfGE 81, 242, 255; kritisch hierzu Zöllner AcP 196 (1996), 1, 15 ff.; Bruns, JZ 2007, 385, 386 f. 52 BVerfGE 89, 214, 232. 53 BGH Urt. v. 18.9.2006 – II ZR 137/04, ZIP 2006, 2316, 2317 Tz. 15 verweist – allerdings nur – auf die Entscheidung zum Sozietätswechsel von Rechtsanwälten, BVerfGE 108, 150, 166.
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Glauben sowie der guten Sitten beurteilt.54 So haben beispielsweise der Kartellsenat und der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs eine zeitlich unbegrenzte Bindung bei Bierlieferungsverträgen als mit den guten Sitten unvereinbar angesehen und die maximal zulässige Dauer solcher Verträge auf 20 Jahre bemessen.55 Das Risiko jeder diesen ohnehin sehr langen Zeitraum übersteigenden Bindung sei vom Gastwirt nicht mehr zu erkennen und abzuschätzen und damit per se sittenwidrig.56 Bei einer Bindung von weniger als 20 Jahren sind nach dieser Rechtsprechung die Tatbestandsvoraussetzungen des § 138 Abs. 1 BGB im Hinblick auf die allgemeine Vertragsfreiheit dann gegeben, wenn die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit des Gastwirts in unvertretbarer Weise eingeengt und er dadurch in eine mit den Anschauungen des redlichen geschäftlichen Verkehrs nicht mehr zu vereinbarende Abhängigkeit zur Brauerei gerät; wann diese Voraussetzungen vorliegen, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls, vor allem nach dem wirtschaftlichen Wert der dem Gastwirt gewährten Gegenleistung.57 Auf vergleichbare Kriterien stellt auch der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs bei der Beurteilung der Laufzeit von Tankstellen-Stationärverträgen ab.58 Zwar billigt er den Mineralölgesellschaften das Recht zu, aufgrund ihrer erheblichen Investitionen den Tankstellenpächter über die Fünfjahresfrist des § 624 BGB hinaus langfristig zu binden. Ihre Grenze findet die Bindungsdauer jedoch dort, wo sie durch die Amortisation des eingesetzten Kapitals nicht mehr gerechtfertigt ist. In diesem Fall rücken die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit und Selbständigkeit des Tankstellenpächters in den Vordergrund, die nach den Anschauungen des redlichen Geschäftsverkehrs nicht über diesen Zeitpunkt hinaus eingeschränkt werden dürfen.59 Auch der Gesellschaftsrechtssenat hat in einer früheren Entscheidung auf die Wertung des § 624 BGB zur Begründung des Kündigungsrechts eines stillen Gesellschafters Bezug genommen.60 Die zivilgerichtliche Rechtsprechung versagt der vertraglichen Bindung eines Dienstverpflichteten abhängig von ihrer Dauer also entweder per se oder aufgrund einer wertenden Abwägung die Wirksamkeit. Sie lässt sich hierbei allerdings nicht von einer wie auch immer gearteten Geltung des Artikels 12 GG im Zivilrecht, sondern von der im einfachen Recht zum Aus54 BGH Urt. v. 7.5.1975 – VIII ZR 210/73, BGHZ 64, 288, 290; Urt. v. 14.12.1956 – I ZR 105/55, BGHZ 22, 347, 355. 55 BGH, Urt. v. 17.10.1973 – VIII ZR 91/72, WM 1973, 1360, 1361; Urt. v. 14.6.1972 – VIII ZR 14/71, NJW 1972, 1459; Urt. v. 2.10.1969 – KZR 10/68, WM 1970, 99, 101 jeweils mwN. 56 BGH Urt. v. 14.6.1972 – VIII ZR 14/71, NJW 1972, 1459. 57 BGH Urt. v. 14.6.1972 – VIII ZR 14/71, NJW 1972, 1459. 58 BGH Urt. v. 31.3.1982 – I ZR 56/80, BGHZ 83, 313 ff. mwN. 59 BGH Urt. v. 31.3.1982 – I ZR 56/80, BGHZ 83, 313, 316 ff. 60 BGH Urt. v. 20.12.1956 – II ZR 166/55, BGHZ 23, 10, 14.
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druck kommenden Wertung des Gesetzgebers leiten, dass die Dauer solcher vertraglichen Bindungen zu begrenzen ist. Der auch in der Entscheidung vom 18.9.2006 herausgestellte Aspekt der mangelnden Übersehbarkeit der eingegangen – vom Gesellschafter überdies persönlich zu erfüllenden61 – Verpflichtung,62 der in der fehlenden Reaktionsmöglichkeit auf den starken Wandel des Anwaltsberufs lediglich sinnfällig geworden ist, bedarf also keines verfassungsrechtlichen Überbaus. 4. Inhaltskontrolle von Gesellschaftsverträgen unabhängig vom Grundrechtsbezug Die methodischen Zweifel an der im Beispielsfall explizit auf der Ebene des Verfassungsrechts begründeten Lösung verstärken sich dadurch, dass der Eingriff in Gesellschaftsverträge in anderen Fällen nicht von Grundrechtsverletzungen abhängig gemacht wird. Zum Beleg sei – wiederum nur exemplarisch – auf die Rechtsprechung zum Hinauskündigungsverbot verwiesen. Eine Regelung, die einem einzelnen Gesellschafter das Recht einräumt, Mitgesellschafter ohne sachlichen Grund aus einer Personengesellschaft oder einer GmbH auszuschließen, erkennt der II. Zivilsenat regelmäßig nicht an. Tragende Erwägung hierfür ist der Schutz des von Ausschließung und Kündigung bedrohten Gesellschafters, der das freie Kündigungsrecht des anderen Gesellschafters als Disziplinierungsmittel empfinden muss und daher aus Sorge vor dessen Willkür seine Gesellschafterrechte möglicherweise nicht wahrnimmt oder seinen Pflichten nicht nachkommt.63 Ebenso wenig wie zur Begründung der grundsätzlich anzunehmenden Unwirksamkeit von Hinauskündigungsklauseln greift der Gesellschaftsrechtssenat auch bei der Rechtfertigung von zulässigen Ausnahmen von diesem Grundsatz auf die Grundrechte zurück. So hat er etwa die Möglichkeit eines befristeten Kündigungsrechts, das sich die Altgesellschafter bei Aufnahme eines neuen Gesellschafters in eine Sozietät von Freiberuflern ausbedingen, mit der Erwägung gebilligt, dass erst nach einer gewissen Zeit beurteilt werden kann, ob sich das für die Zusammenarbeit notwendige Vertrauen einstellt.64 Scheut sich die Rechtsprechung also nicht, mittels § 723 Abs. 3 BGB auch ohne Grundrechtsbezug die Angemessenheit von Gesellschaftsverträgen zu kontrollieren und ggf. korrigierend einzugreifen, haftet der Betonung des Artikels 12 GG im Urteil vom 18.9.2006 der Makel der Beliebigkeit an. Dass
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Diesen Aspekt als erschwerend herausstellend auch Bydlinski Zulässigkeit und Schranken „ewiger“ und extrem langdauernder Vertragsbindung, 1991, 29. 62 BGH, Urt. v. 18.9.2006 – II ZR 137/04, ZIP 2006, 2316, 2317, Tz. 10 f. 63 BGH, Urt. v. 8.3.2004 – II ZR 165/02, ZIP 2004, 903, 904; Urt. v. 19.3.2007 – II ZR 300/05, ZIP 2007, 862, 863, Tz. 9. 64 BGH, Urt. v. 8.3.2004 – II ZR 165/02, ZIP 2004, 903, 905.
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für die Bemessung der zulässigen Bindungsdauer von Gesellschaftern nicht die Berufsfreiheit, sondern die fehlende Übersehbarkeit der eingegangenen Verpflichtung konstitutiv ist, zeigt auch die Überlegung, dass zwar eine auf 30 Jahre angelegte Lotto-Spiel-Gesellschaft zu dulden sein mag,65 nicht aber eine für diese Zeitspanne fest vereinbarte – Artikel 12 GG ebenso wenig berührende – Mitgliedschaft eines Publikumsgesellschafters in einer Immobilien-GbR. Umgekehrt stellt sich die Frage, ob man es zwei auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts erfahrenen, wirtschaftlich unabhängigen 65-jährigen Rechtsanwälten, die sich nach ihrem Ausscheiden aus einer Großkanzlei zur gemeinsamen Berufsausübung zusammenschließen, im Hinblick auf ihre Berufsfreiheit verwehren muss und darf, eine 30-jährige – und damit mutmaßlich lebenslange – Bindung zu vereinbaren. Sie würden sich bei Vertragsschluss – zu Recht – hiergegen verwahren. Dann besteht aber auch kein Anlass, einen von beiden unterhalb der Schwelle des wichtigen Grundes unter Berufung auf Artikel 12 GG vorzeitig von seinem Wort zu entbinden.
IV. Skepsis über den gewählten Beispielsfall hinaus Die Antwort auf die Frage nach der Zulässigkeit einer 30-jährigen Gesellschaftsdauer hängt weder davon ab, ob der Schutzbereich des Artikels 12 GG berührt ist, noch kommt unterhalb der Schwelle des Wegfalls der Geschäftsgrundlage dem Wandel der äußeren Umstände seit Vertragsschluss konstitutive Bedeutung zu.66 Dass man einer derart langen Bindung skeptisch gegenübersteht, hat seinen Grund vielmehr darin, dass die Vorstellungskraft der Gesellschafter typischerweise nicht ausreicht, ihr gemeinsames Zusammenwirken in einer sehr fernen und damit unübersehbaren Zukunft bereits bei Vertragsschluss hinreichend deutlich zu erkennen.67 Nimmt man diese subjektiv fehlende Erkenntnismöglichkeit nicht bereits per se zum Anlass, die Vereinbarung einer 30-jährigen Befristung generell als unwirksam zu erachten, rücken die Umstände bei Vertragsschluss in den Blickpunkt. Je stärker sich dabei Tatsachen zeigen, die den Gesetzgeber – insbesondere in § 624 BGB – bewogen haben, die Dauer vertraglicher Bindungen zu begrenzen, desto stärker streitet die Parallele für die Übernahme der einfachgesetzlichen Wertungen zum Schutz der persönlichen und beruflichen Freiheit
65
Vgl. zu diesem Beispiel nochmals Goette DStR 2007, 36; ders. ZGR 2008, 436, 442 f. Würden diese Voraussetzungen festgestellt, könnte sich der Gesellschafter im Wege der außerordentlichen Kündigung von der eingegangenen Bindung lösen, vgl. nur Palandt/ Grüneberg, BGB, 68. Aufl., § 313 Rn. 14 mwN. 67 Vgl. dazu Zöllner FS 100 Jahre GmbHG, 85, 117. 66
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eines Dienstverpflichteten in das Gesellschaftsrecht.68 Gerade im beleuchteten Beispielfall des Eintritts eines Berufsanfängers in eine bestehende Gesellschaft drängt sich dieser Vergleich auf. Der Rückgriff auf die Verfassung ist hingegen weder erforderlich noch hilfreich. Ob die grundrechtliche Argumentation zur Lösung gesellschaftsrechtlicher Konflikte in anderen Fällen geboten ist, bleibt der Einschätzung des Lesers überlassen. Vergegenwärtigt man sich, dass unter Bezugnahme auf die tatbestandlich denkbar unbestimmten Grundrechtsnormen der Eingriff des Staates, dieser vertreten durch den Zivilrichter, in die Freiheit Privater legitimiert werden soll,69 ist Skepsis allerdings dringend anzuraten.
68 Vgl. zu den Voraussetzungen einer Anwendung des § 624 BGB im Gesellschaftsrecht auch Oetker Das Dauerschuldverhältnis und seine Beendigung, 1994, 499 f.; Staudinger/ Habermeier BGB, Neubearb. 2003, § 724 Rn. 8 jeweils mwN. 69 Zöllner FS 100 Jahre GmbHG, 85, 116.
IV. Zivil- und Zivilprozessrecht
Der allgemeine Sprachgebrauch – ein Erfahrungssatz? Bernhard Altehenger Die Auslegung rechtlich relevanter Begriffe und Formulierungen wird in der Rechtsprechung häufig auf den so genannten allgemeinen Sprachgebrauch gestützt, auf den nicht nur in sehr unterschiedlicher Weise, sondern auch zu sehr verschiedenen Zwecken zurückgegriffen wird. Schon der Begriff ist missverständlich, erfasst er doch zunächst einmal nur sprachliches Verhalten, nämlich den allgemeinen Gebrauch der Sprache in Wort und Schrift im Sinne der gewohnten, üblichen Ausdrucksform. So wird damit eine „Wendung (als) im deutschen Sprachgebrauch üblich oder nicht üblich“ bezeichnet,1 also als grammatisch – syntaktisch und semantisch – akzeptiert oder nicht akzeptiert. Im Kontext rechtlicher Auslegung geht es dagegen vornehmlich um den semantischen Aspekt, die Bedeutung, die einem sprachlichen Ausdruck (Wort, Satz oder Text) vom durchschnittlichen Sprecher/ Hörer (Schreiber/Leser) der deutschen Sprachgemeinschaft beigemessen wird. Gesucht wird damit der „Wortsinn“ als Ausgangspunkt jeder Auslegung eines Textes, worunter die Bedeutung eines Ausdrucks oder einer Wortverbindung im allgemeinen Sprachgebrauch verstanden wird.2 Die rechtliche Erfassung und Einbindung des allgemeinen Sprachgebrauchs ist für juristische Laien, selbst solche, die sich wissenschaftlich mit Sprache auseinandersetzen, schwer nachvollziehbar. Sie wirft bei genauer Betrachtung auch für den Juristen Fragen auf, die sich nicht ohne weiteres befriedigend beantworten lassen und die möglicherweise Anlass geben, die traditionelle Verwendung des Begriffs und seine dogmatische Klassifizierung zu überdenken. Auch in der Rechtsprechung der Zivilsenate des Bundesgerichtshofes greift eine Vielzahl von Entscheidungen – Juris weist inzwischen über 300 nach, auf die nicht im Einzelnen eingegangen werden kann – argumentativ auf den Topos „allgemeiner Sprachgebrauch“ zurück, und zwar entweder zur Gesetzesauslegung und Konstruktion konkreter Obersätze bzw. Fallnormen 3 oder bei der Ermittlung der jeweiligen Untersätze fallspezifischer Syl1 2 3
Wahrig Deutsches Wörterbuch, Stichwort: Sprachgebrauch. Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 320. Fikentscher Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IV, 1977, S. 176 ff.
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logismen der Rechtsfolgebestimmung. Grundsätzlich kann jedes sprachliche Element konkreter syllogistischer Prämissen, also des jeweiligen Rechtssatzes und des zugehörigen Aussagesatzes, Gegenstand einer expliziten Auslegung unter Berücksichtigung auch des allgemeinen Sprachgebrauchs sein, wobei es nicht nur um Worte geht, sondern auch um komplexere Ausdrücke bis hin zu ganzen Sätzen oder Satzsequenzen (Texten). Der allgemeine Sprachgebrauch als Ansatz zur Bestimmung des Bedeutungsgehaltes solcher dezisiver Elemente wird aus sehr unterschiedlichen Quellen geschöpft: Die bloße, nicht näher begründete Überzeugung des Richters findet sich ebenso wie die nachprüfbare Fundstelle in einschlägigen Lexika bis hin zu etymologischen Nachweisen und literarischen Abgleichen. Anforderungen an den Nachweis eines zur Bestimmung von Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke herangezogenen allgemeinen Sprachgebrauchs sind nicht festgelegt und bleiben in den Grenzen der gesetzlichen Auslegungsregeln und der verfahrensrechtlichen Ordnung letztlich der Beurteilung der Entscheider vorbehalten. Dazu einige Beispiele: Bei der Auslegung von Gesetzen und bei der Fallnormkonstruktion geht es meist um Begriffe und Ausdrücke des Voraussetzungstatbestands, wie etwa im Falle des BGH-Urteils vom 19.11.2003 um die „Miete“ im Sinne des § 558 BGB. Schon im zweiten Orientierungssatz ist der Entscheidung vorangestellt, der Begriff „Miete“ in § 558 BGB sei entsprechend dem allgemeinen Sprachgebrauch als vom Mieter zu zahlender Betrag ohne zusätzlich vereinbarte Betriebskostenvorauszahlung zu verstehen.4 Den Entscheidungsgründen lässt sich nicht entnehmen, worauf diese Annahme zum Sprachgebrauch gestützt wird. Ein Beschluss des BGH vom 1.10.2002 betrifft den Begriff „darlegen“ im Sinne des § 544 Abs. 2 S. 3 ZPO, der schon nach allgemeinem Sprachgebrauch mehr als nur einen allgemeinen Hinweis bedeute. Er sei vielmehr im Sinne von „erläutern“, „erklären“ oder „näher auf etwas eingehen“ zu verstehen.5 Zur Begründung wird auf Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts verwiesen, die ihrerseits wieder auf vorangegangene Urteile Bezug nehmen. Ein sprachlicher Begründungsansatz ist nicht erkennbar. Ein Urteil des BGH vom 7.3.1993 befasst sich mit dem Begriff „Auslagen“ im Sinne des § 196 Abs. 1 Nr. 1 BGB a.F. und kommt zu dem Ergebnis, Auslagen seien schon nach dem allgemeinen Sprachgebrauch Zahlungen (oder sonstige Leistungen), die jemand (im dortigen Fall ein Geschäftsführer) aus seinem Vermögen für Rechnungen eines anderen (dort des Geschäftsherrn) an Dritte erbringe.6 Sprachliche Gründe werden dafür nicht genannt; es ist lediglich auf eine frühere Entscheidung verwiesen, die indes ihrerseits keine
4 5 6
VIII ZR 160/03 – NJW 2004, 1380 f. XII ZR 71/02 – BGHZ 152, 182 ff. II ZR 82/92 – NJW 1983, 1729.
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solche Erläuterung bietet. Ein Urteil des BGH vom 30.4.1991 gilt dem Begriff „Entscheidung“ in § 3 Nr. 3 S. 3 PflVG.7 Es betont in einer Auseinandersetzung um die Frage, ob auch eine anspruchsbejahende, für den Geschädigten positive Erklärung des Versicherers eine Entscheidung im Sinne dieser Vorschrift sei, dass nach dem allgemeinen Sprachgebrauch sowohl positive als auch negative Entschließungen unter den Begriff der Entscheidung fielen, wiederum ohne Begründung. Sprachlichen Begründungsbedarf sieht der BGH dagegen in anderen Entscheidungen. Das Urteil vom 27.4.2005 ist mit der Bestimmung des Begriffs „Werktag“ im Sinne des § 565 Abs. 2 S. 1 BGB a.F. (§ 573c Abs. 1 S. 1 BGB) befasst und vermag den Sonnabend nach allgemeinem Sprachgebrauch nicht den Sonn- und Feiertagen gleichzustellen, wofür er sich auf lexikalische Einträge im Duden und in der Brockhaus Enzyklopädie Deutsches Wörterbuch stützt.8 Der Anwaltssenat versteht den Begriff „mehrere“ im Sinne des § 8 Abs. 1 S. 1 RAFachBezG, wonach der Erfolg des zu absolvierenden Lehrgangs „durch mehrere Klausuren bestätigt wird“ dahin, dass es sich nach allgemeinem Sprachgebrauch um mehr als zwei handeln dürfte, wofür auf Wahrig – Deutsches Wörterbuch und auf Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, verwiesen ist.9 Zahlreiche weitere Beispiele belegen, dass eine auch sprachliche Begründung nicht selbstverständlich für entbehrlich gehalten wird. Ebenso werden vertragliche Vereinbarungen unter Rückgriff auf den allgemeinen Sprachgebrauch ausgelegt. Das BGH-Urteil vom 28.6.2006 verweist auf Einträge zum Begriff „Gegenstandswert“ in den einschlägigen Lexika, um die Bedeutung des in einem Werklieferungsvertrag verwendeten Begriffs „Zeitwert“ nach dem allgemeinen Sprachgebrauch zu ermitteln.10 Eine Entscheidung vom 18.1.1965 befasst sich mit dem Begriff „Ereignis“ im Sinne des § 5 Nr. 1 AHB, wonach Versicherungsfall das Schadensereignis ist, das Haftpflichtansprüche gegen den Versicherungsnehmer zur Folge haben könnte.11 Der allgemeine Sprachgebrauch verstehe darunter, den ursprünglichen Sinn des Wortes wahrend (vgl. Duden-Etymologie, 1963), einen sinnfälligen objektiven Vorgang, der sich vom gewöhnlichen Tagesgeschehen deutlich abhebt und dessen schwerwiegende Bedeutung sofort ins Auge springt. Mit dem Begriff „Überschwemmung“ in einer Überschwemmungsklausel allgemeiner Haftpflichtbedingungen befasst sich das BGH-Urteil vom 21.2.1951 und entnimmt ihm nach allgemeinem Sprachgebrauch bei Verwendung im Zusammenhang mit einem Gewässer, dass damit jede Überschwemmung von Gelände gemeint sei, die von diesem Gewässer ausgeht, 7 8 9 10 11
VI ZR 229/90 – BGHZ 114, 299 ff. VIII ZR 206/04 – NJW 2005, 2154 ff. BGH, Beschluss vom 11.7.1994 – AnwZ (B) 3/94 – zitiert nach Juris Rn. 7. VIII ZR 255/05 – WM 2006, 2049 ff. II ZR 135/62 – BGHZ 43, 88/92.
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wobei es allerdings einräumt, dass dieser Sinngehalt besser durch die Formulierung „Überschwemmung durch Gewässer“ oder „Überschwemmung aus Gewässern“ zum Ausdruck gebracht worden wäre.12 Schließlich sei noch ein Beispiel aus dem individuellen Vertragsrecht genannt, ein Fall, in dem nach einem Vertrag zwischen den streitenden Parteien in der Außenwand eines unmittelbar an der Grenze errichteten Gebäudes keine Fenster angebracht werden durften und in dem es darauf ankam, ob es sich bei den eingebauten Glasbausteinen um „Fenster“ nach Maßgabe dieser Vereinbarung handelte. Das ist im BGH-Urteil vom 13.7.1960 unter Hinweis auf den allgemeinen Sprachgebrauch, der lexikalisch belegt wurde, bejaht worden.13 Die letztgenannte Entscheidung führt zu den Grundlagen der dogmatischen Einordnung des allgemeinen Sprachgebrauchs. Anders als die Auslegung von Gesetzen sind die Feststellungen der tatsächlichen Elemente des entscheidungserheblichen Sachverhalts durch den Tatrichter revisionsrechtlich nicht ohne weiteres nachprüfbar. Der BGH verweist im vorgenannten Urteil dazu auf ein Urteil des Reichsgerichts vom 6.12.1922, das die Frage zu beantworten hatte, ob ein Kaufangebot, an das sich der Bietende „bis zum 1. Oktober 1920 gebunden“ hatte, an diesem Tage noch wirksam angenommen worden war.14 Das OLG Düsseldorf hatte dies mit der Begründung verneint, die Bestimmung sei nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, von dem anzunehmen sei, dass die Parteien sich ihm hätten unterwerfen wollen, dahin aufzufassen, dass eine Gebundenheit des Klägers am 1. Oktober nicht mehr bestehen sollte, dass vielmehr die Annahme des Angebots vor dem 1. Oktober, also spätestens am 30. September hätte erfolgen müssen.15 Das Reichsgericht hält die auf den vom Berufungsrichter angenommenen allgemeinen Sprachgebrauch gestützte Auslegung der Willenserklärung einer Partei dennoch für rechtlich nachprüfbar und führt dazu aus: Der Satz, daß ein solcher allgemeiner Sprachgebrauch bestehe, stellt sich als „allgemeiner Erfahrungssatz“ dar, zwar nicht im Sinne einer allgemein menschlichen Erfahrung, aber im Sinne der Feststellung einer beim Gebrauch der deutschen Sprache allgemein bestehenden Übung und der daraus sich ergebenden Erfahrung. Derartige Sätze, namentlich solche, die die Feststellung einer allgemeinen Verkehrsauffassung enthalten, sind vom Reichsgericht wiederholt nicht als Feststellung von Tatsachen, sondern als Anwendung von Normen, die für die Beurteilung von Tatsachen dienen, und in diesem Sinne als „Rechtsnormen“ bezeichnet und nachgeprüft worden, vgl. RGZ, Bd. 99, S. 71 und die dort angeführten sonstigen Entschei-
12 13 14 15
II ZR 47/50 – NJW 1951, 316 ff. V ZR 90/59, LM BGB § 133 (C) Nr. 17. V 114/22 – RGZ 105, 417/418. Ibid. S. 418.
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dungen, während es freilich in anderen Entscheidungen (so JW 1914 S. 485 Nr. 26) eine Nachprüfung abgelehnt hat mit der Begründung, ein Verstoß gegen Erfahrungstatsachen sei keine im Rechtszuge der Revision beachtliche Gesetzesverletzung. Der erkennende Senat schließt sich der Ansicht an, daß das Revisionsgericht nicht gehindert ist, die Richtigkeit eines vom Berufungsrichter aufgestellten allgemeinen Erfahrungssatzes nachzuprüfen, namentlich auch eines angeblichen allgemeinen deutschen Sprachgebrauchs, als einer für die Beurteilung des tatsächlichen Stoffes maßgeblichen Norm, die ihm ebenso bekannt sein muß wie dem Berufungsrichter.“ 16 Diese Grundsätze greift der BGH im Urteil vom 2.5.195617 auf und übernimmt sie auch in der Folgezeit.18 Spätere Entscheidungen, die bei der Ermittlung des Inhalts rechtsgeschäftlicher Regelungen auf den allgemeinen Sprachgebrauch abstellen, erwähnen diesen Topos – soweit ersichtlich – allerdings nur noch im argumentativen Zusammenhang mit allgemeinen Erfahrungssätzen. So unterscheidet etwa ein BGH-Beschluss vom 11.2.200419 ausdrücklich zwischen revisiblen Erfahrungssätzen und ebenfalls revisiblem allgemeinen Sprachgebrauch. Die Definition ist gleichwohl nie in Frage gestellt worden; sie wird bis heute grundsätzlich auch im Schrifttum akzeptiert.20 Nun ist es um die Anwendung allgemeiner Erfahrungssätze oder auch der allgemeinen Lebenserfahrung in der forensischen Praxis nicht viel besser bestellt als um diejenige des allgemeinen Sprachgebrauchs: Sie bringt vielfach nur Vorstellungen der Rechtsanwender von der „Existenz“ und der „Wirklichkeit“ tatsächlicher Gesetzmäßigkeiten und ihren Anspruch zum Ausdruck, solche – unterstellt, dies sei möglich – vollständig und richtig erfasst zu haben und wiederzugeben. Mit anderen Worten: Solche Sätze beruhen insoweit nicht auf empirischen Grundlagen in Gestalt erhobener Daten, gezielter und kontrollierter Beobachtungen oder wissenschaftlicher Experimente und haben deshalb keine statistische Masse; sie bilden kein Kollektiv im Sinne der Wahrscheinlichkeitstheorie, das Grundlage jedes Erfahrungssat-
16
Ibid. S. 419. V ZR 157/54 – LM BGB § 133 (FB) Nr. 4. 18 Vgl. etwa Urteile vom 13.7.1960 – V ZR 90/59 – LM BGB § 133 (C) Nr. 17 und vom 17.11.1960 – VII ZR 236/59 – NJW 1961, 307 zur Nachprüfbarkeit der Auslegung des Wortsinns, ohne jedoch den allgemeinen Sprachgebrauch ausdrücklich anzusprechen. 19 XII ZB 162/01 – NJW-RR 2004, 795/796 = zit. nach Juris Rn. 11. 20 Vgl. MünchKomm/Busche BGB, 5. Aufl., § 133, Rn. 69, der indes dahin differenziert, dass „das Wissen vom Sprachgebrauch“ zu den allgemeinen Erfahrungssätzen zähle; Soergel/Hefermehl BGB, 13. Aufl. § 133 Rn. 36; Palandt/Ellenberger BGB, 68. Aufl. § 133 Rn. 30 unter Hinweis auf das BGH-Urteil vom 2.5.1956; Staudinger/Reinhard Singer (2004) § 133 Rn. 44, 45. 17
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zes sein muss.21 Musielak spricht deshalb vorsichtiger von „Erfahrungssätzen des täglichen Lebens“22, wenn wissenschaftlich kontrollierte Beobachtungen von Massenerscheinungen oder Wiederholungsvorgängen für angenommene Wahrscheinlichkeitswerte fehlen, hält es jedoch für gerechtfertigt, auch solchen Sätzen eine gesicherte Objektivität zuzusprechen. Der einzelne Mensch handele, wenn er Erfahrungen über die Häufigkeit bestimmter Entscheidungen sammelt, trotz aller Subjektivität objektiv, also ähnlich wie ein Statistiker; das Resultat dieser „Statistik“ liege deshalb nicht in seinem Belieben. Die Objektivität und Gültigkeit des erzielten Ergebnisses werde dadurch erhöht, dass voneinander unabhängig aufgestellte derartige „Statistiken“ zu gleichen Ergebnissen gelangen. Überdies setze ein gesicherter Satz der Lebenserfahrung im Allgemeinen voraus, dass er von vielen geprüft und für richtig befunden wurde, weshalb eine solche Erfahrungsregel hinsichtlich ihrer Richtigkeit mit wissenschaftlichen Erkenntnissen auf eine Stufe gestellt werden könne.23 Ob dieser Schlussfolgerung uneingeschränkt zu folgen ist, mag dahinstehen. Die Vielzahl höchstrichterlicher Entscheidungen, welche in der Vorinstanz zugrunde gelegte Erfahrungssätze korrigieren, könnte zu denken geben und zugleich die Frage aufwerfen, wodurch sich das angewandte Erfahrungswissen letztinstanzlicher Rechtsanwender als zutreffender legitimiert, obwohl, wie Christensen etwa zu Recht betont, Juristen zwar Experten in Bezug auf normative Ordnungen und die Entscheidungen von Streitfällen, jedoch keine solchen in Sachen Wirklichkeit seien.24 Indes ist die Auslegung und fallnormbildende Konkretisierung der Gesetze (Obersatzbildung) ohne Rückgriff auf solche Erfahrungssätze ebenso wenig möglich wie die für die Rechtsanwendung unerlässliche Ermittlung und Festlegung der entscheidungserheblichen Sachverhalte (Untersätze). Letztere vollzieht sich, wie Larenz erläutert25, in Gestalt von Beurteilungen, die er als Urteile über das Vorliegen dieses oder jenes im Tatbestand einer Norm genannten Merkmale bezeichnet. Dazu zählt er neben den auf eigenen oder mitgeteilten Wahrnehmungen und auf der Deutung menschlichen Verhaltens beruhenden Urteilen sowie den Werturteilen auch sonstige durch soziale Erfahrung vermittelte Urteile 26, wozu wiederum die aus der Beobachtung von Einzelfällen gewonnenen Sätze der allgemeinen Lebenserfahrung ebenso gehören wie die allgemeinen Regeln und Erkenntnisse im Verkehrsleben (§§ 157, 242 BGB), Handel (Handelsbräuche) und Gewerbe aber
21
Musielak Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozessrecht, 1975, S. 92. Ibid. S. 92. 23 Ibid. S. 93 f. 24 Christensen Die Paradoxien richterlicher Gesetzesbindung, in: Kent Die Sprache des Rechts, Bd. 2, S. 56. 25 Ibid. S. 283 ff. 26 Ibid. S. 283 ff. 22
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auch in Kunst, Wissenschaft und Technik. Eingeschlossen sind also auch alle Sätze, die Inhalt einer besonderen Fach- oder Sachkunde sind, einschließlich der Erkenntnisse der wissenschaftlichen Forschung.27 Derartige Erfahrungssätze sind jedoch keine Tatsachen. Sie stützen sich auf Erfahrungswissen, das nicht durch Zeugenbeweis, sondern gegebenenfalls mit Hilfe eines Sachverständigen zu ermitteln ist.28 Tatsachen bilden gleichwohl die Grundlage dieses Wissens, sodass Erfahrungssätze, wie Konzen zutreffend betont, jedenfalls stets Schlussfolgerungen aus tatsächlichen Ereignissen sein müssen 29 oder genauer, aus der Vorstellung von – gleichartigen – tatsächlichen Ereignissen („Massenerscheinungen“) und ihren regelmäßigen Wiederholungen („Wiederholungsvorgängen“). Diesem Muster entsprechen sprachliche Ausdrücke ebenso wenig wie ihr vermeintlich allgemeiner Gebrauch. Auch in der juristischen Methodenlehre ist inzwischen wohl die im Zuge der so genannten linguistischen Wende des 20. Jahrhunderts 30 gewachsene Erkenntnis akzeptiert, dass die Bedeutung eines Wortes ihm nicht wie eine feste Eigenschaft anhaftet, sondern sich jeweils aus seinem Gebrauch in einem bestimmten „Sprachspiel“ ergibt.31 Larenz räumt, daran anknüpfend, ein, dass man die Bedeutung eines Wortes innerhalb eines Sprachspiels nicht dadurch erfassen kann, dass man sie auf seine Bedeutung in einem anderen Sprachspiel zurückführt und betont überdies, man müsse daher sehr genau darauf achten, in welchem Sinne man einen Ausdruck gebraucht, um nicht unversehens aus einem Sprachspiel „herauszufallen“, was allemal eine Begriffsvertauschung bedeute.32 Koch/Rüßmann greifen angesichts der Schwierigkeiten einer empirischen Bedeutungsforschung für die Ermittlung des semantischen Gehalts auf sprachliche Konventionen zurück33, für deren Erschließung die Differenzierung zwischen Extension und Intension eines Ausdrucks hilfreich sei, wie sie auch dem oben bereits angeführten „Fenster-Urteil“ des BGH vom 13.7.1960 zugrunde liege34. Die Berufung auf Wörterbücher der deutschen Sprache wird
27
Vgl. Stein/Jonas/Leipold ZPO, 21. Aufl., § 284, Rn. 16. BGH, Urteil vom 02.10.2003 – I ZR 150/01 – BGHZ 156, 250/254 für die Feststellung einer Verkehrsauffassung, für die sich der Sachverständige das erforderliche Sachwissen durch eine Meinungsumfrage verschaffen kann. 29 Vgl. Konzen Normtatsachen und Erfahrungssätze, in: Festschrift für Gaul, 1997, S. 342. 30 dazu: Habermas Faktizität und Geltung, Suhrkamp, 1998, S. 25 ff. 31 Vgl. Larenz Ibid. S. 201 unter Hinweis auf Wittgenstein, der unter einem „Sprachspiel“ jede Form der sprachlichen Äußerung innerhalb eines praktischen Kontexts versteht und die unzählig verschiedenen Arten der Verwendung alles dessen, was wir „Zeichen“, „Worte“, „Sätze“ nennen, hervorhebt (Philosophische Untersuchungen § 23 Abs. 1.). 32 Ibid. S. 202. 33 Koch/Rüßmann ibid, 1982, 188 ff. 34 Ibid. S. 198/190. 28
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als sinnvolle Annäherung an derartige Konventionen ebenso empfohlen, wie die ausdrückliche Berufung auf einen von der eigenen Sprachkompetenz her vermuteten allgemeinen Sprachgebrauch35, wobei wiederum die Willkürlichkeit, die auch nach Auffassung der Autoren ohne Zweifel in einem solchen Vorgehen steckt, als durch die Möglichkeit gegenseitiger Korrektur im juristischen Meinungsaustausch und durch die Möglichkeit des Gesetzgebers, gegebenenfalls erneut zu intervenieren, abgemildert angesehen wird.36 In der Methodenkritik wird die Normativität sprachlicher Ausdrücke wegen der holistischen Struktur sprachlicher Bedeutung grundsätzlich in Zweifel gezogen. Die Bedeutung eines Textes lässt sich danach nur in der entwicklungsoffenen Gesamtheit einer Sprache bestimmen.37 Sie kann allerdings auch nach dieser Auffassung in der juristischen Praxis mit Hilfe der auf den klassischen Canones von Savigny 38 beruhenden gesetzlichen Auslegungsregeln als Kontextlieferanten erschlossen werden.39 Zu beginnen hat eine solche Auslegung stets mit der Ermittlung der semantischen Bedeutung des vom Gesetzgeber oder für eine rechtsgeschäftliche Erklärung gewählten Ausdrucks oder einer Wortverbindung 40; Ausgangspunkt ist also die so genannte grammatische Interpretation, die an den Sprachgebrauch anknüpft, und zwar zunächst an den allgemeinen Sprachgebrauch 41, worunter im Schrifttum der aktuelle gemeinsame Gebrauch eines Wortes und, wie hinzuzufügen ist, eines mehrgliedrigen Ausdrucks, verstanden wird, der seine semantische Bedeutung bestimme.42 Dieser Gebrauch ist aber nicht etwa eine feststellbare Tatsache, auch kein auf Beobachtung beruhendes Urteil, sondern eine auf erlebte Sprachspiele gestützte Vermutung, bestenfalls eine individuelle Erfahrung des Rechtsanwenders, die in dem Maße vertretbar erscheint, in dem sie auf ein nachvollziehbares Annäherungsverfahren an den Sinngehalt eines Ausdrucks zurückgeführt werden kann. Der aktuelle Sprachgebrauch vollzieht sich mündlich in Sprech- und (Zu-)Hör-akten, schriftlich darin, dass Texte verfasst und (inhaltlich) erfasst werden. Dabei kann der Sprecher oder Schreiber einem verwendeten Ausdruck durchaus eine andere Bedeutung beilegen als der Hörer/Leser. Dieser Gebrauch der Sprache im Sinne ihres
35
Ibid. S. 190/191. Ibid. S. 191. 37 Christensen ibid. S. 11/12. Klatte Die Wortlautgrenze, in: Lerch Die Sprache des Rechts, Bd. 2, S. 343 ff., verteidigt dagegen die Normativität sprachlicher Bedeutung als Fundament semantischer Grenzen und deutet auf dieser Grundlage ein neues System solcher Grenzen an, das er am Beispiel des Geldwäsche-Urteils des BVerfG (NJW 2004, 1305 ff.) erläutert. 38 Vgl. Von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 212 ff. 39 Christensen ibid. S. 12. 40 Larenz ibid. S. 320. 41 Ibid. 42 MünchKomm/Säcker BGB, 5. Aufl., Einl. Rn. 28. 36
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semantischen Einsatzes wird wiederum bei unterschiedlichen Personen, die in solcher Weise sprachlich handeln, schwanken. Das dadurch entstehende Spektrum des tatsächlichen Gebrauchs von Ausdrücken in einer Sprache ist schlechterdings nicht fassbar, zumal es nicht nur räumlich und zeitlich ständigen Änderungen unterliegt, sondern auch von der aktuellen Situation abhängt, in der sich die Kommunikation vollzieht (Sprachspiel). Wörterbücher sind allenfalls bedingt hilfreich, weil sie ihrerseits den tatsächlichen Gebrauch nicht vollständig dokumentieren können und jedem Wörterbuch eine Konzeption zugrunde liegt, die von Vorentscheidungen für eine bestimmte Auswahl geprägt ist.43 Sie geben danach allenfalls die Vorstellung der Verfasser von der Kontingenz des Gebrauchs wieder, die aber den tatsächlichen Gebrauch nur unvollständig reflektiert. Noch geringere Aussagekraft hat die Ermittlung des Wortsinns über die so genannte „Lehnstuhlmethode“, die darin besteht, dass sich der Rechtsanwender seiner eigenen Sprachkompetenz besinnt und den allgemeinen Sprachgebrauch daraus herzuleiten sucht, wie er selbst als idealer Sprecher/Hörer bzw. Schreiber/Leser die Wendung gebrauchen würde 44 oder, wie zu ergänzen ist, sich deren allgemeinen Gebrauch durch andere Personen vorstellt. Sie wird zwar zur Auffindung von Hypothesen über den Sprachgebrauch für sinnvoll gehalten45 und dürfte sich auch frequenter Anwendung in der täglichen Rechtspraxis erfreuen. Koch/Rüßmann betonen allerdings zu Recht, dass auch der „native speaker“ keinen irgendwie privilegierten Zugang zur Bedeutung eines Ausdrucks habe und es eine wahre Bedeutung, also eine solche, die dem Ausdruck anhaftet, eben nicht gebe.46 Dann erscheint aber auch die Annahme einer feststellbaren allgemein bestehenden Übung und einer sich daraus ergebenden Erfahrung im Sinne eines Erfahrungssatzes, die dem Urteil des Reichsgerichts vom 6.12.1922 und in seiner Folge jedenfalls der frühen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zugrunde liegt, zweifelhaft. Einer annähernden Erfahrung in den Grenzen der individuellen sprachlichen Sozialisation und täglicher Kommunikationsprozesse zugänglich ist allenfalls das Spektrum des kontingenten Einsatzes eines sprachlichen Ausdrucks, das indes weder als Massenerscheinung noch als Wiederholungsvorgang verstanden werden kann, aus denen sich ein Erfahrungssatz gewinnen ließe. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es der rechtlichen Einordnung des Sprachgebrauchs als Rechtsatz in Gestalt eines (auch nur schwachen) allgemeinen Erfahrungssatzes oder eines Satzes der allgemeinen Lebenserfahrung überhaupt bedarf. Sie verdankt sich dem Bemühen um die dogmatisch vertretbare Eröffnung eines Weges zur rechtlichen Nachprüfung 43 44 45 46
Christensen ibid. S. 13. Christensen ibid. S. 15. Koch/Rüßmann ibid. S. 190. Ibid.
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tatrichterlicher Feststellungen über den Inhalt rechtlich relevanter Erklärungen und/oder Texte. Die Gesetzesauslegung ist davon nicht abhängig; ihr Gegenstand sind originäre Rechtsätze, also Normen im engeren Sinne, deren Auslegung rechtlich uneingeschränkt nachprüfbar ist. Die Feststellung rechtsgeschäftlicher Erklärungen zerfällt in die Ermittlung der Merkmale des Erklärungstatbestandes einerseits und dessen inhaltliche Deutung andererseits. Die erstgenannte Aufgabe besteht regelmäßig darin, die sprachliche oder textuelle Manifestation einer (ausdrücklichen) Erklärung festzulegen, wofür auf deren semantischen Gehalt zunächst nur in einem rechtlich – noch – nicht relevanten Umfang zurückgegriffen werden muss. Die Ermittlung des rechtlichen Bedeutungsgehalts ist dann Gegenstand der Auslegung, deren notwendige – wenn auch nicht unbedingt hinreichende – Voraussetzung die sprachliche Interpretation ist, was den absoluten Vorrang des grammatischen Canons ohne weiteres rechtfertigt. Diese Zweifel, die hier nur angedeutet werden können, legen es nahe, den allgemeinen Sprachgebrauch nicht mehr, auch nicht „im Sinne der Feststellung einer beim Gebrauch der deutschen Sprache allgemein bestehenden Übung und der daraus sich ergebenden Erfahrung“ oder des „Wissens vom Sprachgebrauch“, als Erfahrungssatz zu begreifen, und ihn damit allen sonstigen Erfahrungssätzen gleichzustellen, sondern dem besonderen Charakter der Sprache und ihrer Anwendung Rechnung zu tragen: Sprachliche Kenntnisse sind notwendige Voraussetzung jeder Rechtsanwendung; ohne den Einsatz – möglichst umfassenden – sprachlichen Wissens, das jedem Schritt der Tatsachenermittlung und Rechtsfindung zugrunde liegt, ist Rechtsprechung und „-schreibung“ nicht möglich. Der semantische Gehalt der dazu in Wort und Schrift verwendeten Ausdrücke unterliegt ständiger Kontrolle durch die Rechtsanwender. Sie wissen sich dabei jeweils durch erlernte und erfahrene sprachliche Konventionen verbunden, die man als den individuell verfügbaren gemeinsprachlichen Fundus bezeichnen kann. Das sich daran im konkreten Fall orientierende Verständnis greift gleichwohl nicht auf einen allgemeinen Gebrauch zurück, sondern bleibt dasjenige des jeweiligen Sprechers/ Schreibers bzw. Hörers/Lesers, der eine gemeinsprachlich kontingente Bedeutung in der Überzeugung bevorzugt, sich damit auf einer ersten sprachlichen Stufe dem nach seiner Beurteilung rechtlich relevanten semantischen Gehalt des Ausdrucks zu nähern. Der Rechtsanwender erfasst dabei lediglich das ihm – über Wörterbücher und eigenes Wissen – verfügbare Spektrum des kontingenten gemeinsprachlichen Gebrauchs eines Ausdrucks, nicht dagegen dessen Verwendung im allgemeinen Sprachgebrauch. Dieses Spektrum steht für den grammatischen Canon der Auslegung von Gesetzen und rechtsgeschäftlichen Erklärungen in gleicher Weise bereit. Es kann deshalb auch bei der Deutung des Inhalts sprachlicher Ausdrücke einer rechtsgeschäftlichen Erklärung und ihrer rechtlichen Überprüfung ohne Rückgriff auf Erfahrungssätze – sprach- und nicht gebrauchsbezogen – von der gemeinsprach-
Der allgemeine Sprachgebrauch – ein Erfahrungssatz?
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lich möglichen Verwendung eines Ausdrucks als demjenigen Gebrauch gesprochen werden, den der Ausdruck in der Gemeinsprache finden kann. Mit welchem Gewicht dieses Urteil dann in das semantische Annäherungsverfahren einfließt, hängt von weiteren Umständen ab, insbesondere auch davon, ob der gemeinsprachlich mögliche Bedeutungsgehalt aus rechtlichen Gründen in Betracht kommt. Der alternativ etwa anwendbare Sprachgebrauch bestimmter Verkehrskreise 47, Berufsgruppen 48, in einer bestimmten Gegend 49 oder einzelner Gruppen 50, dem die höchstrichterliche Rechtsprechung differenziert Rechnung trägt, ist dann kein abweichender, sondern ein den gemeinsprachlichen Gebrauch ergänzender oder ersetzender. Das Wissen darum beruht nicht auf Erfahrungssätzen über Massenerscheinungen oder Wiederholungsvorgänge, sondern auf der Sprachkompetenz des Rechtsanwenders und auf seinem Bewusstsein von der Kontextabhängigkeit der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke. Der Einsatz der Sprachkompetenz kann daher als eine allgemeine Rechtsanwendungsvoraussetzung verstanden werden, die nicht auf Erfahrungssätze zurückzugreifen braucht. Ohne sie wäre die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke in ihrem jeweiligen Kontext gar nicht zu erfassen. Folglich genügt es und erscheint auch weniger anspruchsvoll, wenn die grammatische Auslegung an einen gemeinsprachlich möglichen Wortsinn anknüpft, statt ein Wissen vom allgemeinen Sprachgebrauch als Erfahrungssatz vorzugeben, dessen faktische Grundlage kaum nachvollziehbar ist und das deshalb zu Lasten der Akzeptanz des Arguments leicht in Zweifel gezogen werden kann. Zugleich wird damit häufig schon das Erfordernis eingehenderer grammatisch-logischer Erwägungen erkennbar werden. Lässt die Gemeinsprache es nämlich nur zu, einem Ausdruck die fragliche Bedeutung beizulegen, so bedarf es ausreichender Argumente dafür, dass dieser mögliche Sinn schon aus sprachlichen Gründen (Wortlautargument) auch rechtlich – möglicherweise sogar entscheidendes – Gewicht haben soll. Sie werden vielfach eben nicht rein sprachlicher Natur sein, sondern sich bereits – mit Blick auf die übrigen Canones – an einer (rechtlich) normativen Beurteilung des Ausdrucks orientieren, die damit zu Recht in den Vordergrund rückt.
47
Vgl. dazu etwa BGH, Urteil vom 12.12.2000 – XI ZR 72/00 – NJW 2001, 1344/1345. Zum fachsprachlichen Gebrauch siehe BGH, Urteil vom 23.6.1994 – VII ZR 163/93 – NJW-RR 1994, 1108/1109. 49 Zu regionalen Besonderheiten siehe BGH, Urteil vom 24.3.2004 – VIII ZR 44/03 – NJW 2004, 2230/2232. 50 BGH, Urteil vom 08.7.1999 – III ZR 5/98 – NJW 1999, 1191 f. 48
Ruhe nach dem Sturm Die zivilprozessuale Zulassungsrevision Joachim Bornkamm I. Einleitung und Vorgeschichte Das am 1. Januar 2002 in Kraft getretene Zivilprozessreformgesetz hat u.a. den Zugang zur Revision neu geordnet. Mit der Schaffung der Zulassungsrevision hat der Gesetzgeber vollendet, was er 1975 begonnen hatte. Bis dahin war nur die Revision in nichtvermögensrechtlichen Streitigkeiten von der Zulassung des judex a quo abhängig, während im Übrigen allein der Wert der Beschwer 1 den Zugang zur Revision bestimmte. Zur Neuordnung des Revisionsrechts 1975 war die Bundesregierung zunächst mit dem Vorschlag einer Zulassungsrevision nach verwaltungsprozessualem Vorbild angetreten: Die Revision sollte stets von der Zulassung, sei es durch den judex a quo oder – auf Nichtzulassungsbeschwerde – durch den judex ad quem, abhängig sein.2 Die neue Konstruktion einer kombinierten Annahme- und Zulassungsrevision, die auf Initiative des Bundestags-Rechtsausschusses 3 1975 Gesetz wurde, sah dagegen für vermögensrechtliche Streitigkeiten doch wieder eine Revisionssumme (von zunächst 40.000 DM, später 60.000 DM) vor: War sie überschritten, war die Revision ohne weiteres statthaft, der Bundesgerichtshof konnte aber die Annahme der Revision ablehnen, „wenn die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung“ hatte (§ 554b ZPO a.F.). War die Revisionssumme nicht erreicht, sollte das Oberlandesgericht die Revision im Falle der Grundsatzbedeutung oder im Falle der Abweichung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung zulassen (§ 546 ZPO a.F.). Die Absicht, dem Bundesgerichtshof ein Instrument an die Hand zu geben, mit dem er die Arbeitsbelastung selbst zu steuern vermocht hätte,4 wurde freilich vom Bundesverfassungsgericht durchkreuzt: Da die (Annahme-)Revision „ein auch dem Individualinteresse an einer gerechten Einzelfallentscheidung dienendes Rechtsinstitut“ sei, dürfe die Revision im Stadium der Annahme-
1 2 3 4
Er musste zuletzt über 25.000 DM liegen. Entwurf eines Revisionsänderungsgesetz, BT-Drucks. 7/444. BT-Drucks. 7/3596. Vgl. etwa Vogel NJW 1975, 1297, 1299.
426
Joachim Bornkamm
prüfung von Verfassungs wegen nur dann scheitern, wenn sie „im Endergebnis keine Aussicht auf Erfolg“ verspreche.5 Die Annahmerevision hat über zwanzig Jahre lang die Arbeit der Zivilsenate des Bundesgerichtshofs beherrscht. Dagegen spielte die Zulassungsrevision keine nennenswerte Rolle, weil von den Berufungsgerichten nur eine verschwindend geringe Zahl von Revisionen zugelassen wurde. Als Beispiel mögen die Zahlen des Jahres 1997 dienen: In diesem Jahr erließen die Oberlandesgerichte 28.777 streitige Urteile, von denen etwa drei Viertel die Revisionssumme nicht erreichten.6 Während sich aus dem einen Viertel der Verfahren, die auch ohne Zulassung mit der Revision angegriffen werden konnten, fast 4.000 Annahmerevisionen speisten, standen den restlichen 21.636 Verfahren nur 141 (!) zugelassene Revisionen gegenüber.7 Mit der seit 2002 geltenden Neuregelung des Revisionsrechts hat der Gesetzgeber an den 1975 gescheiterten Vorschlag einer reinen Zulassungsrevision angeknüpft. Die Neuregelung unterscheidet sich allerdings von dem damaligen Vorschlag in zwei wichtigen Punkten: Einerseits öffnet sie den Zugang zur Revisionsinstanz erstmals auch für Rechtsmittel gegen Berufungsurteile der Landgerichte (§ 543 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Andererseits wurde der politische Wunsch, den Zugang streitwertunabhängig zu gestalten, im Hinblick auf die zu Recht befürchtete Flut von Nichtzulassungsbeschwerden erneut nicht erfüllt: Versteckt in den Bestimmungen des Einführungsgesetzes zur Zivilprozessordnung und mit einem Auslaufdatum versehen, findet sich die Regelung, dass die Nichtzulassungsbeschwerde nur zulässig ist, „wenn der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer zwanzigtausend Euro übersteigt“ (§ 26 Nr. 8 EGZPO). Diese ursprünglich nur bis Ende 2006 geltende Regelung ist bereits einmal bis Ende 2011 verlängert worden und wird – daran besteht kein vernünftiger Zweifel – auch über diese Frist hinaus erneut verlängert werden. Es ist nicht zu leugnen, dass der Gesetzgeber mit der Neuordnung des Zugangs zur Revision einem von Seiten der BGH-Richterschaft geäußerten Wunsch entsprochen hat. Immer wieder war beklagt worden, dass die Arbeitskraft der Zivilsenate zu einem überwiegenden Teil durch die Bearbeitung von Revisionen gebunden werde, die weder rechtsgrundsätzliche Bedeutung haben noch einen durchgreifenden Rechtsfehler des angefochte-
5 BVerfGE 49, 148, 160 = NJW 1979, 151 und BVerfGE 54, 277 = NJW 1981, 39. Hierzu im Einzelnen Krämer NJW 1981, 799 f.; ders. in: FS Brandner, 1996, S. 701 ff. 6 Vgl. die von Büttner BRAK-Mitt. 1999, 50, 53 und Pfeiffer NJW 1999, 2617, 2618 mitgeteilten Zahlen; ferner Begründung des Regierungsentwurfs eines ZPO-Reformgesetzes, BT-Drucks. 14/4722, S. 65. 7 Die angegebene Zahl bezieht sich auf eingelegte Revisionen. Hinzu kommen noch die Verfahren, in denen die Revision zugelassen, aber nicht eingelegt worden ist; vgl. dazu unten Fn. 45.
Ruhe nach dem Sturm
427
nen Urteils aufzeigen.8 Freilich war das Stimmungsbild nicht einheitlich:9 Die Zivilsenate hatten sich auf die Annahmerevision in der Prägung, die ihr das Bundesverfassungsgericht gegeben hatte, eingestellt und auch eine ständig steigende Zahl von Revisionen zu bewältigen vermocht. Dabei konnte sich der Eindruck aufdrängen, dass der Annahmegrund der Grundsatzbedeutung kaum noch isoliert, sondern nur gepaart mit Erfolgsaussicht auftrete.10 Auch mag an die Stelle der strengen Richtigkeitskontrolle, die an sich im Rahmen der Prüfung der Erfolgsaussicht geboten war,11 zuweilen doch eine Kontrolle am Maßstab der Vertretbarkeit getreten sein.12 Anders als die Richterschaft standen die Anwälte beim Bundesgerichtshof der Neuordnung des Revisionsrechts bestenfalls skeptisch, meist aber strikt ablehnend gegenüber.13 Zur schlechten Presse, die die Neuregelung auch nach der ersten Bewährungsprobe noch genoss,14 hat allerdings der Bundesgerichtshof gehörig beigetragen: Zum einen war die Zulassungsquote – also das Verhältnis der erfolgreichen zu den nicht erfolgreichen Nichtzulassungsbeschwerden – in der Anfangszeit wenig ermutigend. Zum anderen schienen sich die Zivilsenate mit restriktiven Entscheidungen zum neuen Recht übertreffen zu wollen. Dabei wirkte sich zunächst nachteilig aus, dass sich eine großzügigere Praxis einzelner Zivilsenate kein Gehör verschaffte, sondern sich hinter formelmäßig begründeten Zulassungsentscheidungen verbarg, während restriktive Entscheidungen begründet und mit einem Leitsatz versehen wurden (mit der Folge, dass von ihnen nicht ohne weiteres abgewichen
8 Vgl. Begründung des Regierungsentwurfs eines ZPO-Reformgesetzes, BT-Drucks. 14/4722, S. 65. 9 Vgl. etwa die Äußerung von Pfeiffer NJW 1999, 2617 ff. 10 War die Revision erst einmal angenommen, sprach eine klare statistische Wahrscheinlichkeit für eine Aufhebung des Berufungsurteils. 11 Einen solcher Vertretbarkeitsmaßstab hatte das Bundesverfassungsgericht in seiner Plenarentscheidung zur Annahmerevision zwar abgelehnt, gleichzeitig aber doch den Gegensatz zwischen Richtigkeits- und Vertretbarkeitsprüfung, der Anlass für die Plenarentscheidung gegeben hatte, aufzulösen versucht (BVerfGE 54, 277, 296 = NJW 1981, 39): „Wenn die Vertretbarkeit der Rechtsauffassung des angefochtenen Urteils sich aber in den Grenzen des rechtlich Fehlerfreien hält, weil etwa zwar nicht alle, wohl aber die besseren Gründe für sie sprechen, Gegenauffassungen mithin nicht eindeutig vorgezogen werden können, fehlt es insoweit an der Erfolgsaussicht des Rechtsmittels.“ Dazu Krämer NJW 1981, 799, 800. 12 So auch Nassall NJW 2003, 1345, 1350. 13 Büttner BRAK-Mitt. 2001, 263 ff.; ders. MDR 2001, 1201 ff.; ders. BRAK-Mitt. 2003, 202 ff.; ders. Die Reform der ZPO – eine Wirkungskontrolle. Das neue Revisionsrecht, Berichte A zum 65. DJT Bonn 2004, Band I, S. A 89 ff.; v. Mettenheim AnwBl 2000, 400 ff.; ders. NJW 2004, 1511 ff.; Krämer in: FS Hollerbach, 2001, S. 267, 272 ff.; Raeschke-Kessler AnwBl 2004, 321 ff. 14 Vgl. die Beiträge von Büttner, v. Mettenheim und Raeschke-Kessler (Fn. 13) aus den Jahren 2003 und 2004; ferner Nassall NJW 2003, 1345 ff.
428
Joachim Bornkamm
werden konnte). Erst nach und nach setzte sich ein etwas großzügigerer Umgang mit den Zulassungsgründen durch, der heute die Praxis der Zivilsenate beherrscht. Wer Achim Krämer kennt und in den Sitzungen der Zivilsenate des Bundesgerichtshofs erlebt, weiß, dass er fast jeder zivil- und zivilprozessrechtlichen Frage eine verfassungsrechtliche Dimension abzugewinnen vermag. Es verwundert daher nicht, dass er sich an der Diskussion über den Zugang zur Revisionsinstanz nicht nur als Prozessbevollmächtigter in einer Vielzahl von Verfahren, sondern vor allem auch in der Weise maßgeblich beteiligt hat, dass er in schriftsätzlichen und literarischen Äußerungen immer wieder die verfassungsrechtlichen Implikationen, die mit der Frage des Zugangs zur Revisionsinstanz verbunden sind, unterstrichen und unter Beweis gestellt hat.15 Die geschilderte Entwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen für den Zugang zur Revision soll an dieser Stelle Anlass zu einigen Betrachtungen und Bemerkungen geben, die zueinander nur in losem Zusammenhang stehen: Zum einen wollen wir fragen, wie sich die Neuordnung des Zugangs zur Revisionsinstanz zahlenmäßig ausgewirkt hat: Ist die erwartete Entlastung eingetreten, oder besteht aufgrund der Drosselung des Zugangs gar die Gefahr eines Overkill-Effekts, eines Austrocknens der Revisionsinstanz? (dazu II.) Die zweite Betrachtung soll sich weniger der Rechtsprechung der Zivilsenate zu den Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision als vielmehr der Art und Weise zuwenden, wie diese Rechtsprechung zustande gekommen ist (dazu III.). In einem weiteren Punkt möchte ich auf die Schwierigkeit eingehen, die unter den BGH-Anwälten verbreitete Tugend der Konzentration auf einen Schriftsatz mit dem Bemühen zu verbinden, sowohl Nichtzulassungsbeschwerde als auch Revision optimal zu begründen (IV.). Schließlich soll abschließend die Frage gestellt werden, ob für den Gesetzgeber weiterer Handlungsbedarf besteht (V.).
II. Entwicklung der Eingänge und Erledigung der Nichtzulassungsbeschwerde 1. Eingänge Nach dem ersten Jahr unter der Geltung des neuen Revisionsrechts wurde befürchtet, der Bundesgerichtshof werde von einer Flut von Nichtzulassungsbeschwerden und vom Berufungsgericht zugelassenen, ein Urteilsverfahren erfordernden Revisionen überschwemmt werden.16 Diese Befürch15 Krämer FamRZ 1980, 971 ff.; ders. NJW 1981, 799 f.; ders. in: FS Brandner, 1996, S. 701 ff.; ders. in: FS Hollerbach, 2001, S. 267 ff. 16 Büttner BRAK-Mitt. 2003, 202 unter Berufung auf die Äußerungen von Präsident Hirsch bei der Jahrespressegespräch im Januar 2003.
429
Ruhe nach dem Sturm
tung ist nicht eingetreten. Die Statistik 17 weist in diesem Bereich 18 in den letzten Jahren eine deutliche Entlastung der Zivilsenate aus.19 Waren im Jahre 2002, also dem ersten Jahr unter Geltung des neuen Revisionsrechts, noch 4.595 Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden eingegangen, ist diese Zahl im Jahre 2003 erstmals seit 1996 auf unter 4.000 gesunken und lag im Jahre 2008 bei 3.230.20 Der Anteil der zugelassenen Revisionen ist dabei relativ konstant. Es waren zwischen 2002 und 2008 stets zwischen 700 und 900 Revisionen.21 Von der erst 2004 geschaffenen Möglichkeit des § 552a ZPO, die zugelassene Revision durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen, wenn ein Zulassungsgrund nicht (mehr) vorliegt und die Revision auch keine Aussicht auf Erfolg hat, machen die Zivilsenate in unterschiedlichem Maße Gebrauch. Eine feste Übung stellt das Verfahren nach § 552a ZPO im II., im VIII. und im XI. Zivilsenat dar,22 während der V., der VI. und der VII. Zivilsenat bis Ende 2008 – wenn man der Statistik traut – noch keine Verfahren auf diese Weise erledigt hatten.23
17
Geschäftsstatistik der Zivilsenate des Bundesgerichtshofs (www.bundesgerichtshof.de). Außerhalb der Betrachtung bleiben dabei die Rechtsbeschwerden. Sie haben mit der Möglichkeit einer Zulassung durch Landgericht oder Oberlandesgericht (§ 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO) in der Tat stark zugenommen, auch wenn die Entwicklung nicht so dramatisch verlaufen ist, wie noch Anfang 2003 befürchtet (vgl. Kreft ZRP 2003, 77 f.; Büttner BRAKMitt. 2003, 202, 203, wiederum unter Berufung auf die Äußerungen von Präsident Hirsch beim Jahrespressegespräch im Januar 2003). 19 Damit bestätigt sich die Entwicklung, die sich für Gross (AnwBl 2006, 425) bereits 2006 abgezeichnet hat. 20 Eingänge von Revisionen und (seit 2002) Nichtzulassungsbeschwerden: 18
1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
3888 4198 4255 4408 4440 4265 4595
3888
3633
3233
3319
3404
3230
21
Eingänge vom Berufungsgericht zugelassener Revisionen: 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 788
davon LG
847
887
703
696
791
753
279
265
220
197
231
283
22 Dabei bleibt der IV. Zivilsenat unerwähnt, der 2008 eine große Zahl von Parallelverfahren nach § 552a ZPO erledigt hat. 23 Zahl der Verfahren, die seit 2004 durch Zurückweisung nach § 552a ZPO oder durch Rücknahme der Revision nach einem entsprechenden Hinweisbeschluss erledigt worden sind:
ZS
I
II
III
IV
V
3
72
14
134 0
VI
VII VIII IX X
XI
XII KS
LwS
0
0
29
1
0
63
4
4
2
430
Joachim Bornkamm
2. Die Zulassungsquote Nicht nur die BGH-Anwaltschaft befürchtete, dass der Anteil der erfolgreichen Nichtzulassungsbeschwerden deutlich unter der Annahmequote nach früherem Recht liegen würde. Denn es war abzusehen: Je feinmaschiger der Zugangsfilter zur Revision, desto geringer würde auch die Bereitschaft einer wirtschaftlichen denkenden Partei sein, in ein weiteres Rechtsmittelverfahren zu investieren. Unter der Geltung der Annahmerevision lag die Annahmequote 24 über Jahre hinweg gleichmäßig bei etwa 20 %.25 So homogen sich das Bild in der Zeitschiene darstellt, so heterogen war es bei einer Differenzierung nach Zivilsenaten. Während bei einigen Senaten die Annahmequote bei etwa 12 % lag, nahmen andere Senate – möglicherweise dem Rechtsgebiet geschuldet – deutlich über 30 %, der I. Zivilsenat sogar deutlich über 40% der Revisionen zur Entscheidung an.26 Wie von manchen befürchtet, lag die Zulassungsquote 27 im ersten Jahr der Zulassungsrevision – 2002 – bei extrem niedrigen 6,9 %. Dabei war freilich zu berücksichtigen, dass die meisten Verfahren noch nach altem Recht entschieden wurden und die Grundlage für die Ermittlung der Zulassungsquote daher schmal war.28 Aber auch im zweiten Jahr, in dem bereits über mehr als 1.500 Nichtzulassungsbeschwerden entschieden worden war, lag die Erfolgsquote noch bei unter 10 %, in einigen Senaten gar mehr oder weniger deutlich unter 5 %. Dieses Bild hat sich seitdem nachhaltig gewandelt.29 Seit 2004 liegt die Zulassungsquote – bei jährlich 1.650 bis 1.850 Nichtzulassungsbeschwerden, über die sachlich entschieden wurde – durchgehend zwischen 15 und 19 % und nähert sich damit der
24 Die Annahmequote ist der Anteil der angenommenen Revisionen an der Gesamtzahl der Revisionen, über deren Annahme sachlich entschieden worden ist. 25 Annahmequote sämtlicher Zivilsenate in den Jahren 1997 bis 2002:
1997 1998 1999 2000 2001 2002 1997–2002 in % 26
20,3
19,4
20,9
20,3
20,6
18,7
20,0
Annahmequote der einzelnen Zivilsenate in den Jahren 1997 bis 2002:
ZS
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII IX
in %
43,5 20,6 17,4 11,8 20,7 12,4 14,1 16,0
X
XI
XII KS
LwS
24,5 34,5 14,4 16,0 38,0 23,0
27 Die Zulassungsquote ist der Anteil der erfolgreichen Nichtzulassungsbeschwerden an der Gesamtzahl der Nichtzulassungsbeschwerden, über die sachlich entschieden worden ist. 28 202 Nichtzulassungen standen nur 15 Zulassungen gegenüber. 29 Auch hier hat die Entwicklung der letzten drei Jahre die Wende eindrucksvoll bestätigt, die Gross (AnwBl 2006, 425 f.) bereits 2006 als die Folge „einer mit Augenmaß vorgenommenen richterlichen Erweiterung der Zulassungsgründe“ beschrieben hat.
431
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Annahmequote der Vorjahre.30 Auch hier zeigt der Blick auf die einzelnen Zivilsenate immer noch ein differenziertes Bild, auch wenn die Quoten nicht mehr so weit auseinanderliegen wie bei der Annahmerevision. Während die Quote in einigen Senaten unter 10 % liegt, erreicht sie in vier Senaten über 20 %, im I. Senat gar etwas über 30 %.31 Bemerkenswert ist, dass in zwei Zivilsenaten die Zulassungsquote heute über der früheren Annahmequote liegt. Damit scheint die Gefahr gebannt, dass der Bundesgerichtshof maßgeblich zur Austrocknung der Revisionsinstanz beiträgt und seine Rolle als Garant einer kohärenten Rechtsanwendung selbst in Frage stellt. Wie stark die Erfolgsaussicht inzwischen die Zulassungsentscheidung prägt, lässt sich daran ablesen, dass heute – statistisch gesehen – eine vom Bundesgerichtshof zugelassene Revision fast immer Erfolg hat.31a
III. Alle Zwölf am Start: Wer darf die sich stellenden Rechtsfragen als Erster beantworten? Die Rechtsprechung der Zivilsenate zu den Zulassungsgründen des § 543 Abs. 2 ZPO und zur Notwendigkeit, in der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde die Zulassungsgründe darzulegen (§ 544 Abs. 2 Satz 3 ZPO), ist überaus vielfältig und nicht frei von Widersprüchen.32 Über sie ist vielfach berichtet worden.33 Dem soll hier kein weiterer Bericht folgen. Es 30
Zulassungsquote sämtlicher Zivilsenate in den Jahren 2002 bis 2008:
in % 31
ZS
2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008
2002–2008
6,9
15,9
9,0
15,0
17,6
18,8
18,4
16,5
Zulassungsquote der einzelnen Zivilsenate in den Jahren 2002 bis 2008: VI
VII
VIII IX
in % 31,5 20,3 15,3 15,6 14,2 9,1
16,2
11,0
31a
I
II
III
IV
V
X
XI XII
KS
LwS
22,6 24,7 8,3 11,1 26,0 14,7
2008 wurden 350 Verfahren erledigt, in denen die Nichtzulassungsbeschwerde Erfolg gehabt hatte, davon 313 durch streitige Entscheidung (hierzu zählen neben den Urteilen die Beschlüsse nach § 544 Abs. 7 ZPO), hiervon wiederum 21 (= 6,7 % der streitigen Erledigungen) durch Zurückweisung der Revision. 32 Vgl. BVerfG [Kammer] NJW 2004, 1371, 1372: „Dass es dem Bundesgerichtshof – wie die schon zitierten teilweise divergierenden Ansätze verschiedener Senate zeigen – bisher noch nicht gelungen ist, zu einer einheitlichen und zugleich für die Rechtsuchenden eindeutigen Linie zu kommen, …“. 33 Ball in: Musielak, ZPO, 6. Aufl. 2008, § 543 Rn. 5 ff. und § 544 Rn. 17 ff.; ders. Die Reform der ZPO – eine Wirkungskontrolle. Das neue Revisionsrecht (Fn. 13), S. A 69 ff.; Baumert MDR 2003, 606 ff.; ders. MDR 2004, 71 ff.; Bornkamm in: Ahrens, Der Wettbewerbsprozess, 6. Aufl. 2009, Kap. 30 Rn. 14 ff.; Büttner NJW 2004, 3524 ff.; Gaier NJWSonderheft 2. Hannoveraner ZPO-Symposion, 2003, S. 18 ff.; Gebauer ZZP 120 (2006), 507 ff.; Gehrlein MDR 2003, 547 ff.; ders. MDR 2004, 912 ff.; v. Gierke/Seiler NJW 2004,
432
Joachim Bornkamm
soll vielmehr um die Art und Weise gehen, in der sich die Zivilsenate des Bundesgerichtshofs der Klärung der anstehenden Fragen genähert haben, und um die strukturellen Mängel, die dabei zutage getreten sind. Zwei Punkte sind in diesem Zusammenhang hervorzuheben: Der erste Punkt lässt sich damit umschreiben, dass üblicherweise – wenn überhaupt – nur der Beschluss über die Nichtzulassung der Revision mit einer über die übliche Formel hinausgehenden Begründung versehen wird. Dies kommt schon in der gesetzlichen Regelung zum Ausdruck, die eine Begründung im Falle der stattgebenden Entscheidung, also der Revisionszulassung, stets für verzichtbar hält. Dagegen muss die Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde kurz begründet werden, wenn die Begründung zur Klärung der Zulassungsvoraussetzungen beitragen kann (§ 544 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Es verwundert daher nicht, dass in der Anfangsphase fast nur Entscheidungen veröffentlicht wurden, in denen die Zulassung der Revision abgelehnt wurde. Gab es im Umgang mit den Zulassungsgründen in dieser Zeit Unterschiede zwischen den Zivilsenaten, so setzte sich tendenziell die restriktivere Linie durch. Senate, die zu einer großzügigeren Zulassungspraxis neigten, sahen sich bald umringt von einer Fülle von Entscheidungen, in denen Rechtssätze zu einer restriktiven Praxis aufgestellt worden waren. Rechtssätze, die Ausdruck einer großzügigeren Handhabung gewesen wären, wurden dagegen nicht oder nur ausnahmsweise formuliert. War erst einmal die restriktive Position formuliert, war es nur unter Schwierigkeiten möglich, diese Position wieder zu räumen. Wollte ein Senat von der strengen Position abrücken, die ein anderer Senat bereits eingenommen hatte, musste er – als Vorstufe zu einer Vorlage an den Großen Senat für Zivilsachen – den anderen Senat entweder in bilateraler Abstimmung oder im Rahmen eines aufwendigen, alle Zivilsenate einbeziehenden Abstimmungsverfahrens dazu bewegen, seine frühere Position aufzugeben.34 1497 ff.; Gross AnwBl 2006, 425 ff.; Heßler in: Zöller, ZPO, 27. Aufl. 2009, § 543 Rn. 10 ff. und § 544 Rn. 10a; Scheuch/Lindner NJW 2003, 728; Seiler NJW 2003, 2290 f.; ders. MDR 2003, 785 ff.; ders. NJW 2005, 1689 ff.; Stackmann NJW 2007, 9 ff.; Wenzel in: MünchKommZPO, 3. Aufl. 2007, § 543 Rn. 6 ff. und § 544 Rdn. 12 ff. 34 Zwei Beispiele für solche Verfahren der informellen Abstimmung seien genannt: (1) Zunächst war aus der zutreffenden Feststellung, dass es für die Frage des Vorliegens des Zulassungsgrundes auf den Zeitpunkt der Entscheidung durch das Revisionsgericht ankomme, der Schluss gezogen worden, dass die Nichtzulassungsbeschwerde im Falle des nachträglichen Wegfalls des Zulassungsgrundes – etwa durch eine inzwischen erfolgte Klärung der Grundsatzfrage – stets, also ungeachtet der Erfolgsaussicht, zurückzuweisen sei (vgl. BGH NJW-RR 2003, 352; ferner BGH NJW 2003, 2319, 2320). Der späteren Entscheidung eines anderen Senats, wonach eine Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde in einem solchen Fall nur in Betracht komme, wenn die beabsichtigte Revision keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte (BGH NJW 2004, 3188 – PEE-WEE; vgl. auch BGH NJW 2005, 154, 155 und BGH NJW-RR 2005, 438; ferner BVerfG [Kammer] WM 2005, 2014), war eine informelle Abstimmung vorausgegangen. (2) Der zweite Fall betrifft die Frage, ob die Revision gegen ein Urteil zuzulassen ist, wenn zwar Gründe für die Zulassung einer Revi-
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Der zweite Punkt betrifft die Frage der Abstimmung einer beabsichtigten Entscheidung, die zwar nicht von einer früheren (begründeten) Entscheidung eines anderen Senats abweicht, die aber möglicherweise mit der – bislang unausgesprochen gebliebenen – Praxis anderer Zivilsenate nicht in Einklang steht. In einem solchen Fall besteht kein Zwang zur Anrufung des Großen Senats 35 und folglich auch keine gesetzliche Verpflichtung zu einer förmlichen oder informellen Abstimmung mit den anderen Zivilsenaten. Der Sache nach wäre es aber in hohem Maße wünschenswert, wenn eine solche Abstimmung stattfände, zumal wenn man davon ausgehen muss, dass möglicherweise dieselbe Frage in der Praxis anderer Zivilsenate – auch wenn sie sich nicht in begründeten Entscheidungen ausdrückt – anders beantwortet wird. Im bilateralen Kontakt ist eine solche Abstimmung, die in der Form einer schriftlichen Anfrage oder im Rahmen eines kollegialen Gesprächs erfolgen kann, gang und gäbe,36 wenn auch – bedauerlicherweise – nicht ausnahmslos. In Fragen, die alle Zivilsenate betreffen, sind derartige Abstimmungen dagegen selten.37 Zugegebenermaßen ist das Verfahren aufwendig, und mancher mag sich von der Devise „Wer viel fragt, bekommt viele Antworten“ leiten lassen und eine Anfrage bei den anderen Senaten scheuen. Im übergeordneten, an den Aufgaben des Bundesgerichtshofs orientierten Interesse gibt es aber hierzu keine Alternative. Dies sei an einem Beispiel erläutert: Es geht um die Frage der Entscheidungserheblichkeit des Zulassungsgrundes, wenn das Berufungsurteil auch noch eine Hilfsbegründung gegeben hat: Das Berufungsgericht stützt sein Urteil auf die Erwägung A, die in hohem Maße Grundsatzbedeutung hat und eine schon lange erwartete Antwort auf eine umstrittene Rechtsfrage gibt, fügt aber hinzu, dasselbe Ergebnis folge im Übrigen aus der Erwägung B. Nimmt man weiter an, die Erwägung B sei zwar rechtlich unhaltbar, aber ganz und gar nicht grundsätzlich und eröffne auch sonst keinen Zulassungsgrund, stellt sich die Frage, ob die Erwägung A entscheidungserheblich ist. In
sion dargelegt werden, mit der eine 20.000 € übersteigende Beschwer geltend gemacht werden soll (§ 26 Nr. 8 EGZPO), ein Zulassungsgrund aber nur für einen Teil des Streitstoffs besteht, der den Beschwerdeführer mit weniger als 20.000 € beschwert. Diese Frage war zunächst von zwei Senaten verneint worden, bevor sich die Gegenauffassung durchsetzte (BGHZ 166, 329 Tz. 3 ff. = NJW-RR 2006, 717; BGH NJW-RR 2006, 1097 Tz. 8). 35 In Betracht käme nicht eine Divergenz-, sondern eine Vorlage wegen Grundsatzbedeutung nach § 132 Abs. 4 GVG. 36 Den I. Zivilsenat betreffende Beispielsfälle aus letzter Zeit: BGH NJW 2009, 1420 – Versicherungsuntervertreter (I./VIII. ZS), BGHZ 177, 253 = NJW 2008, 3055 (VIII./I. ZS); Urt. v. 14.5.2009 – I ZR 98/06 – Tripp-Trapp (I./X. ZS); Urt. v. 14.5.2009 – I ZR 179/07 – Die clevere Alternative (I./VIII. ZS). 37 Beispielsweise ging der Entscheidung des IX. Zivilsenats zur Anschlussrevision (BGHZ 148, 156 = NJW 2001, 3543) aus dem Jahre 2001 eine solche Abstimmung mit allen Zivilsenaten voraus.
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der Praxis des I. Zivilsenats 38 ist in diesen Fällen geprüft worden, ob es für die Entscheidung des Rechtsstreits auf die Grundsatzfrage ankommt; dies machte die Prüfung erforderlich, ob die Erwägung B das Ergebnis wirklich trägt. War das nicht der Fall, wurde die Revision zugelassen. Der X. Zivilsenat hat anders entschieden: Die Erwägung B trage das Berufungsurteil; auch wenn sie rechtlich falsch sei, sei sie im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde als unanfechtbar hinzunehmen. Daher komme es auf die Beantwortung der Grundsatzfrage A nicht an.39
IV. Nichtzulassungsbeschwerde- und Revisionsbegründung Es verwundert nicht, dass sich alle Beteiligten mit der Umstellung von der Annahme- auf die Zulassungsrevision zunächst schwergetan haben. Dies gilt nicht zuletzt für die Zivilsenate, die lange brauchten, bis sie zu einer mehr oder weniger einheitlichen Linie bei der Beurteilung der Zulassungsgründe fanden. Für die Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof besteht eine Schwierigkeit des neuen Rechts darin, dass sie in zwei Etappen vortragen müssen. Im alten Recht wurde auch in Fällen, in denen zunächst über die Annahme der Revision entschieden werden musste, ganz einfach die Revision begründet; denn hiermit war stets der wichtigste Annahmegrund dargelegt: die Erfolgsaussicht. Auf die Rechtsgrundsätzlichkeit der einen oder anderen Frage wurde gegebenenfalls abschließend hingewiesen. Nach neuem Recht müssen dagegen zunächst die Gründe dargelegt werden, die eine Zulassung der Revision erfordern (§ 544 Abs. 2 Satz 3 ZPO). In einem zweiten Schritt folgt dann die herkömmliche Revisionsbegründung. Zum Stil der Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof gehört es, dass sie – wenn möglich – ihr schriftliches Vorbringen auf einen Schriftsatz konzentrieren. Das erleichtert nicht zuletzt die Arbeit der Zivilsenate. Repliken und Dupliken bleiben in der Regel der mündlichen Verhandlung vorbehalten. Auch im Falle der Nichtzulassungsbeschwerde bietet es sich nicht an, das, was zur Begründung der Revision zu sagen sein wird, erst nach einer positiven Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde vorzubringen. Denn auch im Rahmen der Zulassungsentscheidung spielt die Frage der Erfolgsaussicht eine nicht zu unterschätzende Rolle. Im Übrigen kann häufig die Frage der Rechtsgrundsätzlichkeit oder der Notwendigkeit einer Zulassung für die Fortbildung des Rechts nur nach umfassender Klärung der Rechtslage beantwortet werden. Noch stärker gilt dies für den Zulassungsgrund der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung, der heute die prominenteste Rolle spielt. Er umfasst nicht nur den klassischen Fall der Divergenz. Vielmehr 38 Möglicherweise auch in der Praxis anderer Senate; vgl. die Kritik von Ball Die Reform der ZPO – eine Wirkungskontrolle. Das neue Revisionsrecht (Fn. 13), S. A 69, A 83 f. 39 BGHZ 153, 254, 256 f. = NJW 2003, 1125.
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wird in der Praxis der Zivilsenate mit Hilfe dieses Zulassungsgrundes in drei Fällen eine Fehlerkorrektur erreicht: Zum einen im Falle der Verletzung von Verfahrensgrundrechten; zum zweiten bei symptomatischen Rechtsfehlern, die erwarten lassen, dass sie ohne korrigierende Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs wiederholt und nachgeahmt werden; zum dritten bei offensichtlichen schweren Fehlern des Berufungsgerichts, wozu nicht nur die willkürliche Entscheidung, sondern auch der grobe Rechtsverstoß zählt, der das Vertrauen der Allgemeinheit in die Rechtsprechung erschüttern kann.40 Es liegt auf der Hand, dass die Darlegung des Zulassungsgrundes es in diesen Fällen häufig, wenn nicht immer erfordert, die Fehlerhaftigkeit des mit der Revision anzufechtenden Urteils darzustellen. Insofern ist es sinnvoll, dass die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde regelmäßig schon die Revisionsbegründung umfasst. Dem trägt das Gesetz auch durch die Möglichkeit Rechnung, zur Begründung der Revision auf die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde Bezug zu nehmen (§ 554 Abs. 3 Satz 2 ZPO). Dieses Vorgehen birgt allerdings zuweilen die Gefahr in sich, dass eine der beiden Dimensionen, die ein solcher Schriftsatz zur Begründung sowohl der Nichtzulassungsbeschwerde als auch der Revision enthalten muss, stiefmütterlich behandelt wird.41 Es lassen sich in dieser Hinsicht zwei Formen von Beschwerdebegründungen unterscheiden: Die eine Form der Beschwerdebegründung stellt mustergültig dar, weswegen die Revision zugelassen werden muss, und fasst in einem abschließenden Absatz zusammen, auf welche Rügen des formellen und materiellen Rechts sich die Revision beziehen wird. Im anschließenden Revisionsverfahren fällt dann auf, dass die eine oder andere „einfache“ Verfahrensrüge fehlt, weil das Augenmerk zu stark auf die – die Zulassung begründende – qualifizierte Verfahrensrüge eines Gehörverstoßes gerichtet war. Unabhängig davon fällt die Arbeit mit einer solchen „Revisionsbegründung“ wesentlich schwerer, weil sie den Leser nicht in gewohnter, den (behaupteten) Rechtsfehler in den Mittelpunkt stellenden Weise durch die revisionsrechtliche Prüfung führt. Lässt die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde in dieser Hinsicht noch Wünsche offen, würde es sich empfehlen, die Rügen, die zur Überprüfung durch den Senat gestellt werden sollen, noch einmal in einer kurzen Revisionsbegründung darzustellen. Die andere Form der Nichtzulassungsbeschwerdebegründung hat in erster Linie die Revision im Blick und stellt ebenso mustergültig dar, weswegen das angefochtene Urteil keinen Bestand haben kann, um dann abschließend in einem kurzen Absatz anzuführen, welche Zulassungsgründe vorliegen. Auch wenn die besonders strengen Anforderungen, die einige Zivilsenate anfangs 40
Bornkamm in: Ahrens (Fn. 33), Kap. 30 Rn. 18 mwN. Es versteht sich von selbst, dass ich mich hierbei nicht auf die Schriftsätze eines bestimmten Büros und schon gar nicht auf die Schriftsätze des Jubilars beziehe. 41
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an die Darlegung der Zulassungsgründe gestellt haben,42 heute etwas gelockert sind,43 besteht hier die Gefahr, dass die Zulassungsgründe nicht ausreichend ausgeführt werden, dass beispielsweise bei der Rüge der Verletzung des Verfahrensgrundrechts auf rechtliches Gehör 44 nicht hinreichend dargelegt wird, was die Partei vorgetragen hätte, wenn das Berufungsgericht den erforderlichen Hinweis nach § 139 ZPO gegeben hätte. So wünschenswert es auch aus der Sicht des Revisionsrichters ist, wenn die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde und die Begründung der Revision in einem Schriftsatz enthalten sind, so hilfreich ist es, wenn innerhalb eines solchen „Kombi-Schriftsatzes“ gedanklich klar zwischen den beiden Teilen unterschieden wird und der Leser eine eigenständige gedankliche Darstellung erhält, die er für die unterschiedlichen Aufgaben, die er mit Hilfe dieses Schriftsatzes zu erfüllen hat, Punkt für Punkt abarbeiten kann. Dass dabei in dem einen Teil auf Ausführungen verwiesen werden kann, die in dem anderen Teil enthalten sind, versteht sich von selbst.
V. Sind Zugangserweiterungen geboten? Berücksichtigt man die zahlreichen von den Landgerichten zugelassenen Revisionen, hat der Gesetzgeber des Jahres 2001 sein erklärtes Ziel, den Zugang zur Revision möglichst streitwertunabhängig zu gestalten, trotz der Wertgrenze für die Nichtzulassungsbeschwerde in nicht unerheblichem Umfang erreicht.45 Einerseits hat die den Landgerichten eingeräumte Möglichkeit, die Revision gegen Berufungsurteile zuzulassen, ebenso wie die Zulassung der Rechtsbeschwerde dazu geführt, dass der Bundesgerichtshof seine Aufgabe, für eine kohärente Rechtsanwendung Sorge zu tragen, in vielen Bereichen ausüben kann, auf die er früher kaum Zugriff hatte und die deswegen von den Unterschieden der Rechtsprechung der Land- oder Oberlandesgerichte geprägt waren. Andererseits ist schon heute deutlich, dass das 2001 aufgeschobene Ziel, auch die Nichtzulassungsbeschwerde unabhängig vom Wert zuzulassen, einstweilen nicht weiterverfolgt werden kann. Grund hierfür ist nicht allein der Umstand, dass eine ganz erhebliche Steigerung der 42
Vgl. etwa BGHZ 152, 182, 185 = NJW 2003, 65. Vgl. hierzu Bornkamm in: Ahrens (Fn. 33), Kap. 30 Rn. 19 f. mwN. 44 Dazu Bornkamm in: Ahrens (Fn. 33), Kap. 30 Rn. 18 mwN. 45 Im Jahre 2007 haben die Landgerichte in 1.175 Verfahren (6,2 % aller streitigen Berufungsurteile) die Revision zugelassen. Dem stehen allerdings nur 231 (19,7 %) gegen landgerichtliche Urteile tatsächlich eingelegte Revisionen gegenüber (der Vergleichszeitraum deckt sich freilich wegen der Zeit zwischen Verkündung des Berufungsurteils und Einlegung der Revision nicht vollständig). Dagegen stehen 772 von den Oberlandesgerichten zugelassenen Revisionen 472 (61,3 %) tatsächlich eingelegte Revisionen gegenüber. – Die die Berufungsgerichte betreffenden Zahlen dieses Abschnitts beruhen auf den Angaben des Statistischen Bundesamts für das Jahr 2007, Fachserie 10 Reihe 2.1. 43
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Zahl der Nichtzulassungsbeschwerden den Entlastungseffekt zunichte machen würde, der mit der Neuordnung des Zugangs zur Revisionsinstanz erreicht werden sollte. Gegen die Aufhebung der Wertgrenze spricht derzeit auch, dass eine Überprüfung von Entscheidungen der Berufungsgerichte an anderer Stelle notwendiger erscheint. Es geht dabei um Beschlüsse nach § 522 Abs. 2 ZPO, also um die den Land- und vor allem den Oberlandesgerichten eingeräumte Möglichkeit, Berufungen ungeachtet des Wertes durch unanfechtbaren einstimmigen Beschluss zurückzuweisen, wenn die Richter überzeugt sind, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat und die Gründe für eine Zulassung der Revision nicht vorliegen. Hier entzündet sich die Kritik an zweierlei: Zum einen könne die Einstimmigkeit rechtfertigen, dass statt durch Urteil durch Beschluss entschieden werde; dieses Kriterium sei aber ungeeignet, um über die Anfechtbarkeit zu entscheiden.46 Zum anderen wird ein Hinweis auf einen Missbrauch darin gesehen, dass die Oberlandesgerichte in ganz unterschiedlichem Maße von § 522 Abs. 2 ZPO Gebrauch machen.47 Tatsächlich variiert der Anteil der Beschlüsse nach § 522 Abs. 2 ZPO an den streitigen Erledigungen der Oberlandesgerichte (Urteile, Vergleiche, Beschlüsse nach § 522 Abs. 2 ZPO) erheblich. Er liegt bei einigen Oberlandesgerichten (Karlsruhe, Brandenburg, Bremen, Düsseldorf,) zwischen 10 und 15 %, bei anderen (Bamberg, Koblenz, Zweibrücken) dagegen deutlich über 35 %. Bei einigen Oberlandesgerichten (Bamberg, Nürnberg, Zweibrücken) werden mehr Verfahren durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO als durch Urteil entschieden.48 Bei all diesen Zahlen bleiben noch die – zahlenmäßig gewiss nicht zu vernachlässigenden – Verfahren unberücksichtigt, in denen die Berufung nach dem Hinweis auf die beabsichtigte Beschlusszurückweisung zurückgenommen wird.49 Geht man einmal von der sicherlich nicht unrealistischen Schätzung aus, dass nach dem Hinweis auf die beabsichtigte Beschlusszurückweisung (§ 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO) mindestens so viele Verfahren durch Zurücknahme der Berufung erledigt werden wie durch förmlichen Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO 50 und rechnet man 46
Vgl. Krüger NJW 2008, 945 ff. Greger JZ 2004, 805, 816; Nassall NJW 2008, 3390 ff. 48 Die Zahlen der Vorjahre unterscheiden sich hiervon – ungeachtet einiger Unterschiede – nicht wesentlich. 49 Die Statistik erfasst diese Verfahren nur unter der Rubrik „Zurücknahme der Berufung“. 50 Man sollte meinen, dass die meisten Berufungen nach einem entsprechenden Hinweis aus Kostengründen und im Hinblick auf § 522 Abs. 3 ZPO zurückgenommen werden, wenn sich der Berufungsführer nicht die Option der Verfassungsbeschwerde offenhalten möchte. Immerhin reduzieren sich die Kosten des Berufungsverfahrens mit der Zurücknahme auf ein Viertel. Hier ist indessen Vorsicht geboten: Beispielsweise stehen beim OLG Koblenz 417 Zurückweisungsbeschlüssen nach § 522 Abs. 2 ZPO insgesamt nur 573 Zurücknahmen gegenüber. Bei anderen Oberlandesgerichten mit hoher Quote der Beschlüsse nach § 522 Abs. 2 ZPO ergibt sich ein ähnliches Bild. 47
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diese Zahl in die streitigen Erledigungen ein, gehen bei einer Reihe von Oberlandesgerichten (Bamberg, München, Nürnberg, Hamburg, Oldenburg, Koblenz, Zweibrücken) mehr als die Hälfte, teilweise sogar über 60 %, der streitigen Erledigungen auf das Konto des § 522 Abs. 2 ZPO, während der entsprechende Anteil bei anderen Oberlandesgerichten (Karlsruhe, Brandenburg, Bremen, Düsseldorf) etwa bei einem Viertel, teilweise sogar bei unter 20 %, der streitigen Erledigungen liegt. Wird darüber nachgedacht, den Zugang zur Revisionsinstanz zu erweitern, sollte zuerst an dieser Stelle Abhilfe geschaffen werden. Auch wenn die derzeitige gesetzliche Regelung in § 522 Abs. 2 keinen Anlass für durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken bietet,51 wird der Rechtsschutz heute durch die Möglichkeit der Beschlusszurückweisung zumindest in einigen OLG-Bezirk viel stärker eingeschränkt, als dies bei Schaffung des § 522 Abs. 2 ZPO vorauszusehen war. Insbesondere die massiven Unterschiede zwischen den Oberlandesgerichten nähren den Verdacht, dass § 522 Abs. 2 ZPO in erheblichem Umfang zur Steuerung des Arbeitsanfalls eingesetzt wird.52 Freilich liegt bislang kein schlüssiges Konzept vor, wie die Beschlüsse nach § 522 Abs. 2 ZPO einer Anfechtbarkeit zugeführt werden können. Die FDPFraktion hat Ende 2008 einen Gesetzentwurf eingebracht, der von den anderen Fraktionen der Opposition, nicht dagegen von der Regierungsmehrheit unterstützt worden ist:53 Er sieht vor, dass Beschlüsse nach § 522 Abs. 2 ZPO ebenso wie Verwerfungsbeschlüsse nach § 522 Abs. 1 ZPO mit der Rechtsbeschwerde angefochten werden können. Die Rechtsbeschwerde, die immer nur zu einer kassatorischen, nicht dagegen zu einer Sachentscheidung führen könnte, ist freilich nicht das richtige (Rechts-)Mittel. Im System des Zivilprozesses werden in der Sache ergehende Endentscheidungen niemals mit der Rechtsbeschwerde angefochten. Eine Neuregelung müsste sich vielmehr, einem Vorschlag Krügers 54 folgend, an der Regelung in § 130a VwGO und in anderen Prozessordnungen 55 orientieren: Dort ist bestimmt, dass das Berufungsgericht ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss über die Berufung entscheiden kann, wenn es sie einstimmig für begründet oder unbe-
51 Vgl. zuletzt BVerfG [Kammer] NJW 2008, 3419; BVerfG [Kammer] NJW 2009, 137; BVerfG [Kammer] NJW 2009, 572. 52 So bereits Greger JZ 2004, 805, 816 aufgrund der ersten Erfahrungen mit § 522 Abs. 2 ZPO. 53 BT-Drucks. 16/11457. Die erste Lesung im Bundestag hat am 5. März 2009 stattgefunden und zu einer Überweisung an den Rechtsausschuss geführt (vgl. BT-Plenarprotokolle 16/208, S. 22442C ff.). Es ist abzusehen, dass der Entwurf in der 16. Legislaturperiode nicht mehr abschließend behandelt und daher der Diskontinuität anheimfallen wird. 54 NJW 2008, 945, 947. 55 Vgl. etwa § 153 Abs. 4 i.V. mit § 158 Satz 3 SGG; vgl. ferner § 130a FGO für eine Entscheidung über die Revision ohne mündliche Verhandlung.
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gründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält; dieser Beschluss kann mit dem Rechtsmittel angefochten werden, das im Falle einer Entscheidung durch Urteil hätte eingelegt werden können (§ 130a Satz 2 i.V. mit § 125 Abs. 2 Satz 4 VwGO). In den anderen Prozessordnungen kann also auch ein Erfolg der Berufung und eine Zulassung der Revision auf diese Weise beschlossen werden. Um das Mündlichkeitsprinzip nicht über Gebühr einzuschränken, könnte die Möglichkeit der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung im Zivilprozess dagegen auf die Fälle beschränkt werden, in denen das Berufungsgericht die Berufung zurückweisen und die Revision nicht zulassen möchte.56 Damit bliebe die Möglichkeit der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung auf die Fälle beschränkt, in denen heute die Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen ist. Freilich müssten sich die tatsächlichen Grundlagen, auf die das Berufungsgericht die Zurückweisung stützt, aus dem Beschluss ergeben. Hierfür könnte indessen auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils verwiesen werden.57
56 § 522 Abs. 2 ZPO müsste dann – bei Streichung von Absatz 3 – folgende Fassung erhalten: „1Das Berufungsgerichtsgericht kann über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für unbegründet, eine Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2) nicht für geboten und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. 2Das Berufungsgericht oder der Vorsitzende hat zuvor die Parteien auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung und die Gründe hierfür hinzuweisen und dem Berufungsführer binnen einer zu bestimmenden Frist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. 3Der Beschluss nach Satz 1 ist zu begründen. 4Gegen den Beschluss findet das Rechtsmittel statt, das statthaft wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte.“ 57 Insofern würde nichts anderes gelten als im Falle des § 130a VwGO; vgl. dazu BVerwG NVwZ 2000, 73, 74.
Berufungen an den Bundesgerichtshof Friedrich-Wilhelm Engel I. Der Bundesgerichtshof ist als oberstes Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Zivil- und Strafsachen für die Entscheidung über Revisionen und revisionsähnlich ausgestaltete Rechtsbeschwerden gegen Urteile und Beschlüsse der Instanzgerichte zuständig. Daneben sehen eine Reihe von Verfahrensordnungen für besondere Sachgebiete eine Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof vor, unter anderem für das Kartellrecht, verschiedene Berufsordnungen, das Landwirtschaftsrecht und auch für staatlich verliehene gewerbliche Schutzrechte wie Patente, Marken, Gebrauchs- und Geschmacksmuster, – um nur einige wichtige Beispiele zu nennen. Allen diesen Verfahrensordnungen ist gemeinsam, dass der Bundesgerichtshof die angegriffenen Entscheidungen nur auf rechtliche Fehler überprüft. Dabei legt der Bundesgerichtshof seiner Entscheidung nur den in der Vorinstanz vorgetragenen Tatsachenstoff und die tatsächlichen Feststellungen der angegriffenen Entscheidung zu Grunde. Die Aufgabe des Bundesgerichtshofes ist die Wahrung der Rechtseinheit und die Fortbildung des Rechtes und in diesem Rahmen auch in einem gewissen Umfang die Einzelfallgerechtigkeit. Verschiedene Verfahrensordnungen machen die Zulassung oder die Zulässigkeit eines Rechtsmittels zum Bundesgerichtshof davon abhängig, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes erfordert.1 Vor diesem Hintergrund mag es in den Ohren eines Juristen befremdlich klingen, im Zusammenhang mit der Zuständigkeit und Tätigkeit des Bundesgerichtshofes überhaupt Berufungen zu erwähnen, in denen der Streitstoff auch in tatsächlicher Hinsicht geprüft und entschieden werden muss. Einem Vollblutjuristen wie unserem Jubilar und langjährigen Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof muss das als ein Sakrileg erscheinen. Dabei war er zu Beginn seiner Berufslaufbahn als Referendar und noch als junger Rechtsanwalt einige Jahre Assistent in der Kanzlei der Rechtsanwälte 1
Vgl. u.a. §§ 543, 574 ZPO, § 100 PatG.
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beim Bundesgerichtshof Prof. Dr. Dr. Philipp Möhring und Prof. Dr. Rudolf Nirk, in deren Tätigkeitsfeld das Patentrecht mit den Berufungen in Patentnichtigkeits- und Zwangslizenzsachen einen breiten Raum einnahm. Damit war er allerdings nicht befasst.
II. Die Berufungen im Patentnichtigkeits- und Zwangslizenzverfahren an das Oberste Gericht des Reiches und später der Bundesrepublik haben eine lange Geschichte. 1. Bereits das erste reichseinheitliche Patentgesetz vom 25.5.1877 sah in § 32 eine Zuständigkeit des Revisionsgerichtes – damals des Reichs-Oberhandelsgerichts – für Berufungen gegen Entscheidungen des Reichspatentamtes über Anträge auf Erklärung der Nichtigkeit und auf Zurücknahme von Patenten vor. Diese Zuständigkeit umfasste die volle Überprüfung der Entscheidung für die Erklärung der Nichtigkeit oder die Zurücknahme eines Patentes aus §§ 10 und 11 PatG 1877. Mit der Gründung des Reichsgerichtes ist diese Zuständigkeit auf das Reichsgericht übergegangen. Nach dem zweiten Weltkrieg und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde diese Zuständigkeit mit dem Wieder-Aufbau des Patentwesens auf den neu eingerichteten Bundesgerichtshof übertragen. Die Entscheidung über die Berufung in Patentnichtigkeits- und Zwangslizenzsachen ist der einzige Bereich, in dem der Bundesgerichtshof noch als Tatsacheninstanz tätig wird, nachdem die erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesgerichtshofes in Staatsschutz-Strafsachen aus § 134 GVG – die Entscheidung in Fällen des Hoch-, Verfassungs- und Landesverrates, der Parlamentsnötigung und der Parlamentssprengung und in diesem Zusammenhang begangenen Straftaten – mit dem Gesetz vom 8.9.1969 auf die Oberlandesgerichte übertragen worden ist.2 2. Die Einrichtung einer Tatsacheninstanz für Anträge auf die Erklärung der Nichtigkeit und Zurücknahme von Patenten bei dem Reichs-Oberhandelsgericht, das grundsätzlich nur als Revisionsgericht tätig war, hatte rechtsund wirtschaftspolitische Gründe. a) Während andere Staaten westeuropäischer Kultur – allen voran Großbritannien, Frankreich und die Vereinigten Staaten von Nordamerika – bereits seit langem ausgeprägte gesetzlich geregelte Patentsysteme besaßen, 2 Bundesgesetzblatt I S. 1582; ausführlich Wagner in: Festschrift für Dreher, 1977, 625, 639 bis 646; Kissel Gerichtsverfassungsgesetz, 5. Aufl. 2008, § 74 a GVG Rn. 1.
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herrschte in Deutschland zur Zeit der Reichsgründung große Rechtszersplitterung. Es gab 29 verschiedene Patentrechte mit jeweils nur territorialer Wirkung und einige Länder und Stadtstaaten ohne Patentschutz.3 Die einzige überregionale Regelung bestand in der Zollvereinsübereinkunft vom 21.9.1842. Diese überließ die Regelung von Patenten und Privilegien dem Ermessen der einzelnen Vertragsstaaten und legte lediglich einige gemeinsame Grundsätze fest, „… um eines Theils, die aus dergleichen Privilegien hervorgehenden Beschränkungen der Freiheit des Verkehrs unter den Vereinsstaaten möglichst zu beseitigen, andern Theils die Gleichmäßigkeit in den wesentlichen Punkten zu erreichen.“ 4 Dabei ging es mehr um die Sicherung des freien Handelsverkehrs als um die Förderung des Patentwesens. Es gab zwar Bestrebungen, für das Gebiet des Deutschen Bundes ein einheitliches Patentrecht einzuführen. So bestimmte die erste von der Frankfurter Nationalversammlung beschlossene aber nie in Kraft getretene Verfassung des Deutschen Reiches vom 28.03.1849 in § 164 Abs. 3 „Das geistige Eigentum soll durch die Reichsgesetzgebung geschützt werden“ und in § 40 „Erfindungspatente werden ausschließlich von Reichs wegen auf Grundlage eines Reichsgesetzes erteilt“. Bemühungen des Deutschen Bundes in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts auf Initiative von Sachsen und Württemberg auf Einführung einer einheitlichen Patentgesetzgebung scheiterten vor allem am Widerstand Preußens.5 Unter dem Einfluss der Freihandelslehre des Adam Smith war in diesen Jahren in Deutschland eine starke Antipatentbewegung in Kreisen der Volkswirtschaftslehre und der Wirtschaft entstanden, die auch bei den deutschen Regierungen Anklang fand. Auf Umfragen des preußischen Handelsministeriums vom 1853 und 1863 sprach sich die überwiegende Mehrheit der preußischen Regierungen und Handelskörperschaften gegen einen Patentschutz aus.6 Der Kongress deutscher Volkswirte 1863 3 Busse Patentgesetz, 4. Aufl., Einleitung II; Kohler Handbuch des Deutschen Patentrechts, 1900, 25; Klostermann Die Patentgesetzgebung aller Länder, 1869, 224. 4 Übereinkunft der zum Zoll- und Handels-Vereine verbundenen Regierungen wegen Ertheilung von Erfindungspatenten und Privilegien vom 21.9.1842, Preußische Gesetzessammlung für 1843, 265. 5 Gareis Das Deutsche Patentgesetz, 1877, 6; Klostermann Das Patentgesetz für das Deutsche Reich, 1877, 105. 6 Gareis aaO, S. 6; Osterrieth Lehrbuch des Gewerblichen Rechtsschutzes, 1908, 44.
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in Dresden beschloss, die vollständige Beseitigung des Patentschutzes anzustreben. Der Bundeskanzler von Bismarck des Norddeutschen Bundes beantragte noch mit einem ausführlich begründeten Schreiben vom 10.12.1868 an den Bundesrat des Norddeutschen Bundes die prinzipielle Frage zu prüfen, ob für die Zukunft überhaupt noch ein Patentschutz gewährt werden sollte. In dem Schreiben heißt es „Vom theorethischen Standpunkte aus darf es als anerkannt gelten, dass die Gewährung eines Exklusivrechts für die Ausbeutung gewerblicher Erfindungen weder durch ein vom Staat zu schützendes natürliches Recht des Erfinders geboten, noch aus der Konsequenz allgemeiner wirthschaftlicher Grundsätze abzuleiten ist.“7 Erst in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts gab es einen Stimmungsumschwung zu Gunsten des Patentschutzes, vor allem nachdem auf der Weltausstellung 1876 in Philadelphia eine starke Rückständigkeit der deutschen Industrie zu Tage getreten war, die auf den fehlenden Patentschutz zurückgeführt wurde.8 b) Bei den Vorarbeiten für das erste deutsche Patentgesetz schlugen sich die bereits überwundenen Vorbehalte gegen einen allgemeinen Erfindungsschutz in den Bestimmungen über die Nichtigkeit und die Zurücknahme von Patenten nieder. In der vom Reichskanzler einberufenen Enquete-Kommission bestand weitgehende Übereinstimmung über die „Nothwendigkeit, Schutzmaßregeln gegen etwaige gemeinschädliche Wirkungen der Patente zu treffen“, wobei unter anderem ein Lizenzzwang erörtert wurde.9 Man diskutierte weiter die Frage, ob für Patentstreitigkeiten und insbesondere für Streitigkeiten, bei denen es sich um die Gültigkeit oder Aufhebung eines Patentes handelt, die ordentlichen Gerichte zuständig sein sollten, oder ob ein besonderer Gerichtshof als „Patenthof“ eingerichtet werden soll. Klostermann als juristischer Sachverständiger hielt die Kompetenz von Gerichten für unumgänglich. Jedermann müsse befugt sein, das Patent im Rechtswege anzufechten.10 Der Regierungsentwurf vom 24.2.1877 sah dann in § 10 vor, dass das Patent für nichtig erklärt wird, wenn sich ergibt, dass die Erfindung nach §§ 1 und 2 nicht patentfähig gewesen ist und dass der Patentsucher den
7
Drucksache Nr. 107 des Norddeutschen Bundes der Session von 1868. Kohler aaO, S. 28; Heß Die Vorarbeiten zum Deutschen Patentgesetz vom 25.5.1877; Dissertation Frankfurt 1966, 71 ff. 9 Bericht der Enquete-Kommission, Bundesrathsdrucksache Nr. 70 der Session von 1876, 25. 10 Bericht der Enquete-Kommission, S. 28 unten, 51 unten, 52. 8
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wesentlichen Inhalt seiner Anmeldung einem anderen ohne Einwilligung entnommen hat. Nach § 11 sollte das Patent nach Ablauf von zwei Jahren zurückgenommen werden können, – wenn der Patentsucher sich weigert, zur Benutzung der Erfindung im Inland die Erlaubnis zu erteilen, obwohl ihn dafür unter genügender Sicherheit eine angemessene Vergütung angeboten wird oder – wenn der Patentinhaber es unterlässt im Inlande die Erfindung in einer dem inländischen Bedarfe genügenden Weise zur Ausführung zu bringen oder bringen zu lassen. Für die Erklärung der Nichtigkeit oder Zurücknahme sah der Regierungsentwurf ein zweistufiges Verfahren vor – in erster Instanz nach §§ 27 und 28 einen Antrag an das Patentamt, den im Falle der Entnahme nur der Verletzte und im Übrigen jedermann stellen konnte, – gegen die Entscheidungen des Patentamtes wurde nach § 29 die Berufung an das Reichs-Oberhandelsgericht gegeben. Die Motive heben neben der Bedeutung des Patentschutzes hervor, als allgemeiner Gesichtspunkt habe der Gestaltung des Entwurfs die Voraussetzung zu Grunde gelegen, dass auch für die Regelung des Schutzes der Erfindungen die allgemeinen Verkehrsinteressen in erster Reihe stehen, mit welchen das Interesse des Erfinders keineswegs immer zusammenfällt.11 In diesem Sinne betonen die Einzelbegründungen das öffentliche Interesse an einer nachträglichen Prüfung und Vernichtung eines zu Unrecht erteilten Patentes12 und den Zweck der Zurücknahme, einer missbräuchlichen Patentbenutzung entgegenzuwirken.13 Das Verfahren wegen Vernichtung oder Zurücknahme eines Patentes finde weniger in dem Schutz von Privatinteressen als in Rücksichten auf das Gemeinwohl seine Rechtfertigung, auch wenn es nur auf Antrag eingeleitet werde.14 Das Hauptverfahren habe den Zweck, über die Aufrechterhaltung eines Patentes die endgültige Entscheidung zu geben. Da die Entscheidung über den Fortbestand oder die Aufhebung von Vermögensrechten bestimme, die nicht selten eine große Bedeutung haben, sei das Verfahren strenger geregelt als das Patenterteilungsverfahren und auch förmlicher Beweis über die streitigen Tatsachen aufzunehmen. In zweiter Instanz weise der Entwurf die Ent11 12 13 14
Aktenstück des Deutschen Reichstages Nr. 8, S. 17 Abs. 3 am Ende. Einzelbegründung zu § 10, Aktenstück Nr. 8, S. 21 rechte Spalte. AaO, S. 22 linke Spalte Abs. 2 und 3, rechte Spalte Abs. 2. Einzelbegründung zu § 27, aaO, 25 Abs. 2.
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scheidung an denjenigen Gerichtshof, der den Beteiligten die meiste Gewähr für eine dem Gesetz entsprechende Entscheidung biete.15 Aus diesen Gründen ist das zweitinstanzliche Verfahren als Berufungsverfahren mit voller Überprüfung auch der tatsächlichen Grundlagen für die Rechtsbeständigkeit des streitigen Patentes ausgestaltet worden. Dementsprechend sah die auf Grund der Ermächtigung in § 29 Abs. 3 vom Reichs-Oberhandelsgericht entworfene und durch Kaiserliche Verordnung mit Zustimmung des Bundesrates festgestellte Verfahrensordnung die Aufklärung des Sachverhalts nach freiem Ermessen des Reichs-Oberhandelsgerichtes und die Erhebung von Beweisen und Hinzuziehung von Sachverständigen vor.16 Wegen der mit dem Verfahren wegen der Nichtigkeit oder Zurücknahme von Patenten verbundenen öffentlichen Interessen wurde das Berufungsverfahren von Anfang an als ein beim Reichs-Oberhandelsgericht – später beim Reichsgericht – angesiedeltes Verwaltungsstreitverfahren verstanden.17 Als Gericht zur Überprüfung der erteilten Patente auf ihre Schutzfähigkeit kam nur das Reichs-Oberhandelsgericht oder ein anderes für Patentsachen neu zu gründendes reichsunmittelbares Gericht in Betracht, da Patente nach dem neuen Patentgesetz von einer Reichsbehörde für das ganze Hoheitsgebiet des Deutschen Reiches erteilt werden sollten und man daher die Überprüfung des Patenterteilungsaktes auf die Voraussetzungen für den Patentschutz schwerlich einem Landgericht oder Oberlandesgericht eines reichsangehörigen Landes übertragen konnte. 3. Bei den im Jahre 1886 eingeleiteten Vorarbeiten zur Revision des Patentgesetzes hat die Reichsregierung der zur Beratung hinzugezogenen EnqueteKommission unter anderem die Frage Nr. 18 vorgelegt, „Soll im Nichtigkeitsverfahren die Feststellung des Patentamts in Betreff der Frage, ob der Gegenstand des angefochtenen Patents mit einem veröffentlichten oder offenkundig benutzten Gegenstande im technischen Sinne identisch sei, oder diesen gegenüber einer Erfindung enthalte, der Anfechtung und Nachprüfung in der Berufungsinstanz entzogen werden?“. Diese Frage war damit begründet, dass die Prüfung und Entscheidung dieser Fragen in der Mehrzahl der Fälle ein Maß technischer Vorkenntnisse voraussetzt, welches dem lediglich aus juristisch gebildeten Mitgliedern zusam15
Einzelbegründung zu §§ 28, 29, aaO, S. 25 rechte Spalte unten, 26 linke Spalte oben. §§ 5, 7, 8 und 9 der Verordnung betreffend das Berufungsverfahren beim ReichsOberhandelsgericht in Patentsachen vom 1.5.1878. 17 Bericht der Reichstagskommission zum Entwurf des Patentgesetzes, Aktenstück Nr. 144 des Deutschen Reichstages, S. 408 rechte Spalte unten, 412 linke Spalte; Kohler Handbuch des Deutschen Patentrechts, 1900, 384 ff, 811 ff und 325 ff; Klauer-Möhring Patentgesetz, 1. Aufl. 1936, § 37 PatG Anm. 1. 16
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mengesetzten Reichsgericht nicht zu Gebote steht. Die hieraus erwachsenen Schwierigkeiten seien schon vor Jahren vom Reichsgericht selbst mit dem Antrage zur Sprache gebracht worden, die bestehenden Vorschriften in dem Sinne abzuändern, dass die Entscheidung der tatsächlichen, insbesondere technischen Fragen von der Judikatur des Reichsgerichts ausgeschlossen werde.18 Die Enquete-Kommission sah diese Frage als erledigt an, nachdem der in der Enquete als Sachverständiger zugezogene Reichsgerichtsrat Dr. Bolze ausdrücklich im Namen des mit den Patentsachen beim Reichsgericht befassten Senats bezeugt hatte, dass im Schoße desselben nach den inzwischen gemachten Erfahrungen und der in der Behandlung der fraglichen Sachen gewonnenen Übung die jenem Antrage zu Grunde liegende Auffassung nicht mehr gehegt werde.19 Daneben hat die Enquete-Kommission aber wieder die Frage erörtert, ob wegen beantragter Nichtigkeit oder Zurücknahme eines Patentes ein Patentgerichtshof gebildet werden soll, der in zwei Instanzen vorbehaltlich der Revision an das Reichsgericht erkennt und mit Mitgliedern besetzt ist, die die Befähigung zum Richteramt besitzen und mit Mitgliedern, die in einem Zweig der Technik erfahren sind.20 Diese Diskussionen führten zu keinen Änderungen. In den diesbezüglichen Erörterungen behandelte die Kommission auch das Problem, die Stellen mit geeignetem Personal zu besetzen. Die Schwierigkeit liege darin, „dass die Behandlung der Patentsachen eine nicht geringe Geisteskraft, scharfe Auffassung und ein gereiftes Urteilsvermögen voraussetzt“, was für die zur Mitwirkung berufenen Juristen wegen des ihrem Verständnis nur unvollkommen zugänglichen technischen Elementes etwas Unbefriedigendes und Ermüdendes habe, während für Techniker, die neben den nötigen gründlichen Fachkenntnissen die hier vorauszusetzenden geistigen Eigenschaften besitzen, sich im Allgemeinen in den Berufskreisen des Lehramtes, der Staatsverwaltung und in der Industrie dankbarere und lohnendere Lebensaufgaben finden.21 Im revidierten Patentgesetz vom 7.4.1891 wurden die Bestimmungen des ersten Patentgesetzes über das Nichtigkeits- und Zurücknahmeverfahren mit einer ersten Instanz vor dem Reichspatentamt und einer Berufung an das Reichsgericht entsprechend der Empfehlung der Enquete-Kommission vom 1887 beibehalten. Sie blieben auch bei der nächsten Revision des Patentrechts mit dem Patentgesetz vom 5.5.1936 und beim Wiederaufbau des Patentwesens nach dem zweiten Weltkrieg unverändert. 18
Aktenstück des Bundesraths Nr. 83 der Session von 1886, S. 18 und 28. Bericht der Enquete-Kommission zur Revision des Patentgesetzes vom 9.3.1887, S. 41, 42. 20 Bericht der Enquete-Kommission, S. 48 ff. 21 AaO, S. 60. 19
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Es wurde lediglich mit dem Patentgesetz von 1891 der Antrag auf Nichtigerklärung auf eine Frist von fünf Jahren ab Bekanntmachung der Patenterteilung beschränkt 22 und die Zuständigkeit der Nichtigkeitssenate und des Reichsgerichts mit der Einführung der Zwangslizenz durch die Novelle vom 6.6.1911 auf Zwangslizenz-Verfahren erweitert.23 Die fünfjährige Ausschlussfrist für Nichtigkeitsanträge wurde während des zweiten Weltkrieges im Jahre 1941 wieder beseitigt.24 Einen größeren Einschnitt brachte erst das sechste Überleitungsgesetz vom 23.3.1961 mit der verfassungsrechtlich gebotenen Gründung des Bundespatentgerichtes.25 Die erstinstanzliche Zuständigkeit für Nichtigkeits-, Zurücknahme- und Zwangslizenz-Verfahren wurde auf das Bundespatentgericht übertragen.26 Gegen die Urteile des Bundespatentgerichtes gab es unverändert die Berufung an den Bundesgerichtshof.27 4. Nach 1891 und auch bei der Gründung des Bundespatentgerichtes und in der Zeit danach ist das Berufungsverfahren vor dem Reichsgericht und später vor dem Bundesgerichtshof nicht mehr in Frage gestellt worden. Das Verfahren hatte sich in der Praxis bewährt und der für Patentsachen zuständige Senat hatte gelernt, sich mit Hilfe von Sachverständigen auch in komplizierten technischen Sachverhalten zurecht zu finden. Es fanden sich immer technisch interessierte engagierte Richter, die sich gerne mit der Materie des Patentrechts befassten. Der ständige Umgang des Senates mit technischen Sachverhalten im Nichtigkeitsverfahren förderte auch die Erfahrungen und das technische Verständnis des Senates und wirkte sich damit positiv auf die Verhandlung und Entscheidung von Revisionen in Patentverletzungssachen und Rechtsbeschwerden gegen Beschwerdeentscheidungen des Bundespatentgerichtes aus.28 Letztere waren dem Bundesgerichtshof mit dem sechsten Überleitungsgesetz übertragen worden, um eine einheitliche Rechtsprechung zu den Grundfragen des Patentrechts in allen patentrechtlichen Verfahren sicher zu stellen.29 Nach der Gründung des Europäischen Patentamtes in München und der Luxemburger Konferenz von 1975 und dem Abschluss des Übereinkommens über das Europäische Patent für den Gemeinsamen Markt (GPÜ) vom 15.12.1975 trat Pakuscher in diesem Zusammenhang mit dem Vorschlag hervor, in Verletzungssachen die Nichtigkeitswiderklage zuzulassen und in 22
§ 28 Abs. 2 PatG 1891. Pietzcker Patentgesetz 1927, § 11 PatG Anm. 1. 24 Verordnung zur Änderung des Patentgesetzes vom 23.10.1941, Blatt PMZ 1941, 139. 25 BlPMZ 1961, 124 ff. 26 §§ 37 bis 41 PatG 1961. 27 §§ 42 bis 42l PatG 1961. 28 Rogge in: Festschrift für Odersky, 1996, 639 ff, 642. 29 §§ 41p ff PatG 1961; Amtliche Begründung zum sechsten Überleitungsgesetz, Einzelbegründung zum Rechtsbeschwerdeverfahren, Blatt PMZ 1961, 140 ff, 156. 23
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einem einheitlichen Prozess über die Rechtsbeständigkeit und die Verletzung zu entscheiden. Die Berufungen sollten beim Oberlandesgericht München konzentriert werden und nach dem Vorbild der Baulandkammern unter Mitwirkung von zwei technischen Richtern des Bundespatentgerichts entschieden werden. Damit knüpfte er an die Beratungen der zweiten Enquete-Kommission von 1886 an.30 Erst in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kamen Überlegungen auf, ob das Berufungsverfahren in Patentnichtigkeitssachen zum Bundesgerichtshof noch zeitgemäß ist und mit der Aufgabe des Bundesgerichtshofes vereinbar ist, als Revisionsgericht in erster Linie zur Sicherung der Rechtseinheit und Fortbildung des Rechtes zu dienen.31 Ein Grund für diese Überlegungen war die ständig zunehmende Belastung des Bundesgerichtshofes mit Revisionsverfahren und der vergleichsweise sehr hohe Arbeitsaufwand für die Verhandlung und Entscheidung von Nichtigkeitsberufungen und deren Vorbereitung. Andererseits wurde gesehen, dass im Nichtigkeitsverfahren auf zwei Tatsacheninstanzen nicht verzichtet werden kann und die Einrichtung einer erstinstanzlichen Nichtigkeitsabteilung beim Deutschen Patentamt ähnlich wie die Gebrauchsmusterabteilung im Gebrauchsmuster-Löschungsverfahren sich aus rechtlichen Gründen schwer verwirklichen ließ, da das Bundespatentgericht und der Bundesgerichtshof inzwischen auch für Nichtigkeitsklagen gegen europäische Patente zuständig geworden waren32 und man die Erteilungsbeschlüsse und Einspruchsentscheidungen des Europäischen Patentamtes schwerlich vom Deutschen Patentamt überprüfen lassen konnte. In der Folgezeit gab es verschiedentlich unveröffentlichte Bestrebungen zur Reform des Berufungsverfahrens, weil ab Mitte der neunziger Jahre die Eingänge an Nichtigkeits-Berufungen beim Bundesgerichtshof auf ein Maß anstiegen, die der für Patentsachen zuständige X. Zivilsenat neben seinen anderen Aufgaben nicht mehr bewältigen konnte. Da jedes Jahr erheblich mehr Berufungen eingingen als erledigt werden konnten, baute sich ein Rückstand an nicht erledigten Berufungssachen auf, der die Verfahrensdauer bis zur Verhandlung und Entscheidung über die Berufung auf nicht mehr hinnehmbare vier bis fünf Jahre verlängerte. Das hatte seine Ursache unter anderem paradoxer Weise in dem international guten Ruf der deutschen Gerichtsbarkeit sowohl in Patentverletzungssachen als auch der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in Patentnichtigkeitssachen. Deshalb zogen es nicht wenige ausländische Unternehmen vor, Streitigkeiten über die Verletzung europäischer Patente und/oder Nichtigkeitsklagen gegen europäische Patente zunächst vor den deutschen Ge30 31 32
Pakuscher GRUR 1977, 371. Rogge in: Festschrift für Odersky, 639 ff. Artikel 2 Abs. 2 und 139 Abs. 2 EPÜ; § 6 IntPatÜG.
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richten anhängig zu machen. Weitere Ursachen lagen in der Prüfungstätigkeit des Europäischen Patentamtes, die bei einem Verletzungsstreit häufig auch eine Nachprüfung der Schutzfähigkeit in einem Nichtigkeitsverfahren erforderlich machte und in der Rechtsprechung des X. Zivilsenates, die im Verletzungsverfahren eine Auslegung des Patentanspruchs unter seinem Wortlaut strikt untersagte, so dass der Anwalt häufig noch in Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde zu einer Nichtigkeitsklage raten musste.33 Diese zunehmende Belastung des X. Zivilsenates mit anhängigen Nichtigkeits-Berufungen und die damit verursachte nicht mehr hinnehmbare Dauer der Berufungsverfahren veranlasste den Vorsitzenden des X. Zivilsenates, notwendige Maßnahmen zur Reform des Berufungsverfahrens anzuregen. In der gleichen Zeit wurden Gesetzentwürfe erarbeitet und veröffentlicht, die ein reines Revisionsverfahren vorschlugen.34 In vielen Diskussionsrunden mit Fachleuten der beteiligten Kreise und den zuständigen Referenten des Bundesjustizministeriums setzte sich schließlich die Auffassung durch, dass auf ein echtes Berufungsverfahren vor dem Bundesgerichtshof mit der Möglichkeit zur Überprüfung und Entscheidung auch des Tatsachenstoffes nicht verzichtet werden kann. Das Berufungsverfahren vor dem Bundesgerichtshof mit der vollen Überprüfung der tatsächlichen Voraussetzungen für die Schutzfähigkeit und für Zwangslizenz-Verfahren wird auch heute noch damit gerechtfertigt, dass das Patent ein privates Monopol für das ganze Bundesgebiet erteilt, welches jedem Bundesbürger seine gewerbliche Handlungsfreiheit aus Artikel 2 GG einschränkt, und zwar in wesentlich stärkerem Umfang als jedes andere gewerbliche Schutzrecht. Denn ein erteilter Patentanspruch hat den Charakter einer Rechtsnorm.34a Es wurde ein Gesetzentwurf erarbeitet, der zur besseren Aufbereitung des Sachverhaltes einen Vorbescheid des Bundespatentgerichtes mit der Gelegenheit zur Stellungnahme vorsieht und dafür im Berufungsverfahren neuen Tatsachenvortrag und neue Patentansprüche entsprechend den Regelungen der Zivilprozessordnung stark einschränkt. Die auf die Verordnung über das Berufungsverfahren gestützte Praxis des Reichsgerichtes und die Regelung der Verwaltungsgerichtsordnung in § 87 b Abs. 3 VwGO zeigen, dass solche Präklusionen wegen verspäteten Vorbringens mit der im Verwaltungsprozess herrschenden Offizialmaxime grundsätzlich vereinbar sind. Es wird erwartet, dass der Regierungsentwurf für diese Reform des Nichtigkeitsverfahrens35 noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet wird. 33 BGH GRUR 2004, 1023 „Bodenseitige Vereinzelungseinrichtung“; BGH GRUR 2006, 399 „Rangierkatze“. 34 Meier-Beck in: Festschrift für Hirsch, S. 593. 34a BGH GRUR 2008, 887 „Momentanpol II“; BGH vom 31.3.2009 – X ZR 95/05 – „Straßenbaumaschine“ Tz 16. 35 Bundestagsdrucksache 757/08.
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III. Interessant ist es in diesem Zusammenhang, die Entwicklung des Verfahrensrechtes für das Nichtigkeits- und Zwangslizenz-Berufungsverfahren und dessen praktische Anwendung durch das Reichsgericht und den Bundesgerichtshof zu verfolgen. 1. Das erste Patentgesetz vom 25.5.1877 enthielt für das Berufungsverfahren lediglich eine einzige Bestimmung „§ 32 Gegen die Entscheidungen des Patentamts (§§ 28, 29) ist die Berufung zulässig. Die Berufung geht an das Reichs-Oberhandelsgericht. Sie ist binnen sechs Wochen nach der Zustellung bei dem Patentamte schriftlich anzumelden und zu begründen.
… Im Übrigen wird das Verfahren vor dem Gerichtshofe durch ein Regulativ bestimmt, welches von dem Gerichtshofe zu entwerfen ist und durch Kaiserliche Verordnung unter Zustimmung des Bundesraths festgestellt wird.“ Diese Bestimmungen blieben bei den Revisionen des Patentgesetzes von 1891 und 1936 bis zum sechsten Überleitungsgesetz von 1961 inhaltlich unverändert in Kraft. Lediglich die Zuständigkeit für das Berufungsverfahren und für den Erlass der Verfahrensordnung wurde an die veränderten staatsrechtlichen Verhältnisse angepasst. 2. Die auf Grund der Ermächtigung in § 32 Abs. 3 PatG 1877 erlassene Kaiserliche Verordnung betreffend das Berufungsverfahren beim ReichsOberhandelsgericht in Patentsachen vom 1.5.1878 36 bestimmte in den Kernbestimmungen „§ 1 Die in Gemäßheit des § 32 Absatz 1 des Patentgesetzes vom 25.05.1877 bei dem Patentamt einzureichende Berufungsschrift muss die Berufungsanträge, sowie die Angabe der neuen Thatsachen und Beweismittel enthalten, welche der Berufungskläger geltend machen will. §3 Ist die Berufung zulässig, so wird die Berufungsschrift von dem Patentamt dem Berufungsbeklagten mit der Auflage mitgeteilt, seine schriftliche Erklärung binnen vier Wochen nach der Zustellung bei dem Patentamt einzureichen. 36
Patentblatt 1878, S. 107.
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Die Erklärung muss die Gegenanträge sowie die Angabe der neuen Thatsachen und Beweismittel enthalten, welche der Berufungsbeklagte geltend machen will. §5 Das Reichs-Oberhandelsgericht trifft nach freiem Ermessen die zur Aufklärung der Sache erforderlichen Verfügungen. Beweiserhebungen finden, soweit die Umstände nicht ein anderes erfordern, durch Vermittelung des Patentamts statt. §7 Die Geltendmachung neuer Thatsachen und Beweismittel im Termin ist nur insoweit zulässig, als sie durch das Vorbringen des Berufungsbeklagten in der Erklärungsschrift veranlasst wird. Das Gericht kann auch Thatsachen und Beweise berücksichtigen, mit welchen die Parteien ausgeschlossen sind. Eine noch erforderliche Beweisaufnahme erfolgt nach der Bestimmung in § 5.“ Die Motive der Verordnung weisen nochmals auf das im Verfahren wegen Erklärung der Nichtigkeit oder Zurücknahme des Patentes beteiligte öffentliche Interesse hin. Der Gegenstand der Entscheidung des Berufungsgerichtes müsse sich zwar innerhalb der durch die Parteianträge gezogenen Grenzen halten. Das Berufungsgericht könne aber nicht an das tatsächliche Vorbringen und die Beweisanträge der Parteien gebunden werden. Die Wahrung des öffentlichen Interesses erfordere, dass das Berufungsgericht von dem Parteivorbringen unabhängig ist. Ihm sei daher das Recht einzuräumen, jede ihm erheblich erscheinende Tatsache zu berücksichtigen, gleichviel ob und bzw. in welchem Stadium des Verfahrens sie von einer Partei geltend gemacht worden ist und alle zur Aufklärung des Sachverhalts dienlichen Beweiserhebungen vorzunehmen. Aus diesem Prinzip folge aber nicht mit Notwendigkeit, dass auch den Parteien ohne Beschränkung das Recht zuzugestehen sei, neue Tatsachen und Beweismittel in zweiter Instanz bis zur Verkündung des Urteils geltend zu machen. Dies würde nicht nur mit den für die Regelung des Berufungsverfahrens überhaupt empfohlenen Grundsätzen in Widerspruch treten, wonach die Erklärungen der Parteien in den Schriftsätzen die Basis bilden sollen, sondern auch zu den größten Verschleppungen Gelegenheit bieten, insbesondere nicht selten mehrmalige Vertagung der terminlichen Verhandlung notwendig machen. Zur Verhütung solcher Weiterungen sei es unerlässlich als Regel aufzustellen, dass neue Tatsachen und Beweismittel in den den Parteien zuständigen Schriften gegeben werden müssen und somit keiner Partei das Recht zusteht,
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auf Erörterung erst später vorgebrachter Tatsachen oder auf Vornahme erst später beantragter Beweiserhebungen zu bestehen. Von dieser Regel sei nur zu Gunsten des Berufungsklägers eine Ausnahme zuzulassen, damit dieser Gelegenheit erhalte, gegenüber den neuen Tatsachen und Beweisen seine Rechte zu wahren, welche der Berufungsbeklagte etwa erst in der Erklärungsschrift vorbringt. In anderen Fällen sei ein Bedürfnis für die Parteien nicht anzuerkennen, noch nach Ablauf der für die Einreichung der Schriftsätze bestimmten Fristen gehört zu werden. Regelmäßig sei ihnen schon in erster Instanz Gelegenheit und Veranlassung gegeben, von allen ihnen zu Gebote stehenden Angriffs- und Verteidigungsmitteln umfassenden Gebrauch zu machen. Zur Sammlung und Begründung des zur Berufung zu benutzenden tatsächlichen Materials stehe dem Berufungskläger die sechswöchige Berufungsfrist zu, während andererseits dem Berufungsbeklagten zur Begründung seiner Gegenanträge eine vierwöchige Frist gegeben ist, welche in der Regel für ihn genügen werde, sich über die erforderlichen Tatsachen und Beweismittel zu informieren. Für die ausnahmsweisen Fälle aber, in denen die Berücksichtigung eines nachträglichen Vorbringens angemessen erscheinen kann, bietet die dem Berufungsgericht zustehende Berechtigung eine ausreichende Hilfe, nach freiem Ermessen die zur Aufklärung der Sache dienlichen Verfügungen zu treffen.37 3. Auch diese Bestimmungen blieben bei den Revisionen des Patentrechts und den dazu ergangenen Verordnungen über das Berufungsverfahren bis zur Gründung des Bundespatentgerichts mit dem sechsten Überleitungsgesetz von 1961 inhaltlich unverändert in Kraft. Sie wurden mit der Bestimmung § 7 Abs. 4 ergänzt, dass Parteien zu von Amts wegen berücksichtigten entscheidungserheblichen Umständen anzuhören sind. 1936 wurde mit § 13 ein Vertretungsrecht aller deutschen Rechtsanwälte und Patentanwälte eingeführt, nachdem bis dahin nur die beim Reichsgericht zugelassenen Rechtsanwälte zur Vertretung befugt waren. Diese Kernbestimmungen der Verordnung über das Berufungsverfahren wurden mit dem sechsten Überleitungsgesetz in das Patentgesetz aufgenommen38 und sind darin weitgehend noch heute als §§ 111, 113, 115 und 117 PatG enthalten.39
37 Patentblatt 1878, 109, 110; zitiert auch bei Rosenthal Das Deutsche Patentgesetz, 1881, 373, 374. 38 BlPMZ 1961, 124, 131, 132; Amtliche Begründung aaO, 159. 39 § 1 VO 1878 wurde § 42a PatG und ist heute § 111 PatG; § 3 VO 1878 wurde über § 42c PatG zu § 113 PatG; § 5 VO 1878 wurde über § 42e PatG zu § 115 PatG und § 7 VO 1878 über § 42g PatG zu § 117 PatG.
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Mit dem sechsten Überleitungsgesetz wurde lediglich aus § 42 PatG 1936 40 die Regelung herausgenommen, dass die Berufung in der Berufungsfrist zu begründen ist, weil in der Praxis eine fehlende Begründung nach ständiger Rechtsrechung sanktionslos geblieben ist.41 Mit dem Patentänderungsgesetz vom 16.7.1998 wurde die Einlegung und Begründung der Berufung neu geordnet und mit der Neufassung von § 111 PatG eine Berufungsbegründung innerhalb einer verlängerbaren Begründungsfrist zwingend vorgeschrieben.42 4. Die in den Motiven der Verordnung von 1878 erläuterten Grundsätze wurden in der Rechtsprechung des Reichsgerichts bis zum zweiten Weltkrieg praktiziert. Eine Berufungsbegründung war nicht notwendig; ihr Fehlen machte die Berufung nicht unzulässig.43 Zwingende Voraussetzung für die Zulässigkeit der Berufung waren die innerhalb der Berufungsfrist gestellten Berufungsanträge. Dafür genügte es, wenn die Berufungsschrift das Begehren des Berufungsklägers erkennen ließ; ein förmlicher Antrag brauchte nicht gestellt zu werden.44 Mit den Berufungsanträgen wurde der Gegenstand des Berufungsverfahrens festgelegt; eine Erweiterung der Berufungsanträge wurde nicht zugelassen.45 Neue Tatsachen und Beweismittel mussten der Berufungskläger innerhalb der sechswöchigen Berufungsfrist und der Berufungsbeklagte innerhalb der vierwöchigen Erklärungsfrist aus § 3 der Verordnung vorbringen. Die Parteien hatten keinen Anspruch darauf, dass später vorgetragene Tatsachen und Beweismittel berücksichtigt werden.46 Das Reichsgericht sollte nicht noch bis zur Schlussverhandlung mit neuem Prozessstoff befasst werden können.47 Eine unselbstständige Anschlussberufung wurde bis zur Entscheidung des Reichsgerichts vom 20.2.1938 48 für unzulässig gehalten, weil das Reichsgericht nicht bis zum letzten Augenblick mit neuem Prozessstoff belastet werden dürfe.49
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Ursprünglich § 32 PatG 1878. BlPMZ 1961, 131; Löscher in: Benkard, Patentgesetz 4. Aufl. § 42 PatG Rn. 8; § 42a PatG Rn. 1. 42 BlPMZ 1998, 382 ff, 385 mit Amtlicher Begründung S. 406. 43 Isay Patentgesetz und Gebrauchsmustergesetz, 6. Aufl. 1932, § 33 PatG Anm. 2 am Ende. 44 Isay aaO, § 3 PatG, Rn. 2. 45 Isay aaO, § 33 PatG, Anm. 4; Klauer-Möhring Patentgesetz, 1. Aufl. 1936, § 42 PatG, Anm. 4. 46 Isay aaO, Anm. 3; Klauer-Möhring aaO, § 42 PatG, Anm. 4. 47 Isay aaO, Anm. 3. 48 RGZ 158, 1. 49 Isay aaO § 33 PatG Anm. 3; RG Patentblatt 1887, 277; RG GRUR 1935, 738; RGZ 158, 1, 3. 41
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Diese Präklusion für neuen Tatsachenvortrag hatte ihre Rechtsgrundlage in den §§ 1 und 7 der Verordnung über das Berufungsverfahren. Das Reichsgericht konnte aber gemäß § 5 der Verordnung nach freiem Ermessen nach Ablauf der Berufungs- oder Erklärungsfrist vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zulassen.50 In der Regel gewährte das Reichsgericht auf Antrag Fristen zur weiteren tatsächlichen Begründung der Berufung.51 5. Das bereits erwähnte Urteil des Reichsgerichts vom 20.2.1938 52 leitete eine grundlegende Änderung der Auffassungen über die Auslegung und Anwendung der Vorschriften über das Berufungsverfahren ein, indem es entgegen der bis dahin ständigen Rechtsprechung eine Anschlussberufung nach Ablauf der damals geltenden 6-wöchigen Berufungsfrist aus § 42 PatG 1936 zuließ. Das begründete es mit dem Hinweis auf die entsprechenden Vorschriften der Zivilprozessordnung und der noch höheren Bedeutung, die der Aufrechterhaltung oder Beseitigung eines Schutzrechts für die Allgemeinheit zukomme. Die Bestimmungen der §§ 1 und 7 der Verordnung in Verbindung mit den Bestimmung der Zivilprozessordnung über verspätetes Vorbringen stellten ausreichende Mittel zur Verfügung, um das nachträgliche Vorbringen in sachgemäßen Grenzen zu halten.53 Der Bundesgerichtshof entwickelte diese Rechtsprechung mit seinem Urteil vom 24.5.1955 fort. Er leitete aus dem Urteil des Reichsgerichts vom 20.2.1938 ab, auch eine Erweiterung des Klageantrages ist im Patentnichtigkeitsstreit in der Berufungsinstanz nach Ablauf der Berufungsfrist zulässig. Die Auffassung des Reichsgerichtes, dass im Nichtigkeitsverfahren mit Rücksicht auf die Eigenarten dieses Verfahrens der Streitstoff für die Berufungsinstanz endgültig durch die in der Berufungsfrist gestellten Anträge umgrenzt werden müssen, habe ihre Bedeutung verloren, nachdem das Reichsgericht und ihm folgend auch der Bundesgerichtshof dazu übergegangen sind, die Anschlussberufung auch für das Nichtigkeitsverfahren zuzulassen. Die Bestimmung § 1 der Verordnung über das Berufungsverfahren stehe dem nicht entgegen. Dass die Berufungsschrift die Berufungsanträge enthalten müsse, schließe eine nachträgliche Erweiterung der Berufungsanträge ebenso wenig aus, wie im ordentlichen Zivilprozess.54 Damit war endgültig der das Berufungsverfahren seit 1878 beherrschende Grundsatz aufgegeben, dass der Gegenstand des Berufungsverfahrens mit den innerhalb der Berufungsfrist und Erwiderungsfrist vorzulegenden Be50 § 5 der Verordnung; Isay aaO, § 33 PatG, Anm. 4; Klauer-Möhring aaO § 42 PatG, Anm. 4. 51 Klauer-Möhring aaO, § 42, Anm. 4. 52 RGZ 158, 1. 53 RGZ 158, 1 ff, 4, 5. 54 BGHZ 16, 305, 307 entgegen RG-GRUR 1932, 584, 585.
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rufungsanträgen festgelegt werden muss und die Berufung bei fehlenden Berufungsanträgen als unzulässig verworfen werden muss. Die Vorschriften, dass die Berufungsschrift Berufungsanträge enthalten muss, wenn sich das Berufungsbegehren nicht aus dem Zusammenhang der Berufungsschrift erschließen lässt, galten zwar weiter und wurden mit dem 6. Überleitungsgesetz von 1961 sogar noch als §§ 42a und § 42b Abs. 1 PatG in das Patentgesetz übernommen. Sie hatten aber lediglich eine rein formale Bedeutung für die Formwirksamkeit der Berufungsschrift.55 Diese überflüssige Formschrift wurde erst mit der Neuordnung der Regelungen über die Einlegung und Begründung der Berufung und die Neufassung der §§ 110 bis 113 PatG durch das Patentänderungsgesetz vom 16.07.1998 beseitigt.56 Fortan konnte jede Partei bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung Anschlussberufung einlegen und/oder ihre Klage- oder Berufungsanträge erweitern. Insbesondere konnte die Beklagte bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung das Patent mit neuen eingeschränkten Patentansprüchen verteidigen oder auch – wenn die Prozesssituation günstig war – von einer beschränkten Verteidigung auf eine unbeschränkte Verteidigung des Patentes zurückgehen, sofern die beschränkte Verteidigung nicht ausnahmsweise als Berufungsrücknahme zu werten war.57 Von diesen Möglichkeiten wurde in der Praxis häufig Gebrauch gemacht. Das hat zu einer erheblichen Mehrbelastung des mit Berufungssachen betrauten X. Zivilsenates geführt, da die Vorbereitung der Berufungsverhandlung nur noch bedingt für die Entscheidung über die Schutzfähigkeit der neu vorgelegten Ansprüche verwertet werden konnte. Der Regierungsentwurf für die Reform des Nichtigkeits-Verfahrens sieht in § 116 daher die Zulässigkeit einer Verteidigung mit einer geänderten Fassung des Patentes nur unter sehr eingeschränkten Bedingungen vor.58 Die eingeschränkten Bedingungen erscheinen allerdings als zu streng. Denn einerseits muss die Verteidigung des Patentes nach dem Ergebnis des erstinstanzlichen Verfahrens und der Begründung des Urteils des Bundespatentgerichtes neu geordnet werden. Dazu gehört notwendigerweise auch die Verteidigung mit einer eingeschränkten Fassung der Patentansprüche, wenn sich die in erster Instanz verteidigte Fassung bei der Überprüfung des Standes der Technik als zu weit erweist. Dem berechtigten Anliegen des Bundesgerichtshofes, im Berufungsverfahren nicht mit einem wechselnden Streitstoff konfrontiert zu werden, ist Genüge getan, wenn die verteidigten
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Löscher in: Benkard, aaO § 42a PatG Anm. 1. BlPMZ 1998, 382, 385, Amtliche Begründung 405, 406. 57 Keukenschrijver Patentnichtigkeitsverfahren, Rn. 167 mit Nachweisen; Kühnen in: Schulte, Patengesetz, 8. Aufl., § 117 PatG Rn. 5; BGH GRUR 1965, 480 „Harnstoff“; GRUR 2004, 583 „Tintenstandsdetektor“, GRUR 2007, 578 „rückspülbare Filterkerze“. 58 Bundestagsdrucksache 757/08. 56
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Patentansprüche mit der Berufungsbegründung festgelegt werden, wie es seit der Regelung in § 1 der Verordnung über das Berufungsverfahren aus dem Jahre 1878 vorgeschrieben war. 6. Die Berücksichtigung neuer Tatsachen und Beweismittel unterlag von Anfang an dem Spannungsverhältnis zwischen den Vorschriften, dass die Parteien neue Tatsachen und Beweismittel in der Berufungsschrift vortragen müssen und neue Tatsachen in der Berufungsverhandlung nur insoweit geltend machen durften, als durch das Vorbringen des Berufungsbeklagten in der Erklärungsschrift veranlasst wurde 59 und andererseits das Berufungsgericht nach freiem Ermessen alle zur Aufklärung der Sache erforderlichen Verfügungen treffen musste, ohne an das Vorbringen und die Beweisanträge gebunden zu sein und auch Tatsachen und Beweis berücksichtigen konnte, mit denen die Parteien ausgeschlossen sind.60 Der Regelung in § 7 Abs. 1 Verordnung 1878 = § 117 Abs. 1 PatG 1981, nach welcher im Termin vorgebrachte neue Tatsachen und Beweismittel nur insoweit zulässig sind, als sie durch das Vorbringen des Berufungsbeklagten und der Erklärungsschrift veranlasst sind, lagen die ursprünglichen Vorstellungen über den Ablauf des Berufungsverfahrens zugrunde, dass die Berufung mit den neuen Anträgen und Beweismitteln und die fristgebundene Erklärungsschrift des Beklagten beim Reichspatentamt einzureichen sind und die Akten mit dem beiderseitigen Berufungsvortrag dann zur Anberaumung eines Verhandlungstermins und zur Verhandlung und Entscheidung an das Reichsgericht zu übersenden sind.61 Dieser Verfahrensablauf mit einem Vorverfahren beim Reichspatentamt, später beim Bundespatentgericht wurde zwar über alle Reformen hinweg auch noch nach Gründung des Bundespatentgerichtes beibehalten62 und erst mit dem zweiten Patentänderungsgesetz vom 16.7.1998 dahin modernisiert, dass die Berufung beim Bundesgerichtshof einzulegen und innerhalb einer verlängerbaren Frist zu begründen ist.63 Die bis heute als § 117 Abs. 1 PatG weiter geltende Präklusionsvorschrift aus § 7 Abs. 1 der Verordnung von 1878 passte jedoch nicht so recht für den Gang des Berufungsverfahrens, der sich in jahrzehntelanger Praxis entwickelt hat und im Ablauf vor dem Reichsgericht und später dem Bundesgerichtshof über längere Zeit hinzog.64
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§ 7 Abs. 1 VO 1878 = § 42g Abs. 1 PatG 1961 = § 117 Abs. 1 PatG 1981). §§ 5 und 7 Abs. 2 Verordnung 1878 = §§ 42e und 42g Abs. 2 PatG 1961 = §§ 115 und 117 Abs. 2 PatG 1981. 61 §§ 1 bis 4 der Verordnung von 1878. 62 §§ 110 bis 114 PatG 1981. 63 §§ 110 bis 114 PatG in der Fassung vom 16.07.1998. 64 Hesse Mitteilungen 1977, 45, 49 linke Spalte; Rogge in: Benkard 10. Aufl. § 117 PatG Rn. 1. 60
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Das Reichsgericht und später auch der Bundesgerichtshof behandelten den Vortrag neuer Tatsachen in langjähriger Praxis großzügig und ließen neue Tatsachen und Beweismittel regelmäßig zu, sofern sie innerhalb einer gewährten Nachfrist zur Begründung der Berufung vorgetragen wurden.65 Im Urteil vom 30.10.1942 sah das Reichsgericht es als unbillig an, den Berufungskläger mit Tatsachen und Beweismitteln auszuschließen, die noch vor Erstattung des schriftlichen Gutachtens durch den gerichtlichen Sachverständigen vorgetragen wurden, da hierdurch eine unbillige Verzögerung des Verfahrens nicht verursacht worden ist.66 Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Auffassung entwickelt, trotz des geltenden Untersuchungsgrundsatzes könne neues tatsächliches Vorbringen im Nichtigkeits-Berufungsverfahren in entsprechender Anwendung des § 279 ZPO bzw. in Anlehnung an § 528 Abs. 2 ZPO a.F. später §§ 530, 531 Abs. 1 ZPO n.F. zurückgewiesen werden, wenn durch seine Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und die Partei nach der freien Überzeugung des Gerichtes es in Verschleppungsabsicht oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher geltend gemacht hat.67 Ähnlich halten Rogge und Jesteadt die Zurückweisung von nachträglichem neuem Tatsachenvortrag für zulässig, wenn damit die allgemein Prozessförderungspflicht schuldhaft verletzt und der Rechtsstreit verzögert wird.68 Allerdings ist – soweit ersichtlich – von der Zurückweisung neuen Tatsachenvortrages nur sehr selten Gebrauch gemacht worden. Veröffentlicht sind nur drei einschlägige Urteile aus der Zeit zwischen 1979 und 198169, die alle drei mit grober Nachlässigkeit bzw. schuldhafter Verspätung begründet sind und ersichtlich unter dem Einfluss der strengeren Auffassung von Hesse standen.70 In der Folgezeit ist kein weiterer Fall bekannt geworden, in dem der Bundesgerichtshof neues tatsächliches Vorbringen oder Beweismittel wegen Verspätung zurückgewiesen hat, obwohl es dafür hin und wieder gute Gründe gab.
65
Klauer-Möhring 1. Aufl. 1936; § 42 PatG 1936, Anmerkung 4. RG in GRUR 1943, 119, 120; Lindenmaier 4. Aufl. 1958 § 42 PatG Rn. 18. 67 Winkler GRUR 1953, 190, 191; Löscher in: Benkard, 4. Aufl. § 42g PatG, Anmerkung 1; Nastelski in: Reimer, Patentgesetz und Gebrauchsmustergesetz, 3. Aufl. § 42g PatG Rn. 1; Hesse in: Klauer-Möhring Patentrechtskommentar 3. Aufl. §§ 42 bis 42l PatG Rn. 14; Keukenschrijver in: Busse 6. Aufl. 2003, § 117 PatG Rn. 1. 68 Rogge in: Benkard, 7. Aufl. 1981, § 117 PatG Rn. 1 und in: Benkard, 10. Aufl., § 117 PatG Rn. 1; ausführlich Jesteadt in: Festschrift für Piper 1996, 695, 706. 69 BGH GRUR 1980, 100, 101 rechte Spalte „Bodenkehrmaschine“; GRUR 1981, 183, 184 „Heuwerbungsmaschine I“ und GRUR 1981, 516, 517 „Klappleitwerk“. 70 Hesse Die Beschleunigung des Nichtigkeits-Berufungsverfahrens, GRUR 1977, 45, 49. 66
Berufungen an den Bundesgerichtshof
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Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu sehen, dass die Zurückweisung von neuem tatsächlichen Vorbringen und Beweisanträgen den Beteiligten das rechtliche Gehör abschneidet und es dafür wegen des in Art. 103 Abs. 1 GG garantierten Anspruch auf rechtliches Gehör einer gesetzlichen Grundlage bedarf. Das bisher geltende Patentgesetz enthält aber noch keine Regelung über die Zurückweisung verspäteten Vorbringens, die den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an eine Beschränkung des rechtlichen Gehörs genügt. § 87b VerwGO zeigt, dass Präklusionsvorschriften für neues Vorbringen mit dem Untersuchungsgrundsatz grundsätzlich vereinbar sind. Es kommt aber auf die Handhabung dieser Vorschriften in der Praxis an. Es ist bekannt und durch die Geschichte vieler Regelungen zur Präklusion verspäteten Vorbringens belegt, dass Gerichte sich häufig scheuen, aufgrund eines erkennbar unrichtigen Sachverhalts zu entscheiden, wenn sie bestimmtes tatsächliches Vorbringen nicht berücksichtigen dürfen. Andererseits muss in jedem streitigen Gerichtsverfahren ab einem bestimmten Zeitpunkt der Prozessstoff für das Gericht festliegen. Deshalb sind maßvoll geregelte Präklusionen nicht verzichtbar.
Die Pflicht des Gerichts zur Aufklärung des Sachverhalts nach der Rechtsprechung des VI. Zivilsenats Hans-Peter Greiner Die richterliche Pflicht zur Aufklärung (vgl. § 139 Abs. 1 bis 3 ZPO) ist vielgestaltig.1 Eine – zu Unrecht – weniger beachtete Erscheinungsform ist die Pflicht des Gerichts zur Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts.2 Von besonderer Bedeutung hierbei ist die Pflicht, von Amts wegen Unklarheiten und Unvollständigkeiten in Gutachten von Sachverständigen nachzugehen.3 Die Rechtsprechung hierzu ist zahlreich, lässt aber dennoch Fragen offen, die sich aus dem „Zusammenspiel“ von Fehlern in den Instanzen ergeben können. Mit diesen wird sich der erste Teil des Beitrags befassen. In einem zweiten Teil wird erörtert, wie neben der Verfahrensrüge einer Verletzung der gerichtlichen Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts auch die Rüge der Verletzung materiellen Rechts durch den Tatrichter im Einzelfall problematischer Kausalität im Revisionsrechtszug erfolgversprechend sein kann.
1
Vgl. etwa die Kommentierung bei Zöller/Greger ZPO, 27. Aufl., § 139 Rn. 5 ff., 15 ff. Vgl. BGH, Urt. v. 10.10.2002 – III ZR 205/01 – NJW 2002, S. 3769 = VersR 2002, S. 1521; v. 10.12.1991 – VI ZR 234/90 – NJW 1992, S. 1459 = VersR 1992, S. 722; v. 8.1.1991 – VI ZR 102/90 – NJW 1991, S. 1541 = VersR 1991, S. 467; v. 8.3.1988 – VI ZR 201/87 – NJW 1988, S. 1511 = VersR 1988, S. 495; v. 23.9.1986 – VI ZR 261/85 – NJW 1987, S. 442 = VersR 1987, S. 179; v. 19.5.1981 – VI ZR 220/79 – VersR 1981, S. 752. 3 BGH, Urt. v. 8.7.2008 – VI ZR 259/06 – NJW 2008, S. 2846 = VersR 2008, S. 1265; v. 25.11.2004 – VI ZR 8/03 – NJW 2004, S. 1452 = VersR 2004, S. 645; v. 27.3.2001 – VI ZR 18/00 – NJW 2001, S. 2791 = VersR 2001, S. 859; v. 28.4.1998 – VI ZR 403/96 – NJW 1998, S. 2735 = VersR 1998, S. 853; v. 17.2.1998 – VI ZR 42/97 – NJW 1998, S. 1784 = VersR 1998, S. 716; v. 4.3.1997 – VI ZR 354/95 – NJW 1997, S. 1638 = VersR 1997, S. 698; v. 24.9.1996 – VI ZR 303/95 – NJW 1997, S. 794 = VersR 1996, S. 1535; v. 9.1.1996 – VI ZR 70/95 – NJW 1996, S. 1597 = VersR 1996, S. 647; v. 27.9.1994 – VI ZR 284/93 – NJW 1995, S. 779 = VersR 1995, S. 195; v. 10.5.1994 – VI ZR 192/93 – NJW 1994, S. 2419 = VersR 1994, S. 984; v. 7.4.1992 – VI ZR 216/91 – NJW 1992, S. 2354 = VersR 1992, S. 747; v. 17.9.1987 – VI ZR 12/84 – VersR 1985, S. 1187. 2
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I. Unklarheiten und Unvollständigkeiten in Gutachten Die Tatsachenfeststellung ist Aufgabe des Richters in eigener Verantwortung. Die Bewertung eines Sachverhalts, etwa des Geschehens bei ärztlicher Behandlung, obliegt hiernach dem Tatrichter. Dieser hat sich, weil regelmäßig nicht sachkundig, in fachlicher, insbesondere medizinischer Hinsicht auf Sachverständige zu stützen. Er muss sich aber darauf einstellen, dass manche Sachverständige Fehler, besonders medizinische Behandlungsfehler, nur zurückhaltend ansprechen. Eine deutliche Distanzierung des Sachverständigen in der Sache, etwa vom Vorgehen des behandelnden Arztes, und eine einschränkende Formulierung („kein richtiger Fehler“) müssen dem Gericht Anlass sein, die Äußerungen des Sachverständigen kritisch zu hinterfragen und sowohl den für eine solche Behandlung geltenden Sorgfaltsmaßstab, als auch den Begriff des Fehlers mit dem Sachverständigen zu erörtern, gegebenenfalls sogar ein anderes Gutachten einzuholen. Das Gericht ist an eine so „begründete“ Verneinung des Fehlers durch den Sachverständigen nicht gebunden. Diese ist in der Form nicht eindeutig und enthält mit „kein richtiger Fehler“ eine deutliche Relativierung der Beurteilung. Unter solchen Umständen liegt es auf der Hand, einen haftungsbegründenden Fehler zu vermuten.4 Gutachten gerichtlich bestellter Sachverständiger hat das Gericht stets sorgfältig und kritisch zu würdigen. Unvollständigkeiten, Unklarheiten und Zweifel sind von Amts wegen – soweit möglich – auszuräumen. Vor allem Einwendungen einer Partei gegen das vom Gericht eingeholte Sachverständigengutachten bieten Anlass, die Schlussfolgerungen des Sachverständigen zu überprüfen. Solche Einwendungen sind auch dann ernst zu nehmen, wenn sie auf eigenen Überlegungen der Partei beruhen; das gilt erst recht, wenn die Partei sich, wie es häufig der Fall sein wird, durch Befragung von Experten sachkundig gemacht hat oder gar ein von ihr besorgtes Privatgutachten vorlegt, auf das sie sich bezieht. Das Gericht hat sich damit ebenso sorgfältig auseinander zu setzen, wie wenn es sich um eine abweichende Stellungnahme des von ihm bestellten weiteren Gutachters handeln würde. Häufig, vor allem in Arzthaftungsprozessen, bleibt der Partei nämlich nichts anderes übrig, als ein für sie ungünstiges Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen mit Hilfe eines Privatgutachters überprüfen zu lassen und dann dessen Ansicht vorzutragen. Es ist weiter zu beachten, dass an die Substantiierungspflicht einer Partei in derartigen Prozessen nur maßvolle und verständige Anforderungen gestellt werden dürfen, weil von ihr, auch wenn sie abweichende Meinungen wiedergibt, keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden kann. Je nach den Um4 BGH, Urt. v. 8.7.2008 – VI ZR 259/06 – NJW 2008, S. 2846 = VersR 2008, S. 1265; v. 22.5.2007 – VI ZR 35/06 – BGHZ 172, 254, 259 f. = VersR 2007, S. 1273.
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ständen des Einzelfalls hat das Gericht daher, wenn die vorgetragenen Einwendungen gegen das von ihm eingeholte Gutachten nicht unbeachtlich erscheinen, die Pflicht, den Sachverhalt weiter aufzuklären; andernfalls verletzt es die Vorschriften der §§ 412, 286 ZPO.5 Die Parteien haben das Recht, eine Befragung des Sachverständigen zu beantragen. Auch dadurch wird die Pflicht des Gerichts zur Aufklärung des Sachverhalts gewährleistet. Den entsprechenden Antrag darf das Gericht nämlich nur ablehnen, wenn er verspätet oder rechtsmissbräuchlich gestellt ist. Das Gericht muss den Sachverständigen auch dann laden, wenn es selbst das Gutachten für überzeugend hält.6 Nach diesen Grundsätzen ist ein Sachverständiger auch dann zur Anhörung zu laden, wenn ein geladener und angehörter gerichtlicher Sachverständiger seinem eigenen Gutachten eine telefonische Erläuterung des Gutachtens durch einen weiteren Sachverständigen zu Grunde gelegt hat.7 Versäumt das Gericht trotz Unklarheiten im Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen oder Widersprüchen zwischen den Äußerungen mehrerer Sachverständiger die weitere Aufklärung des Sachverhalts, ist das ein Verfahrensfehler (Verstoß gegen § 286 ZPO), der in der Berufung auf Rüge zur Aufhebung des Urteils und des Verfahrens sowie zur Zurückverweisung führen kann (§ 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO i.V.m. §§ 529 Abs. 2 Satz 1, 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ZPO). In der Revision führt die erfolgreiche Rüge ebenfalls zur Aufhebung und Zurückverweisung (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO i.V.m. §§ 559 Abs. 2 Halbsatz 2, 551 Abs. 3 Nr. 2 lit. b ZPO). Das sind jedoch keine Automatismen, wie der Bundesgerichtshof klargestellt hat.8 Selbst wenn die Partei – wie etwa im Bauprozess oder im Arzthaftungsprozess – nicht die erforderliche Sachkunde besitzt, um die fachspezifischen Fragen in technischen oder medizinischen Sachverhalten substantiiert vorzutragen, und deshalb ein solcher Vortrag von ihr nicht verlangt werden darf,9 muss sie ihre Einwendungen gegen ein eingeholtes gerichtliches Gutachten vortragen. Mangels eigener Sachkunde wird sie sich insoweit jedoch auf Einwendungen aus dem Bereich der Logik beschränken dürfen. Diese wird sie aber in einer für das Gericht, den Gegner und den gerichtlichen Sachverständigen nachvollziehbaren und verständlichen Weise darlegen müssen. Unbehelflich ist insoweit der Hinweis der Partei und ihres Anwalts, sie sei „nicht in der Lage, die Ausführungen des Sachverständigen zu überprüfen“. Das lässt nicht 5 BGH, Urt. v. 23.3.2004 – VI ZR 428/02 – NJW 2004, S. 1871 = VersR 2004, S. 790; v. 19.5.1981 – VI ZR 220/79 – VersR 1981, S. 752. 6 BGH, Beschl. v. 5.9.2006 – VI ZR 176/05 – NJW-RR 2007, S. 212. 7 BGH, Beschl. v. 14.10.2008 – VI ZR 7/08 – VersR 2009, S. 69. 8 BGH, Beschl. v. 10.6.2008 – VI ZR 266/07 – juris. 9 BGH, Beschl. v. 21.12.2006 – VII ZR 279/05 – NJW 2007, S. 1531; Urt. v. 8.6.2004 – VI ZR 199/03 – BGHZ 159, 245, 251 f.; v. 2.4.1998 – VII ZR 230/96 – BauR 1998, S. 632; v. 19.5.1981 – VI ZR 220/79 – VersR 1981, S. 752.
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erkennen, mit welchen Gründen sie sich gegen das Ergebnis eines Gutachtens wenden will und das Gericht kann dem Sachverständigen keine Fragen zu seinem Gutachten stellen, die Licht in das Dunkel des Entscheidungssachverhalts bringen würden. Das Gericht verletzt in einem solchen Fall nicht die richterliche Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts, wenn keine von Amts wegen erkennbaren Widersprüche oder Unklarheiten ersichtlich sind und die Partei keine im dargelegten Sinn „substantiierten“ Einwendungen erhoben hat. Anderes gilt dagegen, wenn die Partei ein Privatgutachten vorlegt, das den Sachverhalt anders beurteilt. Dann sind Gericht und Partei als Laien ohne Sachkenntnis ebenfalls häufig nicht in der Lage, die Vorwürfe gegen den gerichtlichen Gutachter auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Der gerichtliche Sachverständige kann jedoch Stellung nehmen und die Partei kann mit Unterstützung ihres Privatsachverständigen weitere Fragen vorlegen. Zu diesem Zweck ist dem Privatsachverständigen die Anwesenheit bei der parteiöffentlichen Beweisaufnahme (§ 357 Abs. 1 ZPO) zwingend zu gestatten, da anderenfalls sogar ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu bejahen sein kann. Dagegen besteht keine Möglichkeit, den Privatsachverständigen einer Partei förmlich anzuhören, solange dieser nicht vom Gericht zum (gerichtlichen) Sachverständigen bestellt ist. Der Privatsachverständige ist Gehilfe der Partei und nicht des Gerichts und besitzt keine Mitwirkungsrechte.10 Die Partei muss die ihr gegebene Möglichkeit einer Unterstützung durch ihren Sachverständigen aber auch nutzen. Es genügt nicht, dass sie die Anwesenheit des Privatsachverständigen lediglich zum Anlass nimmt, das Gericht zu dessen Anhörung aufzufordern. Sie muss vielmehr zusammen mit ihrem Anwalt die Sachkunde des Privatsachverständigen für Fragen an den gerichtlichen Sachverständigen einsetzen, die dem Gericht Widersprüche und Unklarheiten in dessen Gutachten offenbaren, denen es nachgehen muss. Keinesfalls ist es zulässig, dass sich das Gericht auf den Standpunkt stellt, es verstehe von den Sachfragen nichts, und entscheide deshalb im Einklang mit dem gerichtlichen Sachverständigen.11 Es muss sich vielmehr ebenso wie die Partei und ihr Anwalt mit dem Privatgutachten und dem gerichtlichen Gutachten auseinandersetzen und bei der weiteren Aufklärung des Sachverhalts mitwirken. Geht das Gericht erkennbar gemachten und entscheidungserheblichen Widersprüchen und Unklarheiten nicht nach, kann die unterlegene Partei diese Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht mit der Berufung rügen. Auch dann genügt die lediglich pauschale Behauptung einer Verletzung der Aufklärungspflicht des Gerichts der Vorinstanz jedoch nicht. Erforderlich ist vielmehr wiederum nachvollziehbarer Vortrag dazu, welche entscheidungserheblichen Widersprüche und Unklarheiten bestehen und 10 BGH, Urt. v. 8.7.2008 – VI ZR 259/06 – NJW 2008, S. 2846 = VersR 2008, S. 1265; v. 30.1.1953 – VI ZR 37/52 – LM § 13 StVO Nr. 7. 11 BGH, Urt. v. 28.4.1998 – VI ZR 403/96 – NJW 1998, S. 2735 = VersR 1998, S. 853.
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hätten aufgeklärt werden müssen. Die berufungsführende Partei ist gehalten, die Beurteilung des Streitfalles durch den Erstrichter zu überprüfen und darauf hinzuweisen, in welchen Punkten und aus welchen Gründen sie das angefochtene Urteil für unrichtig hält (§ 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ZPO).12 Eine pauschale Bezugnahme auf den erstinstanzlichen Vortrag und ein dem Vortrag zu Grunde liegendes Gutachten eines Privatsachverständigen genügen nicht. Vielmehr ist darzulegen, was der gerichtliche Sachverständige und das Gericht erster Instanz nicht beachtet haben und welche Folgerungen sich für den zu beurteilenden Sachverhalt daraus ergeben sollen. Auch ohne Sachkenntnis der Partei im Einzelnen liegt ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nur dann vor, wenn ein substantiierter Vortrag gegen das erstinstanzliche Urteil außer Acht gelassen worden ist. Das widerspricht nicht der oben erwähnten Erleichterung für die nicht sachkundige Partei, wonach diese in erster Instanz regelmäßig nicht sachkundig vortragen kann und es auch nicht muss. In der Berufung muss sie das erstinstanzliche Urteil angreifen und dessen Fehler aufzeigen. Auch hierzu benötigt sie keine Sachkunde, wenn diese ihr den erforderlichen Vortrag auch erleichtern wird. Sie kann sich in der Berufung darauf beschränken, die Unklarheiten und Widersprüche aufzuzeigen, die das Gericht hätte klären müssen, weil sie entscheidungserheblich sind. Dementsprechend besteht regelmäßig in der Revisionsinstanz Aussicht auf Erfolg der Revision nur dann, wenn das Berufungsgericht auf den Vortrag in der Berufung hätte eingehen müssen, weil dieser in dem angegebenen Sinn entscheidungserheblich, sein Übergehen also ein Verfahrensfehler (§ 286 Abs. 1 ZPO) oder sogar eine Verletzung grundrechtsähnlicher Verfahrensrechte (Art. 103 Abs. 1 GG) war. Gleiches gilt im Verfahren über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision. Die Voraussetzungen der §§ 544 Abs. 2 Satz 3, 543 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 ZPO werden regelmäßig nur dann bejaht werden können, wenn entscheidungserhebliche Unklarheiten oder Widersprüche im Gutachten eines gerichtlichen Sachverständigen aufgezeigt werden und dargetan wird, dass diese bereits in der Vorinstanz gerügt waren, dieser Vortrag aber übergangen wurde.
II. Die gerichtliche Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts und die Verletzung materiellen Rechts Anders als bei Verletzung der Pflicht des Gerichts zur Aufklärung des Sachverhalts (§§ 286, 551 Abs. 3 Nr. 2 lit. b ZPO) genügt für die Zulässigkeit der Sachrüge die Bezeichnung der Umstände, aus denen sich die Rechtsver12
BGH, Beschl. v. 10.6.2008 – VI ZR 266/07 – juris.
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letzung ergibt (§ 551 Abs. 3 Nr. 2 lit. a ZPO); eine Beschränkung der Sachprüfung findet grundsätzlich nicht statt.13 Bei einer zugelassenen Revision ist die Sachrüge daher aus Sicht der Partei und ihres Anwalts gegenüber einer Verfahrensrüge zu bevorzugen. Inhalt einer solchen Sachrüge im Rechtsmittelverfahren kann eine Verkennung des Begriffs der Kausalität sein. Eine Verkennung des Rechtsbegriffs der Kausalität ist als materiell-rechtlicher Fehler regelmäßig ohne Rüge von Amts wegen zu beachten. Sie ist im Haftpflichtprozess insbesondere dann anzunehmen, wenn das Gericht nicht bemerkt hat, dass der Sachverständige nicht von dem im Haftpflichtrecht maßgeblichen Kausalitätsbegriff, sondern etwa von einem naturwissenschaftlichen Kausalitätsbegriff ausgeht, und deshalb einen haftungsrechtlichen Kausalzusammenhang verneint.14 Dieser Fehlerpunkt geht gelegentlich mit einem Überziehen der Beweisanforderungen durch das Gericht (bei Anwendung des § 286 ZPO statt des § 287 ZPO) einher, das im Allgemeinen einen nur auf Rüge beachtlichen Verfahrensfehler darstellt (§ 529 Abs. 2 Satz 1 ZPO), der als solcher – nur unter strengen Voraussetzungen – revisibel ist (§§ 559 Abs. 2, 557 Abs. 3 Satz 2, 551 Abs. 3 Nr. 2 lit. b ZPO). Die Beweiswürdigung kann das Revisionsgericht bekanntlich lediglich darauf überprüfen, – ob der Tatrichter den Sachvortrag und die Beweisergebnisse vollständig berücksichtigt und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen hat, – ob das Urteil im Fall des Indizienbeweises die erforderliche Würdigung und Gesamtschau erkennen lässt, – aber auch ob der Tatrichter die Anforderungen an den Grad der richterlichen Überzeugungsbildung überspannt hat. Die tatrichterliche Beweiswürdigung muss nämlich auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruhen und die vom Gericht gezogenen Schlussfolgerungen dürfen sich nicht als bloße Vermutungen erweisen. Eine mathematische, jede Möglichkeit eines abweichenden Geschehensablaufs ausschließende, von niemandem mehr anzweifelbare Gewissheit ist indessen nicht erforderlich.15 Weitergehend ist die Verkennung des Kausalitätsbegriffs ein Fehler materiellen Rechts und als solcher vom Rechtsmittelgericht auch ohne Rüge zu
13
Näher Zöller/Heßler ZPO, 27. Aufl., § 551 Rn. 11 ff. Vgl. BGH, Urt. v. 8.6.2004 – VI ZR 230/03 – BGHZ 159, 254, 257 = VersR 2004, S. 1477: Frage an den Sachverständigen im Beweisbeschluss: „als Folge des Unfalls leide die Klägerin unter … Tinnitus“; Antwort: „nicht eindeutig nachweisbar, nicht zwingend dem Auffahrunfall zuzuordnen, ein Kausalzusammenhang nicht festzustellen“. 15 BGH, Urt. v. 22.11.2006 – IV ZR 21/05 – NJW-RR 2007, S. 312 = VersR 2007, S. 1429. 14
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beachten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).16 Ein solcher materiell-rechtlicher Fehler kann in mehrfacher Weise auftreten. Haftungsrechtlich ist bei der Kausalität zu beachten, dass der Schädiger grundsätzlich für alle gesundheitlichen Beeinträchtigungen haftet, die durch die schädigende Handlung adäquat verursacht sind. Die Frage der Adäquanz kann dabei nicht rein logisch abstrakt nach dem Zahlenverhältnis der Häufigkeit des Eintritts eines derartigen Erfolges beurteilt werden. Die Grenze, bis zu der dem Urheber einer Bedingung eine Haftung für ihre Folgen billigerweise zugemutet werden kann, muss vielmehr mit einer „wertenden Beurteilung“ gefunden werden.17 Der zum Schadensersatz verpflichtende Umstand muss auch nicht die überwiegende, wesentliche, richtunggebende, unmittelbare oder alleinige Ursache sein. Das sind im Wesentlichen Begriffe aus dem Sozialversicherungsrecht,18 die im Haftungsrecht fehl am Platz sind. Im Haftungsrecht genügt der bloße „Auslöser“ im Sinne einer Mitursache in einem „Ursachenbündel“.19 Vorschäden gehen üblicherweise zu Lasten des Schädigers. Wer einen gesundheitlich schon geschwächten Menschen verletzt, kann nicht verlangen so gestellt zu werden, wie wenn der Betroffene gesund gewesen wäre. Dementsprechend ist die volle Haftung auch in Fällen bejaht worden, in denen der Schaden auf einem Zusammenwirken körperlicher Vorschäden und der Schädigung beruhte.20 Der Patient ist in der Regel bereits erkrankt, wenn er einen Arzt einschaltet. Dieses Krankheitsrisiko wird zwar durch die Übernahme der Behandlung nicht zum Risiko des Arztes. Soweit Schäden aus der Grunderkrankung herrühren, hat der Patient sie zu tragen. Wenn und soweit aber die (fehlerhafte) Behandlung zu (weiteren) Schäden führt, haftet der Arzt. Eine haftungsbegründende ursächliche Verknüpfung zwischen Behandlungsfehler und Primärschädigung liegt daher vor, wenn der primäre Schaden auf die festgestellte Fehlbehandlung zurückzuführen ist und wenn die nach dem medizinischen Soll-Standard richtige Behandlung den Eintritt des Primärschadens verhindert hätte. Dabei ist Primärschaden die erste, die
16 BGH, Urt. v. 8.6.2003 – VI ZR 230/03 – BGHZ 159, 254, 256 = VersR 2004, S. 1477, wo es allerdings um die Verkennung des § 287 ZPO ging; vgl. aber ohne Rüge eines Rechtsfehlers BGH, Beschl. vom 23.7.2002 – VI ZR 91/02 – BGHZ 152, 7, 8 = VersR 2003, S. 262. 17 BGH, Urt. v. 17.10.1955 – III ZR 84/54 – BGHZ 18, 286, 288 = VersR 1955, S. 713; v. 26.1.1959 – III ZR 213/57 – AHRS 0810/3. 18 Vgl. BSG, Urt. v. 28.6.1988 – 2/9b RU 28/87 – BSGE 63, 277, 280; v. 10.6.1955 – 10 RV 390/54 – BSGE 1, 72, 76. 19 BGH, Urt. v. 19.4.2005 – VI ZR 175/04 – NJW-RR 2005, S. 897 = VersR 2005, S. 945. 20 BGH, Urt. v. 30.4.1996 – VI ZR 55/95 – BGHZ 132, 341, 345 = VersR 1996, S. 990; v. 22.9.1992 – VI ZR 293/91 – NJW 1992, S. 3298 = VersR 1993, S. 55; v. 6.6.1989 – VI ZR 241/88 – BGHZ 107, 359, 363 = VersR 1989, S. 923; v. 15.10.1968 – VI ZR 226/67 – VersR 1969, S. 43; v. 10.5.1966 – VI ZR 243/64 – VersR 1966, S. 737; v. 9.1.1962 – VI ZR 138/61 – VersR 1962, S. 351.
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Haftung begründende Verletzung eines geschützten Rechtsguts.21 Besteht der Behandlungsfehler in der Unterlassung einer gebotenen ärztlichen Maßnahme (z.B. fehlerhafte Diagnose, Unterlassung von Diagnostik- oder Kontrolluntersuchungen), ist ein Kausalzusammenhang zwischen Fehler und Primärschaden zu bejahen, wenn die nach dem medizinischen Soll-Standard gebotene Maßnahme zum richtigen Befund und sodann zur richtigen Therapie geführt hätte und wenn dadurch die Primärschädigung vermieden worden wäre. In entsprechender Weise ist eine unterlassene Therapieaufklärung ursächlich für den Primärschaden, wenn der richtig erteilte Schutz- und Sicherungshinweis zum sachgerechten Verhalten des Patienten bzw. zur sachgerechten Behandlung geführt hätte und wenn in diesem Fall der Primärschaden nicht eingetreten wäre.22 Eine ursächliche Verknüpfung zwischen Behandlungsfehler und Primärschaden besteht nur dann, wenn die Schädigung auf der Pflichtwidrigkeit beruht. Der tatsächlichen Schadensentwicklung aus dem pflichtwidrigen Verhalten ist die (gedacht) sachgerechte Behandlung gegenüberzustellen. Primärschäden, die (in der zeitlichen Folge oder im Schädigungsausmaß) auch bei sachgerechtem Behandlungsverhalten eingetreten wären, beruhen nicht ursächlich auf der Pflichtwidrigkeit.23 Dagegen ist die haftungsausfüllende Kausalität, die den Ursachenzusammenhang für nach dem Primärschaden entstehende weitere Schäden – sog. Sekundärschäden – betrifft, nicht nach § 286 ZPO, sondern nach § 287 ZPO zu beurteilen. Die Unterscheidung zwischen der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität ist zwar gerade im Zusammenhang mit Vorschäden häufig nur schwer zu treffen, aber vom Gericht dennoch streng zu beachten. Ein Verstoß führt nicht nur zu einem Verfahrensfehler (Nichtbeachtung von § 286 oder § 287 ZPO), sondern ist häufig auch ein Fehler materiellen Rechts. Dazu ein Beispiel: Der Beklagte hatte morgens gegen 4.15 Uhr nach Verlassen eines Lokals seinen Feind M., durch zwei gezielte Faustschläge ins Gesicht, zweimal zu Boden geschlagen; dieser blieb nach dem zweiten Sturz bewusstlos liegen. Ärztliche Hilfe blieb erfolglos. Um 5.30 Uhr wurde sein Tod festgestellt. Nach dem Obduktionsergebnis war der Tod durch den Riss einer bestehenden Gefäßausdehnung (Aneurysma) der linken Hirnschlagader und der hierauf zurückzuführenden massiven Einblutung zwischen die weichen Hirnhäute eingetreten. Das Berufungsgericht hat Schadensersatzansprüche der Hinterbliebenen (§ 844 Abs. 2 BGB) verneint, weil sie nicht bewiesen hätten, dass der tätliche Angriff des Beklagten für den
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BGH, Urt. v. 21.7.1998 – VI ZR 15/98 – NJW 1998, S. 3417 = VersR 1998, S. 1153. BGH, Urt. v. 28.3.1989 – VI ZR 157/88 – NJW 1989, S. 2320 = VersR 1989, S. 700; v. 20.9.1988 – VI ZR 37/88 – NJW 1989, S. 767 = VersR 1988, S. 1273; v. 19.5.1987 – VI ZR 167/86 – NJW 1987, S. 2293 = VersR 1987, S. 1092. 23 BGH, Urt.v. 14.7.1992 – VI ZR 214/91 – NJW 1992, S. 2962 = VersR 1992, S. 1263; v. 20.9.1988 – VI ZR 37/88 – NJW 1989, S. 767 = VersR 1988, S. 1273. 22
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Tod des M. kausal gewesen sei. Wenn es nach den Ausführungen der eingeschalteten beiden Sachverständigen auch wegen des zeitlichen Zusammenhangs als überwiegend wahrscheinlich erscheine, dass ein Zusammenhang zwischen der äußeren Gewalteinwirkung und der Aneurysma-Ruptur bestehe, könne doch nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass die Ruptur des Aneurysmas und der hierdurch herbeigeführte Tod unabhängig von den Schlägen oder den hiermit einhergehenden psychischen oder physischen Belastungen eingetreten seien. Da für den eingetretenen Erfolg somit mehrere selbständige Kausalketten in Betracht kämen – auch wenn für eine von ihnen die größere Wahrscheinlichkeit spreche –, seien die Kläger für die von ihnen behauptete Ursächlichkeit beweisfällig geblieben. Die Revision rügte, dass das Berufungsgericht bei der Beurteilung der Kausalität zwischen Körperverletzung und Todesfolge ein zu strenges Beweismaß angelegt und deshalb die Kläger für beweisfällig gehalten habe. Damit hatte sie Erfolg. Das Berufungsgericht hatte fehlerfrei die Verletzung des M. durch die beiden gezielten Faustschläge und damit die haftungsbegründende Kausalität festgestellt. Welche weiteren Schäden sich hieraus entwickelt hatten, war eine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität.24 Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH unterliegt nur der Nachweis des Haftungsgrunds, nämlich des Zusammenhangs zwischen dem schädigenden Verhalten und der Rechtsgutverletzung (so genannte haftungsbegründende Kausalität) den strengen Anforderungen des § 286 ZPO.25 Bei Ermittlung des Kausalzusammenhangs zwischen dem Haftungsgrund und dem eingetretenen Schaden (der so genannten haftungsausfüllenden Kausalität) ist der Tatrichter nach § 287 ZPO freier gestellt.26 Zwar kann auch die haftungsausfüllende Kausalität nur festgestellt werden, wenn der Tatrichter vom Ursachenzusammenhang überzeugt ist. Für diese Überzeugung genügen nach § 287 ZPO aber eine höhere oder eine überwiegende Wahrscheinlichkeit. Eine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“, die etwa gar den besonders strengen medizinisch-naturwissenschaftlichen Kriterien standhielte, darf nicht verlangt werden. Weil das Berufungsgericht aufgrund der Ausführungen der Sachverständigen eine überwiegende Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs zwischen Gewalteinwirkung und Gefäßruptur bejaht und lediglich nicht die Überzeugung gewonnen hatte, dass diese Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenze, wäre es möglicherweise bei Berücksichtigung der Grundsätze des § 287 ZPO zu einem anderen, für die Kläger günstigen Ergebnis gelangt. Wegen dieses Verfahrensfehlers (§ 286 ZPO statt § 287 ZPO) ist das Urteil aufgehoben worden. 24 25 26
BGH, Urt. v. 22.09.1992 – VI ZR 293/91 – NJW 1992, S. 3298 = VersR 1993, S. 55. BGH, Urt. v. 4.11.2003 – VI ZR 28/03 – NJW 2004, S. 777 = VersR 2004, S. 118. BGH, Urt. v. 8.6.2004 – VI ZR 230/03 – BGHZ 159, 254, 257 = VersR 2004, S. 1477.
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Diese geschilderte Art der Beweisführung und Überzeugungsbildung ist insbesondere medizinisch-naturwissenschaftlichen Sachverständigen nicht geläufig. Für diese ist der Ursachenzusammenhang häufig erst dann bewiesen, wenn die Beweisführung naturwissenschaftlichen Kriterien standhält. Medizinische Sachverständige äußern sich gelegentlich dahin, dass alles für einen Ursachenzusammenhang zwischen dem Schaden und der Tätigkeit des Arztes spreche, dass dieser jedoch nicht bewiesen werden könne. Es ist Aufgabe des Tatrichters, in solchen Fällen die Unklarheit zu beseitigen und abzuklären, dass es nicht um eine medizinisch-naturwissenschaftliche Beweisführung geht. Handelt es sich insoweit häufig um eine Frage des Beweismaßes und damit um ein Problem des Verfahrensrechts (§§ 286, 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 lit. b ZPO), ist im Rahmen des Rechtsbegriffs der haftungsrechtlichen Kausalität doch gelegentlich auch eine materiell-rechtliche Abgrenzung zu beachten: Im Zivilrecht ist für den Kausalzusammenhang zwischen schädigender Handlung und eingetretenem Schaden von der Adäquanztheorie auszugehen, wonach der Fehler im Allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet sein muss, den Verletzungserfolg herbeizuführen. Hinzu kommen muss die Wertung, dass ein haftungsrechtlicher Zurechnungszusammenhang besteht. In diesem Zusammenhang kann sich hinter der Ansicht des Sachverständigen zum einen ein Fehler im Beweismaß verbergen. Ein (medizinisch-)-naturwissenschaftlich ausgebildeter Sachverständiger versteht unter „Beweis“ häufig nur einen naturwissenschaftlichen Beweis, der eine Umkehrbarkeit voraussetzt, die häufig fehlen wird und die für die juristische „Beweisführung“ regelmäßig nicht erforderlich ist. Die bloße Wahrscheinlichkeit des Nichteintritts genügt juristisch zwar nicht zur Bejahung des Kausalzusammenhangs. Es ist vielmehr die richterliche Überzeugung von der Kausalität erforderlich.27 Diese bedarf nicht des mathematisch-naturwissenschaftlichen Beweises. Über sie ist vielmehr unter Beachtung des für die Überzeugungsbildung geltenden Maßstabs („Grad von Gewissheit, der bestehenden Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie ganz auszuschließen“) 28 zu entscheiden. Viele medizinische Sachverständige sind aber zum anderen von der – bereits erwähnten – im Sozialrecht vorherrschenden Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung 29 beeinflusst, mit der sie häufiger befasst sind. Der
27
BGH, Urt. v. 24.6.1986 – VI ZR 21/85 – NJW 1987, S. 705 = VersR 1986, S. 1121. BGH, Urt. v. 3.6.2008 – VI ZR 235/07 – NJW-RR 2008, S. 1380 = VersR 2008, S. 1133; v. 9.5.1989 – VI ZR 268/88 – NJW 1989, S. 2948 = VersR 1989, S. 758; v. 17.2.1970 – III ZR 139/67 – BGHZ 53, 245, 256 = NJW 1970, S. 946 (Anastasia). 29 Vgl. z.B. BSG, Urt. v. 30.10.1957 – 8 RV 47/56 – BSGE 6, 87, 91; Beschl. v. 18.12.1957 – 11/9 RV 992/55 – BSGE 6, 192, 194 – je „richtunggebende Verschlimmerung“. 28
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sozialversicherungsrechtliche Begriff der Kausalität ist jedoch für die Entscheidung eines Haftungsfalles nicht maßgebend. Während nach dem Sozialversicherungsrecht darüber zu entscheiden ist, ob und in welchem Umfang Beeinträchtigungen von den Mitgliedern der Sozialversicherung getragen werden, geht es im Haftpflichtrecht um den Ausgleich, den der Schädiger für seine schädigende Handlung zu leisten hat. Dementsprechend besteht im Sozialversicherungsrecht stets Veranlassung, die Leistungen des Sozialversicherungsträgers nicht ausufern zu lassen. Dieser Gedanke kann im Haftpflichtrecht nicht tragen. Haftungsrechtlich kommt es deshalb nicht darauf an, ob ein Schaden mit Beschwerdesymptomatik unmittelbar oder mittelbar durch die schädigende Handlung ausgelöst bzw. aktualisiert worden ist. Es bedarf unter haftungsrechtlichen Gesichtspunkten keiner Abgrenzung, ob dieser Schaden überwiegend dem Unfallereignis oder unfallunabhängigen Vorschäden zuzurechnen ist. Der Schädiger haftet vielmehr grundsätzlich für alle gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die der Geschädigte durch die Schädigungshandlung davonträgt. Die Zurechnung organisch oder psychisch bedingter Folgewirkungen scheitert auch nicht daran, dass sie auf einer konstitutionellen Schwäche des Verletzten (eben einem „Vorschaden“) beruhen. Haftungsrechtlich ist dem Schädiger daher auch die besondere Schadensanfälligkeit des Verletzten zuzurechnen. Der zum Schadensersatz verpflichtende Umstand braucht im Haftungszivilrecht eben nicht die überwiegende, wesentliche, richtunggebende oder gar alleinige Ursache zu sein. Das ist sowohl für die haftungsbegründende wie für die haftungsausfüllende Kausalität zu beachten und wird öfter nicht eingehalten.30 Das Gericht hat hiernach dafür zu sorgen, dass der Sachverständige die im Zivilrecht geltenden Kriterien beachtet, und nicht haftungseinschränkend nur „richtunggebende Ursachen“ berücksichtigt. Dem wird am besten bereits bei der Formulierung des Beweisbeschlusses und/oder bei der Beauftragung des Sachverständigen mit einem entsprechenden Hinweis Rechnung getragen.31 Es sollte also nicht gefragt werden: „Sind die Beschwerden durch das Vorgehen verursacht?“, sondern: Sind die Beschwerden „mit auf das Vorgehen des Beklagten zurückzuführen?“. Erwähnt ein Sachverständiger eine der dargestellten Einschränkungen, um die Ablehnung der Kausalität zu begründen, sollte stets eine Rückfrage durch das Gericht dahin erfolgen, ob der zum Ersatz verpflichtende Umstand mitursächlich war. Haftungsrechtlich ist jede Verschlimmerung relevant. Unterlässt das Gericht eine solche Abklärung, kann zwar ein Verfahrensfehler zu bejahen sein, weil das Gericht eine Unklarheit des Gutachtens unter Verstoß gegen seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§§ 286, 287 ZPO) nicht beseitigt hat. Hinzu kommt aber häufig (nicht stets), dass das Gericht sich über den Kausalitätsbegriff geirrt und den sozial30 31
BGH, Urt. v. 20.11.2001 – VI ZR 77/00 – NJW 2002, S. 504 = VersR 2002, S. 200. OLG Köln NJW-RR 1999, S. 720.
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versicherungsrechtlichen, nicht aber den haftungsrechtlichen Begriff der Kausalität seiner Entscheidung zu Grunde gelegt hat. Indiz wird oft eine „verräterische“ Fassung des Beweisbeschlusses oder des Urteils sein. Den materiell-rechtlichen Fehler hat das Rechtsmittelgericht nur im Verfahren der zugelassenen Revision von Amts wegen zu berücksichtigen, wenn die Verletzung materiellen Rechts gerügt ist.32 Im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ist dagegen die Rüge der Verkennung des Kausalitätsbegriffs näher auszuführen.
III. Fazit Dem Gericht kommt mit der Pflicht zur Aufklärung des Entscheidungssachverhalts im Haftpflichtprozess mehr als eine bloße „Wächterrolle“ zu. Das Gericht ist nach der Rechtsprechung des VI. Zivilsenats verpflichtet, von sich aus („von Amts wegen“) darauf zu achten, dass seine Entscheidung auch dann keine Widersprüche und Unklarheiten enthält, wenn und soweit sie Sachverhalte betrifft, für die dem Gericht keine eigene Fachkompetenz zukommt. Um dieses Ziel zu erreichen, muss das Gericht sich nicht nur der Hilfe eines fachkundigen Sachverständigen bedienen. Es darf jedoch diesem Sachkundigen seinerseits nicht blind vertrauen, sondern muss dessen Äußerungen darauf prüfen, ob sie auf der Basis des zur Entscheidung stehenden Sachverhalts nachvollziehbar und in sich schlüssig sind oder ob sie gedankliche Lücken oder Widersprüche enthalten. Lücken und Widersprüche hat das Gericht sichtbar zu machen und – soweit möglich – zu beheben. Erst dann darf sich das Gericht eine Überzeugung davon bilden, ob die Partei einen ihr obliegenden Beweis geführt hat. Bei dieser Prüfung, ebenso wie bei der Behebung von Lücken oder Widersprüchen, kommt den Parteien und ihren Anwälten die wichtige Aufgabe zu, den Erkenntnisprozess zu unterstützen. Auch sie müssen darauf achten, dass das Gericht der ihm obliegenden Aufgabe nachkommt. In der Revisionsinstanz bleibt ihnen freilich in der Regel nur die Beanstandung, das Gericht habe Vortrag der Partei zu Unklarheiten und Widersprüchen in den Vorinstanzen nicht berücksichtigt. Dies setzt jedoch voraus, dass die Partei ordnungsgemäßen Vortrag in den Tatsacheninstanzen gehalten hat. Anderes gilt nur dann, wenn ein Sachverständiger und ihm folgend der Tatrichter rechtsfehlerhaft nicht von dem haftungsrechtlich allein maßgebenden umfassenden Kausalzusammenhang ausgegangen ist, sondern einschränkend auf eine „wesentliche Ursache“ oder Ähnliches abstellt. Darin liegt ein Fehler materiellen Rechts, der unabhängig vom Vortrag vor dem Tatrichter auch in der Revisionsinstanz zu berücksich32 Am besten unter Hinweis auf den Kausalitätsbegriff, vgl. BGH, Beschl. v. 23.7.2002 – VI ZR 91/02 – BGHZ 152, 7, 9 = VersR 2003, S. 262.
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tigen ist. Bei einer zugelassenen Revision bedarf die Berücksichtigung dieses Fehlers lediglich der Rüge einer Verletzung materiellen Rechts. Ein vorsichtiger Anwalt wird jedoch angesichts des häufig nur schwer erkennbaren Missverständnisses hinsichtlich der Kausalität hierzu erläuternde Ausführungen machen. Im Verfahren über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision muss er dies ohnehin, will er eine Überprüfung des Kausalitätsbegriffs durch das Revisionsgericht erreichen.
Wiederverwendung einer Vormerkung? Wolfgang Krüger I. Einleitung Mithilfe einer Vormerkung kann ein schuldrechtlicher Anspruch auf Herbeiführung einer dinglichen Rechtsänderung vor beeinträchtigenden Zwischenverfügungen geschützt werden (vgl. § 883 BGB). Hauptanwendungsfall ist die sog. Auflassungsvormerkung; sie sichert den Eigentumsverschaffungsanspruch, etwa aus § 433 Abs. 1 BGB, und gehört zum Standardrepertoire eines jeden Grundstückskaufvertrages. Das Sicherungsmittel Vormerkung ist abhängig („streng akzessorisch“) von dem Anspruch, dessen Erfüllung es sichern soll. Ist der Anspruch nicht zur Entstehung gelangt, ist auch die Vormerkung nicht entstanden; erlischt der Anspruch, erlischt auch die Vormerkung. Das Grundbuch, in das die Vormerkung einzutragen ist (§ 883 Abs. 1 Satz 1 BGB), ist bzw. wird in solchen Fällen unrichtig. Dieses Konzept wird freilich nicht ganz durchgehalten. Eine Vormerkung kann auch zur Sicherung eines künftigen oder bedingten Anspruchs eingetragen werden (§ 883 Abs. 1 Satz 2 BGB). In solchen Fällen besteht der Anspruch noch nicht, gleichwohl besteht die Vormerkung und entfaltet ihre Wirkungen1: Der Schutz des Sicherungsmittels wird vorverlagert. Die damit verbundene dogmatische Unkorrektheit (Stichwort „strenge Akzessorietät“) nimmt das Gesetz – zu Recht – in Kauf. Mit zwei Entscheidungen, an deren erster der Jubilar als anwaltlicher Vertreter der – siegreichen – Partei beteiligt war, hat der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs nach Auffassung seiner Kritiker diese Grundlagen in Frage gestellt und zudem der Rechtssicherheit im Grundbuchverfahren und dem Postulat der Grundbuchklarheit einen herben Stich versetzt.2 Diese Entscheidungen wollen wir im Folgenden näher beleuchten.
1 2
Das Grundbuch ist also nicht unrichtig. S. zunächst nur – zusammenfassend – Demharter MittBayNot 2008, S. 214, 215 mwN.
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II. Die erste Entscheidung 3 1. Der Fall Mit notariellem Vertrag vom 19.9.1996 kauften die Kläger ein Hausgrundstück für 340.000 DM. Am 16.10.1996 wurde zu ihren Gunsten eine Auflassungsvormerkung eingetragen. Mit notarieller Vereinbarung vom 11.11.1996 hoben die Vertragsparteien den Kaufvertrag vom 19.9.1996 wieder auf und schlossen über dasselbe Grundstück einen neuen Kaufvertrag mit einigen Modifizierungen, u.a. mit einem herabgesetzten Kaufpreis (weil eine zunächst enthaltene werkvertragliche Pflicht des Verkäufers entfiel). Die Verkäuferin bewilligte eine inhaltsgleiche Auflassungsvormerkung, die aber nicht eingetragen wurde und auch nicht eingetragen werden sollte, weil die im ersten Vertrag bewilligte und bereits eingetragene Vormerkung – wie die Parteien nunmehr vereinbarten – „als fortbestehend gelten“ sollte. Am 2.12. 1996 wurde für die Beklagte eine Hypothek eingetragen. Die Kläger verlangen von der Beklagten die Zustimmung zur Löschung dieser Hypothek. Landgericht, Oberlandesgericht und BGH gaben ihnen Recht. 2. Die Lösung Die Klage war auf § 888 Abs. 1 BGB gestützt. Danach kann der Vormerkungsberechtigte von demjenigen, der ein Recht erworben hat, das ihm gegenüber nach den Wirkungen der Vormerkung unwirksam ist (§ 883 Abs. 2 BGB), Zustimmung zur Löschung des beeinträchtigenden Rechts verlangen. Die Frage ist also: Beeinträchtigt die Hypothek der Beklagten einen durch Vormerkung gesicherten Anspruch der Kläger? Die am 16.10.1996 eingetragene Vormerkung sicherte den Anspruch der Kläger auf Eigentumsübertragung aus dem Kaufvertrag vom 19.9.1996. Mit der Aufhebung dieses Kaufvertrages erlosch der Anspruch und mithin, infolge der Akzessorietät, auch die Vormerkung. Aus dem Vertrag vom 11.11. 1996 erwarben die Kläger zwar erneut einen Anspruch, zu dessen Sicherung auch eine Vormerkung bewilligt wurde.4 Diese wurde aber nicht eingetragen. Danach scheint es an einer der drei zur Entstehung der Vormerkung notwendigen Voraussetzungen (Bewilligung [einstw. Verf.] – Eintragung – sicherungsfähiger Anspruch, vgl. § 885 Abs. 1 BGB) zu fehlen. Die Folge wäre, dass die Hypothek den Anspruch der Kläger zwar beeinträchtigt, der Anspruch aber mangels Vormerkung dagegen nicht geschützt ist. Die Klage wäre unbegründet. 3
BGH, Urteil vom 26.11.1999, V ZR 432/98, BGHZ 143, 175. Materiellrechtliche Bewilligung nach § 885 Abs. 1 Satz 1 BGB, zu unterscheiden von der verfahrensrechtlichen Bewilligung nach § 19 GBO. 4
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Der BGH ist zu einer anderen Lösung gekommen. Er knüpft an §§ 873 Abs. 1, 879 Abs. 2, 892 Abs. 2 BGB an. Aus diesen Vorschriften ergibt sich, dass bei Verfügungen, die sich aus Einigung und Eintragung zusammensetzen, die Reihenfolge der Verwirklichung dieser beiden Voraussetzungen beliebig ist. Es kann zunächst das Recht eingetragen werden, die Einigung kann der Eintragung nachfolgen. Da § 885 Abs. 1 BGB nach allgemeiner Auffassung eine materiellrechtliche Sondervorschrift zu § 873 BGB darstellt (statt Einigung einseitige Bewilligung) 5, liegt es nahe und entspricht wiederum ganz überwiegender Auffassung, dass dasselbe auch für die Entstehung einer Vormerkung gilt. Die Bewilligung der Vormerkung kann der Eintragung nachfolgen.6 Freilich müssen Eintragung und Bewilligung – ebenso wie im Anwendungsbereich des § 873 BGB Eintragung und Einigung – aufeinander bezogen sein; sie müssen sich – wie zumeist formuliert wird – inhaltlich decken.7 Eingetragen sein muss also das Recht, über das sich die Parteien geeinigt haben (§ 873 BGB) bzw. die Vormerkung, die inhaltlich der nachträglichen Bewilligung entspricht. Diese Voraussetzung hat der BGH im zu entscheidenden Fall bejaht. Es geht um den gleichen sicherungsfähigen auf dingliche Rechtsänderung gerichteten Anspruch, nämlich um einen Anspruch aus § 433 Abs. 1 BGB. Dieser Anspruch ist gegenüber dem aus dem ersten Vertrag nicht verändert worden; Kaufgegenstand und Vertragsparteien sind dieselben. Die Modifizierungen (Kaufpreisreduzierung; Wegfall einer werkvertraglichen Pflicht) betreffen nicht den zu sichernden Anspruch. Das Ergebnis ist danach: Mit der materiellrechtlichen Bewilligung in dem Vertrag vom 11.11.1996 ist eine Vormerkung zur Sicherung des neuen Anspruchs auf Eigentumsübertragung entstanden. Die am 2.12.1996 eingetragene Hypothek traf also auf einen gesicherten Anspruch. Die Klage nach § 888 Abs. 1 BGB war begründet. 3. Kritik und Stellungnahme Die Entscheidung – obwohl in trauter Einhelligkeit mit den unteren Instanzen ergangen – ist nicht mit überschwenglicher Begeisterung aufgenommen worden.8 Ihr wird vor allem die Besorgnis entgegen gehalten, dass
5
S. etwa MünchKommBGB/Wacke, 4. Aufl., § 885 Rn. 1. S. BGH (Fn. 3), S. 180 mwN. 7 Für § 873 BGB s. etwa MünchKommBGB/Wacke (Fn. 5), § 873 Rn. 51 mwN; für die Vormerkung s. BGH (Fn. 3), S. 181 f., dort Kongruenz genannt. 8 S. etwa Demharter MittBayNot 2000, S. 106; Amann MittBayNot 2000, S. 197; Volmer ZfIR 2000, S. 207; Streuer Rpfleger 2000, S. 155; Staudinger/Gursky BGB (2008), § 883 Rn. 361; im wesentl. zustimmend demgegenüber Stürner/Heggen LM Nr. 27 zu § 883; HK-BGB/Eckert 5. Aufl., § 883 Rn. 9; Wolf Sachenrecht, 23. Aufl., Rn. 475. 6
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dadurch die Rechtssicherheit im Grundbuchverfahren geschwächt werde; 9 das Grundbuch erfülle nicht mehr seine Aufgabe, zuverlässig und vollständig über gegenwärtige und vergangene Rechtsverhältnisse Auskunft zu geben.10 Ein anderer Einwand geht dahin, mit der – zutreffenden – Annahme, dass die Bewilligung der Vormerkung der Eintragung nachfolgen könne, sei noch nicht entschieden, ob der gesicherte Anspruch ausgewechselt werden könne.11 a) Einordnung der Kritik Dass die Entscheidung nicht das Vertrauen in die Verlässlichkeit des Grundbuchs stärkt, wird man nicht bestreiten können. Wir wollen sehen, woran es liegt. Entscheidend ist das materielle Recht. Führt es uns zu den Rechtsfolgen, die der BGH für zutreffend erachtet hat, sind die Auswirkungen auf das Grundbuch hinzunehmen. Das Grundbuch wird dann nicht geschwächt, es ist – was die Vormerkung anbelangt – nicht stärker. Freilich wird man Vorschriften des materiellen Rechts im Lichte der Bedeutung des Grundbuchs für die Verlässlichkeit des Rechtsverkehrs auszulegen haben. So, aber auch nur so, können die Bedenken der Kritiker berücksichtigt werden, die sich um die Funktion des Grundbuchs sorgen. b) Materielle Sicht Der Ausgangspunkt des BGH, dass die Bewilligung der Eintragung nachfolgen kann, ist nicht in Zweifel zu ziehen; ebenso dann das Postulat, dass die Bewilligung der Eintragung inhaltlich entsprechen muss. Geht man von diesen Grundsätzen aus, verstehe ich den Einwand nicht, damit sei noch nichts für die Frage gewonnen, ob der noch im Grundbuch stehenden Vormerkung überhaupt eine neue Forderung untergeschoben werden könne. Die noch im Grundbuch stehende Vormerkung ist mangels zu sichernden Anspruchs keine Vormerkung.12 Wir haben es nur mit dem, abweichend von der normalen Reihenfolge, ersten Akt der Entstehung der Vormerkung zu tun, ihrer Eintragung in das Grundbuch. Die weiteren Akte sind die materiellrechtliche Bewilligung sowie die Verknüpfung mit einer zu sichernden Forderung. Beides ist hier erfolgt. Mit Vertrag vom 11.11.1996 wurde der zu 9
Volmer (Fn. 8); Amann (Fn. 8), S. 200 f.; Streuer (Fn. 8), Staudinger/Gursky (Fn. 8). Demharter (Fn. 8), S. 107. 11 Amann (Fn. 8), S. 198; Volmer (Fn. 8), der vom Ersetzen der „causa“ außerhalb des Grundbuchs spricht; vgl. auch Streuer (Fn. 8). 12 Soweit Staudinger/Gursky (Fn. 8), § 883 Rn. 361, den BGH (BGHZ 142, 175, 179) für die Auffassung zitiert, die Vormerkung sei nicht erloschen, ist das schlicht falsch. Natürlich ist die Vormerkung als akzessorisches Recht erloschen, und davon geht auch der BGH aus: „Die Beteiligten können jedoch die die erloschene Vormerkung (sic) betreffende Eintragung ohne Löschung und Neueintragung durch erneute Bewilligung … verwenden.“. 10
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sichernde Anspruch begründet; derselbe Vertrag enthält die auf diesen Anspruch bezogene Bewilligung. Das ist der gesamte Tatbestand. Der Umstand, dass es zuvor zeitweilig eine Vormerkung (zur Sicherung des ersten Anspruchs) gegeben hat, ist für die rechtliche Beurteilung ohne Belang. Stets wird, wenn zunächst die Vormerkung eingetragen wird, dieser Vormerkung ein Anspruch „untergeschoben“, unabhängig davon, ob es zuvor schon einmal einen gesicherten unterdessen aber erloschenen Anspruch gab oder nicht. Denn erst aus der Bewilligung ergibt sich, welcher Anspruch genau gesichert werden soll. Zum Inhalt der Eintragung gehört nämlich – jedenfalls nach einer weit verbreiteten Auffassung – die Angabe des Schuldgrundes nicht; allenfalls im Ausnahmefall ist sie zu fordern, etwa dann, wenn ansonsten Zweifel bestehen können, welcher von mehreren in Betracht kommenden Ansprüchen gesichert werden soll.13 Erforderlich, aber auch ausreichend, ist die Angabe des gesicherten Anspruchs nach Art und Gegenstand.14 Das war hier beachtet. Die danach für das materielle Recht allein bedeutsame Frage war die Frage nach der „Identität“ von Eintragung und nachfolgender Bewilligung. Sie ist vom BGH bejaht worden, da man sich eine eindeutigere Übereinstimmung wie in diesem Fall nicht denken kann. Dabei kam es auf einen Vergleich mit dem früheren Anspruch nicht einmal an. Nicht der alte und der neue Anspruch müssen „identisch“ sein, sondern Eintragung und Bewilligung müssen aufeinander bezogen sein. Dass das der Fall war, kann nicht ernsthaft bezweifelt werden. c) Grundbuchklarheit als Sperre oder Korrektiv? Wo bleibt nun bei dieser Betrachtung die Strenge des Grundbuchrechts? Wie lassen sich Aufgabe und Bedeutung des Grundbuchs bei der Auslegung des materiellen Rechts argumentativ heranziehen? Einen interessanten Ansatz dazu bietet Amann15. Er meint, das Nachschieben der Forderung sei in Analogie zu § 1180 Abs. 1 BGB zu behandeln. Die Vorschrift regelt den Fall der Auswechselung einer hypothekarisch gesicherten Forderung und verlangt dazu neben der Einigung über den Wechsel die Eintragung in das Grundbuch. Da die Vormerkung wie die Hypothek ein (sogar noch strengeres) akzessorisches Recht sei, liege die entsprechende Anwendung nahe. Die Vormerkung sei also bei einem Forderungsaustausch ebenso wie die Hypothek neu einzutragen. Das ist ein klarer dogmatischer Ansatz. Er erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung nicht als richtig. Es
13 BGH NJW 1952, 62; NK-BGB/Krause 2. Aufl., § 883 Rn. 111; Staudinger/Gursky (Fn. 8), § 885 Rn. 74 m. zahlreichen wN. 14 Staudinger/Gursky (Fn. 8), § 885 Rn. 73. 15 Amann (Fn. 8), S. 198.
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fehlt an der Vergleichbarkeit der Fälle. Bei § 1180 Abs. 1 BGB wird eine bestehende gesicherte Forderung gegen eine andere Forderung ausgetauscht. Darin liegt eine Änderung des eingetragenen Grundpfandrechts. Eine Hypothek, die die Forderung a sichert, ist ein anderes Recht als die Hypothek, die fortan die Forderung b sichert; die gesicherte Forderung gehört zum Inhalt der Hypothek. Das wird auch im Grundbuch verlautbart. Einzutragen ist nach § 1115 BGB Abs. 1 BGB der Gläubiger, der Geldbetrag der Forderung und der Zinssatz. Darüber hinaus ist die Forderung weiter zu individualisieren, wobei auf die Eintragungsbewilligung Bezug genommen werden kann.16 Im Fall der Vormerkung hat kein Forderungsaustausch stattgefunden. Vielmehr ist die eine Forderung erloschen, und die unrichtig gewordene Eintragung der Vormerkung ist für eine Neubegründung genutzt worden. Dabei hat gerade keine inhaltliche Änderung stattgefunden. Die eingetragene Vormerkung und die nachfolgende Bewilligung müssen sich inhaltlich entsprechen (s.o.). Bei § 1180 Abs. 1 BGB ist hingegen die inhaltliche Änderung Wesensmerkmal und Anlass für die Regelung. Wenn folglich § 1180 Abs. 1 BGB keine Handhabe bietet, das materielle Recht „grundbuchfreundlich“ auszulegen, bliebe nur der generelle Verzicht auf die Möglichkeit, eine Vormerkung in der Weise zu bestellen, dass die Bewilligung der Eintragung nachfolgt. Eine solche radikale Reduzierung des materiellen Rechts mochte der BGH nicht vornehmen und ist auch schwer begründbar.17 d) Das „geschwächte“ Grundbuch Das Grundbuch bildet in den Fällen der Wiederverwendung einer Vormerkung das materielle Recht nicht zuverlässig ab. Denn und auf den Fall bezogen: Weder aus dem Grundbuch selbst noch aus den Grundakten ergibt sich ein Hinweis auf den Vertrag vom 11.11.1996, der den gesicherten Anspruch begründet.18 Das muss auch derjenige beklagen, der die Rechtspre16 MünchKommBGB/Eickmann 4. Aufl., § 1115 Rn. 19; Erman/Wenzel BGB, 12. Aufl., § 1115 Rn. 5; Bamberger/Roth/Rohe BGB, 2. Aufl., § 1115 Rn. 5; unterschiedliche Auffassungen bestehen nur hinsichtlich der Frage, was unmittelbar in das Grundbuch eingetragen werden muss und was sich aus der in Bezug genommenen Eintragungsbewilligung ergeben kann (s. Eickmann einerseits und Wenzel andererseits). 17 Anders als die Kritiker wohl annehmen, kann man die Reduktion mE nicht auf die Fälle der Wiederverwendung der Vormerkung beschränken. Zum einen ist es keine wirkliche Beschränkung, da die Eintragung einer Vormerkung vor deren Bewilligung, ohne dass der Eintragung eine von Anfang an unwirksame oder inzwischen hinfällig gewordene Bewilligung zugrunde lag, in der Praxis nicht vorkommen wird. Wir haben es also stets mit einer Wiederverwendung zu tun. Zum anderen ist es rechtlich ohne Belang, aus welchen Gründen es zur Eintragung einer – in Wahrheit nicht existierenden – Vormerkung gekommen ist. Es liegt ein Eintragungsakt vor der um die noch fehlenden Elemente (Bewilligung und zu sichernde Forderung) ergänzt werden kann, so dass die Vormerkung entsteht. 18 Darauf weist Demharter (Fn. 8), S. 107, zu Recht hin.
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chung des BGH für zutreffend und unausweichlich hält. Das gibt zu weiteren Überlegungen Anlass. Das Problem ist nicht auf den Fall der Wiederverwendung einer Vormerkung beschränkt. Es ist bei der Vormerkung ein generelles Problem. Das hängt mit dem akzessorischen Charakter der Vormerkung zusammen. Jeder Eingriff in den gesicherten Anspruch schlägt unmittelbar auf die Vormerkung durch. Im Grundbuch erfährt man davon nichts. Nehmen wir die Auflassungsvormerkung als Beispiel. Die Parteien können vom Kaufvertrag zurücktreten, sie können ihn aufheben, anfechten, die Unwirksamkeit geltend machen. Alles das führt zum Wegfall des gesicherten Anspruchs und zum Wegfall der Vormerkung, ohne dass es dem Grundbuch zu entnehmen wäre. Allzu weit her ist es mit der verlässlichen Abbildung der Rechtslage durch das Grundbuch bei der Vormerkung also nicht. Ein weiteres kommt hinzu. Die Vormerkung kann auch zur Sicherung bedingter und künftiger Ansprüche verwendet werden (§ 883 Abs. 1 Satz 2 BGB). Ob eine Bedingung eingetreten ist, ob ein künftiger Anspruch entstanden ist, ob die Vormerkung also „werthaltig“ geworden ist, auch dies erfährt man aus dem Grundbuch nicht. Es stellt bei der Vormerkung nicht den in Stein gemeißelten Schutzschild für den Rechtsverkehr dar, als den es die Kritiker der BGH-Rechtsprechung preisen.19 Freilich kann und sollte man über die Frage nachdenken, ob und wie man Unsicherheiten begrenzen kann. Denn in einem Punkt ist der Kritik die Berechtigung nicht abzusprechen. Infolge der Bezugnahme auf die erste Bewilligung (formelle und materielle Bewilligung fallen in aller Regel zusammen) ist dem Grundbuch zu entnehmen, dass ein Anspruch aus dem Kaufvertrag vom 19.9.1996 durch Vormerkung gesichert ist. Dass das Grundbuch nicht Auskunft darüber gibt, dass dieser Anspruch erloschen ist, ist die bei Vormerkungen stets zu gewärtigende Unsicherheit. Dass aber entgegen der Verlautbarung, und durch den Eintragungszeitpunkt der Vormerkung (16.10. 1996) nicht nahe gelegt, jetzt ein erst am 11.11.1996 begründeter Anspruch gesichert ist, ist eine zusätzliche Verunsicherung, die man, wenn möglich, vermeiden sollte. e) Überlegungen zur „Stärkung“ des Grundbuchs Zur Vermeidung dieser weiteren Unsicherheit werden im Wesentlichen zwei Erwägungen angestellt. Vorgeschlagen wird, die neue Vormerkung erst mit Eingang der zu den Grundakten zu nehmenden zweiten Bewilligung entstehen zu lassen.20 Ein anderer Ansatz geht dahin, die Eintragung eines Rang-
19 S. etwa Demharter (Fn. 8), S. 108; ders. MittBayNot 2008, S. 214, 216; s. auch Amann (Fn. 8), S. 201. 20 Vgl. Amann DNotZ 2008, 520, 524.
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vermerks zu verlangen, der das Wiederaufleben der Vormerkung im Grundbuch anzeigt.21 Die erste Möglichkeit hat der BGH nicht ins Kalkül gezogen. Sie scheint mir auch weniger geeignet. Der materielle Entstehungstatbestand setzt sich nun einmal aus der – schon vorliegenden – Eintragung und der Bewilligung zusammen. Die Vorlage der Bewilligung ist nicht Entstehensvoraussetzung, sondern hat verfahrensrechtliche Bedeutung (§§ 19, 29 GBO), die hier zudem entfällt, weil die Eintragung schon erfolgt ist. Und schließlich nutzt die zweite Bewilligung in den Grundakten wenig. Die Grundakten sind nicht das Grundbuch. Die zweite Möglichkeit hat schon der BGH angesprochen: Der Rang des vorgemerkten Rechts bestimme sich nach dem Zeitpunkt der neuen Bewilligung; dies sei „gegebenenfalls im Interesse der Grundbuchklarheit durch einen entsprechenden Rangvermerk im Grundbuch zum Ausdruck zu bringen22.“ Er hat das Problem allerdings nur unter dem Gesichtspunkt der Rangfolge betrachtet und auf weitere Erörterungen23 unter Hinweis darauf verzichtet, dass im Streitfall ein Rangproblem aus seiner Sicht nicht auftrat. Setzen wir also hier an und versuchen wir, den Gedanken weiter zu denken. Da ist zunächst klar zu stellen, dass es in dem von dem BGH entschiedenen Fall gar nicht um Rangfragen im engeren Sinn ging, sondern um das bisweilen so genannte Problem der „Wirksamkeitsreihenfolge“24, also um die Frage, ob das beeinträchtigende Recht auf ein schon vorgemerktes trifft oder nicht. Es kam darauf an, ob der Anspruch auf Eigentumsverschaffung bereits durch Vormerkung gesichert war, als die Hypothek eingetragen wurde. Das konnte der BGH nur bejahen, weil er für das Entstehen der Vormerkung die angeregte Eintragung eines Rangvermerks nicht als Wirksamkeitserfordernis ansah. Dann aber dient der Vermerk zwar der Grundbuchklarheit, er hat aber keine weiteren Auswirkungen; denn die Vormerkung entsteht unabhängig davon und geht im Sinne der Wirksamkeitsreihenfolge der Hypothek auch dann vor, wenn der Rangvermerk unterbleibt.25 Hat der BGH hier eine Chance vertan, für Grundbuchklarheit zu sorgen? Ich denke nicht. Das liegt – erneut – am materiellen Recht. Es wird deutlich, wenn wir auf den Grundfall des § 873 BGB, den Fall der Eigentumsübertragung, zurückgehen. Zur Eigentumsübertragung sind Einigung und Eintra-
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So Stürner/Heggen (Fn. 8); Soergel/Stürner, BGB, 13. Aufl., § 885 Rn. 6. BGH (Fn. 3), S. 183. 23 Wann ist der Fall „gegeben“, wer kann beantragen und durchsetzen, dass ein Rangvermerk eingetragen wird? Vgl. Demharter (Fn. 8), S. 107; Amann (Fn. 20), S. 528. 24 Begriff von Eickmann, in: Kuntze/Ertl/Herrmann/Eickmann Grundbuchrecht, 6. Aufl., § 45 Rn. 10. S. näher Staudinger/Gursky (Fn. 8), § 883 Rn. 280. 25 § 892 BGB dürfte als Schutz des Hypothekengläubigers auch nicht in Betracht kommen; denn das Grundbuch weist die Vormerkung aus. 22
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gung erforderlich. Werden die Voraussetzungen in dieser Reihenfolge verwirklicht, wird der Erwerber im Zeitpunkt der Eintragung Eigentümer. Das Grundbuch weist dies klar aus. Ändert man die Reihenfolge, folgt also die Einigung der Eintragung nach, wird der Erwerber im Zeitpunkt der Einigung Eigentümer. Aus dem Grundbuch ergibt sich dies nicht. Ersichtlich ist nur der nicht maßgebliche Zeitpunkt der Eintragung. Der Erwerbszeitpunkt wird auch nicht etwa auf den Zeitpunkt der Eintragung zurückbezogen. Die Vorschrift des § 879 Abs. 2, die eine solche Rückbeziehung für das Rangverhältnis kennt, ist nicht einschlägig. Es geht nicht um Rangfragen, es geht schlicht darum, wann ein Recht entstanden ist (Wirksamkeitsreihenfolge), und das richtet sich nicht nach § 879 Abs. 2 BGB, sondern danach, wann die Entstehungsvoraussetzungen verwirklicht worden sind.26 Es gibt weder Grund noch Handhabe,27 diese schlichte Rechtsfolge bei der Entstehung einer Vormerkung anders zu beurteilen. Die Möglichkeit, Eintragung und Bewilligung in der zeitlichen Reihenfolge zu vertauschen, hat notwendigerweise zur Folge, dass der Entstehungszeitpunkt der Vormerkung aus dem Grundbuch nicht mehr ersichtlich ist. Das ist aber keine Besonderheit der Vormerkung oder der Rechtsprechung des BGH, sondern das ist stets der Fall, wenn der rechtsgeschäftliche Teil der Rechtsbegründung oder -übertragung der Eintragung nachfolgt. Aus Gründen der Grundbuchklarheit mag man das bedauern und durch die Eintragung von Vermerken (so wie der BGH für sinnvoll erachtet hat) abzumildern suchen. An der Rechtslage ändert es nichts. Das Grundbuch ist immer nur so klar und verlässlich, wie es das materielle Recht fordert und zulässt. So bildet das Grundbuch beispielsweise das materielle Recht auch bei den Grundpfandrechten nicht zuverlässig ab, weil es die Möglichkeit der Übertragung dieser Rechte außerhalb des Grundbuchs gibt (§§ 1154 Abs. 1, 1192 Abs. 1 BGB). Niemand käme auf die Idee, diese Möglichkeit im Interesse der Grundbuchklarheit zu beschneiden. Bei der Begründung eines Rechts, bei der die Einigung bzw. die materielle Bewilligung der Eintragung nachfolgt, ist das nicht anders.
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S. nur Staudinger/Gursky (Fn. 8), § 883 Rn. 280. Stürner und Heggen (Fn. 21) fordern zwar die Eintragung eines Vermerks (als Wirksamkeitsvoraussetzung), finden dafür aber keine Norm, sondern führen das Schutzbedürfnis Dritter ins Feld. Dritte werden aber nur im Rahmen der gesetzlichen Regelungen geschützt. Wenn das materielle Recht Rechtsveränderungen außerhalb des Grundbuchs zulässt, geht der Schutz nicht über das hinaus, was die Vorschriften des § 892 BGB bieten. 27
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III. Die zweite Entscheidung 28 1. Der Fall Mit notariellem Vertrag vom 15.10.1993 übertrugen die Kläger im Wege vorweggenommener Erbfolge ihrer Tochter ein Hausgrundstück. Die Tochter verpflichtete sich, das Grundstück zu Lebzeiten der Kläger nicht zu veräußern, nicht zu belasten und nicht baulich zu verändern. Für den Fall, dass sie hiergegen verstieß, stand den Klägern ein Anspruch auf Rückübertragung zu, der durch eine zusammen mit der Eigentumsübertragung am 26.11.1993 eingetragene Vormerkung gesichert wurde. Mit notariellem Vertrag vom 5.5.1998 vereinbarten die Kläger mit ihrer Tochter, dass der Rückübertragungsanspruch auch dann gegeben sein sollte, wenn die Ehe der Tochter geschieden, wenn ein Konkurs- oder Vergleichsverfahren über ihr Vermögen eröffnet oder die Zwangsvollstreckung in das Grundstück betrieben würde. Ferner vereinbarten die Parteien, dass die Vormerkung den Rückübertragungsanspruch auch wegen der neuen Rücktrittsgründe sichern solle. Der Notar reichte eine Ausfertigung des Ergänzungsvertrages bei dem Grundbuchamt ein; die Rechtspflegerin vermerkte auf der bei den Grundakten befindlichen Ausfertigung des ersten Vertrages einen Hinweis auf den zweiten Vertrag. Im Jahre 2005 wurde über das Vermögen der Tochter der Kläger das Insolvenzverfahren eröffnet und die Beklagte zur Verwalterin bestellt. Von ihr verlangen die Kläger die Rückübertragung des Grundstücks. Land- und Oberlandesgericht haben die Klage abgewiesen. Die Revision führte zur Aufhebung und Zurückverweisung. 2. Die Lösung Der BGH nimmt an, dass die Vereinbarung der Verpflichtung der Tochter, das Grundstück im Falle der Konkurseröffnung zurückzuübertragen, wirksam ist. Von diesem nicht neuen und weitgehend anerkannten Ansatz29 soll nachfolgend ausgegangen werden, da wir uns hier nur mit der Problematik der Vormerkung befassen wollen. Der Rückübertragungsanspruch ist danach entstanden. Die Beklagte muss ihn nach § 106 InsO erfüllen, wenn er durch die Vormerkung gesichert ist. Letzteres bejaht der BGH auf der Grundlage seiner oben behandelten Entscheidung vom 26.11.1999.30 Das Berufungsgericht hatte die Vereinbarung
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BGH, Urteil vom 7.12.2007, V ZR 21/07, NJW 2008, S. 578. Zur insolvenzrechtlichen Problematik s. näher BGH, Urteil vom 19.4.2007, IX ZR 59/06, NJW 2007, S. 2325; Reul DNotZ 2007, S. 649; Amann (Fn. 20), S. 520 ff.; Zimmer ZfIR 2008, S. 91, 92 f. 30 S. Fn. 3. 29
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der Parteien als Bewilligung einer neuen Vormerkung ausgelegt, die indes nicht eingetragen worden sei. Der BGH beanstandete dies als rechtsfehlerhaft. Nach dem Vertrag vom 5.5.1998 sollte die Sicherung des Rückübertragungsanspruchs durch die bereits eingetragene Vormerkung um die ergänzend vereinbarten Rücktrittsbedingungen erweitert werden. Eine am Wortlaut orientierte Auslegung führt daher nicht dazu, dass eine neue Vormerkung bewilligt wurde, sondern dass die zur Sicherung des Rückübertragungsanspruchs bereits bestehende Vormerkung auf die zusätzlich vereinbarten Bedingungen erstreckt werden sollte. Nur das war Inhalt der in der Vereinbarung steckenden Bewilligung. Eine solche Erweiterung der Vormerkung hielt der BGH für wirksam: wenn es möglich sei, eine erloschene Forderung durch eine neue zu ersetzen,31 so müsse es – erst recht, weil in den Wirkungen dahinter zurückbleibend – möglich sein, einen bestehenden (bedingten) Anspruch um weitere Entstehungsbedingungen zu ergänzen. Allerdings bestimme sich der Rang der durch die Vormerkung weiter gesicherten Ansprüche – so der Leitsatz der BGH-Entscheidung – nach dem Zeitpunkt der neuen Bewilligung. Obwohl der gesicherte Anspruch somit insolvenzfest und von der Beklagten zu erfüllen war, konnte der BGH nicht „durchentscheiden“, weil die Frage der Insolvenzanfechtung im Raum stand und dazu weiterer Sachvortrag ermöglicht werden musste. Daher die Zurückverweisung in die Tatsacheninstanz. 3. Kritik Wem das erste Urteil nicht behagte und wer vielleicht noch auf eine Rückbesinnung des BGH gehoffte hatte, der spart gegenüber dem zweiten Urteil nicht mit noch deutlicherer Kritik.32 Wer an dem ersten Urteil zwar die Schwächung des Grundbuchs beklagte, doch immerhin die Minderung von Aufwand und Haftungsrisiko anerkannte,33 der vermag nun auch nichts Positives mehr zu erkennen und klammert sich fortan an die schwache Hoffnung, dass der BGH einst „die aus dem Ruder gelaufene Judikatur zum Aufladen der Vormerkung korrigiert 34.“ Die Argumente sind die alten, ergänzt um ein paar Stiche gegen einzelne Passagen des neuen Urteils. Die Entscheidung gehe weit über das erste Urteil hinaus: seinerzeit sei die Vormerkung nur wieder „aufgeladen“ worden, nun werde ihre Kapazität erweitert (statt Novation nun Extension).35 Es stimme auch nicht, dass – wie der Senat 31 32 33 34 35
So die Entscheidung vom 26.11.1999 (Fn. 3). Demharter MittBayNot 2008, S. 214. Amann (Fn. 8), S. 201. Amann (Fn. 20), S. 528. Amann (Fn. 20), S. 522 f.
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gemeint habe – der gesicherte Anspruch im Grundbuch nicht zu bezeichnen sei; infolge der Bezugnahme auf die Bewilligung (§ 885 Abs. 2 BGB) sei das Gegenteil der Fall.36 Schließlich sei die Konsequenz der Auffassung des BGH, dass das vorgemerkte Recht entgegen dem unbestrittenen Dogma, wonach ein dingliches Recht nur einen einheitlichen Rang haben könne, nach § 883 Abs. 3 BGB zwangsläufig mit gespaltenem Rang entstehe.37 4. Stellungnahme a) Bildersprache Bilder sind dazu da, ein Problem zu veranschaulichen. Daher werden sie zumeist so gewählt, dass sie die Auffassung desjenigen veranschaulichen, der sie verwendet. Wenn man die Nähe des Anwartschaftsrechts zum Vollrecht betonen möchte, spricht man gern vom „wesensgleichen Minus“. Den Direkterwerb des Vollrechts, um beim Beispiel des Anwartschaftsrechts zu bleiben, bezeichnet man bildhaft als „Erstarken“. So ist es auch bei unserem Problem. Der „Akku wird aufgeladen“, heißt es,38 wenn der „leeren Hülse“ ein neuer Anspruch „untergeschoben“ wird. Die Ladung werde erhöht, seine Kapazität erweitert, sind Beschreibungen, die dem Fall der „Extension“ gerecht werden wollen. Insgesamt ist gar von der „recyclebaren, wiederaufladbaren und stretchbaren Vormerkung“ die Rede.39 Argumente transportieren solche Bilder nicht. Lassen wir also einmal die Ikonographie beiseite. b) Besinnung auf den Ausgangspunkt Ausgangspunkt für die Zulässigkeit der Erweiterung der Sicherungswirkungen der Vormerkung ist der Umstand, dass die Bewilligung der Eintragung nachfolgen kann. Voraussetzung für die Zulässigkeit ist, dass die Bewilligung inhaltlich mit der Eintragung korrespondiert (s. oben unter II. 3. b). Eingetragen ist eine Vormerkung zur Sicherung eines (bedingten) Rückübertragungsanspruchs der Kläger gegen ihre Tochter. Dieser Anspruch ist als solcher derselbe geblieben, wohl aber sind die Bedingungen seiner Entstehung um drei Fälle vermehrt worden. Das führt nicht zu einer inhaltlichen Änderung dergestalt, dass Eintragung und Bewilligung nicht mehr aufeinander bezogen wären. Dafür lässt sich vieles anführen. Die Ergänzungen betreffen den Schuldgrund, nicht aber die im Regelfall allein zum Inhalt der Vormerkung gehö36
Demharter (Fn. 32), S. 215. Amann (Fn. 20), S. 526; Zimmer (Fn. 29), S. 95. 38 Amann (Fn. 20), S. 522; s. auch schon Stürner/Heggen (Fn. 8), vom BGH aufgegriffen (Fn. 28), S. 579. 39 Brambring, Vortrag anlässlich der 6. Jahresarbeitstagung des Notariats des Deutschen Anwaltsinstituts am 18.9.2008 in Würzburg. 37
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rende 40 Individualisierung des gesicherten Anspruchs nach Art und Gegenstand. Daran ändert auch nichts der – in der Sache zutreffende – Hinweis darauf, dass über die Bezugnahme der Bewilligung (§ 885 Abs. 2 BGB) diese zum Grundbuchinhalt wird.41 Sie wird dadurch noch nicht zur materiellrechtlichen Wirksamkeitsvoraussetzung für das Entstehen der Vormerkung und bestimmt nicht deren Inhalt. In Bezug genommen wird zudem nur die Bewilligung, nicht der ganze Vertrag, und ob der Bewilligung die Einzelheiten für das Entstehen der gesicherten Forderung entnommen werden können, ist nicht garantiert. Im Übrigen liegen die neu hinzugekommenen Rücktrittsgründe auf der gleichen Linie, wie die zuvor vereinbarten. Das Belastungs- und Veräußerungsverbot dient ebenso dem Bestreben, das Grundstück in der Familie zu halten, wie die neu vereinbarten Rücktrittsgründe im Fall der Gesamt- oder Einzelzwangsvollstreckung. Der Fall der Scheidung mag etwas ferner liegen, verfolgt wird damit aber ersichtlich dasselbe Ziel. Selbst unter Hinzunahme der den Rückübertragungsanspruch auslösenden Bedingungen lässt sich damit eine inhaltliche Entsprechung von Eintragung und nachfolgender Bewilligung nur schwer leugnen. Ursache für kritische Bedenken bleibt stets in diesen Fällen der Umstand, dass die Rechtslage dem Grundbuch nicht sicher entnommen werden kann. Zumal wenn die erste Bewilligung die zunächst vereinbarten Rücktrittsgründe erkennen ließ, trägt die Erweiterung, weil sie, um wirksam zu werden, nicht verlautbart zu werden braucht, eine unwillkommene Unsicherheit in das Grundbuch. Das ist aber – wie zum ersten Fall ausführlich dargelegt 42 – Folge des materiellen Rechts und damit systemimmanent. Gleichwohl ist es hilfreich und in solchen Fällen generell wünschenswert,43 wenn – wie im konkreten Fall geschehen – in den Grundakten ein Hinweis auf den Ergänzungsvertrag vermerkt wird. c) „Rangproblematik“ Der BGH hat im Leitsatz der Entscheidung formuliert, der Rang der durch die Vormerkung weiter gesicherten Ansprüche bestimme sich nach dem Zeitpunkt der neuen Bewilligung. Der Vorwurf, das führe zu nicht 40 S. oben unter II. 3. b) – Zugestanden auch von Amann (Fn. 20), S. 526 f. Wenn Demharter (Fn. 32), S. 215, meint, die Bedingungen, deren Eintritt Voraussetzung für das Entstehen des gesicherten Anspruchs seien, müssten sich aus dem Grundbuch ergeben, so entspricht das nicht der allgemeinen Auffassung und ergibt sich insbesondere nicht aus der angegebenen Belegstelle Staudinger/Gursky (Fn. 8), § 885 Rn. 71; gerade das Gegenteil ist der Fall (vgl. oben bei Fn. 13), man muss bei Gursky nur drei Randnummern weiter lesen. 41 Demharter (Fn. 32), S. 215. 42 S. Ausführungen zu II 3. d) und e). 43 Der BGH formuliert: „angezeigt“. Amann (Fn. 20), S. 528, meint, für eine Verlautbarung im Grundbuch selbst könne ein Rechtsschutzbedürfnis der Beteiligten nicht verneint werden; einem dahin gehenden Antrag müsse das Grundbuchamt daher entsprechen.
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akzeptablen Systembrüchen,44 weil einer Vormerkung danach verschiedene Rangpositionen zukommen könnten, ist gewichtig. Ihm ist daher nachzugehen. Zunächst ist auch hier wiederum richtig zu stellen, dass es in dem konkreten Fall nicht um Rangfragen im eigentlichen Sinn geht, sondern um die Frage, wann die Vormerkung entstanden ist („Wirksamkeitsreihenfolge“). Was im Leitsatz missverständlich formuliert ist, wird in den Entscheidungsgründen klar: „Nach der Vormerkung aber vor deren „Aufladung“ in das Grundbuch eingetragene Rechte werden von der Änderung des durch die bestehende Vormerkung gesicherten Anspruchs nicht berührt.“ Der Rückübertragungsanspruch wird hinsichtlich der zusätzlich vereinbarten Bedingungen also – und wie sollte es anders sein – erst mit dem Zeitpunkt der in dieser Vereinbarung liegenden Bewilligung geschützt. Das hat an sich weder etwas mit § 883 Abs. 3 BGB zu tun,45 noch könnte der Schutz unter Hinweis auf § 879 Abs. 2 BGB auf den Zeitpunkt der Eintragung der Vormerkung rückbezogen werden.46 Denn auch wenn die hM der Auflassungsvormerkung einen „Rang“ zuspricht,47 so geht es der Sache nach doch allein um die Frage, wann die Vormerkung entstanden ist und ob die beeinträchtigende Verfügung danach erfolgte und infolgedessen dem Vormerkungsberechtigten gegenüber unwirksam ist (Frage der Wirksamkeitsreihenfolge)48. Allein auf die Entstehungszeitpunkte kommt es an; die Vorschriften des § 879 BGB sind insoweit nicht einschlägig.49 Daher ist auch der Hinweis, „von der verlässlichen Größe des § 883 Abs. 3 BGB“ habe sich der Bundesgerichtshof verabschiedet,50 nicht richtig. Die Norm ist ebenfalls nicht einschlägig. Richtig ist, dass bei der Geltendmachung des gesicherten Rückübertragungsanspruchs die Wirkungen der Vormerkung unterschiedlich sind. Wird der Anspruch geltend gemacht, weil die Tochter gegen eine der ursprünglich vereinbarten Bedingungen verstoßen hat (Veräußerung, Belastung, bauliche Veränderung), so ist eine nach der Eintragung der Vormerkung vorgenommene beeinträchtigende Verfügung (etwa eine Veräußerung) den Klägern gegenüber unwirksam (§ 883 Abs. 2 BGB). Löst eine der nachträglich vereinbarten Bedingungen (Insolvenz; Einzel-
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Amann (Fn. 20), S. 526. Vgl. Staudinger/Gursky (Fn. 8), § 883 Rn. 279. 46 Zutreffend Stürner/Heggen (Fn. 8) unter 2d. 47 RGZ 124, 200, 202; BGHZ 46, 124, 127; 141, 169, 172; s. auch die Ausführungen in der hier behandelten ersten Entscheidung, BGHZ 143, 175, 183; zur Lit. s. die Angaben bei Staudinger/Gursky (Fn. 8), § 883 Rn. 280. 48 S. schon oben unter II. 3. e) bei Fn. 26, 27; Staudinger/Gursky (Fn. 8), § 883 Rn. 280. 49 Staudinger/Gursky (Fn. 8), § 883, Rn. 280, 283; – abgesehen von dem Umstand, dass aus § 879 Abs. 2 BGB die Möglichkeit entnommen werden kann, dass die Bewilligung der Eintragung nachfolgt. 50 Zimmer (Fn. 29), S. 95. 45
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zwangsvollstreckung; Scheidung) den Rückübertragungsanspruch aus, so erfassen die Wirkungen der Vormerkung nur solche beeinträchtigenden Verfügungen, die zeitlich vor der erweiternden Bewilligung vorgenommen wurden; spätere werden nicht erfasst. d) Aus dem Ruder gelaufene Judikatur? Für beeinträchtigende Verfügungen ist diese Differenzierung ganz uninteressant; denn sie lösen stets schon den Rückübertragungsanspruch in seiner ursprünglichen Ausgestaltung aus und fallen damit unter die Vormerkung. Auch bei einer Einzelzwangsvollstreckung liegt es nach § 883 Abs. 2 Satz 2 BGB grundsätzlich nicht anders. Bedeutsam kann die Differenzierung – wenn ich es richtig sehe – nur im (vorliegenden) Fall der Insolvenz werden oder im Falle der Zwangsvollstreckung, wenn der Rückübertragungsanspruch hierauf oder darauf gestützt wird, dass die Ehe der Tochter geschieden wurde. Versuchen wir herauszufinden, ob hierdurch Dogmen verletzt werden oder ob es zu anderen Unzuträglichkeiten kommt. aa) Insolvenz Wäre die Tochter insolvent geworden, bevor die ergänzenden Vereinbarungen getroffen wurden, wäre der Rückübereignungsanspruch zwar nach § 106 InsO ebenfalls „insolvenzfest“ gewesen, aber nur im Hinblick auf die ursprünglich vereinbarten Bedingungen. Die Insolvenz als Rücktrittsgrund wäre nicht zu berücksichtigen. Die Klage bliebe ohne Erfolg. Das Ergebnis ist in Ordnung. Es wäre nicht anders ausgefallen, verlangte man – wie die Kritiker der BGH-Rechtsprechung – wegen der ergänzenden Vereinbarung die Eintragung einer zweiten Vormerkung. Was spricht dann gegen die Lösung des BGH? Die Vormerkung sichert einen Anspruch, die Wirkungen können aber unterschiedlich ausfallen. Das ist bei einem bedingten Anspruch nicht ungewöhnlich. Eine Bedingung kann ausfallen, oder die Parteien können sie entfallen lassen. Das hat ohne weiteres Auswirkungen auf die Reichweite der Vormerkung, ohne dass das System in Unordnung geriete. Warum sollte das, wenn eine Bedingung hinzu tritt anders zu beurteilen sein? 51 Und was hilft es dem Insolvenzverwalter, wenn eine zweite Vormerkung eingetragen worden wäre? Entscheidend ist allein die materielle Rechtslage, und die ist im einen wie im anderen Fall zu klären.
51 Dass der Gedanke der Grundbuchklarheit für sich genommen kein Argument beisteuert, haben wir bereits gezeigt.
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bb) Zwangsvollstreckung Betreibt ein Gläubiger die Zwangsvollstreckung in das Grundstück der Tochter, so ist die Vormerkung zur Sicherung des Rückübertragungsanspruchs in das geringste Gebot aufzunehmen (§ 44 ZVG) und bleibt – soweit sie dem Recht des die Zwangsvollstreckung betreibenden Gläubigers vorgeht – beim Zuschlag bestehen.52 Das gilt auch, wenn die Vormerkung – wie hier – einen bedingten Übertragungsanspruch sichert.53 Gegenüber dem Ersteher wirkt sie also fort, freilich nur mit dem Inhalt, den sie im Zeitpunkt der Eintragung des Versteigerungsvermerks hatte. Auf die ergänzenden Rücktrittsgründe können sich die Kläger gegenüber dem Ersteher folglich nur berufen, wenn sie vor der Versteigerung vereinbart wurden und Gegenstand der erweiternden Bewilligung der Vormerkung waren. Ein Systembruch liegt darin mE nicht. Es ist also insbesondere nicht so, dass die Vormerkung – wie Zimmer befürchtet 54 – sowohl in das geringste Gebot fällt und gleichzeitig mit Zuschlag erlischt.
IV. Menetekel? Droht uns Unheil durch die Rechtsprechung des BGH? Ist die Vormerkung auf dem Weg zu einem abstrakten Sicherungsmittel? Öffnet sie die Türen für Folgeentscheidungen mit irrwitzigen Ergebnissen? Wenn man die kritischen Anmerkungen liest, ist man geneigt, alle Fragen mit einem deutlich „Ja“ zu beantworten. Dem ist natürlich nicht so. 1. Beweisfälle Sehen wir uns einige zum Beweis der Fehlentwicklung gebildete Fälle an. a) Fall 1 Da ist etwa Volmers als „Kontrapunkt“ zu der ersten Entscheidung gebildeter Fall aus der Praxis.55 V gibt gegenüber K 1 ein befristetes Angebot zum Grundstücksverkauf ab und sichert den (durch die Annahme bedingten) Anspruch des K 1 aus § 433 Abs. 1 BGB durch Eintragung einer Vormerkung ab. Danach verkauft er das Grundstück an K 2, der zunächst durch Vormerkung gesichert und dann – nach Ablauf der Annahmefrist für K 1 – als Eigentümer eingetragen wird. Die Vormerkung für K 1 wird von Amts 52 53 54 55
Vgl. Staudinger/Gursky (Fn. 8), § 883 Rn. 294 ff., 298 f. m. zahlreichen wN. BGHZ 46, 124; Staudinger/Gursky (Fn. 8), § 883 Rn. 298. Zimmer (Fn. 29), S. 95. S. Fn. 8.
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wegen gelöscht. Danach stellt sich heraus, dass V die Annahmefrist verlängert hatte und K 1 das Angebot innerhalb der verlängerten Frist angenommen hatte. Er verlangt nun von K 2 nach § 888 Abs. 2 BGB Zustimmung zu seiner (des K 1) Eintragung als Eigentümer. Eine Katastrophe für K 2, meint Volmer und entwickelt die Rechtslage mE zutreffend. In der Tat eine Katastrophe für K 2, doch ist das kein Kriterium. Entschiede man umgekehrt, wäre es eine Katastrophe für K 1. Mit der Wiederverwendung einer Vormerkung hat der Fall überhaupt nichts zu tun. Die für K 1 eingetragene Vormerkung war nicht erloschen, da der zu sichernde bedingte Anspruch infolge der Verlängerung der Annahmefrist fortbestand. Folglich war die von V zugunsten von K 2 vorgenommene Verfügung K 1 gegenüber unwirksam. Die – fehlerhafte – Löschung von Amts wegen vermochte daran nichts zu ändern. Volmer beklagt, dass sich die Verlängerung der Annahmefrist nicht aus dem Grundbuch ergebe. Das entspricht indes überwiegender Auffassung 56 und ist keine Folge erst der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, und schon gar nicht eine Folge der von ihm kritisierten (ersten) Entscheidung.57 Worüber man mE streiten kann, ist, ob der Schutz der Vormerkung hinsichtlich der verlängerten Frist wie zuvor, also ab Eintragung, wirkt oder ob der Zeitpunkt der Verlängerung maßgeblich ist. Für die zweite Möglichkeit nehmen Schöner/Stöber 58 die BGH-Entscheidung 59 in Anspruch. Das hätte zur Folge, dass K 2 nur dann „die Katastrophe“ zu erleiden hätte, wenn er seine Vormerkung zu einem Zeitpunkt erworben hätte, in dem die Annahmefrist für K 1 bereits verlängert worden war. Zutreffend ist dieser Ansatz aber nur, wenn man annimmt, zur Verlängerung der Frist sei eine erneute, nämlich eine erweiternde Bewilligung der Vormerkung erforderlich. Dann ist in der Tat nach beiden BGH-Entscheidungen60 auf den Zeitpunkt dieser Bewilligung abzustellen. Ich habe Zweifel, ob das die richtige Sicht der Dinge ist. Eine Verlängerung der Annahmefrist ist etwas anderes als die Begründung eines neuen Anspruchs oder die Erweiterung des Anspruchs um zusätzliche Entstehungsvoraussetzungen. Der Anspruch bleibt inhaltlich unverändert. Die Fristverlängerung verlangt daher nach mE zutreffender Ansicht weder nach einer neuen Eintragung 61 noch nach einer ergänzenden Bewilligung.62 56 Staudinger/Gursky (Fn. 8), § 883 Rn. 357; MüchKommBGB/Wacke (Fn. 5), § 885 Rn. 2; ders. DNotZ 1995, S. 507, 514; Promberger Rpfleger 1977, S. 157, 159; aA OLG Köln NJW 1976, S. 631; Palandt/Bassenge BGB, 68. Aufl., § 885 Rn. 2. 57 Wenngleich das etwa von Schöner/Stöber Grundbuchrecht, 14. Aufl., Rn. 1518 so gesehen wird; eher kann die zweite Entscheidung hierfür in Anspruch genommen werden. 58 Schöner/Stöber (Fn. 57), Rn. 1518. 59 S. Fn. 3. 60 S. Fn. 3 und Fn. 28. 61 Vgl. die Nachweise in Fn. 56. 62 Promberger (Fn. 56); Staudinger/Gursky (Fn. 8), § 883 Rn. 357, nicht ausdrücklich, aber aus dem Zusammenhang zu schließen.
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b) Fall 2 63 A verpflichtet sich gegenüber B zur Bestellung einer Grunddienstbarkeit mit dem Inhalt eines Versorgungsleitungsrechts, und zwar unter der Bedingung, dass bis zu einem bestimmten Zeitpunkt kein öffentlicher Anschluss hergestellt wurde. Zur Sicherung des Anspruchs wird eine Vormerkung bewilligt und eingetragen. Später vereinbaren A und B, dass die Bedingung entfallen soll. Amann leitet aus der zweiten BGH-Entscheidung ab, dass es in deren konsequenter Fortführung liege, sich mit einer bloßen Bewilligung zu begnügen, um den nunmehr der Bedingung entkleideten Anspruch dem Schutz der Vormerkung zu unterstellen. Da offenbare sich ein unerklärbarer Widerspruch zu der Regelung des § 877 BGB, wonach Änderungen des dinglichen Rechts selbst den Vorschriften der §§ 873, 874, 876 BGB unterfallen, also in das Grundbuch eingetragen werden müssen.64 Die Umwandlung einer bedingten Dienstbarkeit in eine unbedingte werde also im Grundbuch verlautbart, die entsprechende Änderung eines vorgemerkten Anspruchs nicht. Der Ausgangspunkt von Amanns Bedenken trifft nur dann zu, wenn man sagen kann, dass die Bewilligung einer Vormerkung zur Sicherung eines unbedingten Anspruchs anstelle eines bedingten der vorhandenen Eintragung inhaltlich entspricht. Denn das ist nach der Entscheidung des BGH Voraussetzung dafür, dass Eintragung und Bewilligung die Vormerkung entstehen lassen. Ob das hier bejaht werden kann, ist aber doch sehr die Frage und hängt davon ab, was man zum Inhalt der Eintragung zählt (vgl. oben III. 3. b)). Nimmt man an, was nicht gar zu fern liegt, dass Inhalt der Vormerkung und damit auch der Eintragung die Sicherung eines bestimmten bedingten Anspruchs ist, so würde auch der BGH sich nicht mit einer Bewilligung begnügen, wenn nunmehr ein unbedingter Anspruch gesichert werden soll. Hier liegt möglicherweise der wesentliche Unterschied zu der von Amann „zu Ende gedachten“ BGH-Entscheidung. Gesicherter Anspruch war dort ein bedingter Rückübertragungsanspruch. Dabei blieb es auch nach der Modifizierung, es traten nur weitere Bedingungen hinzu. Da lässt sich von Kongruenz zwischen unveränderter Eintragung und zusätzlicher Bewilligung sprechen. Aber hier? Selbst wenn man aber einmal Amanns Ausgangspunkt zugrunde legt, so bin ich mir nicht sicher, dass die Folgerungen daraus unerklärbare Widersprüche bloß legen. Was spricht denn eigentlich dafür, dass § 877 BGB zwingend auch auf die Vormerkung anzuwenden ist? Dass die Änderung eines dinglichen Rechts, also etwa auch die Umwandlung einer von einer Bedingung abhängigen Dienstbarkeit in eine unbedingte, Einigung und Eintragung 63 64
Von Amann (Fn. 20), S. 525, gebildet. Der Auffassung Amanns zustimmend Staudinger/Gursky (Fn. 8), § 883 Rn. 359.
Wiederverwendung einer Vormerkung?
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verlangt, ist selbstverständlich und ergäbe sich auch ohne § 877 BGB wohl schon aus § 873 BGB. Hier wird aber kein dingliches Recht verändert, sondern ein schuldrechtlicher Anspruch. Zugegeben: die Vormerkung ist akzessorisch, aber das nötigt nicht dazu, jede Änderung des gesicherten Anspruch als Änderung der Vormerkung als eines Rechts mit dinglichem Charakter zu begreifen und damit bei § 877 BGB zu landen. Die Vormerkung ist nicht mehr als ein Vehikel 65 zu dem Zweck, die Erfüllung eines Anspruch auf dingliche Rechtsänderung vor beeinträchtigenden Zwischenverfügungen zu schützen. Dieser Schutz wird auch dann erreicht, wenn nicht jede Änderung, die den schuldrechtlichen Anspruch betrifft, im Grundbuch verlautbart wird. c) Fall 3 66 Ein vorgemerkter Anspruch auf Einräumung einer Grunddienstbarkeit mit dem Inhalt eines Gewerbebetriebsverbots besteht für den Fall, dass auf dem herrschenden Grundstück ein Wohnhaus errichtet wird. Später wird als „zusätzliche Entstehungsvoraussetzung“ vereinbart, dass das herrschende Grundstück in einen Bebauungsplan einbezogen wird. Vor der Bewilligung der Vormerkung wegen dieser weiteren Entstehungsbedingung wird eine Grundschuld eingetragen. Das Grundstück wird in einen Bebauungsplan einbezogen, das Wohnhaus wird gebaut. Danach wird die Grunddienstbarkeit eingetragen. Nun – so Amann – entstehe die Grunddienstbarkeit entgegen § 883 Abs. 3 BGB mit gespaltenem Rang, nämlich soweit sie auf dem Wohnhausbau beruhe, im Rang vor der Grundschuld, und soweit sie auf der Einbeziehung in den Bebauungsplan beruhe, im Rang nach der Grundschuld. Da – wie Amann erkennt 67 – bei dem der zweiten BGH-Entscheidung zugrunde liegenden Fall ein Verstoß gegen § 883 Abs. 3 BGB nicht zu konstruieren ist (s. oben unter III. 4. c)), musste die die Gerichte nicht gerade in bedrückender Häufigkeit beschäftigende Konstellation von der gespaltenen Dienstbarkeit ersonnen werden, um einen angeblichen Systembruch nachzuweisen. Ein wirklicher Fall wird daraus aber allenfalls, wenn man die „zusätzliche Entstehungsvoraussetzung“ des Bebauungsplans nicht als zusätzliche begreift, sondern als alternative Voraussetzung (und so ist Amann wohl auch zu verstehen). Denn wenn es eine zusätzliche Voraussetzung wäre, ent-
65 Ein „mit gewissen dinglichen Wirkungen ausgestattetes Sicherungsmittel eigener Art“ ist die heute übliche Beschreibung, die vor der Schwierigkeit, die Vormerkung in das Rechtssystem einzuordnen, schon vor langer Zeit kapitulieren musste (vgl. schon RGZ 151, 389, 392 f.; BGHZ 25, 16, 23). 66 Ebenfalls von Amann (Fn. 20), S. 526. 67 Amann (Fn. 20), S. 526 Fn. 24.
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stünde der Anspruch erst mit dem Eintreten beider Bedingungen. Eine darin liegende Einschränkung des vorgemerkten Anspruchs ist nach allgemeiner Auffassung unproblematisch, und eine Verlautbarung im Grundbuch wird auch von den Kritikern der BGH-Rechtsprechung nicht verlangt.68 Die Rangproblematik stellt sich nicht; es gibt nur einen einheitlichen durch Vormerkung gesicherten Anspruch, dessen Entstehung durch zwei (kumulative) Voraussetzungen bedingt ist, und sodann auch nur eine einheitliche Grunddienstbarkeit (der die Grundschuld im Beispielsfall vorginge). Entsteht der Anspruch auf Einräumung der Dienstbarkeit aber sowohl, wenn das Grundstück in einen Bebauungsplan einbezogen wird, als auch dann, wenn ein Wohnhaus gebaut wird, werden Amanns Bedenken deutlich. Die Vormerkung zur Sicherung des von der Bebauung abhängigen Anspruchs geht der Grundschuld vor, die Vormerkung zur Sicherung des von der Einbeziehung in den Bebauungsplan abhängigen Anspruchs geht ihr nach. Da wir aber nur eine Vormerkung haben, hätte sie einen gespaltenen Rang – und die spätere Grunddienstbarkeit ebenso. Theoretisch so weit, so gut. Aber praktisch? Wenn die erste Bedingung eingetreten ist, interessiert die zweite nicht mehr. Der Anspruch ist entstanden; die Grunddienstbarkeit geht der Grundschuld vor. Bleibt die erste Bedingung aus, bringt aber die zweite Bedingung den Anspruch zur Entstehung, so geht die Grunddienstbarkeit der Grundschuld nach. Sollte später auch noch die erste Bedingung eintreten, ändert sich daran nichts mehr, der schon entstandene und durch Eintragung der Grunddienstbarkeit erfüllte Anspruch kann nicht ein zweites Mal entstehen (und erfüllt werden). Der gefürchtete Systembruch, er mag sich nicht so recht einstellen. 2. Viel Lärm um (fast) nichts Die beiden hier behandelten BGH-Entscheidungen beruhen auf allgemein anerkannten Grundsätzen zum materiellen Recht. Sie haben dessen Möglichkeiten ausgelotet, um dem Willen der Parteien Rechnung zu tragen. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Vertragsparteien im ersten Fall die Sicherung des Anspruch aus der Novation durch die bereits eingetragene Forderung erreichen wollten, und es besteht auch kein Zweifel daran, dass die Vertragsparteien im zweiten Fall den bedingten Rückübertragungsanspruch um weitere den Anspruch auslösende Bedingungen vermehren und dem Schutz der eingetragenen Vormerkung unterstellen wollten. Diesen berechtigten Anliegen ist zu entsprechen, wenn es das materielle Recht zulässt. Der Einwand, das Grundbuch werde dadurch in nicht hinnehmbarer Weise unüber-
68 Vgl. nur Staudinger/Gursky (Fn. 8), § 883 Rn. 356 mwN; s. auch MünchKommBGB/ Wacke (Fn. 5), § 885 Rn. 2.
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sichtlich, ist kein Argument, das in diesem Zusammenhang Gehör finden kann. Das Gebot der Grundbuchklarheit steht in Konkurrenz zu dem nicht minder wichtigen Interesse an größtmöglicher Verkehrsfreundlichkeit. Hier ist ein Ausgleich herzustellen. Rechtstechnisch vollzieht er sich bei der Bestimmung, was zum Inhalt der Vormerkung und zu ihrer Eintragung gehört. Je konkreter man hier wird, umso schwerfälliger wird die Handhabung. Jede kleinste Änderung in Bezug auf den gesicherten Anspruch schlägt dann auf die Vormerkung durch und verlangt nach Verlautbarung im Grundbuch. Es verfängt dann auch nicht das Argument, Dritte könnten sich auf das Grundbuch nicht mehr verlassen. Verlässlich ist das Grundbuch immer nur so weit, wie es materiellrechtliche Änderungen notwendigerweise abbildet. Gleichwohl ist der Warnruf, das Grundbuch könne seiner Aufgabe zunehmend weniger gerecht werden, zu beachten. Die Entscheidungen dürfen nicht dazu verführen, mit eingetragenen Vormerkungen eine Vorratshaltung zu betreiben.69 Im Übrigen war das Grundbuch in den hier behandelten Fällen nicht annähernd so irreführend, wie es manch ein Kritiker beschworen hat und wie es bei Vormerkungen an sich sehr schnell passieren kann, wenn nämlich der gesicherte Anspruch erloschen ist, die Vormerkung aber noch im Grundbuch steht. Das Grundbuch wies in beiden Fällen vollkommen zutreffend eine Vormerkung zur Sicherung eines Eigentumsübertragungsanspruchs aus. Nur über Einzelheiten des gesicherten Anspruchs gab es, wie häufig, keine sichere Auskunft. Da das aber, so könnte der letzte Satz eines Plädoyers des Jubilars lauten, angesichts der Vorgaben des materiellen Rechts und bei Vormerkungen insbesondere in der Natur der Sache liegt, kann ein so weitgehendes Vertrauen darauf nicht gegründet werden.
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Darauf weist zu Recht etwa Staudinger/Gursky (Fn. 8), § 883 Rn. 361, hin.
Leistungshandlung, Erfüllung und Wegfall der Erfüllung bei Holschulden insbesondere im Lastschrifteinzugsermächtigungsverfahren Gerd Nobbe I. Einleitung Holschulden widmet die juristische Literatur nur wenig Aufmerksamkeit. Kommentare und Lehrbücher beschränken sich häufig auf die Feststellung, dass der Gläubiger die Leistung am Wohnort des Schuldners abzuholen hat und dort auch der Leistungserfolg eintritt.1 Über die Leistungshandlung bei der Holschuld, über deren Erfüllung und den Wegfall der Erfüllung äußern sich die meisten Lehrbücher und Kommentare nicht. Krüger 2 beschränkt sich im Anschluss an Gernhuber 3 auf die Bemerkung, dass Holschulden den Gläubiger zur Bereitstellung des Leistungsgegenstandes und Bereitschaft zur Entäußerung an einem Ort verpflichten, an dem sich der Gläubiger annahmebereit einfinden muss. Das Schweigen von Lehrbüchern und Kommentaren ist umso erstaunlicher, als Holschulden in der Praxis eine große Rolle spielen. Insbesondere im Groß- und Zwischenhandel kommen Holschulden häufig vor. In der Forst- und in der Viehwirtschaft bilden sie die Regel. Große Bedeutung haben sie außerdem im bargeldlosen Zahlungsverkehr. Durch eine Lastschriftabrede, einer Nebenabrede im Valutaverhältnis, werden Geldschulden, die nach § 270 Abs. 1 BGB Schickschulden sind, zu Holschulden, gleichgültig ob das Abbuchungsauftrags- oder das Einzugsermächtigungsverfahren vereinbart ist.4 Beim Abbuchungsauftragsverfahren erteilt der Schuldner, im Lastschriftverfahren Zahlungspflichtiger genannt, bekanntlich seinem Kreditinstitut, der so genannten Zahlstelle, den Auftrag, Lastschriften eines namentlich
1 Erman/Ebert BGB, 12 Aufl., § 269 Rn. 1; PWW/Jud BGB, 4. Aufl., § 269 Rn. 2; Jauernig/Stadler BGB, 11. Aufl., 269 Rn. 1. 2 MünchKomm/Krüger BGB, 5. Aufl., § 269 Rn. 5. 3 Gernhuber Die Erfüllung und ihre Surrogate, 2. Aufl., S. 16. 4 BGHZ 177, 69, 78 Tz. 24; BGH WM 1984, 163, 164; BGH WM 1985, 462, 463; OLG Köln NJW-RR 1986, 390; AG München ZIP 2008, 592, 593.
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bezeichneten Gläubigers einzulösen. Beim Einzugsermächtigungsverfahren erteilt er seinem Gläubiger eine Ermächtigung, Forderungen durch Lastschrift von seinem Konto bei der Zahlstelle einzuziehen. Anders als beim Abbuchungsauftragsverfahren gibt der Zahlungspflichtige der Zahlstelle gegenüber keine rechtsgeschäftliche Erklärung ab. Die Zahlstelle wird vielmehr nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 5, der insoweit auf die grundlegenden Überlegungen von Hadding 6 zurückgegriffen hat, ausschließlich aufgrund des von der Bank des Gläubigers, der so genannten ersten Inkassostelle, – oder einer etwa eingeschalteten Zwischenbank – erteilten Auftrags tätig und greift ohne Weisung des Zahlungspflichtigen auf dessen Konto zu. Der Zahlungspflichtige hat deshalb die Möglichkeit, der Lastschrift ohne Angabe von Gründen zu widersprechen, solange er sie nicht nach § 684 Satz 2 BGB genehmigt hat (Genehmigungstheorie). Der Widerspruch führt dazu, dass die Zahlstelle den Lastschriftbetrag dem Zahlungspflichtigen im Wege der Kontoberichtigung wertstellungsneutral wieder gutzuschreiben hat. Insbesondere vor dem Hintergrund der durch die Entscheidungen des IX. Zivilsenats vom 4.11.2004 7 in Rechtsprechung 8 und Literatur 9 ausgelösten Kontroverse über die Erfüllung einer Geldschuld bei Vereinbarung des Einzugsermächtigungsverfahrens lohnt es, sich mit der Leistungshandlung, der Erfüllung und dem Wegfall der Erfüllung bei Holschulden näher zu befassen.
II. Leistungshandlung bei Holschulden Nach § 362 Abs. 1 BGB erlischt ein Schuldverhältnis nur, wenn die geschuldete Leistung an den Gläubiger bewirkt wird. Soweit dies nicht durch einen Dritten geschieht, setzt die Erfüllung voraus, dass der Eintritt des Leistungserfolges, den der Schuldner in der Regel zu bewirken hat 10, zumindest auch auf einer Handlung des Schuldners beruht.11 5 BGHZ 69, 82, 84 f.; 74, 309, 312; 95, 103, 106; 144, 349, 353; 162, 294, 302 f.; 167, 171, 174 Tz. 12; 174, 84, 88 Tz. 12; BGH WM 1989, 520, 521; BGH WM 1996, 335, 337; BGH WM 2003, 524, 526; BGH ZInsO 2005, 40, 41. 6 Hadding in: Festschrift Bärmann, 1975, S. 375, 384 ff. 7 BGHZ 161, 49 ff.; BGH ZInsO 2005, 40 ff.; BGH EWiR 2005, 227 f. 8 BGHZ 177, 69, 76 ff. Tz. 19 ff.; AG München ZIP 2008, 592, 593. 9 Bork in: Festschrift Gerhardt, 2004, S. 69, 76; Meder JZ 2005, 1089, 1093; Peschke ZInsO 2006, 470, 471; Nobbe/Ellenberger WM 2006, 1885, 1888 ff.; Nobbe KTS 2007, 397, 410; Jungmann WM 2007, 1633, 1638 f.; Aderhold in: Festschrift H. P. Westermann, 2008, S. 3, 12 f. 10 BGHZ 87, 156, 162; BGH WM 1991, 454, 455. 11 Staudinger/Olzen BGB Neubearbeitung 2006 § 362 Rn. 12; HK-BGB/Schulze, 5. Aufl., § 362 Rn. 2.
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Die vom Schuldner vorzunehmende Leistungshandlung ist, soweit darüber keine ausdrückliche oder konkludente Vereinbarung getroffen worden ist, durch Auslegung des geschlossenen Vertrags anhand der besonderen Umstände, insbesondere des Leistungsgegenstands, zu ermitteln. Die Leistungshandlung beschränkt sich bei Holschulden nicht immer nur auf die bloße Bereitstellung des Leistungsgegenstands und die Bereitschaft zur Entäußerung.12 Häufig, wie etwa beim Kauf von Kies durch einen Baustoffhändler, schuldet der Verkäufer auch das Beladen des Transportfahrzeugs. Beim Verkauf von geschlagenem Holz hat der Forsteigentümer die Baumstämme an einem bestimmten Ort zur Abholung durch den Käufer oder einen von ihm beauftragten Frachtführer bereitzustellen. Bei Vereinbarung des Lastschriftverfahrens zur Bezahlung einer Geldschuld muss der Zahlungspflichtige bei Fälligkeit auf seinem Girokonto bei der Zahlstelle ausreichende Deckung in Form eines Guthabens oder einer offenen Kreditlinie vorhalten. Den beiden letztgenannten Vereinbarungen ist gemeinsam, dass Leistungsort nicht der Wohnsitz des Schuldners ist und dass Elemente der Bringschuld mit solchen der Holschuld verbunden sind. Bis zum Holzlager- und -verladeplatz hat der Schuldner die Baumstämme zu transportieren und dort zur Abholung bereit zu stellen. Bei der Vereinbarung des Lastschriftverfahrens hat der Zahlungspflichtige ausreichende Geldmittel zur Zahlstelle zu bringen oder zu überweisen oder mit ihr eine ausreichende Kreditlinie zu vereinbaren und Buchgeld in der erforderlichen Höhe für einem vom Gläubiger veranlassten Zugriff bereit zu halten. Bis zum vereinbarten Leistungsort gelten danach konsequenterweise die Grundsätze für die Bringschuld, danach diejenigen für die Holschuld.13 Der Schuldner hat die Leistungshandlung vorgenommen, wenn er alles Erforderliche getan hat, um den Leistungserfolg zu bewirken. Bei der Veräußerung von Kies ab Grube ist das geschehen, wenn der Verkäufer das Transportfahrzeug mit der geschuldeten Menge mit Übereignungswillen beladen hat. Bei der Veräußerung von geschlagenem Holz muss zur Bereitstellung am Verladeplatz das Belassen des Holzes an dieser Stelle hinzukommen, es sei denn, die Parteien haben den Übergang des Eigentums und des Besitzes am gelagerten Holz bereits vor Abholung vereinbart. Bei der Vereinbarung des Lastschriftverfahrens ist die Leistungshandlung des Zahlungspflichtigen abgeschlossen, wenn er die geschaffene Deckung auf seinem Konto bis zur Vornahme der Belastungsbuchung durch die Zahlstelle auf seinem Konto vorhält. Der Zahlungspflichtige hat das seinerseits Erforderliche getan, wenn der geschuldete Geldbetrag von seinem Konto bei der Zahlstelle
12 So aber MünchKomm/Krüger BGB, 5. Aufl., § 269 Rn. 5; Gernhuber Die Erfüllung und ihre Surrogate, 2. Aufl., S. 16. 13 Gernhuber Die Erfüllung und ihre Surrogate, 2. Aufl., S. 17.
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abgebucht werden kann.14 Zu einer weiteren Leistungshandlung, etwa einer Genehmigung der Belastungsbuchung, die die Zahlstelle bei Einziehung der Lastschrift auf seinem Konto vornimmt, ist der Zahlungspflichtige nicht verpflichtet.15 Wollte man dies mit dem IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs16 anders sehen, würde der Zahlungspflichtige bei einer nach dem Kalender bestimmten wiederkehrenden Zahlungsverpflichtung, etwa einer Mietzahlung, nach §§ 286, 287 BGB in Verzug geraten17, obwohl er das Einzugsermächtigungsverfahren gerade gewählt hat, um sich um Fälligkeitstermine nicht mehr kümmern zu müssen. Mit der Leistungshandlung ist in der Regel eine Tilgungsbestimmung des Schuldners verbunden. Diese liegt bei Holschulden im Beladen des Transportfahrzeugs mit dem verkauften Stück- oder Gattungsgut bzw. dessen Bereitstellung zur Abholung durch den Gläubiger. Schuldet der Zahlungspflichtige bei Vereinbarung des Lastschriftverfahrens dem Gläubiger aus mehreren verschiedenen Geschäften Geld, so erfolgt die Tilgungsbestimmung beim Lastschrifteinzug vereinbarungsgemäß nicht durch den Zahlungspflichtigen, sondern durch den Gläubiger. Er bestimmt durch den der ersten Inkassostelle erteilten Inkassoauftrag, den diese an die Zahlstelle weiterleitet, welche von mehreren Forderungen durch den per Lastschrift einzuziehenden Betrag getilgt werden soll.
III. Eintritt des Leistungserfolges bei Holschulden Ebenso wie bei der Leistungshandlung sind auch der geschuldete Leistungserfolg und sein Eintritt durch Auslegung des geschlossenen Vertrages anhand der besonderen Umstände, insbesondere des Leistungsgegenstands, zu ermitteln. Bei der Veräußerung von Kies bzw. geschlagenem Holz schuldet der Verkäufer die Übereignung nach § 929 BGB. Mit ihr erlischt der Anspruch des Käufers aus dem Kaufvertrag (§ 362 Abs. 1 BGB). Bei Vereinbarung des Lastschriftverfahrens ist die im Valutaverhältnis geschuldete Geldleistung bewirkt, wenn der Lastschriftbetrag dem Konto des Gläubigers bei der Inkassobank vorbehaltlos gutgeschrieben wurde.
14 BGHZ 162, 294, 302 f.; 177, 69, 78 Tz. 24; Dennhardt in: Bamberger/Roth BGB, 2. Aufl., § 362 Rn. 30. 15 BGH WM 1985, 461, 462. 16 BGHZ 161, 49, 54; 174, 84, 88 f. Tz. 13; BGH ZInsO 2005, 40, 41 f.; s. auch Grundmann in: Ebenroth/Boujong/Joost HGB BankR II, Rn. II 123; Häuser WM 1991, 1, 6. 17 So zutreffend Kuder Die Zahlstelle in der Insolvenz des Lastschriftschuldners im Einzugsermächtigungsverfahren, 2006, S. 67; Jungmann WM 2007, 1633, 1638.
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1. Eintritt des Leistungserfolges beim Abbuchungsauftragsverfahren Nach Nr. 9 Abs. 1 AGB-Banken und Nr. 9 Abs. 1 AGB-Sparkassen schreiben Banken bzw. Sparkassen den Gegenwert von Einzugspapieren wie Schecks und Lastschriften dem Konto des Gläubigers sofort nach Einreichung gut. Da sie in diesem Augenblick von dem bezogenen Kreditinstitut bzw. der Zahlstelle noch keine Deckung erhalten haben, erfolgt die Gutschrift mit dem Vorbehalt „E.v.“, d.h. Eingang der Deckung vorbehalten. Der Vorbehalt stellt eine Bedingung dar, ob eine aufschiebende oder aber eine auflösende ist streitig. Der II. und der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs18 und ein Teil der Literatur19 nehmen eine auflösende Bedingung an, der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs20 und ein anderer Teil des Schrifttums 21 eine aufschiebende. Zutreffend ist die Qualifizierung als auflösende Bedingung (§ 158 Abs. 1 BGB); denn die Vorbehaltsgutschrift wird mit einer bestimmten Wertstellung für die Zinsberechnung sofort ins Kontokorrent eingestellt. Dies wäre bei einer aufschiebend bedingten, nach § 158 Abs. 1 BGB noch nicht wirksamen Gutschrift nicht möglich. Mit der Einlösung der Lastschrift durch die Zahlstelle gemäß Nr. 9 Abs. 2 AGB-Banken und AGBSparkassen im Abbuchungsauftragsverfahren entfällt der Vorbehalt, die Gutschrift ist endgültig und die Geldforderung des Gläubigers im Valutaverhältnis erlischt infolge Erfüllung (§ 362 Abs. 1 BGB).22 2. Eintritt des Leistungserfolges beim Einzugsermächtigungsverfahren Ob gleiches auch im Einzugsermächtigungsverfahren gilt, d.h. die Geldforderung des Gläubigers auch hier mit Einlösung der Lastschrift durch die Zahlstelle erfüllt ist, ist wegen der Widerspruchsmöglichkeit, die dem Zahlungspflichtigen anders als im Abbuchungsauftragsverfahren bei Einzugsermächtigungslastschriften zusteht 23, sehr streitig.
18 BGH WM 1980, 738; BGH WM 1986, 1409, 1411; ebenso OLG Saarbrücken ZIP 1998, 1267, 268. 19 Nobbe in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl., § 61 Rn. 51; Kümpel Bank- und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl., Rn. 2.486; Gößmann in: Hellner/Steuer/ Schröter/Weber, Bankrecht- und Bankpraxis Rn. 1/250; Nobbe/Ellenberger WM 2006, 1885, 1888. 20 BGHZ 118, 171, 177 = WM 1992, 1083; ebenso OLG Frankfurt WM 1997, 24, 25. 21 Canaris Bankvertragsrecht, 3. Aufl., Rn. 744; van Gelder in: Schimansky/Bunte/ Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl., § 58 Rn. 166; Baumbach/Hopt HGB, 33. Aufl., (7) BankGesch Rn. E/6; Bunte AGB-Banken und Sonderbedingungen Rn. 219; Häuser WM 1991, 1, 3. 22 BGH WM 2003, 524, 525 f. 23 Vgl. Abschn. III Nr. 1 Lastschriftabkommen, abgedruckt bei van Gelder in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl., Anh. 1 zu §§ 56–59.
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a) Der IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs24 und ein Teil der Literatur 25 sind der Ansicht, dass die Gläubigerforderung im Einzugsermächtigungsverfahren vor dem Entfallen der Widerspruchsmöglichkeit des Zahlungspflichtigen, d.h. vor Erteilung der Genehmigung der Belastungsbuchung im Deckungsverhältnis,26 nicht erfüllt ist. Begründet wird dies damit, dass die Belastungsbuchung der Zahlstelle auf dem Konto des Zahlungspflichtigen noch nicht wirksam, aus dem Vermögen des Zahlungspflichtigen noch nichts abgeflossen und die geschuldete Geldleistung damit noch nicht endgültig an den Gläubiger bewirkt sei.27 Gleichwohl soll für die Frage, ob ein Bargeschäft i.S. des § 142 Abs. 1 BGB vorliegt, im Rahmen der Insolvenzanfechtung auf den Zeitpunkt des Lastschrifteinzugs abzustellen sein.28 Zum Teil wird angenommen, dass die Erfüllung der Gläubigerforderung durch die dem Gläubiger erteilte Gutschrift unter der auflösenden Bedingung des Widerspruchs des Zahlungspflichtigen gegen die Belastung seines Kontos durch die Zahlstelle steht.29 b) Der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs30 und ein anderer Teil des Schrifttums31 vertreten demgegenüber die Auffassung, dass die Geldforde24 BGHZ 161, 49, 53 f.; 174, 84, 88 f. Tz. 13; BGH ZInsO 2005, 40, 41; BGH WM 2008, 1327, 1328 Tz. 13; so auch OLG Karlsruhe ZIP 2007, 286, 287; OLG Düsseldorf BKR 2007, 514, 517; OLG Koblenz ZIP 2008, 1987, 1988; OLG Köln ZIP 2009, 232, 233 f.; OLG Düsseldorf ZIP 2009, 980, 982; LG Regensburg WM 1992, 1678, 1679. 25 Van Gelder in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl., § 58 Rn. 165–178; Kümpel Bank- und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl., Rn. 4.501; Staudinger/Martinek BGB Neubearbeitung 2006 § 676f Rn. 38; MünchKomm/Wenzel BGB, 5. Aufl., § 364 Rn. 26; Soergel/Häuser/Welter, BGB, 12. Aufl., § 675 Rn. 239, 240; Erman/Graf von Westphalen BGB, 12. Aufl., § 676 f Rn. 62; Palandt/Grüneberg BGB, 68. Aufl., § 362 Rn. 11; PWW/Pfeiffer BGB, 4. Aufl., § 364 Rn. 13; HK-BGB/Schulze, 5. Aufl., § 364 Rn. 5; Jauernig/Stürner BGB, 11. Aufl., §§ 364, 365 Rn. 5; MünchKomm-HGB/Hadding/Häuser, 2. Aufl., ZahlungsV Rn. C 127–129; Grundmann in: Ebenroth/Boujong/Joost HGB BankR II Rn. II 123; Heermann Geld und Geldgeschäfte, 2003, § 13 Rn. 17; Bauer WM 1983, 198, 205; Häuser WM 1991, 1, 5; Gero Fischer in: Festschrift Gerhardt, 2004, S. 223, 230; ders. WM 2009, 629, 636 f.; Böhm BKR 2005, 366, 367; Dawe ZVI 2007, 549; Spliedt NZI 2007, 72, 74; Christian Berger NJW 2009, 473, 474. 26 BGHZ 144, 349, 354; BGH WM 2003, 524, 526; Heermann Geld und Geldgeschäfte, 2003, § 13 Rn. 17. 27 OLG Düsseldorf BKR 2007, 514, 517; LG Erfurt WM 2003, 1857, 1858 f.; van Gelder in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl., § 58 Rn. 165; Kümpel Bank- und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl., Rn. 4.501; HK-BGB/Schulze, 5. Aufl., § 364 Rn. 5; Hadding WM 2005, 1549, 1552. 28 BGH WM 2008, 1327, 1329 Tz. 15; kritisch dazu Werres ZInsO 2008, 1065, 1067. 29 LG Regensburg WM 1992, 1678, 1680; MünchKomm/Wenzel BGB, 5. Aufl., § 364 Rn. 26; jurisPK-BGB/Kerwer § 362 Rn. 43; Jauernig/Stürner BGB, 11. Aufl., §§ 364, 365 Rn. 5. 30 BGHZ 177, 69, 77 f. Tz. 22–24; ebenso AG München ZIP 2008, 592, 593. 31 Staudinger/Olzen, BGB Neubearbeitung 2006 § 362 Rn. 75; MünchKomm/Casper, BGB, 5. Aufl., vor § 676a BGB Rn. 50; Baumbach/Hopt HGB, 33. Aufl., BankGesch (7) Rn. D/22.; Canaris Bankvertragsrecht, 3. Aufl., Rn. 577, 636; Krepold/Spiegel in: Hellner/
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rung des Gläubigers im Einzugsermächtigungsverfahren mit der Einlösung der Lastschrift durch die Zahlstelle erfüllt wird und erlischt, weil der Leistungserfolg trotz der im Deckungsverhältnis zur Zahlstelle bestehenden Widerspruchsmöglichkeit des Zahlungspflichtigen eingetreten ist. Von einem Teil des Schrifttums wird insoweit darauf hingewiesen, dass die Erfüllung nach Einlösung der Lastschrift durch den Widerspruch des Zahlungspflichtigen auflösend bedingt sei.32 c) Der erstgenannten Ansicht kann nicht gefolgt werden. Die vom Zahlungspflichtigen geschuldete Leistung ist vielmehr mit der Einlösung der vom Gläubiger zum Inkasso gegebenen Lastschrift durch die Zahlstelle genau in der Weise bewirkt, wie dies in der Lastschriftabrede vereinbart war, also erfüllt (§ 362 Abs. 1 BGB).33 Ob Erfüllung eingetreten ist, bestimmt sich nämlich danach, was die Parteien des Valutaverhältnisses als Leistungserfolg vereinbart haben, d.h. maßgeblich ist insoweit der Wille der Parteien.34 Die Vereinbarung der Parteien kann im Rahmen der Privatautonomie, was teilweise übersehen wird35, ohne weiteres dahin gehen, dass auch eine noch nicht irreversible Rechtsposition des Gläubigers als Bewirkung der Leistung gelten soll.36 Ob dies der Fall ist, ist durch Auslegung der beim Lastschriftverfahren getroffenen Lastschriftabrede zu ermitteln.
Steuer/Schröter/Weber Bankrecht und Bankpraxis Rn. 6/506h und 6/507b und c; Claussen/van Look Bank- und Börsenrecht, 4. Aufl., S. 186; Engel Rechtsprobleme um das Lastschriftverfahren, 1966, S. 54; Vollrath Die Endgültigkeit bargeldloser Zahlungen, 1997, S. 139; Obermüller Insolvenzrecht in der Bankpraxis, 7. Aufl., Rn. 3.452a; Tober Die Vertragskette im bargeldlosen Zahlungsverkehr, 2005, S. 298; Denck ZHR 147 (1983), 544, 555 f.; Bork in: Festschrift Gerhardt, 2004, S. 69, 76; ders. ZIP 2004, 2446; Nobbe/Ellenberger WM 2006, 1885, 1888 f.; Nobbe KTS 2007, 397, 409 f.; Peschke ZInsO 2006, 470, 471 f; Jungmann WM 2007, 1633, 1638; ders. ZIP 2008, 295, 296; Aderhold in: Festschrift H. P. Westermann, 2008, S. 3, 12 f. 32 Canaris Bankvertragsrecht, 3. Aufl., Rn. 577, 636; Krepold in: Hellner/Steuer/Schröter/Weber Bankrecht und Bankpraxis Rn. 6/360 und 6/506h; Engel Rechtsprobleme um das Lastschriftverfahren, 1966, S. 54; Vollrath Die Endgültigkeit bargeldloser Zahlungen, 1997, S. 139; Obermüller Insolvenzrecht in der Bankpraxis, 7. Aufl., Rn. 3.452a; Tober Die Vertragskette im bargeldlosen Zahlungsverkehr, 2005, S. 298; Kuder Die Zahlstelle in der Insolvenz des Lastschriftschuldners im Einzugsermächtigungsverfahren, 2006, S. 65 ff.; Bork in: Festschrift Gerhardt, 2004, S. 69, 76 Fn. 25; ders. ZIP 2004, 2446. 33 AG München ZIP 2008, 592, 593. 34 BGHZ 177, 69, 77 f. Tz. 22; AG München ZIP 2008, 592, 595; Kuder Die Zahlstelle in der Insolvenz des Lastschriftschuldners im Einzugsermächtigungsverfahren, 2006, S. 65; Jungmann NZI 2005, 84, 87; Aderhold in: Festschrift H. P. Westermann, 2008, S. 3, 12. 35 LG Erfurt WM 2003, 1857, 1854; van Gelder in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl., § 58 Rn. 175; MünchKomm-HGB/Hadding/Häuser, 2. Aufl., ZahlungsV Rn. C 129; Soergel/Häuser/Welter BGB, 12. Aufl., § 675 Rn. 240. 36 Vgl. BGHZ 174, 84, 89 Tz. 14 = WM 2007, 2246; BGHZ 177, 69, 77 f. Tz. 22 = WM 2008, 1963; BGH WM 2008, 1703, 1705 Tz. 26; Meder NJW 2005, 637, 638; Peschke ZInsO 2006, 470, 472; Nobbe/Ellenberger WM 2006, 1885, 1889; Nobbe KTS 2007, 397, 410; Jungmann WM 2007, 1633, 1638.
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aa) Der Wille des Zahlungspflichtigen, der etwa zur Begleichung des am 15. Januar fälligen Abschlags für die Lieferung von Strom oder Gas dem Energieversorger eine Einziehungsermächtigung erteilt und auf seinem Konto bei der Zahlstelle ausreichende Deckung bereitstellt, geht typischerweise dahin, dass die Abschlagsforderung nicht erst mit der Genehmigung der Belastungsbuchung gegenüber der Zahlstelle im Deckungsverhältnis, sondern bereits mit der Einlösung der vom Versorger zum Inkasso gegebenen Lastschrift bezahlt sein soll.37 Eine Genehmigung der Belastungsbuchung gegenüber der Zahlstelle fasst der Zahlungspflichtige typischerweise überhaupt nicht ins Auge und erteilt sie in der Regel auch nicht. Daran hat sich durch die Einfügung der Nr. 7 Abs. 3 in die AGB-Banken und der Nr. 7 Abs. 4 in die AGB-Sparkassen nichts geändert. Beide Klauseln begründen lediglich eine Genehmigungsfiktion. Ohne sie wäre die Erfüllung und damit das Erlöschen der Forderung des Gläubigers fast immer auf unabsehbar lange Zeit hinausgeschoben, wenn sie von einer Genehmigung des Zahlungspflichtigen abhängig wäre. Nichts spricht dafür, dass dies dem Willen des Zahlungspflichtigen entspricht. Die im Einzugsermächtigungsverfahren bestehende Widerspruchsmöglichkeit im Deckungsverhältnis will er nur für den Fall nutzen, dass die Forderung des Gläubigers unberechtigt oder einredebehaftet ist. Dann aber hat die vorbehaltlose Gutschrift auf dem Konto des Gläubigers ohnehin keine Erfüllungswirkung, weil dem Gläubiger eine einredefreie Geldforderung nicht zusteht. bb) Der Wille des typischen Gläubigers korrespondiert damit. Er sieht sein Leistungsinteresse mit der Einlösung der Lastschrift, d.h. der vorbehaltlosen Gutschrift des eingezogenen Betrages auf seinem Konto bei der ersten Inkassostelle, als befriedigt und den Zahlungsvorgang als abgeschlossen an. Da er nunmehr ohne Inanspruchnahme eines Kredits der Bank über den Gutschriftbetrag frei verfügen kann, ist auch aus seiner Sicht der Leistungserfolg eingetreten.38 Die noch bestehende Widerspruchsmöglichkeit des Zahlungspflichtigen im Deckungsverhältnis ist für den Gläubiger nicht von wesentlicher Bedeutung, da er über den gutgeschriebenen Betrag verfügen kann, ohne dass er einen Kredit in Anspruch nähme.39 Denn die von ihm beauftragte erste Inkassostelle hat durch die Einlösung der Lastschrift von der Zahlstelle Deckung erhalten. Nichts spricht danach dafür, dass der Gläubiger die Vorstellung und den Willen hat, dem Zahlungspflichtigen nach Ein37 BGHZ 177, 69, 77 f. Tz. 22; Krepold/Spiegel in: Hellner/Steuer/Schröter/Weber Bankrecht und Bankpraxis Rn. 6/506h; Kuder Die Zahlstelle in der Insolvenz des Lastschriftschuldners im Einzugsermächtigungsverfahren, 2006, S. 65 f.; Bork ZIP 2004, 2446 f; Langenbucher in: Festschrift Mailänder, 2006, S. 21, 26. 38 BGHZ 177, 69, 78 f. Tz. 24; AG München ZIP 2008, 592, 593; Jungmann NZI 2005, 84, 87; Nobbe KTS 2007, 397, 410. 39 Denck ZHR 147 (1983), 544, 555; Bork in: Festschrift Gerhardt, 2004, S. 69, 75; Meder JZ 2005, 1089, 1092.
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lösung der Lastschrift bis zum Entfallen der Widerspruchsmöglichkeit, von der er in aller Regel keine Kenntnis erlangt, Kredit zu gewähren,40 und bereit wäre, das Insolvenzrisiko des Zahlungspflichtigen monatelang noch nach Einlösung der Lastschrift zu tragen.41 Es mag sein, dass es dem Gläubiger lieber wäre, wenn die Widerspruchsmöglichkeit wie beim Abbuchungsauftragsverfahren nicht bestünde. Indes ist dem Gläubiger in aller Regel klar, dass viele Zahlungspflichtige zur Praktizierung des Lastschriftverfahrens wegen des damit verbundenen Risikos eines Missbrauchs durch den Gläubiger nur bereit sind, wenn die Widerspruchsmöglichkeit besteht. Da das Lastschriftverfahren für Gläubiger neben erheblichen Liquiditätsvorteilen durch eine Vereinfachung der Zahlungsüberwachung kaum hoch genug einzuschätzende Rationalisierungsvorteile bietet 42, geben sie sich in der Lastschriftabrede mit dem Einzugsermächtigungsverfahren und dem Erlöschen ihrer Ansprüche mit Einlösung der Lastschrift zufrieden, obwohl ein irreversibles Behaltendürfen des Gutschriftbetrages wegen der Widerspruchsmöglichkeit des Zahlungspflichtigen noch nicht gesichert ist und die Gefahr besteht, den gutgeschriebenen Betrag zurückgewähren zu müssen.43 cc) Nur diese Sicht entspricht auch der Lebenswirklichkeit. Ein Gläubiger wird bei Vereinbarung des Einzugsermächtigungsverfahrens nicht einmal auf die Idee kommen, den Zahlungspflichtigen aufzufordern, die Lastschrift auf seinem Konto der Zahlstelle gegenüber zu genehmigen, weil dies zur Erfüllung der Forderung erforderlich sei.44 Anders als der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs fälschlich gemeint hat 45, besteht eine solche Genehmigungspflicht des Zahlungspflichtigen im Valutaverhältnis auch nicht. Gegeben ist lediglich noch eine aus der Lastschriftabrede folgende nach § 280 Abs. 1 BGB schadensersatzbewehrte Nebenpflicht des Zahlungspflichtigen, von seiner Widerspruchsmöglichkeit im Deckungsverhältnis keinen Gebrauch zu machen, wenn die Lastschrift aufgrund einer berechtigten einredefreien Forderung des Gläubigers erfolgt ist.46 Nur daran hat der Gläubiger ein berechtigtes Interesse. Widerspricht der Zahlungspflichtige der Lastschrift oder an seiner Stelle der (vorläufige) Insolvenzverwalter grundlos, macht er sich 40
BGHZ 177, 69, 77 f.Tz. 22. Nobbe/Ellenberger WM 2006, 1885, 1889; Nobbe KTS 2007, 397, 410. 42 S. BGH WM 1996, 335, 337. 43 BGHZ 167, 171, 177 f. Tz. 20–22; Meder NJW 2005, 637, 638; ders. JZ 2005, 1089, 1093; a.A. BGHZ 174, 84, 89 Tz. 14. 44 Vgl. Langenbucher in: Festschrift Mailänder, 2006, S. 21, 27. 45 BGHZ 161, 49, 54; 174, 84, 88 f. Tz. 13; BGH ZInsO 2005, 40, 41 f.; ebenso OLG Karlsruhe ZIP 2007, 286, 287; OLG Koblenz ZIP 2008, 1987, 1988; Häuser WM 1991, 1, 6. 46 AG München ZIP 2008, 592, 593 f.; MünchKomm/Casper BGB, 5. Aufl., vor § 676a Rn. 50; Jungmann WM 2007, 1633, 1639; Nobbe/Ellenberger WM 2006, 1885, 1889; Aderhold in: Festschrift H. P. Westermann, 2008, S. 3, 12; s. auch Hadding WM 2005, 1549, 1553, der darin allerdings offenbar eine Hauptleistungspflicht sieht. 41
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schon nach § 826 BGB ebenso schadensersatzpflichtig 47 wie der Forsteigentümer, der das veräußerte Holz nicht am vereinbarten Platz zur Abholung durch den Käufer belässt. Alles andere widerspricht dem Willen der Parteien. Wer von Zahlungspflichtigen, die zahlreichen Geschäftspartnern für Massenvorgänge wie Abonnement- und Telefonrechnungen, Steuern und Abgaben etc. Einzugsermächtigungen erteilt hat, verlangt, der Zahlstelle – nach Aufforderung durch die Gläubiger – immer wieder mitzuteilen, er genehmige bestimmte Lastschriften auf seinem Konto, gleitet ins Irreale ab. Kein Zahlungspflichtiger, der mit der Erteilung von Einziehungsermächtigungen vor allem eine Vereinfachung seines Zahlungsverkehrs erstrebt, würde sich auf eine solche Verpflichtung einlassen. Sie der getroffenen Lastschriftabrede dennoch zu entnehmen, ist unhaltbar. dd) Ebenso irreal und lebensfremd ist die Vorstellung, auch nach Einlösung der Lastschrift bestehe der schuldrechtliche Anspruch des Gläubigers auf Erfüllung weiter.48 Wenn dies zuträfe, müsste der Gläubiger trotz des erhaltenen Gutschriftsbetrages, über den er längst verfügt hat, grundsätzlich das Recht haben, auf Erfüllung zu klagen. Aus der Abwegigkeit dieser Überlegung kann man nur den Schluss ziehen, dass Erfüllung trotz der bestehenden Möglichkeit des Zahlungspflichtigen, der Belastung seines Kontos zu widersprechen, eingetreten und der schuldrechtliche Erfüllungsanspruch des Gläubigers erloschen ist.49 Der Versuch, dem vorgenannten absurden Ergebnis durch eine dem Zahlungspflichtigen gewährte aufschiebende Einrede zu entgehen50, offenbart fehlende dogmatische Stringenz, zumal sich eine nach Einlösung der Lastschrift noch bestehende (Neben-)Pflicht des Zahlungspflichtigen zweifelsfrei darauf beschränkt, von seiner Widerspruchsmöglichkeit keinen Gebrauch zu machen. ee) Für eine Erfüllung des Geldanspruchs des Gläubigers bereits mit Einlösung der Lastschrift durch die Zahlstelle spricht schließlich auch noch wesentlich die Rechtssicherheit.51 Der Einlösungszeitpunkt ist leicht zu ermitteln, der Zeitpunkt der Genehmigung der Belastungsbuchung durch den Zahlungspflichtigen gegenüber der Zahlstelle dagegen nicht. Darüber, ob und wann eine konkludente Genehmigung vorliegt, lässt sich in vielen Fällen trefflich streiten.52 Überdies erfährt der Gläubiger von einer solchen Geneh47 BGHZ 74, 300, 306; 177, 69, 74 Tz. 16; BGH WM 2001, 1458, 1460; OLG Oldenburg WM 1986, 1277; LG Erfurt WM 2003, 1857, 1858; Hadding WM 2005, 1549, 1551, 1554. 48 So aber BGHZ 161, 49, 55; 174, 84, 89 Tz. 13; BGH ZInsO 2005, 40, 41 f. 49 So zutreffend Staudinger/Olzen, BGB Neubearbeitung 2006 § 362 Rn. 75; s. auch Meder NJW 2005, 637, 638. 50 Häuser WM 1991, 1, 6. 51 Bork in: Festschrift Gerhardt, 2004, S. 69, 74 f. 52 S. OLG München ZIP 2005, 2102, 2103; KG ZIP 2009, 279, 280; LG Hannover WM 2005, 1319, 1320; LG Siegen ZIP 2006, 1459 f.; Obermüller Insolvenzrecht in der Bankpraxis, 7. Aufl., Rn. 3.434c und d; Kuder ZInsO 2004, 1357, 1358; Knees/Kröger ZInsO 2006,
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migung nichts, so dass für ihn, wenn man mit dem IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs für die Erfüllung auf den Genehmigungszeitpunkt abstellen wollte, über lange Zeit offen bliebe, ob seine Forderung durch Erfüllung erloschen ist oder nicht.53 Das gilt auch nach Einfügung der Nr. 7 Abs. 3 in die AGB-Banken und die Nr. 7 Abs. 4 in die AGB-Sparkassen mit Wirkung vom 1.4.2002. Danach gelten Belastungsbuchungen aus Einzugsermächtigungslastschriften zwar als genehmigt, wenn er ihnen nicht binnen sechs Wochen nach Zugang des Rechnungsabschlusses widerspricht. Der Gläubiger weiß aber in aller Regel nicht, welche Abrechnungsperiode zwischen dem Zahlungspflichtigen und der Zahlstelle vereinbart ist. Erst recht ist ihm nicht bekannt, ob und wann dem Zahlungspflichtigen ein Rechnungsabschluss zugegangen ist.
IV. Wegfall der Erfüllung? 1. Erfüllung unter auflösender Bedingung? a) Rechtsdogmatisch wird versucht, dem dargestellten Willen der Parteien dadurch Rechnung zu tragen, dass die Erfüllung nach Einlösung der Lastschrift durch die Zahlstelle als noch unter einer auflösenden Bedingung stehend angesehen wird.54 Dies wird von einem Teil der Anhänger der Genehmigungstheorie55, aber auch der so genannten Ermächtigungstheorie 56 und Vollmachtstheorie57 vertreten, nach der in der Einziehungsermächtigung eine Ermächtigung des Gläubigers i.S. von § 185 Abs. 1 BGB bzw. eine Vollmacht zur Erteilung eines Überweisungsauftrags an die Zahlstelle mit Wirkung für den Zahlungspflichtigen liegt, im Rahmen des Valutaverhältnisses Zahlungen abzubuchen.58 Dies verwundert nicht, stehen doch beide Theorien bei der Frage, wie sich die in Abschn. III Nr. 1 des Lastschriftabkommens59, in Nr. 7 393; Nobbe/Ellenberger WM 2006, 1885, 1887 mwN einerseits; OLG Dresden ZInsO 2005, 1272, 1274; OLG München ZIP 2006, 2122, 2125; OLG München WM 2007, 883, 884; OLG Köln WM 2009, 889, 891; OLG Düsseldorf ZIP 2009, 980, 983; LG Berlin ZInsO 2007, 384, 385; Ganter WM 2005, 1557, 1562; Schröder ZInsO 2006, 1 andererseits. 53 Nobbe/Ellenberger WM 2006, 1885, 1889. 54 Bork ZIP 2004, 2446; s. auch Soergel/Zeiss BGB, 12. Aufl., § 362 Rn. 7; Tober Die Vertragskette im bargeldlosen Zahlungsverkehr, 2005, S. 298. 55 MünchKomm/Wenzel BGB, 5. Aufl., § 364 Rn. 26; jurisPK-BGB/Kerwer § 362 Rn. 43; Obermüller Insolvenzrecht in der Bankpraxis, 7. Aufl., Rn. 3.452a; Fischer/Klanten Bankrecht, 3. Aufl., Rn. 6.103. 56 Canaris Bankvertragsrecht, 3. Aufl., Rn. 577. 57 Krepold in: Hellner/Steuer/Schröter/Weber Bankrecht und Bankpraxis Rn. 6/329. 58 So vor allem Canaris Bankvertragsrecht, 3. Aufl., Rn. 532; Burghardt WM 2995, 1892, 1894. 59 Abgedruckt bei van Gelder in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl., Anh. 1 zu §§ 56–59.
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Abs. 3 AGB-Banken und Nr. 7 Abs. 4 AGB-Sparkassen sowie in Nr. 7 der Formularvereinbarung über den Einzug von Forderungen durch Lastschriften in Einzugsermächtigungsverfahren60 vorausgesetzte Widerspruchsmöglichkeit des Zahlungspflichtigen auf die Erfüllung der Forderung des Gläubigers auswirkt, vor vergleichbaren Problemen.61 b) Als auflösende Bedingung wird von einem Teil der Literatur 62 der Widerspruch des Zahlungspflichtigen gegen die Belastung seines Kontos durch die Zahlstelle angesehen. Dies ist schon deshalb unrichtig, weil die dem Gläubiger von der Inkassobank erteilte Gutschrift des Lastschriftbetrages durch den Widerspruch des Zahlungspflichtigen im Deckungsverhältnis allein nicht berührt wird. Eine Vermögenseinbuße erleidet der Gläubiger vielmehr erst in dem Augenblick, in dem die erste Inkassostelle in Ausübung ihres Rechts aus Nr. 7 der formularmäßigen Inkassovereinbarung die Rückbelastung seines Kontos mit der Einreichungswertstellung vornimmt.63 c) Aber auch gegen die Annahme, die Erfüllung stehe nach dem Willen der Parteien unter der auflösenden Bedingung der Rückbelastung des Gläubigers durch die erste Inkassostelle mit der Folge, dass die Forderung des Gläubigers im Valutaverhältnis wiederauflebe, bestehen durchgreifende Bedenken. aa) Fragwürdig ist bereits, ob eine Erfüllung und das damit verbundene Erlöschen der erfüllten Forderung überhaupt unter einer auflösenden Bedingung stehen können. Zwar wird in einem Urteil des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs 64 davon ausgegangen. Nach § 158 BGB Bedingungen können aber nur Rechtsgeschäfte, nicht jedoch Rechtsfolgen, unter einer Bedingung stehen.65 Die Erfüllung als solche ist indes kein Rechtsgeschäft, insbesondere kein Verfügungsgeschäft. Das Erlöschen der Forderung aus dem erfüllten Geschäft hängt nicht vom Willen der Parteien ab, sondern ist nach ganz herrschender Meinung Rechtsfolge der realen Leistungsbewirkung.66 Das gilt auch dann, wenn der Leistungserfolg durch ein Rechtsgeschäft bewirkt wer-
60 Abgedruckt bei van Gelder in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl., Anh. 2 zu §§ 56–59. 61 Nobbe/Ellenberger WM 2006, 1885, 1889; s. auch Kuder Die Zahlstelle in der Insolvenz des Lastschriftschuldners im Einzugsermächtigungsverfahren, 2006, S. 65. 62 Krepold/Spiegel in: Hellner/Steuer/Schröter/Weber Bankrecht und Bankpraxis Rn. 6/ 506h, 6/507b und c; Fischer/Klanten Bankrecht, 3. Aufl., Rn. 6.103. 63 Canaris Bankvertragsrecht, 3. Aufl., Rn. 577; MünchKomm-HGB/Hadding/Häuser ZahlungsV Rn. C 125; van Gelder in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. § 58 Rn. 168; Tober Die Vertragskette im bargeldlosen Zahlungsverkehr, 2005, S. 298. 64 BGH WM 1987, 400, 401. 65 Soergel/Huber, BGB, 12. Aufl., § 433 Rn. 212. 66 MünchKomm/Wenzel BGB, 5. Aufl., § 362 Rn. 10; Erman/H.P.Westermann/BuckHeeb BGB, 12. Aufl., § 362 Rn. 2.
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den muss, etwa durch die Übereignung einer Sache, oder wie hier durch ein abstraktes Schuldanerkenntnis oder Schuldversprechen in Form einer Kontogutschrift. An einem Bewirken der Leistung fehlt es zwar, wenn das Rechtsgeschäft nichtig oder gemäß § 142 Abs. 1 BGB als von Anfang an nichtig anzusehen ist. Etwas anderes gilt aber dann, wenn das Rechtsgeschäft zunächst wirksam ist und erst später wirkungslos wird. Einen späteren Wegfall einer einmal eingetretenen Erfüllungswirkung sieht das Gesetz nicht vor.67 bb) Bei einer auflösenden Bedingung tritt die gewollte Rechtsänderung zunächst ein. Fällt die Bedingung aus, bleibt das auflösend bedingte Rechtsgeschäft dauernd wirksam; tritt sie ein, wird ipso jure der frühere Rechtszustand wiederhergestellt.68 Dies geschieht indes nicht mit rückwirkender Kraft, sondern lediglich ex nunc.69 Die Parteien können zwar etwas anderes vereinbaren, jedoch nicht mit dinglicher, sondern nur mit schuldrechtlicher Wirkung.70 Das bedeutet bei einem Eintritt der auflösenden Bedingung der Gutschrift durch Rückbelastung des Gläubigers durch die erste Inkassostelle nach Widerspruch des Zahlungspflichtigen gegen die Lastschrift auf seinem Konto, dass sich die Parteien im Valutaverhältnis schuldrechtlich so zu stellen haben, als sei die Gutschrift auf dem Konto des Gläubigers nicht erfolgt. Dass dies dem Willen redlicher Parteien im Valutaverhältnis entspricht, kann angesichts der in Nr. 7 der formularmäßigen Inkassovereinbarung vorgesehenen Rückbelastung des Gläubigers durch die erste Inkassostelle mit Einreichungswertstellung angenommen werden.71 Daraus folgt indes nicht, dass die Erfüllung der Forderung des Gläubigers rückwirkend, also quasi mit dinglicher Wirkung, entfällt und die ursprüngliche Forderung – einschließlich etwaiger Sicherheiten – ipso jure wiederauflebt.72 Denn ein erloschenes Schuldverhältnis kann grundsätzlich nicht wiederaufleben,73 es sei denn, das
67 MünchKomm/Wenzel, BGB, 5. Aufl., vor § 362 Rn. 9; Fabienke JR 1999, 47, 51; Peschke ZInsO 2005, 470, 473. 68 Vgl. statt aller Palandt/Heinrichs, BGB, 68. Aufl., § 158 Rn. 1, 2 und 3. 69 BGHZ 133, 331, 334; Palandt/Heinrichs, BGB, 68. Aufl., § 159 Rn. 1; PWW/Brinkmann BGB, 4. Aufl., § 159 Rn. 1. 70 MünchKomm/H. P. Westermann BGB, 5. Aufl., § 159 Rn. 1; Erman/Armbrüster, BGB, 12. Aufl., § 159 Rdn. 1; PWW/Brinkmann BGB, 4. Aufl., § 159 Rn. 2. 71 Canaris Bankvertragsrecht, 3. Aufl., Rn. 577. 72 So aber Canaris Bankvertragsrecht, 3. Aufl., Rn. 577; Krepold in: Hellner/Steuer/ Schröter/Weber Bankrecht und Bankpraxis Rn. 6/360; Denck ZHR 147 (1983), 544, 556; Nobbe KTS 2007, 397, 411 (die dort vertretene Ansicht wird aufgegeben). 73 BGHZ 20, 338, 340; BAG DB 1972, 782; MünchKomm/Wenzel BGB, 5. Aufl., Rn. 9 vor § 362; Soergel/Huber, BGB, 12. Aufl., § 433 Rn. 212; Jauernig/Stürner BGB, 11. Aufl., vor § 362 Rn. 4; van Gelder in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl., § 58 Rn. 169.
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Gesetz (vgl. etwa § 144 Abs. 1 InsO) sieht, was hier nicht der Fall ist, ein Wiederaufleben vor. cc) Allerdings können die Parteien bei Rückgabe eines getilgten Schuldbetrages vertraglich vereinbaren, dass die ursprüngliche Schuld wieder aufleben soll.74 Indes spricht in aller Regel nichts dafür, dass die Parteien des Valutaverhältnisses im Falle der Rückbelastung des Gläubigers durch die erste Inkassostelle nach Widerspruch des Zahlungspflichtigen im Deckungsverhältnis solches wollen. Es entspricht nicht ihrem Interesse. (1) Wenn der Widerspruch gemessen am Valutaverhältnis berechtigt ist, weil dem Gläubiger eine Forderung gegen den Schuldner nicht zustand, kommt eine Vereinbarung über ein Wiederaufleben einer Schuld des Zahlungspflichtigen von vornherein nicht in Betracht. Die Schuld bestand ja nicht. Zur Erfüllung ist es deshalb nie gekommen.75 (2) Besteht die Forderung des Gläubigers im Valutaverhältnis, ist sie aber einredebehaftet, ist der Widerspruch nur dann berechtigt, wenn der Schuldner die Einrede bereits vor Einlösung der Lastschrift durch die Zahlstelle geltend gemacht hatte. Andernfalls kommt die Einrede zu spät, da die Forderung, wie dargelegt, bereits mit der Einlösung der Lastschrift erfüllt worden ist.76 Der Widerspruch aufgrund einer solchen verspäteten Einrede ist unberechtigt77 und führt zu einem Schadensersatzanspruch des Gläubigers aus § 280 Abs. 1 BGB wegen Verletzung der aus der Lastschriftabrede folgenden Nebenpflicht des Zahlungspflichtigen, der Belastung seines Kontos gemessen am Valutaverhältnis nicht ohne berechtigten Grund zu widersprechen.78 Der Gläubiger hat in einem solchen Fall, für den Zahlungspflichtigen ohne weiteres erkennbar, kein Interesse, die getilgte Forderung durch eine Vereinbarung wieder aufleben zu lassen, um dem Zahlungspflichtigen die erfolgreiche Geltendmachung der Einrede zu ermöglichen. Gleiches gilt, wenn der Zahlungspflichtige erst nach Einlösung der Lastschrift und damit Erfüllung versucht, mit einem eigenen Gegenanspruch gegen die Forderung des Gläubigers aufzurechnen. Die Aufrechnungserklärung des Zahlungspflichtigen kommt zu spät, da die Forderung des Gläubigers bereits durch Erfüllung erloschen ist.79 (3) Wenn der Zahlungspflichtige der Belastung seines Kontos widerspricht, obwohl dem Gläubiger eine fällige einredefreie Forderung zusteht und eine Rückbelastung des Gläubigers mit dem eingezogenen Lastschriftbe-
74 BAG DB 1972, 782; Kuder, Die Zahlstelle in der Insolvenz des Lastschriftschuldners im Einzugsermächtigungsverfahren S. 65; Jungmann WM 2007, 1633, 1639. 75 Peschke ZInsO 2006, 470, 474 Fn. 36. 76 Vgl. Meder JZ 2005, 1089, 1091. 77 Peschke ZInsO, 2006, 470, 474 Fn. 36. 78 Vgl. Nobbe/Ellenberger WM 2006, 1885, 1890. 79 Vgl. Gernhuber, Die Erfüllung und ihre Surrogate, 2. Aufl., S. 288 f.; Meder JZ 2005, 1089, 1093.
Leistungshandlung, Erfüllung und Wegfall der Erfüllung bei Holschulden
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trag erfolgt, hat der Gläubiger einen Schadensersatzanspruch aus positiver Verletzung (§ 280 Abs. 1 BGB) der Lastschriftabrede und aus § 826 BGB wegen sittenwidriger Schädigung.80 Aufgrund dieses Schadensersatzanspruchs hat der Zahlungspflichtige den Gläubiger so zu stellen, wie er ohne den unberechtigten Widerspruch gestanden hätte, d.h. ihm der Lastschriftbetrag nicht wieder entzogen worden wäre.81 Dieser Schadensersatzanspruch entspricht im Wesentlichen dem ursprünglichen Anspruch des Gläubigers im Valutaverhältnis. Soweit für diesen akzessorische Sicherheiten existierten, sind sie durch dessen Erfüllung erloschen und würden auch bei einer Neubegründung der Valutaforderung nicht automatisch wiederaufleben.82 Abgesehen davon bestehen bei Forderungen, die typischerweise im Einzugsermächtigungsverfahren eingezogen werden, nur in sehr seltenen Ausnahmefällen (akzessorische) Sicherheiten. Der Gläubiger hat deshalb an einer Vereinbarung über das Wiederaufleben der Valutaforderung nach einem unberechtigten Widerspruch des Zahlungspflichtigen kein nennenswertes Interesse. 2. Bestand der Erfüllung Die mit der Einlösung einer Einzugsermächtigungslastschrift eingetretene Erfüllung der Forderung im Valutaverhältnis hat danach trotz eines unberechtigten Widerspruchs des Zahlungspflichtigen Bestand. Die Forderung des Gläubigers ist erloschen. Die Rechtslage ist im Prinzip keine andere, „als wenn der Schuldner, der bar gezahlt hat, dem Gläubiger das Geld nachträglich wieder wegnimmt“.83 Dies hat der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshof 84 bereits in einer seiner ersten Entscheidungen zu Einzugsermächtigungslastschriften richtig erfasst, wenn er formuliert: „Ein Schuldner, der den Widerspruch zu dem Zwecke einlegt, Zahlungen auf begründete und von seiner Einzugsermächtigung gedeckte Gläubigeransprüche „rückgängig“ 85 zu machen, die er, wenn er sie überwiesen hätte, durch einen Widerruf der Überweisung nicht mehr hätte „rückgängig“ 86 machen können, nutzt daher die ihm seiner Bank gegenüber zustehende Widerspruchsmöglichkeit zweckfremd aus und handelt, wenn er damit vorsätzlich das Ausfallrisiko der ersten Inkassostelle zuschiebt, dieser gegenüber sittenwidrig.“ Gleiches gilt entgegen der Ansicht des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs87 uneinge80 Vgl. BGHZ 74, 300, 306; 177, 69, 74 Tz. 16; BGH WM 2001, 1458, 1460; Hadding WM 2005, 1549, 1551, 1554. 81 BGHZ 101, 153, 158. 82 Peschke ZInsO 2005, 470, 473; Spliedt NZI 2007, 72, 74. 83 So zutreffend Soergel/Huber, BGB, 12. Aufl., § 433 Rn. 212. 84 BGHZ 74, 300, 306. 85 Hervorhebung durch den Verfasser. 86 Hervorhebung durch den Verfasser. 87 BGHZ 161, 49 ff.; 174, 84 ff.; BGH ZInsO 2005, 40 ff.; BGH EWiR 2005, 227 f.; BGH WM 2006, 2092 f.; so auch OLG Koblenz ZIP 2008, 1987, 1988 Gero Fischer in: Festschrift
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schränkt auch für (vorläufige) Insolvenzverwalter, die einer Einzugsermächtigungslastschrift nach deren Einlösung ohne Vorliegen eines Anfechtungsgrundes widersprechen, um die Masse zu mehren.88
Gerhardt, 2004, S. 223, 231; Spliedt NZI 2007, 72, 76; Haas ZIP 2008, 1985, 1986; Flitsch BB 2008, 2317; Schulte-Kaubrügger ZIP 2008, 2348, 2350 f.; Nassall NJW 2008, 3354; Christian Berger NJW 2009, 473, 475. 88 So zutreffend BGHZ 177, 69, 76 Tz. 19; OLG Hamm WM 1985, 1139, 1141; KG ZIP 2009, 279, 282; van Gelder in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl., § 59 Rn. 5; Bork ZIP 2004, 1984; Klink DZWiR 2004, 54, 55; Hadding WM 2005, 1549, 1553 f.; Jungmann NZI 2005, 84, 87; Nobbe/Ellenberger WM 2006, 1885, 1890.
Rechtsschutz gegen gerichtliche Säumnis und Gehörsverletzungen in Österreich Andreas Piekenbrock I. Einleitung Der Titel dieser Festschrift legt es nahe, sich zu Ehren des Jubilars mit dem Verfahrensgrundrechtschutz im Zivilprozess zu befassen. Dies soll hier am Beispiel Österreichs geschehen, weil die EMRK, die den Jubilar intensiv beschäftigt hat, nur dort Verfassungsrang hat.1
II. Verfahrensgrundrechte 1. Nationales Recht Dass der Bürger ein Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz hat,2 ist in Österreich schon in § 19 S. 1 ABGB 18113 und damit fast 200 Jahre vor der geplanten Garantie durch Art. 47 Abs. 1 der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ 4 (GRCh) festgeschrieben worden. Dieser Justizgewährungsanspruch 5 ist jedoch nur auf eine für die Parteien verbindliche Entscheidung eines unabhängigen Richters (Art. 87 Abs. 1 B-VG) gerichtet und nicht auf eine materiell richtige. Als weitere Verfahrensgrundrechte finden sich im nationalen Kontext das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 83 1 Vgl. BGBl. Nr. 210/1958 und Nr. 59/1964. Gesetze und Judikatur verfügbar unter . 2 Vgl. dazu Fasching Lehrbuch des österreichischen Zivilprozessrechts, 2. Aufl. 1990, Rn. 6. 3 JGS Nr. 946/1811. 4 ABl. EG 2000 C 364, S. 1 und ABl. EU 2007 C 303, S. 1. Die Charta soll mit dem Vertrag von Lissabon nach Art. 6 EUV n.F. außer für Polen und das Vereinigte Königreich verbindlich werden. Zur Reichweite des Schutzes vgl. Alber in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, 2006, Art. 47 Rn. 8. Vgl. zuvor schon EuGH, Slg. 1986, 1651= DVBl. 1987, 227, 228 f. in Rn. 18 (Johnston). 5 Zu Österreich vgl. Fasching (Fn. 2), Rn. 9. Zu Deutschland vgl. BVerfGE 107, 395, 401 (rechtliches Gehör). Zur Herleistung vgl. BVerfGE 85, 337, 345 (übermäßige Kosten in WEG-Sachen); 88, 118, 123 (Wiedereinsetzungsantrag als Einspruch gegen Versäumnisurteil); 93, 99, 107 (Rechtsmittelbelehrung im Zivilprozess). Zu Art. 6 EMRK vgl. entsprechend Matscher FS Henckel, 1995, S. 593, 598.
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Abs. 2 B-VG) und der Öffentlichkeitsgrundsatz (Art. 90 Abs. 1 S. 1 B-VG).6 Darüber hinaus wird auch in Österreich dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 7 Abs. 1 B-VG) der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit entnommen.7 2. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK Daneben statuiert Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, ähnlich wie Art. 47 Abs. 2 GRCh, zwei weitere wesentliche Verfahrensgrundrechte. a) Verfahrensdauer Danach muss die Sache zum einen „innerhalb einer angemessenen Frist“ gehört werden, was neben Maßnahmen des Eilrechtsschutzes 8 die Erledigung des ordentlichen Erkenntnisverfahrens in angemessener Dauer erfordert, ohne dass sich dafür abstrakt ein Zeitmaß bestimmen ließe. Dem entspricht das Klein’sche Prozessmodell in Österreich, dessen Ziel es schon immer war, den durch den Rechtsstreit gestörten Frieden möglichst rasch wieder herzustellen. So konnte der Richter von Anfang an Ausschlussfristen setzen (§§ 181 Abs. 2, 279 öZPO 18959) und tatsächliche Behauptungen und Beweismittel in Verschleppungsabsicht präkludieren (§§ 179 Abs. 1 Satz 2, 275 Abs. 2 öZPO 1895). Die Zivilverfahrens-Novelle 200210 hat darüber hinaus die allgemeine Prozessförderungspflicht der Parteien festgeschrieben (§ 178 Abs. 2 öZPO),11 die Präklusion schon bei grob schuldhafter Verfahrensverzögerung zugelassen (§ 179 öZPO) 12 und die vorbereitende Tagsatzung neu eingeführt (§ 258 öZPO). Gleichwohl kann der Gesetzgeber die individuelle Erfüllung des Justizgewährungsanspruchs nicht garantieren,
6 Art. 6 Abs. 1 Satz 2 EMRK hat Österreich dagegen zunächst durch Vorbehalt auf Art. 90 Abs. 1 S. 2 B-VG beschränkt. Vgl. zuletzt BGBl. Nr. 820/1994. EGMR Slg. 2000-X, 157 = ÖJZ 2001, 194, 195 in Rn. 30 (Eisenstecken/Österreich) hat den Vorbehalt jedoch wegen Verstoßes gegen Art. 57 EMRK für ungültig erklärt. 7 Rechberger FS Matscher, 1993, S. 373. Zu Art. 3 Abs. 1 GG vgl. BVerfGE 117, 163, 185 mwN. 8 So verstößt es nach EGMR Slg. 2002-I, 47 in Rn. 85 (Čonka/Belgien) gegen Art. 13 EMRK, wenn es gegen eine Ausweisung kein Rechtsmittel mit Suspensiveffekt gibt. Vgl. auch BVerfGE 46, 166, 177 ff. Zwar betrifft diese Entscheidung die Sozialgerichtsbarkeit. Doch kann es nach EGMR Serie A Band 100 = NJW 1989, 652 f. in Rn. 60 ff. (Deumeland) auch dort um zivilrechtliche Ansprüche nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK gehen. 9 RGBl. Nr. 113/1895. 10 BGBl. I Nr. 76/2002. 11 Zum klarstellenden Charakter der Norm vgl. 962 BlgNR 21. GP. 12 Dementsprechend soll § 275 Abs. 2 öZPO (BGBl. Nr. 140/1997) nach Rechberger in: Fasching/Konecny, ZPO, 2. Aufl. 2004, § 275 Rn. 7 auf den objektiven Verschleppungszweck abstellen.
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auch wenn Österreich insoweit vergleichsweise selten in Straßburg gerügt wird.13 b) Rechtliches Gehör Zum anderen muss die Sache nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK „in billiger Weise“ gehört werden, woraus das Recht auf rechtliches Gehör abgeleitet wird.14 Dieses prozessuale Urrecht15 hat der Verfassungsgerichtshof (VfGH) bei der Verwerfung der Bindung des Zivilrichters an Strafurteile nach § 268 öZPO 16 „als ein prozessuales Grund- und Menschenrecht erkannt, das nicht nur dem Verfahrenszweck dient, sondern Ausdruck der Menschenwürde und Eigenpersönlichkeit im Angesicht der durch das Gericht verkörperten Staatsmacht ist.“ Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (OGH) und dem neuen § 15 AußStrG17 wird dadurch garantiert, dass einer gerichtlichen Entscheidung nur Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten.18 Dass das dem deutschen Beschwerdeverfahren vergleichbare Rekursverfahren im streitigen Zivilprozess aus verfahrensökonomischen Gründen bis heute grundsätzlich einseitig ausgestaltet ist19 und nur in bestimmten Fällen Gelegenheit zur Rekursbeantwortung lässt (§ 521a öZPO 20), ist daher mit Blick auf das rechtliche Gehör bedenklich.21 Nach dem neuen § 52 Abs. 1 AußStrG wird da-
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So berichtet Roth BeitrZPR 6 (2002), 265, 273 von fünf österreichischen Fällen. Vgl. Matscher (Fn. 5) S. 603. 15 So BVerfGE 55, 1, 6; 107, 395, 408. Vgl. in Österreich zustimmend Ballon JBl. 1995, 623, 625. Zur Bedeutung beim anerkennungsrechtlichen ordre public vgl. etwa in der Sache Krombach EuGH Slg. 2000, I-1935 in Rn. 37 ff. und BGHZ 144, 390, 392 sowie in der Sache Gambazzi EuGH NJW 2009, 1938 in Rn. 28 und in der Schweiz BG Urt. vom 9.11. 2004 – 4 P. 84/2004 sub 5 (). 16 Vgl. VfGH vom 12.12.1990 – G 73/89. A.A. noch OGH EvBl. 1982/164. Freilich sieht OGH JBl. 1996, 117, 123 ff. den Verurteilten selbst – anders als in Deutschland (§ 14 Abs. 1 Nr. 1 EGZPO) und der Schweiz (Art. 53 OR) – an die rechtskräftige Verurteilung gebunden an. Zu den Problemen bei Verkehrsunfällen vgl. Roth BeitrZPR 6 (2002), 265, 270 f. Zu weiteren Bindungsproblemen vgl. auch Matscher (Fn. 5) S. 604 f. 17 BGBl. I Nr. 111/2003. 18 SZ 54/124; 58/142; 64/1; 68/151; OGH Beschl. vom 17.10.1990 – 3 Ob 96/90; Beschl. vom 23.4.1996 – 1 Ob 502/96; Beschl. vom 30.4.1998 – 8 Ob 400/97z; Beschl. vom 15.9. 2000 – 7 Ob 186/00d. 19 Vgl. 669 BlgNR 15. GP 60. 20 Eingefügt durch Art. IV Z 111 ZVN 1983, BGBl. Nr. 135/1983, heute i.d.F. von Art. 94 Z 20 des 1. Euro-Umstellungsgesetzes – Bund, BGBl. I Nr. 98/2001. 21 In der Einseitigkeit des Rekurses hat OGH JBl. 1975, 379 wegen der Beschränkung auf Rechtsfragen keine Gehörsverletzung gesehen. Zustimmend Matscher ZÖR 1980, 25; Fasching (Fn. 2), Rn. 1966. Kritisch dagegen Morscher RZ 1975, 178, 179 f.; Ballon ZZP 96 (1983), 409, 472 f.; Rechberger (Fn. 7), S. 375 ff. unter besonderer Berücksichtigung von Verfahrenshilfesachen nach § 72 Abs. 2 öZPO; Matscher (Fn. 5), S. 607 ff., der ein Problem mit der Waffengleichheit sieht; Roth BeitrZPR 6 (2002), 265, 266 ff., die dies bei prozesslei14
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gegen rechtliches Gehör gewährt, auch wenn keine Rekursbeantwortung vorgesehen ist. Das rechtliche Gehör der Parteien steht jedoch in einem Spannungsverhältnis zur Verfahrensbeschleunigung,22 weil jede Zurückweisung von Sachvortrag oder Beweisangeboten die Gefahr einer materiell unrichtigen Entscheidung birgt.23 Gleichwohl bestehen keine grundsätzlichen Bedenken gegen Präklusionsnormen zur gebotenen Beschleunigung des Zivilprozesses. So genügt es nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG dem Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn die betroffene Partei ausreichend Gelegenheit zu ihrem Sachvortrag hatte, diese Gelegenheit aber schuldhaft ungenutzt verstreichen lässt.24 Dementsprechend hat auch der EGMR keine Bedenken, wenn ein Gericht einen Wechsel des Sachvortrags in der letzten Verhandlung nicht mehr berücksichtigt.25 Einer ähnlichen Abwägung zwischen den Verfahrensgrundrechten bedarf es im Beweisrecht. Diese fällt aber auch in Österreich zugunsten des rechtlichen Gehörs aus, weil auch dort die Beweisaufnahme nicht nach vorgreifender Beweiswürdigung als prozessverschleppend verweigert werden darf (§ 275 Abs. 2 öZPO).26 Dass andernfalls in Deutschland zugleich Art. 103 Abs. 1 GG verletzt wäre,27 erlaubt jedoch nicht ohne weiteres den Schluss auf einen Konventionsverstoß bei vorgreifender Beweiswürdigung, auch wenn ein Richter des VfGH im Schrifttum zur Auslegung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK auf Art. 103 Abs. 1 GG Bezug nimmt.28 Denn in der Schweiz sieht das Bundesgericht (BG) in der antizipierten Beweiswürdigung keine Verletzung von Art. 8 ZGB,29 ohne dass der EGMR dies bisher beanstandet hätte. Der verfassungsrechtliche Schutz nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK kann damit enger sein als nach Art. 103 Abs. 1 GG, auch wenn einfachrechtlich in Deutschland und Österreich Übereinstimmung herrscht. tenden Beschlüssen hinnehmen will. Zur Unzulässigkeit des Revisionsrekurses nach erfolgreichem Rekurs gegen einen a limine-Beschluss, der eine Klage mangels Zuständigkeit als unzulässig abweist, vgl. OGH JBl. 1986, 668 f. 22 Vgl. Henckel FS Matscher, 1993, S. 185, 188 f.; Matscher (Fn. 5) S. 611; Roth BeitrZPR 6 (2002), 265, 266 f.; Schoibl ZZP 118 (2005), 205, 207. 23 So auch BVerfGE 55, 72, 94; 75, 302, 312 mwN zum Ausnahmecharakter von Präklusionsnormen. 24 BVerfGE 54, 117, 123; 55, 72, 94. 25 So EGMR Serie A Band 288 in Rn. 60 (Van de Hurk/Niederlande). 26 Vgl. Fasching (Fn. 2) Rn. 908; Rechberger in: Fasching/Konecny (Fn. 12), § 275 Rn. 4. 27 Vgl. BVerfG NJW-RR 1995, 441; NJW-RR 2001, 1006 f. 28 Vgl. Grabenwarter Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2008, § 24 Rn. 64. Auch Ballon JBl. 1995, 623, 624 geht von inhaltlicher Identität aus. 29 Vgl. etwa BGE 122 III 219, 223; 120 III 393, 397; 122 III 219, 223; 126 III 315, 317; 127 III 519, 522; 129 III 18, 25; 130 III 591, 602. Daran soll sich auch in Zukunft nichts ändern, auch wenn eine ausdrückliche Bestimmung aus dem Vorentwurf der neuen ZPO gestrichen worden ist. Dass damit das rechtliche Gehör eingeschränkt wird, wird aber durchaus erkannt. Vgl. BBl. 2006, 7221, 7312.
Rechtsschutz gegen gerichtliche Säumnis und Gehörsverletzungen
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III. Rechtsschutz gegen Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK Beim Rechtsschutz gegen Konventionsverstöße ist auf der einen Seite von dem Grundsatz auszugehen, dass es in Zivilsachen30 kein Recht auf mehrere Instanzen gibt.31 Auf der anderen Seite hat der Verletzte nach Art. 13 EMRK, ähnlich wie nach Art. 47 Abs. 1 GRCh, bei Konventionsverstößen das Recht, eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz einzulegen. Diese auf den ersten Blick einfache Vorschrift gehört nach Matscher, der von 1977 bis 1998 österreichischer Richter in Straßburg war, zu den enigmatischsten der ganzen Konvention.32 So hat der EGMR Art. 13 EMRK lange Zeit als von Art. 6 EMRK weitgehend absorbiert angesehen und auch nicht auf die Verletzung von Verfahrensrechten bezogen.33 1. Rechtsschutz gegen gerichtliche Säumnis Dieser Rechtsprechung hat der EGMR jedoch in der Kudła-Entscheidung aufgegeben und die Beschwerde neben der Feststellung der gerichtlichen Säumnis auch nach Art. 13 EMRK geprüft.34 Dadurch erhofft er sich eine Entlastung, weil Individualbeschwerden (Art. 34 EMRK) die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs erfordern (Art. 35 EMRK). a) Primär- und Sekundärrechtsschutz Primärrechtsschutz gegen gerichtliche Säumnis müsste wegen der Unwiederbringlichkeit der verlorenen Zeit präventiv wirken, um die Erledigung in angemessener Frist zu garantieren. Dagegen könnten Beschwerden gegen die bereits eingetretene Säumnis nur bewirken, dass die angemessene Verfahrensdauer weniger weit überschritten wird als ohne solche Rechtsbehelfe. Der Primärrechtsschutz ist daher durch Sekundärrechtsschutz zu ergänzen, was nach Art. 41 EMRK jedoch den Ersatz von Vermögens- und Nichtvermögensschäden erfordert.35 Darüber hinaus wirkt Primärrechtsschutz kontraproduktiv, wenn die gerichtliche Säumnis auf Mängeln des Verfahrensrechts oder der Justizres-
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Zu Strafsachen vgl. dagegen Art. 2 des Protokolls Nr. 7, BGBl. Nr. 628/1988. So zur Unanfechtbarkeit der Wiedereinsetzung (§ 153 öZPO) OGH Beschl. vom 23.4.1996 – 1 Ob 502/96. Zu Art. 6 EMRK vgl. Matscher (Fn. 5) S. 607. 32 So Matscher FS Seidl-Hohenveldern, 1988, S. 315. 33 Vgl. EGMR Serie A Band 168 in Rn. 110 (Kamasinski/Österreich); Band 257 in Rn. 21 (Pizziletti/Italien). 34 EGMR Slg. 2000-XI, 197 = NJW 2001, 2694, 2699 in Rn. 149 (Kudła/Polen). So zuvor schon Matscher (Fn. 32) S. 325 f.; ders. FS Fasching, 1988, S. 351, 372 in Fn. 112. 35 Vgl. dazu nur EGMR NJW 2006, 2389, 2392 in Rn. 113 mwN (Sürmeli/Deutschland). 31
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sourcen beruht, die dann noch weiter in Anspruch genommen würden.36 So finden sich in Österreich, das als eines der wenigen Länder 37 einen Primärrechtsbehelf (§ 91 GOG) geschaffen hat,38 nicht wenige Entscheidungen des OGH über Fristsetzungsanträge wegen der säumigen Bearbeitung von Fristsetzungsanträgen.39 Auf der anderen Seite kann die bloße Existenz von Primärrechtsschutz disziplinierend wirken, ohne dass sich ein anderer Richter mit der Sache befassen muss.40 Und schließlich kann die Verfahrensdauer im Einzelfall durchaus durch einen Primärrechtsbehelf abgekürzt werden, ohne gleich an den Dorfrichter Adam zu denken, der erst beim Erscheinen des Gerichtsrats auch ohne Perücke verhandelt,41 oder an den gottlosen Richter im Evangelium nach Lukas, der einer Witwe nur Recht schafft, damit sie ihm nicht ins Gesicht schlägt.42 Angesichts dieses unklaren Befundes sieht der EGMR sowohl Primär- als auch Sekundärrechtsschutz zu Recht als wirksame Beschwerde im Sinne von Art. 13 EMRK an.43 Daher ist es nicht konventionswidrig, dass der Referentenentwurf für eine gesetzliche Regelung 44 der Untätigkeitsbeschwerde 45 gescheitert ist,46 obwohl der Primärrechtsschutz hierzulande unzureichend ist, weil das BVerfG nur die Verfassungswidrigkeit der unangemessen Verfahrensdauer 47 feststellen (§ 95 BVerfGG),48 aber keine verbindlichen Fristen setzen kann.49 36 So schon das Sondervotum Casadevall in: EGMR Slg. 2000-XI, 197 = NJW 2001, 2694, 2701 f. (Kudła/Polen). Vgl. ergänzend Meyer-Ladewig NJW 2001, 2679. 37 Ein Länderbericht findet sich bei Luczak in: BT-Drucks. 16/7655, Anlage zur Antwort auf Frage 4. 38 Anlass dazu gab das Strafverfahren in Sachen Mlynek, bei dem das Urteil erst mehr als zwei Jahre nach der Verurteilung zugestellt worden war. Vgl. EKMR EuGRZ 1987, 359 f. 39 Vgl. OGH Beschl. vom 7.7.2003 – 5 Fsc 1/03x; Beschl. vom 3.10.2007 – 3 Nc 21/07d. 40 So Redeker NJW 2003, 488, 489, der die Beschwerde mit einer Bereitschaftsflotte vergleicht. 41 Heinrich von Kleist Der zerbrochene Krug, Fünfter Auftritt, in: Gesammelte Schriften, 2. Teil, 1859, S. 28 ff. 42 Vgl. Lk 18, 5. 43 EGMR Slg. 2000-XI, 197 = NJW 2001, 2694, 2670 in Rn. 158 (Kudła/Polen). 44 Praeter legem vgl. dagegen Kroppenberg ZZP 119 (2006), 177, 183 ff.; Jakob ZZP 119 (2006), 303, 309 ff. 45 Entwurf vom 22.8.2005, abrufbar unter . 46 Vgl. BT-Drucks. 16/7655, S. 4. Zur Kritik am Entwurf vgl. Kroppenberg ZZP 119 (2006), 177, 189 ff. Zu den Folgen vgl. Steinbeiß-Winkelmann NJW 2008, 1783 ff. 47 Zur Anerkennung des Beschleunigungsgebotes vgl. BVerfGE 60, 253, 269 (zu Art. 19 Abs. 4 GG); 88, 118, 124 (obiter zum Zivilprozess). Vgl. zuletzt BVerfG NJW 2004, 3320 (Telekom-Klagen). Dagegen ging Schumann FS Schwab, 1990, S. 449, 452 noch davon aus, dass es sich dabei um eine dem deutschen Verfassungsrecht unbekannte Verfahrensgarantie handele. 48 So ausdrücklich BVerfG NJW 1997, 2811, 2812; 2000, 797; 2001, 214, 216. 49 EGMR NJW 2006, 2389, 2391 f. in Rn. 106 ff. (Sürmeli/Deutschland). Vgl. schon zuvor Baur FS Schwab, 1990, S. 53, 55 f. Dies übersieht Henckel (Fn. 22) S. 192, der die Ver-
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b) Präventiver Primärrechtsschutz nach § 91 GOG Dagegen können die Parteien in Österreich seit der Wertgrenzen-Novelle 1989 50 nach § 91 GOG stets beim säumigen Gericht einen Fristsetzungsantrag stellen. Wird die darin bezeichnete Verfahrenshandlung nicht innerhalb von vier Wochen vorgenommen, muss der Antrag unverzüglich dem übergeordneten Gerichtshof vorgelegt werden,51 der seine Entscheidung mit besonderer Beschleunigung zu fällen hat. Dieser Primärrechtsschutz ist jedoch lückenhaft, weil es für den OGH keinen übergeordneten Gerichtshof gibt.52 Insoweit ist aber schon fraglich, ob Art. 13 EMRK bei höchstrichterlichen Verfahren überhaupt gilt oder nicht vielmehr immanenten Schranken unterliegt.53 Zwar sollte nach dem Referentenentwurf in Deutschland über Beschwerden gegen die Untätigkeit oberster Bundesgerichte ein anderer Senat entscheiden (§ 198 Abs. 3 Satz 5 GVG-RefE54). Dagegen sollte es beim BVerfG, das sich ebenfalls an Art. 6 Abs. 1 S. EMRK messen lassen muss,55 keine Untätigkeitsrüge geben. Dies zeigt, dass Primärrechtsschutz immer lückenhaft bleibt. c) Kompensatorischer Sekundärrechtsschutz nach § 1 AHG Der Primärrechtsschutz muss daher durch Sekundärrechtsschutz flankiert werden. Dabei kommt dem österreichischen Recht zugute, dass die Amtshaftung des Staates „wegen übel verwalteter Justiz“ bis zur Regierungszeit Josephs II. zurückreicht 56 und schon im Staatsgrundgesetz über die richterliche Gewalt von 1867 verfassungsrechtlich verankert worden ist.57 Dementsprechend kann auch das Handeln der Gerichtsbarkeit die Amtshaftung begründen (§ 1 Abs. 2 AHG). Gleichwohl ist die Rechtslage hier auf der Rechtsfolgenseite nicht vollkommen konventionsgemäß, weil auch eine schuldhafte Verfahrensverzögerung nicht ohne weiteres zu einem Vermö-
fassungsbeschwerde für gleichwertig mit § 91 GOG hält und Art. 13 EMRK nicht verletzt sieht. 50 BGBl. Nr. 343/1989. 51 Zu den Einzelheiten vgl. Fasching (Fn. 2) Rn. 2100/3; Schoibl ZZP 118 (2005), 205, 229 f. 52 Vgl. Schoibl ZZP 118 (2005), 205, 223, der ergänzend noch die Fälle nach § 502 Abs. 2 öZPO erwähnt. 53 So etwa Matscher (Fn. 32) S. 329 mwN in Fn. 329; Ballon JBl. 1995, 623, 626. Dagegen sieht Schoibl ZZP 118 (2005), 205, 223 hier einen Verstoß gegen Art. 13 EMRK. 54 Vgl. oben Fn. 45. 55 So EGMR Slg. 2000-II, 467 = NJW 2001, 211 in Rn. 62 ff. (Gast und Popp/Deutschland) in einer Strafsache. 56 Vgl. das Hofdekret vom 4.1.1787, JGS Nr. 609. 57 Art. 9 des Staatsgrundgesetzes über die richterliche Gewalt vom 21.12.1867, RGBl. Nr. 144/1867. Vgl. ergänzend das sogenannte Syndikatsgesetz vom 12.7.1872, RGBl. Nr. 112/1872.
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gensschaden und damit zu einem Amtshaftungsanspruch führt (§ 1 Abs. 1 AHG) 58 und der EGMR auch den Ersatz von Nichtvermögensschäden verlangt.59 Damit besteht in Österreich dasselbe Defizit wie nach § 253 BGB. 2. Rechtsschutz gegen Gehörsverletzungen Beim Rechtsschutz gegen Gehörsverstöße können wir uns dagegen auf den Primärrechtsschutz konzentrieren, weil das rechtliche Gehör auf einen Rechtsbehelf hin noch im Ausgangsverfahren gewährt werden kann. a) Die Bedeutung von Art. 13 EMRK Freilich ist die Bedeutung von Art. 13 EMRK dabei nicht so eindeutig wie bei der gerichtlichen Säumnis, weil die Kudła-Entscheidung unmittelbar nur die besonders zahlreichen Beschwerden wegen unangemessen langer Verfahrensdauer betrifft. Doch stellt sich die Frage, ob man die dortigen Grundsätze nicht auch auf Gehörsverletzungen übertragen muss. Dies ist sicherlich nicht der Fall, wenn gegen bestimmte staatliche Maßnahmen überhaupt kein Rechtsschutz eröffnet wird und damit der Justizzugang überhaupt in Frage steht.60 Im Übrigen hat Matscher schon vor zwanzig Jahren angenommen, dass Art. 13 EMRK eine innerstaatliche Beschwerde gegen Missachtung aller Verfahrensgarantien im Sinne von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK erfordert.61 Mit Blick auf den vom EGMR betonten Grundsatz der Subsidiarität (Art. 35 EMRK)62 ist daher heute erst recht anzunehmen, dass Art. 13 EMRK einen innerstaatlichen Rechtsbehelf gegen gerichtliche Gehörsverletzungen fordert,63 was sich mit dem Vorrang des fachgerichtlichen Rechtsschutzes in Deutschland deckt.64
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So OGH Beschl. vom 25.10.2002 – 1 Ob 237/02p. Vgl. oben Fn. 35. 60 So Meyer-Ladewig EMRK, 2. Aufl. 2006, Art. 13 Rn. 19 unter Berufung auf EGMR Slg. 2001-V, 189 (Baumann/Frankreich), wo kein Rechtsschutz Dritter gegen die Einziehung ihres Eigentums in einem französischen Strafverfahren bestand und nur eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK festgestellt wurde (Rn. 71). 61 Vgl. Matscher (Fn. 32) S. 325 mit Fn. 46; ders. (Fn. 34) S. 371, wonach die meisten Verfahrensordnungen im Falle behaupteter Verletzung der meisten Verfahrensgarantien des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK in aller Regel adäquate Abhilfemöglichkeiten bieten und damit dem Gebot des Art. 13 EMRK Rechnung tragen. 62 Zur Bedeutung von Art. 13 EMRK im subsidiären System vgl. Hoffmann Der Grundsatz der Subsidiarität im Rechtsschutzsystem der EMRK, 2007, S. 145 ff. 63 So auch Grabenwarter (Fn. 28) § 24 Rn. 167. 64 Vgl. BVerfGE 107, 395, 410, 416 ff. 59
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b) Fachgerichtlicher Primärrechtsschutz Nach Art. 13 EMRK muss es sich daher freilich nicht notwendig um fachgerichtlichen Rechtsschutz handeln. Vielmehr genügt grundsätzlich auch Rechtsschutz durch ein Verfassungsgericht, wenn die EMRK selbst Verfassungsrang hat oder das nationale Verfassungsrecht inhaltsgleiche Verfahrensgrundrechte gewährt.65 Gleichwohl kommt in Österreich nur fachgerichtlicher Rechtsschutz in Betracht,66 weil Art. 144 B-VG dem VfGH keine Befugnis zur Aufhebung von Akten der ordentlichen Gerichtsbarkeit gibt 67 und daher bei Verletzungen von Verfahrensgrundrechten kein verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz besteht.68 Aber auch auf der fachgerichtlichen Ebene gibt es im österreichischen Zivilprozessrecht keinen mit § 321a ZPO vergleichbaren Rechtsbehelf gegen Gehörsverletzungen. Einzig im Schiedsverfahren wurden Gehörsverletzungen bis vor kurzem als Grund für die Wirkungslosigkeit (§ 595 Z 2 öZPO 1895) bzw. die Aufhebung von Schiedssprüchen (§ 595 Abs. 1 Z 2 öZPO 198369) erwähnt und werden seit der letzten Novelle70 auch dort durch die fehlende Kenntnisgabe vom Verfahren und den ordre public umschrieben (§ 611 Abs. 1 Satz 2 Z 2, 5 öZPO).71 In Betracht kommen daher nur Berufung, Revision und Nichtigkeitsklage. aa) Berufung Mit der Berufung kann gerügt werden, dass ein erheblicher Beweisantritt ohne Begründung übergangen (§ 275 Abs. 1 öZPO) oder eine Partei entgegen § 360 Abs. 2 öZPO nicht über ein Sachverständigengutachten informiert worden ist (§ 496 Abs. 1 Nr. 2 öZPO).72 Seit die Berufungsinstanz durch die Zivilverfahrens-Novelle 198373 der Fehlerkorrektur dient,74 muss das Beru65 Freilich zweifelt etwa Redeker NJW 2003, 488 mit Blick auf § 93a Abs. 2 BVerfGG an der Wirksamkeit der Verfassungsbeschwerde im Sinne von Art. 13 EMRK. 66 Zu den möglichen Rechtsbehelfen vgl. Matscher FS Kralik, 1986, S. 257, 265 ff. 67 Vgl. nur VfGH, VfSlg. 10.351/1985; 11.695/1988; Beschl. vom 3.10.2001, B 913/01; Beschl. vom 7.10.2002, B 1437/02, G 297/02. 68 Vgl. Fasching FS Henckel, 1995, S. 161, 164 mit Fn. 8. In Deutschland kommt dagegen neben der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG auch der durch zahlreiche Landsverfassungsgerichte eröffnete Rechtsschutz in Betracht. Vgl. im Einzelnen BVerfGE 96, 345, 351 ff. 69 I.d.F. von Art. IV Nr. 130 ZVN 1983 (Fn. 20). 70 SchiedsRÄG 2006, BGBl. I Nr. 7/2006. 71 Vgl. Rechberger ZZP 119 (2006), 261, 274. Zu § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. b, Nr. 2 lit. b ZPO vgl. Schlosser in: Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl. 2002, Anhang § 1061 Rn. 81. Vgl. auch BGHZ 57, 152, 158. 72 Vgl. OGH Beschl. vom 19.9.2001 – 3 Ob 111/01x; Beschl. vom 4.12.2002 – 9 Ob 237/02x. 73 Vgl. oben Fn. 20. 74 Vgl. dazu im einzelnen Bajons FS Fasching, 1988, S. 19, 20.
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fungsgericht die Beweisaufnahme grundsätzlich selbst nachholen und in der Sache entscheiden (§ 496 Abs. 3 öZPO),75 so dass das rechtliche Gehör nachträglich in höherer Instanz gewährt wird. Bei Streitwerten bis zu 2.000 € können mit der Berufung jedoch nur Nichtigkeitsgründe und materielle Rechtsfehler gerügt werden (§ 501 Abs. 1 S. 1 öZPO),76 nicht aber die Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit der Sachverhaltsdarstellung.77 Wären Gehörsverletzungen „nur“ einfache Verfahrensfehler, könnten sie daher nicht geltend gemacht werden.78 Dafür spricht, dass § 477 Abs. 1 öZPO nur zwei gehörsrelevante Fallgruppen enthält: die Säumnis bei fehlender Bekanntgabe des Termins (Z 4) und Vertretungsmängel (Z 5).79 Der OGH hat hingegen schon zu § 16 Abs. 1 AußStrG 185480 Gehörsverletzungen (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) als Nullitätsgrund angesehen81 und unter § 477 Abs. 1 Z 4 öZPO subsumiert.82 Dementsprechend wird auch im Schrifttum angenommen, Gehörsverletzungen führten immer zur Nichtigkeit eines Urteils und seien ex officio zu beachten.83 Damit ist die Berufung auch bei Streitwerten bis 2.000 € ein konventionsgemäßer Rechtsbehelf, auch wenn die Rechtslage insoweit etwas intransparent ist. bb) Revision Auch mit der Revision können Gehörsverletzungen gerügt werden (§ 503 Abs. 1 Z 2 öZPO), wenn etwa die von einer Partei beantragte mündliche Berufungsverhandlung (§ 492 Abs. 1 Satz 2 öZPO) unterblieben ist 84 oder das Berufungsgericht einem Beweisantritt, der in erster Instanz als unerheb75 Vgl. dazu etwa Bajons (Fn. 74) S. 19 ff.; Konecny ZZP 107 (1994), 481, 494 ff. Zur Revisibilität vgl. SZ 58/59. Insoweit zu § 539 ZPO 1900 entsprechend BGHZ 18, 107, 108; 31, 358, 361. 76 Dagegen konnten nach § 501 öZPO 1895 in Bagatellsachen bis 50 Kronen (§ 448 öZPO 1895) nur Nichtigkeitsgründe geltend gemacht werden. Die Erweiterung auf materielle Rechtsfehler beruht auf Art. IV Nr. 95 ZVN 1983 (Fn. 20). Im Gegenzug wurde die Streitwertgrenze von S 2 000 auf S 15 000 erhöht. 77 Vgl. Ballon FS Kralik, 1986, S. 37, 54; Knecny ZZP 107 (1994), 481, 484. 78 Vgl. Ballon JBl. 1995, 623, 630. Zur Missachtung der Rechtskraft vgl. OGH JBl. 1996, 117, 118 f. 79 Zur dortigen einfachrechtlichen Verankerung des rechtlichen Gehörs vgl. Roth BeitrZPR 6 (2002), 265 f. Zur mangelhaften Vertretung vgl. auch BGHZ 173, 250, 252. 80 RGBl. Nr. 208/1854, außer Kraft getreten durch Art. II Z 1 WGN 1989 (Fn. 50). 81 Vgl. insbesondere OGH RZ 1937, 301 f.; EvBl. 1982/120. 82 So OGH Beschl. vom 15.9.2000 – 7 Ob 186/00d in einer Außerstreitsache. Dagegen hat OGH Beschl. vom 17.10.1990 – 3 Ob 96/90 offen gelassen, ob Gehörsverletzungen ex officio als Nichtigkeitsgrund oder nur auf Rüge beachtlich sind. 83 Vgl. Fasching (Fn. 2) Rn. 703; Pimmer in: Fasching/Konecny, ZPO, 2. Aufl. 2005, § 477 Rn. 43. Ähnlich schon Ballon (Fn. 77) S. 54 in Fn. 100. 84 Vgl. OGH Beschl. vom 11.5.1993 – 10 ObS 85/93; Beschl. vom 25.2.2004 – 3 Ob 91/03h; Beschl. vom 9.8.2007 – 2 Ob 25/07a.
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lich ausgeschlossen worden war (§ 275 Abs. 1 öZPO), nunmehr wegen vorgreifender Beweiswürdigung nicht nachgegangen ist.85 Das Problem bei der Revision ist jedoch wie in Deutschland86 (§ 26 Nr. 8 EGZPO) die Beschränkung des Zugangs zum Revisionsgericht durch eine Streitwertgrenze,87 die heute bei 4.000 € liegt (§ 502 Abs. 2 öZPO). Darüber hinaus ist die Revision – ähnlich § 543 Abs. 2 S. 1 ZPO – schon seit 1989 nur zur Lösung einer Rechtsfrage zulässig, „der zur Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung erhebliche Bedeutung zukommt“ (§ 502 Abs. 1 öZPO). Wie in Deutschland 88 hat dies aber nichts daran geändert, dass auch die Revisionsinstanz wirksamen Rechtsschutz gegen Gehörsverletzungen im Berufungsverfahren eröffnet, weil der Wahrnehmung einer absoluten Nichtigkeit (§ 503 Abs. 1 Z 1 öZPO) immer erhebliche Bedeutung zukommt.89 Daher hat der OGH die Berufungsentscheidungen, die ohne mündliche Verhandlung ergangen waren oder auf einer vorgreifenden Beweiswürdigung des Berufungsgerichts beruht haben, auch nach neuem Recht aufgehoben.90 Damit bietet die Revision nach wie vor konventionsgemäßen Rechtsschutz
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Vgl. OGH Beschl. vom 24.8.2005 – 3 Ob 294/04p. Im Wirkungsbereich des französischen Kassationsrechts können dagegen typischerweise ohne Einschränkung alle letztinstanzlichen Urteile überprüft werden. Zum pourvoi en cassation in Belgien vgl. Art. 608, 609 Nr. 1 CJ. Daran soll nach dem Gesetzentwurf vom 19.1.2009 ( – DOC 52 1737/001) auch in Zukunft festgehalten werden. Zu Frankreich vgl. Art. 605 ff. CPC. Entlastung bringt dort die Entscheidung einfacher Fälle ohne mündliche Verhandlung (Art. L 431-1 Abs. 2 COJ). Zu Luxemburg vgl. Art. 3 Abs. 1 des Kassationsgesetzes (Mém. 2004, 1816). Zum ricorso di cassazione in Italien vgl. Art. 360 Abs. 1 c.p.c. Dagegen sehen Art. 29 Nr. 1 des Gesetzentwurfs XVI S. 1082 () in Art. 360-bis c.p.c. und Art. 2.178 des Entwurfs von Proto Pisani Foro it. 2009, V, 1 ff. Zulässigkeitsbeschränkungen vor, die § 543 Abs. 2 S. 1 ZPO und § 502 Abs. 1 öZPO ähneln, aber mit Blick auf Art. 111 Abs. 7 cost. höchst problematisch erscheinen. Die später Gesetz gewordene Fassung von Art. 360-bis c.p.c., eingefügt durch Art. 47 Nr. 1 lit. a des Gesetzes Nr. 69 vom 18.6.2009, G.U. vom 19.6.2009, Nr. 140, suppl. ord. Nr. 95/L. Zum beroup in cassatie in den Niederlanden vgl. Art. 398 Nr. 1 Rv. Bei nicht berufungsfähigen Urteilen der Kantonsrichter kann aber nur das Fehlen von Urteilsgründen, die Verletzung der Öffentlichkeit, die Unzuständigkeit und das Überschreiten der richterlichen Befugnisse gerügt werden (Art. 80 Abs. 1 RO, Stb. 2002 Nr. 1). In Spanien ist statt des recurso de casación (Art. 477 Abs. 1, 2 LEC, B.O.E. vom 8.1.2000) bei Verstößen gegen Verfahrensgrundrechte (Art. 24 cost.) nur noch der recurso extraordinario por infracción procesal (Art. 468, 469 Abs. 1 Nr. 4 LEC) zulässig. Vgl. Stade Die Konstitutionalisierung des Zivilprozessrechts in Spanien und Deutschland, 2007, S. 144 f., 146 f. 87 So schloss § 502 Abs. 2 öZPO 1895 die Revision gegen Entscheidungen in Bagatellsachen (Fn. 76) aus. 88 Vgl. BGHZ 154, 288, 296; 159, 135, 139 f. sowie nunmehr auch § 544 Abs. 7 ZPO. 89 Vgl. Zechner in: Fasching/Konecny (Fn. 83), § 502 Rn. 93. Dies ähnelt der Zulassung der Revision bei den absoluten Revisionsgründen nach § 547 Nr. 1–4 ZPO. Vgl. dazu BGHZ 172, 250, 253 in Rn. 13 ff. 90 Vgl. nur OGH Beschl. vom 24.8.2005 – 3 Ob 294/04p; Beschl. vom 9.8.2007 – 2 Ob 25/07a. 86
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gegen Gehörsverletzungen in der Berufungsinstanz. Hat das Berufungsgericht die Revision nicht zugelassen, findet bei Streitwerten über 20.000 € die außerordentliche Revision statt (§ 505 Abs. 4 S. 1 öZPO), die sich von der ordentlichen nur dadurch unterscheidet, dass der Revisionswerber die Zulässigkeitsgründe (§ 502 Abs. 1 öZPO) angeben muss (§ 506 Abs. 1 Z 5 öZPO).91 Bei Streitwerten bis 20.000 € kann der Revisionswerber beim Berufungsgericht die nachträgliche Zulassung der (ordentlichen) Revision beantragen (§ 508 öZPO), so dass auch hier hinreichend Rechtsschutz besteht. cc) Nichtigkeitsklage Als letztes Mittel des Primärrechtsschutzes ist schließlich noch die Nichtigkeitsklage zu beleuchten, die bei Berufungsurteilen bis 4.000 € und bei Entscheidungen des OGH zum Tragen käme. Freilich statuiert § 529 Abs. 1 Z 2 öZPO als einzigen Nichtigkeitsklagegrund mit Gehörsgehalt entsprechend § 477 Abs. 1 Z 5 öZPO den Vertretungsmangel. Daher wird im Schrifttum die Auffassung vertreten, Gehörsverletzungen bildeten nur dann einen Nichtigkeitsklagegrund, wenn dadurch die durch die Entscheidung betroffene Partei am Verfahren überhaupt nicht teilgenommen hat.92 Dagegen tendiert die Rechtsprechung offenbar dazu, auch andere Formen von Gehörsverletzungen als Nichtigkeitsklagegrund anzusehen.93 Folgt man dem, kann die Nichtigkeitsklage innerhalb des vorhandenen Normengefüges konventionsgemäßen Primärrechtsschutz schaffen. Doch erscheint die Behandlung von Gehörsverletzungen als Nichtigkeitsklagegrund sehr weitgehend, weil dann nicht hypothetisch nach dem möglichen Einfluss des Verfahrensfehlers auf den Inhalt der Entscheidung gefragt wird und das Recht auf Erhebung der Nichtigkeitsklage bei Gehörsverletzungen nach der Rechtsprechung auch durch die Unterlassung eines Rechtsmittels nicht verwirkt wird.94 Das geht über den von Art. 13 EMRK geforderten Rechtsschutz weit hinaus.
IV. Résumé Als Résumé kann man daher zum einen festhalten, dass das österreichische Prozessmodell schon immer ein Vorbild für die zügige Erledigung von Zivil91 Diese Verfahrensstruktur entspricht der zulassungsfreien Rechtsbeschwerde nach § 575 Abs. 3 Nr. 2 ZPO. 92 So namentlich Fasching (Fn. 2) Rn. 2047. 93 So zu § 477 Abs. 1 Z 4 öZPO SZ 3/53; OGH JBl. 1956, 412 (Schima); EFSlg 30.085 [1977]; SZ 54/105; insoweit zustimmend Jelinek in: Fasching/Konecny (Fn. 83), § 529 Rn. 63; ablehnend dagegen noch SZ 22/8. 94 So SZ 54/105.
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prozessen unter Wahrung rechtlichen Gehörs war, auch wenn die einseitigen Rekursverfahren kritikwürdig sind. Darüber hinaus bestand schon vor der Kudła-Entscheidung fast lückenloser Primärrechtsschutz gegen gerichtliche Säumnis und Gehörsverletzungen im Zivilprozess.95 Ein Schönheitsfehler ist dabei jedoch, dass auch § 91 GOG ein einseitiges Aktenverfahren ohne Stellungnahme des Gegners vorsieht. Immerhin wird aber „empfohlen“, dem Gegner durch Zustellung einer Gleichschrift Kenntnis von dem Fristsetzungsantrag zu geben.96
95 Dagegen hält es Roth BeitrZPR 6 (2002), 265, 275 für bedenklich, dass § 91 GOG nur einzelne Verfahrensschritte betrifft. Doch kann man von einem Primärrechtsbehelf mehr kaum erwarten. 96 So Schoibl ZZP 118 (2005), 205, 225. Dagegen soll das Fehlen einer zuzustellenden Gleichschrift nach Fasching (Fn. 2) Rn. 2100/2 keinen Grund für ein Verbesserungsverfahren sein, so dass die Unterrichtung der Gegenpartei im Belieben des Antragstellers steht.
Rechtsweg in Amtshaftungssachen Wolfgang Schlick I. Vorbemerkungen zur Person Der Jubilar gehört mittlerweile zu den „dienstältesten“ beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälten. Er kennt den „Justizbetrieb“ aus jahrzehntelanger Erfahrung; das Anwaltsschicksal, dass man vor Gericht nicht nur gewinnen kann, sondern auch (freilich den erfahrenen Anwalt selten überraschende, bisweilen aber gleichwohl schmerzende) Niederlagen einstecken muss, trägt er (meistens) mit stoischer Ruhe und souveräner Gelassenheit. Dass mitunter bei der einen oder anderen Diskussion in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat die Gefahr besteht, dass man sich in fein ziselierten, nicht nur für den Bürger, sondern auch für den Juristen nur noch schwer nachvollziehbaren Spitzfindigkeiten verliert, ist ihm durchaus bewusst und pflegt von ihm mit der nicht wenige Theologen des Mittelalters beschäftigenden Streitfrage verglichen zu werden, wie viele Engel denn eigentlich auf einer Nadelspitze Platz fänden.1 Droht freilich aus seiner (durchaus selbst auch so empfundenen, getreu der in Anlehnung an ein bekanntes Lutherwort formulierten Devise: fortiter peccavi) subjektiven Sicht, die gerechte Sache schweren Schaden zu erleiden, versteht er es durchaus, kämpferische Qualitäten zu entfalten. Vor dem III. Zivilsenat ist der Jubilar gern gesehener Gast, wobei er – wie der Zufall(?) so spielt – gerade in Amtshaftungssachen besonders häufig auftritt. Dabei war er (und wird es hoffentlich lange bleiben) Prozessbevollmächtigter sowohl in aufsehenerregenden, auch die breite Öffentlichkeit interessierenden Verfahren, wie etwa im „Distomo-“ und im „Varvarin“Prozess, in denen die Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland für im Zweiten Weltkrieg begangene Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht 2 und für (behauptete) Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht im Rahmen eines NATO-Auslands-Kampfeinsatzes 3 gegenüber geschädigten Zivilpersonen zur Überprüfung anstand, als auch in eher unspektakulären 1 Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, hat man die richtige Zahl herausgefunden; sie ist erstaunlich hoch. 2 Senatsurteil vom 26.6.2003 – III ZR 245/98 – BGHZ 155, 279 = NJW 2003, 3488. 3 Senatsurteil vom 2.11.2006 – III ZR 190/05 – BGHZ 169, 348 = JZ 2007, 532.
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Verfahren, in denen jedoch ausgesprochene Grundsatzfragen des Amtshaftungsrechts zu klären waren.4 Das Vergnügen, auch zukünftig in Amtshaftungssachen die Klingen mit seinen Kollegen vor dem III. Zivilsenat kreuzen zu dürfen, droht indes, wenn es nach den Vorstellungen der Justizminister der Länder geht, empfindlich gestört zu werden.
II. Vorbemerkungen zur Sache Aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums des Kommentars (1898) und des Bürgerlichen Gesetzbuchs (1896 bzw. 1900) wurde eine Staudinger/ BGB-Synopse herausgegeben, die mittlerweile in der Neubearbeitung 2005 vorliegt. Das Studium dieser Synopse bringt erstaunliche Erkenntnisse. Dabei überrascht besonders, dass § 839 BGB, die „Zentralnorm“ des gesamten Amtshaftungsrechts, die mehr als 100 schicksalhaften Jahre, die seit dem Erlass bzw. dem Inkrafttreten des BGB vergangen sind, nahezu unversehrt überstanden hat: Allein § 839 Abs. 2 Satz 1 BGB (Spruchrichterprivileg) ist durch Art. 121 Nr. 2 EGStGB vom 2.3.19745 marginal geändert worden. Und das, obwohl kaum eine Norm des BGB von Anfang an rechtspolitisch so in der Kritik stand wie gerade § 839 BGB. Schon kurz nach ihrer Einführung ist die Amtshaftung in den Ruf des „schlechtest konstruierten, dazu für das Volk unverständlichsten aller Rechtssätze“ gelangt.6 Freilich, Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts schien durch den Erlass des Staatshaftungsgesetzes vom 26.6.19817 – das, so die Verfasser im Vorwort des dazu (voreilig) herausgegebenen Kommentars,8 das „Recht der Wiedergutmachung staatlichen Unrechts auf eine neue, einheitliche und rechtsstaatliche Grundlage“ stellen sollte – das letzte Stündlein des § 839 BGB geschlagen zu haben. Indes, das Bundesverfassungsgericht machte dem Bundesgesetzgeber einen Strich durch die Rechnung und erklärte durch Urteil vom 19.10.19829 das Staatshaftungsgesetz als mit Art. 70 GG für unvereinbar und daher nichtig. Auf Beschluss der 54. Justizministerkonfe-
4 Beispielhaft genannt seien hier nur die Senatsurteile vom 14.10.2004 – III ZR 169/04 – BGHZ 161, 6 = NJW 2005, 286 (zur Frage des Rückgriffs gegen als Verwaltungshelfer herangezogene selbständige private Unternehmer) und vom 7.2.2008 – III ZR 76/07 – BGHZ 175, 221= NVwZ 2009, 132 (zur Bindung des Rechtsträgers der Widerspruchsbehörde an ein zwischen der Ausgangsbehörde und dem geschädigten Bürger ergangenes verwaltungsgerichtliches Urteil im Rahmen des Gesamtschuldnerausgleichs). 5 BGBl. I S. 469. 6 Vgl. Ossenbühl Staatshaftungsrecht, 5. Aufl. 1998, S. 6. 7 BGBl. I S. 553. 8 Schäfer/Bonk Staatshaftungsgesetz 1982. 9 2 BvF 1/91 – BVerfGE 61, 149 = NJW 1983, 25.
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renz wurde 1983 eine Bund/Länder-Arbeitsgruppe gebildet, die 1987 einen vom Bundesministerium der Justiz herausgegebenen Bericht „Zur Reform des Staatshaftungsrechts“ vorlegte. Obwohl die Arbeitsgruppe nach wie vor rechtspolitischen Entscheidungsbedarf sah, verliefen die Reformbestrebungen im Sande, sodass § 839 BGB – gleichsam wie Phönix aus der Asche – wieder zu vollem Leben erwachte. Darüber, warum die doch ursprünglich als so drängend angesehenen Reformbestrebungen zum Erliegen kamen, kann nur spekuliert werden. Als langjähriges Mitglied des III. Zivilsenats, also des Senats, dem seit Bestehen des Bundesgerichtshofs die Zuständigkeit für die Amtshaftung obliegt, würde mich am meisten das Argument überzeugen, dass § 839 BGB bei weitem nicht so schlecht ist wie sein Ruf.10 Nachdem jahrzehntelang Schweigen im Walde herrschte und scheinbar alle Betroffenen mit der neuen bzw. alten Rechtslage ihren Frieden gemacht hatten – weder von irgendeiner politischen Partei noch von irgendwelchen Interessenvertretern (etwa aus den Reihen der Anwaltschaft oder von Interessenverbänden geschädigter Bürger) wurde Reformbedarf angemeldet –, kam das Thema „Bereinigung des Systems der Rechtswegzuweisungen“ auf die Tagesordnung der am 11. und 12.6.2008 in Celle tagenden 79. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister. Die Minister sprachen sich dabei zur großen Verwunderung der beruflich mit dieser Materie befassten Juristen (Richter, Rechtsanwälte) dafür aus, die „vornehmlich historisch motivierte(n) Rechtswegzuweisungen durch an die materiellrechtliche Einordnung der Streitigkeit anknüpfende Regelungen zu ersetzen“; insbesondere befürworteten sie das Vorhaben, „Streitigkeiten im Sinne des Artikels 34 GG grundsätzlich derjenigen Gerichtsbarkeit zuzuweisen, der auch die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der dem geltend gemachten Anspruch zugrunde liegenden Ausübung vollziehender Gewalt obliegt.“ Was die eigentliche Zielrichtung des Vorhabens angeht – der Hinweis auf historische Gegebenheiten ist kein wirklich ernstzunehmendes Argument –, liegt mangels anderer (besserer) Erklärungsmöglichkeiten der Schluss nahe, dass auf diesem Wege der durch die „Hartz IV-Gesetze“ empfindlich getroffenen Verwaltungsgerichtsbarkeit Kompensation für verlorenes Terrain verschafft werden soll.11 Der Beschluss wurde mit 15:112 Stimmen gefasst. Angesichts dieser überwältigenden Mehrheit lässt sich keinesfalls ausschließen, dass dieser Vorschlag auch umgesetzt wird. Da es aus der Sicht des für diese Materie bisher allein zuständigen III. Zivilsenats keinen einzigen Sachgrund gibt, der sich für diesen Reformvorschlag anführen lässt, vielmehr alles für eine Beibehaltung der Rechtswegzuweisung an die ordentlichen Gerichte spricht, besteht Anlass genug, sich mit diesem Thema näher auseinanderzusetzen. 10 11 12
Dazu ließe sich Vieles sagen, was freilich den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Vgl. Reichling DRiZ 2008, 303. Allein die Thüringische Justizministerin stimmte mannhaft dagegen.
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III. Rechtswegzuweisung an die Zivilgerichte – nach wie vor der „Königsweg“ In einem Gemeinwesen, das wie die Bundesrepublik Deutschland fünf Gerichtsbarkeiten kennt, stellt sich naturgemäß weit häufiger als in anderen Staaten die Frage, welcher dieser Fachgerichtsbarkeiten bestimmte Rechtsstreitigkeiten zugewiesen werden sollen. Sinnvollerweise ist bei der Klärung dieser Frage auf die größere Sachnähe abzustellen, die typischer- aber nicht notwendigerweise mit der Rechtsnatur der Streitigkeit einhergeht,13 wobei auch die Interessen des rechtsuchenden Bürgers nicht aus dem Blickfeld geraten sollten: Aus seiner Sicht sollte sich vor allem die Suche nach dem Gericht, an das er sich mit seinem Anliegen wenden muss, nicht allzu kompliziert gestalten. Geht man von diesen Kriterien aus, ist die von der Justizministerkonferenz aufgeworfene Frage leicht zu beantworten: Der Amtshaftungsanspruch ist ein bürgerlich-rechtlicher Anspruch (1.), der bei weitem die größere Sachnähe zur Zivilgerichtsbarkeit aufweist (2. u. 3.) und dessen „Aufsplittung“ auf die jeweiligen Fachgerichte für Gerichte, Rechtsanwälte und (vor allem) für den Bürger erhebliche Nachteile mit sich brächte (4.). 1. § 839 BGB – ein bürgerlich-rechtlicher Anspruch Der Anspruch aus § 839 BGB ist ein bürgerlich-rechtlicher Anspruch, nämlich ein Anspruch aus unerlaubter Handlung im Sinne des 27. Titels des BGB, auf den grundsätzlich die allgemein für unerlaubte Handlungen geltenden Vorschriften (§§ 827, 828, 830, 840, 842 bis 853 BGB) Anwendung finden. Nach der Konstruktion des Gesetzes ist Haftungssubjekt der einzelne Beamte, der sich bei einem amtspflichtwidrigen Fehlverhalten dem geschädigten Bürger, sofern diesem gegenüber die verletzte Amtspflicht bestanden hat, schadensersatzpflichtig macht. Die Rechtslage stellt sich insoweit nicht wesentlich anders als dar als bei jeder anderen Schädigung durch einen deliktisch handelnden Täter. So würde etwa ein Polizeibeamter, der bei einem Einsatz pflichtwidrig von der Schusswaffe Gebrauch macht und dabei einen Dritten verletzt, nach § 823 BGB haften, wenn es nicht den Sondertatbestand des § 839 BGB gäbe. Ebenso müsste ohne den Deliktstatbestand des § 839 BGB ein Beamter, der sich etwa im Rahmen der gesetzwidrigen Erteilung von Genehmigungen nach § 19a GüKG a.F. in ein breit angelegtes Betrugs13 So sind etwa die berufgerichtlichen Verfahren nach der Bundesnotarordnung den ordentlichen Gerichten und nicht den Verwaltungsgerichten zugewiesen, obwohl es sich um Verwaltungsverfahren handelt: die notarielle Tätigkeit weist aufgrund ihrer „FGGNähe“ (Organ der vorsorgenden Rechtspflege) eben die größere Sachnähe zur ordentlichen Gerichtsbarkeit auf.
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vorhaben einbinden lässt, nach § 826 BGB Schadensersatz leisten.14 Daraus hat die Rechtsprechung den Schluss gezogen, dass immer dann, wenn eine Amtspflichtverletzung zugleich den Tatbestand einer allgemeinen unerlaubten Handlung im Sinne der §§ 823 ff. BGB erfüllt, insbesondere bei Verletzung eines der in § 823 Abs. 1 BGB aufgeführten Rechtsgüter oder bei Vorliegen eines Amtsmissbrauchs (§ 826 BGB), der Geschädigte bereits dann geschützter „Dritter“ im Sinne des § 839 BGB ist, wenn und soweit er nach jenen allgemeinen Deliktsnormen Ersatz beanspruchen könnte.15 Diese personale Konstruktion der Amtshaftung – Amtspflichtverletzung als unerlaubte Handlung des pflichtwidrig handelnden Beamten – ist nicht zufällig, sondern bewusst und gewollt im Gesetz angelegt. An diesem Befund ändert auch nichts die durch Art. 34 Satz 1 GG angeordnete Haftungsüberleitung auf die Anstellungskörperschaft. Das bedeutet vor allem, dass sämtliche auf die persönliche Verantwortlichkeit des Amtsträgers zugeschnittenen gesetzlichen Haftungsbeschränkungen, -milderungen oder -privilegien mittelbar auch dem Staat zugute kommen. So ist etwa bei der Frage, unter welchen Voraussetzungen die Haftungsprivilegierung des § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII (vorübergehende betriebliche Tätigkeit von Versicherten mehrerer Unternehmen auf einer gemeinsamen Betriebsstätte) einem Amtshaftungsanspruch entgegengehalten werden kann, auf die Person des Schädigers, nicht auf diejenige seines Dienstherrn als des Unternehmers abzustellen.16 Der Rechtsnatur des Amtshaftungsanspruchs als eines bürgerlich-rechtlichen Schadensersatzanspruchs aus Delikt entspricht es, dass sich Art und Umfang des Schadensersatzes aus den allgemeinen Vorschriften der §§ 249 ff. BGB ergeben mit der Besonderheit, dass – der personalen Konstruktion der Amtshaftung entsprechend – in der Regel nur Ersatz in Geld und keine Naturalrestitution verlangt werden kann, also nur das, was der Beamte persönlich zu leisten vermag. Ersatzfähig ist dabei auch der entgangene Gewinn (§ 252 BGB), bei Mitverschulden des Geschädigten ist der Anspruch gemäß § 254 BGB zu mindern. Der eingetretene Schaden muss eine adäquate Folge des schädigenden Ereignisses sein, der Schädiger kann den Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens erheben und es gelten die Grundsätze der Vorteilsausgleichung;17 kurz: Der Amtshaftungsanspruch fügt sich nahtlos in das System des allgemeinen (zivilrechtlichen) Schadensersatzrechts ein.
14 Senatsurteil vom 15.5.2003 – III ZR 42/02 – NVwZ-RR 2003, 714 f. = VersR 2003, 1306, 1307 f. 15 Staudinger/Wurm BGB, Neubearbeitung 2007, § 839 Rn. 171 f. 16 Senatsurteil vom 27.6.2002 – III ZR 234/01 – BGHZ 151, 198, 200 ff. = NJW 2002, 3096 ff.; siehe zu dem ganzen Problemkreis auch die ausführliche Darstellung bei Staudinger/Wurm § 839 Rn. 22 ff. 17 Siehe hierzu – mit vielen Nachweisen aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung – Staudinger/Wurm § 839 Rn. 223 ff., insbes. Rn. 238.
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Die (nebenbei bemerkt: das ist der eigentlich historische Befund, weniger die dem entsprechende Rechtswegzuweisung) Konstruktion der Amtshaftung als spezieller zivilrechtlicher Deliktstatbestand soll nach den Vorstellungen der Justizminister offensichtlich nicht geändert werden. Dann aber ist die bloße Änderung der Rechtswegzuweisung an die Zivilgerichte eine halbherzige und systemwidrige, in der bisherigen Reformdiskussion – zu Recht – so nie erwogene Maßnahme. Denn bisher ging man davon aus, dass eine Änderung der Rechtswegzuweisung nur im Zusammenhang mit einer (als im Kern öffentlich-rechtlich ausgestalteten) völligen Neustrukturierung des gesamten Amts- und Staatshaftungsrechts sinnvoll ist, um auf diese Weise den (neu geschaffenen) materiellen Rechtsschutz mit dem prozessualen Rechtsschutz zu harmonisieren.18 Würde der Beschluss der Justizministerkonferenz umgesetzt, würde eine bisher bestehende Harmonie zwischen materiellem Recht und Rechtswegzuweisung zerstört, ohne dass dem ein in sich schlüssiges Gesamtkonzept zugrunde läge. 2. Der Amtshaftungsprozess – keine Fortsetzung des „Primärprozesses“ mit anderem Rechtsschutzziel Hat, so mag ein Anhänger der Rechtswegreform listig fragen, das Recht der Amtshaftung denn nichts mit öffentlichem Recht zu tun? Aber ja doch, und gerade das macht den besonderen Reiz dieses Rechtsgebiets aus. Gleichwohl muss (darf) konstatiert werden: Die Nähe zum Zivilrecht überwiegt bei weitem. Dem Petitum der Justizministerkonferenz, Amtshaftungsprozesse grundsätzlich derjenigen Gerichtsbarkeit zuzuweisen, der auch die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der dem geltend gemachten Anspruch zugrunde liegenden Ausübung vollziehender Gewalt obliegt, liegt – wenn auch unausgesprochen – ersichtlich die Vorstellung zugrunde, dass der Amtshaftungsprozess (etwa: Klage auf Ersatz des Schadens, der durch die rechtswidrige Versagung einer Baugenehmigung entstanden ist) im Regelfall nichts anderes ist als die Fortsetzung des Primärprozesses (etwa: Verpflichtungsklage vor dem Verwaltungsgericht auf Erteilung der versagten Genehmigung) mit anderem Rechtsschutzziel (Schadensersatz statt Erlass des begehrten Verwaltungsakts). Ausgehend von dieser Prämisse ließe sich anführen, dass die jeweilige Fachgerichtsbarkeit über die größere Sachnähe und daher auch über die größere Fachkompetenz verfügt, (auch) den Amtshaftungsprozess zu entscheiden. Indes kann dieser These, mit deren Richtigkeit die Sinnhaftigkeit des ganzen Reformvorhabens steht und fällt, nicht energisch genug widersprochen werden. 18 So etwa der Bericht der Bund/Länder-Arbeitsgruppe aus dem Jahre 1987 S. 16 f. (8. These: Konzentration der Rechtswege).
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a) Wie sich den regelmäßig in der Neuen Juristischen Wochenschrift erscheinenden Berichten des Verfassers über die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen19 entnehmen lässt, spiegelt sich die ganze Vielfalt staatlichen Handelns auch im Bereich der Amtshaftung wider; es gibt kaum einen Bereich hoheitlicher Tätigkeit, der nicht „schadensanfällig“ wäre. Indes versteht sich, dass gerade die den Rahmen des Üblichen sprengenden Schadensfälle, zu denen insbesondere die öffentlich-rechtlich problematischen gehören, in weit höherem Maße als „Routinefälle“ ein Eingreifen des Revisionsgerichts erfordern. Die Fälle, die vor dem III. Zivilsenat verhandelt werden und zu einer mit Leitsatz versehenen Grundsatzentscheidung führen, ergeben daher kein repräsentatives Bild. Auch wenn insoweit aussagekräftige statistische Erhebungen fehlen, spricht doch alles dafür, dass es in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Amtshaftungsfälle überhaupt keinen Primärprozess vor dem Verwaltungs-, Sozialoder Finanzgericht gibt bzw. geben könnte. Der „alltägliche“ Amtshaftungsfall spielt sich im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße ab. Das „idealtypische“ Opfer amtspflichtwidrigen Verhaltens ist ein Verkehrsteilnehmer, der auf dem Gehweg wegen aus dem Bodenbelag herausgerissener Pflastersteine zu Fall kommt,20 eine nicht rutschfeste Treppe (Fußgängerunterführung) hinabstürzt,21 bei einem Überhol- oder Ausweichmanöver auf das unbefestigte Straßenbankett und von da in den Straßengraben gerät,22 auf einem nicht gestreuten Fuß- und Radweg infolge Glatteis zu Boden stürzt23 oder mit infolge eines Sturmes abgebrochenen und auf die Straße gestürzten Ästen von Alleebäumen kollidiert.24 In all diesen Fallgestaltungen geht es um Fragen der (Straßen-)Verkehrssicherungspflicht, die nicht nur im Rahmen der Amtshaftung, sondern auch im Rahmen der „normalen“ Deliktshaftung nach §§ 823, 831 BGB eine große Rolle spielen und durchgängig nach den gleichen, zum „Standard-Repertoire“ eines jeden Zivilrichters gehörenden Kriterien „abgearbeitet“ werden. Auch die zweite große Gruppe von Amtshaftungsfällen resultiert aus der Teilnahme am allgemeinen Straßenverkehr. Erleidet der Führer eines Kraftfahrzeugs einen Sach- oder Gesundheitsschaden, weil der Lenker eines anderen Kraftfahrzeugs nicht die Vorfahrt beachtet, so ist es nicht selten der Fall, dass der Unfallgegner ein Polizeibeamter auf Streifenfahrt oder ein Bundeswehrangehöriger bzw. ein sonstiger Beamter auf Dienstfahrt ist. Dies ändert
19 20 21 22
Zuletzt NJW 2008, 31 und – speziell zur Amtshaftung – NJW 2008, 127. Senatsurteil vom 10.5.2007 – III ZR 115/06 – NJW 2007, 3211. Senatsurteil vom 24.1.2002 – III ZR 103/01 – NJW 2002, 1265. Senatsbeschluss vom 27.1.2005 – III ZR 176/04 – VersR 2005, 660 = NVwZ-RR 2005,
362. 23 24
Senatsurteil vom 9.10.2003 – III ZR 8/03 – NJW 2003, 3622. Senatsurteil vom 4.3.2004 – III ZR 225/03 – NJW 2004, 1381.
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freilich im Allgemeinen nichts an dem Befund, dass es sich um einen banalen Verkehrsunfall handelt, bei dem die Schadensfolgen von den Zivilgerichten nach dem „üblichen Schema“ rechtlich zu beurteilen sind. Dass hier als deliktische Anspruchsgrundlage nicht § 823 BGB, sondern § 839 BGB heranzuziehen ist, ist, sieht man einmal von der Frage der Passivlegitimation ab, ohne Belang. Allenfalls dann, wenn der hoheitlich handelnde Fahrzeugführer von den Sonderrechten des § 35 StVO Gebrauch macht, können sich Besonderheiten ergeben.25 b) Aber auch da, wo der Geschädigte typischerweise vor der Erhebung einer Amtshaftungsklage Primärrechtsschutz vor dem Verwaltungsgericht oder einem sonstigen Fachgericht in Anspruch nimmt, ist es keineswegs so, dass die den Primärprozess beherrschenden und für seinen Ausgang wesentlichen Normen des öffentlichen Rechts auch den Sekundärprozess dominieren. Das Gegenteil ist die Regel. Dies gilt selbst für den Bereich des öffentlichen Baurechts, der in der Rechtsprechung des III. Zivilsenats eine große Rolle spielt. Wenn es einen Bereich gibt, bei dem es nicht ausbleibt, dass öffentlichrechtliche Vorfragen auch im Amtshaftungsprozess vertieft behandelt werden müssen, so den des öffentlichen Baurechts. Der Umstand, dass sich der III. Zivilsenat in nicht wenigen zu diesem Problemkreis ergangenen und veröffentlichten Leitsatzentscheidungen dezidiert auch zu Fragen des öffentlichen Bauplanungs- und Bauordnungsrechts geäußert hat,26 darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch der „durchschnittliche Baurechtshaftungsfall“ der Sache nach in erster Linie ein zivilrechtlicher Schadensersatzfall ist. Dieser Haftungsfall läuft regelmäßig so ab, dass dem Bauwilligen zunächst die nachgesuchte Baugenehmigung rechtswidrig versagt wird und er sich die ihm zustehende Genehmigung im Verwaltungsrechtswege erst erstreiten muss. Ist diese Hürde genommen, so steht im anschließenden Amtshaftungsprozess aufgrund der Bindungswirkung des im „Primärprozess“ gegen die Bauaufsichtsbehörde ergangenen Urteils fest, dass die Ablehnung der Baugenehmigung rechtswidrig war.27 Da wegen des von der Rechtsprechung entwickelten objektivierten Sorgfaltsmaßstabs in aller Regel auch von einem zumindest fahrlässigen Verhalten der jeweils mit der Sache befass-
25 Insbesondere kommt hier wieder die bei der dienstlichen Teilnahme eines Amtsträgers am allgemeinen Straßenverkehr nach der Rechtsprechung an sich unanwendbare Subsidiaritätsklausel des § 839 Abs. 1 S. 2 BGB zum Tragen, vgl. Senatsurteil vom 28.10.1982 – III ZR 206/80 – BGHZ 85, 225, 228 f. = NJW 1983, 1667 und vom 26.3.1997 – III ZR 295/96 – NJW 1997, 2109 sowie Staudinger/Wurm § 839 Rn. 264. 26 Siehe die Kommentierung von Staudinger/Wurm § 839 Rn. 549 ff. sowie Schlick DVBl. 2007, 457 und BauR 2008, 290. 27 Ständige Rechtsprechung; siehe zuletzt Senatsurteil vom 7.2.2008 – III ZR 76/07 – BGHZ 175, 221 = NVwZ 2009, 132 = VersR 2008, 1068.
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ten Amtsträger ausgegangen werden kann, sind die Haftungsvoraussetzungen in der großen Mehrzahl der Fälle unschwer festzustellen. Im Zentrum des Amtshaftungsprozesses steht daher meistens „nur“ die Frage, ob und in welcher Höhe durch die eingetretene Bauverzögerung dem Bauherrn ein Schaden entstanden ist. Dieser beruht etwa darauf, dass zwischenzeitlich die Baukosten gestiegen sind, dass – etwa bei der Errichtung von Eigentumswohnungen durch Bauträger – wegen des späteren Flusses der Kaufpreise höhere Finanzierungskosten entstehen oder Mietausfälle zu verzeichnen sind. Besondere Schwierigkeiten bereiten hierbei die Fälle, in denen es nach Abschluss des „Primärprozesses“ zur Verwirklichung des Bauvorhabens gar nicht mehr kommt; derartige Fälle sind in den letzten Jahren vor allem in den neuen Bundesländern vermehrt aufgetreten. Hierzu ein typischer Fall aus der Praxis des III. Zivilsenats: Eine eigens zu diesem Zweck gegründete „Erwerbsgesellschaft“ (GmbH) plante auf einem von ihr käuflich erworbenen Grundstück die Errichtung eines Bau- oder Heimwerkermarktes mit Gartencenter, den sie anschließend an eine zu derselben Unternehmensgruppe gehörende „Betreibergesellschaft“, ebenfalls eine GmbH, vermieten wollte. Die nachgesuchte Baugenehmigung wurde von der zuständigen Baugenehmigungsbehörde verweigert. Im Wege der Untätigkeitsklage erwirkte die GmbH ein verwaltungsgerichtliches Urteil, durch das der Ablehnungsbescheid aufgehoben und die Behörde zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verurteilt wurde. Der Antrag der Behörde auf Zulassung der Berufung blieb erfolglos. Nachdem inzwischen zwei Jahre ins Land gegangen waren, gab die „Erwerbs-GmbH“ ihr Vorhaben auf, weil mittlerweile – so ihre Behauptung – durch den Bau weiterer Märkte in der näheren Umgebung eine „Übersättigung“ eingetreten und daher die Errichtung des von ihr geplanten Marktes unwirtschaftlich geworden sei. Bei pflichtgemäßem Verhalten der Bauaufsichtsbehörde hätte sie sich jedoch am Markt etablieren und die mit der Betreibergesellschaft bereits abgesprochenen Mieten dauerhaft erzielen können; durch die amtspflichtwidrige Verweigerung der Genehmigung sei ihr ein Schaden von mehr als 800.000 € entstanden. Die beklagte Gebietskörperschaft machte geltend, dass die „konzernintern“ vereinbarten Mieten nicht den Marktverhältnissen entsprächen und daher zur Ermittlung des ersatzfähigen Vermögensschadens von vornherein untauglich seien; darüber hinaus habe sich die Konkurrenzsituation bei Aufgabe der Bauabsicht nicht wesentlich anders dargestellt als bei Einreichung des Baugesuchs. Letztlich stelle die Klage nur den Versuch dar, sich für eine im alleinigen Verantwortungsbereich der Klägerin liegende unternehmerische Fehlentscheidung bei der öffentlichen Hand schadlos zu halten. Das Berufungsgericht hat nach umfänglicher Beweisaufnahme (Einholung von Gutachten) die Klage abgewiesen, weil es nicht für dargetan bzw. erwiesen erachtete, dass der behauptete Schaden Folge der Verweigerung der Baugenehmigung gewesen sei.
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Es liegt auf der Hand, dass die Beantwortung der in diesem beispielhaft näher dargestellten Amtshaftungsprozess aufgeworfenen Fragen, die sämtlich in den Anwendungsbereich der §§ 249 ff. BGB, insbesondere des § 252 BGB, und der §§ 286, 287 ZPO fallen, vor allem dem Tatrichter obliegt, wobei ihm bei der Ermittlung des Schadens und der Bemessung der Schadenshöhe ein großer Ermessensspielraum zuzubilligen ist. Grundsätzliche Fragen stellen sich hier kaum, auch die Einheitlichkeit der Rechtsprechung steht selten auf dem Spiel. Daher kann es nicht verwundern, dass in derartigen Fällen – wie in dem geschilderten 28 – die Nichtzulassungsbeschwerden vielfach ohne nähere Begründung zurückgewiesen werden mit der Folge, dass sie von der interessierten Fachöffentlichkeit gar nicht erst wahrgenommen werden. c) Ähnliches gilt für den in der gerichtlichen Praxis durchaus nicht zu vernachlässigenden Komplex „Amtshaftung wegen unrichtiger Auskünfte“. Nach der gefestigten Rechtsprechung des III. Zivilsenats müssen Auskünfte, die ein Beamter erteilt, dem Stand seiner Erkenntnismöglichkeiten entsprechend sachgerecht, d.h. vollständig, richtig und unmissverständlich sein, so dass der Empfänger der Auskunft entsprechend disponieren kann. Trifft der Empfänger einer Auskunft im Vertrauen auf deren Richtigkeit erhebliche Vermögensdispositionen, die sich später als vergeblich herausstellen, so ist, wenn er die Anstellungskörperschaft auf Schadensersatz in Anspruch nimmt, zunächst zu prüfen, ob die konkrete Auskunft ihrer Art nach überhaupt geeignet war, eine „Verlässlichkeitsgrundlage“ für die auf sie gestützte Investition zu bilden. Ausgangspunkt ist dabei (nicht viel anders als bei der Auslegung einer Willenserklärung) der Wortlaut der Auskunft unter Berücksichtigung der objektiven Umstände des Einzelfalls und der subjektiven Kenntnisse und sich aufdrängenden Erkenntnismöglichkeiten des Empfängers der Auskunft.29 Ist dabei die Frage (noch) zu bejahen, so können gleichwohl – sozusagen auf einer zweiten Prüfungsstufe – die erkennbaren Umstände der Auskunftserteilung den Grad der Verlässlichkeit so mindern, dass der entstandene Schaden nach § 254 BGB zu quoteln ist. Die bei alledem im rechtlichen Ausgangspunkt inmitten stehende – und, wenn man so will, in den Aufgabenbereich der Fachgerichtsbarkeiten ge-
28 Beschluss vom 28.7.2006 – III ZR 92/05. Siehe dazu auch die Ausführungen des Verfassers in DVBl. 2007, 457 und BauR 2008, 290. 29 So macht es durchaus einen Unterschied, ob sich ein Laie oder aber ein „Grundstücksprofi“ vom Bürgermeister einer kleinen Gemeinde eine (dubiose) Bescheinigung über die Baulandqualität eines Grundstücks erteilen lässt, bevor er einen Kaufvertrag über dieses Grundstück abschließt; vgl. Senatsurteil vom 11.4.2002 – III ZR 97/01 – DVBl. 2002, 1114 = VersR 2003, 205 sowie die Ausführungen des Verfassers hierzu in DVBl. 2007, 457, 465 f. sowie in BauR 2008, 290, 300 f.; allgemein zu diesen Fragen mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen Staudinger/Wurm § 839 BGB Rn. 149 ff.
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hörende – Frage, ob denn die gegebene Auskunft, so wie sie der anfragende Bürger verstanden hat bzw. von seinem Empfängerhorizont aus verstehen durfte, tatsächlich mit der materiellen Rechtslage übereinstimmt oder zu ihr in Widerspruch steht, erweist sich demgegenüber regelmäßig als unproblematisch. Dies liegt nicht unwesentlich darin begründet, dass sehr häufig der falsch informierte Bürger zunächst versucht, unter Berufung auf die ihm erteilte Auskunft sein Recht vor den Fachgerichten zu suchen. So wird derjenige, der aufgrund einer falschen Auskunft über die Bebaubarkeit eines Grundstücks sich zum Kauf (zu einem der angenommenen Qualität entsprechenden Preis) entschlossen hat, vor Erhebung der Amtshaftungsklage den Versuch machen, eine Baugenehmigung oder zumindest einen positiven Bauvorbescheid zu erlangen;30 wer im Vertrauen auf die Richtigkeit der ihm seitens des Bürgermeisters einer Gemeinde erteilten Auskunft, es würden nur für eine kleine Teilfläche (noch) Erschließungskosten anfallen, ein Gewerbegrundstück erwirbt, wird, wenn gleichwohl ein das Gesamtgrundstück erfassender Beitragsbescheid gegen ihn ergeht, zunächst versuchen, den Bescheid im Wege der Anfechtungsklage aus der Welt zu schaffen;31 wer nach Erteilung einer unzutreffenden Auskunft über die ihm zustehende Besoldung eine gut (besser) dotierte Stelle in der freien Wirtschaft zugunsten der Professur an einer Fachhochschule aufgegeben hat, wird zunächst seinen Dienstherrn auf (Nach-)Zahlung der ihm (vermeintlich) zustehenden Bezüge vor dem Verwaltungsgericht verklagen.32 Zwar handelt es sich bei derartigen „Vorprozessen“ vor den Fachgerichten nicht um die Inanspruchnahme von Primärrechtsschutz im eigentlichen Sinne (kein unmittelbar auf die Beseitigung der schädigenden Amtshandlung gerichtetes Rechtsmittel im Sinne des § 839 Abs. 3 BGB). Gleichwohl ist in solchen Fällen die „Vor-Abklärung“ der Rechtslage durch die Fachgerichte vielfach sinnvoll; sie liegt im Interesse aller Beteiligten, nicht zuletzt auch und gerade im Interesse der haftpflichtigen Körperschaft. Deshalb geht die Rechtsprechung des III. Zivilsenats dahin, dass es in solchen Fällen regelmäßig dem Geschädigten nicht zumutbar ist, vor Abschluss des vom ihm betriebenen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens eine Amtshaftungsklage zu erheben mit der Folge, dass ein solcher Geschädigter nicht befürchten muss, dass bezüglich seines Amtshaftungsanspruchs vor Abschluss des fachgerichtlichen Rechtsstreits Verjährung eintritt.33 Demzufolge stehen auch in den „Auskunftshaftpflichtprozessen“ regelmäßig rein schadensersatzrechtliche Fragen im Vordergrund. Dabei ist zu
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So geschehen in dem in Fn. 29 zitierten Fall III ZR 97/01. So geschehen in dem durch Senatsurteil vom 18.7.2002 entschiedenen Fall III ZR 248/01 (in BGHReport 2002, 1080 nur unvollständig veröffentlicht). 32 So geschehen in dem durch Senatsurteil vom 21.4.2005 entschiedenen Fall III ZR 264/04 – NVwZ 2006, 245, 246 = VersR 2005, 1584. 33 Senatsurteil vom 21.4.2005 (Fn. 32) S. 248; Staudinger/Wurm § 839 BGB Rn. 382. 31
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beachten, dass der Geschädigte nicht etwa Ersatz des Erfüllungsinteresses (Herstellung der Vermögenslage, die bei Richtigkeit der gegebenen Auskunft eingetreten wäre), sondern nur Ersatz des negativen Interesses (etwa Ersatz der unnütz gewordenen Aufwendungen, die er im Vertrauen auf die Richtigkeit der erhaltenen Auskunft gemacht hat) verlangen kann, wobei unter Schutzzweckgesichtspunkten das positive Interesse die Höhe des Schadensersatzanspruchs begrenzt.34 Diese „Schadensfragen“ stellen sich im Allgemeinen unabhängig davon, ob der um Auskunft ersuchende Bürger vom Bürgermeister einer Gemeinde über die Bebaubarkeit eines Grundstücks,35 vom zuständigen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung über die Höhe seiner Altersrente 36 oder etwa vom Finanzamt über die steuerliche Behandlung einer beabsichtigten Kapitalanlage falsch informiert wurde. 3. Anderweitige Ersatzmöglichkeit Nach § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB kann der Beamte, wenn ihm (wie regelmäßig) nur ein fahrlässiges Fehlverhalten angelastet werden kann, nur dann in Anspruch genommen werden, wenn der Geschädigte nicht auf andere Weise Ersatz verlangen kann (sog. Verweisungsprivileg). Auch wenn diese Regelung rechtspolitisch und rechtsdogmatisch besonders umstritten ist und im Hinblick darauf die Rechtsprechung den Anwendungsbereich dieser Subsidiaritätsklausel immer weiter eingeschränkt hat,37 ist sie nach wie vor geltendes Recht. Dabei bildet die Unmöglichkeit, anderweitig Ersatz zu erlangen, einen Teil des Tatbestands, aus dem der Amtshaftungsanspruch hergeleitet wird. Dementsprechend hat der Geschädigte das Vorliegen dieser zur Klagebegründung gehörenden Voraussetzung des Amtshaftungsanspruchs darzulegen und im Streitfall zu beweisen.38 Außerhalb der „Verkehrshaftungsfälle“ ist es in der gerichtlichen Praxis durchaus nicht selten, dass der Erfolg der Amtshaftungsklage allein davon abhängt, ob es dem Geschädigten gelingt, diese Hürde zu nehmen. Hat der Geschädigte – wie häufig –, nachdem er mit seinem Anliegen bei der zuständigen Behörde nicht gleich Gehör gefunden hat, einen Anwalt eingeschaltet, so stellt sich fast immer die Frage, ob dieser das pflichtwidrige Verhalten der 34 Besonders anschaulich insoweit das Senatsurteil vom 10.7.2003 – III ZR 155/02 – BGHZ 155, 354, 361 f. = NJW 2003, 3049, das sich zur Haftung eines Rentenversicherungsträgers für eine unrichtige Rentenauskunft verhält, die den anfragenden Arbeitnehmer zum Eintritt in den „Vorruhestand“ veranlasste. 35 Senatsurteil vom 11.4.2002 (Fn. 29). 36 Senatsurteil vom 10.7.2003 (Fn. 34). 37 Siehe auch dazu im Einzelnen die Ausführungen und Nachweise aus der Rechtsprechung bei Staudinger/Wurm § 839 Rn. 259 ff., insbesondere 263 ff. 38 Ständige Rechtsprechung; vgl. nur Senatsurteil vom 10.1.2002 – III ZR 13/01 – NJW 2002, 1266 mwN.
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Behörde durch die Rechtslage erläuternde Schriftsätze oder durch die Androhung oder Einlegung geeigneter Rechtsbehelfe oder Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes hätte verhindern oder eine beschleunigte Korrektur des rechtsirrigen Standpunkts der Behörde hätte erreichen können.39 Darüber hinaus ist § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB in vielen „Baurechtshaftungsfällen“ in den Blick zu nehmen. Der Architekt schuldet dem Bauherrn die Erstellung einer genehmigungsfähigen Planung. Dies bedeutet, dass der Bauherr, der gegen die Bauaufsichtsbehörde einen Amtshaftungsanspruch geltend macht, weil ihm für ein Bauvorhaben, dessen Planung den Normen des öffentlichen Baurechts widerspricht, eine rechtswidrige Baugenehmigung erteilt worden ist, regelmäßig dartun muss, dass er von dem planenden Architekten nicht anderweit Ersatz erlangen kann. Dabei können einem Architekten nicht die zur Lösung schwieriger bauplanungs- oder immissionsschutzrechtlicher Fragen erforderlichen Kenntnisse abverlangt werden; hingegen gehört etwa die Einhaltung der Festsetzungen eines Bebauungsplans und der bauordnungsrechtlichen Bauwichbestimmungen zu den grundlegenden Anforderungen, die der Architekt bei der Planung zu beachten hat.40 Generell ist zu konstatieren, dass es sich, wenn und soweit im Amtshaftungsprozess das Fehlen einer anderweitigen Ersatzmöglichkeit zu prüfen ist, stets nur um in die Zuständigkeit der Zivilgerichte fallende Ansprüche des Geschädigten gegen private Dritte handeln kann. Die öffentliche Hand ist in diesem Zusammenhang als vermögensrechtliche Einheit zu behandeln mit der Folge, dass eine aus Amtspflichtverletzung in Anspruch genommene öffentliche Körperschaft den Geschädigten nicht auf einen anderen, gleich wie gearteten Anspruch gegen eine andere öffentliche Körperschaft verweisen kann, der demselben Tatsachenkreis entspringt.41 4. Nachteile der „Rechtswegzersplitterung“ Die von der Justizministerkonferenz befürwortete und euphemistisch als „Bereinigung des Systems der Rechtswegzuweisungen“ deklarierte Änderung der bestehenden Rechtswegzuweisung (nur) an die Zivilgerichte bedeutet in Wahrheit eine unheilvolle Zersplitterung der Rechtswege, die alles andere als bürgerfreundlich ist und für die Gerichtsbarkeit insgesamt keiner-
39 Besonders anschaulich äußern sich zu diesem Problemkreis die Senatsurteile vom 12.12.2002 – III ZR 182/01 – DVBl. 2003, 460, 462 f. = NVwZ 2003, 1409, 1410 und vom 13.10.2005 – III ZR 234/04 – NVwZ 2006, 117, 118 = BauR 2006, 353. 40 Vgl. nur Senatsurteil vom 19.3.1992 – III ZR 117/90 – NVwZ 1992, 911, 912 f. und vom 9.7.1992 – III ZR 119/91 – NVwZ 1993, 602, 603. 41 Zuletzt Senatsurteil vom 10.4.2003 – III ZR 38/02 – VersR 2004, 604 sowie allgemein Staudinger/Wurm § 839 Rn. 276 ff.
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lei Vorteile mit sich bringt, sondern auf ein konfliktträchtiges, weil unkoordiniertes „Nebeneinanderherjudizieren“ hinausläuft. Besonders deutlich lassen sich diese unheilvollen Auswirkungen am Beispiel der Verkehrssicherungspflichten demonstrieren: Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Verkehrssicherungspflicht für öffentliche Straßenflächen lediglich ein Unterfall der allgemeinen (privatrechtlichen) Verkehrssicherungspflicht, deren Verletzung grundsätzlich Ersatzansprüche nach den §§ 823 ff. BGB auslösen. Demgegenüber kommt allein § 839 BGB in Betracht, wenn – wie dies in fast allen Bundesländern (außer Hessen) der Fall ist – der Gesetzgeber die Pflicht, die öffentlichen Straßen in verkehrssicherem Zustand zu erhalten, hoheitlich ausgestaltet hat.42 Welches Haftungsregime zur Anwendung kommt, spielt bisher weder inhaltlich43 eine Rolle noch entscheidet diese Frage darüber, welches Gericht über den Schadensfall zu entscheiden hat. Dieser (gegenwärtige) Rechtszustand ist der allein sinnvolle. Verkehrssicherungspflichten treffen jeden, der eine Gefahrenlage – auch und gerade durch die Eröffnung eines Verkehrs – geschaffen hat. Er ist grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern.44 Inhalt und Reichweite der Verkehrssicherungspflicht sind gegenständlich zu bestimmen; ob derjenige, der den jeweiligen Verkehr eröffnet, eine Person des privaten oder des öffentlichen Rechts ist, ist eher nebensächlich. Welcher Verschmutzungsgrad bei einem ländlichen Wirtschaftsweg (noch) hinzunehmen ist, wie die Zuwegung zu einem Gebäude beschaffen und ob bzw. wie sie bei Dunkelheit beleuchtet sein muss, richtet sich nach den jeweiligen Verkehrsbedürfnissen und nicht danach, ob es sich bei dem Wirtschaftsweg um einen öffentlichen oder privaten Weg handelt oder ob die Zuwegung zum Rathaus, zu einem Gericht, einem Kauf- oder einem Ärztehaus führt. Was schließlich die Einhaltung der durch die Straßengesetze den Kommunen als öffentlich-rechtliche Aufgabe zugewiesenen Räum- und Streupflicht auf öffentlichen Verkehrsflächen betrifft, so wären, wenn der Vorschlag der Justizminister umgesetzt würde, immer dann, wenn – wie weitgehend möglich und üblich – die Gemeinden die Räum- und Streupflicht betreffend der Gehwege durch Satzung auf die Anlieger übergewälzt haben, Schadensfälle
42 Vgl. zu diesen Fragen nur Senatsurteile vom 9.10.2003 – III ZR 8/03 – NJW 2003, 3622 und vom 4.3.2004 – III ZR 225/03 – NJW 2004, 1381. 43 Insbesondere ist das Verweisungsprivileg des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht anwendbar. 44 Hinsichtlich der Einzelheiten darf auf die mit einer Fülle von Rechtsprechungsbeispielen und -nachweisen versehene Darstellung von Wellner in Geigel Der Haftpflichtprozess, 25. Aufl. 14. Kap. II Rn. 28–210 verwiesen werden.
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nach wie vor von den Zivilgerichten zu entscheiden.45 Geht es dagegen (womöglich in demselben Schadensfall) um die Frage, ob die Gemeinde die bei ihr verbliebene Kontroll- und Überwachungspflicht erfüllt hat, kämen insoweit wiederum die Verwaltungsgerichte zum Zuge. Im Übrigen ist der Ansatz der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach Verkehrssicherungspflichten grundsätzlich privatrechtlicher Natur sind, so selbstverständlich nicht. Wenn und soweit etwa ein Gebäude öffentlich-rechtlichen Zwecken zu dienen bestimmt („gewidmet“) ist, lässt sich mit guten Gründen auch die Auffassung vertreten, dass insoweit auch ohne ausdrückliche gesetzliche Vorgabe (wie in den Straßengesetzen) der öffentlichrechtliche Widmungszweck maßgebend ist. Nur vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass der III. Zivilsenat in seinem Urteil vom 15.10.199246 – betreffend die Schadensersatzklage eines Elternteils, der beim Besuch eines Elternsprechtags auf dem (zu) glatten Flur des Schulgebäudes zu Fall kam – zur Diskussion stellte, ob die Pflicht des Schulträgers, das Schulgebäude so einzurichten, dass Schüler, Besucher und sonstige Benutzer vor vermeidbaren Gefahren und gesundheitlichen Schäden tunlichst bewahrt werden, Ausfluss der allgemeinen bürgerlich-rechtlichen Verkehrssicherungspflicht (§ 823 BGB) oder einer Amtspflicht im Sinne des § 839 BGB ist. Die Antwort konnte der Senat damals noch offen lassen; sollten die Justizminister mit ihrem Anliegen Erfolg haben, wird dies künftig anders sein. Auch spielte es bisher keine Rolle, ob bei einem Badeunfall – etwa bei der Benutzung einer Wasserrutsche 47 – die in Haftung genommene verkehrssicherungspflichtige Gemeinde das Anstaltsnutzungsverhältnis zu den Badegästen privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich ausgestaltet hat. Bei alledem wäre es zu kurz gedacht, wenn man nur die Verwaltungsgerichte als Alternative zur ordentlichen Gerichtsbarkeit ins Spiel brächte. Kommt etwa eine Partei, ein Zeuge oder ein Rechtsanwalt auf dem glatten Gerichtsparkett (körperlich) zu Fall, erhielten, je nach der Rechtsnatur der Streitigkeit, auch die Sozial- und Finanzgerichte Gelegenheit, sich mit der Thematik der allgemeinen Verkehrssicherungspflichten näher zu beschäftigen.48 Schwierig wird es freilich, wenn in dem Gerichtsgebäude mehrere 45 In solchen Fällen sind die Anlieger nicht etwa als Beliehene anzusehen, vielmehr werden sie bei Wahrnehmung der ihnen übertragenen Räum- und Streupflicht privatrechtlich tätig, vgl. Senatsurteil vom 5.12.1991 – III ZR 31/90 – LM § 823 (Eb) BGB Nr. 27 Bl. 2 R sowie BGH, Urteil vom 27.11.1984 – VI ZR 49/83 – NJW 1985, 484. 46 III ZR 57/91 – VersR 1993, 331. 47 Ein durchaus schadensgeneigtes Vergnügen, siehe Geigel/Wellner Kap. 25 Rn. 178 ff. 48 Dies könnte auch der Fall sein, wenn der betreffende Flur sich im Gebäude einer Allgemeinen Ortskrankenkasse oder eines Finanzamts befindet; kommt hingegen ein Besucher zu Fall, der sich nur im geheizten Gerichtsgebäude kurz aufwärmen oder die Toilette aufsuchen möchte, wären möglicherweise – wegen des fehlenden Bezugs zum „Widmungszweck“ – doch wieder die Zivilgerichte zuständig, vgl. zu dem Ganzen Papier in: SchmidtAßmann AllgVerwR, 13. Aufl., § 38 II Rn. 50 u. 51; die Ausführungen verhalten sich zu der
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Fachgerichte untergebracht sind (Justizzentrum) und etwa der gestürzte Rechtsanwalt zeitnah einen Termin vor dem Verwaltungsgericht und dem Sozialgericht wahrzunehmen hat. Eine ähnliche Vielfalt an Rechtswegmöglichkeiten würde sich bei der Teilnahme am allgemeinen Straßenverkehr eröffnen. Verursacht etwa der Fahrer eines Dienstwagens, der einen Gerichtspräsidenten zu einer Dienstbesprechung in das (Justiz-)Ministerium bringt bzw. bringen will, einen Verkehrsunfall, so wären etwaige Amtshaftungsansprüche wohl von der Gerichtsbarkeit zu entscheiden, der der jeweilige Präsident angehört. Die Aussicht, dass nahezu jeder oberste Gerichtshof in die Verlegenheit kommen könnte, sich näher mit der Rechtsprechung zur Ersatzfähigkeit von Unfallersatztarifen bei Anmietung eines PKW 49 oder zur Ersatzfähigkeit von Fahrzeugschäden, die über dem Wiederbeschaffungswert, aber innerhalb der „130 %-Grenze“ liegen,50 zu befassen, verbunden mit der Chance, diese Rechtsprechung – gegebenenfalls unter Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes – weiter zu verfeinern, kann nicht wirklich als Fortschritt gefeiert werden. Hinzu kommt: Bei Unfällen aller Art, insbesondere auch und gerade bei Verkehrsunfällen, ist sehr häufig Kläger ein Sozialversicherungsträger, der Ansprüche des geschädigten Bürgers aus gesetzlich übergegangenem Recht geltend macht (§ 116 SGB X); hier stellt sich die mitunter sehr schwierig zu beantwortende Frage der Kongruenz zwischen Sozialleistung und Anspruch.51 Ein weiterer Problemkreis sind die den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung betreffenden Haftungsbeschränkungen nach den §§ 104 ff. SGB VII. Es handelt sich hierbei um Standardprobleme, die im Zusammenhang mit der zivilrechtlichen Haftung aus Delikt (§§ 823 ff. einschließlich § 839 BGB) und Gefährdungshaftung (insbesondere § 7 StVG und §§ 1, 2 HPflG) immer wiederkehren und zu einer jahrzehntelangen (zu großen Teilen noch zu § 1542 RVO ergangenen), ausdifferenzierten Rechtsprechung des VI. Zivilsenats geführt haben. Nicht zuletzt deswegen entspricht es der Übung des Hauses, dass dieser Senat alle Verkehrsunfallsachen einschließlich der Amtshaftungsfälle bearbeitet, sofern nicht der Schwerpunkt der Problematik (etwa wegen der Beanspruchung von Sonderrechten) im Amtshaf-
auch in der Rechtsprechung behandelten Frage, ob Rechtsmittel gegen die Verhängung eines Hausverbots von den Zivil- oder den Verwaltungsgerichten zu entscheiden sind; für die hier vorliegende Fallkonstellation könnte schwerlich etwas anders gelten. 49 Dazu nur BGH, Urteile vom 12.10.2004 – VI ZR 151/03 – BGHZ 160, 377 = NJW 2005, 51 und vom 19.4.2005 – VI ZR 37/04 – BGHZ 163, 19 = NJW 2005, 1933. 50 BGH, Urteil vom 23.5.2006 – VI ZR 192/05 – BGHZ 168, 43 = NJW 2006, 2179. 51 Zuletzt BGH, Urt. v. 2.12.2008 – VI ZR 312/07 – VersR 2009, 230 = NJW-RR 2009, 455; sehr instruktiv ist die tabellarische Übersicht bei Geigel/Plagemann 30. Kap. Rn. 23 bis 29.
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tungsbereich liegt.52 Auch hier wäre es nur von Nachteil, wenn die Beantwortung all dieser Fragen anlässlich der nur einen kleinen Teilbereich betreffenden Rechtswegänderung allen obersten Gerichtshöfen anheim gegeben würde. Nach alledem kann nicht ernsthaft zweifelhaft sein, dass es unabweisbar ist, die die Bereiche der Verkehrssicherungspflichten und der Teilnahme am allgemeinen Straßenverkehr betreffenden Amtshaftungsprozesse bei der Zivilgerichtsbarkeit zu belassen. Aber auch die sonstigen Amtshaftungsfälle sind bei der Zivilgerichtsbarkeit bestens aufgehoben. Zum einen ist auch bei diesen Fällen der Anteil derjenigen, die „primär“ Materien betreffen, die in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit fallen, keineswegs gering; dabei ergibt sich ein buntes Bild: eine Auflassungsvormerkung wird (viel zu spät) erst nach 20 Monaten (in das Grundbuch) eingetragen,53 die Umwandlung einer AG in eine KG hingegen (in das Handelsregister) allzu voreilig;54 ein Gerichtsvollzieher unterlässt die gebotene Unterrichtung des Eigentümers über die Vornahme einer Anschlusspfändung;55 im Zwangsversteigerungsverfahren wird aufgrund von Verfahrensfehlern des Rechtspflegers der Zuschlagsbeschluss aufgehoben;56 aufgrund eines Fehlers der Staatsanwaltschaft ergeht zu Unrecht Haftbefehl gegen einen Verdächtigen;57 ein Strafgefangener wird in einer viel zu kleinen Zelle mit anderen Strafgefangenen (menschenunwürdig) untergebracht.58 Zum anderen kann nicht oft genug wiederholt werden: auch wenn es um Fehler im Verwaltungsvollzug geht, ist der „typische Amtshaftungsfall“ ein „Schadensersatzprozess“, der zweckmäßigerweise einheitlich nach den Regeln der ZPO zu behandeln ist. Soll es denn wirklich angemessen sein, dass ein Verwaltungsgericht der Frage, ob durch die verzögerte Behandlung des Baugesuchs eines Bauträgers wegen der erhöhten Finanzierungskosten und der am Markt nicht mehr erzielbaren Preise die Errichtung der geplanten Wohneigentumsanlage tatsächlich nicht mehr lohnend ist, im Wege der Amts-
52 Siehe z.B. das Urteil vom 18.12.2008 – VI ZR 235/06 – VersR 2008, 410, das einen durchaus kuriosen Haftungsfall zum Gegenstand hatte: Das mit seinem privaten PKW zum Einsatzort fahrende Mitglied einer Freiwilligen Ortsfeuerwehr verunfallte, wobei das bereits an seinem Einsatzort befindliche Mitglied einer anderen Ortsfeuerwehr verletzt wurde; hier war zu klären, ob die Haftungsprivilegierung des § 106 Abs. 3 SGB VII (gemeinsame Betriebsstätte) eingreift. 53 Senatsurteil vom 11.1.2007 – III ZR 302/05 – BGHZ 170, 260 = NJW 2007, 830. 54 Senatsurteil vom 5.10.2006 – III ZR 283/05 – NJW 2007, 224. 55 Senatsurteil vom 5.7.2007 – III ZR 143/06 – NJW-RR 2008, 338 = VersR 2008, 120. 56 Senatsurteil vom 22.1.2009 – III ZR 172/08 – WM 2009, 613 = NJW-RR 2009, 601 m.w.N. aus der Senatsrspr. 57 Senatsurteil vom 23.10.2003 – III ZR 9/03 – NJW 2003, 3693. 58 Leider kein Einzelfall; grundlegend hierzu Senatsurteil vom 4.11.2004 – III ZR 361/03 – BGHZ 161, 33 = NJW 2005, 58.
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ermittlung nachgeht? Mit Blick auf das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit 59 wäre es auch verfassungsrechtlich alles andere als unbedenklich – und aus Sicht des Bürgers in keiner Weise nachvollziehbar –, wenn die Möglichkeiten, ein erstinstanzliches Urteil anzufechten, durch das etwa die Klage auf Ersatz des durch eine amtliche Falschauskunft entstandenen Schadens abgewiesen wurde, ganz davon abhängt, wer die Auskunft erteilt hat: Hat die Falschauskunft (so der günstigste Fall) ein Rechtspfleger im Rahmen eines Zwangsversteigerungsverfahrens erteilt, steht dem Geschädigten ohne weiteres eine zweite Tatsacheninstanz und – bei entsprechenden Streitwert – im Regelfalle auch die Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH 60 zur Verfügung; ist die Auskunft freilich vom Bürgermeister einer Gemeinde in Bezug auf die Bebaubarkeit eines Grundstücks erteilt worden, wird er sich im Normalfall erst noch die Zulassung der Berufung durch das OVG erkämpfen müssen; ausgesprochenes Pech hat freilich derjenige, den ein Finanzbeamter über die steuerliche Behandlung einer Kapitalanlage falsch informiert hat; er muss sich mit einer einzigen Tatsacheninstanz zufrieden geben. Ungeachtet dieser Ungereimtheiten hat die derzeitige Rechtswegzuweisung auch sonst ihre Vorteile. So ist etwa – um nur einen weiteren Bereich ins Spiel zu bringen – in einer Reihe von Bundesländern (etwa Bayern) der Rettungsdienst öffentlich-rechtlich organisiert. Hieraus können sich, etwa bezüglich der Frage der Passivlegitimation, durchaus schwierige Fragestellungen ergeben, deren Beantwortung selbstverständlich dem III. Zivilsenat obliegt.61 Geht es aber im Einzelfall „nur“ um die Frage, ob dem Arzt im Rettungseinsatz ein Behandlungsfehler unterlaufen ist, so fiele dies in die Schwerpunktzuständigkeit des VI. Zivilsenats.62 Ebenso wie etwa auch der IX. Zivilsenat zuständig wäre, wenn es allein darum ginge, ob die Haftung des vom Geschädigten eingeschalteten Rechtsanwalts eine anderweitige Ersatzmöglichkeit darstellt. Aber auch da, wo die Schwerpunktzuständigkeit eines anderen Zivilsenats nicht in Rede steht, sondern dessen Zuständigkeit nur am Rande tangiert wird, lässt sich durch ein „informelles Gespräch“ unter Kollegen vieles abklären. Alle diese „Synergieeffekte“ gingen durch die von den Justizministern beabsichtigte „Bereinigung der Rechtswegzuweisung“ verloren. Die gegenwärtige, angeblich systemwidrige Regelung hat(te) immerhin zur Folge, dass – soweit meine Erinnerung reicht – im Zusammenhang mit „Amtshaftungsfragen“ kein einziges Mal der Große Senat für Zivilsachen angerufen werden musste, vom Gemeinsamen Senat der obersten 59
BVerfG, Plenarbeschluss vom 11.6.1980 – 1 PBvU 1/79 – BverfGE 54, 277, 293. Was allerdings voraussetzt, dass er nicht an einen OLG-Senat gerät, der von der Möglichkeit des § 522 ZPO allzu großzügig Gebrauch macht. 61 Siehe nur Senatsurteil vom 16.9.2004 – III ZR 346/03 – BGHZ 160, 216 = NJW 2005, 429. 62 Nach VI. Nr. 2a des GVP 2009. 60
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Gerichtshöfe des Bundes ganz zu schweigen.63 Dieser idyllische Zustand droht, verloren zu gehen. Auch Gründe der Prozessökonomie lassen sich für eine Änderung des gegenwärtigen Rechtszustandes nicht ins Feld führen. Die Vorstellung, Primärprozess und Schadensersatzprozess ließen sich sozusagen „in einem Aufwasch“ erledigen64, ist lebensfremd. Die Schwerpunkte beider „Streitfelder“ sind viel zu unterschiedlich, die auf dem Spiel stehenden wirtschaftlichen Interessen65 viel zu gewichtig, als dass man den Schadensersatzprozess in einer Art „Adhäsionsverfahren“ so nebenbei mit erledigen könnte; im Übrigen wäre es mit Blick auf die Verfahrenskosten in vielen Fällen auch außerordentlich leichtsinnig, wenn ein Geschädigter eine Schadensersatzklage mit hohem Streitwert vom Zaun brechen würde, obwohl noch gar nicht feststeht, dass sich die Verwaltung rechtswidrig verhalten hat.66 Ist aber ohnehin ein weiterer Prozess zu führen, so ist es eher ein Vorteil, wenn über die Haftungsfrage ein Gericht zu befinden hat, das zu der „Vorgeschichte“ eine größere Distanz hat.67 Verloren sind die Ergebnisse des „Primärprozesses“ angesichts ihrer Verbindlichkeit für den Amtshaftungsprozess keinesfalls. Ein letztes – aber keineswegs unwichtiges – Wort zu den Zahlen, um die es geht. Im Jahr 2006 waren unter den 307 beim III. Zivilsenat anhängig gemachten Nichtzulassungsbeschwerde- und Revisionsverfahren 47 Amtshaftungssachen (2007: 52 von 321; 2008: 37 von 319). Bei einer Durchsicht der Senatshefte hat sich gezeigt, dass – unter Außerachtlassung der Verkehrsicherungspflichtverletzungen – grob geschätzt das Bundesverwaltungsgericht etwa mit 20 bis 30, der Bundesgerichtshof weiterhin mit 10 bis 15, das Bundessozialgericht mit ca. 5 und der Bundesfinanzhof mit etwa 1 bis 3
63 Was nicht nur daran liegt, dass sich „öffentlich-rechtliche Grundsatzprobleme“ selten stellen, sondern auch daran, dass der III. Zivilsenat die dem geltenden Rechtswegsystem zugrunde liegende Verteilung (auch und gerade) der Fachkompetenzen respektiert. Taucht etwa in einem Amtshaftungsprozess ein öffentlich-rechtliches Problem auf, zu dem es eine höchstrichterliche Entscheidung des BVerwG oder des BSG gibt, so wird diese Rechtsprechung der Falllösung zugrunde gelegt. Die in diesem Zusammenhang vom Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen in seiner Stellungnahme (NVwZ 2008, 756) gesehene Gefahr einer Divergenz zwischen der Spruchpraxis des BGH und des BVerwG kann so groß nicht sein, nachdem es an jedem Beleg für eine solche Divergenz fehlt. 64 Wie es in der Stellungnahme des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen anklingt, vgl. NVwZ 2008, 756, 757. 65 In „Bauverwaltungssachen“ sind im Amtshaftungsprozess Streitwerte über 100.000 € die Regel, Streitwerte über 1.000.000 € keineswegs selten. 66 Daher ist es in Fällen, in denen überhaupt ein „Primärprozess“ stattfindet, durchweg die Ausnahme, dass der Amtshaftungsprozess vor rechtskräftigem Abschluss des Primärprozesses anhängig gemacht wird. 67 Reichling DRiZ 2008, 303, 305.
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Amtshaftungsverfahren pro Jahr rechnen könnten.68 Sollte der Gedanke, dass aus Gründen der Effizienz und der Verfahrensökonomie die Zuständigkeit für den Sekundärrechtsschutz der Zuständigkeit für den Primärrechtsschutz nachfolgen soll, tatsächlich richtig sein, ist die Änderung der Rechtswegzuweisung allerdings nur der erste Schritt. Konsequent zu Ende gedacht ist der Reformgedanke daher nur, wenn jeweils auch der Spruchkörper (Kammer, Senat) den Amtshaftungsprozess entscheidet, der für das Rechtsgebiet zuständig ist, das dem Haftungsfall zugrunde liegt. Über die Amtshaftungsklage eines zu Unrecht ausgewiesenen Ausländers 69 hätte daher der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts zu befinden; für die Schadensersatzklage eines Bewerbers, der meint, bei Besetzung einer Beamtenstelle zu Unrecht übergangen worden zu sein,70 wäre der 2. Senat und für Schadensersatzklagen von Schlachthofbetreibern, die aufgrund fehlerhafter BSE-Tests gehindert wurden, das Fleisch geschlachteter Rinder zu verkaufen,71 der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts zuständig. Die Folgen einer derartigen „Atomisierung“ des Amtshaftungsrechts wären, was jedem Praktiker unmittelbar einleuchten müsste, ausgesprochen schädlich. Für die Senate beim Bundesfinanzhof und beim Bundessozialgericht wäre jeder Amtshaftungsfall ein nahezu exotisch anmutender „Ausreißer“. Für viele Senate beim Bundesverwaltungsgericht würde Ähnliches gelten; einzig der für das Baurecht zuständige 4. Senat könnte zuversichtlich hoffen, mehr als zehn Amtshaftungsfälle jährlich bearbeiten zu dürfen. Akte richterlicher Rechtsfortbildung wären reine Zufallsprodukte; (fast) jeder Senat eines jeden Gerichtshofs könnte „vorpreschen“; jeder andere Senat müsste Gefolgschaft leisten, wenn er nicht den jeweiligen Großen Senat oder gar den Gemeinsamen Senat behelligen will. Es liegt auf der Hand, dass es bei einer derartigen Zersplitterung bundesweit keinen einzigen Spruchkörper mehr gäbe, der die Autorität und den „Überblick“ hätte, allgemeine Leitlinien für das Amtshaftungsrecht vorzugeben: nach welchen Maßstäben ist der „geschützte Dritte“ zu bestimmen72, wer darf in welchem Umfang im Vertrauen auf die Richtigkeit einer behördlichen Falschauskunft wirtschaftlich disponieren,73 welcher Sorgfaltsmaßstab gilt im Rahmen des § 839 BGB,74 unter welchen Umständen ist die Inan-
68 Wobei derartige Schätzungen ohnehin nur mit großer Vorsicht zu machen sind, da in den einzelnen Verfahrensordnungen der Zugang zur nächsten Instanz unterschiedlich geregelt ist. 69 Senatsurteil vom 12.12.2002 – III ZR 182/01 – DVBl. 2003, 460 = NVwZ 2003, 1409. 70 Etwa Senatsurteil vom 6.4.1996 – III ZR 183/94 – BGHZ 129, 226 = NJW 1995, 2344. 71 Vgl. Senatsurteil vom 14.10.2004 – III ZR 169/04 – BGHZ 161, 6 = NJW 2005, 286. 72 Siehe dazu Staudinger/Wurm § 839 Rn. 168 ff. 73 Staudinger/Wurm § 839 Rn. 150 ff. 74 Staudinger/Wurm § 839 Rn. 198 ff.; speziell zur „Kollegialgerichtsrichtlinie“ Rn. 211 ff.
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spruchnahme einer anderweitigen Ersatzmöglichkeit als möglich und (noch) zumutbar anzusehen,75 welche gerichtlichen Entscheidungen fallen unter das Spruchrichterprivileg des § 839 Abs. 2 BGB,76 wann ist der Nichtgebrauch eines Rechtsmittels schuldhaft im Sinne des § 839 Abs. 3 BGB? 77 Angesichts der vielfältigen Erscheinungsformen staatlichen Handelns ist es schon derzeit – insbesondere bei der Bestimmung des „geschützten Dritten“ – schwierig genug, eine einheitliche Linie durchzuhalten, und der Vorwurf, Amtshaftungsrecht sei weitgehend „case-law“, nicht völlig von der Hand zu weisen.78 Klar ist aber schon jetzt: Würde das Vorhaben der Justizminister umgesetzt, wäre die Einheitlichkeit der Rechtsprechung – deren Wahrung einer der vornehmsten Aufgaben der obersten Gerichtshöfe des Bundes ist – auf dem Gebiet des Amtshaftungsrechts unwiederbringlich verloren. Was für die Bundesgerichte gilt, dürfte im Wesentlichen auch für die Instanzgerichte gelten, bei denen sich die Zuständigkeit der einzelnen Spruchkörper in großem Umfang auch nach Sachgebieten richtet. Lässt man – was, wie bereits ausgeführt, unabweislich ist – die Verkehrssicherungsfälle und die Verkehrsunfälle außen vor, die zahlenmäßig den „Löwenanteil“ der Amtshaftungsfälle ausmachen, wird es kaum eine Kammer bei irgendeinem Verwaltungsgericht, kaum einen Senat bei irgendeinem Oberverwaltungsgericht geben (von den anderen Gerichtsbarkeiten ganz zu schweigen), die bzw. der sich in Amtshaftungssachen die für eine sichere und zuverlässige Bearbeitung der Sachen wünschenswerte Routine aneignen kann. Darüber hinaus: Auch wenn zuverlässige Zahlen fehlen (die für eine seriöse Abschätzung des Für und Wider des Reformansatzes dringend notwendig wären), kann man sich eigentlich nicht vorstellen, dass bei einer Verwirklichung des Reformvorhabens für die Verwaltungsgerichtsbarkeit der Länder viel mehr als eine Handvoll Richterplanstellen je Land zu gewinnen wären. Wer wegen eines derart dürftigen Ergebnisses willens ist, die Verfassung zu ändern, zeigt wenig Respekt vor den Vätern und Müttern des Grundgesetzes, die der ordentlichen Gerichtsbarkeit ihr ganz besonderes Vertrauen ausgesprochen haben.79 Mag sein, dass das „Primat“ der ordentlichen Gerichtsbarkeit aus der Sicht eines „modernen“ Juristen nicht mehr so selbstverständlich ist, wie es dies für unsere Altvorderen war. Nur: Bei aller Bescheidenheit darf doch erwähnt werden, dass diese Gerichtsbarkeit – auch und gerade auf dem Gebiet der öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen – das in sie gesetzte Vertrauen über
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Staudinger/Wurm § 839 Rn. 295 ff. Staudinger/Wurm § 839 Rn. 318 ff. 77 Staudinger/Wurm § 839 Rn. 345 ff. 78 Ossenbühl S. 58 f. 79 Zur Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes siehe JöR Bd. 1 (NF) S. 1 ff.; speziell zur Rechtswegfrage S. 153. 76
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die Jahrzehnte hinweg in jeder Hinsicht gerechtfertigt hat. Wer nach 60 Jahren Grundgesetz glauben machen will, hier bestehe Handlungsbedarf, muss triftige Gründe haben, die nicht ansatzweise erkennbar sind.80
IV. Zusammenfassung Eine genauere Betrachtung der „Praxis des Amtshaftungsprozesses“ zeigt, dass es unter sachlichen Gesichtspunkten kein einziges auch nur halbwegs überzeugendes Argument gibt, die derzeitige Rechtswegzuweisung an die Zivilgerichte zu ändern. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für alle anderen „öffentlich-rechtlichen Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche“. Die im Ordnungsbehördenrecht vieler Länder normierten besonderen Entschädigungsansprüche (etwa § 39 Abs. 1 Buchst b OBG NRW) sind in Tatbestand und Rechtsfolgen dem Amtshaftungsanspruch angenähert. Dies gilt mittlerweile auch für das nach den Maßgaben des Einigungsvertrags in den neuen Bundesländern als Landesrecht fort geltende DDR-StHG. Dieses Gesetz, das ursprünglich (nach unserem Verständnis) als dezidiert öffentlich-rechtliches Haftungsinstitut ausgestaltet war (was sich vor allem daran zeigte, dass nach § 5 DDR-StHG zunächst ein behördliches Vorverfahren zu durchlaufen war; der Umfang des Schadensersatzes bestimmte sich freilich auch hier nach Zivilrecht; vgl. § 3 Abs. 2 DDR-StHG) ist in Berlin und Sachsen aufgehoben und in den anderen Ländern teilweise erheblich novelliert worden.81 Im Ergebnis sind aus heutiger Sicht, und zwar auch infolge der dazu ergangenen Rechtsprechung, keine nennenswerten Unterschiede mehr zu den „althergebrachten“ Haftungsinstituten festzustellen.82 Die richterrechtlich entwickelten Haftungsinstitute des enteignungsgleichen und des enteignenden Eingriffs schließlich, die in der älteren Rechtsprechung des III. Zivilsenats eine große Rolle gespielt haben, können in vorliegendem Zusammenhang vernachlässigt werden; ihre Bedeutung ist, nicht zuletzt deswegen, weil der moderne Gesetzgeber in seinen Fachgesetzen entsprechende Normen (etwa bezüglich des Lärmschutzes bei Straßenbaumaßnahmen) geschaffen hat, die ein Rekurrieren auf das Richterrecht entbehrlich machen, stark zurück gegangen. An Bedeutung ganz erheblich gewonnen hat freilich der vom EuGH entwickelte gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch. Indes ist hier festzuhalten, dass die „europa(richter-)rechtlichen Vorgaben“ ausge-
80 Wenn überhaupt bestehen solche triftigen Gründe in der Frage der Zusammenlegung der Gerichtsbarkeiten; aber das ist ein anderes Thema. 81 Vgl. Staudinger/Wurm § 839 Rn. 19. 82 Siehe nur Senatsurteile vom 19.1.2006 – III ZR 82/05 – BGHZ 166, 22 = VersR 2006, 800; vom 25.10.2007 – III ZR 62/07 – VersR 2008, 254 = BauR 2008, 494 und vom 11.12.2008 – III ZR 216/07 – BauR 2009, 797 = ZfBR 2009, 252.
Rechtsweg in Amtshaftungssachen
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sprochen rudimentär sind; sie sind durch die nationalrechtlichen Normen – also in Deutschland durch §§ 839, 249 ff. BGB – „aufzufüllen“.83 Ein kurzes Wort zu den Baulandsachen. Bei den diesbezüglich beim III. Zivilsenat anhängig gemachten Sachen84 geht es ganz überwiegend um reine Bewertungsfragen. Den Baulandkammern und -senaten der Land- und Oberlandesgerichte kommen daher in sinnvoller Weise die besondere Sachkunde der Zivilrichter und der Verwaltungsrichter zugute.85 Angesichts dieses klaren Befunds und der Eindeutigkeit der Stellungnahmen aus der ordentlichen Gerichtsbarkeit – der einzigen Gerichtsbarkeit, die über eigene Kenntnisse und Erfahrungen in dieser Materie verfügt und daher weiß, wovon sie spricht –, ist es schon überraschend, dass das Votum der Justizministerkonferenz so eindeutig ausgefallen ist. Was ist zu tun? Da es der ordentlichen Gerichtsbarkeit – aus welchen Gründen auch immer – nicht gelungen ist, im Kreis der Justizminister Gehör zu finden, wäre es außerordentlich verdienstvoll, wenn sich die Anwaltschaft in dieser Angelegenheit deutlich und vernehmlich positionieren würde. Ihr Wort hat in der rechtspolitischen Standortbestimmung besonderes Gewicht. Vor allem aber: Sie hat mit allen Gerichtsbarkeiten zu tun, steht also nicht in Verdacht, „pro domo“ zu sprechen. Daher ist, ich gestehe es freimütig, meine „Festgabe“ an den Jubilar nicht so uneigennützig, wie sie vielleicht sein sollte. Denn ich verbinde damit die zuversichtliche Hoffnung, dass er in dieser Frage zusammen mit allen anderen beim BGH zugelassenen Rechtsanwälten den Standpunkt der Richter des III. Zivilsenats uneingeschränkt teilt und seinen ganzen Einfluss geltend macht, damit der Amtshaftungsprozess auch künftig so „effizient und widerspruchsfrei“86 bleibt, wie dies seit mehr als 100 Jahren der Fall ist.
83
Siehe Senats(Vorlage-)beschluss vom 12.10.2006 – III ZR 144/05 – NVwZ 2007, 362. In der Summe eher vernachlässigenswert: 2006 und 2007 sind je sieben, 2008 sogar nur vier Baulandsachen eingegangen. 85 Reichling DRiZ 2008, 303, 304. 86 Vgl. die Stellungnahme des Bundes der Deutschen Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen, NVwZ 2008, 756. 84
Beweisaufnahme im Ausland Die EG-BeweisaufnahmeVO und der Grundsatz der Beweisunmittelbarkeit Volkert Vorwerk I. Einführung Vor Inkrafttreten der VO über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedsstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- und Handelssachen1 (EG-BewVO) konnte eine Beweisaufnahme, die ein Gericht eines Mitgliedsstaates in einem anderen Mitgliedsstaat für erforderlich hielt, nur in der Weise erfolgen, dass das inländische Gericht das ausländische bat, die Beweisaufnahme im Wege internationaler Amtshilfe durchzuführen.2 Entsprechende Verfahren waren langwierig und beeinträchtigten die beweisbelastete Partei in ihrem Recht auf Beweis; 3 die vom ausländischen Gericht gewonnenen Beweisergebnisse waren im inländischen Verfahren nur eingeschränkt verwertbar, weil der Grundsatz der Beweisunmittelbarkeit, der sich bei im Inland erhobenen Beweisen praktisch stets verwirklichen lässt, einer umfassenden Bewertung des Beweisergebnisses häufig entgegenstand.
1
Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28.5.2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedsstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivilund Handelssachen, ABl. v. 27.6.2001 Nr. L 174 S. 1, im Folgenden: EG-BewVO. 2 Vgl. dazu Daoudi Extraterritoriale Beweisverschaffung im deutschen Zivilprozess, 2000, 99; Stein/Jonas/Berger ZPO, 22. Aufl., 2006, Rn. 5 ff. zu § 363 BGB; Rosenberg/ Schwab/Gottwald Zivilprozessrecht, 16. Aufl., 2004, Rn. 12 zu § 119. Die Zulässigkeit extraterritorialer Beweisverschaffung ist umstritten. Überwiegend wird die mit Zwangsandrohung sanktionierte Verpflichtung eines am Rechtsstreit nicht beteiligten, im Ausland befindlichen Dritten, an der inländischen Beweisaufnahme mitzuwirken, als völkerrechtswidriger Eingriff in die Territorialhoheit des fremden Staates, die Bitte des Gerichts, an der inländischen Beweisaufnahme auf freiwilliger Basis mitzuwirken, jedoch als zulässig angesehen, vgl. Stein/Jonas/Berger Rn. 11 zu § 363 BGB mwN. Auch die Vernehmung eines Zeugen im Ausland per Videovernehmung hat die Rechtsprechung als hoheitliches Handeln eingestuft, das ohne generelle oder im Einzelfall erteilte Einwilligung oder ohne Vorliegen eines anderen völkerrechtlichen Rechtstitels in die territoriale Integrität des anderen Staates eingreift, BGH, NJW 1999, 3788, 3789. 3 Vgl. dazu Heß/Müller ZZPInt 2001, 149, 170; Habscheid ZZP 1983, 306 ff.
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Die Europäische Gemeinschaft (EG) hat – auf deutsche Initiative 4 – aus diesem Grund im Jahr 2001 die EG-BewVO in Kraft gesetzt. Die EGBewVO sieht neben der „klassischen“ Beweisaufnahme durch das im Rahmen der Amtshilfe ersuchte ausländische Gericht 5 auch die Möglichkeit einer durch das Prozessgericht im Ausland selbst durchgeführten Beweisaufnahme vor.6 Als Mixtum zwischen unmittelbarer Beweisaufnahme des nationalen Gerichts und der Beweiserhebung durch den ersuchten ausländischen Richter kennt die EG-BewVO die derzeit technisch wohl kaum nutzbare Videokonferenz7 sowie die Beweisaufnahme des ersuchten ausländischen Gerichts im Beisein des nationalen Tatrichters.8 Stellt die EG-BewVO verschiedene Möglichkeiten der Beweiserhebung zur Verfügung, ist die Frage zu beantworten, ob der das nationale Prozessrecht beherrschende Grundsatz der Beweisunmittelbarkeit den nationalen Richter zwingt, jedenfalls im Falle der Vernehmung von Zeugen die Beweiserhebung regelmäßig selbst im Ausland 9 durchzuführen.
II. Grundsatz der Beweisunmittelbarkeit und die EG-BewVO Die EG-BewVO lässt dem nationalen Gericht die Wahl zwischen verschiedenen Formen der im Ausland durchzuführenden Beweisaufnahme, ohne eine vorrangig zu wählende Art der Durchführung der Beweisaufnahme festzulegen. Auch die „Begleitvorschriften“ die mit Inkrafttreten der EG-BewVO in die ZPO eingefügt sind,10 zeigen dem nationalen Gericht keine „Rangfolge“ für die in der EG-BewVO vorgesehenen Formen der Be4
ABl. Nr. C 314 vom 3.11.2000, S. 2. Art. 10 ff. EG-BewVO. 6 Art. 17 EG-BewVO. 7 Vgl. dazu den Bericht der Kommission vom 5.12.2007 an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28.5.2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedsstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivilund Handelssachen, KOM(2007) 769, im Folgenden: Kommissionsbericht, S. 5. Danach wird die in Art. 10 Abs. 4 EG-BewVO vorgesehene Videokonferenztechnik sehr selten eingesetzt, weil nur die wenigsten Gerichte der Mitgliedsstaaten über die für ihren Einsatz notwendigen technischen Voraussetzungen verfügen. 8 Nach Art. 12 Abs. 1 EG-BewVO können, sofern das Recht des ersuchten Staates dem nicht entgegensteht, Beauftragte des ersuchenden Gerichts an der Beweisaufnahme des ersuchten Gerichts teilnehmen. Der Begriff des „Beauftragten“ umfasst nach Art. 12 Abs. 2 EG-BewVO Gerichtsangehörige nach Maßgabe des Rechts des ersuchenden Staates. 9 Der Begriff „Ausland“ wird nachfolgend, soweit nicht anders vermerkt, stets als Synonym für die Mitgliedsstaaten der EG verwandt. 10 § 1072 ZPO gestattet dem Gericht sowohl die unmittelbare (§ 1072 Nr. 2 ZPO) als auch die mittelbare Beweisaufnahme über den ersuchten ausländischen Richter (§ 1072 Nr. 1 ZPO), ohne einer der beiden Vorgehensweisen einen Vorrang einzuräumen. 5
Beweisaufnahme im Ausland
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weisaufnahme auf. Dennoch gibt es, gesichert durch bestehende Verfahrensgrundrechte, eine Rangfolge, aus der die Priorität einer bestimmten Form der Beweiserhebung abzuleiten ist.11 1. Vorrang der unmittelbaren Beweiserhebung Die Beweisaufnahme erfolgt nach § 355 Abs. 1 Satz 1 ZPO grundsätzlich vor dem Prozessgericht. Vom durch jene Vorschrift aufgestellten Grundsatz der Beweisunmittelbarkeit kann lediglich in den vom Gesetz bestimmten Ausnahmefällen abgewichen werden.12 Einen im Gesetz geregelten Ausnahmefall stellt nach § 363 ZPO die Beweisaufnahme im Ausland dar. Nach § 363 Abs. 1 ZPO hat der Vorsitzende des erkennenden Gerichts die zuständige ausländische Behörde um Aufnahme des Beweises zu ersuchen, wenn die Beweisaufnahme im Ausland erfolgen soll. Allerdings bleiben nach § 363 Abs. 3 ZPO die Vorschriften der EG-BewVO von dieser Regelung unberührt. Damit stellt sich die Frage, ob im Anwendungsbereich der EGBewVO13 vom Grundsatz der Beweisunmittelbarkeit noch abgewichen werden darf. Durch die Rechtsprechung ist diese Frage bisher nicht beantwortet. Zwar war schon durch die vor Inkrafttreten der EG-BewVO14 ergangene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes geklärt, dass die erneute Vernehmung des im Ausland wohnenden Zeugen, der im Wege der Rechtshilfe im Ausland vernommen war, erforderlich ist, wenn das als einzige Erkenntnisquelle zur Verfügung stehende Vernehmungsprotokoll keinerlei Rückschlüsse auf die Glaubwürdigkeit zuließ und – bei inhaltlich unvereinbaren Aussagen der vernommenen Zeugen – die Entscheidung auch von der Aussage des im Ausland vernommenen Zeugen abhing.15 Festgehalten hatte die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in diesem Zusammenhang ferner, dass die Wiederholung der Vernehmung des im Ausland im Wege der Rechtshilfe vernommenen Zeugen in diesen Fällen zumindest zu versuchen sei.16 § 286 Abs. 1 ZPO begründe die Pflicht zur möglichst vollständigen Aufklärung des Sachverhalts. Soweit das Erscheinen eines im Ausland lebenden Zeugen vor dem
11 Vgl. dazu auch Rauscher/v. Hein Europäisches Zivilprozessrecht, 2. Aufl., 2006, Rn. 34 ff. zu Art. 1 EG-BewVO mwN. Die dort zitierten Fundstellen beziehen sich jedoch zumeist auf die Zeit vor Inkrafttreten der EG-BewVO oder behandeln die Frage nach dem Vorrang zwischen Beweismittelverschaffung ins Inland und der Durchführung der Beweisaufnahme im Ausland. 12 § 355 Abs. 1 Satz 2 ZPO. 13 Dieser umfasst alle Mitgliedsstaaten mit Ausnahme Dänemarks, Art. 1 Abs. 3 EGBewVO. 14 Vgl. dazu Art. 24 EG-BewVO. 15 BGH, WM 1990, 2095, 2097; NJW 1992, 1768, 1769. 16 BGH, WM 1990, 2095, 2097; NJW 1992, 1768, 1769.
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Prozessgericht noch in Betracht komme, müsse das Gericht daher den im Ausland lebenden Zeugen gegebenenfalls im Wege der Rechtshilfe laden und über diesen Weg den Versuch unternehmen, der Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung zu genügen.17 Schon vor Inkrafttreten der EG-BewVO galt für das Gericht demnach auch im Falle der Notwendigkeit der Vernehmung eines Zeugen im Ausland die Pflicht zur vollständigen Sachaufklärung. Der im Ausland lebende Zeuge konnte die Pflicht zur Sachaufklärung nur insoweit einschränken, als er nicht erreichbar war. 2. Möglichkeiten der Beweiserhebung aufgrund der EG-BewVO Vor Inkrafttreten der EG-BewVO war normative Grundlage auch für die in den Mitgliedsstaaten auszuführende Beweisaufnahme § 363 ZPO.18 Inhaltlich geprägt war jene Norm von der Vorstellung, dass das Völkerrecht eine Beweisaufnahme des deutschen Richters im Ausland nicht zulässt, weil durch die Tätigkeit des deutschen Richters im Ausland die Souveränität des fremden Staates verletzt werde.19 Mit Inkrafttreten der EG-BewVO haben die EG-Mitgliedsstaaten – mit Ausnahme Dänemarks (vgl. Art. 1 EGBewVO) – insoweit auf Teile ihres Souveränitätsrechts verzichtet. Im Wege „passiver Rechtshilfe“20 ist dem ersuchenden Gericht gemäß Art. 17 EGBewVO nunmehr die eigene Beweisaufnahme im fremden Mitgliedsstaat zu gestatten; 21 wobei das ersuchende Gericht im Rahmen der Beweisaufnahme sein eigenes Verfahrensrecht anwendet.22 Im Wege „aktiver Rechtshilfe“ 23 gemäß Art. 1 Abs. 1a, Art. 10, 12 EG-BewVO ist dem inländischen Tatrichter außerdem zu gestatten, an der Beweiserhebung, die das ausländische Gericht durchführt, weil gegebenenfalls Zwangsmaßnahmen (Art. 13 EG-BewVO) anzuordnen sind, selbst teilzunehmen. Nicht nur im Falle „passiver“, son-
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BGH, NJW 1992, 1768, 1769. Vgl. dazu auch MüKo/Musielak ZPO, 2. Aufl., 2000, Rn. 1 zu § 363 ZPO; Stein/ Jonas/Berger ZPO, 21. Aufl., 1999, Rn. 25 ff. zu § 363 ZPO; Stadler Grenzüberschreitende Beweisaufnahmen in der Europäischen Union – die Zukunft der Rechtshilfe in Beweissachen, in: FS für Geimer, 2002, 1280, 1281. 19 Vgl. dazu Stadler in: FS für Geimer, 2002, 1280, 1283; Nagel/Gottwald IZPR, 5. Aufl., 2002, § 8, Rn. 2; Schabenberger Der Zeuge im Ausland im deutschen Zivilprozess, 1996, 127. 20 Vgl. dazu Heß/Müller ZZPInt 2001, 149, 159; Stadler in: FS für Geimer, 2002, 1280, 1297; Berger IPrax 2001, 522, 526. 21 Heß/Müller ZZPInt 2001, 149, 160; Stadler in: FS für Geimer, 2002, 1280, 1299; Nagel/ Gottwald (o. Fn. 20) § 8, Rn. 24. 22 Vgl. Berger IPrax 2001, 522, 526; Rauscher/v. Hein (o. Fn. 11), Rn. 19 zu Art. 17 EGBewVO; Stadler in: FS für Geimer, 2002, 1280, 1300. 23 Vgl. Heß/Müller ZZPInt 2001, 149, 160; Schulze IPrax 2001, 527, 530; Stadler in: FS für Geimer, 2002, 1280, 1292. 18
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dern auch im Falle „aktiver“ Rechtshilfe ist der nationale Tatrichter demnach in der Lage, sich von der Glaubwürdigkeit eines Zeugen einen eigenen persönlichen Eindruck zu verschaffen. Darüber hinaus kann sich der Tatrichter auch einen eigenen Eindruck von der Glaubhaftigkeit der Aussage des Zeugen machen, weil er im Falle „aktiver“ Rechtshilfe an den Zeugen unter Vermittlung des ersuchten Gerichts selbst vor Ort Fragen stellen darf, sofern – folgt man dem Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 EG-BewVO – die Verfahrensnormen, denen das ersuchte Gericht unterliegt, dies nicht untersagen.24 3. Vorrang der Beweisunmittelbarkeit Die Frage, ob nach Inkrafttreten der EG-BewVO in deren sachlichem und örtlichem Anwendungsbereich (vgl. dazu Art. 1 EG-BewVO) die Regeln der §§ 363 Abs. 1 und 2, 364 ZPO weiterhin Anwendung finden, wird in der Kommentarliteratur nicht25 oder nicht eindeutig26 beantwortet, obwohl das Verfahrensrecht eine eindeutige Antwort zugunsten des Vorrangs der Beweisunmittelbarkeit nicht nur erlaubt, sondern fordert. a) Die Motive zu den §§ 1072 ff. ZPO, die der Gesetzgeber mit Inkrafttreten der EG-BewVO in die ZPO eingefügt hat, führen aus, die §§ 363 und 364 ZPO seien nur noch „für den Rechtshilfeverkehr außerhalb der Verordnung Nr. 1206/2001 anwendbar“.27 Das ist richtig. Der Vorrang der EGBewVO vor der einschlägigen, die Beweiserhebung im Ausland regelnden nationalen Verfahrensnorm folgt aus dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts.28 Die Motive zu §§ 1072 ff. ZPO erläutern deshalb zutreffend, die EG-BewVO enthalte „Sonderregelungen für den besonders umfangreichen Rechtshilfeverkehr innerhalb der Europäischen Union“.29 Die in der Literatur zu §§ 363, 1072 ZPO diskutierte Frage, ob § 363 Abs. 3 ZPO lediglich Hinweischarakter hat,30 oder über die dort genannte Regelung des § 1072 ZPO die EG-BewVO zu ihrer Anwendbarkeit „freigeschaltet“ worden ist,31
24 Vgl. dazu Rauscher/v. Hein (o. Fn. 11), Rn. 7 zu Art. 12 EG-BewVO; Schulze IPrax 2001, 527, 530; Heß/Müller ZZPInt 2001, 149, 155. 25 Vgl. Musielak/Stadler ZPO, 5. Aufl., 2007, Rn. 9 ff. zu § 363 ZPO. 26 Vgl. Zöller/Geimer ZPO, 27. Aufl., 2009, Rn. 50 ff. zu § 363 ZPO; Heß/Müller ZZPInt 2001, 149, 162; Rauscher/v. Hein, (o. Fn. 11), Rn. 18 ff. zu Art. 1 EG-BewVO. 27 BT-Drs. 15/1062, S. 9. 28 Vgl. dazu Vorwerk Die Nichtzulassungsbeschwerde im Licht des Gemeinschaftsrechts, in: FS für Thode, 2005, 645, 656 mit zahlreichen weiteren Nachweisen; Oppermann Europarecht, 2. Aufl., 1999, Rn. 616 ff. mwN. 29 BT-Drs. 15/1062, S. 9. 30 So Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann ZPO, 67. Aufl., 2009, Rn. 9 zu § 363 ZPO. 31 So Rauscher/v. Hein (o. Fn. 11), Rn. 18 zu Art. 1 EG-BewVO.
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stellt sich in der Alternativität, in der sie in der Literatur diskutiert wird, nicht. Beide in der Literatur vertretenen Ansichten sind nämlich zutreffend: Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts führt dazu, dass § 363 Abs. 3 ZPO nur Hinweischarakter hat. „Freigeschaltet“ werden musste die EG-BewVO im nationalen Recht ungeachtet dessen, weil das nationale Verfahrensrecht dem Richter als Träger hoheitlicher Gewalt nur aufgrund einer nationalen Ermächtigungsnorm ein hoheitliches Tätigwerden außerhalb des eigenen Hoheitsgebiets gestattet.32 b) Lässt die EG-BewVO die Beweisbeschaffung in den Mitgliedsstaaten mit Beteiligung des ersuchten Gerichts (Art. 1 Abs. 1a, Art. 10 ff. EGBewVO) oder im Wege der unmittelbaren Beweisaufnahme durch den nationalen Tatrichter zu (Art. 1 Abs. 1b, Art. 17 EG-BewVO), steht der Durchsetzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweiserhebung 33 über beide Formen der Beweisaufnahme in den Mitgliedsstaaten durchweg nichts entgegen.34 Gewahrt bleibt der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweiserhebung (§ 355 ZPO) nämlich auch, wenn der Tatrichter „unter Beteiligung des Beauftragten des ersuchenden Gerichts“ (Art. 12 EG-BewVO) gemäß Art. 1 Abs. 1a, Art. 10 ff. EG-BewVO die Beweisaufnahme durch das ersuchte Gericht durchführen lässt. Jene Art der Beweiserhebung legt die Beweisbeschaffung zwar weiterhin in die Hände des ersuchten Gerichts; 35 jene Art der Beweiserschaffung gewährt jedoch ein Anwesenheitsrecht des Tatrichters, und zwar auch in seiner gesamten Spruchkörperbesetzung; 36 ferner bei der Vernehmung von Zeugen ein Fragerecht.37 Nach dem Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 EG-BewVO bestimmt sich das Anwesenheits- und Fragerecht allerdings nach dem Recht des Mitgliedsstaates, dessen Gericht um Rechtshilfe ersucht worden ist.38 Ob jene allein auf den Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 EG-BewVO abstellende Auslegung zutreffend ist oder jedenfalls nicht jede nationale Verfahrensnorm ein Anwesenheits- oder Fragerecht des ersuchenden Richters ausschließen kann, entzieht sich der Klärung im Rahmen des vorliegenden Beitrags, weil jene Klärung die Einbeziehung des nationalen Prozessrechts der 27 Mitgliedstaaten erfordern würde. Klar ist jedoch, dass – worauf bei32
Vgl. dazu Daoudi (o. Fn. 2), S. 110 mwN. § 355 ZPO. 34 Rauscher/v. Hein (o. Fn. 11), Rn. 2 zu Art. 17 EG-BewVO; Schulze IPrax 2001, 527, 532; Stadler in: FS für Geimer, 2002, 1280, 1298. 35 Rauscher/v. Hein (o. Fn. 11), Rn. 2 zu Art. 12 EG-BewVO; Schulze IPrax 2001, 527, 532; Heß/Müller ZZPInt 2001, 149, 155. 36 Rauscher/v. Hein (o. Fn. 11), Rn. 6 sowie 4 zu Art. 12 EG-BewVO; Schulze IPrax 2001, 527, 530; Heß/Müller ZZPInt 2001, 149, 155. 37 Vgl. Rauscher/v. Hein (o. Fn. 11), Rn. 8 zu Art. 12 EG-BewVO. 38 Art. 12 Abs. 1 EG-BewVO; vgl. dazu Rauscher/v. Hein (o. Fn. 11), Rn. 6 sowie 4 zu Art. 12 EG-BewVO; Schulze IPrax 2001, 527, 530; Stadler in: FS für Geimer, 2002, 1280, 1298. 33
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spielhaft hinzuweisen ist – etwa das spanische 39 wie auch das französische 40 Recht keine Normen erkennen lassen, aufgrund derer dem nationalen deutschen Gericht die Teilnahme an der Vernehmung von Zeugen verwehrt werden kann. Ist dies für andere Mitgliedsstaaten nicht eindeutig zu klären, wäre über den Weg der Vorabentscheidung des EuGH, dem die Auslegung, ob eine nationale Vorschrift der EG-BewVO unterliegt,41 jene Klärung herbeizuführen. Ob im Wege „aktiver“ oder „passiver Rechthilfe“ die Beweise zu erheben sind, kann der Tatrichter vor, oder jedenfalls unmittelbar nach Verkündung des Beweisbeschlusses erkennen. Ob Zwangsmittel die Beweisaufnahme begleiten müssen (Art. 17 EG-BewVO) lässt sich aufgrund des Prozessgeschehens unmittelbar vor oder nach dem Beweisbeschluss feststellen. Die EG-BewVO gibt demnach 42 durchweg die Möglichkeit, den im nationalen Prozessrecht verankerten Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme zu verwirklichen; der Tatrichter kann sich über die durch die EG-BewVO eröffneten Wege deshalb auch durchweg einen persönlichen Eindruck von Zeugen verschaffen, um deren Glaubwürdigkeit zu beurteilen, oder durch Rückfragen die Glaubhaftigkeit deren Aussage ermitteln. c) Ermöglicht die EG-BewVO den im nationalen Recht verankerten Grundsatz der Beweisunmittelbarkeit durchzusetzen, ist die Beweiserhebung in den Mitgliedsstaaten, wenn es für die Würdigung der Beweisergebnisse auf den persönlichen Eindruck des Tatrichters ankommen kann, über den Weg des Art. 17 EG-BewVO, hilfsweise über den der Art. 10 ff. EG-BewVO durchzuführen; die reine „Rechtshilfe – Vernehmung“ von Zeugen scheidet in der Regel aus. aa) Seit Inkrafttreten der EG-BewVO wird in der Literatur überwiegend die Auffassung vertreten, dass sich ein Vorrang aktiver Rechtshilfe durch ausländische Gerichte gegenüber dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 355 ZPO) nicht länger plausibel begründen lässt.43 Das 39 Vgl. dazu Schwonke/Tölg in: Nagel/Bajons, Beweis-Preuve-Evidence, Grundzüge des zivilprozessualen Beweisrechts in Europa, 2003, 593 ff.; Schütze/Karl in: Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr, Loseblattslg., Bd. V, Ordn.Nr. 1130. 40 Vgl. dazu Rouhette in: Nagel/Bajons (o. Fn. 39), S. 167 ff.; Schütze in: Geimer/Schütze (o. Fn. 39), Bd. V; Ordn.Nr. 1039. 41 Vgl. dazu Gebauer/Wiedmann/Huber Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2005, Kap. 29, Rn. 8; Ubertazzi GRURInt. 2008, 807, 809; vgl. dazu auch die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott v. 18.7.2007 in der Rechtssache C-175/06 – Tedesco, Tz. 20 ff. Zu einem Urteil des EuGH ist es in diesem ersten Vorabentscheidungsersuchen über die Auslegung der EG-BewVO aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten Einigung der Parteien nicht mehr gekommen, vgl. dazu Ubertazzi GRURInt. 2008, 807, 809. 42 Vorbehaltlich der Prüfung, ob das nationale Prozessrecht des EG – Mitgliedsstaats das Anwesenheits- oder Fragerecht des ersuchenden Richters ausschließt. 43 Vgl. Schulze IPrax 2001, 527, 532; Rauscher/v. Hein (o. Fn. 11), Rn. 39 ff. zu Art. 1 EG-BewVO; ausführlich Daoudi (o. Fn. 2), S. 63 ff.; vgl. nunmehr auch Zöller/Geimer (o. Fn. 26), Rn. 6 zu § 363 ZPO.
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Recht auf Beweis ist verfassungsrechtlich verbürgtes Recht; es folgt aus dem Recht auf effektiven Rechtsschutz, der Ausfluss des Justizgewährungsanspruches ist.44 Das Recht auf Beweis wird zudem als gemeineuropäischer Verfahrensgrundsatz anerkannt; 45 es ist Teil der Prozessrechtsgarantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK.46 bb) Vereitelt wird das Recht auf Beweis, wenn die Beweisaufnahme in einer Form durchgeführt wird, die ausschließt, dass sich der Tatrichter, kommt es hierauf an, einen persönlichen Eindruck vom Beweismittel, insbesondere von zu vernehmenden Zeugen verschafft: Meint der Tatrichter, aufgrund der Kürze der Aussage des Zeugen die Glaubwürdigkeit der Aussage nicht beurteilen zu können, ist er nach nationalem Verfahrensrecht (§ 286 ZPO) von Amts wegen gehalten, Rückfragen zu stellen, um die Glaubhaftigkeit der Aussage zu beurteilen. Nur auf diesem Weg hat die beweispflichtige Partei Gelegenheit, den ihr obliegenden Beweis auch erbringen zu können. Verschließt sich der Tatrichter der Möglichkeit der Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen, obwohl verfahrensrechtlich der Weg dazu offen steht, hindert der Tatrichter die beweispflichtige Partei ebenfalls daran, den ihr obliegenden Beweis zu erbringen. Schöpft der Tatrichter demnach nicht alle Möglichkeiten aus, die ihn in die Lage versetzen, eine vom Zeugen gemachte Aussage auf Glaubhaftigkeit und den Zeugen selbst auf Glaubwürdigkeit beurteilen zu können, wird das Verfahrensgrundrecht der beweispflichtigen Partei auf Beweis vereitelt. Ist der Beweis über ein anderes Beweismittel zu erheben und bedarf es für die Beweiswürdigung des persönlichen Eindrucks des Tatrichters, gilt nichts anderes. cc) Dass der Grundsatz der Beweisunmittelbarkeit nicht selbst Verfassungsrang genießt,47 ändert am gefundenen Ergebnis nichts. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts,48 aus der abgeleitet wird, dass der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verfassungsrechtlich nicht geschützt ist, betont ausdrücklich, dass die Verletzung der Unmittelbarkeit der Beweiserhebung ihrerseits einen Rang erreichen kann, der sich als ernstliche Beeinträchtigung des rechtsstaatlichen Charakters des Verfahrens darstellt.49 Folge der vom Bundesverfassungsgericht erwähnten Beeinträchtigung ist die Verletzung des Rechtsstaatsgebots, unter das der Anspruch auf
44
Vgl. Heß/Müller ZZPInt 2001, 149, 170; Habscheid ZZP 1983, 306 ff. Siehe dazu Müller Grenzüberschreitende Beweisaufnahme im europäischen Justizraum, 2004, 11. 46 Heß/Müller ZZPInt 2001, 149, 170; Peukert/Frowein EMRK, 1996, Rn. 99 zu Art. 6 EMRK; ausführlich ebenfalls Kofmel Das Recht auf Beweis im Zivilverfahren, 1992, 36 ff. 47 BVerfG, BVerfGE 1, 418, 429. 48 BVerfG, BVerfGE 1, 418, 429. 49 BVerfG, BVerfGE 1, 418, 429. 45
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Justizgewährung fällt.50 Der fehlende Verfassungsrang der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme hindert demnach nicht, eine Beweiserhebung als Verstoß gegen den Justizgewährungsanspruch anzusehen, wenn die gewählte Beweiserhebung – trotz anderer verfahrensrechtlich vorgegebener Möglichkeiten – den Richter nicht in die Lage versetzt, eine Beweiswürdigung vorzunehmen.
III. Organisation der Beweisaufnahme im Rahmen der EG-BewVO 1. Beweisaufnahme im Mitgliedsstaat im Falle „passiver Rechtshilfe“ Wie die unmittelbare Beweisaufnahme durchzuführen ist, regelt weder die EG-BewVO noch das nationale Prozessrecht. Art. 17 Abs. 2 EG-BewVO bestimmt lediglich, dass die Beweisaufnahme auf freiwilliger Grundlage und ohne Zwangsmaßnahmen erfolgen muss. Wie und wo die Beweisaufnahme im Ausland durchgeführt werden kann, ob den die Beweisaufnahme durchführenden Gerichtsmitgliedern die Räumlichkeiten oder sonstige Ressourcen der Gerichte des ersuchten Staates, etwa Dolmetscher zur Verfügung stehen, regelt die Verordnung nicht. Insoweit ist das ersuchende Gericht auf die Kooperation der nationalen Zentralstelle angewiesen, die im Internet im Europäischen Gerichtsatlas 51 für alle Mitgliedsstaaten jeweils veröffentlicht ist. Derzeit fehlen allerdings nationale Erfahrungsberichte über die bisher wenigen, im Wege „passiver Rechtshilfe“ durchgeführten Beweisaufnahmen.52 2. Beweisaufnahme durch den ersuchten ausländischen Richter, „aktive Rechtshilfe“ a) Probleme bei der Beweisaufnahme durch den ersuchten ausländischen Richter ergeben sich aus Unterschieden im Prozessrecht der Mitgliedsstaaten. Mangelnde Kompatibilität des Prozessrechts der beteiligten Mitgliedsstaaten kann dazu führen, dass die im ersuchten Staat gefundenen Beweisergebnisse für das ersuchende Gericht nicht verwertbar sind. Dies gilt weniger für den eher theoretisch diskutierten Fall verbotener Beweiserhe-
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Vgl. dazu BVerfG, BVerfGE 107, 395, 396; BVerfGE 93, 99, 107; BVerfGE 88, 118,
123. 51 Unter http://ec.europa.eu/justice_home/judicialatlascivil/html/index_de.htm ist der Europäische Gerichtsatlas im Internet abrufbar, vgl. auch Adolphsen in: Marauhn, Bausteine des Europäischen Beweisrechts, 2007, 1, 9, Fn. 30. 52 Vgl. dazu Kommissionsbericht (o. Fn. 7), S. 6 und 17.
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bungsmethoden – erörtert wird in der Literatur hier insbesondere das Kreuzverhör englischen Rechts 53 – als vielmehr Unterschiede, die sich durch den Grundsatz des Amts- oder Parteibetriebes im Verfahren ergeben. So wird das ersuchte Gericht, das die Beweiserhebung nach nationalem ausländischen Prozessrecht im Wege des Parteibetriebes durchzuführen gewohnt ist, die Beweisfrage eines Gerichts, das nach nationalem inländischen Recht die Beweisaufnahme im Amtsbetrieb auszuführen hat, als zu unbestimmt empfinden; 54 während „das Gericht eines amtsbetriebenen Verfahrens“ das Beweisergebnis des ersuchten Gerichts, das den Parteibetrieb nach seinem nationalen Recht kennt, als unvollständig und lückenhaft empfinden wird, weil sich das ersuchte Gericht – seinem Prozessrecht und Selbstverständnis entsprechend – nicht aus eigenem Antrieb um die weitere Aufklärung des Sachverhalts bemüht hat. So ist etwa in einem von einem deutschen Gericht ausgehenden Beweishilfeersuchen der Sachverhalt, über den ausländische Zeugen in Spanien vernommen werden sollten,55 in der Form einer der Zivilprozessordnung entsprechenden Frage übermittelt worden, die einfach mit „ja“ oder „nein“ beantwortbar war: Die Frage lautete, ob ein bestimmter Sachverhalt zutreffend sei. Spanischer Tradition und dem dortigen Prozessrecht entsprach es jedoch,56 Beweisfragen in der Form von an die Zeugen zu richtenden konkreten Fragen zu übermitteln,57 die so konkret formuliert sein mussten, dass sie von den Zeugen schlicht mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden konnten.58 Die Antwort der spanischen Zeugen auf die deutsche – an den um Rechtshilfe ersuchten Richter gerichtete – Beweisfrage, ob die Tatsache, über die Beweis erhoben werden sollte, wahr sei oder nicht, lautete dementsprechend nur „ja“ oder „nein“. Die dem deutschen Gericht übermittelten Zeugenaussagen, die nur aus dem Wort „ja“ bzw. „nein“ bestanden, konnte das deutsche Gericht naturgemäß nicht verwerten, weil sich so die Glaubhaftigkeit des Zeugnisses nicht ermitteln ließ. 53 Vgl. dazu etwa Müller (o. Fn. 45), S. 97; Stein/Jonas/Berger (o. Fn. 2), Rn. 55 Anhang zu § 363 ZPO. 54 Vgl. dazu die Studie der Kommission vom März 2007, abrufbar unter http://ec. europa.eu/civiljustice/publications/docs/ec_1206_2001_a_09032007_questionnaires.pdf, im Folgenden: Kommissionsstudie. Dort hat etwa ein irisches Gericht beklagt, dass einige der ihm übermittelten Fragen wegen ihrer Allgemeinheit von ihm nicht hätten bearbeitet werden können, Kommissionsstudie, S. 102. 55 Art. 4 Abs. 1 lit. 4 dritter Spiegelstrich, zweiter Halbsatz EG-BewVO. 56 Vgl. dazu Schwonke/Tölg (o. Fn. 39), S. 611, Fn. 37. Mittlerweile ist die Einreichung eines schriftlichen Fragenkataloges im spanischen Prozessrecht regelmäßig nur noch für die Parteivernahme von Gebietskörperschaften oder anderen öffentlichen Einrichtungen vorgesehen, vgl. dazu Schwonke/Tölg (o. Fn. 39), S. 616 f. 57 Auch diese Form der Formulierung des Gegenstandes, über den Beweis erhoben werden soll, lässt Art. 4 Abs. 1 lit. e dritter Spiegelstrich, erster Halbsatz EG-BewVO zu. 58 Schwonke/Tölg (o. Fn. 39), S. 617.
Beweisaufnahme im Ausland
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Das englische Recht erfordert dagegen, um eine Zeugenaussage voll verwerten zu können, nicht nur die Schilderung eines bestimmten Sachverhalts durch den Zeugen, sondern auch, dass die Parteien den Zeugen zu dieser Aussage im Kreuzverhör befragen können und die Antworten des Zeugen wörtlich protokolliert werden.59 Fragen der Parteien an den Zeugen sieht die französische Zivilprozessordnung wiederum nur ausnahmsweise vor.60 Weisen also englische Gerichte im Ersuchen um Beweisaufnahme im Wege der Rechtshilfe nach der EG-BewVO nicht auf diese Besonderheiten ihres Prozessrechts hin, ist die vom ausländischen Gericht im Wege der Rechtshilfe erhobene Beweisaufnahme nur eingeschränkt verwertbar. Hingewiesen werden muss das ersuchte Gericht aber auch auf Besonderheiten des Prozessrechts des ersuchenden Gerichts; etwa auf Zeugnisverweigerungsrechte, die zwar nach dem nationalen Recht des ersuchenden, nicht aber des ersuchten Staates bestehen, wenn die Aussage des Zeugen nur nach Belehrung über das bestehende Aussageverweigerungsrecht im Verfahren vor dem ersuchenden Gericht verwertbar ist.61 b) Weil das ersuchte Gericht als „verlängerter Arm“ des ersuchenden Gerichts tätig werden soll, erfordert die Beweisaufnahme demnach Kenntnisse des geltenden nationalen Prozessrechts auf beiden Seiten.62 Das ersuchende Gericht ist auf das – ordnungsgemäß gefundene – Beweisergebnis angewiesen; jenes Gericht trägt deshalb die Verantwortung für das Beweishilfeersuchen und damit dafür, dass das ersuchte Gericht das Gesuch nach seinem nationalen Prozessrecht bearbeitet 63 und das vom ersuchten Gericht gefundene Beweisergebnis nach dem nationalem Recht des ersuchenden Richters verwertbar ist. Im Rahmen der zwingend zu verwendenden standardisierten Übermittlungsbögen – die die Übermittlung der Beweisaufnahmegesuche unzweifelhaft beschleunigen 64 – lassen sich Hinweise auf die Erfordernisse
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Vgl. dazu Müller (o. Fn. 45), S. 11; vgl. auch Hess in: Marauhn (o. Fn. 51), S. 25. Vgl. dazu Hess in: Marauhn (o. Fn. 51), S. 25. 61 § 383 Abs. 2 ZPO; BGH, NJW 1985, 1158. Das in Deutschland bestehende Zeugnisverweigerungsrecht etwa für den Verlobten einer der Parteien, § 383 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, ist im Prozessrecht der Mitgliedsstaaten selten aufzufinden. 62 Hilfreiche Nachweise des prozessualen Beweisrechts der Mitgliedsstaaten sind zu finden etwa im Werk Beweis-Preuve-Evidence von Nagel/Bajons (o. Fn. 39); siehe für das englische, französische und dänische Recht auch Müller (o. Fn. 45), S. 25 ff. 63 In der Kommissionsstudie haben etwa slowakische Gerichte darüber geklagt, dass aus Beweishilfeersuchen nicht hervorging, ob Zeugen oder Parteien des Rechtsstreits vernommen werden sollten, für die nach slowakischem Recht unterschiedliche Belehrungspflichten bestünden, Kommissionsstudie (o. Fn. 54), S. 102. Dies ist aus Sicht eines Prozessrechtes, das, wie etwa das englische, vgl. dazu Garret in: Nagel/Bajons (o. Fn. 39), S. 704; Müller (o. Fn. 45), S. 40, nicht nach Parteivernahme und Zeugenvernehmung unterscheidet, überflüssig. 64 Vgl. dazu den Kommissionsbericht (o. Fn. 7), S. 7. 60
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des nationalen Rechts nur beschränkt übermitteln. Es wird deshalb häufig notwendig sein, ergänzende Hinweise auf Beiblättern zu geben. c) Auch wegen dieser Probleme im Rahmen der Kommunikation der Gerichte empfiehlt sich die unmittelbare Beweisaufnahme durch den Tatrichter oder die unmittelbare Teilnahme an einer vom ausländischen Gericht durchgeführten Beweisaufnahme durch den Tatrichter selbst dann, wenn unter dem Gesichtspunkt der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme es nicht zwingend geboten ist, die Beweiserhebung vor Ort selbst durchzuführen.
Zur Konformität von Gesellschaftsrecht und Gemeinschaftsrecht der Wohnungseigentümer am Beispiel der Verkündung von Beschlüssen Joachim Wenzel
I. Die Konformität dogmatischer Lösungen als richterliche Aufgabe Als Apologet des Rechts in den unterschiedlichen Rechtsmaterien der Zivilsenate des Bundesgerichtshofes ist der Jubilar nicht nur in „seinen“ Rechtsstreitigkeiten, sondern auch darüber hinaus mit Fragen der Einheit der Rechtsordnung und den sich daraus ergebenden Problemen für die verfassungsrechtliche Bindung des Richters an Gesetz und Recht befasst. Diese Gesichtspunkte haben in neuerer Zeit vor allem durch die von Rüthers 1 in den Raum gestellte These von der methodischen Beliebigkeit der höchstrichterlichen Rechtsprechung einen veritablen Aktualitätsschub erhalten. Seine – rechtstatsächlich allerdings nicht mit Entscheidungen untermauerte – Fundamentalkritik ist in der Praxis – zu Recht – weitgehend auf Unverständnis gestoßen. Methodik ist zwar eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung der Bindung des Richters an Gesetz und Recht. Sie ist nur eine von verschiedenen Techniken, die im Rahmen eines fairen Verfahrens alle auf die erstrebenswerte Akzeptanz und Konsistenz der Entscheidung zielen. Sie erfordern Gleichbehandlung, innere Widerspruchsfreiheit, argumentative Stimmigkeit, Vollständigkeit der relevanten Gesichtspunkte, Kontinuität und Rechtssicherheit. Ein neben dem klassischen Kanon der Methodenlehre anerkannter Topos ist insbesondere auch die „Konformität dogmatischer Lösungen einander entsprechender Sachprobleme“.2 Er hilft Wertungswidersprüche zwischen dogmatischen Lösungen in vergleichbaren Sachgebieten zu vermeiden und steuert das Methodenprogramm „Auslegung – Rechtsfortbildung“. Denn: „Die lex, an die der Richter gebunden ist, umfasst nicht nur die geschriebene Norm, sondern auch die wertorientierte Homogenität und Vollständigkeit der Rechtsordnung insgesamt“ (Hirsch) 3. 1 Rüthers JZ 2006, 53, 60; 2008, 446; vgl. auch ders. JZ 2002, 365; 2003, 995; 2006, 958; ZRP 2008, 48. 2 Hagen FS Larenz (1973), S. 867, 868 f. 3 Hirsch JZ 2007, 853, 855.
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Die praktische Umsetzung leidet allerdings zunehmend unter der Fülle der Entscheidungen und der juristischen Datenbanken. So rekurrieren die Spruchkörper der verschiedenen Gerichte bei der Suche nach einem vergleichbaren Simile immer mehr nur noch auf die eigene Rechtsprechung. Offene oder verdeckte Divergenzen zu anderen Spruchkörpern bleiben daher nicht aus 4 oder führen horroris pleni causa zu sachverhaltsbezogenen Differenzierungen.5 Solche Entwicklungen beruhen einmal auf dem rechtsstaatlichen Zwang, trotz allen Geschäftsanfalls in angemessener Zeit zu entscheiden, und zum anderen auf der Nutzung juristischer Datenbanken. Denn die Methode „Stichwort suchen, markieren, kopieren und einfügen“ ist nicht nur hilfreich, sondern kann die Prüfungstiefe auch negativ beeinflussen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn die zu ein und demselben Stichwort gefundenen Nachweise nicht erkennen lassen, dass es hier inhaltliche Unterschiede gibt. Bleibt also die Nachprüfung aus Zeitgründen aus, ist der Grund für eine Rechtsprechungsdivergenz gelegt. So kann der Wechsel von der Litera zu Bits und Bytes nicht nur die Arbeitstechnik verändern, sondern auch das Ergebnis.6 Zwei die Konformität dogmatischer Lösungen herausfordernde Bereiche sind beispielhaft das Gesellschaftsrecht und das Recht der Bruchteilsgemeinschaft. Sie sind im BGB nicht ohne Grund hintereinander geregelt. Eine spezielle Erscheinungsform der Bruchteilsgemeinschaft ist die Wohnungseigentümergemeinschaft. Dass bei ihr das Gemeinschaftsrecht in dem Wohnungseigentumsgesetz eine besondere Ausgestaltung erfahren hat, ändert nichts an seinen strukturellen Parallelen zum Gesellschaftsrecht. Gleichwohl ist diese Nähe im Hinblick auf das sachenrechtlichte Element des Wohnungseigentumsrechts Jahrzehnte lang vernachlässigt worden. Nur so ist es zu erklären, dass das Wohnungseigentumsgesetz (WEG) auch heute noch im Münchener Kommentar zum BGB als Anhang nach §§ 854–902 BGB mitten im Buch Sachenrecht und in den Kommentaren von Ring/Grziwotz/Keukenschrijver sowie von Bamberger/Roth im Anhang zum Buch Sachenrecht kommentiert wird, während Palandt und Staudinger die Kommentierung zu Recht aus dem Zusammenhang mit dem Sachenrecht herausgelöst und verselbständigt haben. Die Parallelen zwischen dem Gesellschaftsrecht und dem Gemeinschaftsrecht der Wohnungseigentümer sind vielfältig und schon mehrfach aufgezeigt worden.7 Sie haben auch die Rechtsprechung des V. Zivilsenats geprägt.
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Vgl. BGHZ 125, 366, 375 zur Organmitgliederhaftung. Vgl. BGH NJW 2006, 1582 Rn. 17 f. zur Herausgabe gezogener Nutzungen bei Rückabwicklung. 6 Strauch FS Käfer (2009), S. 387. 7 Armbrüster FS Wenzel, S. 85 f.; Derleder PiG 63 (2002), 29 f. 5
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Beispielhaft seien nur die Entscheidungen zur Beschlussfassungskompetenz der Wohnungseigentümer,8 zur Beschlussfeststellungskompetenz des Versammlungsleiters,9 zur Beschlussqualität eines Negativbeschlusses,10 zur Stimmenzählung im Subtraktionsverfahren11 und zur Rechtsfähigkeit der Wohnungseigentümergemeinschaft12 genannt. Auch wenn hier bei vielen Problemlösungen bereits eine Konformität hergestellt worden ist, ist manches noch ungeklärt oder auch neu in Frage gestellt. Ein sich in der wohnungseigentumsrechtlichen Alltagspraxis immer wieder stellendes Problem ist das der richtigen Verkündung von Beschlüssen durch den Versammlungsleiter. Es ist bei den weit über 5 Millionen Eigentumswohnungen in teilweise großen Anlagen mit streitsüchtigen Eigentümern und immer neuen, dem Gesellschaftsrecht unbekannten Fallkonstellationen von weitreichender Bedeutung und soll deswegen hier näher beleuchtet werden.
II. Rechtliche Grundlagen 1. Gesellschaftsrecht Bei Aktiengesellschaften ist nach § 130 Abs. 1 AktG jeder Beschluss der Hauptversammlung durch eine notariell aufgenommene Niederschrift zu beurkunden. Darin sind nach § 130 Abs. 2 AktG u.a. das Ergebnis der Abstimmung und die Feststellung des Vorsitzenden der Hauptversammlung über die Beschlussfassung anzugeben. Daraus folgt, dass der Versammlungsleiter sowohl das Abstimmungsergebnis feststellen als auch das von ihm daraus abgeleitete rechtliche Beschlussergebnis verkünden, also mitteilen muss, dass der Beschlussantrag angenommen oder abgelehnt worden ist, oder sinngleich, dass ein Beschluss mit näher bezeichnetem Inhalt zustande gekommen oder nicht zustande gekommen ist. Die Verkündung des Beschlussergebnisses hat konstitutive und inhaltsfixierende Bedeutung. Dies gilt auch dann, wenn der Beschluss in Wahrheit gar nicht oder mit einem anderen als dem festgestellten Inhalt gefasst wurde. Ein verkündeter Beschluss kann nur durch eine Anfechtungsklage wieder beseitigt werden.13 Das wird allerdings nicht aus § 130 II AktG, sondern aus der kurzen Anfechtungsfrist des § 246 I AktG hergeleitet. Wegen der Frist von lediglich einem Monat müssen die
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BGHZ 145, 158 = NJW 2000, 3500. BGHZ 148, 335 = NJW 2001, 3339. 10 BGHZ 148, 335, 348 f. = NJW 2001, 3339. 11 BGHZ 152, 63 = NJW 2002, 3629. 12 BGHZ 163, 154 = NJW 2005, 2061. 13 BGHZ 76, 191, 197 = NJW 1980, 1465; MünchKomm-AktG/Kubis, 2. Aufl. (2000), § 130 Rn. 59; Hüffer AktG, 8. Aufl. (2008), § 130 Rn. 22. 9
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Anfechtungsberechtigten von einem bestimmten Beschlussergebnis als maßgebend ausgehen können.14 In gleicher Weise regelt § 51 I GenG die Anfechtung von Beschlüssen der Generalversammlung, weshalb der Feststellung des Beschlussergebnisses durch den Versammlungsleiter auch im Genossenschaftsrecht konstitutive und verbindliche Wirkung beigelegt wird.15 Ferner kann, weil die §§ 130 II, 246 I AktG nach § 36 VAG auch für den Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit Anwendung finden, für diese Personenvereinigung nichts anderes gelten.16 Im GmbH-Recht wird dagegen für Gesellschafterbeschlüsse nach überwiegender Ansicht eine Beschlussfeststellung und -verkündung nicht gefordert.17 Erfolgt sie gleichwohl mit formaler Legitimation, kommt ihr ebenfalls inhaltsfixierende Wirkung zu.18 Für die Anfechtung gibt es keine strikte Frist von einem Monat, die Klage muss vielmehr mit aller dem anfechtungsberechtigten Gesellschafter zumutbaren Beschleunigung erhoben werden.19 2. Wohnungseigentumsrecht Mit Beschluss vom 23.8.2001 20 hat der V. Zivilsenat die für die Verkündung von Beschlüssen der Aktionärshauptversammlung geltenden Grundsätze im Wesentlichen für die Wohnungseigentümerversammlung übernommen. Für eine abweichende Beurteilung gebe es keine sachliche Rechtfertigung. Die gegenteilige Meinung überfordere die Wohnungseigentümer, indem sie ihnen das – fristgebundene – Interpretations- und Bewertungsrisiko der Versammlungsniederschrift aufbürde.21 Der V. Zivilsenat stellte sich damit gegen die bis dahin anders lautende herrschende Meinung.22 Seither obliegt dem Versammlungsleiter eine gesteigerte Verantwortung für den Ablauf und den Abschluss des Beschlussverfahrens. Entscheidet er grob fehlerhaft, so können ihm, wenn er – wie regelmäßig – zugleich der Verwalter ist, nach § 49 Abs. 2 WEG die Prozesskosten des Anfechtungsprozesses aufgebürdet werden.
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Vgl. BGHZ 76, 191, 197 = NJW 1980, 1465. BGH NJW 1997, 318, 320 = LM H. 2/1997 § 39 GenG Nr. 4. 16 Merle PiG 18, 125, 129. 17 Vgl. BGHZ 76, 154 = NJW 1980, 1527; BGHZ 88, 320, 329 = NJW 1984, 489. 18 BGHZ 104, 66, 69 = NJW 1988, 1844; BGH NJW 1999, 2115, 2116. 19 BGHZ 111, 224, 225 f. = NJW 1990, 2625. 20 BGHZ 148, 335 = NJW 2001, 3339. 21 Suilmann WE 1998, 512. 22 BayObLG WuM 1999, 125; WuM 1998, 684; WuM 1996, 113, 115; KG Berlin WE 1992, 283. 15
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III. Beschlussverfahren 1. Abstimmungsverfahren Der Beschluss ist als Technik kollektiver Willensbildung die Entscheidung der Verbandsmitglieder über einen Antrag. Er setzt daher tatbestandlich voraus, dass deren Wille in einem hierfür bestimmten Verfahren artikuliert worden ist. Dazu muss im Gemeinschaftsrecht der Wohnungseigentümer entweder eine Versammlung mit einem entsprechenden förmlichen Abstimmungsverfahren oder ein schriftliches Beschlussverfahren über einen Antrag stattgefunden haben und das Ergebnis festgestellt worden sein. Eine Beschlussfassung liegt daher nicht vor, – wenn eine Versammlung nicht einberufen wurde und nur eine „ad-HocZusammenkunft“ (z.B. Gartenparty) stattfindet, – wenn in einer Versammlung über einen bestimmten Antrag nicht abgestimmt wurde, – wenn zwar abgestimmt, es sich aber ausdrücklich nur um eine Probeabstimmung zur vorläufigen Meinungsbildung handeln sollte, – wenn alle Anwesenden sich der Stimme enthalten haben 23 oder – wenn ein Abstimmungsergebnis mit der Anzahl der Ja-Stimmen nicht festgestellt worden ist.24 Die tatbestandlichen Beschlussvoraussetzungen (förmliches Verfahren, Abstimmung und Feststellung des Abstimmungsergebnisses) sind keine Wirksamkeitsvoraussetzungen.25 Sie können im Unterschied zu diesen nicht nachgeholt werden. Fehlen sie, liegt ein Beschluss nicht vor, selbst wenn ein solcher verkündet worden ist. Das gilt auch dann, wenn ein Negativbeschluss verkündet wurde, obwohl sich alle Anwesenden der Stimme enthalten hatten.26 Der Nichtbeschluss bedarf keiner Anfechtung, kann aber zur Beseitigung eines z.B. durch fehlerhafte Protokollierung entstandenen Rechtsscheins eine entsprechende Feststellungsklage rechtfertigen,27 die nicht der Anfechtungsfrist unterfällt. 2. Stimmenzählung Das Abstimmungsverfahren endet mit der Stimmenzählung. Gibt es nur eine Ja-Stimme, keine Nein-Stimme und nur Enthaltungen, so kann, wenn qualifizierte Stimmenerfordernisse nicht bestehen, auch mit dieser einen 23 24 25 26 27
Merle in: Bärmann, WEG, 10. Aufl. (2008), § 23 Rn. 114; Elzer ZMR 2009, 7, 12. OLG Düsseldorf ZWE 2000, 423, 424. A.A. Elzer ZWE 2008, 165, 166 f. Elzer ZMR 2009, 7, 12; a.A. OLG München ZMR 2007, 480, 481. OLG München ZWE 2006, 456.
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Stimme ein Mehrheitsbeschluss zustande kommen. Ist in einer ordnungsgemäß einberufenen Versammlung nur der Verwalter mit Stimmrechtsvollmachten erschienen, so können auch in einer solchen „Ein-Mann-Versammlung“ Beschlüsse gefasst werden. Die Stimmenzählung erfolgt in der Regel im Additionsverfahren. Sind in einer großen Versammlung mehr Ja-Stimmen als Nein-Stimmen und Enthaltungen abgegeben worden, so reicht das Abzählen allein der „Nein-Stimmen“ und der Enthaltungen als Feststellung nicht aus. Es erlaubt aber im Wege des Subtraktionsverfahrens ohne weitere Auszählung auch die notwendige Feststellung der Ja-Stimmen.28 Ist die Feststellung der „Ja-Stimmen“ unterblieben, kann sie auch nicht dadurch nachgeholt werden, dass im Nachhinein ermittelt wird, wie die Wohnungseigentümer, die in der Eigentümerversammlung weder mit „nein“ gestimmt, noch sich der Stimme enthalten haben, abgestimmt hätten.29 3. Gültigkeitsprüfung Mit der Zählung verbunden ist die Gültigkeitsprüfung. Ungültige Stimmen sind für das Abstimmungsergebnis ohne Bedeutung. Ungültig sind z.B. Stimmen, die den Abstimmungswillen nicht eindeutig zum Ausdruck bringen, die entgegen einem bestehenden Stimmrechtsverbot oder unter Verstoß gegen das Einheitlichkeitsgebot des § 25 Abs. 2 Satz 2 oder das Stimmrechtsverbot des § 25 Abs. 5 WEG abgegeben wurden. Ungültig ist auch eine Stimme, deren Abgabe nichtig ist oder wirksam widerrufen bzw. angefochten wurde, was bis zum Ende des Abstimmungsvorgangs (Feststellung des Abstimmungsergebnisses) möglich ist.30 Ungültig ist außerdem die von dem Nießbraucher abgegebene Stimme. Denn das Stimmrecht steht dem Eigentümer zu.31 Auch eine rechtsmissbräuchliche Stimmabgabe führt zur Ungültigkeit.32 Das ist z.B. dann der Fall, wenn ein Wohnungseigentümer der Nutzung von Kellerräumen zu Wohnzwecken zugestimmt hat, später aber für eine Unterlassung einer derartigen Nutzung stimmt.33 Rechtsmissbräuchlich ist schließlich eine unzulässige Majorisierung.34 Dagegen ist der Mehrheitseigentümer nur dann gehindert, bei seiner Bestellung oder Abberufung als Verwalter und bei der Beschlussfassung über den Abschluss oder die Beendigung des Verwaltervertrages selbst mit zu stimmen, wenn es um seine
28 29 30 31 32 33 34
BGHZ 152, 63, 65 f. = NJW 2002, 3629. OLG Düsseldorf ZWE 2000, 423, 424. BayObLG ZWE 2000, 469, 470 m. Anm. Armbrüster ZWE 2000, 455 f. BGHZ 150, 109 = NJW 2002, 1647. BGHZ 152, 46, 61 = NJW 2002, 3704. BayObLG WE 1999, 149, 150. BGHZ 152, 46, 61 = NJW 2002, 3704.
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Abberufung und/oder die Kündigung des Verwaltervertrages aus wichtigem Grund geht.35 4. Feststellung der Stimmrechtserfordernisse Die Auszählung der abgegebenen Stimmen und deren Gültigkeitsprüfung enden mit der Feststellung des Abstimmungsergebnisses. Danach hat der Versammlungsleiter die für die Beschlussfassung erforderliche Stimmenzahl festzustellen (welche Mehrheit ist für eine positive Beschlussfassung erforderlich?) und daraus das Beschlussergebnis herzuleiten, festzustellen und zu verkünden. Bei der Beschlussfassung im Wohnungseigentumsrecht gibt es unterschiedliche Stimmrechtserfordernisse. Im Grundsatz gilt das einfache Mehrheitsprinzip, soweit anderes nicht vereinbart oder gesetzlich bestimmt ist (§ 21 Abs. 3 WEG). Hier hat die Gesetzesnovelle von 2007 eine Reihe neuer Beschlusstatbestände und Stimmrechtserfordernisse geschaffen. a) Beschlussfassung nach § 21 Abs. 7 WEG Nach § 21 Abs. 7 WEG können die Wohnungseigentümer bestimmte Verwaltungsregelungen, wie z.B. den Einzug des Wohngeldes im Wege des Lastschriftverfahren, die Fälligkeit von Zahlungen oder die Vergütung der Nutzung von gemeinschaftlichen Einrichtungen mit Stimmenmehrheit beschließen. Da diese Bestimmung anders als § 21 Abs. 3 WEG nicht unter den Vorbehalt abweichender Vereinbarung gestellt ist, kann eine derartige Regelung auch dort mit Mehrheit beschlossen werden, wo eine abweichende Vereinbarung besteht. Es handelt sich insoweit um eine gesetzliche Öffnungsklausel. Die Beschlussfassung erfolgt mit „Stimmenmehrheit“. Der Begriff der Stimmenmehrheit steht im Gegensatz zu dem der Einstimmigkeit und betrifft die Stimmenzahl. Hiervon zu trennen ist das Stimmprinzip (Stimmkraft). Hier gilt entweder nach § 25 Abs. 2 Satz 1 das Kopfprinzip oder das abweichend vereinbarte Objekt- oder Wertprinzip.36 Die Vorschrift des § 21 Abs. 7 WEG ist überdies im Gegensatz zu §§ 12 Abs. 4 Satz 2, 16 Abs. 3 und 4, 22 Abs. 2 Satz 2 WEG dispositiv, so dass Abweichendes, wie z.B. das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit, vereinbart werden kann.37 Ist also in der Gemeinschaftsordnung geregelt, dass Verwaltungsmaßnahmen mit einer Mehrheit von 60 der insgesamt 100 Miteigentumsanteile beschlossen werden können, so gilt das z.B. auch für die Einführung des Lastschriftverfahrens.
35 36 37
BGHZ 152, 46 = NJW 2002, 3704. Deckert ZMR 2008, 585, 590; a.A. Häublein ZMR 2007, 409, 410 f. Merle in: Bärmann, WEG, 10. Aufl. (2008), § 21 Rn. 145.
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b) Beschlussfassung nach §§ 12 Abs. 4 Satz 2, 16 Abs. 3 WEG Die Beschlussfassung erfolgt ebenfalls mit „Stimmenmehrheit“. Anders als nach § 21 Abs. 7 WEG kann jedoch diese Befugnis durch Vereinbarung nicht „eingeschränkt oder ausgeschlossen werden“. Die Unabdingbarkeit bezieht sich nicht allein auf die Beschlusskompetenz als solche, sondern ausdrücklich auch auf das Mehrheitsprinzip.38 Da eine Einschränkung oder ein Ausschluss dieses Prinzips nur durch einen Vergleich mit der nach § 25 Abs. 2 Satz 1 WEG grundsätzlich maßgebenden Mehrheit nach Köpfen ersichtlich wird, ist ein abweichend hiervon vereinbartes Wert- oder Objektprinzip immer an dem Kopfprinzip zu messen. Insoweit gehört dieses bei den hier diskutierten Beschlusskompetenzen jeweils mit zum gesetzlichen Tatbestand.39 Unwirksam nach § 134 BGB sind daher nicht nur Abreden, die das Mehrheitsprinzip erschweren, indem sie eine qualifizierte Mehrheit vorsehen, sondern auch Stimmkraftregelungen, nach denen eine nach dem gesetzlichen Kopfprinzip erreichte Mehrheit nicht genügen würde.40 Dies gilt nicht nur für nach dem 1.7.2007 abgeschlossene Vereinbarungen, sondern auch für bereits bestehende Stimmrechtsvereinbarungen,41 sofern sie sich bei ergänzender Auslegung überhaupt auf die jeweils neuen Beschlussfassungskompetenzen erstrecken. Sieht die Gemeinschaftsordnung also ein anderes Stimmprinzip als das Kopfprinzip vor, so muss der Versammlungsleiter das Abstimmungsergebnis sowohl an den Voraussetzungen des gesetzlichen Kopfprinzips als auch an denen des vereinbarten Stimmprinzips messen. Ist nach einem der beiden Stimmprinzipien ein Beschluss zustande gekommen, ist dieser zu verkünden.42 Folgendes Beispiel mag das verdeutlichen: Nach der Gemeinschaftsordnung gilt in Beschlussangelegenheiten das Wertprinzip. Von 100 Miteigentumsanteilen gehören zwei Wohnungseigentümern (aufgrund der Größe ihrer Wohnungen) jeweils 30 Miteigentumsanteile. Den übrigen 40 Wohnungseigentümern gehört jeweils ein Miteigentumsanteil. Die Abstimmung über einen Antrag auf Änderung des vereinbarten Kostenverteilungsschlüssels oder auf Einführung der verbrauchsabhängigen Abrechnung bringt folgendes Ergebnis: Die beiden Mehrheitseigentümer stimmen mit ihren 60 Anteilen dagegen, die übrigen Wohnungseigentümer dafür. Nach dem vereinbarten Wertprinzip ist ein positiver Beschluss nicht zustande gekommen, der Antrag vielmehr abgelehnt worden. Die Regelung ist 38
BT-Drs. 16/887 S. 22, 25. Häublein ZMR 2007, 409, 410; FS Bub (2007), S. 113, 118; Merle ZWE 2009, 15, 18; a.A. Riecke/Schmid/Schneider, WEG, 2. Aufl. (2008), § 12 Rn. 68c; Derleder ZWE 2008, 253, 256. 40 Häublein FS Bub (2007), S. 113, 124; Merle ZWE 2009, 15, 19. 41 BT-Drs. 16/887 S. 21 re.Sp. (zu § 12 Abs. 4), S. 25 re.Sp. (zu § 16 Abs. 5 und 22 Abs. 2); Merle ZWE 2009, 15, 20; a.A. Häublein FS Bub (2007), S. 113, 121, der die alten Stimmkraftklauseln auf die neuen Beschlusstatbestände nicht für anwendbar hält. 42 Merle in: Bärmann, WEG, 10. Aufl. (2008), § 26 Rn. 39. 39
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jedoch insoweit wegen Verstoßes gegen zwingendes Recht nichtig, weil das vereinbarte Wertprinzip das Mehrheitsprinzip gegenüber dem Kopfprinzip einschränkt. Es kommt deswegen das Kopfprinzip zur Anwendung, nach dem der Antrag eine Mehrheit gefunden hat und ein positiver Beschluss zustande gekommen ist. Umgekehrt verbleibt es dagegen bei dem Wertprinzip, wenn die beiden Mehrheitseigentümer mit 60 Miteigentumsanteilen für den Beschlussantrag stimmen und die 40 Wohnungseigentümer dagegen. Die fragliche Stimmrechtsklausel ist deswegen im Wege der geltungserhaltenden Reduktion dahin auszulegen, dass das Wertprinzip in den genannten Fällen nur gilt, „sofern nicht bereits eine Mehrheit nach Köpfen erreicht ist“. c) Beschlussfassung nach § 16 Abs. 4, § 22 Abs. 2 Sollen die Kosten baulicher Maßnahmen abweichend von dem allgemeinen Verteilungsschlüssel verteilt oder eine Modernisierung beschlossen werden, so bedarf der Beschluss einer Mehrheit von 3/4 aller stimmberechtigten Wohnungseigentümer und mehr als der Hälfte der Miteigentumsanteile. Damit soll verhindert werden, dass eine Mehrheit nach Köpfen einer Minderheit eine zusätzliche Kostenlast auferlegt, welche die Mehrheit der Miteigentumsanteile innehat. Anders als bei einer Beschlussfassung nach § 16 Abs. 3 WEG ist hier durch den Verweis auf § 25 Abs. 2 WEG neben der einfachen Mehrheit nach Miteigentumsanteilen zwingend eine qualifizierte Mehrheit nach Köpfen vorgeschrieben. Soll also in dem genannten Beispiel die Tiefgarage auf Kosten der sie nutzenden 40 Wohnungseigentümer saniert werden und stimmen für den Antrag nur die beiden Mehrheitseigentümer mit zusammen 60 Miteigentumsanteilen, ist zwar eine Mehrheit nach dem vereinbarten Wertprinzip für die Durchführung der Sanierung als bauliche Veränderung nach § 22 Abs. 1 WEG gegeben, nicht aber auch für die Verteilung der Kosten, weil es hierfür nach dem Gesetz neben einer einfachen Mehrheit nach Miteigentumsanteilen einer qualifiziertem Mehrheit nach Köpfen bedarf. Was demzufolge als Beschlussergebnis zu verkünden ist, beurteilt sich gemäß § 139 BGB danach, ob die Entscheidung über die Sanierung von der entsprechenden Kostenverteilung abhängen sollte. Die daraus erwachsende Rechtsunsicherheit und das Haftungsrisiko kann der Versammlungsleiter vermeiden, indem er über beides getrennt abstimmen und den Beschluss unter dem Vorbehalt der entsprechenden Kostenverteilung fassen lässt. Umstritten ist, ob durch Vereinbarung sowohl auf das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit nach Köpfen als auch auf die Korrelation zu einer Anteilsmehrheit verzichtet werden kann. Die überwiegende Meinung 43 be43 Becker in: Bärmann WEG, 10. Aufl. (2008), § 16 Rn. 129; Deckert ZMR 2008, 585, 591; Hügel/Elzer Das neue WEG-Recht (2007), § 5 Rn. 83; a.A. Derleder ZWE 2008, 253, 257.
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jaht dies. Dem ist zu folgen, weil dies dem Willen des Gesetzgebers entspricht 44 und dieser in dem Wortlaut auch hinreichenden Ausdruck gefunden hat. 5. Verkündung des Beschlussergebnisses a) Rechtliche Bedeutung Die Verkündung des Beschlussergebnisses ist, wie bereits dargestellt, nach herrschender Meinung im Gesellschaftsrecht und im Wohnungseigentumsrecht konstitutiv und inhaltsfixierend.45 Die bloße Mitteilung des Abstimmungsergebnisses genügt hierfür nicht,46 kann aber den Schluss auf eine zumindest konkludent erfolgte Verkündung zulassen (s. unter III 5b). Umstritten ist die rechtliche Einordnung der konstitutiven Wirkung: Gehört die Verkündung zum Beschlusstatbestand,47 zum Existentwerden 48 oder zur Wirksamkeit 49 des Beschlusses? Nach Ansicht des V. Zivilsenats komplettiert sie „den Tatbestand für das Entstehen eines Eigentümerbeschlusses“,50 gehört also als Entstehensvoraussetzung zum Beschlusstatbestand. Im Gesellschaftsrecht ist die Einordnung dagegen nicht so eindeutig. Überwiegend wird die Verkündung als Wirksamkeitsvoraussetzung behandelt.51 Diese Divergenz sollte jedoch nicht zu falschen Schlussfolgerungen verleiten. Die Unterscheidung zwischen Entstehen, Existentwerden und Wirksamkeit von Beschlüssen ist für den bei Versammlungsbeschlüssen notwendigen Verkündungsakt unbehelflich, weil hier alle Zeitpunkte zusammenfallen. Das bedeutet andererseits, dass die Verkündung des Beschlussergebnisses auch nicht nur Wirksamkeitsvoraussetzung sein kann. Deswegen ist ein nicht verkündeter Beschluss nicht wie beim Fehlen anderer – nachholbarer – Wirksamkeitsvoraussetzungen (wie z.B. die vereinbarte Protokollierung52 oder etwa erforderliche Zustimmungserklärungen53) schwebend unwirksam,54 sondern in statu nascendi „hängen 44
BT-Drs. 16/887 S. 25. MünchKomm-AktG/Kubis, 2. Aufl. (2000), § 130 Rn. 59. 46 MünchKomm-AktG/Kubis, 2. Aufl. (2000), § 130 Rn. 58. 47 So wohl Deckert ZMR 2008, 585, 589: „Entstehungsvoraussetzung“; Elzer ZMR 2008, 1004; anders dagegen ders. ZWE 2007, 165, 167, 172 f.: „Wirksamkeitsvoraussetzung“. 48 MünchKomm-AktG/Kubis, 2. Aufl. (2000), § 130 Rn. 58. 49 So Merle in: Bärmann, WEG, 10. Aufl. (2008), § 23 Rn. 42. 50 BGHZ 148, 335 = NJW 2001, 3339, 3342 f. 51 MünchKomm-AktG/Kubis 2. Aufl. (2000), § 130 Rn. 59 anders als Rn. 58 „nicht existent“; Grundmann in: AktG Großkommentar, 4. Aufl. (2008), § 133 Rn. 131; a.A. Zöllner FS Lutter (2000), S. 821, 829 f., der allerdings die richtige Einordnung offen lässt. 52 BGHZ 136, 187 = NJW 1997, 2956. 53 Merle in: Bärmann, WEG, 10. Aufl., § 23 Rn. 119. 54 A.A. Becker/Kümmel/Ott, Wohnungseigentum (2003), Rn. 104; Merle in: Bärmann, WEG, 10. Aufl. (2008), § 23 Rn. 117, 118. 45
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geblieben“. Es ist ein unvollständiger Beschluss, nicht dagegen ein Nichtbeschluss,55 allenfalls ein Noch-Nichtbeschluss. Anders sieht es im Gesellschaftsrecht Zöllner,56 wenn er den Beschluss zumindest in den Fällen für wirksam hält, in denen die Feststellung und Verkündung wegen gravierender Zweifelhaftigkeit des Beschlussergebnisses offen geblieben ist. Dem ist jedoch nicht zuzustimmen. Hält man die Verkündung des Beschlussergebnisses zu Recht für konstitutiv (s. unter III 7a), kann ein nicht verkündeter Beschluss nur dann wirksam sein, wenn die Feststellung und Verkündung ausnahmsweise entbehrlich ist. Das ist aber nicht schon bei gravierender Zweifelhaftigkeit des Beschlussergebnisses der Fall, sondern nur, wenn die Wohnungseigentümer sich über das Beschlussergebnis nachweisbar einig sind.57 Das ist in der Regel nur bei Einstimmigkeit der Fall. Ist ein Beschlussergebnis dagegen verkündet worden, ist es selbst dann vorläufig wirksam, wenn die Verkündung dem tatsächlichen Abstimmungsergebnis in Wahrheit nicht entspricht. b) Form Die Verkündung ist ein förmlicher mündlicher Akt, der in der Versammlung erfolgen muss. Dies gilt auch für eine Einmann-Versammlung. Hier ist zwar die Stimmabgabe keine empfangsbedürftige Willenserklärung. Unverzichtbar ist aber die Kundgabe der Stimmabgabe in der Versammlung, mit der die Willenserklärung abgegeben und der Eigentümerbeschluss gefasst ist.58 Die Kundgabe kann durch schriftliche Niederlegung der Abstimmung oder durch vorläufige Aufzeichnung auf einem Ton- oder Datenträger geschehen oder einer anwesenden Protokollführerin diktiert werden. Es reicht nicht aus, dass der Versammlungsteilnehmer später nur eine Niederschrift über Eigentümerbeschlüsse abfasst. Ist die Feststellung und Verkündung des Beschlussergebnisses im Protokoll nicht ausdrücklich festgehalten, so besagt dies nicht, dass der Beschluss nicht verkündet worden ist. Denn die Protokollierung ist, sofern nichts anderes vereinbart wurde, keine Wirksamkeitsvoraussetzung.59 Ist umgekehrt ein klares Abstimmungsergebnis protokolliert, so greift bei Fehlen entgegenstehender Anhaltspunkte eine tatsächliche Vermutung ein, dass auch eine entsprechende Beschlussfeststellung zumindest konkludent erfolgt ist.60
55 A.A. NK-BGB-Schultzky 2. Aufl. (2008), § 23 WEG Rn. 12; z.T. auch Bub FS Seuß (2007), S. 53, 69. 56 Zöllner FS Lutter (2000), S. 821, 830. 57 Becker ZWE 2006, 157, 159. 58 BayObLG NJW-RR 1996, 524, 525; OLG München NZM 2008, 577. 59 OLG Hamm ZMR 2009, 58, 60. 60 Kritisch Becker ZWE 2006, 157, 159; F. Schmidt ZWE 2006, 164 f.
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Diese Rechtsprechung 61 hat unter dem neuen WEG-Recht weiter Geltung. Aus der Tatsache, dass der Wortlaut der „verkündeten Beschlüsse“ nach § 24 Abs. 7 Nr. 1 WEG in die Beschluss-Sammlung aufzunehmen ist, folgt nicht, dass die Feststellung und Verkündung des Beschlussergebnisses ausdrücklich protokolliert werden muss, auch wenn dies ratsam ist. Voraussetzung für die Vermutung ist jedoch, dass der protokollierte Inhalt bei objektiver Betrachtung keine Zweifel hinsichtlich des Beschlussergebnisses aufkommen lässt. Ist bei einer alle Wohnungseigentümer beeinträchtigenden baulichen Veränderung (§ 22 Abs. 1 WEG) ein Abstimmungsergebnis von 10 Ja-Stimmen, 5 Nein-Stimmen und 5 Enthaltungen protokolliert, ist der Schluss auf eine konkludente Feststellung und Verkündung eines – anfechtbaren – Mehrheitsbeschlusses unzulässig, weil das Protokoll auch den Schluss zulässt, dass ein positiver Beschluss nicht festgestellt und verkündet werden sollte.62 Im schriftlichen Verfahren kommt ein Beschluss ebenfalls erst mit der Feststellung und einer an alle Wohnungseigentümer gerichteten Mitteilung des Beschlussergebnisses zustande. Die Form der Mitteilung ist nicht vorgegeben, es genügt die Unterrichtung durch üblichen Aushang oder ein Rundschreiben, das den internen Geschäftsbereich des Feststellenden verlassen hat. 6. Fehlende Verkündung a) Pflicht des Versammlungsleiters Die Verkündung des Beschlussergebnisses gehört zu den Pflichten des Versammlungsleiters. Hiervon darf er nur absehen, wenn die Anwesenden sich über das Ergebnis einig sind, wenn das Beschlussergebnis evident nichtig ist oder wenn von ihm bei objektiver Betrachtung eine zuverlässige Bewertung des Abstimmungsergebnisses wegen außergewöhnlicher tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten nicht erwartet werden kann. Hält er aufgrund des Abstimmungsergebnisses die erforderliche Mehrheit nicht für erreicht, verlangen die Wohnungseigentümer aber gleichwohl die Verkündung eines positiven Beschlussergebnisses, hat er auf die Bedenken hinzuweisen. Notfalls darf er die Versammlungsleitung niederlegen.63 Er braucht nicht gegen seine Überzeugung zu verkünden. Die Wohnungseigentümer können dann einen verkündungswilligen Versammlungsleiter wählen oder Ergebnisfeststellungsklage erheben. Weigert sich der Versammlungsleiter dagegen grundlos, können die Wohnungseigentümer ihn abberufen.64
61 62 63 64
BGHZ 148, 335, 345 f. = NJW 2001, 3339. Becker ZWE 2006, 157, 158. A.A. Deckert ZMR 2008, 585, 592. Vgl. AG Hamburg-Blankenese ZMR 2008, 918.
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b) Ergebnisfeststellungsklage Ist bei positivem Abstimmungsergebnis eine Verkündung nicht erfolgt, aber auch nicht entbehrlich (s. oben III 5a), können die Wohnungseigentümer nach h.M. wie Gesellschafter im Gesellschaftsrecht das Beschlussergebnis gerichtlich feststellen lassen.65 Für eine negative Ergebnisfeststellung besteht dagegen in der Regel kein Rechtsschutzbedürfnis. Die positive Ergebnisfeststellungsklage weist prozessuale Besonderheiten auf. Sie ist eine Feststellungsklage nach § 256 ZPO, obwohl sie nur in dem Fall eine rechtsbezeugende, deklaratorische Wirkung hat, in dem die Verkündung nicht konstitutiv wirkt, sondern entbehrlich ist. In allen anderen Fällen zielt sie weder auf eine bloße deklaratorische Rechtsbezeugung noch auf eine Verpflichtung des Versammlungsleiters zur Verkündung. Sie ist vielmehr auf die Vervollständigung einer „hängen gebliebenen“ Beschlussfassung durch Ersetzung der fehlenden Verkündung gerichtet, hat also in Wahrheit rechtsgestaltenden Charakter. Das macht sie aber noch nicht zur Gestaltungsklage.66 Denn auch Feststellungsklagen können einen Gestaltungsanspruch zum Gegenstand haben.67 Gegenstand der Beschlussergebnisfeststellungsklage ist wie bei der Anfechtungsklage letztlich der Anspruch nach § 21 Abs. 4 WEG auf ordnungsgemäße Verwaltung. Denn auch die Verkündung des Beschlussergebnisses ist eine Maßnahme ordnungsgemäßer Verwaltung. Die Gestaltungswirkung wird im Gesellschaftsrecht in den Fällen fehlerhafter Verkündung aus einer Analogie zu § 248 AktG hergeleitet.68 Entsprechendes muss in Wohnungseigentumssachen für die positive Ergebnisfeststellungsklage bei fehlender Verkündung gelten, nur dass sich hier die Gestaltungswirkung auf eine Analogie zu §§ 46, § 21 Abs. 8 WEG stützen lässt. Die Ergebnisfeststellungsklage ist daher eine rechtsgestaltende Feststellungsklage mit dem Ziel, sinngemäß festzustellen, „dass in der Eigentümerversammlung zu TOP … ein Beschluss folgenden Inhalts: … gefasst wurde“ oder „dass in der Eigentümerversammlung zu TOP … die Jahresabrechnung … genehmigt wurde.“ Die Klage ist nicht an die Anfechtungsfrist gebunden.69 Das Gericht hat zu prüfen, was der Versammlungsleiter hätte verkünden müssen. Durch die gerichtliche Entscheidung wird die fehlende Verkündung ersetzt, und zwar mit Wirkung ex tunc bezogen auf den Schluss der Eigentümerversammlung. Umstritten ist, ob das Gericht zugleich abschließend über die Rechtmäßig65 BGH NJW 1996, 259 zum Gesellschaftsrecht; BGHZ 148, 335 = NJW 2001, 3339, 3342 f. zum Wohnungseigentumsrecht. 66 A.A. AG Hamburg-Blankenese ZMR 2008, 1001, 1002; Hügel/Elzer Das neue WEGRecht (2007), § 13 Rn. 176 Fn. 299; Elzer ZMR 2008, 1004 (Anm.). 67 Baumbach/Lauterbach/Hartmann, ZPO, 67. Aufl. (2009), Grundz § 253 Rn. 9. 68 BGHZ 97, 28 = NJW 1986, 2051, 2052. 69 Wenzel in: Bärmann, WEG, 10 Aufl. (2008), § 46 Rn. 41.
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keit entscheiden darf, so dass mit Rechtskraft der Entscheidung keine neue Anfechtungsmöglichkeit mehr entsteht.70 Eine höchstrichterliche Entscheidung hierzu steht zumindest für das Wohnungseigentumsrecht noch aus. c) Inzidente Wirksamkeitsprüfung Vorzugswürdig ist die Auffassung, nach der aus Gründen der Verfahrensökonomie und der Effektivität des Rechtsschutzes es zulässig ist, für den Fall des Zustandekommens zugleich über die materielle Rechtmäßigkeit des Beschlusses zu entscheiden. Dies vermeidet ein zweites Klageverfahren71 und entspricht den gesellschaftsrechtlichen Grundsätzen bei verkündeten Beschlüssen.72 Die hiergegen vorgebrachte Kritik,73 dass vor dem vollständigen Entstehen des Beschlusses dessen Rechtmäßigkeit nicht geprüft werden könne, greift nicht. Denn Gegenstand einer gerichtlichen Feststellung kann auch ein bedingtes Rechtsverhältnis sein.74 Ein wegen fehlender Verkündung unvollständiger Beschluss begründet ein solches durch das endgültige Zustandekommen bedingtes Rechtsverhältnis. Seine Rechtswirksamkeit kann daher auch schon vor Rechtskraft der Entscheidung über das Zustandekommen festgestellt werden. Ein Interesse hieran besteht dann, wenn dem Rechtsverhältnis eine gegenwärtige Gefahr der Unsicherheit droht und wenn das erstrebte Urteil diese Gefahr beseitigen kann.75 Eine solche Gefährdung liegt dann vor, wenn die Beklagten nicht nur das Zustandekommen, sondern zugleich auch (hilfsweise) die Rechtswirksamkeit des in Gang zu setzenden Beschlusses bestreiten und hierzu Nichtigkeits- oder Anfechtungstatsachen einredeweise geltend machen. Für diesen Fall erstreckt sich die positive Ergebnisfeststellungsklage (hilfsweise) auch auf die Rechtswirksamkeit des Beschlusses. Einer Zwischenfeststellungswiderklage bedarf es hierzu nicht. Die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür liegen auch nicht vor.76 Die Rechtmäßigkeit des in Geltung zu setzenden Beschlusses ist für das Zustandekommen nicht vorgreiflich. Für die gleichwohl zulässige Rechtmäßigkeitsprüfung 70 Bejahend OLG München NJW-RR 2007, 594 = NZM 2007, 365; Becker ZWE 2002, 93, 97; ders. ZWE 2006, 157, 161; Abramenko ZMR 2004, 789, 792; Jennißen/Suilmann WEG (2008), § 46 Rn. 141; Niedenführ/Kümmel/Vandenhouten WEG, 8. Aufl. (2007), § 43 Rn. 72; verneinend Deckert ZMR 2003, 153, 158; Müller NZM 2003, 222, 225; Riecke/ v.Rechenberg MDR 2002, 310; Riecke WE 2004, 34, 39; Jennißen/Elzer WEG (2008), vor §§ 23 bis 25 Rn. 67. 71 An der gegenteiligen Auffassung in ZWE 2000, 382, 385 wird nicht mehr festgehalten. 72 BGHZ 76, 191, 201 = NJW 1980, 1465, 1468; 97, 28, 30 f. = NJW 1986, 2051, 2052. 73 Deckert ZMR 2003, 153, 158; Müller NZM 2003, 222, 225; Riecke/v.Rechenberg MDR 2002, 310; Riecke WE 2004, 34, 39; Jennißen/Elzer WEG (2008), Vor §§ 23 bis 25 Rn. 67; ders. ZMR 2008, 1004, 1005. 74 BGH NJW-RR 2005, 637, 638. 75 BGHZ 69, 144 = NJW 1977, 1881 mwN; BGH, NJW 1984, 1118; NJW-RR 2005, 637, 638. 76 A.A. OLG München NJW-RR 2007, 594 = NZM 2007, 365.
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genügt die bloße Mängelrüge der Beklagten. Hierzu hat das Gericht die Partei im Parteiprozess jedoch nicht aufzufordern. Enthält der Streitstoff aber Anhaltspunkte für das Vorliegen von Beschlussmängeln, kann in dem Klageabweisungsantrag – gegebenenfalls nach entsprechendem Hinweis – eine entsprechende Rüge gesehen werden. Das Gericht muss den Parteien dann Gelegenheit geben, sich hierauf einzustellen und zu etwaigen Nichtigkeits- oder Anfechtungsgründen weiter vorzutragen.77 Liegen solche Gründe vor, so ist die positive Ergebnisfeststellungsklage als unbegründet abzuweisen,78 weil für die Feststellung des Zustandekommens eines rechtswidrigen Beschlusses kein schützenswertes Interesse mehr besteht. Rechtfertigen die vorgetragenen Tatsachen dagegen nicht den Schluss auf eine Nichtigkeit oder Ungültigkeit, ist festzustellen, dass ein wirksamer Beschluss gefasst worden ist. 7. Fehlerhafte Verkündung a) Vorläufige Transformationswirkung Die Richtigkeit der Verkündung ist kein Beschlussmerkmal. Verkündet der Versammlungsleiter bei negativem Abstimmungsergebnis einen positiven Beschluss, so liegt ein vorläufig wirksamer Beschluss vor. Das gilt selbst dann, wenn eine besonders qualifizierte Mehrheit oder wie im schriftlichen Beschlussverfahren79 Einstimmigkeit vorgeschrieben ist. Denn die notwendige Stimmenmehrheit (Stimmenquorum) ist für die Beschlussfassung nicht kompetenzbegründend. Der – zu Unrecht – verkündete positive Beschluss ist also nicht mangels Beschlussfassungskompetenz nichtig,80 sondern nur anfechtbar.81 Durch die konstitutive Wirkung der falschen Verkündung wird auf diese Weise eine negative Beschlussfassung in eine positive transformiert wie umgekehrt eine positive Beschlussfassung durch Verkündung eines Negativbeschlusses in ihr Gegenteil erwächst. Dieser richterrechtlich im Wege der Rechtsfortbildung sowohl im Gesellschaftsrecht als auch im Wohnungseigentumsrecht82 vollzogene „heuristische Sprung“ ist logisch nicht zu begründen.83 Er entspricht aber einem praktischen Bedürfnis und dem Interesse an Rechtssicherheit, vor allem derjenigen, die an der Versammlung nicht teilgenommen haben, wie auch der Sondernachfolger von Wohnungseigen77
Vgl. Suilmann BGHReport 2001, 866 f. Jennißen/Suilmann WEG (2008), § 46 Rn. 142. 79 Merle in: Bärmann, WEG, 10. Aufl. (2008), § 23 Rn. 104. 80 Vgl. BGHZ 145, 158 = NJW 2000, 3500. 81 BGHZ 148, 335, 351; LG München I ZMR 2008, 915; Deckert ZMR 2008, 585, 591; a.A. Elzer ZWE 2008, 165, 176; ders. ZMR 2009, 7, 12; Derleder ZWE 2008, 253, 258. 82 BGH NJW 2001, 3339, 3341 f. 83 Vgl. Elzer ZWE 2007, 165, 172. 78
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tümern.84 Wäre die Feststellung nicht konstitutiv, müssten die Wohnungseigentümer auf eigenes Risiko eine eigene Interpretation und Bewertung des Abstimmungsergebnisses innerhalb laufender Anfechtungsfrist vornehmen. Sie sind damit aber in der Regel überfordert. Sowohl die Ermittlung des richtigen Abstimmungsergebnisses als auch seine Beurteilung anhand der rechtlichen Mehrheitserfordernisse setzen Rechtskenntnisse voraus, die von den Eigentümern weder erwartet werden können noch verlangt werden dürfen. So hinge der Rechtsschutz von einer Kenntnis der Grundsätze über die Wirksamkeit von Stimmrechtsausschlüssen und missbräuchlichen Stimmabgaben ab. Das lässt sich mit dem berechtigten Interesse aller Beteiligten an Rechtssicherheit nicht vereinbaren. Dieses verlangt vielmehr, der Bewertung, Feststellung und Verkündung durch den Versammlungsleiter einen vorläufig verbindlichen Charakter zuzusprechen. Hält ein Wohnungseigentümer die Beschlussfeststellung für falsch, kann er noch in der Versammlung beantragen, dies festzustellen und einen anderen Versammlungsleiter zu bestellen. b) Ergebnisberichtigungsklage Die Rechtswirkungen eines unrichtig festgestellten und verkündeten Beschlusses können wie im Gesellschaftsrecht auch im Wohnungseigentumsrecht nur durch eine fristgebundene Anfechtungsklage beseitigt werden.85 Mit ihr darf eine positive Feststellungsklage verbunden werden mit dem Ziel, verbindlich zu klären, was in Wahrheit beschlossen worden ist.86 Beides zusammen kann man als Ergebnisberichtigungsklage bezeichnen.87 Ist der Beschlussantrag in Wahrheit abgelehnt, also ein Negativbeschluss gefasst worden, fehlt für eine dahingehende Feststellung allerdings das Rechtsschutzbedürfnis. Denn der Negativbeschluss enthält keine materielle Regelung.88 Zum Charakter einer zulässigen Ergebnisfeststellungsklage gilt dasselbe wie zu der Ergebnisfeststellungsklage bei fehlender Verkündung (siehe unter III 6b). Sie ist ebenfalls eine rechtsgestaltende positive Feststellungsklage und hat vor allem für die Anfechtung von Negativbeschlüssen Bedeutung, weil für eine nur auf die Ungültigerklärung des Negativbeschlusses beschränkte Anfechtungsklage das Rechtsschutzbedürfnis fehlt.89
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Dies vernachlässigt die Kritik von Elzer ZWE 2007, 165, 174. OLG Hamm OLGZ 1979, 296, 299; OLGZ 1990, 180, 182; Becker ZWE 2002, 93, 96; Wenzel ZWE 2000, 382, 386; Niedenführ/Kümmel/Vandenhouten WEG, 8. Aufl. (2007), § 43 Rn. 73. 86 BGHZ 76, 191, 201 = NJW 1980, 1465; 97, 28, 30 f. = NJW 1986, 2051, 2052; BayObLG ZMR 2004, 125, 126. 87 Vgl. Zöllner FS Lutter (2000), S. 821, 831: „Ergebnisrichtigstellungsklage“. 88 Wenzel in: Bärmann, WEG, 10. Aufl. (2008), § 43 Rn. 93. 89 Wenzel ZWE 2000, 382, 386; ZMR 2005, 413. 85
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Die h.M. ist auch im Gesellschaftsrecht nicht ohne Kritik geblieben. So vertritt namentlich Zöllner 90 die Ansicht, Fehler bei der Ergebnisfeststellung seien keine Beschlussmängel, weil es nicht um die Willensbildung selbst gehe. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Anfechtungsklage nicht nur bei materiellen Beschlussmängeln greift, sondern auch formelle Mängel zum Gegenstand haben kann, ohne dass insoweit eine „theoretische Ungenauigkeit“ hingenommen werden müsste. Im Rahmen der mit einer Anfechtungsklage verbundenen positiven Beschlussfeststellungsklage ist ebenso wie bei der wegen fehlender Verkündung zulässigen isolierten Beschlussfeststellungsklage nicht nur zu klären, ob ein positiver Beschluss zustande gekommen ist, sondern bejahendenfalls zugleich über die materielle Rechtmäßigkeit des Beschlusses zu entscheiden, wenn die Beklagten entsprechende Mängel geltend machen.91 8. Schlusswort Die Parallelen von Gesellschaftsrecht und Gemeinschaftsrecht der Wohnungseigentümer erschöpfen sich zwar nicht in dem Beschlussrecht, sind für die Suche nach konformen Lösungen gleich gelagerter Rechtsfragen aber ein gutes Beispiel. Konformität gewährleistet Widerspruchsfreiheit, Gleichbehandlung und Rechtssicherheit. Sie kann dazu führen, dass dogmatische Ungenauigkeiten hinzunehmen sind, wenn eine übereinstimmende Korrektur über die verschiedenen Rechtsgebiete hinweg nicht zu erreichen ist. Sie sind jedenfalls kein zwingender Grund, die Konformität aufzugeben. Von daher wird das Wohnungseigentumsrecht als die „jüngere“ Rechtsmaterie in vielen Bereichen weiter auf die entwickelten Grundsätze des „älteren“ Gesellschaftsrechts zurückgreifen müssen. Das wird auch das Verfahrensrecht betreffen, das im Wohnungseigentumsrecht durch die Novelle in die ZPO überführt worden ist. Soweit hier in den Tatsacheninstanzen gelegentlich eine Neigung anzutreffen ist, im Hinblick auf die Neuerungen eigene Verfahrensgrundsätze zu entwickeln, ist letztlich der Bundesgerichtshof im Rahmen seiner vorerst allerdings auf zugelassene Revisionsverfahren beschränkten Möglichkeiten aufgerufen, die Konformität herzustellen. Auch hieran wirken die beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälte weiterhin maßgeblich und verantwortungsvoll mit. Denn obwohl Rüthers 92 beklagt, dass im Streitfall Recht ist, „was die letzten Instanzen ‚im Namen des Volkes‘ für Recht erklären“, ist mit Kriele 93 festzuhalten: „Gewiss, so sollte es auch sein. Eine bessere Alternative hat uns bisher noch niemand zeigen können.“ 90
Zöllner FS Lutter (2000), S. 821, 830. Becker ZWE 2006, 157, 161; a.A. Elzer ZMR 2008, 1004, 1005 f.; ders. in: Jennißen, WEG (2008), Vor §§ 23 bis 25 Rn. 67. 92 Rüthers ZRP 2008, 48. 93 Kriele ZRP 2008, 51, 53. 91
V. Kirche, Kultur und Recht
Zwischenkirchliche Vereinbarungen – ein Weg zu mehr ökumenischer Gemeinsamkeit? Hanns Engelhardt I. 1. Am 20.9.1984, einen Tag nach seinem Geburtstag vor 25 Jahren, überreichte der heutige Jubilar mir ein Exemplar seines Buches „Gegenwärtige Abendmahlsordnung in der Evangelischen Kirche in Deutschland“. Persönlich kannten wir uns zu dieser Zeit wenig länger als ein Jahr; indes hatte der Jubilar sich bereits in seinem 1973 erschienenen Buch mit einem Artikel (kritisch) auseinandergesetzt, den ich 1966 in der Zeitschrift „lutherische monatshefte“ veröffentlicht hatte 1. Auch in diesem Artikel ging es um die Abendmahlsordnung in der Evangelischen Kirche in Deutschland. Im Mittelpunkt meines Interesses hatte gestanden, dass diese Abendmahlsordnung, da sie das Verhältnis der einzelnen in der EKD zusammengeschlossenen Landeskirchen betraf, als zwischenkirchliches Recht angesehen werden konnte und sich daher die Frage nach dem Verhältnis von innerkirchlichem und zwischenkirchlichem Recht stellte. Mit allgemeinen Gesichtspunkten dieser Problematik habe ich mich wenig später in einem Artikel in der Ecumenical Review befasst.2 2. Da die verschiedenen rechtlich unabhängigen Kirchengemeinschaften einander – zumindest auf den ersten Blick – in ähnlicher Weise gegenüberstehen wie die souveränen Staaten, liegt es nahe, bei der Betrachtung des zwischen ihnen geltenden Rechts das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht vergleichend heranzuziehen. Herkömmlich gibt es über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht verschiedene Auffassungen: eine dualistische und eine Mehrzahl monistischer Lehren.3 Nach der dualistischen Lehre stellen internationales und innerstaatliches Recht unterschiedliche Rechtsordnungen dar, die unabhän1
lutherische monatshefte 1966, 217, 458. The Lawyer’s Contribution to the Progress of Christian Unity, EcRev 1969, 7–22. Zur Problematik des Begriffs „zwischenkirchlich“ vgl. unten IV 3. 3 Vgl. Partsch International Law and Municipal Law, in: Encyclopedia of Public International Law (EPIL) Vol. 2, Amsterdam u.a.: Elsevier 1995, S. 1183 ff. 2
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gig voneinander bestehen, so dass völkerrechtliche Normen nur durch eine spezielle Transformation im innerstaatlichen Bereich wirksam werden können. Die monistischen Lehren haben gemeinsam, dass sie internationales und innerstaatliches Recht als eine einheitliche Rechtsordnung ansehen; die vom radikalen Monismus vertretene Folgerung, dass völkerrechtswidriges Landesrecht ab initio null und nichtig sei, wird allerdings nicht von allen monistischen Lehren geteilt. Sobald man aber nur eine völkerrechtliche Verpflichtung annimmt, Vereinbartes auch innerstaatlich umzusetzen, verringert der Unterschied zwischen den verschiedenen Lehren sich beträchtlich. Der Grundsatz pacta sunt servanda umfasst auch die Verpflichtung der Staaten, völkerrechtliche Verträge bona fide auszuführen (Art. 26 Wiener Vertragsrechtskonvention). Die Durchführung dieses Grundsatzes im innerstaatlichen Bereich unterliegt allerdings der Entscheidungshoheit des jeweiligen Staates. Verträge können zu einer bestimmten Gesetzgebung verpflichten. Zweifelhaft ist allenfalls, welche Sanktionen bei Verletzung dieser Verpflichtung zur Verfügung stehen. Dies gilt insbesondere, wenn die beteiligten Staaten sich nicht allgemein oder für den in Frage stehenden Vertrag einer internationalen Gerichtsbarkeit oder Schiedsgerichtsbarkeit unterworfen haben. 3. Für die kirchlichen Rechtsbeziehungen 4 zwischen verschiedenen Kirchengemeinschaften bedeutet das, dass jedenfalls nach den Grundsätzen der dualistischen Lehre zwischenkirchliche Vereinbarungen, die sich innerkirchlich auswirken sollen, in innerkirchliches Recht umgesetzt werden müssen. Durch die innerkirchliche Umsetzung wird die zwischenkirchliche Verpflichtung erfüllt. Wird die Vereinbarung nicht innerkirchlich umgesetzt oder gar mit ihr unvereinbares Recht gesetzt, so wird die zwischenkirchliche Verpflichtung verletzt; aber sie bleibt bestehen.
II. Concordatum est mater rixarum – das Konkordat ist die Mutter des Zwistes, sagt ein altes Sprichwort.5 Diese Erfahrung legt es nahe, die Eignung zwischenkirchlicher Vereinbarungen zur Förderung kirchlicher Einheit genauer zu untersuchen. Ich wähle dazu mehrere Beispiele aus jüngster Zeit. 1. Die (anglikanische) Episkopalkirche in den Vereinigten Staaten von Amerika, eine unabhängige Provinz der weltweiten Anglikanischen Kirchen-
4 Für bürgerliche Rechtsbeziehungen, z.B. die Übertragung von Vermögensgegenständen, gilt das jeweils in Frage kommende weltliche Recht. 5 Vgl. Erler Kirchenrecht, 5. Aufl., München 1983, S. 119.
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gemeinschaft 6, und die Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika (ELCA) 7 haben ein Concordat mit dem Titel „Called to Common Mission“ (CCM) geschlossen, durch das „full communion“ hergestellt werden sollte. Der ursprüngliche Vorschlag einer Vereinbarung zur Herstellung von „full communion“ zwischen den beiden Kirchen trug die Bezeichnung „Concordat of Agreement“. Er wurde 1997 von der General Convention der Episkopalkirche mit überwältigender Mehrheit angenommen, verfehlte aber in der Churchwide Assembly der ELCA die erforderliche Zweidrittelmehrheit. Ein revidierter Text unter dem Titel „Called to Common Mission: A Lutheran Proposal for a Revision of the Concordat of Agreement” wurde von der lutherischen Churchwide Assembly 1997 mit Zweidrittelmehrheit (Ja: 716, Nein: 317) angenommen und danach auch von der General Convention der Episkopalkirche gebilligt. Den Begriff „full communion“ verstehen die Vertragspartner als „eine Beziehung zwischen verschiedenen Kirchen, in der jede die andere als eine katholische und apostolische Kirche anerkennt, die die Essentialia des christlichen Glaubens bewahrt. In dieser neuen Beziehung werden die Kirchen interdependent und bleiben doch autonom. Full communion schließt die Einrichtung anerkannter Organe regelmäßiger Konsultation und Kommunikation auf örtlicher und regionaler Ebene ein – einschließlich bischöflicher Kollegialität, um die Gemeinschaft (fellowship) auszudrücken und zu stärken und gemeinsames Zeugnis, Leben und Dienen zu ermöglichen.“ (Nr. 2) Die vertragschließenden Kirchen erkennen bei der jeweils anderen die Essentialia „des einen katholischen und apostolischen Glaubens“ an. Dabei wird ausdrücklich auf das ungeänderte Augsburger Bekenntnis, den Kleinen Katechismus Luthers und das Book of Common Prayer der Episkopalkirche von 1979 Bezug genommen und als Bestandteile des letzteren die Ordination Rites (liturgische Ordnungen für die Weihe von Bischöfen, Priestern und Diakonen) und An Outline of the Faith (Katechismus) ausdrücklich genannt.(Nr. 4) Beide Kirchen bekennen sich zu den Aussagen des anglikanisch-lutherischen Niagara-Reports von 1989 8 zur Autorität der Heiligen Schrift, des Nizäno-konstantinopolitanischen und des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, der Gnadenvermittlung durch die Taufe, der wahren Gegenwart des Leibes und Blutes Christi unter den Gestalten von Brot und Wein in der Eucharistie und zur Notwendigkeit eines Amtes pastoraler Aufsicht (episkope). (Nr. 5) Demgegenüber fällt auf, dass das Concordat keine den unter III. zu besprechenden Übereinkommen entsprechende Bestimmung enthält, dass die Eucharistiefeier stets von einem ordinierten Amtsträger geleitet wer6 Zu ihr vgl. Engelhardt Anglikanische Gemeinschaft (Kirche), in: LKStKR I S. 104–106 mwN. 7 Zu ihr vgl. E. Th. Bachmann Lutherische Kirchen, in: EKL3 III Sp. 200. 8 The Niagara Report. Report of the Anglican-Lutheran Consultation on Episcope 1987.
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den muss, was für die Episkopalkirche selbstverständlich ist. Dies mag damit zusammenhängen, dass bei seinem Abschluss die Frage der Austauschbarkeit ordinierter Geistlicher im Vordergrund des Interesses stand, nicht die interne sakramentale Praxis der beteiligten Kirchen. Wenn es zutrifft, was Timothy Huffman9 schreibt, dass nämlich die Praxis der „lay presidency“, der Leitung von Eucharistiefeiern durch Laien, sich in der ELCA ausbreitet, dann wäre eine solche Bestimmung dort wohl auf noch heftigeren Widerstand gestoßen als die übrigen Teile des Konkordats. Es stellt sich freilich schon an dieser Stelle die Frage, was „full communion“ wert ist, wenn nicht einmal über die Grundlagen der Sakramentspraxis Einverständnis erzielt werden kann. Für die beteiligten Kirchen stand indes die Amtsfrage im Vordergrund. Beide erkennen das ordinierte Amt der jeweils anderen als Gabe Gottes und Werkzeug seiner Gnade an. (Nr. 7) Dieses Amt soll um der gemeinsamen Mission willen in Zukunft „shared“ sein. Auf der Ebene der Pfarrer soll dies von Anfang an gelten; (Nr. 8) auf der Ebene der Bischöfe soll dieses Ziel im Lauf einer Übergangszeit erreicht werden. Die bereits ordinierten Pfarrer der ELCA werden von der Episkopalkirche als vollgültige Amtsträger anerkannt, die auch in episkopalianischen Gemeinden ein Pfarramt übernehmen können; (Nr. 16) die dafür erforderlichen Änderungen ihres kanonischen Rechts hat die Episkopalkirche bereits vorgenommen.10 Die Eingliederung der lutherischen Bischöfe in den historischen Episkopat soll dadurch erreicht werden, dass fortan bei Bischofsweihen (in der ELCA „installation“ genannt) regelmäßig Bischöfe der jeweils anderen Kirche an der Handauflegung teilnehmen. (Nr. 12) Für die zukünftigen Ordinationen von Pfarrern heißt es in Nr. 20 ausdrücklich: „In Übereinstimmung mit der historischen Praxis, nach der der Bischof der Repräsentant der Gesamtkirche ist, erklärt die Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika sich bereit, verfassungsmäßige und liturgische Vorkehrungen dafür zu treffen, dass bei der Handauflegung bei der Ordination aller Geistlichen ein Bischof regelmäßig präsidiert und teilnimmt.“11 9
Broken Covenant – or Flawed Prenuptial, auf der Website von Word Alone Network. Vgl. Art. VIII letzter Abs. Der Verfassung der Episkopalkirche: „A bishop may permit a minister ordained in the Evangelical Lutheran Church in America or its predecessor bodies … to officiate on a temporary basis as an ordained minister of this church.“ Ferner Can. 20 Abs. 2: „The Episcopal Church has a relationship of full communion with the Evangelical Lutheran Church in America under the terms of „Called to Common Mission“, which was adopted by the 73rd General Convention of the Episcopal Church as Resolution A040.“ 11 Offizieller englischer Text: In accord with the historic practice whereby the bishop is representative of the wider church, the Evangelical Lutheran Church in America agrees to make constitutional and liturgical provision that a bishop shall regularly preside and participate in the laying-on of-hands at the ordination of all clergy. 10
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2. Diese Klausel ist freilich infolge heftigen Widerspruchs in der ELCA zu einem Zankapfel geworden. Die Churchwide Assembly der ELCA hat daher gleichzeitig mit der Annahme des Konkordats ein neues Bylaw 7.31.17. mit folgendem Text beschlossen: „Ordination unter ungewöhnlichen Umständen. Aus seelsorgerlichen Gründen kann ein Synodalbischof die Ordination eines zugelassenen Kandidaten, der eine ordnungsmäßig ausgestellte Berufungsurkunde für das ordinierte Amt erhalten hat, durch einen anderen Pfarrer der EvangelischLutherischen Kirche in Amerika gestatten. Vor der Gestattung einer solchen Ordination soll der Bischof der Synode zunächst mit dem Vorsitzenden Bischof als dem leitenden Amtsträger für die ökumenischen Beziehungen dieser Kirche beraten und den Rat des Synodalrates einholen. Die seelsorgerliche Entscheidung des Synodalbischofs soll in Übereinstimmung mit den Richtlinien stehen, die von der zuständigen gesamtkirchlichen Instanz ausgearbeitet, von der Bischofskonferenz überprüft und vom Kirchenrat beschlossen worden sind.“12 Dieses Bylaw steht im offenen Widerspruch zu der vertraglichen Abmachung zwischen den beiden Kirchen. Dort ist zwar nur davon die Rede, dass bei der Ordination aller Geistlichen ein Bischof „regelmäßig“ (regularly) präsidiert und teilnimmt. Mit der Einfügung des Wortes regularly durch die lutherische Church Assembly sollte jedoch keinesfalls die Möglichkeit geplanter Ausnahmen (the possibility of planned exceptions), sondern nur Raum für seelsorgerliches Ermessen in Notfällen geschaffen werden. Um nichts anderes als solche geplanten Ausnahmen handelt es sich indes bei dem Bylaw. Es ist auch nicht zu verkennen, dass diese Vorschrift von bestimmten Kreisen innerhalb der ELCA als Sprungbrett für eine völlige Aushebelung der Konkordatsvorschrift angesehen wird. Bis zur Sitzung des aufgrund der Übereinkunft gebildeten Lutheran Episcopal Coordinating Committee (LECC) im Februar 2002 war nach dem Protokoll dieser Sitzung noch kein Gebrauch von der Ausnahmeregelung gemacht worden. Bis zur Sitzung des LECC im Februar 2003 gab es drei Fälle; bis Juni 2003 waren es fünf, und ein sechster wurde erwartet. Nach Timothy Huffman haben 21 von 65 lutherischen Synoden Resolutionen ver12 Offizieller englischer Text: Ordination in Unusual Circumstances. For pastoral reasons in unusual circumstances, a synodical bishop may provide for the ordination by another pastor of the Evangelical Lutheran Church in America of an approved candidate who has received and accepted a properly issued, duly attested letter of call for the office of ordained ministry. Prior to authorization of such an ordination, the bishop of the synod of the candidate’s first call shall consult with the presiding bishop as this church’s chief ecumenical officer and shall seek the advice of the Synod Council. The pastoral decision of the synodical bishop shall be in accordance with policy developed by the appropriate churchwide unit, reviewed by the Conference of Bishops, and adopted by the Church Council.
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abschiedet, die den Ordinationskandidaten das Recht garantieren, sich für eine nichtbischöfliche Ordination zu entscheiden; 11 Synoden haben neugewählten Bischöfen das Recht garantiert, sich nicht in den historischen Episkopat ordinieren zu lassen.13 Bei den Gegnern der konkordatären Vereinbarung in der ELCA scheint es sich freilich nur um eine Minderheit zu handeln. Das Grundsatzproblem der vertragstreuen Umsetzung vereinbarter Regelungen ist damit indes nicht aus der Welt geschafft. 3. Wenig sinnvoll erscheint es allerdings, die Schuld an der Problematik allein der lutherischen Seite zuzuschreiben. Zwei Probleme auf der anglikanischen Seite haben wesentlich dazu beigetragen: die anglikanische Neigung zu praktischen Übereinkünften unter Hintanstellung theologischer Differenzen und die Unklarheit des anglikanischen Standpunktes hinsichtlich der Bedeutung des Bischofsamtes in apostolischer Sukzession. Wie die anglikanischen Kirchen der Britischen Inseln in der Vereinbarung von Porvoo mit den skandinavischen lutherischen Kirchen hat die Episkopalkirche sich damit begnügt, dass das Concordat eine bestimmte Praxis bei der Ordination von Priestern und Bischöfen vorschreibt, ohne diese Praxis theologisch zu untermauern. Dies mag damit zusammenhängen, dass die theologische Beurteilung des Bischofsamtes in apostolischer Sukzession und seine Bedeutung für die Gültigkeit der Priesterweihe im Anglikanismus alles andere als eindeutig ist. Ob das historische Bischofsamt zum esse, nur zum bene esse oder zum plene esse der Kirche gehört, ist unter Anglikanern nicht unumstritten.14 Das Chicago/Lambeth Quadrilateral, das 1886 von der amerikanischen Episkopalkirche (in Chicago) und 1888 von der LambethKonferenz aller anglikanischen Bischöfe beschlossen wurde, fordert für die Wiedervereinigung mit anderen Kirchen die Annahme des historischen Bischofsamtes.15 Andererseits hat die Kirche von England ausländischen Kirchen das Kirchesein nicht deswegen abgesprochen, weil sie das historische Bischofsamt nicht bewahrt hatten.16 Volle kirchliche Gemeinschaft hat sie aber auch bei ausländischen Kirchen von dem Vorhandensein des historischen Episkopats abhängig gemacht. In England selbst wurden nach der Restauration von 1660 Priester, die nicht von einem Bischof geweiht worden waren, ihres Amtes enthoben. 13
S.o. Fn. 9. Vgl. dazu Norris Episcopacy, in: The Study of Anglicanism, Stephen Sykes und John Booty (Hg.) London und Philadelphia: SPCK/Fortress Press 1988, S. 296–309, mit weiteren Hinweisen. Die Vorsitzende Bischöfin der Episkopalkirche Katharine Jefferts Schori hat sich mir gegenüber im Gespräch eindeutig dahingehend geäußert, dass der historische Episkopat zum esse der Kirche gehöre. 15 Vgl. G. K. A. Bell Christian Unity: The Anglican Position, London: Hodder & Stoughton 1948. 16 Vgl. G. K. A. Bell (Fn. 15) S. 34 ff. 14
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3. Einige Lutheraner werden fragen, mit welcher Begründung die Anglikaner unter diesen Umständen überhaupt auf der Übernahme des historischen Episkopats als Voraussetzung voller kirchlicher Gemeinschaft bestehen. Canon J. Robert Wright, Professor für Kirchengeschichte am General Theological Seminary der Episkopalkirche, hat in einer Erklärung vom 3.4.2000 mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass der historische Episkopat in apostolischer Sukzession nach anglikanischer Auffassung für die Wiedervereinigung der Kirchen notwendig, aber nicht heilsnotwendig sei. Aber auch er begründet nicht näher, warum dieses nicht heilsnotwendige Element der Kirchenverfassung zur Voraussetzung voller kirchlicher Gemeinschaft gemacht werden kann. Es ist hier nicht der Platz, dieser Frage in extenso nachzugehen. Deshalb nur dies: Meines Erachtens ist zu überlegen, ob man bei der Verwendung des Begriffs „heilsnotwendig“ nicht unterscheiden muss. Für den Einzelnen ist es zur Erlangung des Heils nicht notwendig, dass er einer Kirchengemeinschaft angehört, die die apostolische Sukzession bewahrt hat; nicht einmal die Taufe ist für ihn in diesem Sinn heilsnotwendig, wenn ihr Unterbleiben ihm nicht vorgeworfen werden kann. Das schließt aber nicht aus, dass man es für das Heil der Welt als ganzer als heilsnotwendig ansieht, dass es eine Kirche gibt, die die apostolische Sukzession bewahrt hat, und dass deshalb eine Wiedervereinigung getrennter Kirchengemeinschaften nur sinnvoll ist, wenn die durch sie entstehende größere Gemeinschaft ebenfalls den historischen Episkopat in apostolischer Sukzession bewahrt.17
III. 1. Weniger weit als das Concordat zwischen der Episkopalkirche und der ELCA geht die am 6.1.1988 in Kraft gesetzte Vereinbarung zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und dem Katholischen Bistum der Alt-Katholiken in Deutschland „über eine gegenseitige Einladung zur Teilnahme an der Feier der Eucharistie“. Schon ihr Name zeigt ihre Begrenzung an. In dieser Vereinbarung bekennen die beteiligten Kirchen sich zunächst gemeinsam zu dem dreieinigen Gott (Nr. 1), zum Kanon der Hl. Schrift – ohne ihn freilich näher zu bezeichnen18 – sowie dem apostolischen und dem nizäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis und der trinitarischen 17 Eine vergleichbare Unterscheidung der Bedeutung für den Einzelnen und für die Gesellschaft findet sich hinsichtlich des Taufsakraments schon in dem Kommissionsbericht „Doctrine in the Church of England“, London 1962, S. 138 f. 18 Über den Umfang des Kanons bestehen zwischen den verschiedenen Kirchengemeinschaften unterschiedliche Auffassungen.
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und christologischen Lehre der großen Konzilien von Nicäa, Konstantinopel, Ephesus und Chalkedon (Nr. 2), ferner zur Rechtfertigung aus Gnade durch den Glauben an Christus (Nr. 3). Weiter bekennen sie sich zu dem Auftrag der Kirche, Gottes Heil der Welt zu bringen, und zu der trinitarischen Taufe, durch die Gott dem Menschen neues Leben schenkt und ihn in sein Volk eingliedert (Nr. 4). Ausdrücklich stellen sie Übereinstimmung darin fest, dass das besondere Amt der Kirche von ihrem Herrn gegeben ist und aus der Sendung der Apostel hervorgeht (Nr. 5). In der Eucharistie, dem von Jesus Christus eingesetzten Mahl des Neuen Bundes, „in dem er seinen Leib und sein Blut unter den sichtbaren Zeichen von Brot und Wein der Gemeinde schenkt“, erfährt die Gemeinde Gottes Liebe in Jesus Christus, verkündet den Tod des Herrn und preist seine Auferstehung, bis er wiederkommt und sein Reich zur Vollendung bringt. Dies findet seinen Ausdruck im Eucharistiegebet, in dem der Einsetzungsbericht mit dem Dank an den Vater, dem Gedächtnis des Heilswerkes Christi (Anamnese) und der Anrufung des Heiligen Geistes (Epiklese) verbunden ist“ (Nr. 6). Ausdrücklich heißt es dann: „Gemäß der Lehre der beteiligten Kirchen wird die Eucharistiefeier von Ordinierten geleitet. Gemeinschaft im Herrenmahl verpflichtet die Kirchen darauf zu achten, dass die Praxis dieser Lehre entspricht. Die beteiligten Kirchen halten einen angemessenen Umgang mit den nach der Feier übrigbleibenden Gaben für geboten.“ Auf dieser Grundlage laden die beteiligten Kirchen die Glieder der jeweils anderen „gegenseitig zur Teilnahme an der Eucharistie ein“. Eine weitergehende Gemeinschaft, insbesondere die Möglichkeit einer Konzelebration, ist in der Vereinbarung nicht vorgesehen. 2. Entsprechendes gilt für die Meißener Vereinbarung zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Kirche von England vom 18.3.1988. Auch in dieser Vereinbarung heißt es ausdrücklich: „Der Abendmahlsgottesdienst wird von einem ordinierten Geistlichen geleitet. Nur diese Person darf das eucharistische Gebet sprechen. In dem eucharistischen Gebet sind die Einsegnungsworte (sic!) verbunden mit der Danksagung an den Vater, der Erinnerung an das Heilswerk Christi (Anamnese) und der Anrufung des Heiligen Geistes (Epiklese).“ 3. Hier stehen wir vor nahezu derselben Problematik, die 1966 meinen von dem Jubilar kritisierten Artikel veranlasst hatte: Die EKD schließt Vereinbarungen mit anderen Kirchengemeinschaften und übernimmt in ihnen bestimmte Verpflichtungen. Diese Verpflichtungen können nur von den Mitgliedskirchen der EKD erfüllt werden. Die EKD hat aber praktisch keine Möglichkeit, ihre Mitgliedskirchen zur Beachtung dieser Verpflichtungen
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wirksam anzuhalten.19 Dieser Zwiespalt zeigt sich insbesondere bei der Regelung, dass ein Abendmahlsgottesdienst von einem ordinierten Geistlichen geleitet werden muss.20 a) In der Abendmahlsordnung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg vom 10.3.1995 21 heißt es in § 6: (1) Niemand soll die Abendmahlsfeier leiten, der nicht dazu ermächtigt ist. Die Ermächtigung erfolgt mit der Ordination. (2) Nichtordinierte, die in das Pfarrerdienstverhältnis aufgenommen sind, können durch den Oberkirchenrat oder durch von ihm Beauftragte vorläufig zur Leitung der Abendmahlsfeier ermächtigt werden. (3) Andere Personen kann der Oberkirchenrat zur selbständigen Leitung von Abendmahlsfeiern ermächtigen, wenn sie hierzu ausgebildet sind. Die Beauftragung erfolgt durch das zuständige Dekanatamt; sie kann auch generell erteilt werden. (4) Soweit landeskirchliche Gemeinschaften eigene Abendmahlsgottesdienste halten, kann der Oberkirchenrat mit den Leitungen dieser Gemeinschaften hierzu Vereinbarungen treffen. Der Abschluss einer solchen Vereinbarung setzt voraus, dass die Leitung der jeweiligen Gemeinschaft sich der Kirchenleitung gegenüber dafür verantwortlich erklärt, dass solche Abendmahlsfeiern durch entsprechend zugerüstete und beauftragte Mitarbeiter stiftungsgemäß und geordnet gehalten werden. Der Oberkirchenrat soll in der Vereinbarung darauf hinwirken, dass das Abendmahl anhand der landeskirchlichen Agende gehalten wird und dass die Verantwortlichen der Landeskirche bekannt gemacht werden. In den zu dieser Abendmahlsordnung erlassenen Ausführungsbestimmungen vom 23.5.1995 22 wird zwar ausdrücklich auf die Vereinbarungen der EKD mit dem Bistum der Alt-Katholiken und der Kirche von England hingewiesen; zu § 6 Abs. 2 und 3 der Abendmahlsordnung heißt es dort aber nur: 19. Bei Vikaren im Vorbereitungsdienst steht die Wahrnehmung dieses Auftrags unter der Anleitung und Verantwortung des Ausbildungspfarrers (…). 19 Eine ähnliche Situation bestand hinsichtlich des Reichskonkordats zwischen Bund und Ländern; vgl. BVerfGE 6, 309. 20 Von einer Untersuchung der Frage, ob die liturgischen Ordnungen aller Landeskirchen der (verbindlichen) Beschreibung des eucharistischen Gebets entsprechen, muss ich aus Raumgründen absehen. 21 AmtsBl. Bd. 56 S. 381. 22 AmtsBl. Bd. 56 S. 382.
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20. Diese Bestimmung findet vor allem auf Lektoren und andere kirchliche Mitarbeiter Anwendung, die eine entsprechende Ausbildung (z.B. landeskirchlicher Einführungskurs) erhalten haben. … Eine Vereinbarung der in § 6 Abs. 4 beschriebenen Art hatte die Landeskirche schon am 12.11.1987 23 „mit ihren Landeskirchlichen Gemeinschaften“ geschlossen. In Nr. 4 dieser Vereinbarung heißt es: Die Leitung der Gemeinschaftsverbände und Werke sind (sic!) der Kirchenleitung gegenüber dafür verantwortlich, dass solche Abendmahlsfeiern durch entsprechend zugerüstete und beauftragte Mitarbeiter stiftungsgemäß und geordnet gehalten werden. Dafür bietet die Abendmahlsagende der Landeskirche (1977) eine Hilfe. § 6 Abs. 1 der Abendmahlsordnung steht in Einklang mit den Vereinbarungen mit der Kirche von England und der Alt-katholischen Kirche 24, § 6 Abs. 2 schon nicht, denn die vorläufige Ermächtigung steht der Ordination nicht gleich, soll es auch nicht. Vollends gilt das für die Regelung der Abendmahlsfeiern von Gemeinschaften. Sie sind Abendsmahlsfeiern der Landeskirche; denn die Gemeinschaften wirken „im Rahmen der Landeskirche“. Gleichwohl bedürfen die Leiter dieser Gottesdienste keiner Ordination, nicht einmal einer landeskirchlichen Beauftragung. Sie müssen nach der Vereinbarung nicht einmal der Landeskirche bekannt gegeben werden, worauf der Oberkirchenrat nach § 6 Abs. 4 der Abendmahlsordnung in der Vereinbarung „hinwirken“ soll. b) Auch die Evangelische Landeskirche in Baden weicht in ihrer neuestens beschlossenen „Lebensordnung Abendmahl“ eindeutig von den Vereinbarungen mit der alt-katholischen Kirche und der Kirche von England ab. In Artikel 2 dieser Lebensordnung heißt es unter dem Titel „Leitung der Abendmahlsfeier und Mitwirkung“: (1) Die Verantwortung für die einsetzungsgemäße Feier des Abendmahls liegt bei den für diesen Dienst Ordinierten oder Beauftragten. (2) In der Wahrnehmung dieser Verantwortung können sie in begründeten Einzelfällen anderen Gemeindegliedern die Leitung einer Abendmahlsfeier übertragen, wenn ihnen vom zuständigen Ältestenkreis, dem Bezirkskirchenrat oder dem Evangelischen Oberkirchenrat die Befugnis dazu erteilt worden ist und die einsetzungsgemäße Feier sichergestellt ist.
23
AmtsBl. Bd. 53 S. 752. Ich sehe davon ab, der Frage nachzugehen, ob der Gebrauch des Wortes „soll“ (statt „darf“) eine Minderung der Verbindlichkeit zu Ausdruck bringen soll. 24
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Auf die Unvereinbarkeit dieser Regelung mit den vorgenannten Vereinbarungen hat die Synodale Lingenberg schon in der Synodaldebatte am 25.10.2007 nachdrücklich hingewiesen, als sie ausführte 25: „Wir bewegen uns aber auch in einem ökumenischen Feld, und da sollten wir auch ernst nehmen, was wir selbst mit anderen Kirchen abgemacht und beschlossen haben. … Ich möchte einfach zitieren und vorlesen aus der Abmachung, die wir mit der altkatholischen Kirche getroffen haben. Da heißt es nämlich folgendermaßen: »Gemäß der Lehre der beteiligten Kirchen wird die Eucharistiefeier von Ordinierten geleitet. Die Gemeinschaft im Herrenmahl … verpflichtet die Kirchen, darauf zu achten, dass die Praxis dieser Lehre entspricht.« In dem Augenblick, wo wir 22 und 23 26 so einfügen …, werden wir wortbrüchig hinsichtlich solcher Verträge.“ Demgegenüber behauptete der Oberkirchenrat Stockmeier zwar unter Berufung auf Abs. 1 der Regelung, „dass sich selbstverständlich (sic!) unsere Lebensordnung in das einreiht, was wir an zwischenkirchlichen Vereinbarungen haben“.27 Das trifft aber offensichtlich nicht zu. Gegenstand der Kontroverse ist die konkrete Leitung der Eucharistie- oder Abendmahlsfeier, von der die Vereinbarungen und Abs. 2 der Regelung sprechen; dazu sagt Stockmeiers Einwand überhaupt nichts. Im Übrigen widerspricht schon der erste Absatz der Regelung den Vereinbarungen, denn die „Beauftragten“, die hier – anders als in Württemberg – gleichberechtigt neben den Ordinierten stehen, werden ja bewusst nicht ordiniert. c) Der Widerspruch zwischen den Vereinbarungen und den beschriebenen landeskirchlichen Bestimmungen lässt sich auch nicht dadurch aus der Welt schaffen, dass man die Regelungen in den Vereinbarungen etwa nur auf gemeinsame oder ökumenische Gottesdienste bezieht. Für eine solche einschränkende Auslegung bieten die Vereinbarungen keinerlei Anhaltspunkt. Besondere Gottesdienste dieser Art haben sie überhaupt nicht im Blick; ihre Regelungen beziehen sich vielmehr auf die allgemeine Praxis der Verwaltung des Altarsakraments in den beteiligten Kirchen. Die gegenseitige eucharistische Gastfreundschaft ist ja nicht auf besondere Gottesdienste beschränkt; sie erstreckt sich auf alle Gottesdienste, in denen die Eucharistie gefeiert wird. Dementsprechend müssen auch die einschlägigen Regelungen für sie alle gelten.
25
Verhandlungen der Landessynode der Evangelischen Landeskirche in Baden 11. Ordentliche Tagung vom 21. bis 26.10.2007, S. 88. 26 Jetzt Art. 3 Abs. 1 und 2. 27 Verhandlungen, aaO, Fn. 24.
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IV. 1. Der Vergleich der zwischenkirchlichen Vereinbarungen und ihrer innerkirchlichen Umsetzung macht den Zwiespalt deutlich, der im Verhältnis von zwischenkirchlichem und innerkirchlichem Recht jederzeit auftreten kann und immer wieder auftritt. Unter diesen Umständen muss man sich fragen, welchen Sinn solche Vereinbarungen haben. Die Tiefe dieser Problematik wird zum Beispiel in Ausführungen von Stumpf zur rechtlichen Qualität solcher Vereinbarungen 28 deutlich sichtbar. Er unterscheidet zwischen einer Koordination von Glaubensgrundsätzen und einer solchen in Fragen der Glaubenspraxis. Münden gemeinsame Überlegungen zu Glaubensgrundsätzen in einer Vereinbarung,29 dann könne „hieraus nicht ein subjektives Recht der einen Seite im Hinblick auf die andere Seite gefolgert werden“. Jede Seite könne sich unilateral von einer solchen Vereinbarung lösen, wenn sie sie nicht mehr als theologisch vertretbar ansieht. Der Grundsatz „pacta sunt servanda“ soll hier nicht gelten. Andererseits sollen aber durch eine Vereinbarung über Grundsätze der Glaubenspraxis durchaus „reale vertragliche Rechte und Pflichten im gegenseitigen Verhältnis begründet“ werden. Hier will Stumpf freilich mit der clausula rebus sic stantibus helfen. Verlässt eine Partei die in dem Konsens über bestimmte Bekenntnisfragen liegende „Geschäftsgrundlage“ – und dazu ist sie nach Stumpf grundsätzlich berechtigt –, dann darf die andere die Vereinbarung kündigen. Weder das Concordat noch die Meißener Vereinbarung oder die Vereinbarung zwischen dem Bistum der Alt-Katholiken und der EKD betreffen eine Übereinstimmung in Glaubensfragen; sie beziehen sich auf Grundsätze der Glaubenspraxis. Mit der clausula rebus sic stantibus können die hier beschriebenen Vertragsverletzungen nicht gerechtfertigt werden. Auf sie kann sich nur berufen, wem „angesichts einer tiefgreifenden Veränderung der Verhältnisse das Festhalten am Vertrag in der ursprünglichen form bona fide nicht mehr zugemutet werden kann.“30 Schon von einer Veränderung der Verhältnisse kann indes in keinem der beschriebenen Fälle die Rede sein. Das vertragswidrige Verhalten der einen Partei dürfte in allen diesen Fällen eine Kündigung seitens der anderen rechtfertigen. Insoweit ist freilich ein verständliches Zögern der anglikanischen bzw. alt-katholischen Seite zu beobachten. Was bleibt, ist Missbehagen und Verärgerung.
28 Stumpf Die ökumenischen Dimensionen des evangelischen Kirchenrechts, in Geschichte und Gegenwart, in: SavZ KanAbt 91 (2005), 556–577, 564 f. 29 Zu denken wäre hier z.B. an die am 31.10.1999 unterzeichnete Gemeinsame Erklärung der römisch-katholischen Kirche und des Lutherischen Weltbundes zur Rechtfertigungslehre. 30 Hollerbach Clausula rebus sic stantibus, in: LKRStKR I S. 341.
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2. Hier kann man allerdings die grundsätzliche Frage nach dem Sinn verbindlicher Vereinbarungen zwischen getrennten Kirchengemeinschaften über die Zulassung zur Kommunion oder die Anerkennung von Ämtern stellen. Die einzelnen Kirchengemeinschaften sind ohne Weiteres in der Lage, einseitig die Voraussetzungen klarzulegen, unter denen sie zu voller Gemeinschaft oder zu einer Gemeinschaft in Teilbereichen bereit sind. Über diese Voraussetzungen können auch zwischen den verschiedenen Kirchengemeinschaften Gespräche geführt werden, ohne dass es deshalb zu vertraglichen Festlegungen kommen muss. Es liegt dann in der freien Entscheidung der einzelnen Kirchengemeinschaft, ob sie sich in der Lage sieht, den von der anderen erklärten Voraussetzungen zu entsprechen. Glaubt sie, das nicht zu können, dann setzt sie sich wenigstens nicht dem Vorwurf mangelnder Vertragstreue aus. Mindestens wäre zu überlegen, ob es im Fall des amerikanischen Concordat nicht sinnvoller gewesen wäre, sich zunächst ohne formelle Bindung über die Voraussetzungen voller Kirchengemeinschaft zu verständigen, diese Voraussetzungen innerkirchlich zu schaffen und erst dann eine förmliche Vereinbarung über Austauschbarkeit von Geistlichen und gemeinsame Kollegialität der Bischöfe zu schließen. Die Problematik der Begründung einer zwischenkirchlichen Rechtsordnung könnte allerdings zu der weitergehenden Frage führen, ob man in diesem Bereich überhaupt (schon) von einer Rechtsordnung sprechen kann. Aus dem zwischenstaatlichen Bereich bietet sich hier der Begriff der Völkercourtoisie (comitas gentium, comity) an. Dabei handelt es sich um solche Akte und Regeln des Wohlwollens und der freundlichen Behandlung, die von Staaten im Verkehr untereinander beobachtet werden, jedoch ohne die Überzeugung einer Rechtsverpflichtung.31 Die Regeln der Völkercourtoisie stellen keine Rechtsquelle dar; ihre Verletzung zieht keine Rechtsfolgen nach sich, sie kann als unfreundlicher Akt durch Retorsion beantwortet werden; das heißt: die betroffene Partei kann ihre eigene Courtoisiepraxis dementsprechend ändern oder zurücknehmen. Es wäre der Mühe wert, die Möglichkeit der Verwendung dieses Gesichtspunktes im Verkehr getrennter Kirchengemeinschaften untereinander einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Die weitere Folge könnte dann sein, dass zwischenkirchliche Vereinbarungen der beschriebenen Art nicht als kirchenrechtliche Verträge, sondern als außerrechtliche zwischenkirchliche Abmachungen anzusehen wären.32
31
MacAlister Smith Comity, in: EPIL I S. 671. Zu der entsprechenden Erscheinung im zwischenstaatlichen Bereich vgl. Rotter Die Abgrenzung zwischen völkerrechtlichem Vertrag und außerrechtlicher zwischenstaatlicher Abmachung, in: Marcic u.a. (Hg.), Internationale Festschrift für Alfred Verdross, München/Salzburg 1971, S. 413 ff. 32
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3. Im Übrigen sei an dieser Stelle angemerkt, dass ich den Begriff „zwischenkirchlich“ heute nicht mehr mit derselben Unbefangenheit wie 1969 verwenden kann. Schon in meiner Abhandlung von 1969 habe ich darauf hingewiesen, dass er begrifflich eine Mehrzahl von „Kirchen“ voraussetzt, im Nizänischen Glaubensbekenntnis aber nur „eine heilige katholische und apostolische Kirche“ bekannt wird. Ich habe damals aber daraus nicht die notwendige Konsequenz für die kirchenrechtliche Terminologie gezogen. Von einer Mehrzahl von Kirchen kann man genau genommen nur auf der Ebene der Ortskirchen sprechen; deshalb kann man Regeln über die Beziehungen zwischen verschiedenen anglikanischen Diözesen oder Provinzen oder zwischen verschiedenen lutherischen Landeskirchen, auch zwischen verschiedenen römisch-katholischen Diözesen, problemlos als zwischenkirchlich bezeichnen. Im interkonfessionellen Bereich, auf der Weltebene, kann man aber nur von einer Kirche und verschiedenen (rechtlich organisierten) Traditionen innerhalb dieser sprechen; ein zwischenkirchliches Recht im strengen Sinne kann es auf dieser Ebene daher nicht geben. Kirchengemeinschaften, die – zumindest dem Anspruch nach – über die ganze Welt verbreitet sind und (konkurrierend) nebeneinander stehen, sind keine Ortskirchen, sondern – wie gesagt – verschiedene organisierte Traditionen innerhalb der einen heiligen katholischen und apostolischen Kirche, zu der sie sich bekennen. Ein zutreffender Begriff für die ihre Beziehungen regelnden Normen ist freilich nicht leicht zu finden. Man könnte daran denken, an den Begriff der Kirchengemeinschaften (Communions) 33 anzuknüpfen und von interkommunalem Recht (inter-communal law) zu sprechen; aber das wäre – vor allem im deutschen Sprachbereich – doch höchst missverständlich. Der Begriff „intertraditionales Recht“, mit dem an die Existenz verschiedener rechtlich organisierter Traditionen in der Kirche angeknüpft wird, ist vielleicht nicht besonders schön. Wenn man sich deshalb entschließt, den Begriff des zwischenkirchlichen Rechts weiterhin auch in diesem Bereich zu verwenden, muss man jedenfalls stets im Bewusstsein behalten, dass hier von Kirche in einem höchst uneigentlichen Sinne und daher letztlich unsachgemäß gesprochen wird.
33 Nach dem Vorbild der Anglican Communion wird heute vielfach auch von Lutheran Communion und selbst von Roman Communion gesprochen.
War Friedrich Schiller Schwabe oder Franzose? – Staatsbürger, Ehrenbürger, Erbbürger in Krieg und Frieden – Norbert Gross
Nach dem Bau der Mauer wandte sich der amerikanische Präsident John F. Kennedy auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses am 26.1.1963 an die Bevölkerung Berlins und der Welt und beendete seine berühmte Rede mit den geflügelten Worten: „Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt West-Berlin und deshalb bin ich als freier Mann stolz darauf sagen zu können: Ich bin ein Berliner.“ Keiner der jubelnden Zuhörer und auch keiner der heutigen Analysten wird sich die Frage vorgelegt haben, ob Kennedy damit Deutscher im Sinne des Grundgesetzes geworden ist. Nach Art. 116 GG ist Deutscher, wer, vorbehaltlich anderer gesetzlicher Regelung, die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Allerdings sieht unser Recht der Staatsangehörigkeit in der Fassung des Staatsangehörigkeitsgesetzes (StAG) vom 5.2.2009 den Erwerb durch Zuruf oder gar das bloße Bekenntnis, ein freier Mensch zu sein, bisher nicht vor.1 Die Geschichte kennt auch andere Beispiele. Um das Jahr 1800 waren Staat und Nation, Nationalstaat und Universalstaat sowie die Bande der Zugehörigkeit und damit das Staatsangehörigkeitsrecht noch in der Entwicklung begriffen und nur rudimentär entwickelt.2 Wer aus seinem Lande floh, ging seiner Bürgerrechte verlustig. Dagegen konnten Prominente, auch ungefragt, Bürger eines anderen Landes werden. So erging es Schiller. Im Revolutionsjahr 1792 kam der Gedanke auf, die französische Nationalversammlung solle
1 § 10 StAG sieht für die Einbürgerung von Ausländern einen umfangreichen Voraussetzungskatalog und § 8 StAG zudem einen Antrag vor (BGBl I 2009, 158). Vgl. aber: Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Nachweis des Bekenntnisses zum deutschen Volkstum nach § 6 Bundesvertriebenengesetz BVerfGE 59, 128, 150 ff. Art. 116 Abs. 1 GG macht damit die Bundesrepublik zur „Heimstatt aller Deutschen“. Zu den notwendigen Abgrenzungen F. Wittrek in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar. Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 116 Rn. 1. Verfassungsgeschichtliche Vorläufer des Art. 116 Abs. 1 GG gibt es nicht. 2 Grawert Staat und Staatsangehörigkeit, 1973, 90; Grawert Staatsvolk und Staatsangehörigkeit in HSTR II, § 16, 107–141.
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bestimmten Helden, auch Helden des Geistes, die für die Freiheit eingetreten waren, das französische Bürgerrecht einschließlich Sitz im Abgeordnetenhaus verleihen. Wunschkandidaten waren Washington, Pestalozzi und Klopstock. In letzter Minute wurde auch Schiller nominiert. „Die Räuber“, 1782 in Mannheim uraufgeführt, waren 10 Jahre später in Paris zum ausgesprochenen Revolutionshit geworden. Durch Gesetz wurde Schiller zusammen mit 16 weiteren Geistesgrößen das französische Bürgerrecht verliehen. In drei Akten sollen die Wege und Umwege geschildert werden, bis Schiller sechs Jahre danach die Urkunde in Händen hielt. Inzwischen waren fast alle an der Verleihung beteiligten Personen guillotiniert worden. Der Weg führt vom Revolutionsjahr über das Glück verspäteter Zustellung bis zur Geschichte nach der Geschichte in Baden-Baden.
I. Das Revolutionsjahr 1792 1. Die Petition vom 24. August 1792 für die 14 Wohltäter der Menschheit Die französische Revolution hatte im August 1792 ihren Höhepunkt, die Terreur und den Königsmord, noch vor sich. Aufgrund der von Ludwig XVI. am 14.9.1791 beschworenen Verfassung trat die Assemblée nationale législative zusammen. Noch spielten die Girondisten die Hauptrolle. Die radikalen Elemente waren jedoch schon auf dem Vormarsch. Am 10.8.1792 erstürmte die Kommune die Tuilerien. Ludwig XVI. wurde im Temple gefangen gesetzt. Ganz Paris lebte im Rausch der ersten Freude über den Triumph der guten Sache. Die Kommune beschloss, dass eine Medaille mit dem Kopf des „Verräters“ Lafayette von Henkershand in Stücke zu brechen sei, dass die silberne Glocke des Justizpalastes und die Glocke von St. Germain L’Auxerrois, die das Signal zur Bartholomäus-Nacht gegeben hatten, augenblicklich zerstört werden sollten und dass die Portes St. Denis und St. Martin samt allen Triumphbogen als Sinnbilder der Feudalherrschaft und des Despotismus niederzureißen seien. An die Stelle der Reiterstatue Ludwigs XIV. sollte eine Statue der Freiheit gesetzt werden und alle äußerlichen Zeichen der Knechtschaft, Lilien, Wappen, Siegel, Schilder von Hoflieferanten usw., sollten unverzüglich entfernt werden.3 Neuwahlen für eine Convention Nationale standen bevor. In dieser zugleich schwärmerischen wie explosiven Situation hegte die Parlamentsmehrheit der Girondisten die Vorstellung, nicht das Volk, sondern die geistige Elite der Länder Europas, Schriftsteller und Philosophen, seien die Hefe der Revolution, um die Monarchien dieser Welt zu stürzen. Die französischen, genauer die Pariser intellektuellen Kreise hielten die Protago3
Speidel/Wittmann Bilder aus der Schillerzeit, 1884, 358.
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nisten des europäischen Geisteslebens für ihre natürlichen Verbündeten und die Entfacher der europäischen, wenn nicht der Weltrevolution. Um 6.00 Uhr abends am Freitag, dem 24.8.1792 erschien neben vielerlei buntem Volk vor den Schranken der Nationalversammlung eine Anzahl Schriftsteller unter Führung des Revolutionspoeten Marie-Joseph Chénier 4 mit einem Antrag folgenden Inhalts: Alle Menschen, die in den verschiedensten Weltgegenden die Wege der Freiheit vorbereitet haben, sind als Verbündete des französischen Volkes zu betrachten, weil sie die Fundamente der Tyrannei untergraben. Er schlug vor, diesen „Wohltätern der Menschheit“ das französische Bürgerrecht zu verleihen, damit diese auch zu Deputierten gewählt werden können. Wenn die Wahl des Volkes diese berühmten Männer – von Frauen war keine Rede – in den Nationalkonvent entsende, welch einen überwältigenden Anblick werde diese Versammlung, die so große Geschicke zu entscheiden habe, der Welt darbieten? Wird die vereinigte menschliche Elite aus allen Teilen des Erdballs nicht einen wahren Weltkongress bedeuten? Mit bewegten Worten wurden die Verdienste von 14 ausländischen Persönlichkeiten erläutert.5 Das Präsidium in der Nationalversammlung nahm an diesem Tag der junge Pariser Advokat Hérault de Séchelles ein, der auf diesen nicht aus der Mitte der Abgeordneten, sondern aus einer zufällig gebildeten Volkspetition entstandenen Antrag antwortete: Einst habe der hochmütige Wohltätigkeitssinn Ludwigs XIV. an fremden Höfen gelehrte Schmeichler geworben und ihren Beifall mit dem Blut und Schweiß des Volkes bezahlt; Frankreich aber gebe kein Geld, da es um kein Lob bettle; ihm genüge, seinen Ruhm zu teilen mit den großen Männern ferner Länder, welche inmitten ihrer geknechteten Mitbürger die Stimme der Freiheit und Gleichheit zu erheben wagten. Frankreich erkläre ihnen seine Hochachtung und die Nationalversammlung werde ihnen ohne Zweifel sagen: „Ihr seid französische Bürger“.6 Vorgeschlagen wurden der berühmte englische Chemiker Joseph Priestly, der bekannte Philosoph des Utilitarismes Jeremias Bentham, die beredten Vorkämpfer der Sklavenbefreiung Thomas Clarkson und William Wilberforce, 4 Eigentlich Marie-Joseph de Chénier (1764–1811), jüngerer Bruder des später guillotinierten, heute aber berühmteren und in die Opernliteratur eingegangenen Anti-Revolutionärs André Chénier (1762–1794). Wie David als Maler stieg Marie-Joseph Chénier zum offiziellen Poeten der Revolution auf, der allerdings die folgenden politischen Umwälzungen weitgehend unbeschadet überstand und später sogar zur Würde der Académie Française aufstieg. Sein Sitz wurde ausgerechnet von Chateaubriand übernommen, der eine zweideutige Eloge auf seinen verstorbenen Vorgänger halten musste. Zu Marie-Joseph und André Chénier s. Beaumarchais in Dictionnaire des Littératures de Langue Française (Beaumarchais, Couty, Rey), 1994, zu Chénier. 5 Albert Mathiez Die Französische Revolution, 1. Band (deutsche Übersetzung von La Revolution Française I), Zürich 1950, 306. 6 Zit. nach Speidel/Wittmann (Fn. 3) 360, die auf die Gazette Nationale ou Le Moniteur Universel, Nr. 239 vom 26.8.1792 Bezug nehmen.
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ferner der schottische Philosoph James Mackintosh und David Williams, beide glühende Verteidiger der französischen Revolution gegen ihren Landsmann, den Antirevolutionär Edmund Burke. Die kurz zuvor gegründeten Vereinigten Staaten sollten durch George Washington, John Hamilton und Thomas Payne geehrt werden. Die Liste der deutschen Freunde der Ideen der französischen Revolution wirkte dagegen eher vom Zufall diktiert. Genannt werden der deutsche Dichter Friedrich-Gottlieb Klopstock 7, der Pädagoge Joachim-Heinrich Campe 8 und der eigentümliche Baron Jean-Baptiste Cloots 9 genannt Anarcharsis Cloots. Die in der Sitzung um zwei weitere Namen erweiterte und damit 16 Wohltäter der Menschheit zählende Liste schloss mit dem Schweizer Pestalozzi, dem Italiener Gorani und dem Polen Thaddäus Kosciuszko sowie dem Holländer Cornelius Pauw.10 Der Antrag 7 Friedrich-Gottlieb Klopstock (1724–1803): Vor allem die 1774 erschienene erste und einzige Auflage der „Deutschen Gelehrtenrepublik“ stand in ihren Forderungen nach geistiger Freiheit den Idealen der – späteren – französischen Revolution nahe, die Klopstock zunächst begeistert begrüßte, später jedoch skeptisch beurteilte. Herder nannte das Werk „das kindischste Buch, das er je gesehen habe“; Goethe lobte es als die „einzige Poetik aller Zeiten und Völker“. Das Werk war in Deutschland bald vergessen. In der Revolutionszeit schrieb Klopstock Oden mit geschichtsphilosophischen Perspektiven. In „Die Etats Généraux“ begrüßte er die politischen Bewegungen in Frankreich schon 1788. Mit der Metaphorik der Morgendämmerung, der Sonne und des Lichts zeigte er, dass Aufklärung und Revolution sich vereinigt haben. 1790 feierte Klopstock in der Ode „Sie und nicht Wir“ in „mächtigen Dithyramben“ den Beschluss der französischen Nationalversammlung, keinen Eroberungskrieg mehr zu führen. Umso bitterer war seine spätere Enttäuschung. In Oden wie „Mein Irrtum“ (1793) verabschiedete Klopstock sich von dem „goldenen Traum“ der Revolution. Der Irrtum war doppelt: Das ihm ein Jahr zuvor verliehene Bürgerrecht wurde ihm erst Jahre später bekanntgegeben. Zurückgegeben hat er es nicht. 8 J.-H. Campe, später beamteter Schulrat in Braunschweig und damals in Deutschland als „das Evangelium der Kinder“ gerühmt, hatte sich zum Entsetzen seiner deutschen Freunde in Frankreich den Ruf eines Revolutionshelden eingetragen. Dafür genügte, dass er im Revolutionsjahr 1789 mit seinem ehemaligen Zögling Wilhelm von Humboldt eine Reise nach Paris unternommen hatte und von den Freiheitsidealen so begeistert war, dass er die Ereignisse in hymnusgleichen „Briefen aus Paris“ schilderte. 9 Der sonderbare Baron von Clootz, Deutscher von Geburt, nannte sich selbst den „persönlichen Feind Christi“, den „Wortführer des Menschengeschlechts“ und „Weltbürger“, von seinen Gesinnungsgenossen mit dem Beinamen Anarcharsis Cloots ausgezeichnet. Am 19.6.1792 war er bereits an der Spitze einer Gruppe Ausländer als „Ambassade du genre humain“ in der Nationalversammlung erschienen und hatte verlangt, allen in Paris lebenden Ausländern das französische Bürgerrecht zu verleihen. Seine Dankesrede vom 27.8. 1792 an die Abgeordneten schloss nach überschwenglichem Lob für die Abgeordneten und auf sein neues Vaterland mit folgendem Schwur: „Ich schwöre, der Weltnation (Nation Universelle), der Freiheit, der Gleichheit, der Souveränität des Menschengeschlechtes immerdar treu zu bleiben. Von jeher war ich ein Freund Frankreichs; mein Herz ist französisch, meine Seele ist Sansculotte“; Speidel/Wittmann (Fn. 3), 368, 369, näher Georges Avanel, Anarcharsis Cloots, L’Orateur du genre humain, 1865, 2 Bände. 10 Der Abgeordnete Lamourette hatte die Namensliste um Pauw und Cloots erweitert. Einige vorgeschlagene Namen wurden abgelehnt, H. Hecker Friedrich von Schillers französische Staatsangehörigkeit NJW 1990, 1955, Fn. 3 und 5.
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auf Verleihung des Bürgerrechts an revolutionsfreundliche Ausländer war nur der letzte Schritt auf dem eingeschlagenen Weg kosmopolitischer Brüderlichkeit. Seit langem wurden ausländische Flüchtlinge nicht nur gastlich aufgenommen, sondern auch in den revolutionären Clubs zugelassen, in der Nationalgarde, in den Verwaltungsbehörden, in den gewählten Vertretungen und manche erhielten sogar Stellungen im Ministerium des Äußeren. Nach der Kriegserklärung bildeten Flüchtlinge die verschiedenen Fremdenlegionen, die nach dem erhofften Sieg auch ihre Vaterländer befreien sollten. In der Armee des Zentrums gab es eine Lütticher, in der Nordarmee eine belgische Legion und nach dem 10. August bildeten sich eine batavische, dann eine Legion der Allobroger und endlich eine deutsche Legion unter dem Kommando des Obersten Dambach, der schon unter Friedrich dem Großen Dienst getan hatte 11. Nicht nur der Geist der französischen, der Geist der Welt-Revolution beherrschte das Land. Dennoch wurden in der anschließenden Debatte, auch wenn das Prinzip kaum in Frage gestellt wurde, vor allem von den anwesenden Juristen schüchtern einige rechtliche Bedenken geltend gemacht. Für die einfache Formel des Präsidenten: „Ihr seid französische Bürger“ sprachen sich der ehemalige Kapuziner Chabot, genannt l’extravagant Chabot, der den Citoyen Jesus Christus für den ersten Sansculotten dieser Welt bezeichnet hatte 12, und der Jakobiner Thuriot aus, während der Abgeordnete Bazire von der Goldküste, dem heutigen Ghana, vorschlug, die Petition erst einmal an einen Ausschuss zur weiteren Prüfung zu verweisen. Der Abgeordnete Lamourette unterstützte die Petition allerdings mit dem Argument, diese berühmten 16 Ausländer seien eigentlich gar keine Ausländer, sondern schon jetzt echte Franzosen. Er ging noch weiter: 13 „Ich beantrage, daß eine Kommission ernannt wird, um eine Liste derjenigen Ausländer aufzustellen, die durch ihre Schriften berühmt sind, welche sie im Sinne unserer Revolution veröffentlicht haben, und daß die Versammlung sie zu französischen Bürgern erklärt, womit sie in dieser Eigenschaft zu den Basis-Versammlungen zugelassen sind, die zusammengerufen werden sollen, um den Nationalkonvent zu bilden.“ Der Abgeordnete Lasource, ein ehemaliger protestantischer Pfarrer, machte beschwichtigend geltend, dass die genannten Wohltäter der Menschheit das französische Bürgerrecht weder beantragt hätten noch davon wüssten. Zudem riskiere man sogar die Demütigung einer Ablehnung. Das Bürgerrecht sollte daher nicht einseitig und ungefragt, sondern nur nach entsprechendem Antrag verliehen werden. Er meinte 14: 11 12 13 14
Albert Mathiez (Fn. 5) 307. Zu Chabot, Speidel/Wittmann (Fn. 3) 362. Speidel/Wittmann (Fn. 3), 360; H. Hecker (Fn. 10) 1955. Speidel/Wittmann (Fn. 3) 361.
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„Je ruhmvoller das französische Bürgerrecht ist, desto sparsamer muß man damit haushalten. Wenn man es Männern verleiht, die es gar nicht verlangt haben, so riskiert man die Beschämung, daß sie es ausschlagen. Unter die Mißbräuche, welche zum Untergange des römischen Reiches beigetragen haben, ist auch die Freigiebigkeit zu rechnen, womit das römische Bürgerrecht an alle Nachbarvölker verschwendet worden ist. Daher ist die Verleihung des französischen Bürgertitels an fremde Schriftsteller von deren ausdrücklichem Verlangen abhängig zu machen.“ Vertraut mit den neuen Formen parlamentarischer Erledigung schwieriger Fragen beantragte der Abgeordnete Lasource die Verweisung der Petition an einen Ausschuss, die Kommission für öffentlichen Unterricht. Ein zweiter, weniger formaler als inhaltlicher Einwand wurde erneut von dem Abgeordneten Bazire aus den afrikanischen Kolonien erhoben15: „Man darf nicht leichtsinnig sein. Wer die Bücher eines berühmten Schriftstellers kennt, kennt noch lange nicht das Herz dieses Menschen. Stil und Gesinnung sind zwei sehr verschiedene Dinge, und es wäre ja denkbar, daß einer dieser illustren Ausländer in den Konvent gewählt und darin gegen das öffentliche Wohl auftreten würde. Also Vorsicht, Bedachtsamkeit, kluge Wahl! …“ Auch Bazire trat daher für eine Überprüfung der inneren Haltung dieser Personen, eine Art von Gesinnungsprüfung durch die Kommission für öffentlichen Unterricht ein. Mit revolutionärem Pathos hielt der Abgeordnete Chabot dagegen16: eine Blasphemie sei, was Lasource von Rom behauptet habe. Die römische Republik sei nicht durch die freigebige Verleihung des römischen Bürgerrechts, sondern durch die Sucht nach Gold und die in der Hauptstadt konzentrierte korrupte Aristokratie zugrunde gegangen. Außerdem: Wenn man den Österreichern, den Preußen und den Engländern, die in den Revolutionsarmeen tapfer kämpfen, nicht das französische Bürgerrecht rauben wolle, dann könne man das auch nicht den ausländischen Philosophen antun, die mit den Waffen des Geistes für Frankreich und die Revolution eintreten. Durch ihre Schriften hätten diese längst Anspruch auf die hohe Auszeichnung als französische Bürger erworben. Schließlich hätten auch die Amerikaner all jene eingebürgert, die für sie gekämpft haben. Die Debatte flammte erneut auf. Bazire fürchtete, dass man damit den Konvent den Ausländern ausliefere. Schließlich stehe selbst die Anzahl dieser französischen Neubürger nicht einmal annähernd fest. Der Abgeordnete
15 16
Speidel/Wittmann (Fn. 3) 361. Speidel/Wittmann (Fn. 3) 362.
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Guadet, ein Girondist, hielt es dagegen für undenkbar, dass irgendjemand auf dieser Welt die ihm angetragene Ehre ablehnen könne: 17 „Als Athen dem Herkules den Bürgertitel gab, da hatte ihn dieser Heros nicht beantragt! Als Polen den Verfasser des „Emile“ ins Land rief, da hatte Jean-Jacques diese Ehre nicht verlangt!“18 Dieses Stichwort gab dem Jakobiner Thuriot Anlass,19 über die gerade im Kriegsfall mögliche Interessenkollision für die ausländischen Neubürger zu räsonieren. Er unterschied daher fein zwischen der Verleihung des einfachen Bürgerrechts und dem passiven Wahlrecht für den Nationalkonvent, von dem die ausländischen Neubürger auszuschließen seien. Schließlich sei man im Krieg und wie solle ein Engländer im Konvent über kriegerische Maßnahmen entscheiden, wenn es um dessen Land ginge. Trotz aller Einwände wurde der Vorschlag im Grundsatz einstimmig angenommen. In der Gazette Nationale ou Le Moniteur Universel Nr. 239, Dimanche, 26 août 1792, l’an quatrième de la Liberté et le premier de l’Egalité heißt es wörtlich 20 : „L’assemblée décrète unanimément que les philosophes des nations étrangères, qui auront servi la cause de la liberté, auront le titre de citoyen français“. Die Sache wurde antragsgemäß an das Komitee für öffentlichen Unterricht verwiesen. Dieser Ausschuss sollte alle Namen zusammenstellen, die diese Ehre des französischen Bürgerrechts verdienen. 2. Das Gesetz vom 26. August 1792: Die 16 Neubürger Zwei Tage später, am Sonntag, dem 26.8.1792 präsidierte der angesehene Abgeordnete Lacroix die Nationalversammlung. Eine stürmische Debatte über die Deportation der den Eid auf die Verfassung verweigernden Priester war gerade zu Ende gegangen. Danach hatten einige Kanoniere verlangt, vor dem hohen Hause den Eid ewiger Treue auf die Gleichheit zu schwören. In diesem Klima allgemeiner Erschöpfung brachte als Berichterstatter der „Vereinigten Sonderkommission der Zwölf und des Komitees für Öffentlichen Unterricht“ der Abgeordnete Guadet einen vollständig ausgearbeiteten und mit einer Namensliste versehenen Gesetzentwurf ein, der zur Abstimmung
17
Speidel/Wittmann (Fn. 3) 363. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Autor des Émile ou de l’Éducation und des Contrat social ou Principes du Droit politique, soll nach seiner Flucht aus Frankreich auch nach Polen eingeladen worden sein. 19 Speidel/Wittmann (Fn. 3) 364. 20 Speidel/Wittmann (Fn. 3) 364. 18
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gestellt werden sollte. Alle 16 Namen der Wohltäter der Menschheit waren aufgelistet, die in den Genuss des französischen Bürgerrechts kommen sollten. Friedrich Schiller war nicht dabei. Die Einleitung des Gesetzes lautete 21: „Die Männer, die durch ihre Schriften und ihren Mut der Sache der Freiheit gedient und die Befreiung der Völker vorbereitet haben, können von einer Nation, die ihre Erhellungen und ihr Mut frei gemacht haben, nicht als Ausländer betrachtet werden. Wenn fünf Jahre Wohnsitz in Frankreich genügen, um einem Ausländer den Titel eines französischen Bürgers zu verschaffen, so ist dieser Titel um so mehr für die diejenigen berechtigt – welches auch immer der Boden sei, den sie bewohnen –, die ihre Arme und ihre Nächte geopfert haben, um die Sache der Völker gegen die Despotie der Könige zu verteidigen, um die Vorurteile der Erde zu bannen und die Schranken menschlicher Erkenntnis aufzuheben. Wenn die Hoffnung nicht unerlaubt ist, dass die Menschen eines Tages vor dem Recht und vor der Natur nur eine einzige Familie bilden, eine einzige Vereinigung, dann dürfen die Freunde der Freiheit, der universalen Brüderlichkeit, einer Nation, die ihren Verzicht auf alle Eroberungen und ihren Wunsch, mit allen Völkern sich zu verbrüdern, proklamiert hat, nicht weniger lieb sein. Im Augenblick schließlich, in welchem ein Nationalkonvent die Geschicke Frankreichs bestimmen und die des Menschengeschlechts vielleicht vorbereiten wird, geziemt es dem freigebigen und freien Volk, alle erleuchteten Geister herbeizurufen und denjenigen das Recht zuzubilligen, an diesem großen Akt der Vernunft teilzunehmen, die sich durch ihre Gefühle, ihre Schriften und ihren Mut dessen so hervorragend würdig gezeigt haben“. Der revolutionäre Elan dieser Präambel des Gesetzes war beeindruckend. Er sollte bereits das baldige Ende der Monarchie ankündigen. Einen Monat später, am 22.9.1792, wurde die Monarchie abgeschafft, drei Monate später der Monarch hingerichtet. In dem Gesetz wurden 16 Männer namentlich aufgeführt. Sie stammten aus sieben Nationen Europas und aus Amerika. Ausgerechnet die Engländer stellten davon die größte Zahl mit Joseph Priestly, Jeremias Bentham, Thomas Clarkson, William Wilberforce, James Mackintosh und David Williams. Die Vereinigten Staaten sollten mit George Washington, John Hamilton, Maddison und Thomas Payne geehrt werden. Die Liste deutscher Freunde der Ideen der französischen Revolution nannte Joachim-
21 Vollständiger Text abgedruckt in A. Kühn Schiller. Sein Leben und sein Sterben, sein Wirken und seine Werke. Zerstreutes als Bausteine zu einem Denkmal, 1. Band, Weimar 1862, 70, 72.
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Heinrich Campe aus Braunschweig 22, den deutschen Anarchisten Jean-Baptiste Baron von Cloots 23 und den in Hamburg lebenden Friedrich Gottlieb Klopstock 24. Ferner standen für die Schweiz Pestalozzi, für Italien der Philosoph Gorani, für die Niederlande Cornelius Pauw und für das untergegangene Polen Thaddäus Kosciuszko in dem Gesetzesvorschlag. Das entsprach dem Stand der Debatte zwei Tage zuvor, am 24.8.1792. Das Gesetz mit den 16 Neubürgern wurde einstimmig angenommen.25 Ein Ausschluss des passiven Wahlrechts erfolgte nicht. Die Neubürger konnten also auch zu Abgeordneten gewählt werden. Von ihnen sollten allerdings nur drei in dem neuen Nationalkonvent Sitz und Stimme erlangen. Das Schicksal dieser drei französischen Neubürger und später gewählten Abgeordneten verdient allerdings eine nähere Betrachtung 26. Der Chemiker Joseph Priestly lehnte die Wahl klugerweise ab. Dagegen wurden der Amerikaner Thomas Payne, der aus politischen Gründen England hatte verlassen müssen und seitdem in Frankreich lebte und der Deutsche Cloots tatsächlich Abgeordnete des ersten Nationalkonvents am 22.9.1792. Ein Jahr später allerdings, am 26.12.1793, bestimmte ein Gesetz, dass die im Ausland geborenen Franzosen keinen Platz im Parlament haben durften. Damit verloren Payne und Cloots ihren Sitz, folglich auch ihre Immunität und im weiteren Verlauf ihre Freiheit. Cloots starb 1794 unter der Guillotine. Payne sollte dasselbe Schicksal erwarten, wurde aber auf Intervention des amerikanischen Gesandten in Paris im November 1794 wieder freigesetzt und durfte seinen Parlamentssitz wieder einnehmen, zog es aber vor, schleunigst in seine Wahlheimat USA zurückzukehren. 3. Ein gesetzgeberisches „Postscriptum“: Le sieur Gille – Giller Weder der Berichterstatter der Sonderkommission noch einer der maßgeblichen Wortführer im Gesetzgebungsverfahren hatten Friedrich Schiller als Anwärter auf das französische Bürgerrecht vorgeschlagen. Kaum war das Gesetz angenommen worden, meldete sich der elsässische Abgeordnete des neu gebildeten Départements Bas-Rhin, Philipp Ruehl, zu Wort. Ihm waren wohl „Die Räuber“, 1782 in Mannheim uraufgeführt, und Karl Mohr als Freiheitskämpfer ein Begriff. Am 10.3.1792 war im Théâtre du Marais, rue Couture-Sainte Cathérine in Paris das Stück „Robert, Chef des Brigands“
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Zu Campe s. Fn. 8. Zu Cloots s. Fn. 9. 24 Zu Klopstock s. Fn. 7. 25 Speidel/Wittmann (Fn. 3) 365. 26 Hertz Das Ehrenbürgerrecht und die Ehrenbürger der vier freien Städte Deutschlands von 1795 bis 1833, Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Band 41 (1951), 285, 290. 23
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aufgeführt worden, eine Bearbeitung der Schillerschen Räuber von Lamaretelière 27. Hinter diesem Revolutions- und Künstlernamen verbarg sich der Elsässer Schwindenhammer. In diesem erfolgreichen Propagandastück, das nur entfernt an Schillers Erstling erinnerte, trugen die Räuber nicht nur Jakobinermützen, sondern waren auch zeitgenössische Revolutionshelden. Das Stück war bekannt, sein Autor nicht. Die Kritik war zwiespältig 28. Nach der Annahme des Gesetzes stellte der Abgeordnete Philipp Ruehl noch folgenden Antrag 29: „Herr Ruehl bittet, daß sieur Giller, der deutsche Publizist, in die Liste derer, denen die Versammlung soeben den Titel eines französischen Bürgers verliehen hat, aufgenommen werde“. Völlig unvorbereitet, in offener Sitzung und unmittelbar nach der bereits erfolgten Abstimmung wurde der Name des deutschen „Publizisten“ Friedrich Schiller zum ersten Mal von der Versammlung wahrgenommen, sicher in französischer Aussprache und so in die Niederschrift übertragen, wie es der Protokollant gehört hatte. Auch dieser Antrag wurde einstimmig angenommen. Nach dem eigentlichen Gesetzestext, in einem ungewöhnlichen Zusatz, heißt es in der Ausfertigung des Gesetzes am 6.9.1792, die noch die Namen von Clavière und Danton als Vertreter des vorläufigen Exekutivrats und das Siegel Ludwig XVI.30 trägt31: „Am gleichen Tage. Ein Mitglied bittet, daß sieur Gille, deutscher Publizist, in die Liste derer, denen die Versammlung soeben den Titel eines französischen Bürgers verliehen hat, aufgenommen werde; dieser Antrag ist angenommen“. Die phonetischen Verballhornungen von Giller zu Gille, die in manchen Wiedergaben noch zu Gillers, Gilleer, Gisler, Schyler und Scheller ausgereizt 27
Speidel/Wittmann (Fn. 3) 389. Trotz eines bedeutenden Erfolges schrieb Le Moniteur vom 27.3.1792, es sei eine Torheit, Dramen aus Deutschland zu holen, wo das Theater erst beginne. „La pièce des Voleurs composée en allemand par M. Schiller est un ouvrage monstrueux, sans unité, sans vraisemblance, sans intérêt. Le génie et le talent brillent par intervalles, la raison et le goût en sont presqu’entièrement exclus“. Das Journal de Paris hebt dagegen die Bühnenwirkung hervor und zitiert die in die „schrecklichen Worte“ gefasste Devise des Räubers Robert: „Guerre aux châteaux, paix aux chaumières ! …“, Speidel/Wittmann (Fn. 3) 390. 29 Zit. nach H. Hecker (Fn. 13) 1956. 30 Die lesenswerte Umschrift auf diesem am 6.9.1792 schon eher skurrilen Siegel lautet: „Louis XVI. Par la Grâce de Dieu et par la Loy Constitutionnelle le Roy des François“ = „Ludwig XVI., durch die Gnade Gottes und des Verfassungsgesetzes König der Franzosen“. Zu diesem Zeitpunkt war Ludwig XVI. bereits im Temple gefangen gesetzt, 14 Tage später wurde die Monarchie abgeschafft und drei Monate später Ludwig XVI. hingerichtet. 31 Nachsatz zu dem Gesetz vom 26.8.1792, s. nebenstehende Abb. aus A. Kühn (Fn. 21), 71, 72. 28
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wurden, lassen zwar vermuten, dass der Name Friedrich Schiller dem Protokollführer, damals noch nicht Stenograph, sondern Logograph genannt, noch nie zu Gesicht gekommen war 32. Allerdings sind Zweifel an der Person des französischen Neubürgers weder damals noch heute aufgekommen. Aus den 16 Wohltätern der Menschheit waren aufgrund des Antrags des elsässischen Abgeordneten Philipp Ruehl durch ein mehr als ungewöhnliches gesetzgeberisches „Postscriptum“ nunmehr 17 geworden. Friedrich Schiller war dabei. Völlig bedenkenfrei war dieser Akt allerdings nicht. Nach Art. 4 der damaligen Verfassung vom 3.9.1791 konnten Ausländer zwar aus wichtigem Grund eingebürgert werden, wenn sie ihren Wohnsitz nach Frankreich verlegten und den Eid schworen. Da außer Payne und Cloots keiner der übrigen Geehrten in Frankreich wohnte oder jemals daran dachte, sich in Frankreich niederzulassen und kein einziger den Eid leistete, war eine Einbürgerung nach Art. 4 durch die Verfassung von vornherein ausgeschlossen. Es ist daher gerätselt worden, ob das Gesetz vom 26.8.1792 etwa verfassungswidrig war oder ob gar der ungewöhnliche Weg einer unausgesprochenen, also stillschweigenden Verfassungsänderung durch einstimmig verabschiedetes Gesetz begangen worden war. Auch wurde gefragt, ob das allgemeine Völkerrecht einer Zwangseinbürgerung ohne ausreichende Anknüpfungspunkte wie Inlandswohnsitz, Abstammung oder Ehe mit Inländern allein aufgrund einer gemeinsamen politischen Überzeugung an die Ideale der Revolution entgegenstand 33. Man wird der Frage auch nicht durch die Annahme einer bloßen Ehrenbürgerschaft ausweichen können. Immerhin waren drei der 17 Geehrten nicht nur vollberechtigte Bürger, sondern auch mit dem passiven Wahlrecht ausgestattet und sogar zu Deputierten im künftigen Nationalkonvent gewählt worden34. Allen war schließlich feierlich der Rechtstitel eines französischen Citoyen verliehen worden. 14 Tage nach Abschaffung der Monarchie beschloss der neu gewählte Nationalkonvent am 9.10.1792, den Neubürgern eine Abschrift des Gesetzes zu übersenden. Der erste Innenminister der Republik, Roland, fügte dem Gesetzestext je einen gedruckten Begleitbrief vom 10.10.1792 bei, dem Jahr 1 der französischen Republik, in dessen Absatz 3 es heißt 35: 32 Speidel/Wittmann (Fn. 3) 367 berichten, dass der französische Schiller-Biograph Régnier die verschiedenen Verballhornungen des als Schillär (Giller) ausgesprochenen Eigennamens auf die Ignoranz eines Ministerial-Konzipienten und des Logographen zurückführte: „Le procès-verbal de la séance métamorphosa Schiller en Giller; le Moniteur allongea Giller en Gilleers; le Bulletin de Lois imprima tout bonnement Gille“. Die erste französische Häutung des Familiennamens unseres Dichters geht auf einen Bericht im Moniteur vom 12.2. 1792 zurück, in dem über eine Aufführung des Tiesco (gemeint war Fiesko) des Autors Scheller berichtet wurde. 33 H. Hecker (Fn. 13) 1957. 34 Hertz (Fn 26), 288 ; H. Hecker (Fn. 13) 1958. 35 Vollständiger Abdruck des Schreibens vom 10.10.1792 bei A. Kühn (Fn. 20) 69, 70 und H. Hertz (Fn. 26) 314. Das gedruckte Schreiben Rolands nebst dem beglaubigten Abdruck
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„Bitte bestätigen Sie den Empfang des Briefes, damit die Nation weiß, daß das Gesetz bei Ihnen angekommen ist und daß „vous comptez également les Français parmi vos Frères“.“ Roland hatte das Problem erkannt. Eingekleidet in eine Empfangsbestätigung wurde jedem Neubürger eine verstohlene Willenserklärung abverlangt.
II. Die Überraschung des Jahres 1798 1. Zustellung mit Hindernissen Die Zustellung der Urkunden an die drei deutschen Neubürger Frankreichs, Campe, Klopstock und Schiller, verzögerte sich allerdings. Der Gesetzestext mit dem Begleitbrief Rolands sollte während des rheinischen Feldzuges der Revolutionsarmeen von dem republikanischen General und ehemaligen Marquis Custine (1740–1793) veranlasst werden. Der Kriegsverlauf setzte allerdings andere Prioritäten. Fast sechs Jahre lang blieben die Zustellurkunden im Staub einer Straßburger Militärkanzlei unbeachtet liegen36. Sechs Jahre später, im Februar 1798, erinnerte sich der ehemalige Adjudant Custines, Andreas Meyer, inzwischen Richter am Tribunal du Département du Bas-Rhin in Straßburg, der herrenlosen Papiere und übergab sie dem französischen Gesandtschaftssekretär Dambmann, der auf der anderen Rheinseite am Rastatter Kongress teilnahm. Meyer legte einen nicht mehr erhaltenen Begleitbrief an Campe und Schiller bei. Der Gesandtschaftssekretär Dambmann übersandte alle drei Urkunden an Campe in Braunschweig mit der Bitte, dieser möge das Erforderliche veranlassen, damit die entsprechenden Urkunden an Schiller und Klopstock weitergeleitet werden. Tatsächlich erhielt Campe, nunmehr Schulrat in Braunschweig 37, das Konvolut und übernahm den weiteren Versand. Am 1.3.1798 endlich traf die Urkunde in Jena bei dem inzwischen in den Adelsstand erhobenen und gar nicht mehr revolutionären Friedrich von Schiller ein. Manche glauben, Campe habe die Papiere persönlich überbracht. Gesichert sind nur die Reaktionen Schillers und die des Geheimrats Goethe, dem dieser die späte Ehrung stolzerfüllt nicht verheimlichen wollte. Schiller bedankte sich tags darauf bei Campe mit einem Brief vom 2.3.1798, der die Genugtuung über die Ehrung, aber auch den Abstand zu dem historischen Ereignis wiedergibt38: des Gesetzes befindet sich heute im Nachlass Klopstocks in der Hamburgischen Staats- und Universitätsbibliothek, Hertz (Fn. 26) 319, Fn. 11; näher hierzu Speidel/Wittmann (Fn. 3), 371. 36 S. den Brief Campes vom 3.03.1798 zit. nach Speidel/Wittmann (Fn. 3) 372, 373. 37 Der Brief Campes vom 9.03.1798 über die verwirrende Geschichte der Expedition des Roland-Schreibens wird von ihm gezeichnet wie folgt: J. H. Campe, Schulrat. 38 Zit. nach H. Hecker (Fn. 13) 1958.
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„Empfangen Sie meinen aufrichtigen Dank für Ihr verbindliches Schreiben, das mich, nebst seinem übrigen Inhalt, sehr angenehm überrascht hat. Die Ehre, die mir durch das erteilte französische Bürgerrecht widerfährt, kann ich durch nichts als meine Gesinnung verdienen, welche den Wahlspruch der Franken von Herzen adoptiert; und wenn unsere Mitbürger über dem Rhein diesem Wahlspruch immer gemäß handeln, so weiß ich keinen schöneren Titel, als einer der ihrigen zu seyn. Der lange Zeitraum, der zwischen Ausfertigung meines Bürgerdiploms und dem gegenwärtigen Momente verstrichen ist, setzt mich in einige Verlegenheit, gegen wen ich eigentlich meinen Dank dafür bezeugen soll, da keiner von denen, die das Gesetz und die Ausfertigung unterschrieben haben, mehr zu finden ist. Vielleicht können Sie mir aus dieser Verlegenheit helfen, wenn Sie sich gütigst der Mühe unterziehen wollen, mir den Canal zu nennen, durch den dieser Einschluß an Sie gelangt ist. Sie werden mich dadurch um so mehr verbinden, da ich neugierig bin zu wissen, wie es mit diesem Paquet gegangen ist. Erhalten Sie mir noch ferner Ihre gütigen Gesinnungen, deren Wert ich zu schätzen weiß und die ich mit der aufrichtigsten Hochachtung und Verehrung ihrer mannigfachen Verdienste erwidere“. Auf die naheliegende Frage Schillers, wem eigentlich zu danken sei, antworte Campe feinsinnig am 9.3.1798 39: „Ich habe es für schicklich gehalten, sowohl zuförderst dem Citoyen Meyer für seine Bemühungen, als auch dem Rate der Fünfhundert und in demselben der großen Nation, für die mir erwiesene Ehre zu danken. Dem Minister Roland, der uns die Urkunden zufertigte, und dem General Custine, der sie uns durch seinen Adjudanten schicken lassen wollte, aber der damalige Unruhen wegen nicht konnte, werden wir wohl erst in jenem Leben danken können. Sehen Sie, lieber Mitbürger, dies ist alles, was ich davon zu sagen weiß, und was ich Ihnen schon in meinem ersten Briefe gesagt haben würde, wenn ich schon damals gewußt hätte, ob Sie mehr davon zu wissen wünschten. Es wird die Zeit kommen, wenn sie nicht schon da ist, da der Ehrenname, fränkischer Bürger zu sein, uns mehr als alle unsere andern Titel zur Ehre gereichen wird“. Schiller dankte jedoch am 2.3.1798 nicht nur Campe für die Zustellung. Er hielt das Ereignis für so bedeutend, dass er am selben Tage seinen Dichterfreund Goethe unterrichtete 40: 39
Speidel/Wittmann (Fn. 3) 373, 374. H. Hecker (Fn. 13) 1958 und Speidel/Wittmann (Fn. 3) 380 (auszugsweise); A. Kühn (Fn. 21) 69. 40
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„Gestern habe ich nun im Ernst das französische Bürgerdiplom erhalten, wovon schon vor fünf Jahren in den Zeitungen geredet wurde. Es ist damals ausgefertigt und von Roland unterschrieben worden. Weil aber der Name falsch geschrieben und nicht einmal eine Stadt oder Provinz auf der Adresse stand, so hat es freilich den Weg nicht zu mir finden können. Ich weiß nicht, wie es jetzt noch in Bewegung kam, aber kurz, es wurde mit geschickt und zwar durch Campe in Braunschweig, der mir bei dieser Gelegenheit die schönsten Sachen sagt. Ich halte dafür, es wird nicht ganz übel seyn, wenn ich es dem Herzog notifiziere, und um diese Gefälligkeit ersuche ich Sie, wenn es Sie nicht beschwert. Ich lege deßwegen die Acty bey. Daß ich als deutscher Publicist kat exochen darin erscheine, wird Sie hoffentlich auch belustigen“. Dem sichtlich stolzen Schiller antwortete Goethe eher schmallippig und unbeeindruckt mit einem Schuss Sarkasmus schon am 3.3.1798 41: „Zu dem Bürgerdekret … kann ich nur insoferne Glück wünschen, als es Sie noch unter den Lebendigen angetroffen hat. Warten Sie ja noch eine Weile, ehe Sie Ihre verewigten großen Mitbürger besuchen“. Immerhin waren sämtliche Akteure an der Bürgerrechtsverleihung vor sechs Jahren, Clavière, Danton, Roland und Custine, während der Terreur guillotiniert worden war. Schiller wusste nicht einmal, an wen er ein Dankschreiben zu richten hatte. Jedenfalls hatte Campe sofort den Empfang der drei Urkunden nunmehr gegenüber dem Funktionsnachfolger, dem Rat der Fünfhundert im Directoire in Paris bestätigt 42. Campe hatte das Schiller mitgeteilt. Das genügte und enthob ihn weiterer Erklärungen. Ein Dankschreiben oder eine förmliche Einverständniserklärung Schillers ist nicht bekannt. Über die Verwahrung dieser Urkunden verständigten sich Schiller und der Minister Goethe in einem Briefwechsel. Am 9.3.1798 schrieb Schiller an Goethe:43 „Der Herzog, wie mir mein Schwager sagt, wünscht, daß ich mein Bürger Diplom der Bibliothek schenken möchte, wozu ich sehr gern bereit bin. Ich will es bloß abschreiben und mir im Namen der Bibliothek attestieren lassen, daß das Original bei ihr niedergelegt ist, wenn einmal eines meiner Kinder sich in Frankreich niederlassen und dies Bürgerrecht reklamieren wollte“.
41 42
H. Hecker (Fn. 13) 1958; Speidel/Wittmann (Fn. 3) 372. Abdruck des Briefes von J. H. Campe vom 9.3.1798 bei Speidel/Wittmann (Fn. 3) 373,
374. 43
Speidel/Wittmann (Fn. 3) 380.
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Goethe, seit 2. März im Besitz der Urkunde, antwortete, ganz Minister, am 10.3.1798: 44 „Von Ihrem Bürgerdiplom wollen wir Ihnen eine vidimierte Abschrift mit dem Bekenntnisse, daß solches auf der fürstlichen Bibliothek verwahrt sei, ausfertigen lassen. Es ist recht artig, daß Sie des Herzogs Gelüst nach diesem Dokumente befriedigen. Es ist schon ein ähnliches reponiert, die Nachricht in vielen Sprachen, an alle Völker der Welt von der herrlichen französischen Nation“. Das geschah. Goethe übergab am 18.5.1798 die Urkunde der herzoglichen Bibliothek in Weimar, Schiller erhielt eine „vidimierte Abschrift“ mit Hinterlegungsnachweis 45. Zweieinhalb Wochen lang hatte ein staubiges Papier aus einer längst vergangenen Epoche den deutschen Olymp in Weimar beschäftigt. Dann wurde es archiviert. 2. Vom Glück verspäteter Zustellung Zwischen dem Gesetz zur Verleihung des Bürgerrechts an die 17 Wohltäter der Menschheit am 26.8.1792 und dem Empfang des Bürgerbriefs durch Schiller am 1.3.1798 lagen fast sechs Jahre, in denen sich die Welt verändert hatte. Das Gesetz war noch in den letzten Tagen der Monarchie ergangen. Die Terreur hatte den König und die maßgeblichen Akteure der Bürgerrechtsverleihung auf die Guillotine geschickt, die Revolutionskriege hatten Frankreich an den Rand des wirtschaftlichen Ruins und des militärischen Abgrunds geführt. Inzwischen hatte das Directoire die äußere Ordnung im Lande wieder hergestellt. Der Stern des jungen Bonaparte begann zu leuchten. Durchaus reizvoll ist es, die hypothetische Frage aufzuwerfen, wie Schiller wohl auf diese Ehrung reagiert hätte, wenn die Zustellung des Bürgerbriefs früher erfolgt wäre. Hätte Schiller das Schreiben, wie geplant, im Oktober 1792 erhalten, darf angenommen werden, dass er damals nach Paris gereist wäre. Schiller brachte, wie viele Deutsche zu jener Zeit, den Idealen der Revolution und dieser selbst in deren Frühzeit durchaus Sympathien entgegen46. Die anfängliche Begeisterung Schillers für die Revolution in Frankreich übertrug sich sogar auf die inhaltliche Gestaltung der von ihm gegründeten Zeitschrift die „Horen“. Man schwärmte in den Spalten dieses Blattes sogar
44
Speidel/Wittmann (Fn. 3) 380. In Urkundenform treffen hier das kleinstaatliche deutsche Ancien Régime und die moderne postrevolutionäre Zeit aufeinander, s. nur den Extractus Protocolli vom 9.03.1798 in Praesentia Serenissimi und das Übergabeprotokoll von Goethe und Voigt vom 18.03.1798 (wohl fälschlich 18. May 1798), vgl. A. Kühn (Fn. 21) 72. 46 Speidel/Wittmann (Fn. 3) 377. 45
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von einer gleichzeitigen Wiedergeburt Galliens und Germaniens in einer deutsch-französischen Realunion 47: „Immerhin möchte alsdann eine neue fränkische Universal-Monarchie aus beiden Staaten errichtet werden!“ Da man zu wissen glaubt, dass es Schillers Neigung entsprach und seine Absicht war, trotz seiner Sympathie für die Ideen der Revolution für das Leben des Königs einzutreten, lässt sich unschwer das Ende Schillers unter diesen Umständen erahnen. Ihm wäre es ergangen wie dem deutschen Anarchisten Baron von Cloots, der die Unvorsichtigkeit hatte, bei der Eröffnung des Konvents am 22.9.1792 seinen ihm soeben verliehenen Sitz im Parlament einzunehmen, der ihm später mit der Immunität wieder genommen wurde. Cloots wurde 1794 guillotiniert 48. Hätte Schiller dagegen das Schreiben des Innenministers Roland erst nach dem Tod von Ludwig XVI. auf dem Schafott am 21.1.1793 erhalten, so darf angenommen werden, dass er das ihm verliehene französische Bürgerrecht empört abgelehnt hätte. An Theodor Körner schrieb er zwei Wochen danach am 8.2.1793, als die Zeitungen darüber berichtet hatten 49: „Ich kann seit 14 Tagen keine französischen Zeitungen mehr lesen, so ekeln mich diese Schinderknechte an“. Als Schiller allerdings den Roland-Brief am 1.3.1798 sechs Jahre danach in Händen hielt, lagen der Königsmord und die eineinhalbjährige Periode der Terreur schon über vier Jahre zurück. Die Verhältnisse hatten sich beruhigt – einstweilen. Dass zudem alle Abgeordneten, die 1792 in schöner Einmütigkeit die Verleihung des Bürgerrechts an ihn beschlossen hatten, knapp drei Monate später auch für den Tod ihres Königs Ludwig XVI. eingetreten waren, sollte für den inzwischen geadelten Schiller kein Grund mehr sein, die von den ehemaligen „Schinderknechten“ verliehene neue Staatsbürgerschaft abzulehnen. Er fühlte sich im Gegenteil hoch geehrt, brachte dies seiner Umgebung, auch Goethe gegenüber, zum Ausdruck und sah darin, ganz Welthistoriker, der er war, für sich, seine Kinder und deren Nachkommen ein Unterpfand gegen die unkalkulierbaren Widrigkeiten künftiger Ereignisse.
47 Woltmann, Beitrag zu einer Geschichte des französischen National-Charakters, „Horen“ 1795, zit. nach Speidel/Wittmann (Fn. 3) 377. 48 S.o. Fn. 9. 49 Zit. nach H. Hecker (Fn. 13) 1959 und Speidel/Wittmann (Fn. 3) 377.
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III. Die Geschichte nach der Geschichte: Von Weimar nach Baden-Baden 1. Zwischen ius soli und ius sanguinis Die Geschichte des französischen Bürgers Friedrich Schiller endet keineswegs mit dessen Tod im Jahre 1805. Schiller hatte vielmehr vier Kinder, Karl Friedrich Ludwig Ernst Friedrich Wilhelm Karoline Luise Friederike Emilie Henriette Luise
(1793–1857), (1796–1841), (1797–1850) und (1804–1872).
Hübsche Gedankenspiele wurden von Juristen darauf verwandt 50, wie sich die französische Staatsbürgerschaft Friedrich Schillers auf dessen Kinder und deren Abkömmlinge ausgewirkt hat. In dem Revolutionsgesetz vom 26.8. 1792 sind die Abkömmlinge der dort aufgezählten Wohltäter der Menschheit natürlich nicht erwähnt. Deren staatsbürgerliche Stellung folgte damit dem allgemeinen Staatsbürgerrecht Frankreichs. Grundsätzlich galten nach Art. 2 der Verfassung von 1791 als Franzosen alle auf französischem Boden geborenen Abkömmlinge französischer Väter. Im Ausland geborene Kinder französischer Väter wurden zwar nicht automatisch ebenfalls Franzosen, konnten aber das französische Bürgerrecht erwerben, wenn sie sich in Frankreich niedergelassen, den Antrag gestellt und den Bürgereid geleistet hatten. Das Territorialprinzip (ius soli) sollte dafür sorgen, die nach England oder ins Rheinland geflohenen adeligen émigrés fernzuhalten 51. An die – damals noch nicht einmal geborenen – Kinder Schillers oder der übrigen 16 Wohltäter der Menschheit dachte dabei niemand. Erst der Code civil (1804), ab 1807 Code Napoléon genannt, führte mit Art. 10 Abs. 1 den Abstammungsgrundsatz (ius sanguinis) ein 52. Jedes im Ausland von einem Franzosen abstammende Kind erwarb damit automatisch das französische Bürgerrecht. Für die drei älteren, vor 1804 geborenen Kinder Friedrich Schillers war das schon deshalb ohne Belang, weil der Code civil keine Rückwirkung vorsah 53. Nur die jüngste Tochter Friedrich Schillers, 50 Haehling v. Lanzenauer Wirkte Schillers französisches Ehrenbürgerrecht für seine Nachkommen? NJW 1997, 1139. 51 Zur Geschichte und bevölkerungspolitischen Abhängigkeit des Wechsels oder der Kombination von ius soli und ius sanguinis vgl. Gilbert Anton, Devenir Français in Mélanges Gustave Peiser, PUG Grenoble 1995, 13, 14 ff. 52 Vgl. die deutsche Fassung des Code Napoléon mit Zusätzen und Handelsgesetzen als Land-Recht für das Großherzogthum Baden (1809): „Jedes Kind, das in einem fremden Lande von einem hiesigen Inländer geboren wird, ist Inländer“. 53 Art. 2 cc vgl. die deutsche Fassung des Badischen Landrechts: „Das Gesetz verfügt nur für die Zukunft; es hat keine rückwirkende Kraft“. Das Rückwirkungsverbot galt daher allgemein und nicht nur für das Strafrecht.
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Emilie Henriette Luise, war unter das schützende Dach des Code civil hineingeboren worden und wurde damit, wohl unbewusst, französische Staatsbürgerin. Die mehr intuitiver und welthistorischer Vorsicht gezollte Sorge Schillers, sich eine Abschrift seiner eigenen Einbürgerungsurkunde für den Fall aushändigen zu lassen, dass eines seiner Kinder sich in Frankreich niederlassen und dort das Bürgerrecht beanspruchen sollte, hat im Zuge der historische Ereignisse damit sogar eine späte gesetzgeberische Bestätigung erfahren54. Auch ohne Niederlassung in Frankreich, ohne Antrag und ohne Bürgereid war die jüngste Tochter des französischen Bürgers Friedrich Schiller dank des nachrevolutionären Code civil französische Staatsbürgerin geworden. 2. Der Urenkel Schillers in Baden-Baden 1945 Diese Weitsicht hat sich ausgezahlt. Emilie Henriette Luise Schiller 55, eine damals erfolgreiche Schriftstellerin, hatte 1828 den bayerischen Freiherrn Heinrich Adalbert von Gleichen-Russwurm geheiratet. Aus dieser Ehe ging der impressionistische Landschaftsmaler Ludwig von Gleichen-Russwurm hervor, der mit Elisabeth von Thienen-Adlerflycht die Ehe einging. Einziger Sohn aus dieser Ehe war Alexander von Gleichen-Russwurm. Dieser letzte Urenkel Schillers konnte sich 1945 die französische Staatsbürgerschaft seines berühmten Ahnen zu Nutze machen. Großmutter Emilie erzog den 1865 geborenen Alexander, der später seine Cousine Sophia von Thienen-Adlerflycht heiratete. Zwischen Offizierslaufbahn und Schriftsteller-Beruf schwankend, ergriff er schließlich doch beide und wurde Offizier und Schriftsteller. Nach dem frühen Abschied vom Militärdienst wurde Alexander von Gleichen-Russwurm ein außerordentlich fruchtbarer Schriftsteller 56. Über 100 Bücher und zahllose Veröffentlichungen sind belegt. Als im Jahre 1938 der Familiensitz Greifenstein für militärische Zwecke enteignet wurde, ging das kinderlose Ehepaar von GleichenRusswurm auf seine alten Tage in die Kurstadt an der Oos und bezog in Baden-Baden die Villa Lichtentaler Allee 12. Dorthin wurden das Familien-
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In Art. 10 Abs. 1 cc, s. Fn. 52. Emilie Henriette Luise von Gleichen-Russwurm, geb. 25.7.1804 in Weimar, gest. 25.12.1872 Schloß Greifenstein/Unterfranken. Nachlass im Schiller-National-Museum Marbach. Nachw. in Deutsches Literatur-Lexikon, 1978, VI. Bd., 392. 56 Eigentlich Heinrich Adelbert Carl Alexander Konrad Schiller, Frh. von Gleichen gen. Russwurm, später genannt Alexander von Gleichen-Russwurm, geb. 6.11.1865 Schloß Greifenstein, gest. 25.10.1947 Baden-Baden. Dramatiker, Erzähler, Essayist, Verfasser kulturgeschichtlicher und kulturphilosophischer Werke. Erfolgreich zwischen 1900 und 1932 mit zahlreichen Auflagen seiner Werke. Nachlass im Schiller-National-Museum Marbach. Nachw. in Deutsches Literatur-Lexikon, 1978, VI. Bd. 390 m. Werkverzeichnis. 55
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archiv und einige Erinnerungsstücke an den berühmten Urgroßvater verbracht57. In den letzten Kriegstagen besetzten französische Truppen Baden-Baden, das von vornherein als Sitz der Militärregierung für die französische Zone im besiegten Deutschland vorgesehen war. Für zahllose hohe Militärs, Verwaltungsbeamte und deren Tross wurden die großen Hotels, die Villen und Privathäuser requiriert. In diesem Zusammenhang sollte auch das Haus Lichtentaler Allee 12, in dem der jetzt 80-jährige Urenkel Schillers mit seiner Frau lebte, beschlagnahmt werden. Nur das Notwendigste durfte mitgenommen werden. Das war das Recht des Siegers, demgegenüber alle Rechtstitel zu versagen drohten. Der letzte Urenkel Friedrich Schillers gab indes nicht klein bei. Alexander von Gleichen-Russwurm hielt den Besatzungssoldaten bei deren Erscheinen ein Papier entgegen, eben jene „vidimierte Abschrift“ mit Verwahrungsvermerk der herzoglich-weimarischen Bibliothek. In fließendem Französisch erläuterte er den staunenden Militärs, dass es sich bei dieser Verleihungsurkunde des Jahres 1792 für den sieur Giller oder Gille aus der Bibliothek des Herzogs von Sachsen-Weimar aus dem Jahr 1798 um die Verleihung des französischen Bürgerrechts handele; Schiller sei der dort genannte Giller; für Gille gelte dasselbe; Schiller sei daher Franzose geworden; er, Alexander von Gleichen-Russwurm, sei der Urenkel Schillers; folglich sei auch er Franzose! Das mag ein kraft- und eindrucksvoller Auftritt eines vornehmen älteren Herrn in einer Situation absoluter Unterlegenheit gewesen sein. Rechtlich erwies sich diese kunstvolle Deduktion jedoch als wenig belastbar. Nach französischem Staatsbürgerrecht konnte Schillers Tochter Emilie aus zwei Gründen ihre französische Staatsbürgerschaft nicht weiterleiten. Erstens hatte sie durch Heirat mit einem Ausländer, einem Deutschen, ihre französische Staatsangehörigkeit wieder verloren und zweitens war die Ableitung der Staatsbürgerschaft von der Mutter, wie übrigens auch das aktive und passive Wahlrecht 58, erst durch De Gaulle im Jahre 1945 ermöglicht worden. Der Auftritt zeigte jedoch Wirkung. Unverrichteter Dinge, aber tief beeindruckt, zogen die niederen französischen Dienstgrade erst einmal ab und ließen das Dokument durch ihre Vorgesetzten in Augenschein nehmen. Da vermutlich staatsbürgerrechtlicher, literarischer und archivarischer Sachverstand in dieser ungewöhnlichen Kombination und zu jener Zeit vor Ort nicht ausreichend vorhanden war, die Sache aber doch irgendwie eine historische, literarische und zudem französische Grundnote aufwies – wofür Franzosen ein untrügliches Gespür haben –, wurde die Urkunde zunächst höheren Orts
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Haehling v. Lanzenauer (Fn. 50) 1140, 1141. Durch Verordnung von Algier vom 21.4.1944 vorgesehen, bei den Wahlen zum Referendum vom 21.10.1945 erstmals in die Praxis umgesetzt. 58
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geprüft. Das Papier aus der Zeit der glorreichen französischen Revolution muss auf die Verantwortlichen einen so überwältigenden Eindruck gemacht haben, dass ihm ein Schutzbrief der französischen Militärregierung beigefügt und es kurz darauf in der gehörigen Form zurückgegeben wurde59. So konnten der Schriftsteller und Urenkel Friedrich Schillers, des Wohltäters der Menschheit, und seine Frau Sophia geb. von Thienen-Adlerflycht, ihre letzten beiden Jahre unbehelligt in der Lichtentaler Allee 12 in BadenBaden zubringen. Der lange blau-weiß-rote Schatten der französischen Revolution hatte sie noch eineinhalb Jahrhunderte danach geschützt. Am 25.10. 1947 verstarb Alexander von Gleichen-Russwurm verarmt in Baden-Baden. Mehrere französische Repräsentanten nahmen an der Totenfeier teil. Einem Zeitungsbericht zufolge 60 soll die Trikolore den Sarg des Freiherrn Alexander von Gleichen-Rußwurm, des letzten Nachkommens Friedrich von Schillers, bedeckt haben. Zurück zur Ausgangsfrage: War Friedrich Schiller nun Schwabe oder Franzose? Auch wenn der Urenkel Schillers ganz gewiss nicht Franzose geworden ist, Schiller jedenfalls war es. Feine juristische Köpfe haben sich zwar gefragt, ob es völkerrechtlich zulässig war, jemanden ungefragt einzubürgern oder gar sechs Jahre nach der Einbürgerung diese Einwilligung stillschweigend zu unterstellen. Die Frage hat sich erledigt. In dieser Anfangszeit des Staatsbürgerrechts konnte die Staatsbürgerschaft auch schon durch bloße Auswanderung ohne jeden geäußerten Aufgabewillen verloren gehen. So gesehen könnte Schiller durch seine Flucht zu den „Räubern“ nach Mannheim nicht einmal Schwabe geblieben sein. Ob er im Rechtssinne sachsen-weimarischer Staatsbürger geworden ist, mag zwar naheliegend sein, sicher aber ist es nicht. Bevor wir Friedrich Schiller daher zum staatenlosen Poeten werden lassen, sollten wir ihm wenigstens sein französisches Staatsbürgerrecht gönnen, dessen Prestige sich Generationen später noch ausgezahlt hat.
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Haehling v. Lanzenauer (Fn. 50) 1141. Badische Neuste Nachrichten, Ausgabe Baden-Baden, Nr. 148 vom 1.7.1985, 11, allerdings fast 40 Jahre später. 60
Dr. jur. Mizzi Kisch (1906–1942) Ein Gedenken Verbunden mit einer späten Rezension ihrer Doktorarbeit von 1930 „Der Rechtsschutz der Schauspielerleistung bei Prominenten“ Wilhelm Güde Ich hab ja nichts getan, … als daß ich eure, meine Sprache sprach. Franz Werfel aus dem Gedicht Traumstadt eines Emigranten
I. Einleitung Wer wie der Jubilar und der Schreiber dieser Zeilen im ersten Jahr des Zweiten Weltkrieges geboren ist, hat zwar noch schemenhafte Erinnerungen an die Zeiten des Krieges. Aber es ist uns doch das Glück widerfahren, dass wir seit dessen Ende auf eine jetzt doch schon recht lange Spanne eines Lebens in Frieden, Freiheit und Demokratie zurückblicken dürfen. Die entsetzlichen Mordtaten der Nazis liegen scheinbar lange zurück; sie sind fast schon Geschichte. Und doch: Bisweilen ergreift einen der Schauder, wenn man dessen gewahr wird, dass diese furchtbaren Verbrechen während unserer Lebenszeit begangen wurden und dass unter den Opfern viele Kinder waren, die – gleich uns – heute noch am Leben sein könnten, wenn ihnen nicht unter Berufung auf eine abstruse Rassenideologie das Lebensrecht aberkannt worden wäre. Die Anzahl von sechs Millionen ermordeten Juden, die diesem Wahnsinn zum Opfer gefallen sind, ist so unfassbar, dass sie als ein eher abstraktes historisches Faktum erscheint und den Blick auf die hinter dieser Zahl stehenden individuellen Schicksale verstellt. Erst wenn man sich einzelnen Personen widmet, kann man die Ungeheuerlichkeit und Tragik eines solchen Schicksals wenigstens erahnen. Dies gilt in besonderer Weise, wenn es sich um einen Menschen aus der vertrauten eigenen – hier also der juristischen – Zunft handelt. Deswegen soll an dieser Stelle ein kleines Zeichen der Erinnerung und des Gedenkens an die Juristin Mizzi Kisch gesetzt werden.
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Wilhelm Güde
II. Herkunft und Jugendjahre Mizzi (eigentlich Marie Ruth) Kisch war Spross einer alteingesessenen, auf eine lange geistige Tradition zurückblickende Prager Familie. Sie kam am 11.11.1906 als Tochter des Rabbiners Prof. Dr. Alexander Kisch1 und seiner Ehefrau Charlotte geb. Pollatschek in Prag zur Welt. Einer ihrer Vorfahren, Abraham Kisch, hat als Student in Berlin Moses Mendelssohn Lateinunterricht erteilt und war der erste Prager Jude, der die medizinische Doktorwürde erlangte. Einer der Brüder des Vaters, also ein Onkel von Mizzi, war der damals bekannte Professor Dr. Enoch Heinrich Kisch 2, der als Mitbegründer der wissenschaftlichen Balneologie gilt und wesentlichen Anteil an der Schaffung des Weltrufes von Marienbad als Kurort hatte. Ein Vetter zweiten Grades war der legendäre „rasende Reporter“ Egon Erwin Kisch. Diese lange Tradition prägte auch die geistige Atmosphäre in Mizzi Kischs Elternhaus. Über den Vater schreibt der zweitälteste Sohn Guido Kisch in seinen Erinnerungen: „Alexander Kisch entstammte einer altprager Familie, durch deren Geschichte sich wie ein roter Faden die Verbindung tiefer Gläubigkeit und echter Frömmigkeit in dem überlieferten altjüdischen Sinne mit der Aufgeschlossenheit für die allgemeine Bildung und dem wissenschaftlichen Forschungsdrang zieht. Glauben und Wissen stellten keinen Gegensatz, sondern die notwendigen Pole aller menschlichen Betrachtungsweise dar.“ 3 Auch Mizzi Kisch setzte diese Tradition fort. Ein munterer Geist, Lebenslust, Matura mit Auszeichnung 4, Studium der Rechte und der Theaterwissenschaften, eine originelle juristische Doktorarbeit und dies alles gepaart mit der nach außen hin nicht zur Schau 5 getragenen Zugehörigkeit zum Juden1 Über ihn: Guido Kisch Alexander Kisch 1848–1917, Eine Skizze seines Lebens und Wirkens. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Prag, Halle-Saale, 1934. Zu seiner Bibliographie vgl. Guido Kisch Alexander Kisch 1848–1917, Biographische Übersicht, in: UDIM (Zeitschrift der Rabbinerkonferenz in der Bundesrepublik Deutschland), VI (1975/76), S. 33–45. 2 Über Enoch Heinrich Kisch vor allem seine Autobiographie: Enoch Heinrich Kisch Erlebtes und Erstrebtes. Erinnerungen, Stuttgart-Berlin, 1914. 3 Guido Kisch Das jüdische Prag vor zwei Generationen. Zur fünfzigsten Wiederkehr des Todestages von Rabbiner Alexander Kisch, in: Judaica Bohemiae, 3, 1967, S. 87–100, 87. 4 Universitätsarchiv Frankfurt (Signatur: UAF. Abt. 604 Nr. 247). 5 So ist auffällig, dass sie in den von mir eingesehenen Universitätsakten in Köln und Frankfurt die Tatsache, dass ihr Vater im Hauptamt Rabbiner war, nicht erwähnt, sondern ihn – wie beispielsweise in ihrem für die Promotion geschriebenen Lebenslauf – nur in seiner Funktion als „k.u.k. Gymnasialprofessor“ aufführt, denn er war im Nebenamt auch als Religionslehrer an Prager Gymnasien tätig. – Diese Zurückhaltung ist auch bei ihren Brüdern zu beobachten. Guido Kisch hatte sich seinem Lehrer Adolf Wach trotz jahrelanger Bekanntschaft nicht als Jude zu erkennen gegeben. Erst als dieser ihn im Herbst 1913 dazu einlud, sich bei ihm zu habilitieren, empfand er die Notwendigkeit, diesem fürsorglich seine Konfession zu offenbaren, indem er ihm spontan entgegnete: „Wissen Exzellenz, dass ich Jude bin“, worauf dieser klarstellte, dass er kein Antisemit sei (vgl. Guido Kisch (Fn. 8),
Dr. jur. Mizzi Kisch (1906–1942). Ein Gedenken
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tum und der Treue zur überkommenen Religion ihrer Väter. An Bruder Guido schreibt die Studentin im Jahr 1925 einmal aus Köln. „In die Synagoge gehe ich fast jede Woche und bin fast die einzige Frau.“6 Mizzi hatte drei ältere Brüder: Kurt, den soeben erwähnten Guido und Bruno Kisch, die in den Jahren 1884, 1889 und 1890 geboren waren. Sie war also das, was man schön altmodisch als Nesthäkchen zu bezeichnen pflegte. Alle drei Brüder haben Herausragendes und Fortdauerndes geleistet. Kurt Kisch (1884–1942) war schon als junger Mann in die USA ausgewandert und wirkte in New York unter dem aus den Vornamen seiner jüngeren Brüder gebildeten Pseudonym Guido Bruno als Verleger und Schriftsteller.7 Guido Kisch (1889–1985) war Jurist, Ordinarius für deutsche Rechtsgeschichte an den Universitäten Königsberg und Halle. Nach seiner Auswanderung in die USA widmete er sich vor allem der Rechtsgeschichte der Juden. Nach dem Krieg wirkte er an der Universität Basel und befasste sich dort vornehmlich mit der Erforschung der humanistischen Jurisprudenz.8 Bruno Kisch (1889– 1966) war Mediziner, Ordinarius für Physiologie an der Universität Köln. Nach seiner Auswanderung in die USA konnte er als anerkannter Kardiologe alsbald seine Lehr- und Forschungstätigkeit an der Yeshiva-University in New York fortsetzen.9 Mizzi besuchte in Prag die fünfklassige Vorschule des deutschen Mädchenlyceums und anschließend das achtklassige Reformrealgymnasiums für MädS. 53). – In eine ähnliche Richtung geht eine Schilderung des Bruders Bruno Kisch. Die „wertvollste und interessanteste Freundschaft“, die Bruno Kisch als Assistenzarzt an der Universitätsklinik hatte, war diejenige mit einem im ersten Weltkrieg gefallenen Oberarzt der Psychiatrie. Obwohl sie sich täglich sahen und jeden Abend oft bis Mitternacht zusammen im Labor arbeiteten, hatte man bislang nie darüber gesprochen, dass Bruno Kisch Jude war. „Eines Tages sprachen wir über die im Rheinland stark betonte Gegensätzlichkeit zwischen Katholiken und Protestanten. Dabei sagte ich ihm, dass ich Jude sei. Ich werde nie den sprachlosen starren Ausdruck seiner Augen vergessen, als er das hörte und seinen Ausruf „Das ist nicht möglich.“ Aber der wohlerzogene Mann war sofort wieder in Fassung, und es hat sich an unseren gegenseitigen Beziehungen bis zu seinem Tode nie etwas geändert.“ (Bruno Kisch (Fn. 9), S. 130). 6 Vgl. Fn. 10. 7 Über ihn: Arnold B. Kisch The Romantic Ghost of Greenwich Village. Guido Bruno in his Garret, Frankfurt, 1976, mit zahlreichen bibliographischen Hinweisen. 8 Vgl. vor allem seine Autobiographie: Guido Kisch Der Lebensweg eines Rechtshistorikers. Erinnerungen. Sigmaringen, 1975. Eine umfangreich kommentierte Bibliographie seiner Schriften befindet sich neuerdings im Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Bd. 14, München, 2006, unter Guido Kisch S. 54–73. 9 Auch bezüglich Bruno Kisch sei in erster Linie auf dessen Autobiographie verwiesen: Bruno Kisch, Wanderungen und Wandlungen. Die Geschichte eines Arztes im 20. Jahrhundert, Köln, 1966. Eine Bibliographie von Bruno Kischs jüdischen Schriften ist zusammengestellt in: Guido Kisch, Bruno Kisch 1890–1966. Worte des Gedenkens, Basel, 1967, S. 35– 37. Über seine Bedeutung als Mediziner ausführlich im Internet: Wolfgang und Jutta Schaper Bruno Kisch. Leben und Werk. Ein Versuch, http://www.dgk.org/organe/geschichte/ Kisch.aspx.
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Familienbild anlässlich der Promotion von Guido Kisch am 7.1.1913 (2. von rechts, ganz rechts Bruno Kisch, vorne links Mizzi Kisch. Es fehlt Kurt Kisch, der damals schon in die USA ausgewandert war.)
chen, wo sie am 17.6.1925 die Reifeprüfung ablegte. Sie war eine brave Tochter und eine gute Schülerin. Ihren so viel älteren Brüdern war sie zärtlich zugetan. Stolz sendet sie ihrem Bruder Bruno – wohl im Jahr 1924 – ein Zeugnis aus der VIII. Gymnasialklasse, das fast ausschließlich Einsen enthält und vermerkt dazu „… ich … kann Dir mitteilen, dass ich die Beste bin.“10 Sie war schon in jungen Jahren eine gewandte und eifrige Briefschreiberin. Am 20.8.1914 schreibt die Achtjährige in einem Geburtstagsbrief an ihren Bruder Bruno, der damals als Feldarzt in der k.u.k. Armee Dienst tat: „In des Ewigen hohen Rate war es nicht bestimmt, diesen Geburtstag in Frieden zu feiern, aber vielleicht ist es uns zum Nächsten vergönnt.“ Im gleichen Brief berichtet sie dem Bruder vom Geburtstag der Mutter: „Das Gedicht, welches ich dem lieben Mamachen aufsagte, lautet:
10 Dieser wie eine Reihe weiterer Briefe der in dem vorliegenden Aufsatz zitierten, leider nicht immer datierten Briefe der Familie befinden sich im Nachlass von Guido Kisch, der im Leo-Baeck-Institut in New York aufbewahrt ist. Dieser Nachlass liegt seit einiger Zeit im Mikrofilmformat vor und ist in der Berliner Zweigstelle des Leo-Baeck-Instituts einzusehen.
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So wie die Lichter brennen Und wie die Blumen blühen, so soll Dein ganzes Leben, dir hell vorüberziehen. Und kommen einmal Schatten, sie flattern bald hinaus. Wo Liebe baut zum Tempel Das teure Elternhaus Ich will durch Fleiß und Streben Nun stündlich mich bemüh’n – Nur wenig kann ich bieten, die Hand ist ungeübt. Doch nimm dafür ein Herze, so Dich so kindlich liebt. Dir teure Mutter weihet Mit kindlich frommem Sinn Ein Leben ganz voll Liebe Und alles was ich bin.“11 Natürlich sind nicht alle Briefe von Mizzi von so engelhafter Artigkeit. Die 14-jährige zieht einmal in einem Brief an Bruder Bruno vom 14.11.1920 mit dem Temperament und der Unbekümmertheit der Jugend harsch über andere her. „Weißt Du Dich vielleicht an die R.s zu erinnern, die zugleich mit uns in B. waren? Die Eine von ihnen ist ein ekelhaft überspanntes Frauenzimmer … An Blödheit übertrifft sie die L. und Ekelhaftigkeit den F.“ Und in einem Brief an den wahrscheinlich um ihren guten Ruf besorgten Bruder Bruno weist sie den um 16 Jahre älteren zurecht: „Ich weiß nicht, welch ein teuflisches Wesen Dir eingeflüstert hat, dass ich allein Stunden beim H. nehme. Es ist dies ein Kurs, in den auch noch viele andere Lyceatinnen gehen und wo man nach dem Gemauschel in Schule und Öffentlichkeit endlich wieder einmal ‚Deutsch‘ hört und lernt.“12 Mizzi hat die geliebten Eltern früh verloren. Der Vater starb 1917, als sie 11 Jahre alt war. Die Mutter starb im Jahr 1924, ein Jahr vor Mizzis Matura. Ihre Eltern und ihr Elternhaus bewahrt sie in zärtlicher und wehmütiger 11
Vgl. Fn. 10. Vgl. Fn. 10 – Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Stadt Prag damals schon weit über eine halbe Million Einwohner hatte und die deutschsprachige Minderheit inzwischen auf etwa 20.000 geschrumpft war, so dass auch die Deutschsprachigen im täglichen Leben mit der Umwelt vielfach auch tschechisch verkehrten. 12
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Erinnerung. Sehr viel später, um das Jahr 1937, schreibt sie einmal – wahrscheinlich anlässlich des Todestages des Vaters – an Bruder Bruno: „Ich brauche nicht erst zu betonen, dass Ihr genauso wie ich, wohl an diesem Tage sehr viel an den armen Papa denken werdet. Und mir fällt dabei ein Liedchen ein, das mir einmal der liebe Guido geschickt hat, als ich noch klein war. Darin hieß es, dass man als Kind den Tag festlich mit den Eltern und unter den Klängen jener Melodie beging und später, wenn das Vaterhaus begraben und die lieben Menschen fern sind, doch noch die alte treue Melodie zu einem kommt, wo immer man auch ist.“ Das letzte Jahr ihrer Gymnasialzeit verbrachte Mizzi als Waise in der Obhut des „treuen Dienstmädchens“13 der Familie. Nach dem Verlust der Mutter ist es für sie einsam geworden in Prag, aber sie hängt unendlich an der Stadt. Sie schreibt um diese Zeit an Bruder Bruno: „Ich habe Prag sehr, sehr gern. Leute wie die paar, die ich hier kenne, bin ich überzeugt auch anderswo zu finden, aber so lieb und vertraut wie die Plätze, wo ich mit der lieben Mama oder dem Papa gegangen bin, wo an dem kleinsten Gäßchen … eine liebe Erinnerung hängt, wird mir keine andere Stadt der Welt werden.“ Die Sehnsucht der jetzt allein in Prag zurückgebliebenen Mizzi nach den beiden Brüdern, die – damals beide noch unverheiratet – als Professoren an den Universitäten in Königsberg und Köln tätig waren, war übermächtig. Mizzi hegte den Traum, die Brüder würden nach Prag zurückkehren. So heißt es weiter in dem obigen Brief an Bruder Bruno „Ich für meinen Teil würde tatsächlich das schönste Ideal meines Lebens darin sehen, wenn wir drei Menschen, die ja zusammengehören, endlich doch einmal zusammenkämen und für immer nach menschlicher Voraussicht zusammenblieben. Das war ja auch immer der Wunsch der armen Mama.“ Einem früheren Einwand des Bruders Bruno, wenn sie einmal heirate und dann womöglich mit ihrem Mann von Prag fortziehen würde, wären Guido und er umsonst nach Prag gezogen, hält Mizzi mit rührender Naivität entgegen: „Glaubst Du, dass wenn ich nicht mit Euch von Prag wegginge, ich mit jemand anderem ginge und noch dazu mit einem fremden Menschen.“14 Mizzis Hoffnung blieb unerfüllt. Die Brüder sahen damals noch ihre berufliche Zukunft mit großer Präferenz in Deutschland, sicherlich nicht unbeeinflusst von der im Elternhaus erhaltenen Prägung. „Mein Vater“ berichtet Bruno Kisch in seinen Erinnerungen, „der von seiner Kindheit an in Deutschland gelebt, dort studiert und sein Doktorat mit Hauptfach Germanistik erworben hatte, war ein begeisterter Verehrer Deutschlands, deutscher Gewissenhaftigkeit, deutscher Gründlichkeit, deutscher Zuverlässigkeit usw. Er war stolz darauf, dass seine beiden Söhne ihre Karrieren in Deutschland
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Bruno Kisch Wanderungen und Wandlungen (Fn. 9). Vgl. Fn. 11.
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begonnen hatten.“ 15 Auf diesem Hintergrund ist auch eine Bemerkung Mizzis in dem erwähnten Brief zu verstehen, dass es sich doch auch in Prag „sehr gut leben lässt, auch wenn einem dabei nicht der deutsche Reichsadler über dem Haupte schwebt.“
III. Studium und Dissertation Da sich Mizzi Kischs Hoffnung, mit den Brüdern in Prag zu wohnen, nicht verwirklichen ließ, begab sie sich nach der Matura in die Obhut des Bruders Bruno nach Köln und nahm an der dortigen Universität im Wintersemester 1925/26 das Studium der Rechte und der Theaterwissenschaft auf. Sie wollte Journalistin werden und strebte lediglich das juristische Doktorat an.16 Das Studium setzte sie im Wintersemester 1927/28 und im Sommersemester 1928 an der Universität Frankfurt fort. Anschließend kehrte sie zur weiteren Fort-
Mizzi Kisch 1927 als Studentin in Frankfurt
setzung des Studiums nach Köln zurück. Dort hat sie am 1.7.1930, also im Alter von 23 Jahren, bei Hans Carl Nipperdey – Korreferent war Hans Planitz – mit der von Nipperdey als „druckreif“ beurteilten, danach auch 15 Bruno Kisch Wanderungen und Wandlungen (Fn. 9), S. 201 – Auch bei Mizzis Onkel Enoch Heinrich kommt die starke Identifikation mit der deutschen Kultur zum Ausdruck. In seiner Autobiographie schreibt er: „Ich bin trotz meiner jüdischen Konfession, von der abzufallen mir mein Charakter wehrt, mit ganzem Herzen ein guter Österreicher, schwarzgelb bis in die Knochen, und deutsch durch Erziehung und Gesinnung …“ 16 Universitätsarchiv Frankfurt (Signatur: UAF. Abt. 604 Nr. 247).
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tatsächlich im Druck erschienenen17 Arbeit „Der Rechtsschutz der Schauspielerleistung bei Prominenten“ magna cum laude promoviert. Die Arbeit hat sie ihren Brüdern Bruno und Guido gewidmet. Der Widmungstext mit der vollen Titulatur ihrer Brüder beansprucht eine eigene Seite der Arbeit und man fühlt, dass sie stolz darauf ist, auf diese Weise die geistige Tradition ihrer Familie zu dokumentieren.
Widmungsblatt in Mizzi Kischs Dissertation
Mizzi Kischs Dissertation ist auch heute noch mit ihren vielfältigen außerjuristischen Bezügen und die in ihr gegebenen Einblicke in die Theaterwelt vergnüglich und lehrreich zu lesen. Schon die hübsche Einleitung ist für eine juristische Dissertation bemerkenswert. „Zwei Elemente bilden das Wesen der Schauspielkunst. Sie wohnen jedem Menschen inne, sie kommen da und dort zum Vorschein und wollen sich auswirken. Beim Schauspieler aber, sind sie der Mittelpunkt seines gesamten Wirkens und Wollens, oder sollten dies jedenfalls beim wahren Künstler-Schauspieler sein: es ist der Hang zur Verwandlung und der Hang zur Schaustellung. Diese Elemente sind uralt und ewig neu, ein Beweis, wie wenig die Menschen aller Zeiten, aller Nationen, aller Rassen, im Grunde genommen verschieden sind. Wir sehen bei allen Völkern des Altertums, sowohl im Abend- wie im Morgenlande, das Drama aus symbolisch-dramatischen Liturgien hervorwachsen; wir sehen es aus dem reinsten aller Triebe, der Gottesverehrung, entspringen. Wir sehen zu allen Zeiten die Sehnsucht der Menschen, sich selbst aufzugeben, einmal oder zu bestimmten Zeiten sich als etwas anderes zu fühlen, vor allem etwas anderes zu scheinen als man 17 Mizzi Kisch Der Rechtsschutz der Schauspielerleistung bei Prominenten, Kallmünz, 1930 – Eine kürzlich erfolgte Nachfrage bei der noch bestehenden Buchdruckerei Laßleben in Kallmünz hat ergeben, dass die Arbeit heute noch dort auf Lager liegt und erworben werden kann.
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wirklich ist. Wir sehen diesen Trieb schon im Kinde, das Vater, Mutter, Lehrer, Kutscher und dergleichen „spielt“, wir sehen ihn an der Masse der Erwachsenen, die plötzlich der Lust unterliegt, sich zu verwandeln und dann in dieser Verwandlung sich zur Schau zu stellen. So allein lässt sich die Massenpsychose erklären, die heute noch zur Faschingszeit fast alle Kulturvölker ergreift.“18 Es folgt ein ausführlicher – mit Hinweisen auf den Sachsenspiegel und auf den Schwabenspiegel auch rechtshistorischer – Überblick über den Schauspielerstand und die Entwicklung des Theaters bis in die Neuzeit. Sodann entwickelt sie mit Blick auf die mit ihrer Arbeit beabsichtigte juristische Behandlung der Frage der Schauspielerleistung als Gegenstand des Rechtsschutzes eine eigene Definition von deren Wesen: „Schauspielen ist die sinnfällige Darstellung einer vom Dichter erfassten und im Dichtwerk umrissenen Persönlichkeit für einen Zuschauerkreis. Schauspieler ist, wer eine solche Darstellung persönlich tätigt oder zu ihr, in einer dem Zuschauerkreis wahrnehmbaren Weise, persönlich beiträgt.“19 Sie gliedert die Grundelemente der Schauspielerei in Deklamation, Mimik und Pose, Maske und Kostüm. Im Zusammenhang mit der Erörterung dieser Elemente macht sie einen kleinen Exkurs über die arbeitsvertragliche Behandlung der Improvisation durch einen Schauspieler, der ja grundsätzlich verpflichtet ist, seine Rolle, wie vorgeprobt, zu spielen. Einerseits sei jedoch das Bühnenwerk kein abgeschlossenes Kunstwerk. Hier gelte vielmehr das schöne Wort Josef Kohlers: „In jedem Werk ist eine Unendlichkeit enthalten, die der Verfasser nur eröffnet, nicht aber ausschöpft.“ 20 Andererseits gehe es natürlich nicht an, dass ein mittelmäßiger Schauspieler, über den Text seiner Rolle hinaus, seine persönlichen Ansichten und Meinungen dem wehrlosen Publikum vorsetze. „Das hieße jegliche Zucht und Ordnung des Theaters zerstören.“ Da zur Improvisation noch mehr gehöre, als ein guter Schauspieler zu sein, nämlich Geist und Geistesgegenwart und schnellstes Erfassen jeder Situation, könne sich das Recht zur Improvisation arbeitsvertraglich daher nur derjenige nehmen, der mittels besonderer geistiger Vorzüge hierzu begabt sei.21 Die Frage, inwieweit dem Schauspieler bezüglich seiner schauspielerischen Tätigkeit ein urheberrechtlicher Schutz zuzubilligen sei, wird zumindest de lege ferenda grundsätzlich bejaht, freilich mit der Einschränkung, dass dieser Schutz nur prominenten Schauspielern zuteil werden könne. 18
Mizzi Kisch Diss. S. 1. Mizzi Kisch Diss. S. 4. 20 Mizzi Kisch Diss. S. 11; Kohler Urheberrecht an Schriftwerken und Verlagsrecht, Stuttgart, 1907, S. 136. 21 Mizzi Kisch Diss. S. 10 f. 19
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„Das ist eben der Unterschied zwischen dem Massenschauspieler und dem Prominenten: es kommt nicht nur auf das Was an, sondern vom Standpunkt der schauspielerischen Leistung in erster Linie auf das Wie.“ 22 Die Entscheidung darüber, wer als prominenter Schauspieler zu gelten hat, weist sie dem Publikum zu, „dessen Organ die Presse ist, oder doch sein sollte.“ 23 „Ist es doch gerade der Schauspieler, in dessen Wirken sich mehr als bei der Mehrzahl anderer Berufe der Zeitgeist seines Jahrhunderts, das Hoffen, Streben und Bemühen seiner Zeitgenossen, deutlich widerspiegelt. … Und deshalb, weil es dem Publikum schmeichelt, sich wenigstens für Stunden von diesen Künstlern mitreißen zu lassen, mit ihnen sich zu verwandeln, dankt es ihnen dadurch, dass es sie zu Prominenten macht, zu Erhobenen, Hervorragenden in schauspielerischer Beziehung.“ 24 Diese Auffassung von der Schutzwürdigkeit der schauspielerischen Leistung setze voraus, dass der Schauspieler nicht als bloßer Lautsprecher des Dichters betrachtet werde. Auch wenn Einigkeit darüber bestehe, dass die Leistung des Dichters primär, die des Schauspielers dagegen stets nur sekundär sei, gingen die Meinungen darüber weit auseinander, ob die Leistung des Schauspielers eine rein produktive darstelle oder ob ihr ein selbstschöpferischer Charakter zugebilligt werden könne. Nach einer eingehenden Darstellung des Meinungsstandes zu dieser Frage in Literatur und Rechtsprechung 25 entwickelt Mizzi Kisch ihre eigene Stellungnahme 26. Unbeschadet der Tatsache, dass ein vom Dichter geschriebener Text zur Aufführung gelange, handle es sich nach ihrer Ansicht um eine wenigstens teilweise produktive Leistung, zumindest bestehe die Möglichkeit dafür, wenn ein herausragender Schauspieler in den Rahmen der Worte des Dichtwerks etwas vollkommen Neues hineinschaffe. Sie vergleicht den Schauspieler mit einem Naturmaler: „Wird man … den Maler, der nach der Natur malt, sie also als Vorlage für sein selbständiges Schaffen benützt, etwa als reproduktiven Künstler betrachten und ihm ein Urheberrecht an seiner Leistung absprechen wollen? Das würde wohl den eifrigsten Verfechtern der Theorien von der „repro22
Mizzi Kisch Diss. S. 13. Mizzi Kisch Diss. S. 14. 24 Mizzi Kisch Diss. S. 14 – „Die Abgrenzung des Begriffes des ‚prominenten‘ Schauspielers vom ‚nicht prominenten‘ erscheint etwas problematisch“, vermerkt Dienstag in der wohl einzigen Rezension von Mizzi Kischs Arbeit. Gleichwohl bescheinigt er ihr „eine gründliche Kenntnis des in Betracht kommenden Schrifttums und der Rechtsprechung. Sie kann zweifellos zu einer Befruchtung der rechtswissenschaftlichen Arbeit auf diesem Gebiet beitragen.“ (Dienstag Archiv für Urheber-, Film- und Theaterrecht, 5, 1932, S. 411). 25 Mizzi Kisch Diss. S. 28 ff. 26 Mizzi Kisch Diss. S. 24 ff. 23
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duktiven Schauspielleistung“ nicht einfallen. Aber schafft der Schauspieler nicht genau so nach seiner Vorlage Neues, wie der Maler?“ 27 Am Beispiel des seinerzeit bekannten Schauspielers Max Pallenberg 28 beschreibt sie den Typ des Künstlerschauspielers anhand eines originellen Zitats als jemand, der „die Worte aufmacht, wie ein Kind die Puppe, um nachzusehen, was darin ist.“ 29 „Er führt die uns von ihm dargestellte Rolle körperlich vor Augen, ohne für die Einzelheiten dieser Verkörperung, die seine eigene Schöpfung ist, auf ein objektives Bild zurückgreifen zu können. Er ist nicht nur mit dem geistigen Inhalt seiner Rolle, sondern auch mit der ganzen Körperlichkeit des Dargestellten vor uns, und das äußere und innere Dasein verbindet sich zur dargestellten Figur: Die Verkörperung der dargestellten Gestalt ist trotz gelegentlicher szenischer Bemerkungen des Dichters wohl zweifellos eine originelle Leistung des Schauspielers, und an dem seelischen Gehalt des von ihm dargestellten ist der prominente Künstler nicht unwesentlich schöpferisch beteiligt.“ 30 „… Da der Schauspieler … seine künstlerische Rolle am Faden eines ihm gegebenen Textes entwickeln muss, so sind seine Ausdrucksmittel künstlerischer Betätigung ganz andere als die des Literaten. Ein Tonfall in der Stimme, ein Tick der Bewegung, eine läppische Nuance in der Maske, eine Art der Körperhaltung können für das Publikum die Persönlichkeit, in der vom Schauspieler konzipierten Form, oft treffender charakterisieren, als lange Monologe die vom Dichter konzipierte Form kennzeichnen.“31 In diesem Zusammenhang kommt sie auf die Improvisation zurück, diesmal nicht mehr unter dem Aspekt ihrer arbeitsrechtlichen Zulässigkeit, sondern als Beweis für den eigenständigen Charakter der schauspielerischen Leistung. Freilich räumt sie ein, dass damit auch das Problem der tatsächlichen Schützbarkeit der schauspielerischen Leistung im Ganzen berührt werde, denn ebenso wie die Improvisation schon ihrer Natur nach als 27
Mizzi Kisch Diss. S. 36. Max Pallenberg 1874–1939 – Kurt Tucholsky beschrieb Max Pallenberg einmal emphatisch als „ein Teufel, ein entgleister Gott, ein großer Künstler“, Die Schaubühne, 13.02.1913, Nr. 7, S. 201 – Mizzi Kisch hat mit Pallenberg in Köln einmal über das Problem des Rechtsschutzes an der schauspielerischen Leistung gesprochen. Sie resümiert dieses Gespräch auf S. 20 ihrer Dissertation: „Pallenberg empfindet persönlich das Fehlen eines solchen nicht als einen Schaden in materieller oder ideeller Hinsicht. Doch nannte er einzelne Fälle von anderen Künstlern, wo, nach seiner Ansicht ungestraft die unerhörtesten Plagiate begangen werden, die nicht nur das Rechtsempfinden beleidigen, sondern für die Urheber der Leistung sowohl zu ideellen, als auch zu materiellen Schäden führen können.“ 29 Hoffmann GRUR, 1927, S. 69. 30 Mizzi Kisch Diss. S. 37. 31 Mizzi Kisch Diss. S. 43. 28
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Augenblicksleistung der vorherigen Festlegung ermangle, fehle auch der Schauspielerleistung eine objektive Fixierung. Aber sei dies nicht gerade ein Grund dafür, sie ihrem Erzeuger zu sichern? Sei es hinzunehmen, dass der Schauspieler einen Schaden erleidet, weil er nicht die Möglichkeit hat, seine Leistung schriftlich festzulegen? Im weiteren Verlauf gelangt sie nach eingehenden Darlegungen dennoch zum Ergebnis, dass de lege lata zwar die schauspielerische Leistung als solche mangels Durchführbarkeit einen urheberrechtlichen Schutz nicht genießt, wohl aber einzelne fixierbare Elemente – dazu gehören auch aufgezeichnete improvisierte Texte32 – seiner Leistung. Und sie konstatiert: „Es ergibt sich also der eigenartige Fall, dass das Wesentlichste an der originellen Leistung des Schauspielers, trotz des theoretisch wohlbegründeten Anspruchs auf Rechtsschutz, praktisch eines solchen nur indirekt teilhaftig werden kann, indem nur gewisse schauspielerische Einzelleistungen geschützt werden können … Dies sind … Maske und Kostüm, soweit sie nicht vom Autor durch szenische Bemerkungen angeordnet werden und Improvisationen des Schauspielers von künstlerischem Wert.“ 33 Die Bewertung des Doktorvaters Nipperdey ist voll des Lobes. „Eine recht originelle und interessante Arbeit, die kulturell und juristisch in gleicher Weise bedeutsam ist. Die Verfasserin setzt sich mit Wärme für den Schutz der schauspielerischen Leistung ein und versucht … diesen Schutz auch juristisch zu begründen, ohne die großen Schwierigkeiten zu verkennen, die der Erfassung des zu schützenden Rechtsguts entgegenstehen. Erstaunlich ist, mit welchem Eifer sich die Verfasserin in die künstlerischen Fragen, die mit dem Thema zusammenhängen, eingearbeitet hat.“34
32 Mizzi Kisch Diss. S. 39: Der improvisierende Schauspieler „soll nicht dulden müssen, dass andere die Gelegenheit wahrnehmen und sich, während er auf der Bühne steht, seine Witze notieren (was ich wirklich einmal bei einem Gastspiel Pallensbergs erlebt habe) nun irgendwelche Vorteile aus deren Verwendung beziehen.“ 33 Mizzi Kisch Diss. S. 46 f. – Der von Mizzi Kisch für geboten erachtete umfassende urheberrechtliche Rechtsschutz für die Schauspielerleistung ist auch nach heutigem Recht nicht gegeben. Die §§ 73 ff. UrhG enthalten zwar einige Regelungen zum Schutz des ausübenden Künstlers. Der in § 75 UrhG geregelte Entstellungsschutz gebietet nur die Unterlassung von Beeinträchtigungen der künstlerischen Darbietung selbst, nicht aber deren Nachahmung; das schließt allerdings nicht aus, dass sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht oder dem ergänzenden Leistungsschutz nach UWG im Einzelfall Ansprüche auf Unterlassung von Nachahmungen ergeben können. Vgl. Hertin in: Hertin/Schulze/Walter, Kommentar zum deutschen Urheberrecht, § 75 UrhG Rn. 23 mwN. 34 Promotionsakte im Universitätsarchiv Köln (Signatur: UAK Zug. 42/3162).
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IV. Noch glückliche Jahre in Prag, Flucht nach Frankreich, Tod Wie es nach der Dissertation weiterging, war nicht zu rekonstruieren. Einem wahrscheinlich an Bruder Bruno gerichteten Brief Mizzi Kischs vom 11.2.1932 aus Frankfurt ist jedoch zu entnehmen, dass sie sich auf der Suche nach einer journalistischen Tätigkeit für einige Tage in dieser Stadt aufhielt und dort allerlei Leute getroffen hat. Sie schreibt recht munter: „Heute Mittag habe ich mit Sch. bei Ullmann 35 gegessen, was mich gemeines Geld kostete. Er ist halt noch immer sehr fromm, leider auch noch immer nicht schöner geworden, aber verstehen tun wir uns blendend. … Morgen rufe ich auch beim Generalanzeiger an. Wenn nichts nützt, gehe ich noch hier zu den beiden jüdischen Zeitungen, von denen der „Israelit“ ja bekannt ist. Ich gäbe was drum, wenn ich hier bleiben könnte.“ 36 Ob etwas daraus wurde, ist unbekannt. Wahrscheinlich im Jahr 1934, vielleicht auch erst im Jahr 1935 heiratet sie Erich Kirchenberger, Spross einer „altbefreundeten Prager Familie“ 37, die ein offenbar recht gut gehendes, alteingesessenes Speditionsunternehmen in Prag betrieb. In Prag wohnt das Paar dann auch. Am 26.4.1936 kommt das Töchterchen Lilo zur Welt und wird zum Sonnenschein der jungen Familie. Mizzi Kisch schreibt jetzt Gerichtsreportagen für das „Prager Tagblatt“ und Modeartikel in der Frauenbeilage der Zeitschrift „Zeit im Bild“. In einem Brief an den bereits nach New York ausgewanderten Bruder Guido bittet sie dessen Frau Hilde um Informationen über die amerikanische Mode und um Übersendung von Frauenbeilagen amerikanischer Zeitungen, weil sie dies für ihre eigenen Artikel gut gebrauchen könne. In einem andern Brief nach Amerika schreibt sie: „Ich habe nun auch wieder für einige auswärtige Zeitungen zu schreiben und nächste Woche fängt das Schwurgericht an“. Sie war ersichtlich erfolgreich mit ihrer journalistischen Tätigkeit und offenbar darauf auch stolz. Denn sie fügt mit Bezug auf den schon Anfang des Jahrhunderts ausgewanderten und als Schriftsteller und Verleger in New York tätigen Bruder Kurt an. „Wenn ihr den Kurt findet, wolltet ihr ihm bitte sagen, ob er nicht sehr schöne und eindrucksvolle Berichte, wie sie nur ein Mitglied seiner Familie 38 schreiben kann, brauchen könnte.“ 35
Hierbei handelte es sich wahrscheinlich um ein koscheres Lokal dieses Namens. Vgl. Fn. 10. 37 Vgl. Guido Kisch Lebensweg eines Rechthistorikers (Fn. 8), S. 167. 38 Damit spielte sie auf die tatsächlich augenfällige Schreiblust der Kischs an. Guido Kisch, dessen Assistent ich vor vielen Jahren in Basel gewesen bin, hatte einen großen speziellen Bücherschrank, der ausschließlich mit Werken von Autoren der weit verzweigten Familie Kisch, die auch englische, holländische und südafrikanische Zweige hatte, gefüllt war. Vgl. hierzu auch Guido Kisch Die Familie Kisch. Genealogisch-bibliographischer Überblick über die vierhundertjährige Geschichte einer jüdischen Familie, in: UDIM (Zeitschrift der Rabbinerkonferenz in der Bundesrepublik Deutschland), V (1974/75), S. 59–74. 36
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Leider ist es trotz intensiven Nachforschungen 39 nicht gelungen von den zahlreichen journalistischen und schriftstellerischen Arbeiten Mizzi Kischs im „Prager Tagblatt“ 40 und anderen deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften in der Tschechoslowakei wenigstens einige ausfindig zu machen. Eine einzige von Mizzi Kisch stammende Kurzgeschichte 41 aus dem Jahr 1935, die in dem Blatt „Deutsche Zeitung Bohemia“ erschienen ist, fand sich eingelegt in dem Exemplar Guido Kischs von ihrer Dissertation. Diese Kurzgeschichte mit dem Titel „Polterabend“ handelt von einer jungen Frau, die am Abend vor ihrer Hochzeit die Briefe früherer Liebhaber verbrennt und dabei an mancherlei, auch an eine tiefe Enttäuschung zurückdenkt. Mizzi Kisch und ihr Mann haben an den Bedrängnissen, denen ihre Brüder in Deutschland ausgesetzt waren, lebhaften Anteil genommen und ihnen geholfen, wo immer es sich als notwendig erwies. Sie selbst haben sich in Prag vor den Nazis lange Zeit ersichtlich sicher gefühlt und sich deshalb eigentlich keine Gedanken an eine Auswanderung gemacht. Mizzi Kisch berichtet in ihren Briefen an Bruder Bruno gelegentlich davon, dass sie intensiv an der Verbesserung ihrer tschechischen Sprachkenntnisse arbeite – ein Zeichen dafür, dass das Ehepaar davon ausging, dass man in Prag bleiben werde. Erst nach dem Anschluss Österreichs wird der Ton in den Briefen besorgt. In einem undatierten, aber ersichtlich im Jahr 1938 geschriebenen Brief an Guido Kisch schreibt Erich Kirchenberger: „Wir leben hier unter schweren Umständen mit schweren Sorgen, etwa in der gleichen Weise wie ihr in Halle gelebt habt, bevor ihr hinübergingt. Es ist mir bekannt, dass eine Reihe von Pragern auch plötzlich ihren Wohnsitz veränderten, jedoch ist keine Aussicht vorhanden, dass ich die Einreise vor 1 1/2 bis 2 Jahren erhalten werde.“ 42 Mizzi Kischs Geburtstagsbrief an den mit seiner Familie noch immer in Köln wohnhaften Bruder Bruno vom 25.8.1938 ist noch ganz voller Hoffnung auf bessere Zeiten. „Ich glaube, so schwer für mich selbst alles ist, was
39 Nachfragen bei geeignet erscheinenden tschechischen, sudetendeutschen und österreichischen Archiven blieben erfolglos bzw. unbeantwortet. 40 Das „Prager Tagblatt“ ist zwar ins Internet eingestellt und kann dort online gelesen werden. Jedoch sind die Gerichtsberichte in aller Regel ohne Namensangabe des Verfassers, so dass unklar bleibt, welche von Mizzi Kisch stammen. 41 M. Kirchenberger Polterabend, in: „Deutsche Zeitung Bohemia“, 16.10.1935, S. 7. Als kleine Leseprobe der Beginn dieser Kurzgeschichte: „Das Feuer in dem eisernen kleinen Ofen brannte lustig, obgleich man den 18. Juli schrieb. Mia kniete auf dem Teppich, die Ellenbogen trotzig auf die Kante der großen hölzernen Truhe gestützt. Sie starrte in die lustig tanzende Flamme, die ihre Nahrung nicht aus Holz oder schwarzer Kohle zog, sondern aus den großen weißen und den kleinen bunten, mit farbiger Tinte dicht beschriebenen Bogen, die Mia von Zeit zu Zeit aus der Truhe zog und, nach einem kurzen oder längeren Blick, in den kleinen eisernen Ofen warf. …“. 42 Vgl. Fn. 10.
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Dir wehtut, dass der alte Gott, der Dich uns unversehrt aus den Gefahren des Krieges zurückgeführt hat, noch lebt und bei voller Kraft ist und dass er Dir den Segen der armen Eltern, um die Du Dir so viele Verdienste erworben hast, und unser aller Segenswünsche noch sicher zum Besten wird in Erfüllung gehen lassen.“ 43 Doch alle Hoffnung war vergebens. Bruno Kisch musste sich wenig später endgültig mit seiner Familie zur Flucht in die USA entschließen. Im Dezember 1938 sahen sich die Geschwister Bruno und Mizzi zum letzten Mal auf einem Bahnhof in Paris, als Bruno Kisch mit seiner Familie auf der Durchfahrt nach Amerika war.44 Wohl nach der Besetzung der Rest-Tschechei im März 1939 floh Mizzi Kisch selbst mit Ehemann und Tochter Lilo aus Prag nach Paris. Im Nachlass von Guido Kisch befindet sich noch eine auf dem Briefbogen eines Pariser Hotels geschriebene undatierte Nachricht: „Wir sind in Paris alle drei und geben Euch in 2–3 Tagen genaue Adresse an.“ 45 Danach verlieren sich die Spuren von Mizzi Kischs Familie. Briefe aus späterer Zeit sind nicht überliefert. Einem Hinweis in den Erinnerungen von Guido Kisch ist allerdings zu entnehmen, dass sie auch in Frankreich noch eine zeitlang journalistisch tätig war. Erst nach dem Krieg erhielten die Brüder „nach langem, aufregendem und aufreibenden Suchen“ 46 die Gewissheit, dass ihre Schwester Mizzi und ihr Mann ermordet worden waren. Guido Kisch berichtet darüber in seinen Erinnerungen: „Nach dem Einmarsch Hitlers in Frankreich wurde sie wie ihr Gatte bei einer der von den Okkupanten periodisch veranstalteten Razzien auf Juden verhaftet, in das berüchtigte Frauengefängnis Drancy verbracht, während mein Schwager sogleich in ein östliches Todeslager deportiert wurde. Auch sie ist in einem solchen Lager grauenvoll des Lebens beraubt worden. Allein ihr kleines Töchterchen konnte bei einer menschenfreundlichen christlichen Familie versteckt und so am Leben erhalten werden.“47 Es gibt keine Worte, um auch nur annähernd zu beschreiben, wie viel Unsägliches, wie viel Angst, Verzweiflung und Tränen sich hinter diesem eher nüchternen Bericht über Mizzi Kischs Ende verbergen. Der Aufenthalt im Gefängnis, die Trennung von Ehemann und Tochter, die vollständige Ungewissheit über deren Schicksal, der tagelange menschenunwürdige Transport im Güterwaggon nach Auschwitz oder zu einem anderen dieser
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Vgl. Fn. 10. Bruno Kisch Wanderungen und Wandlungen (Fn. 9), S. 289. 45 Vgl. Fn. 10. 46 Guido Kisch Der Lebensweg eines Rechtshistorikers (Fn. 8), S. 167. 47 Guido Kisch Der Lebensweg eines Rechtshistorikers (Fn. 8), S. 167 – Tochter Lilo Kirchenberger blieb in der Folgezeit in Frankreich und heiratete auch dort. Aus ihrer Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen. Sie war Professorin für französische Sprache. Sie starb im Jahr 1994. 44
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Orte des Grauens und das qualvolle Ende in der Gaskammer inmitten der Todesschreie verzweifelter Schicksalgefährten. Mizzi Kisch, derer wir hier gedenken, war noch nicht 36 Jahr alt, als ihr Leben ausgelöscht wurde, nur weil sie Jüdin war. Es sind seither mehr als 66 Jahre vergangen und doch ist es unmöglich, diese Worte ohne Erschütterung niederzuschreiben. Es bleibt unbegreiflich, wie es geschehen konnte, dass im Land von Kant, Mendelssohn, Lessing, Goethe und Schiller die Ideale von Toleranz, Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde so schamlos mit den Füßen getreten wurden und ein zur Staatsdoktrin gewordener Rassenwahn zum Mord an Millionen geführt hat. Deutlich wird daraus lediglich, wie brüchig letztlich doch die domestizierende Kraft der Zivilisation und einer gewachsenen, in ihren Grundsätzen unverbrüchlich erscheinenden Rechtsordnung sein kann, wenn zu vielen die Einsicht in das Unrecht, jedenfalls aber der Mut und die Kraft fehlt, der moralischen Verwilderung Einhalt zu gebieten. Die schrittweise Entrechtung der Juden begann 1933 und endete mit der Aberkennung ihres Lebensrechts. Gerade für uns Juristen ist die Erinnerung daran schmerzlich, dass diejenigen, die ja in erster Linie dazu berufen gewesen wären, das offenkundige Unrecht laut beim Namen zu nennen, weitgehend geschwiegen haben. „Juris praecepta sunt haec: honeste vivere, neminem laedere, suum cuique tribuere“48 lautet die eindrückliche Formel des Römischen Rechts, mit der das Wesen und die Funktion des Rechts in jeder menschlichen Gemeinschaft in meisterhafter Kürze umschrieben ist. Es ist schwer vorstellbar, dass es zu Auschwitz hätte kommen können, wenn die deutschen Juristen, gemäß dem Ethos dieses Satzes, den sie alle einmal gelernt hatten, im Jahr 1933 die ersten staatlichen Maßnahmen zur Entrech-
48 Dig. 1,1,10 § 1 auf deutsch: „Die Anweisungen des Rechts sind: ehrenvoll leben, den anderen nicht verletzen und jedem das Seine zugestehen.“ (Übersetzung aus: Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. Zusammengestellt, übersetzt und erläutert von Detlef Liebs München, 2007, S. 117, J 177). 49 Speziell das Versagen der Justiz hat mein Vater Max Güde, damals Generalbundesanwalt, am 19.10.1958 in einem vielbeachteten Vortrag vor der Evangelischen Akademie Bad Boll offen bekannt: „Wir können nicht anders, als uns zu unserer Schuld bekennen: zu unserer Verantwortung, weil uns mehr als irgendwem das Recht anvertraut war; zu unserem Versagen, weil wir nicht stark genug waren, vor allem auch nicht mutig genug waren, für das Recht zu kämpfen und für das Recht uns notfalls auch zu opfern; und zu unserer Schuld, weil das Recht zugrunde ging, wir aber überlebten.“ (vgl. Max Güde Justiz im Schatten von gestern. Wie wirkt sich die totalitäre Vergangenheit auf die heutige Rechtsprechung aus, Hamburg, 1959, S. 11). Dieses allgemeine Schuldbekenntnis stieß damals – als gegen den Korpsgeist verstoßend – auf Kritik in den Kreisen der Justiz, die vor allem in den höheren Positionen noch aus Richtern und Staatsanwälten bestand, die schon in der Zeit des Dritten Reiches als solche tätig waren. Man hat gestützt auf ein paar wenige mutige Amtsrichter, die es ja auch gegeben hatte, den Nimbus gepflegt, die Justiz sei weitgehend unbefleckt aus der
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tung der Juden einhellig als Unrecht angeprangert und für alle unüberhörbar Protest erhoben hätten. Wäre so den Anfängen gewehrt worden, wäre nicht nur das Leben von Millionen gerettet, sondern auch die Deutsche Geschichte vor diesem immerwährenden Schandmal bewahrt worden.49
Zeit des Nationalsozialismus hervorgegangen. In einem fiktiven Brief an einen Kollegen, der dem später gedruckten Vortrag „Statt eines Nachwortes“ beigefügt ist, hat Max Güde daher seine Auffassung über das Versagen der Justiz unter Hinweis auf ein eigenes Erlebnis nochmals verdeutlicht. Er war als Amtsrichter in Wolfach wohl im Jahr 1942 – wenig später wurde er eingezogen und war dann bis zum Ende des Krieges einfacher Soldat – aufgefordert worden, der standrechtlichen Erschießung eines jungen Polen beizuwohnen, der von der Frau eines Kriegsteilnehmers verführt worden war, weswegen die SS seine Hinrichtung angeordnet hatte. „Ich lehnte die Zumutung zur Teilnahme selbstverständlich ab …, um nicht einem Akt so offenkundiger Willkür den Anschein des Rechts zu geben. … Die Schuld anderer will ich nach den Gesetzen beurteilen, aber ob ich selbst im Unrecht stehe, will ich nicht der juristischen Kunst anvertrauen, sondern mir von meinem Gewissen beantworten lassen. Und mein Gewissen legt mir zwar keine Schuld am Tod jenes armen Menschen zur Last, aber es tadelt mich, weil ich, der ich doch Richter war, dem Recht nicht beigestanden und offen gegen das Unrecht aufgetreten bin, um es, wenn ich es schon nicht hindern konnte, wenigstens als Verbrechen laut beim Namen zu nennen. Haben nicht die verbrecherischen Desperados jener Zeit, weil ich und meinesgleichen das Recht im Stich ließen, geglaubt immer frecher das Recht missbrauchen oder brechen zu dürfen, und hat nicht auch deswegen jenes Heer von Befehlsbefolgern noch weniger Glauben an das Recht haben können? Und liege ich wegen meiner Mitverantwortung für Ohnmacht, Verwirrung und Wirkungslosigkeit des Rechts nicht mit auf der großen Wagschale, auf der unser aller Schuld an dieser bösen Vergangenheit und ihrem bösen Ende gewogen wird?“ (Max Güde, aaO, S. 18 f.).
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Wer bei dem Bundesgerichthof als Rechtsanwalt zugelassen wird, führt zwei Leben. Eines vor seiner Zulassung, eines danach. Erweist er sich in letzterem als toller Hecht, bekommt er nach einigen Jahren eine Festschrift, in der diejenigen, hinsichtlich deren man sich verständigt hat, dass sie dazu geeignet seien, erzählen dürfen, wer sich in des Hechtes Teichgesellschaft getummelt habe oder immer noch tummele: Zum Beispiel Karpfen. Karpfen? Ja, Karpfen. Wie kaum ein anderes Lebewesen ist der Karpfen geeignet, Vorgänge und Entwicklungen in den höchsten Rängen des Rechts zu veranschaulichen. Er verfügt nachweislich1 über die Fähigkeit menschlichen Ausdrucks und ist auch in besonderem Maße geeignet, ein rechtswissenschaftliches Symposion zu begleiten, ihm gar den Mittelpunkt zu stellen, insbesondere wenn sich die Sympotai die Erörterung eines gesellschaftsrechtlichen Themas – Aspekte des Gläubigerschutzes bei der GmbH vor Gesellschaftereingriffen nach Inkrafttreten des MoMiG – aufgegeben haben. Der Karpfen ist nämlich nicht nur in zeitlicher und räumlicher Hinsicht endlich, sondern auch in sympotikischer: Je nach den Verhältnissen der Sympotai, des Fisches und des Kochs können sich gegen Ende eines Fischgelages grundlegende Fragen der Verteilungsgerechtigkeit aufdrängen, die bei geputzter Platte nicht mehr geklärt werden können. Dann bleibt nur zu hoffen, dass der Symposiarch der französischen Lebensweisheit „poisson sans boisson est poison“ gedacht hatte. Sonst droht am Ende nicht nur eine leergegessene Fischplatte, sondern auch noch Illiquidität. Und die gibt Ärger. Ihn zu vermeiden, hat sich die Rechtsprechung des II. Zivilsenats des BGH, die den Jubilar seit seiner Zulassung als Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof im April 1980 – dem Ende der damaligen Karpfensaison – begleitet hat, lange bemüht. Sie liefert reiches Anschauungsmaterial für Versuche, die sympotikische Endlichkeit unseres Sozialkarpfens, der hier unter dieser Bezeichnung die ihm nicht völlig wesensfremde Aufgabe hat, die GmbH zu vertreten, in den Griff zu bekommen und das geschätzte Wesen infinitiv zu formen. Was hat sie nicht alles in den Fischteich geworfen: 39 Autokräne 2, 1 Vgl. nur die Zweieinsamkeit auf dem Bild zu Platz 2 der Karpfenworld Top 100 – www.fisch-hitparade.de. 2 BGH, Urteil vom 16.9.1985 – II ZR 275/84 = BGHZ 95, 330.
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den Maschinen- und Fuhrpark eines Bauunternehmens 3, ganze Stapel von Videofilmen 4, eine Schiffswerft 5, Tonnen von Brezeln 6 und zu guter Letzt angeblich ein Hotel 7. Unseren Hecht mag dies im einen oder anderen Fall gefreut haben; den Sozialkarpfen unseres Symposions als sich hauptsächlich von Kleinlebewesen ernährenden Friedfisch hat es nicht weiter gekümmert. Der baskische Koch jedenfalls, der ihn unseren Sympotai zubereitet hat, hat an und in ihm von all dem Kram nicht die geringste Spur gefunden. Nur endlich hat er ihn auf den Tisch gebracht. Der Symposiarch unseres Symposions ist weder dem Speisen noch dem Tranke abgeneigt. Er hat es deshalb einem der Sympotai überlassen, die Tischgesellschaft mit der Endlichkeit des Sozialkarpfens und den Versuchen ihrer Überwindung vertraut zu machen. Es handelt sich um einen mittelgroßen Mann gereiften Alters, der als Kaumtrinker und Wenigesser bekannt ist und sich auch hier mit einem Fischsüppchen begnügt, das er erkalten lassen wird. Er sitzt am oberen Tischende zur Rechten des Symposiarchen um’s Eck auf einem ergonomischen Schaukelstuhl. Mit seinem blassblauen Silberblick und den durch den Stuhl erzwungenen Wellenbewegungen ist er der geborene Sozialkarpfenerzähler. Wie alle Tischgenossen gilt er als hochqualifizierter Jurist; freilich gehen seine Interessen wie bei ihnen über die Sphäre des Rechts hinaus. Weit reicht sein Ruf als begnadeter Angler. Unser Symposial- oder Sozialkarpfen dampft glänzend in einer schlichten Silberschale auf dem Tisch, ein Kranz geflochtener Seerosen schwebt auf der ihn umwellenden Sauce à l’Irouléguy aux piments d’Espelette. Sein Maul ziert ein dickes Büschel Petersilie, und Brunnenkresse schmückt seine Kiemen. Die Sympotai, ähnlich umflort, haben zu Ehren des Daimon getrunken. Die Phonophoren sind ausgeschaltet. Der Symposiarch heißt servieren, und unser Angler-Erzähler beginnt seinen Bericht von den Versuchen der Entendlichung des Sozialkarpfens. Blendend, so hebt er an, seien sie dahergekommen, und stets auf dem neuesten Stand der Wissenschaft. „Bei Vermögenslosigkeit einer abhängigen GmbH kommt eine Ausfallhaftung des herrschenden Konzernunternehmens in entsprechender Anwendung der §§ 303, 322 Abs. 2 und 3 AktG in Betracht, wenn dieses die Geschäfte der abhängigen GmbH dauernd und umfassend selbst geführt hat und nicht dartun kann, dass der pflichtgemäß handelnde Geschäftsführer einer selbstständigen GmbH die Geschäfte ebenso geführt hätte 8 “, hätten die Autokräne bei ihrem Aufschlag auf dem Teich-
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BGH, Urteil vom 20.2.1989 – II ZR 167/88 = BGHZ 107, 7. BGH, Urteil vom 23.9.1991 – II ZR 135/90 = BGHZ 115, 187. BGH, Urteil vom 17.9.2001 – II ZR 178/99 = BGHZ 149, 10. BGH, Urteil vom 24.6.2002 – II ZR 300/00 = BGHZ 151, 181. BGH, Urteil vom 16.7.2007 – II ZR 3/04 = BGHZ 173, 246. BGH, Urteil vom 16.9.1985 – II ZR 275/84 = BGHZ 95, 330, 344.
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boden geknarzt. „Eine abhängige GmbH hat gegen das herrschende Unternehmen in entsprechender Anwendung des § 302 AktG einen Anspruch auf Verlustausgleich, wenn dieses die Geschäfte der GmbH im finanziellen Bereich dauernd und umfassend geführt hat und nicht dartun und beweisen kann, dass die entstandenen Verluste nicht auf der Geschäftsführung beruhen“9, hätten die Maschinen und Fahrzeuge des Bauunternehmens während ihres Abrollens auf den Seegrund geknarselt. Hier bleibt dem zu gemäßigter Pedanterie neigenden Arithmetiker eine Gräte im Halse stecken. „302?“, hustet er dazwischen, „Hieß es eben nicht 303?“ – „Gewiss doch“, schaukelt ihm der Angler-Erzähler entgegen, „aber die Baufahrzeuge haben eindeutig 302 deklamiert. Weshalb sie sich für die Minderzahl entschieden haben, vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht wähnten sie sich bei ihrer Fahrt ins Wasser auf einer retrograden Springprozession.“ Eine Abrissbirne habe sich im Übrigen zur Klarstellung veranlasst gesehen, dass es dem GmbH-Mehrheitsgesellschafter im Gegensatz zum herrschenden Aktionär nicht schlechthin verboten sei, sich bei der Ausübung der Leitungsmacht am Konzerninteresse auszurichten.10 „Das ist ein Missverständnis“, hätten die Videos bei ihrer Wässerung geknaschelt, „den Gesellschaftern einer GmbH ist es trotz ihrer gesetzlichen Weisungsbefugnis nicht erlaubt, die abhängige Gesellschaft im Konzerninteresse zu benachteiligen. Grundlage der Verlustübernahmepflicht im GmbH-Konzern ist die Vermutung, bei umfassender Führung der Geschäfte der abhängigen GmbH sei auf deren Belange zugunsten des Konzerninteresses nicht ausreichend Rücksicht genommen worden und darin liege der Grund für die eingetretenen Verluste. Eine solche Vermutung ist nicht mehr berechtigt, wenn feststeht, dass die tatsächlich entstandenen Verluste auf Umständen beruhen, die mit der Ausübung der Leitungsmacht nichts zu tun haben.“11 Der Angler-Erzähler kippt zurück, schlürft einen Löffel Fischsuppe, schaukelt wieder vor und nimmt einen Schluck aus seinem Wasserglas. „Wir haben hier“, fährt er alsdann wieder zurückkippend fort, „ein Beispiel für das Bemühen von Videos, ein genaues Bild der Wirklichkeit festzuhalten.“ Es habe freilich nicht lange vorgehalten. Schon eine Dekade später habe das Schwimmdock einer Werft ihrer Virtualität nämlich das Ende bereitet: „Der Schutz einer abhängigen GmbH gegen Eingriffe ihres Alleingesellschafters folgt nicht dem Haftungssystem des Konzernrechts des Aktienrechts (§§ 291 ff., 311 ff. AktG), sondern ist auf die Erhaltung ihres Stammkapitals und die Gewährleistung ihres Bestandsschutzes beschränkt, der eine an-
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BGH, Urteil vom 20.2.1989 – II ZR 187/88 = BGHZ 107, 7, 16. BGH, Urteil vom 20.2.1989 – II ZR 187/88 = BGHZ 107, 7, 18. BGH, Urteil vom 23.9.1991 – II ZR 135/90 = BGHZ 115, 187, 193 ff.
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gemessene Rücksichtnahme auf die Eigenbelange der GmbH erfordert. An einer solchen Rücksichtnahme fehlt es, wenn die GmbH infolge der Eingriffe ihres Alleingesellschafters ihren Verbindlichkeiten nicht mehr nachkommen kann“ 12, sei das Schwimmdock knarpelnd auf Grund gelaufen. Erneut meldet sich der Arithmetiker, monierend, weshalb denn nun von 291 und 311 und gar noch in Negation die Rede sei, während es doch eben um einen Rückschritt von 303 auf 302 gegangen sei. „Das tut wirklich nichts mehr zur Sache“, schnellt ihm der Angler-Erzähler auf seinem Stuhl unwirsch entgegen. Das Schwimmdock liege bestandvernichtet auf dem trüben Teichgrund; zudem seien Einzelheiten kaum noch zu erkennen, weil wenig später über ihm eine ganze Ladung von Backwaren existenzvernichtend abgelassen worden sei: „Das System der auf das Gesellschaftsvermögen beschränkten Haftung beruht auf der unausgesprochenen, für das Recht der Kapitalgesellschaft jedoch grundlegenden Voraussetzung, dass das Gesellschaftsvermögen in der Gesellschaft zum Zwecke der Befriedigung ihrer Gläubiger verbleiben muss und damit der Dispositionsbefugnis der Gesellschafter entzogen ist. Entziehen die Gesellschafter unter Außerachtlassung der gebotenen Rücksichtnahme auf diese Zweckbindung des Gesellschaftsvermögens der Gesellschaft durch offene oder verdeckte Entnahmen Vermögenswerte und beeinträchtigen sie dadurch in einem ins Gewicht fallenden Ausmaß die Fähigkeit der Gesellschaft zur Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten, so liegt darin ein Missbrauch der Rechtsform der GmbH, der zum Verlust des Haftungsprivilegs führen muss.“13 „Welch’ unausgesprochene Brezelei!“, amüsiert sich der Etymologe. „Nicht doch“, kommentiert der Angler-Erzähler, das sei ein Appell an die Tischmanieren gewesen. Allein, er habe keine nachhaltige Wirkung gezeigt. „Der Senat lässt nunmehr das bisherige, im Wege der Rechtsfortbildung entwickelte Modell der Existenzvernichtungshaftung als selbständiges Rechtsinstitut im Sinne einer eigenen Anspruchsgrundlage mit der beschriebenen eigenständigen Rechtsfolgenseite fallen und ordnet den existenzvernichtenden Eingriff – freilich ebenfalls durch richterlichen Gestaltungsakt – jetzt dogmatisch allein als besondere Fallgruppe im Rahmen der allgemeinen deliktischen Anspruchsnorm des § 826 BGB ein, und zwar als Innenhaftung des Gesellschafters gegenüber der Gesellschaft selbst“14, habe wenig später das in den See fallengelassene Hotel geknarrt. „Ein Hotel im See?“, wird unser Erzähler sanft vom Symposiarchen unterbrochen. „Das ist etwas für Kinderbücher“, wirft der kunstkundige Sänger ein. „Du erzählst uns eine volkreiche Komödie“, prustet der kugelfischrunde
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BGH, Urteil vom 17.9.2001 – II ZR 178/99 = BGHZ 149, 10, 16. BGH, Urteil vom 24.6.2002 – II ZR 300/00 = BGHZ 151, 181, 187. BGH, Urteil vom 16.7.2007 – II ZR 3/04 = BGHZ 173, 46, 255/256.
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Ichthyologe los, „ein Hotel im See lässt jeden Karpfen das Weite suchen.“ – „War es wirklich ein Hotel? Trihotel soll es geheißen haben“, der Bioarchäologe hatte aufgehorcht. „Tri – das klingt nach mehr. Oder Meer? Es soll etwas fallengelassen worden sein, aufgegeben, abgetan. Die Existenzvernichtung soll in den Rahmen einer Anspruchsnorm eingefügt worden sein, und dies auch noch dogmatisch. Existenzvernichtung als normendogenes Wesen?“, beginnt der Etymologe zu raisonnieren. „Das kann nicht sein. Die Norm ist die Norm.“ Da triumphiert der Bioarchäologe: „Hier war kein Hotel am Werk, sondern ein autophager Octopus existentiae brevis! Er war braun, rot und gelb geworden, hatte lauter Warzen auf seiner Haut bekommen, seine Tintenbeutel bis auf den letzten Rest entleert und sich in der eigenen Tinte selbst aufgefressen. Er hatte sich ausgezeichnet geschmeckt; nur ein unklares Gefühl war ihm überkommen, als ob da etwas nicht in Ordnung sei. Aber dann war es schon zu spät gewesen.15 Das geht denen immer so!“ „Also die Existenzvernichtung der Existenzvernichtung“, versucht der Symposiarch zum Thema zurückzuführen. „Der BGH ist mit unserem Sozialkarpfen bei der Generalklausel angelandet.“ – „Das ist ein Zeichen von Ermüdung“, erläutert der Hypnologe, ein Mann milder Strenge, „zermalmende Fülle des Stoffes und innere Haltlosigkeit führen zu einem langsamen Nachlassen der Kraft. Hier helfen bereitwillig die bequemen Generalklauseln, und ihre Hilfsbereitschaft öffnet ihnen und bereitet ihnen tagtäglich die Bahn.16 “ – „Von welchem Weckamin redest Du?“, hat der früher schwarzgelockte, im Rauschgiftdezernat tätig gewesene und dort verkahlte Wirtschaftsdezernent Mühe zu folgen, stößt aber bei dem Hypnologen nur noch auf dessen Miene gelassenster Entspanntheit. Für ihn antwortet der ihm gegenüber sitzende, wie stets braungebrannte Kleinverbandsforscher: „Es geht nicht um ein Weckamin, sondern um § 826 BGB. Bei meinen Ferienfeldversuchen bin ich auf einen frühen Anwendungsfall dieser Vorschrift gestoßen: Der Vater der verlobten Tochter kann, wenn er die Einwilligung zur Eheschließung aus verwerflichen Gründen versagt, von dem anderen Verlobten auf Ersatz der in Erwartung der Ehe gemachten Aufwendungen in Anspruch genommen werden.17 Unserem Sozialkarpfen geht es wie meinem Bräutigam um die bürgerliche Existenz. Müdigkeit, erinnern Sie sich doch, meine Herren, ist da fehl am Platz!“ Der Symposiarch zeigt Anzeichen von Beunruhigung. „Meine Herren, überlassen wir die Probleme junger Liebschaften anderen. Wir wissen“, wendet er sich dem Angler-Erzähler zu, „dass unserem Sozialkarpfen seine Stammnahrung nicht genommen werden darf.“18 Der Angler-Erzähler 15 Karlchen Krake in: Manfred Kyber, Gesammelte Tiergeschichten, Hamburg 1952, S. 150, insbesondere S. 151 und S. 157. 16 Hedemann Die Flucht in die Generalklauseln, Tübingen 1933, S. 60. 17 BGH, Urteil vom 6.6.1904 – VI 456/03 = RGZ 58, 248, 255. 18 § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG.
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schnellt auf seinem Stuhl nach vorne. „Ja, nicht nur die, auch seine Nahrungsersatzmittel, das Leihfutter, darf man ihm nur nehmen, wenn sein Gewässer so reichhaltig mit Kleinlebewesen bevölkert ist, dass er ohne weiteres über die Runden kommt. Ist es nicht so?“, wendet er sich an den kugelfischvergnügten Ichthyologen. „Aber klar“, kräht dieser fröhlich, „das sind die Rechtsprechungsregeln. Stammnahrung, Nahrungsersatzmittel, es ist alles dasselbe“ – „Das leuchtet mir ein“, pflichtet der kunstkundige Sänger bei, „aber wo ist dann die Schutzlücke, um deren Schließung es dem BGH geht?“19 „Du solltest mehr trinken“, stößt der Theaterautor an den ihm eigenen spitzen Stein: „Was machst Du, wenn Du einen Karpfen bestellt hast, aber nur ein flaches Etwas auf den Teller bekommst, was allenfalls noch als anorektische Flunder durchgehen könnte?“ – „Das wäre unlauter“, räumt der kunstkundige Sänger ein – „Also sittenwidrig“, will der Kleinverbandsforscher insistieren, doch fällt ihm der Wirtschaftsdezernent ins Wort: „Ich verstehe überhaupt nichts mehr. In meinem früheren Dezernat hatte ich eine Dechiffriergruppe, die mir Begriffe wie Flunder und Nahrungsersatzmittel entschlüsseln konnte.“ „Wir sollten Klartext reden“, pflichtet ihm der Etymologe bei, „zum einen haben wir unseren Karpfen verzehrt, er war vorzüglich zubereitet“, wendet er sich dankend dem Symposiarchen zu, „und hat auch nicht andeutungsweise gemooselt. Das Thema ist zum anderen auch zu bedeutsam, als dass man es an einem verzehrten Karpfen exerzieren könnte, und zum Dritten hinkt der Vergleich mit dem Futter und dem Nahrungsersatzmittel. Eigenkapital und Eigenkapitalersatz sind bei der GmbH Teile ihres Vermögens und damit des beschränkten Haftungsfonds, der sie darstellt.“ „Danke“, lässt sich ebenso erleichtert wie ersichtlich unverständig der verkahlte Wirtschaftsdezernent vernehmen. Da erhebt sich am dem Symposiarchen gegenüberliegenden Tischende der Ehrenmajor der örtlichen Bürgerwehr, ein Emeritus unternapoleonischer Statur. „Lesen Sie das Gesetzblatt?“, fragt er den Angler-Erzähler, der negierend aus dem Takt schaukelt. „Das habe ich von Ihnen nicht anders erwartet. Meine Herren“, fährt er fort, „das MoMiG sollte in diesem Kreise zur Kenntnis genommen werden. Ist es nicht so, dass es nach dem MoMiG keinen Eigenkapitalersatz mehr gibt?“, wendet er sich an seinen Nachfolger, den diensthabenden Leutnant, der ihn um mindestens einen Kopf überragt, was er ihm übelnimmt. Doch der ist à jour. „Ganz so ist es nicht. Auch das MoMiG kennt den Eigenkapitalersatz. Es verbietet allerdings nicht, die Eigenkapitalersatzmittel von der GmbH abzuziehen. So steht das jetzt in § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG.“ – „Ja ja, moderne Zeiten“, murmelt der Bioarchäologe vor sich hin. „In ein paar Jahren gibt es nur mehr den virtuellen
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Trockenfisch“ – „Das wird ja heiter“, freut sich der Ichthyologe, „wenn das Wasser knapp geworden ist, und der Sozialkarpfen notgeangelt werden muss, darf man ihm das, was von seinen Nahrungsersatzmitteln geblieben ist, auch noch wegschneiden!“, strahlt er den Leutnant an. „Nun, das sicher nicht, nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO müssen ihm die Reste der Nahrungsersatzmittel bis zum Schluss bleiben“, versucht dieser auf ihn einzugehen. „Wenn ich noch das Kommando hätte, würde ich Dich dreimal um den BGH robben lassen“, hängt der Ehrenmajor den früheren Chef raus. „Hast Du gedacht, was Du bei Deiner Notangelei aus dem Wasser ziehst? Das ist doch geradezu eine Einladung zur Ausplünderung der GmbH! Wenn die Eigenkapitalersatzmittel in der Insolvenz nicht abgezogen werden dürfen, das GmbHRecht ihren Abzug aber nicht verbietet, dann werden sie der GmbH eben vor der Insolvenz entzogen. Mein lieber Diensthabender, wer notangeln will, muss früh aufstehen. Oder siehst Du das anders?“, wendet er sich an den einst schwarzgelockten Wirtschaftsdezernten. Doch der ist gerade damit beschäftigt, seine letzte Kartoffel, die er in der Paprikasoße des Sozialkarpfens hatte zerdrücken wollen, vorsichtig von seiner Krawatte abzuschaben. „Ich sehe, Prävention ist Deine Stärke nicht“, lässt der Ehrenmajor ihn weiterschaben. „Nach § 135 Abs. 2 InsO unterliegt die Rückgewähr eigenkapitalersetzender Leistungen vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens der Insolvenzanfechtung“, versucht der Kleinverbandsforscher seine Erfahrung einzubringen, doch der Ehrenmajor grätscht ihm dazwischen „Bring’ erstmal Deinen Schönfelder in Ordnung, Du zitierst die Altfassung.“ – „In der Tat“, versucht der Leutnant Weiterungen zu verhindern, „in der Neufassung ist von Eigenkapitalersatz keine Rede mehr. Ansonsten hat sich wenig geändert: Die Befriedigung von Gesellschafterdarlehen oder gesellschafterbesicherter Drittdarlehen ist auch nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 InsO neuer Fassung anfechtbar, allerdings gilt das nur für Befriedigungen innerhalb eines Jahres vor dem Insolvenzantrag; lediglich für die Besicherung von Gesellschafterdarlehen gilt ein längerer, nämlich ein Zehnjahreszeitraum.“ Der Ichthyologe höhnt: „Welch’ wunderbare Tierquälerei! Man nimmt dem Sozialkarpfen eben sein Ersatzfutter frühzeitig weg und lässt ihn dann etwas mehr als ein Jahr zappeln, bevor man ihn notangelt.“ „Geh’ baden“, bemerkt der Theaterautor spitz. „Das war in § 135 InsO a.F. nicht anders geregelt. Die wirkliche Neuerung liegt in § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG und dem dort angeordneten Wegfall der Rechtsprechungsregeln zum Eigenkapitalersatz.“ – „Es droht Trockenheit“, schlussfolgert der Bioarchäologe, „oder siehst Du das anders?“, wendet er sich an den Gärtner, weil er in dessen Glas im Laufe des Abends hochfrequent repetierende Illiquidität bemerkt hatte, „Bewässerung ist für Dich doch das A und O.“ Der Gärtner befindet sich zu diesem Zeitpunkt halb unter dem Tisch. „Ganz so ist es nicht“, hangelt er sich hoch, „nach § 135 InsO alter Fassung
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anfechtbar war die Rückgewähr kapitalersetzender Darlehen. Zum Tatbestand gehörte damit das Krisenmoment. Das Gesellschafterdarlehen, die Gesellschaftersicherheit mussten zu einem Zeitpunkt gewährt oder stehengelassen worden sein, zu dem sich die Gesellschaft bereits in einer Krise im Sinne des Eigenkapitalrechts befand. Für § 135 InsO neuer Fassung kommt es darauf nicht mehr an. Mit den Einschränkungen, die sich aus § 39 Abs. 4 und 5 InsO ergeben, unterliegen nach § 135 InsO nunmehr jede Leistung auf ein Gesellschafterdarlehen und jede Besicherung eines Gesellschafterdarlehens der Anfechtung nach § 135 InsO. Außerdem verfügt das Insolvenzrecht noch über eine, wenn man so will, Zisterne.“ – „Das ist ja hoch interessant“, beginnt der Bioarchäologe zu strahlen, „neulich …“ – „Ich weiß, jetzt kommst Du gleich mit Deinem prähistorischen Kalamar, aber mir geht es, wenn man so will, um das Feuchtigkeitsreservoir der Waldwiese am Karpfenteich“, unterbricht ihn der Gärtner. „Ich meine den § 133 InsO. Er könnte sich als großer Liquiditätsreservoir erweisen. Du“, nimmt er sich den Ehrenmajor vor, „bist doch immer auf der Höhe der Zeit“. Der nickt. „Ist denn nicht auch der § 39 InsO geändert worden?“. Der diensthabende Leutnant eifert seinem Vorgänger zuvor: „Ja, nach der Altfassung des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO waren Forderungen auf Rückgewähr des kapitalersetzenden Darlehens eines Gesellschafters oder gleichgestellte Forderungen nachrangig. In der Neufassung des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO ist das Tatbestandsmerkmal des Eigenkapitalersatzes entfallen. Jedes Gesellschafterdarlehen oder jede Forderung aus einer Rechtshandlung, die einem solchen Darlehen wirtschaftlich entspricht, ist nunmehr nachrangig.“ – „Und wenn ein Darlehen zurückgezahlt wird, was hat das für Folgen?“, wendet sich der Gärtner an den Arithmetiker: „Dann gibt es eine Substraktion vom Haben und vom Soll, quasi eine Kongruenzrelation auf Null!“ – „Haben will ich sie“, poltert der Wirtschaftsdezernent über seiner Krawatte. „Haben habe ich auch lieber“, wendet sich der Gärtner an den Symposiarchen und deutet auf die erneute Illiquidität in seinem Glas. „Meine Herren, ich sehe, unser Schelinger Ruländer, der unseren Karpfen so köstlich begleitet hat, ist zur Neige gegangen. Ich habe uns jetzt einen tiefroten Madiran ausgesucht. Seine Farbe passt zu unserem Thema, und seine Erdenschwere wird uns gut tun. Was nun Soll und Haben anbelangt“, wendet er sich an den Angler-Erzähler, der ihm von der Seite entgegenkippt, „dürfte uns nur das Haben interessieren“. – „So ist das“, lässt sich dieser zurückfallen, „einen Fisch, den ich nicht habe, kann ich nicht verteilen.“ – „Und mit Wasser, das ich nicht habe, kann ich nicht gießen“, fügt der Gärtner hinzu. „Du willst also sagen, dass die Rückzahlung eines Gesellschafterdarlehens die Gläubiger benachteiligt“, führt der Leutnant pflichtbewusst zum Thema zurück. – „Streng von der Habenseite betrachtet, führt an dieser Schlussfolgerung kein Weg vorbei, der Dividend diminuiert“, antwortet ihm der Arith-
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metiker. „Wenn nun aber die Darlehensrückführung zu einer Zeit erfolgt, in der die GmbH kriselt und die Beteiligten das wissen?“, fragt der Gärtner. „Nachtigall, ick hör’ dir trapsen“, baritönt der kunstkundige Sänger, „Du willst auf § 133 InsO hinaus, die Absichtsanfechtung!“ – „Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt“, beglückwünscht ihn der Theaterautor. „So ein Unsinn!“, lallt der verkahlte Wirtschaftsdezernent über seiner Krawatte. „Einem Gesellschafter wird sich doch nie nachweisen lassen, dass er sein Darlehen wieder abgezogen hat, um die Gläubiger zu benachteiligen; es wird ihm doch immer darum gehen, sein Geld zurückzubekommen.“ – „Schönfelder nachlegen“, fällt ihn der Ehrenmajor an. „Das wird nicht reichen, ohne eine Grundschulung auf Helgoland wird es nicht gehen“, spitzt der Theaterautor zu: „§ 133 InsO erfordert lediglich Benachteiligungsvorsatz und für den reicht das Wissen des Schuldners aus, dass seine Rechtshandlung die Gläubiger benachteiligt, nicht wahr?“ – „Wenn ich mich recht erinnere, genügt sogar bedingter Vorsatz“, lässt sich der Angler-Erzähler bei einer Rückneigung vernehmen. „Richtig“, pflichtet ihm der Gärtner, derzeit knapp oberhalb der Tischkante, bei. „Die Gläubigerbenachteiligung braucht weder Beweggrund noch vorrangiger Zweck des Schuldnerhandelns gewesen zu sein. Der Schuldner muss bei seiner Handlung lediglich erkennen und billigend in Kauf nehmen, dass der von ihm eigentlich erstrebte Vorteil auf Kosten von Gläubigern geht. Das ist seit langem geklärt.“ 20 – „Aber ist es nicht so, dass die Erbringung einer geschuldeten Leistung wie die Rückzahlung eines jederzeit kündbaren Gesellschafterdarlehens nach Kündigung, also die Gewährung einer kongruenten Deckung oder Befriedigung, erhöhte Anforderungen an die Feststellungen des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes zur Folge hat?“, hakt der Angler-Erzähler nach. „Sicher 21“, schaltet sich der kunstkundige Sänger ein, „aber das betrifft nur den Nachweis des Beteiligungsvorsatzes.“ „Ich krieg’ die Krise!“, murmelt der Wirtschaftsdezernent. „Darauf will ich hinaus“, beruhigt ihn der Gärtner, zwischenzeitlich zum Sitzriesen geworden: „Wie war das denn beim Eigenkapitalersatz?“, wendet er sich an den Bioarchäologen. „Das war ein weites Feld“, hebt dieser an. „Verlier’ Dich nicht“, spottet der Ichtyologe, während der einst schwarzgelockte Wirtschaftsdezernent summt: „Take a little dope and walk out in the air …“ – „Diese Krise bedeutete Kreditunwürdigkeit“, verliert der Bioarchäologe den Faden nicht, „eine nicht bloß vorübergehende Liquiditätskrise genügte, so etwa, wenn die GmbH ihre Verbindlichkeiten in erheblichem Ausmaß nicht mehr begleichen konnte oder wenn sie wirtschaftlich so angeschlagen war, dass sie ihren Kreditbedarf nicht mehr aus eigener Kraft decken konnte.“22 20 21 22
Vgl. nur BGH, Urteil vom 18.4.1991 – IX ZR 149/90 = NJW 1991, 2144, 2145. BGH, Urteil vom 18.4.1991 – IX ZR 149/90 = NJW 1991, 2144, 2145. BGH, Urteil vom 4.12.1995 – II ZR 281/94 = NJW 1996, 720, 721.
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„Entspricht das nicht der drohenden Zahlungsunfähigkeit im Sinne der §§ 18, 133 Abs. 1 Satz 2 InsO?“, meldet sich der Etymologe. „Wohl ja“, bestätigt ihm der Gärtner. „Drohende Zahlungsunfähigkeit ist in der Regel anzunehmen, wenn über einen längeren Zeitraum hinweg ständig Verbindlichkeiten in beträchtlichem Umfange nicht ausgeglichen werden 23. Sie setzt deutlich eher ein als die Zahlungsunfähigkeit im Sinne des § 17 InsO, die erst bei einer Unterdeckung von zehn Prozent oder mehr über einen Zeitraum von bis drei Wochen hinweg gegeben ist 24.“ – „Darf ich mit einer Formel dienen?“, mischt sich der Arithmetiker ein. „Drohende Zahlungsunfähigkeit liegt vor, wenn in einem Zeitpunkt die kumulierte Wahrscheinlichkeit für nicht deckbare Finanzplandefizite größer ist als die für mindestens ausgeglichene Finanzpläne 25.“ – „Wenn Du verstehst, was Du damit meinst, ist es ja gut“, bewundert ihn der Etymologe, um sich sodann an den Gärtner zu wenden: „Was folgt daraus, wenn die drohende Zahlungsunfähigkeit im Sinne der §§ 18, 133 Abs. 1 Satz 2 InsO der Krise im Sinne des früheren Eigenkapitalersatzrechtes entspricht?“ Da schnarrt ihn der Ehrenmajor an: „Gesetz lesen! Wer die drohende Zahlungsunfähigkeit kennt und weiß, dass die ihm gegenüber vorgenommene Rechtshandlung Gläubiger benachteiligt, kennt nach § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO auch den Benachteiligungsvorsatz des Schuldners.“ – „Aber wie können wir die Kenntnis der Gläubigerbenachteiligung, die § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO verlangt, nachweisen?“, sucht sich der Etymologe zu vergewissern. „Nachdenken“, will ihn der Ehrenmajor niedermachen, „dazu reicht es doch, wenn dem Anfechtungsgegner den Umständen nach bekannt ist, dass es noch weitere Gläubiger mit ungedeckten Ansprüchen gibt 26“. – „Gut. Aber“, erweist sich der Etymologe standfest, „setzt § 133 Abs. 1 InsO nicht zunächst einmal den Benachteiligungsvorsatz des Schuldners selbst voraus?“ Dem Ehrenmajor verschlägt es die Sprache, weshalb der Arithmetiker begütend logeln kann: „Hast Du schon einmal etwas gekannt, was es nicht gibt?“ – „Richtig“, pflichtet ihm der diensthabende Leutnant bei, das Verstummen des Ehrenmajors sichernd, „die Vermutung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO gilt natürlich nicht nur für die Feststellung der Kenntnis des Anfechtungsgegners vom Benachteiligungsvorsatz des Schuldners, sondern auch für die Feststellung des Benachteiligungsvorsatzes selbst 27.“ „Was haben nun aber der Benachteiligungsvorsatz des Schuldners und dessen Kenntnis seitens des Anfechtungsgegners mit dem alten Eigenkapitalersatzrecht zu tun?“, schaukelt sich der Angler-Erzähler ins Gespräch zurück – 23 24 25 26 27
BGH, Urteil vom 24.5.2007 – IX ZR 97/06 = WM 2007, 1579, 1581. BGH, Urteil vom 24.5.2005 – IX ZR 123/04 = WM 2005, 1468, 1469 ff. MünchKomm/Drukarczyk § 18 InsO, Rz. 40. BGH, Urteil vom 24.5.2007 – IX ZR 97/06 = WM 2007, 1579, 1581. BGH, Urteil vom 13.4.2006 – IX ZR 158/05 = NJW 2006, 2701, 2702.
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„Da kann ich Dir helfen“, antwortet ihm der Kleinverbandsforscher. „Das frühere Eigenkapitalersatzrecht kannte ebenfalls eine subjektive Komponente: Der Gesellschafter, der der Gesellschaft ein Darlehen oder eine Sicherheit gewährt hatte, musste jedenfalls die Möglichkeit haben, den Eintritt der Krise seiner Gesellschaft zu erkennen28. An diese Möglichkeit waren allerdings keine hohen Anforderungen zu stellen. Die grundsätzliche Verantwortlichkeit des Gesellschafters, für eine seriöse Finanzierung der im Rechtsverkehr auftretenden GmbH zu sorgen, die es verbietet, zum eigenen Vorteil das Risiko, das mit der Fortführung einer aus eigener Kraft nicht mehr lebensfähigen und deshalb liquidationsreifen Gesellschaft verbunden ist, durch Einsatz von als Fremdmitteln gewährten Gesellschafterhilfen auf die Gesellschaftsgläubiger abzuwälzen, folgt schon allein aus der Übernahme der Stellung eines Gesellschafters. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, muss der Gesellschafter von sich aus sicherstellen, dass er laufend und zuverlässig über die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft, insbesondere den eventuellen Eintritt der Krise, informiert ist 29.“ – „Hat sich an diesen gesellschaftsrechtlichen Vorgaben durch das MoMiG etwas geändert?“, will der Angler-Erzähler wissen, bevor er auf seinem Schaukelstuhl wieder nach hinten wegkippt. „Ach i wo!“, versichert ihm der Ichtyologe fröhlich, „die Finanzierungsverantwortung des Gesellschafters und seine sich daraus ergebenden Informationsobliegenheiten hat der BGH doch seit jeher irgendwie aus § 13 GmbHG hergeleitet.“ „Ich verstehe noch immer nicht, worauf Ihr hinauswollt“, gibt der einst schwarzgelockte Wirtschaftsdezernent Luzidität vor. „Wenn ein Gesellschafter sein der GmbH gewährtes Darlehen zurückfordert und von dieser daraufhin Zahlung erlangt, handelt die GmbH doch ebensowenig im Benachteiligungsvorsatz wie derjenige, der seiner Ehefrau eine Wohnung schenkt.“ – „Was die Ehefrau anbelangt, empfehle ich Dir den Besuch meiner Vorlesungen“, entgegnet ihm der Kleinverbandsforscher. „Was dagegen das Verhältnis des Gesellschafters zu seiner GmbH betrifft, könnte sich aus der Gesellschafterverantwortung nicht eine erhöhte Darlegungslast für den Gesellschafter ergeben, wenn er vor der Jahresfrist des § 135 InsO n.F. ein Darlehen von der Gesellschaft abgezogen hat und der Insolvenzverwalter ihn deshalb nach § 133 InsO auf Rückgewähr in Anspruch nimmt?“, wendet er sich an den Gärtner. – „Darauf könnte es hinauslaufen“, lässt sich dieser nun wieder von der Tischkante her vernehmen. „Auch bislang hat der BGH bei § 133 InsO mit Indizien gearbeitet; so indiziert eine inkongruente Befriedigung sowohl die Benachteiligungsabsicht des Schuldners als auch deren Kenntnis durch den befriedigten Gläubiger und späteren Anfechtungsgegner 30.“ 28 29 30
BGH, Urteil vom 7.11.1994 – II ZR 270/93 = ZIP 1994, 1934, 1938. BGH, aaO. BGH, Urteil vom 11.3.2004 – IX ZR 160/02 = WM 2004, 1141, 1142.
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„Richtig. Der Benachteiligungsvorsatz als innere Tatsache kann ebenso wie seine Kenntnis durch den Anfechtungsgegner regelmäßig nur aus verdächtigen äußeren Umständen erschlossen werden, die gemäß § 286 ZPO frei zu würdigen sind“, pflichtet der kunstkundige Sänger bei. – „Auf denn! Wir stimmen mit Euch ein. Uns kann es, so wie Euch, erfreuen“, deklamiert ihm, freilich eine Tonlage zu hoch, der Theaterautor zu. „Du meinst, wenn ein Gesellschafter mehr als ein Jahr vor der Insolvenz der Gesellschaft ein Darlehen oder eine Gesellschaftersicherheit abzieht, und der Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt Zahlungsunfähigkeit drohte, könnte dies mangels substantiierten gegenteiligen Vortrages des Gesellschafters dahin gewürdigt werden, dass der Gesellschafter die drohende Zahlungsunfähigkeit und auch die Gläubigerbenachteiligung gekannt habe, weshalb von seiner Kenntnis des Benachteiligungsvorsatzes des Schuldners auszugehen sei wie auch vom Benachteiligungsvorsatz des Schuldners selbst?“ – „So könnte es hinkommen“, lässt sich der Gärtner nun wieder zu einem Drittel oberhalb der Tischkante vernehmen, „zumal der Abzug eines Gesellschafterdarlehens oder einer Gesellschaftersicherheit im Zeitpunkt drohender Zahlungsunfähigkeit wegen § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO stets gläubigerbenachteiligend ist, da die Gesellschafterforderung in der Insolvenz absoluten Nachrang hat. Könnte sich deshalb nicht folgendes ergeben?“, wendet er sich an den Angler-Erzähler: „Befindet sich eine GmbH in einer Krise im Sinne des alten Eigenkapitalersatzrechtes, wird ihr jedenfalls die Zahlungsunfähigkeit drohen. Wenn ein Gesellschafter in diesem Zeitpunkt ein Darlehen oder eine Sicherheit abzieht, indiziert dies, dass die Beteiligten die drohende Zahlungsunfähigkeit gekannt haben. Sie werden sich dann auch fragen lassen müssen, aufgrund welcher konkreter Vorstellungen sie davon überzeugt gewesen seien, dass die GmbH in absehbarer Zeit alle ihre Gläubiger befriedigen könne 31, und weshalb wegen der Darlehensrückgewähr eine Gläubigerbenachteiligung nicht zu befürchten gewesen sei, obwohl das Darlehen wegen § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO im Insolvenzfalle zur Gläubigerbefriedigung hätte zur Verfügung stehen müssen.“ „Hat das MoMiG also gar nichts geändert, bleibt alles am Platz?“, freut sich der Bioarchäologe. „Darauf könnte es hinauslaufen dank unserer Zisterne: §§ 133 Abs. 1 Satz 2 InsO und 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO: Damit lässt sich Liquidität einfangen, nur heißt sie jetzt nicht mehr Eigenkapitalersatz“, schließt der Gärtner, seine Füße unter der gegenüberliegenden Tischseite einsammelnd. „Was aber ist mit dem existenzvernichtenden Eingriff?“, kriecht der Hypnologe aus seiner entspannten Innerlichkeit. „Ich war letztens unten im
31
BGH, Urteil vom 19.12.2002 – IX ZR 377/99 = WM 2003, 524, 530.
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Teich“, berichtet der Bioarchäologe, „da hat es aus der Leerstelle des existenzvernichtenden Eingriffs noch geblubbert.“ – „Du meinst wohl die Zinsen des IX. Senats 32.“ spottet der Ichtyologe „Wenn der sich an eine Sache ranmacht, ist meist ohnehin nicht mehr viel da.“ – „Selber Geier.“ gluckst der Ethymyologe. „Also ich sehe immer noch nicht die Lücke“, bedauert der kunstkundige Sänger, „denn wenn das Haftungsinstitut des existenzvernichtenden Eingriffs dazu dienen soll, Lücken im Eigenkapital- und Eigenkapitalersatzrecht zu schließen, der Gesetzgeber aber das Eigenkapitalersatzrecht abgeschafft hat, dann bleibt doch nur noch das Stammkapital als Coda in Alleinstellung, und der Rest ist Sache des Insolvenzrechts.“ – „Bois donc“, so der Theaterautor nun breit, „je voudrais te voir déraisonner“ – „Ich weiß nicht so recht“, gibt der Leutnant zu bedenken, „wenn bei meiner Bürgerwehr die Grippe umgeht und mir fast alle Leute fehlen, habe ich doch immer noch eine größere Lücke.“ – „Du hast vor allem keine Methode“, blafft ihn der Ehrenmajor an, wieder im Besitz seiner Sprache. „Es geht um die guten Sitten“, mischt sich der Kleinverbandforscher ein, „und für Gut und Böse brauche ich doch ein Unterscheidungskriterium. Oder siehst Du das anders?“, wendet er sich an den Hypnologen. – „Bei mir ist das der Wecker“, entgegnet dieser. „Schlaf weiter“, springt der Ehrenmajor auf seinen Stuhl, „wir haben ein neues Gesetz. Und das wird neue Sitten zeitigen!“ – „Bleib’ auf dem Teppich“, ruft ihm der Etymologe zu, während der diensthabende Leutnant ihn behutsam vom Stuhl hebt. „Ein Federstrich des BGH, und das MoMiG erweist sich als praeterlegal!“ „Hört doch“, heißt der kunstkundige Sänger die Sympotai horchen, „unsere Damen haben in der Küche Fisches Nachgesang angestimmt.“ Andächtig lauschen sie. Der Symposiarch hat sich derweil erhoben „Gute Nacht Freunde“ – „… es ist Zeit für uns zu gehen“, singt der kunstkundige Sänger die bekannte Weise fort und der Ichtyologe und der Theaterautor stimmen mit ihrem hellen Tenor ein, während der verkahlte Wirtschaftsdezernent headbangend den Rhythmus vorzugeben versucht. „Die Zeit ist fortgeschritten“, schließt sodann der Symposiarch. „Unser Sozialkarpfen hat seine Endlichkeit vollendet und soeben habe ich dem Gärtner die letzten Tropfen unseres Madiran eingeschenkt. Letzte Dinge werden wir hier nicht mehr klären. Chronos wird zeigen, ob das Nichts in der Lücke bleibt. Es hat mich gefreut“, verabschiedet er sich. Die Sympotai umarmen sich. Nur der Gärtner dreht noch langsam sein Glas zwischen Daumen und Mittelfinger. Sein Zug fährt erst um Voll.
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BGH, Urteil vom 13.12.2007 – IX ZR 116/06 = WM 2008, 449, 450.
Der postmortale Guss – (k)ein Rechtsproblem? Peter Raue
In einer Festschrift zu Ehren des Jubilars ein kleines Kapitel der – stets faszinierenden – Schnittstelle zwischen Kunst und Recht zu widmen, liegt nahe: Hat doch dieser glänzende Jurist, engagierte Rechtsanwalt und charismatische Hochschullehrer seine Liebe zu den Künsten im Allgemeinen, zu den Bildenden Künsten im Besonderen gelebt, ihnen Zeit, Raum und Herz geschenkt. So sind die nachfolgenden Gedanken zum „postmortalen Guss“ eine Referenz an den Juristen und Kunstliebhaber Achim Krämer.
I. Der postmortale Guss Kaum ein Begriff in der Bildenden Kunst hat in den letzen Jahren heftigeren Streit und emotionalere Reaktionen ausgelöst als das Schlagwort vom „postmortalen Guss“. Dabei purzeln insbesondere in den Feuilletons aller großen (vornehmlich deutschen) Zeitungen Begriffe, juristische Axiome und Positionen erstaunlich munter durcheinander. Der „postmortale Guss“: Eine Fälschung? Ein Original? Ein „minderwertiges“ Original? Muss der Museumsdirektor erröten, wenn er Lehmbrucks „Der Gestürzte“, Barlachs „Sänger“ oder Arps „Sirene“ ausstellt, obwohl jede dieser Arbeiten nach dem Tode des Künstlers entstanden ist? Ist die Herstellung (und der Vertrieb) des postmortalen Gusses ein rechtswidriger Akt? Eine Verletzung der Urheber(Persönlichkeits-)rechte des Künstlers? Immer – manchmal – nie? Fokussiert hat sich diese Diskussion – nachdem sie schon einmal entflammt war vor vielen Jahren anlässlich zweifelhafter Barlach Nachgüsse – im Streit um den Wert und Unwert postmortaler Güsse des deutsch-französischen Künstlers Hans/Jean Arp. Bevor wir das Thema juristisch einkreisen, lohnt ein – sehr kursorischer – Blick auf diese Auseinandersetzung, in deren Zentrum der Verein „Stiftung Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp e.V.“ (hinfort Arp-Verein) und das Land Rheinland-Pfalz standen. Der Verein ist Inhaber eines großen Teils des Arp-Nachlasses und Erbe des Künstlers Arp. Er ist fast ein Jahrzehnt lang Gegenstand kritischer Berichterstattung eben wegen der postmortalen Güsse gewesen1. 1 Es ist nicht der Eitelkeit, sondern der Fairness geschuldet, wenn der Verfasser an dieser Stelle bekennt, dass er in den rechtlichen Auseinandersetzungen mit dem Land Rheinland-
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Nur den Hauptweg betrachtend und die Nebenwege außer Acht lassend, ist der Streit ausgebrochen, nachdem das Land Rheinland-Pfalz sich verpflichtet hatte, in Rheinland-Pfalz ein Arp-Museum zu errichten, in diesem Zusammenhang vorab ein Konvolut von Arp-Werken zum Gesamtpreis von rund 20 Millionen DM zu erwerben und sich ein Dauerleihgabenkonvolut hat versprechen lassen. Nachdem die Verträge längst abgeschlossen waren, begann es zu rumoren: Zunächst weniger mit dem Vertragspartner des ArpVereins – dem Land Rheinland-Pfalz – als vielmehr in der Feuilleton-Presse. Da hat man plötzlich entdeckt, was Gegenstand der Verträge ist: dass von den versprochenen Güssen ein Teil noch gar nicht gegossen war, sondern erst noch gegossen werden sollte, dass andere Arbeiten aus dem verkauften bzw. versprochenen Konvolut postmortale Güsse sind. Und nun begann ein Kampf gegen diese angeblich unzulässigen, angeblich nicht museumsreifen postmortalen Güsse, geradeso, als ob der Arp-Verein der Erste in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts gewesen sei, der Güsse nach dem Tod eines Künstlers herstellt und damit den Originalitätsbegriff angeblich verwässert. So behauptet bereits im Jahre 1997 Gerd Reising – ein nimmermüder Kämpfer gegen sogenannte postmortale Arp-Güsse – anlässlich seines Berichtes über die Arbeit des Arp-Vereins in der FAZ: „Nur die Gipse, die erkennbar von Arps Hand stammen und dessen einmalige Arbeitsweise bezeugen, können … den Anspruch erheben, Originale zu sein.“ Hellsichtig schreibt die ZEIT im selben Jahr: „Der Fall Arp könnte zum Exempel der schwierigen Debatte um Original und Fälschung in der Kunst werden.“ Zehn Jahre später berichtet 3sat, wieder einmal skandalsuchend: „1997 deckten Experten auf, dass Werke, die als Originale ausgewiesen waren, posthum hergestellt worden waren“ (sc: und deshalb keine Originale sind). Bevor die vertraglichen Beziehungen zwischen dem Land Rheinland-Pfalz und dem Arp-Verein einvernehmlich beendet wurden, hallte es durch den Pressewald: Stefan Koldehoff spricht in der Süddeutschen Zeitung im Jahre 2008 von „zweifelhaften Nachgüssen und angeblichen Gussrechten für weitere Skulpturen“ und behauptet kühn: „Umstritten bleibt die Frage, ob die vom Land erworbenen posthumen Nachgüsse überhaupt museumswürdig sind“. Erstaunlich bleibt nur, dass diese Attacken von Menschen geritten werden, denen die Kunst doch wahrlich vertraut ist. Die Kämpfer gegen Pfalz anwaltlicher Vertreter der Stiftung Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp e.V. gewesen ist.
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postmortale Arp-Güsse stehen sicher begeistert vor Rodins „Höllentor“ am Eingang der Züricher Kunsthalle, obwohl jeder Hinweis darauf, dass es sich um einen postmortalen Guss handelt, fehlt. Das MoMA leiht in seine die Spitzenwerke versammelnde Ausstellung nach Berlin Rodins „Balzac“; das Metropolitan dessen „Bürger von Calais“: Nachgüsse aus den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, ohne dass die Museen es auch nur für notwendig halten, auf die „museumsunwürdige“ Eigenschaft jener postmortalen Werke hinzuweisen und ohne kritische Begleitmusik der Presse. Auch die großartige Giacometti-Ausstellung im Sommer 2008 in Paris zeigt eine Fülle von postmortalen Güssen. Weder in der Ausstellung noch im Katalog wird auf diesen Umstand hingewiesen. Was dem Arp-Verein in deutschen Feuilletons angekreidet wird, ist offensichtlich den Museen dieser Welt – ob Lehmbruck oder Kolbemuseum, ob in Zürich, Basel oder New York – erlaubt. So berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung – Vorreiterin der Angriffe auf den Arp-Verein – am 11.2.2009 begeistert über die Hamburger DegasAusstellung „Intimität und Pose“ unter der Überschrift „Edgar Degas – Bildhauer – zu Lebzeiten zeigte er nur eine einzige Skulptur. Jetzt zeigt Hamburg sein Werk“. (Und das müsste natürlich heißen: „Jetzt zeigt Hamburg sein postmortales Werk.“) In dieser Kritik lesen wir über Degas: „Aber Werke aus Bronze, diesem ‚Material für die Ewigkeit‘, wollte er (sc. Degas) nicht hinterlassen. Ihm sei die Verantwortung zu ,groß‘. Nach dem Tod des Junggesellen jedoch sichteten Erben, Kunsthändler und Gießer den Bestand und machten sich entschlossen daran, ihn auszuwerten. Aus intakten oder rekonstruierbaren, zumindest noch nicht rettungslos zerfallenen Skulpturen wählten sie 72 …. für den Bronzeguss in einer Auflage von je 22 Exemplaren aus. Eines dieser Exemplare wurde im Frühjahr des Jahres 2009 in London mit 11,8 Mio. £ versteigert.“ Und milde urteilt der Kritiker „aber noch in der postumen Vervielfältigung zeigt sich buchstäblich (wie das?) die Handschrift des Künstlers …“ 22 Exemplare aus rekonstruierten (!) Skulpturen finden begeisterte Zustimmung in jenem Feuilleton, das seit zehn Jahren das Verdammungsurteil über die posthumen Arp-Skulpturen spricht. Dabei gilt es doch zu bedenken und klarzustellen: Bronzen werden grundsätzlich hergestellt als Abgüsse von Gipsmodellen. Das einzige „Original“ ist also der Gips, denn die Bronze wird in einer Gießerei hergestellt und es ist die freie Entscheidung der Künstler, wie weit sie den Herstellungsvorgang einer solchen Bronze überwachen und ob sie den fertigen Guss bearbeiten (patinieren). Der vermögende Künstler wird möglicherweise gleich den Auftrag geben, die Skulptur „ausgießen“, d.h. in
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der vom Künstler vorgesehenen Anzahl herstellen zu lassen. Aber gerade die Besten unter den Künstlern – ob Rodin, Lehmbruck oder Giacometti – konnten sich diese kostspieligen Produktionen gar nicht leisten. In aller Regel wird der Künstler die Anzahl der Skulpturen, die er im Laufe der Zeit gießen lassen will, festlegen, das erste Exemplar mit „1/7“ – also erstes von insgesamt sieben Exemplaren – bezeichnen. Mit der Festlegung auf die Zahl 7 erteilt er zumindest die Erlaubnis, wenn nicht gar den Auftrag an seine Erben, im Rahmen des Möglichen die weiteren Güsse herzustellen, postmortale Güsse zu schaffen. Im Mittelpunkt der Diskussion (insbesondere um den Arp-Verein, der aber hier dennoch pars pro toto steht) steht die Frage: wann ist ein Guss ein Original, „der Bronnen, aus dem die ewige Erquickung quillt“? Kein Museum wird ein Gemälde von Giacometti aufhängen, wenn es nicht von der Hand des Künstlers stammt, postmortale Güsse dieses Künstlers zieren die Museen der Welt. Die zu- und abgeschriebenen Rembrandt- und GoyaWerke belegen es: Das Museum wird nicht müde werden zu forschen, ob die Werke, die ausgestellt werden, „Originale“ sind, denen allein die Aura der Museumswürdigkeit anhaftet. Fälschungen haben in Museen sowenig zu tun wie in bedeutenden Sammlungen. Gilt das nicht für Bronzen? Wann sind sie museumsreife und -würdige Kunstwerke? Deshalb sucht dieser Beitrag Antwort auf die Frage: Wann ist ein Guss ein „Original“? Welchen Originalitätsbegriff legt das Urhebergesetz zugrunde, das die Werke des Künstlers vor Verfälschungen und Nachahmung zu schützen sich zum obersten Gebot gemacht hat? Wie ging die Kunstwelt in der Vergangenheit, wie wird sie in der Zukunft mit dem postmortalen Guss umgehen? Die Antwort formulieren wir vor dem Hintergrund eines Symposiums, das die „Arbeitsgemeinschaft Bildhauer, Museen und Skulpturensammlungen e.V.“ und das „Arp-Museum Bahnhof Rolandseck“ im September des Jahres 2008 veranstaltet haben.2
II. Das Urheberrecht und der Begriff des Originals Als trügerisch erweist sich die Hoffnung, dass das Urhebergesetz Auskunft darüber gibt, was ein „Original“ eines Kunstwerkes ist, wann wir es mit einer eigenen schöpferischen Leistung des Künstlers im Sinne der §§ 1 und 2 UrhG, wann mit einer (da mag dahinstehen, ob zulässigen oder unzulässigen) Bearbeitung im Sinne des § 23 UrhG zu tun haben.
2 Bei Abfassung dieser Zeilen steht die Veröffentlichung mit den Beiträgen dieses Symposiums noch aus.
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1. Es überrascht, dass das Urhebergesetz den Begriff des Originals nicht definiert, ihn als Rechtsbegriff voraussetzt. So heißt es in § 6 Abs. 2 Satz 2: „Das Werk der bildenden Kunst gilt auch dann als erschienen, wenn das Original oder (!) ein Vervielfältigungsstück des Werkes … der Öffentlichkeit zugänglich gemacht ist.“ Ähnlich formuliert § 10: „Wer auf den Vervielfältigungsstücken eines Werkes oder auf dem Original (im Vergleich zu § 6 also die umgekehrte Reihenfolge!) … als Urheber bezeichnet ist, wird … als Urheber des Werkes angesehen.“ Diese Parallelstellung Original-Vervielfältigungsstück finden wir in den §§ 17, 18, 25, 27 UrhG. Von Interesse ist dabei insbesondere die Regelung in § 26 UrhG, also jener von Anfang an umstrittenen und mehrfach neugefassten Formulierung zum Folgerecht. „Wird das Original eines Werkes der bildenden Kunst … weiterveräußert, … so hat der Veräußerer dem Urheber einen Anteil des Veräußerungserlöses zu entrichten.“ Nachdem nur Originale folgerechtspflichtig sind, liegt die Hoffnung nahe, die Definition des Originals aus jener Norm destillieren zu können. Weit gefehlt! Um jedenfalls für die Praxis Klarheit zu erzielen, haben sich die Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst und der Arbeitskreis deutscher Kunsthandelsverbände angesichts der Mesalliance zwischen Folgerecht und Künstlersozialabgabe auf eine Spezialregelung geeinigt. Darin heißt es: „Posthume Güsse zählen zum Umsatz mit Kunst des 20. Jahrhunderts.“ 3 Damit ist für die Praxis geklärt, dass nicht nur die zu Lebzeiten des Künstlers hergestellten Güsse „Originale“ sind, sondern auch deren postmortale Produktionen, an deren Verkaufserlös auch die Erben des verstorbenen Künstlers teilhaben (dass das Folgerecht sich auch auf die ohne die Genehmigung der Urheberrechtsinhaber produzierten posthumen Güsse erstreckt, sei am Rande bemerkt). Ein letzter suchender Blick in das Urhebergesetz: Nach § 114 darf die Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen nicht in die einem Künstler gehörenden Originale eines Werkes erfolgen. Ob Nachgüsse dieses Privileg genießen, beantwortet der Gesetzgeber freilich nicht und bleibt offene Frage.
3
Dazu Loewenheim Handbuch des Urheberrechts, München 2003, § 88 Nr. 10.
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Mit anderen Worten: das Urhebergesetz kennt den Begriff des Originals, aber es definiert ihn nicht. Es setzt ihn voraus und überlässt es der Kunstwelt zu entscheiden, wann wir es mit einem „Original“ zu tun haben. 2. Die Literatur zum Original-Begriff im Urhebergesetz ist flüchtiger, eher kursorischer Natur. Eine wohl herrschende Meinung in der Kommentarliteratur will eine Bronzeskulptur – ohne dies zu begründen – nur dann als Original anerkennen, wenn der Urheber den Abguss erstellt hat oder er unter seiner Aufsicht produziert wurde.4 Wie die Verfasser zu dieser Auffassung kommen, bleibt ihr Geheimnis. Würde die Praxis der Museen, Sammler und Händler ihrer Ansicht folgen, wären die Weltmuseen voll von nicht-originalen Skulpturen, – und diese könnte man dann getrost als „Fälschung“ bezeichnen. Es ist Schönebeck’s weitgreifender Monographie „Moderne Kunst und Urheberrecht, Berlin 2003“ vorbehalten, der hier wiedergegebenen Definition des Originalitätsbegriffes entgegenzutreten: Da die technische Ausführung des Vor-Bildes durch den Künstler lediglich handwerkliche Leistung sei, müsse man sich, so Schönebeck, von dem klassischen Originalitätsbegriff gänzlich verabschieden. Ein radikaler aber kaum praktikabler Vorschlag! 3. Die Erkenntnis, dass das Urhebergesetz den Begriff des Originals voraussetzt aber nicht definiert, bedeutet freilich nicht, dass wir es zu der Frage der Zulässigkeit von skulpturalen Vervielfältigungen (zu Lebzeiten des Künstlers und nach dessen Tode) schweigen wüssen. Im Gegenteil, einige erstaunliche Konsequenzen können wir für die hier gestellte Frage aus dem Urhebergesetz durchaus ziehen. a) Es ist das Recht des Künstlers zu entscheiden, wie viele Exemplare er von einer von ihm geschaffenen Skulptur herstellen (lassen) will. Von der klassischen Kleinauflage (maximal sieben Exemplare zzgl. ein oder zwei „Épreuve d’artiste“, e.p.) bis zu einer Auflagenhöhe, die in den Bereich des sog. „Multiple“, also der unbegrenzten Wiederholung des Exemplars, anwachsen kann. Welche Wertschätzung in Sammlerkreisen auch den Multiples entgegengebracht wird, belegen – pars pro toto – die immer wieder enormen Preise, die z.B. die Multiples von Josef Beuys erzielen. Entscheidet der Künstler, dass von jedem seiner Kunstwerke 7 (oder 17 oder 70) Exemplare hergestellt werden dürfen, dann gibt er die Erlaubnis zur Vervollständigung der Auflage über seinen Tod hinaus. Die Erben handeln also rechtmäßig, stellen keine „Fälschungen“ her, wenn sie die Skulpturen „nachgießen“ (das dürfte mutatis mutandis auch für Lithographien, Radie4
Vgl. Schricker UrhR, 3. Aufl., § 44 Rn. 28; Wandtke/Bullinger UrhR, 3. Aufl., § 26 Rn. 7; Fromm/Nordemann UrhR, 9. Aufl., § 26 Rn. 2; wohl auch Rehbinder UrhR, 10. Aufl., Rn. 250.
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rungen etc. gelten). Damit steht aber fest, dass posthume Güsse, die sich im Rahmen der vom Künstler zu Lebzeiten vorgegebenen Auflagenhöhe halten, zulässig sind. Die Erben, die diese Skulpturen posthum gießen lassen, handeln absolut korrekt. Die Museen, die solche Skulpturen ausstellen, stellen mit Sicherheit keine Fälschungen aus. Ob man diese posthumen Güsse dann als „Original“ bezeichnet oder nicht, ist jedenfalls keine juristische, sondern eher eine Geschmacksfrage. Eine rechtliche Verpflichtung, diese postmortalen Güsse auch als „postmortal“ zu bezeichnen, besteht mit Sicherheit nicht. b) Da die Erben eines Künstlers auch dessen Urheberpersönlichkeitsrechte erben, geht das Recht der Erben aber noch viel weiter, als es beim ersten Anschein aussieht. Selbst dann, wenn der Urheber die Auflagenzahl auf – beispielsweise – sieben Exemplare beschränkt hat, ist es das gesetzlich verbriefte Recht der Erben, Güsse über diese Auflagenzahl hinaus herstellen zu lassen. Genauso wie der Künstler sich an seine eigenen Vorgaben nicht halten muss (aber halten sollte), genauso dürfen die Erben von Rechts wegen die Produktion beliebig fortsetzen (die Frage, wie der Kunstmarkt auf eine solche dann nicht mehr „wundersame Skulpturenvermehrung“ reagiert, steht auf einem anderen Blatt). Es ist in diesem Zusammenhang schon bemerkenswert, dass Künstler immer wieder ihre eigene Grenzsetzung („nur sieben Exemplare einer Skulptur!“) dadurch umgehen, dass sie ein- und dasselbe Werk in verschiedenen Größen, in verschiedenen Farben herstellen und jeweils die Zählweise neu beginnen. Ein Recht, das das Urhebergesetz den Künstlern ebenso wie den Erben einräumt. So ist die barbarische Vergrößerung einer herrlichen Kollwitz-Skulptur in der Neuen Wache in Berlin Unter den Linden – dieses erstaunliche blow-up-Verfahren – jedenfalls keine Verletzung der Urheberrechte von Käthe Kollwitz, weil die Erben die Genehmigung erteilt haben. Dass sie die Genehmigung besser nicht erteilt hätten, steht auf einem anderen, einem künstlerischen Blatt. c) Und auch darüber müssen wir uns Klarheit verschaffen. Die Erben eines Künstlers sind jedenfalls solange berechtigt, in der „wundersamen Skulpturvermehrung“ Zuflucht zu suchen und mit ihr die familiäre Finanzsituation aufzubessern, als der Urheber nicht testamentarisch festgelegt hat, wie mit seinen Skulpturen verfahren werden soll. Solange der Urheber keine Vergrößerungs- (Verkleinerungs-) Verbote aufgestellt hat, dürfen die Erben entscheiden, ob solche Produktionen zulässig sind. Nach Ablauf der Urheberschutzfrist von 70 Jahren kann ohnehin jedermann seine Rodins und Barlachs produzieren und auf den Markt bringen, ohne dabei mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen. Die Magazin-Beilage der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ bietet Barlachs berühmte Skulptur „Das Wiedersehen“ an mit der allerliebsten Überschrift „neu und streng limitiert“ zum Subskriptionspreis von 1.480,00 €“; auf welche Zahl diese Reproduktion „streng limitiert“ ist, was
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diese Skulptur kosten mag, wenn die Subskriptionszeit (deren Ende ebenfalls nicht angegeben ist) vorüber ist, das verrät das Inserat keineswegs, lässt den Käufer auch im Ungewissen darüber, dass er hier eine Arbeit erwirbt, die mit Barlach so viel zu tun hat wie die geschnitzten Dürer-Hände aus Oberammergau mit Albrecht Dürer. Da die Urheberschutzfrist von 70 Jahren bei Barlach abgelaufen ist, ist gegen eine solche Produktion aus urheberrechtlicher Sicht nichts einzuwenden. Wie weit Formulierungen wie „streng limitiert“ den Käufer der Arbeit täuschen, ist eine Frage des Bürgerlichen Rechts und bedürfte besonderer Untersuchung. 4. Diese Überlegungen führen zu der bitteren Erkenntnis, dass der Jurist die Hoffnung aufgeben muss, den Originalitätsbegriff in der bildenden Kunst definieren und damit die unzulässige Vervielfältigungs-Streu vom wertvollen Originalitäts-Weizen trennen zu können.
III. Der Originalitätsbegriff im Kunsthandel Obwohl uns das Urheberrecht mit der Definition des Orginal-Begriffes im Stich lässt, gibt es keinen Zweifel an der Erkenntnis, dass der Kunsthandel häufig (aber keineswegs immer!) dem zu Lebzeiten des Künstlers gegossenen Werk eine höhere Wertschätzung entgegenbringt als dem posthumen; dass er einem Nachguss, der die vom Künstler vorgesehene Anzahl übersteigt, skeptischer gegenübersteht als dem sich an die Vorgaben des Künstlers haltenden postmortalen Guss. Nicht am „Original“begriff sollte sich die Diskussion entzünden – der Begriff ist untauglich für die Einordnung einer vervielfältigten Skulptur –, sondern an der Frage, ob und wann der Rechtsverkehr einen Anspruch darauf hat, beim Kauf einer Skulptur zu erfahren, ob sie der Künstler zu Lebzeiten oder dessen Erbe gegossen hat; ob die Auflagenzahl eingehalten oder überschritten wurde. 1. Vor mehr als 30 Jahren – im Jahre 1974 – haben sich die amerikanischen Kunsthändler eine eigene Handlungsnorm geschaffen in der Erklärung zu den „Normen für plastische Revolution und präventive Maßnahmen zur Bekämpfung unethischer Bronzegüsse“.5 Nicht der postmortale Guss wird in dieser Erklärung verdammt, sondern die Forderung nach Klarheit aufgestellt: Dass postmortale Güsse als solche gekennzeichnet werden, damit der Handel darauf reagieren kann. Freilich 5 „A Statement on Standards for Sculptural Reproduction and Preventive Measures to Combat Unethical Casting in Bronze.“ – Nach einer Darstellung der Problematik – die sich vor 35 Jahren schon genauso stellte – werden bestimmte Standards aufgestellt, d.h. bestimmte Vorgehensweise für unethisch erklärt (z.B. Surmoulage, Vergrößerung von Skulpturen, Vervielfältigung in anderen Materialien, posthume Güsse, die nicht als solche gekennzeichnet waren).
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blieb diese Erklärung von der „durchschlagenden Wirkungslosigkeit eines Klassikers“ (Max Frisch): Die Kennzeichnung einer Bronze als postmortaler Guss bleibt die Ausnahme, hat sich bei weitem noch nicht durchgesetzt. Auch auf den Kunstmärkten sind postmortale Güsse zugelassen. So wird z.B. in den Zulassungsbestimmungen des „Artforum Berlin“ gefordert, dass postmortale Güsse als solche gekennzeichnet sind.6 2. Die „Arbeitsgemeinschaft Bildhauer, Museen und Skulpturensammlungen e.V.“ hat im Oktober 2008 eine „Handreichung“ verfasst „zum Umgang mit posthumen Güssen“. Dort lesen wir von der „zunehmenden Sensibilisierung gegenüber posthumen Güssen“, die dazu geführt habe, „dass die Wertschätzung von Exemplaren, die zu Lebzeiten des Künstlers entstanden sind, stark zugenommen hat“. Wir erfahren aber auch, dass „eine Markierung posthumer Güsse bisher unüblich“ gewesen sei. Es sei „hilfreich bzw. notwendig, dass an der Bronze selbst erkennbar ist, ob es sich um einen posthumen Guss handelt. Für die Gegenwart und Zukunft sind daher eindeutige Markierungen anzustreben“. In der Erkenntnis, dass für solche Angaben oft gar kein Platz auf der Skulptur ist, empfiehlt die Handreichung, jeder Skulptur ein Zertifikat beizugeben. Diese kluge Handreichung bestätigt unser Ergebnis: Es war in der Vergangenheit unüblich, blieb die absolute Ausnahme, posthume Skulpturen als solche zu bezeichnen, – eine Änderung dieser Praxis ist dagegen wünschenswert.
IV. Der postmortale Guss im Kunsthandel Da einerseits das Urheberrecht dem postmortalen Guss keine Grenzen setzt, andererseits der Kunsthandel durchaus ein Interesse haben kann, wenigstens zu erfahren, ob die Skulptur, die gehandelt wird, postmortal gegossen oder noch vom Künstler selbst betreut wurde, kann nur das Kaufrecht – können nur die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches – Antwort auf die Frage geben, welche Rechte dem Käufer einer Skulptur zustehen, die sich als postmortaler Guss erweist. Ob der Käufer einer Bronze Ansprüche wegen Nicht- oder Schlechterfüllung des Kaufvertrages hat, wenn er einen postmortalen Guss erworben hat, hängt von der Gestaltung des Kaufvertrages ab. Die Frage, ob ein Käufer, der einen Guss erworben hat, von dem er später erfährt, dass es sich um einen postmortalen Guss handelt, oder ob derjenige, der das Exemplar 5/7 erworben hat und später erfährt, dass über die Zahl sieben hinaus Güsse erstellt 6 Zugelassen werden ausschließlich Werke der bildenden Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts: Originalerzeugnisse der Bildhauerkunst (entsprechend Zolltarif Nr. 97.03). Posthume Güsse müssen als solche deklariert sein (Aussteller-Service 2008, S. 11).
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worden sind, Gewährleistungsansprüche geltend machen kann, beantworten die §§ 433 und 434 BGB. Nach § 433 Abs. 1 Satz 2 BGB hat der Verkäufer dem Käufer die Sache frei von Sach- und Rechtsmängeln zu verschaffen. § 434 Abs. 1 Satz 1 BGB regelt, dass der verkaufte Gegenstand – unsere Bronze – dann frei von Sachmängeln ist, wenn er „die vereinbarte Beschaffenheit hat“. Ist eine Beschaffenheit nicht vereinbart, so ist die Kaufsache gem. § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB7 nur dann frei von Sachmängeln, wenn „sie (…) eine Beschaffenheit aufweist, die bei Sachen der gleichen Art üblich ist und die der Käufer nach Art der Sache erwarten kann“. a) Erwirbt der Käufer eine Bronze des Künstlers Barlach oder Arp, ohne weitere Vereinbarungen zu treffen und erfährt er später, dass dieses erworbene Exemplar ein postmortaler Guss ist, so liegt ein Mangel im Sinne des § 434 BGB nicht vor. Denn – dies ergibt sich aus den oben angestellten Überlegungen – es besteht bis heute weder eine Verpflichtung des Verkäufers, auf den postmortalen Charakter einer Skulptur hinzuweisen noch entspricht ein postmortaler Guss nicht dem, was üblicherweise erwartet werden kann. Häufig mag es vorkommen, dass der Verkäufer – wenn er nicht als Erbe verkauft – die Frage, ob es sich um einen postmortalen Guss handelt, nicht einmal beantworten kann. Es ist eben „üblich“, dass von Skulpturen verstorbener Künstler postmortale Exemplare im Rahmen der vorgegebenen Auflagenzahl gegossen und auf den Markt gebracht werden. Der postmortale Guss entspricht der Üblichkeit, der Käufer erwirbt also, auch wenn es sich um einen postmortalen Guss handelt, mangelfreie Ware8. b) Will der Käufer sichergehen, dass der von ihm erworbene Guss zu Lebzeiten des Künstlers erstellt wurde, so muss er diese Eigenschaft im Kaufvertrag mit dem Veräußerer vereinbaren. Dann steht der Veräußerer dafür ein, dass die gehandelte Skulptur zu Lebzeiten hergestellt wurde. Stellt sich heraus, dass diese Vereinbarung nicht eingehalten wurde, so greifen die §§ 434 ff. BGB. c) Nichts anderes dürfte gelten, wenn der Erwerber des Exemplars „5/7“ nach Erwerb feststellt, dass über die sieben vom Künstler vorgesehenen und damit genehmigten Exemplare weitere Exemplare hergestellt wurden. Die Tatsache, dass es nicht nur sieben Exemplare gibt, sondern „Übergüsse“ her-
7 § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BGB spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, da eine vertraglich vorausgesetzte Verwendung zumeist nicht gegeben sein wird. 8 Heinbuch NJW 1984, 15, 19; wohl auch Schack Kunst und Recht, Köln 2004, S. 17; siehe auch Goepfert Haftungsprobleme im Kunst- und Auktionshandel, Berlin 1991, S. 72 f.
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gestellt wurden, nimmt dem durch Kaufvertrag erworbenen Guss „5/7“ nicht die Richtigkeit dieser Bezeichnung, so dass ein Sachmangel auch in diesem Falle nicht vorliegen dürfte9.
V. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich aus der rechtlichen Betrachtung zu postmortalen Güssen feststellen: – An der urheberrechtlichen Zulässigkeit postmortaler Güsse, die von den Erben festgelegt werden – seien es die persönlichen Erben, sei es eine Stiftung –, kann es keinen Zweifel geben. Der postmortale Guss ist weder unzulässig noch eine Fälschung. Ob der Kunsthandel dem postmortalen Guss einen geringeren (Kauf-) Wert zuerkennt als dem zu Lebzeiten gegossenen, wird vom Einzelfall abhängen, von der Knappheit der zu Lebzeiten gegossenen Arbeiten, von der Bedeutung des Künstlers und wohl auch von der Qualität des postmortalen Gusses. – Auch nach kaufrechtlichen Maßstäben erwirbt der Käufer eines postmortalen Gusses – aufgrund der weiten Verbreitung und Anerkennung postmortaler Güsse im Kunstmarkt – kein mit Mängeln behaftetes Kunstwerk. Ist es dem Käufer wichtig, ein zu Lebzeiten des Künstlers gegossenes Exemplar zu erhalten, so muss er kaufvertraglich diesen Wunsch absichern, sich die Gewährleistung des Verkäufers für diese Eigenschaft zusichern lassen, um – sollte sich die Zusicherung als falsch herausstellen – Gewährleistungsansprüche zu haben.
9 Vgl. zu der gesamten Problematik auch Goepfert Haftungsprobleme im Kunst- und Auktionshandel, Berlin 1991, S. 96; Heinbuch NJW 1984, 15, 20.
Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften im europäischen Recht Gerhard Robbers
Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht hat auf europäischer Ebene drei wesentliche Bezugsfelder: Das Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union, die Europäische Menschenrechtskonvention und das Recht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Hinzu tritt der Rechtsvergleich: Die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sind Bestandteil des Gemeinschaftsrechts und sie können als Ausdruck gemeinsamer legitimer Grundüberzeugungen gelten.
I. Europäische Union Der Fall der muslimischen Bewerberin beim Projekt „Integrationslotse H.“ bei der Hamburgischen Diakonie, in dem das Arbeitsgericht Hamburg der Bewerberin Schadensersatz wegen Diskriminierung aus religiösen Gründen zugesprochen hatte, zeigt exemplarisch die Bedeutung des Gemeinschaftsrechts für das kirchliche Selbstbestimmungsrecht1. Das Arbeitsgericht hat sich dabei auf Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf berufen. Das Landesarbeitsgericht hat allerdings der Berufung der Beklagten stattgegeben und die Klage rechtskräftig abgewiesen. Es hat dies aber mit der Begründung getan, die Klägerin erfülle bereits insofern die Ausschreibungsbedingungen nicht, als sie nicht die geforderte Vorbildung nachweisen könne. Die Begründung des Arbeitsgerichts bleibt deshalb in problematischer Weise relevant. Sie ist symptomatisch für weite Teile der unterinstanzlichen Rechtsprechung. Das Arbeitsgericht hat argumentiert: Die Ablehnung der Bewerbung der Klägerin auf die Stelle einer Sozialpädagogin für das Teilprojekt „Integrationslotse H.“ stelle einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot dar (§ 7 Abs. 1 i.V.m. §§ 1, 2, 3 AGG). Die Bewerbung der Klägerin auf die Stelle sei wegen der Religion der Klägerin nicht berücksichtigt worden. Die unter1
Arbeitsgericht Hamburg, 20 Ca 105/07 – Urteil vom 4.12.2007.
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schiedliche Behandlung der Klägerin wegen ihrer Religion erfülle nicht die Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift des § 9 Abs. 1 AGG. Gemäß § 9 Abs. 2 AGG ist eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften, die ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder durch Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion zur Aufgabe machen, zulässig, wenn eine bestimmte Religion unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt. Bereits Erwägungsgrund Nr. 24 der Richtlinie verweist aber auf die der Schlussakte zum Vertrag von Amsterdam beigefügte Erklärung Nr. 11. In dieser Erklärung zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften wird ausdrücklich anerkannt, dass die Europäische Union den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, achtet und ihn nicht beeinträchtigt. Diese Kirchenerklärung ist mehr als eine bloße politische Absichtserklärung. Sie besitzt zwar keine rechtliche Verbindlichkeit, weil sie eben nur eine Erklärung zur Schlussakte ist. Sie besitzt aber wohl rechtliche Erheblichkeit. Sie muss als Auslegungsleitlinie des Gemeinschaftsrechts im Sinne der Wiener Vertragsrechtskonvention behandelt werden. Der Europäische Gerichtshof zählt sie zum Rechtsrahmen seiner Entscheidungen. Wenn deshalb Artikel 4 Abs. 2 der Richtlinie die Befugnisse der Mitgliedstaaten konkretisiert, muss diese Konkretisierung im Sinne der primärrechtlichen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts, einschließlich der Kirchenerklärung von Amsterdam, ausgelegt werden. Zwar ist richtig, dass die Richtlinie eine Differenzierung nach der Religion daran bindet, dass diese nach Art der Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt. Die Rechtfertigungswirkung hat mithin einen Tätigkeitsbezug, der aber eine unterschiedslose Forderung nach einer bestimmten Religionszugehörigkeit keineswegs problematisch macht. Dieser Tätigkeitsbezug muss nach dem Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft ausgelegt werden. Es kann nicht gefordert werden, dass das Selbstverständnis der kirchlichen Einrichtung richtlinienkonform ausgelegt wird. Damit würde sich das staatliche Gericht an die Stelle der Kirche selbst setzen. Das Selbstverständnis einer religiösen Einrichtung ist eine religiöse Frage. Die Entscheidung religiöser Fragen obliegt nicht dem religiös neutralen säkularen Staat. Nimmt der säkulare Staat solche Kompetenzen in Anspruch, verletzt er nicht nur die Religionsfreiheit der Kirche und der Gläubigen. Er setzt sich vielmehr auch mit sich selbst in Widerspruch. Er verleugnet seine eigene Identität als säkulare Institution. Damit überschreitet
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er die Grenzen, die die Trennung von Staat und Kirche gerade auch um des Selbstverständnisses des Staates selbst setzt. Der säkulare Staat verliert dabei sich selbst. Das staatliche Recht als solches kann auch nicht differenzieren nach der Nähe von kirchlichen Mitarbeitern zum Verkündigungsauftrag der Kirche. Er kann nicht darüber befinden, welche Tätigkeiten in religiös geprägten Einrichtungen näher am Verkündigungsauftrag sind und welche ihm ferner stehen. Den Verkündigungsauftrag einer Kirche kann der Staat, können seine Gerichte und seine Gesetzgeber nicht beurteilen. Im Übrigen sind es oft nicht nur oder nicht einmal gerade die besonders hervorgehoben, amtsmäßig ausgewiesenen, gewissermaßen offiziellen Vertreter einer Religionsgemeinschaft, die im konkreten Fall den Verkündigungsauftrag verkörpern, ihn erfüllen, für ihn wesentlich sind. Religion ist ein höchstpersönliches Geschehen. Oft ist es der Koch in der kirchlichen Küche, sehr häufig die Kindergärtnerin, immer wieder der Gärtner des Friedhofsgartens, der durch sein Beispiel, durch sich selbst, durch seine Gegenwart anderen den religiösen Weg zeigt. Verkündigung braucht keine Hierarchie, schon gar keine staatlich verordnete oder staatlich gut geheißene Hierarchie. Der Staat kann da gar nichts beurteilen und die Europäische Union kann das auch nicht tun. Ob eine Kirche bei der Bestimmung von Loyalitätsobliegenheiten eine Abstufung nach Nähe zum Verkündigungsauftrag vornimmt oder nicht, ist ihre Sache. Die Beurteilung, ob kirchliche Praxis diese Bestimmungen korrekt anwendet, ist nur ihr zugänglich. Auch die kirchliche Gerichtsbarkeit benötigt aus ähnlichen Gründen Freiraum von staatlicher Überprüfung. Dasselbe gilt für kirchliche Gerichts- und Schlichtungsverfahren. Die Kirchen dürfen nicht an staatliche Strukturen für ihre Gerichtsbarkeit von Staats wegen gebunden werden. Ob es in der Kirche eine unabhängige Gerichtsbarkeit gibt, ist eine Frage der Theologie und der Religion. Ob es in der Kirche überhaupt eine Gerichtsbarkeit gibt oder ob es nicht vielmehr andere Formen der Streitvermeidung, der Streitbeilegung und der Streitlösung geben soll, ist eine theologische und religiöse Frage. Wenn der Staat seine weltlich gerichtliche Überprüfung innerkirchlicher Verfahren von solchen strukturellen Vorgaben abhängig macht, zwingt er Kirchen bestimmte Strukturen auf. Das ist nicht seines Amtes, auch wenn aus staatlicher und weltlicher Sicht solche Strukturen sehr gut sind. Bei der Beurteilung innerkirchlicher Konflikte geht es immer auch um andere Fragen als in weltlichen Streitigkeiten. Innerkirchlich geht es immer auch um Verzeihen und Gnade, um Gemeinschaftsbildung und Gemeinschaftswahrung, um die Erhaltung der Gemeinde, um Weisung und Wegweisung, um Gottesnähe und Gottesferne, um Glauben und Glaubensverlust. Es geht schlicht um Fragen, die den Staat nichts angehen, die er nicht beurteilen kann. Hätte der europäische Gesetzgeber den religiösen Organisationen lediglich einen tendenzschutzrechtlichen Freiraum gewährleisten wollen, hätte er
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dies anders zum Ausdruck bringen müssen. Religiöses Ethos ist gerade mehr als bloße unbek. Das Ethos der Kirchen als Ausdruck ihres Selbstverständnisses und damit auch des ihnen in Deutschland verfassungsrechtlich Garantierten kann nicht von einem Außenstehenden bestimmt werden. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht ist etwas anderes als der grundrechtliche Freiraum, den Vereine oder Unternehmen, Sportvereine oder Gewerkschaften genießen. Bei weltlichen Institutionen kann der Staat seine eigenen Politiken einbringen. Er kann Managergehälter in Privatfirmen begrenzen, wenn er das für opportun hält. Er kann Stimmrechte in Vereinen zuordnen. Er kann die internen Strukturen von Aktiengesellschaften, Stimmrechte, Organe und Organisationsformen bestimmen. Er kann Grundsicherungen für Gläubiger und Mitglieder vorsehen. Den politischen Parteien kann der Staat demokratische Strukturen verordnen. Den Kirchen gegenüber kann er das nicht. Täte er das, wäre er nicht religiös neutral. Wollte er demokratische Strukturen in Religionsgemeinschaften einführen, würde der Staat religiöse Definitionsmacht in Anspruch nehmen. Er würde mit seiner eigenen Identität als säkularer Institution in Widerspruch treten. Er würde sich selbst verlieren. Und er würde die Grundrechte verletzen. Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften ist ein eigener und unmittelbarer Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts selbst. Es ist primärrechtlich verankert. Sekundäres Gemeinschaftsrecht muss entsprechend ausgelegt und angewendet werden. Das Selbstbestimmungsrecht folgt aus der Grundrechtsbindung der Union und ihrer Gemeinschaften. Kirchen können sich auch im Rahmen des Gemeinschaftsrechts auf Art. 9 EMRK berufen. Gemäß Art. 6 Abs. 2 EU achtet die Gemeinschaft die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention zum Ausdruck kommen. Artikel 6 EU lautet: (1) Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam. (2) Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4.11.1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. (3) Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten. Mit dem möglichen Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon wird die Gewährleistung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechtes weiter verstärkt. Damit wird Artikel 17 in den Vertrag über die Funktionsweise der Europäischen Union eingefügt, der bestimmt: „(1) Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.
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(2) Die Union achtet in gleicher Weise den Status, den weltanschauliche Gemeinschaften nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften genießen. (3) Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog.“ Das nach deutschem Recht bestehende Selbstbestimmungsrecht wird dadurch gemeinschaftsrechtskräftig gewährleistet und es wird zusätzlich die jeweilige Identität der Religionsgemeinschaften anerkannt. Entsprechendes gilt für die Europäische Grundrechtecharta. Auch wenn die Europäische Grundrechtecharta heute noch keine vollständige rechtliche Bindungswirkung erlangt hat, besitzen ihre Bestimmungen doch rechtliche Relevanz. Kein Rechtsakt der Europäischen Union kann heute mehr an ihren Garantien vorbeigehen. Art. 10 der Charta formuliert die Religionsfreiheit in derselben Weise wie die Europäische Menschenrechtskonvention. Die Schranken der Religionsfreiheit sind in Art. 10 der Grundrechtecharta dieselben wie in Art. 9 EMRK. Alles spricht dafür, Art 10 der Grundrechtscharta in derselben Weise auszulegen wie Art. 9 EMRK. Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen ist in beiden Bestimmungen gewährleistet. Entsprechend muss das sekundäre Gemeinschaftsrecht, muss das europäische Antidiskriminierungsrecht ausgelegt werden.
II. Die Europäische Menschrechtskonvention Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht ist vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt und gefestigt. Die ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte anerkennt die von ihm so genannte Autonomie der Religionsgemeinschaften in zahlreichen Entscheidungen. Diese Rechtsprechung muss sich in den sechs Fällen zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht bewähren, die gegenwärtig gegen die Bundesrepublik Deutschland beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig sind. Es geht dabei um Loyalitätsobliegenheiten und Mitgliedschaftsvoraussetzungen sowie um den staatlichen Rechtsschutz gegen innerkirchliche Maßnahmen: Schüth, Obst, Müller, Baudler, Reuter und Siebenhaar. Der Fall Siebenhaar spielt in Baden: Die katholische Kindergärtnerin in einem evangelischen Kindergarten in Pforzheim hatte für die „Universelle Kirche“ geworben und war für sie tätig geworden. Im Fall Schüth war dieser Kirchenmusiker in einer katholischen Gemeinde der Diözese Essen wegen Ehebruchs entlassen worden. Herr Obst war Öffentlichkeitssprecher der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage, der Mormonen, und ebenfalls wegen Ehebruchs entlassen worden. Drei andere Fälle betreffen das Ver-
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hältnis des staatlichen zum kirchlichen Rechtsschutz: Der Fall der Eheleute Müller hat der Entscheidung des BGH vom 28.3.2008 zugrunde gelegen. Die beiden Offiziere der Heilsarmee hatten erfolglos auf eine Entschädigung geklagt, nachdem ihre Kirche sie aus ihrer Stellung entfernt hatte. Die Fälle Baudler – in Württemberg – und Reuter – im Rheinland – betreffen evangelische Pfarrer, die wegen Unzuträglichkeiten in den Wartestand und schließlich in den Ruhestand versetzt worden waren. Drei dieser Fälle betreffen Arbeitnehmer in mehr oder weniger kirchennahen Einrichtungen, drei betreffen Geistliche der Kirchen. Betroffen sind Diakonie und Kirche Evangelischer Landeskirchen, die Römisch Katholische Kirche, die Heilsarmee und die Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Verfahren über die Jahre seit 2002 gesammelt, jetzt wird am Stück entschieden. Die Fälle betreffen große und kleine Kirchen, Geistliche und weltliche Arbeitnehmer, dem Verkündigungsauftrag näher und ferner Stehende. So etwa das ganze Spektrum der Probleme wird abgedeckt. Alle betroffenen Kirchen haben als Drittintervenienten in den Verfahren Stellung genommen. Diese Verfahren schweben noch. Ihr Ausgang wird wesentliche Bedeutung für das kirchliche Selbstbestimmungsrecht haben. Bestätigungen der geltenden deutschen Rechtslage würden eine erhebliche Stützung der Kirchen und der Religionsfreiheit bedeuten. Kritik an der Rechtslage würde die Kirchen in eine schwierige Situation bringen und eine Gefährdung des Sozialstaates bewirken können. Immer wieder hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte deutlich gemacht, dass die Religionsfreiheit eine der Grundlagen der demokratischen Gesellschaft ist, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention zugrunde gelegt ist: Religionsfreiheit ist insofern wesentlich für die Identität von Gläubigen und für ihre Lebensauffassungen, aber sie ist auch wertvoll für Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Gleichgültige; der für eine demokratische Gesellschaft unverzichtbare Pluralismus, der über die Jahrhunderte unter Schmerzen gewonnen worden ist, hängt von ihr ab 2. Die autonome, selbstbestimmte Existenz von Religionsgemeinschaften ist unverzichtbar für den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft und liegt deshalb im Zentrum des Schutzes, den die Religionsfreiheit nach Art. 9 der EMRK gewährleistet. Wären die Organisationsstrukturen einer Religionsgemeinschaft nicht durch die Religionsfreiheit geschützt, würden alle anderen
2 Metropolitan Church of Bessarabia and Others v. Moldova, judgment of 13.12.2001, Final, 27/03/2002, application no. 45701/99, § 114; Serif v. Greece, no. 38178/97, § 49, ECHR 1999-IX; Kokkinakis v. Greece, judgment of 25.5.1993, Series A no. 260-A, pp. 17– 18, §§ 31 and 33; Hasan and Chaush v. Bulgaria, judgement of 26.10.2000, application no. 30985/96, § 60.
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Aspekte auch der individuellen Religionsfreiheit verletzbar 3. Wenn die Selbstbestimmung von Religionsgemeinschaften nicht aufrechterhalten wäre, wäre Staatshoheit und Staatskirchentum die Folge. Staatliche Neutralität wäre beschädigt ebenso wie die ungestörte Religionsausübung. Trennung von Staat und Kirche wäre unmöglich. Im Fall Hasan und Chaush gegen Bulgarien hatte der Staat das Ergebnis der Wahl des Obermuftis der muslimischen Gemeinschaft nicht anerkannt. Im Fall der Metropolitankirche von Bessarabien gegen Moldawien hatte Moldawien die von der nationalen orthodoxen Kirche abgespaltene, Rumänien zugeneigte orthodoxe Kirche nicht als rechtsfähig anerkannt und nicht im Kirchenregister eingetragen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seinen Entscheidungen in Erinnerung gerufen, dass Religionsgemeinschaften traditionell und allgemein in der Form organisierter Strukturen existieren. Sie folgen Regeln, die von ihren Mitgliedern oft als göttlichen Ursprungs angesehen werden. Religiöse Zeremonien haben ihre Bedeutung und ihren sakralen Wert für die Gläubigen dann, wenn sie von Personen vorgenommen werden, die in Übereinstimmung mit den entsprechenden Regeln dazu ermächtigt sind. Die Person und die Persönlichkeit von Geistlichen sind ohne Zweifel von entscheidender Bedeutung für jedes Mitglied einer Religionsgemeinschaft 4. Entsprechendes muss für Arbeitnehmer der Kirche gelten. Das ist eine praktische und zentrale Realität unabhängig davon, ob der Mitarbeiter an einer öffentlich sichtbaren, hohen, die Gemeinschaft nach außen repräsentativen Stellung steht, oder ob es sich um einen sozusagen normalen Mitarbeiter handelt, der dennoch die Kirche und ihre Werte repräsentiert, wenngleich in einer bescheideneren Stellung. Eine erste Voraussetzung für Pluralismus ist, dass die Unterschiede zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften respektiert werden. Respektiert werden müssen vor allem aber auch die Unterschiede zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Existenz und Religionsgemeinschaften. Ohne Respekt für das Anderssein von Religionsgemeinschaften von Staat und Gesellschaft, von allgemeinen weltlichen Vorstellungen und Praktiken, wäre Pluralismus nicht mehr als ein leeres Wort. Der Europäische Gerichthof für Menschenrechte hat auch festgehalten, dass die Religionsfreiheit dem Staat es im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention grundsätzlich verbietet, die Legitimität religiöser
3 Hasan and Chaush v. Bulgaria, judgment of 26.10.2000, application no. 30985/96, § 62; Metropolitan Church of Bessarabia and Others v. Moldova, judgment of 13.12.2001, Final, 27/03/2002, application no. 45701/99, § 118. 4 Hasan and Chaush v. Bulgaria, judgment of 26.10.2000, application no. 30985/96, § 62; Metropolitan Church of Bessarabia and Others v. Moldova, judgment of 13.12.2001, Final, 27/03/2002, application no. 45701/99, § 118.
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Überzeugungen zu beurteilen5. Welche Loyalitätsobliegenheiten und welche Mitgliedschaftsvoraussetzungen an Mitarbeiter von Religionsgemeinschaften gestellt werden, muss deshalb grundsätzlich in der Beurteilungskompetenz der Religionsgemeinschaft selbst verbleiben. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht auf europäischer Ebene muss auch gewährleisten, dass die Religionsgemeinschaften über den Grad der Bestimmtheit ihrer internen rechtlichen Bestimmungen entscheiden. Sie dürfen nicht dazu verpflichtet werden, ihr inneres Recht in derselben Begrifflichkeit und Bestimmtheit zu fassen wie staatliches Recht das tun muss. Die Mitglieder einer Religionsgemeinschaft müssen frei sein, miteinander in anderer, allgemeinerer Weise umzugehen. Sie müssen die Gemeinsamkeit von Überzeugungen, von Moral und ordentlichem Benehmen leben können ohne gezwungen zu sein, alle Umgangsregeln detailliert und genau aufzuschreiben. Was im staatlichen Leben sinnvoll und verpflichtend ist, kann für das Leben in einer Kirche identitätszerstörend sein. Das bedürfte besonderer Organe und Organisationsstrukturen, die der Kirche fremd sein mögen. Zur Frage des Rechtsschutzanspruches nach Art. 6 EMRK hat der Europäische Gerichtshof im Fall Ahtinen gegen Finnland 6 seine Rechtsprechung (Duda und Dudovó) 7 bestätigt, nach der Staaten den staatlichen Rechtsweg gegen kircheninterne Streitigkeiten ausschließen dürfen. Dort hatte ein Pfarrer der Finnischen Lutherischen Kirche, der gegen seinen Willen versetzt worden war, keinen Rechtsschutz vor den staatlichen Gerichten erlangt. Gemäß Art. 6 EMRK ist der Rechtsweg vor staatliche Gerichte nur in zivilen Streitigkeiten garantiert. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts 8 zum Rechtsweg zu staatlichen Gerichten ist damit zunächst jedenfalls indirekt bestätigt. Die anhängigen Fälle geben Anlass, über das Verfahren in Deutschland nachzudenken. Die Stellung der Kirchen als Arbeitgeber, als Dienstherr, als Gerichtsherr in den Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof ist unzureichend ausgestaltet. Dies gilt für Religionsgemeinschaften, es gilt entsprechend aber für alle anderen Dritten, die im innerstaatlichen Verfahren beteiligt sind. Gegenwärtig können sie lediglich einen Antrag auf Drittintervention stellen. Der Gerichtshof gibt dem statt oder auch nicht. Wenn die Kirche als Drittintervenient zugelassen ist, bestimmt der Gerichtshof, zu welchen Fragen sie einen Kommentar abgeben darf. Regelmäßig betrifft das nur das eigene Interesse am Fall; ausdrücklich nicht Stellung genommen wer5 Moscow Branch of the Salvation Army v. Russia, judgment of 5.10.2006, application no. 72881/01, § 92; Metropolitan Church of Bessarabia and Others v. Moldova, judgment of 13.12.2001, Final, 27.3.2002, application no. 45701/99, § 117. 6 EGMR, Athinen v. Finland, judgment of 23.9.2008, application no. 48907/99. 7 Duda and Dudová v. the Czech Republic (dec.), judgment of 30.1.2001, application no. 40224/98. 8 BVerfG, Beschluss vom 9.12.2008 – 2 BvR 717/08 –, Rn. 3; BVerfGE 18, 385, 386.
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den darf zur Zulässigkeit, zur Begründetheit, zu den Fakten, zur innerstaatlichen Rechtslage, zu den Erfolgsaussichten der Beschwerde. Die Stellungnahme ist regelmäßig auf zehn Seiten begrenzt. Für Verfahren seit 2004 ist eine stattgebende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte weithin ein Wiederaufnahmegrund vor den deutschen Gerichten. Die betroffenen Kirchen – oder andere Dritte – müssen also gewärtigen, erneut in das innerstaatliche Verfahren einbezogen zu werden und dort eventuell den Prozess doch noch zu verlieren. Im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschrechte – also in einem zum Gesamtverfahren gehörenden Teil – haben sie aber nur eingeschränktes rechtliches Gehör erhalten. Zudem: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte informiert sie als Dritte nicht über das vor ihm anhängige Beschwerdeverfahren. Insoweit beteiligt sind lediglich der Beschwerdeführer und die Bundesrepublik Deutschland – nur Drittstaaten werden ebenfalls einbezogen. Es bleibt der Bundesrepublik Deutschland überlassen, ob und wie sie die möglichen Drittbeteiligten informiert. Dieses Verfahren ist gesetzlich nicht geregelt und der Staatspraxis überlassen. Die Fristen laufen, ohne dass der Beteiligte des Ausgangsverfahrens vom anhängigen Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Kenntnis erlangt hat.
III. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Es ist für die Feststellung von gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auch von Bedeutung, dass im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der OSZE, das kirchliche Selbstbestimmungsrecht zu den zentralen Schutzgütern gehört. Die OSZE ist auch für die Bundesrepublik Deutschland religionsrechtlich relevant, wie sich bei der Intervention besonders der USA zu Zeiten der Scientology-Sorge vor einigen Jahren besonders gezeigt hat und sich zur Zeit in Bezug auf das Kopftuch-Verbot weiterhin zeigt. Nr. VII der Schlussakte von Helsinki aus dem Jahre 1975 bestimmt: Die Teilnehmerstaaten werden die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit, für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion achten. Das Prinzip Nr. 16.4 des Wiener Abschlussdokumentes der OSZE von 1989 besagt, dass alle teilnehmenden Staaten das Recht von Religionsgemeinschaften achten, nicht nur sich entsprechend ihrer eigenen hierarchischen und institutionellen Struktur zu organisieren, sondern auch ihr Personal entsprechend ihren jeweiligen Bedürfnissen und Standards und den von ihnen freiwillig akzeptierten Abmachungen zwischen ihnen und ihrem Staat auszu-
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suchen, zu ernennen und zu entlassen. Gemäß Prinzip 17 unterliegt dieses in der Religionsfreiheit begründete Recht nur solchen Begrenzungen, die gesetzlich bestimmt sind und sich in Übereinstimmung mit ihren Verpflichtungen nach internationalem Recht und internationalen Verträgen befinden. Die OSZE beobachtet die Menschenrechtslage in ihren teilnehmenden Staaten insbesondere durch ihr in Warschau ansässiges Office for Democracy and Implementation of Human Rights (ODIHR). In dieser Institution ist ein ‘Advisory Panel for Freedom of Religion or Belief’ eingerichtet, durch das die OSZE beratende Hilfestellung in Religionsangelegenheiten gibt. So werden Kommentare zu religionsrelevanten Gesetzesentwürfen verfasst, Leitlinien etwa für Rechtsfragen des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen entworfen, Curricula für Unterrichtseinheiten über das Menschenrecht auf Religionsfreiheit strukturiert und in Einzelfällen Hilfestellung für Problemlösungen konkreter Sachfragen angeboten. Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften, wie es in den Verpflichtungen der OSZE gewährleistet ist, nimmt dabei wichtigen Raum ein.
IV. Die Rechtslage in anderen Staaten Das primäre Gemeinschaftsrecht ist von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten geprägt. Auch hier zeigt der Rechtsvergleich, dass das kirchliche Selbstbestimmungsrecht trotz mancher Differenzen im Detail weithin geachtet wird. Jeder Überblick über die Rechtslage in anderen Staaten muss lückenhaft bleiben. Die Rechtsprechung und die Gesetzgebung sind zudem in ständiger Entwicklung. Gerade in Staaten mit Trennungssystemen oder mit ausgeprägter Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften bei gleichzeitiger Trennung beider Bereiche besteht starke Zurückhaltung gegenüber staatlichen Eingriffen. Demgegenüber sind eher staatskirchlich geprägte Staaten bisweilen weniger zurückhaltend. Beispielhaft sei hier an die Rechtslage in nur wenigen Staaten hingewiesen. So gilt kirchliches Selbstbestimmungsrecht in Belgien: In zwei Entscheidungen von 1994 und 19999 hat der belgische Kassationsgerichtshof auf der
9 Kassationsgerichtshof, 20.10.1994, Arresten van het Hof van Cassatie, 1994, 861, Rechtskundig Weekblad, 1994–1995, 1082 und Recente Arresten van het Hof van Cassatie, 1995, 57; Kassationsgerichtshof, 3.6.1999 (Vereinigte Kammern), Chroniques de droit public. Publiekrechtelijke kronieken, 2000, 214 and Jaarboek Mensenrechten 1998/2000, 253–255; Martens „Het Hof van Cassatie en de interpretatie van artikel 21 G.W.: de verhouding tussen Kerk en Staat dan toch niet op nieuwe wegen?“, (Anm. unter Cass. 3.6.1999), Chroniques de droit public. Publiekrechtelijke kronieken, 2000, 215–218; Torfs „Religieuze gemeenschappen en interne autonomie. Fluwelen evolutie?“, Jaarboek Mensenrechten 1998/2000, 256–264.
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Grundlage von Art. 21 der belgischen Verfassung das Prinzip der Autonomie bestätigt. Er hat die Entscheidung zweier Berufungsgerichte aufgehoben, nach denen Religionsgemeinschaften nicht nur ihre eigenen Verfahrensregeln, sondern auch das Recht auf Verteidigung und andere in Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegten Prinzipien beachten müssten10. Der Kassationsgerichtshof hat dabei aber dem Grundsatz nach akzeptiert, dass Religionsgemeinschaften sich „nach den Bestimmungen der betreffenden Religion“ zu verhalten hätten. In der Tschechischen Republik gewährleistet Artikel 7 des Gesetzes über Religionsfreiheit (Gesetz Nr. 308/1991) das Recht von Kirchen und Religionsgemeinschaften, die Personen, die religiöse Funktionen ausüben, zu ernennen und über ihre Fähigkeit, solche Handlungen auszuführen, zu entscheiden. Die tschechischen Gerichte vertreten die Auffassung, dass dies staatliche Gerichte von der Entscheidung in diesen Angelegenheiten ausschließt. Eine Entscheidung des Verfassungsgerichts der Tschechischen Republik vom 26.3.1997 hat die Zuständigkeit weltlicher Gerichte in Auseinandersetzungen über die Beendigung eines Dienstverhältnisses, an dem Mitglieder der Geistlichkeit beteiligt waren, verneint. Im Jahre 2001 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Entscheidung bestätigt11. Ähnliche Grundsätze gelten gerade auch für das laizistische Frankreich. Hier bestätigt sich, dass es besonders der Gedanke der Trennung von Staat und Kirche ist, der Übergriffe des Staates in die Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften ausschließt. Geistliche, deren Funktion notwendigerweise pastoral, „religiös“ ist, etwa als Priester oder Pastor einer Gemeinde, stehen in Frankreich nicht in einem Arbeitsvertragsverhältnis. Der Geistliche ist nicht „Arbeitnehmer“ seiner übergeordneten Hierarchie, eines Kultvereins oder eines Diözesanvereins. Seit einer Entscheidung des Kassationshofs aus dem Jahre 1912 ist diese Rechtsprechung konstant: Es besteht kein Arbeitsvertrag zwischen einem Geistlichen und seiner übergeordneten Hierarchie; der Geistliche ist nicht „Arbeitnehmer“ der Kirche. Die Beziehungen sind anderer Art, und dem neutralen staatlichen Recht ist es versagt, die aus der inneren Organisation der Kirche folgenden Beziehungen zu qualifizieren. Entsprechend erklären sich die weltlichen Gerichte für unzuständig, die Entscheidungen eines Bischofs über die Beendigung der kirchlichen Funktionen eines Priesters oder eines Ordensangehörigen zu überprüfen. In den Niederlanden werden im Arbeitsrecht Religion und die Freiheit der Kirchenorganisation auf verschiedene Weise berücksichtigt. Das Arbeitsver10 Berufungsgericht von Mons, 7.1.1993, Jurisprudence de Liège, Mons et Bruxelles, 1993, 242, Anm. Christians and Revue de droit social, 1993, 69, Anm. R. Torfs; Berufungsgericht von Liège, Jurisprudence de Liège, Mons et Bruxelles, 1998, 680, Anm. Westrade. 11 Vgl. Dudová and Duda v. Czech Republic, judgment of 30.1.2001, application no. 40224/98.
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hältnissegesetz nimmt das Amt des Geistlichen von dem Erfordernis behördlicher Genehmigung im Fall der Entlassung aus. Die Bedeutung dieser Regelung für die Beziehungen zwischen Staat und Kirche wird in einer Entscheidung des Obersten Gerichts deutlich, in der das Oberste Gericht einen Imam als Träger eines religiösen Amtes angesehen hat12. Das Allgemeine Gesetz über Gleichbehandlung erfasst Kirchen, ihre unabhängigen Einrichtungen und geistliche Ämter nicht13. Die verfassungsrechtliche und arbeitsrechtliche Beurteilung kirchlicher Arbeitsverhältnisse in Österreich ist mit der in Deutschland vergleichbar. Im Jahr 1995 erging eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs14, die sich explizit der Position des Bundesverfassungsgerichts – unter ausführlicher Zitierung des Urteils BVerfGE 70, 138 – anschloss. Die Entscheidung erging zur Kündigung eines in einer katholischen Bildungseinrichtung beschäftigten Lehrers wegen seiner in einem offenen Brief geäußerten Kritik an der Haltung der katholischen Kirche zur Frage der Empfängnisverhütung. Der OGH nahm an, dass die Kündigung wegen einer kritischen Stellungnahme zu Fragen der Glaubens- und Sittenlehre von den staatlichen Gerichten weder darauf zu prüfen sei, ob diese Auffassung vertretbar sei, noch darauf, ob dieses Verhalten so schwerwiegend ist, dass es im Ergebnis die Auflösung des Dienstverhältnisses erfordert. Auch im Vereinigten Königreich haben sich die staatlichen Gerichte stets sehr zurückhaltend gezeigt, in die inneren Angelegenheiten und in die Verwaltung der Kirchen einzugreifen. Sie betrachten diesen Bereich als privat, auch wenn für Ausgewogenheit gesorgt werden müsse. Im Wesentlichen werden drei große Kategorien von Fällen unterschieden: zunächst der Bereich des Glaubensbekenntnisses, auf den das weltliche Recht überhaupt nicht übergreifen sollte, zweitens der Bereich der Glaubensausübung durch Liturgie und Gottesdienst, in den die Rechtsprechung nur insoweit eingreift, wie es für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und das Wohl und die Sicherheit der Bevölkerung unerlässlich ist, und drittens die Glaubensbekundung etwa in Schulen, Krankenhäusern und anderen gesellschaftlichen Bereichen, an denen der Staat ein berechtigtes Interesse hat. In R v The Provincial Court of the Church in Wales ex parte Williams15 führt Latham J aus: ... „Die Kirche in Wales ist eine Körperschaft, deren rechtliche Befugnisse sich aus der einvernehmlichen Unterwerfung unter ihre Instanzen ergeben, ohne dass sie dabei (de facto oder de jure) an die Stelle des Gesetzgebers oder des Staates tritt. Sie ist damit anderen kirchlichen Körperschaften ver12 HR 30.5.1986, NJ 1986, 702; vgl. in dieser Hinsicht – unter Zugrundelegung von kirchlichen Bestimmungen – Rb. Groningen, 2/1.12.1990, KG 1991, 90. 13 Vgl. auch Rb. Den Bosch 11.12.1992 (nicht veröffentlicht). 14 OGH 12.4.1995, 9 Ob A 31/95. 15 23.10.1998, Divisional Court, Latham J unreported but noted in (1999) 5 Ecc LJ 217.
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gleichbar, die nicht als Institutionen des Staates anzusehen sind. Dieses Gericht hat noch stets davon Abstand genommen, über derartige Körperschaften seine Amtsgewalt auszuüben.“ Hoffman LJ weist in einer Stellungnahme in R v Disciplinary Committee of the Jockey Club ex parte Aga Khan16 darauf hin, dass „die Einstellung des englischen Gesetzgebers gegenüber dem Rennsport sehr seiner Einstellung gegenüber den Religionen ähnelt. [...] Es ist etwas, was Unterstützung verdient, aber es ist nicht Sache des Staates. [...] Ich halte nichts von Versuchen, die gegen inländische Körperschaften verfügbaren Rechtsmittel zusammenzukleistern, indem man vorgibt, diese Körperschaften seien Staatsorgane.“ Simon Brown J schreibt in R v Chief Rabbi of the United Hebrew Congregations of Great Britain and the Commonwealth ex parte Wachmann17: „Das Gericht ist kaum in der Lage zu bestimmen, welche Festlegungen grundsätzlich religiöser Natur sind – festzustellen, ob jemand in sittlicher und religiöser Hinsicht geeignet ist, seinen kirchlichen und seelsorgerischen Amtspflichten nachzukommen. Das Gericht muss sich zwangsläufig hüten, in einen so offenkundig sensiblen Bereich einzudringen und sich dabei über die weithin anerkannte Trennungslinie zwischen Kirche und Staat hinwegzusetzen.“ Morritt LJ führt unter Bezugnahme auf Lord Davey in General Assembley of Free Church of Scotland v Overtoun, Macalister v Young18 aus: „Euer Ehren, ich streite diesem und jedem anderen bürgerlichen Gericht dieses Landes rundweg jedes Recht ab, den Wahrheitsgehalt oder die Sinnhaftigkeit einer Lehre dieser oder irgendeiner anderen Religionsgemeinschaft zu erörtern und zu sagen, ob eine davon auf einer korrekten Auslegung der Worte der Schrift basiert oder nicht oder ob tatsächlich Widersprüche und Ungereimtheiten zwischen verschiedenen Aussagen der Lehre bestehen oder nicht oder ob es nur so scheint oder ob solche Widersprüche nur auf einer unvollkommenen und begrenzten Vorstellung von einem vollkommenen und unbegrenzten Wesen beruhen und dergleichen mehr.“ Entsprechende Überzeugungen zeigt endlich der Blick in die Vereinigten Staaten von Amerika. Der US Supreme Court hat im Fall Serbian Eastern Orthodox Church for U.S. of America and Canada19 entschieden, dass staatliche Gerichte die Amtsenthebung eines Bischofs durch seine Kirche hinnehmen müssen und nicht daraufhin überprüfen können, ob gegen die innerkirchlichen formellen und materiellen Vorschriften verstoßen und das Ver-
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[1993] 1 WLR 909. [1992] 1 WLR 1036. 18 [1904] AC 515 HL. 19 Serbian Eastern Orthodox Church for U.S. of America and Canada v. Milivojevich, 96 S.Ct. 2372. 17
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fahren deshalb unfair gewesen sei 20. Kirchliche Arbeitgeber können auch über die Loyalitätsobliegenheiten kirchlicher Arbeitnehmer entscheiden. Verstöße gegen solche Loyalitätsobliegenheiten durch Arbeitnehmer berechtigen den kirchlichen Arbeitgeber zur Kündigung. Staatliche Stellen dürfen dabei auch nicht eine Nähe zum Verkündigungsauftrag zum Maßstab von Loyalitätsobliegenheiten machen. Dies muss den kirchlichen Stellen überlassen bleiben, die darüber nach inneren, religiösen Gründen differenzieren können 21. All diese Beispiele, denen weitere an die Seite gestellt werden können, zeigen eine allgemeine Verfassungsüberlieferung, die einen Freiraum der Religionsgemeinschaften anerkennt und gewährleistet, der sich aus den Grundrechten der Religionsgemeinschaften speist, der andererseits aber auch um der Identität des Staates selbst als säkularer Institution besteht. Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften muss der Staat schon um seiner selbst willen achten. Diese Grundüberzeugungen gelten – mit einzelnen Schwankungen in der Feinabgrenzung – europaweit. Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften gilt als gemeineuropäischer Rechtsgrundsatz.
20 Vgl. auch Md. & Va. Churches v. Sharpsburg Church, 396 U.S. 367, 369, 90 S.Ct. 499, 500, 24 L. Ed.2d 582 (1970). 21 Vgl. Corporation of the Presiding Bishop of The Church of Jesus Christ of Latter-day Saints v. Amos 483 U.S. 327, (1987); Serbian Eastern Orthodox Diocese v. Milivojevich, 426 U.S. 696 (1976); Alicea-Hernandez v. Catholic Bishop of Chicago, 320 F.3d 698, 703 (7th Cir. 2003); Starkman v. Evans, 198 F.3d 173, 175–76 (5th Cir. 1999); E.E.O.C. v. Catholic University of America, 83 F.3d 455 (D.C. Cir. 1996); Petruska v. Gannon University, 462 F.3d 294 (2006).
Der Kampf um die Pressefreiheit in Frankreich zu Beginn der Juli-Monarchie unter König Louis-Philippe Klaus Schrenk Les Français ont le droit de publier et de faire imprimer leurs opinions en se conformant aux loix. La censure ne pourra jamais être rétablie. Article 7, Charte constitutionelle du 15 Août 18301
Der Eskalation staatlicher Eingriffe in die Unabhängigkeit des Pressewesens standen die betroffenen Journalisten, aber auch Literaten und Künstler wachsam und kämpferisch gegenüber, nachdem der Kampf um die Pressefreiheit, um die freie verbale und künstlerisch-bildnerische Meinungsäußerung seit der Französischen Revolution als Gradmesser einer progressiven oder repressiven Politik betrachtet wurde. Durch die entschiedene Reaktion der republikanischen, aber auch liberalen Kräfte auf die kurz vor seiner Abdankung 1830 von Charles X verfügten vier Gesetze hatte die „Liberté de la presse“ eine Aktualisierung erfahren, die sich nicht zuletzt in dem oben zitierten Verfassungsartikel ausdrückte. Aus der spezifischen Situation der Juli-Monarchie, neben einer starken republikanischen Opposition auch von einer dem älteren Bourbonenzweig verpflichteten legitimistischen Bewegung vehement publizistisch angegriffen zu werden, ergaben sich in kürzester Zeit Aufklärungen über den konservativen Charakter der Staatsform, die grundsätzliche Aussagen zulassen. In einer bemerkenswerten Weise formulierten republikanische Künstler in Karikaturen eine Differenz zwischen verfassungsmäßig garantierten Grundrechten und ihrer späteren Auslegung, in denen sie einen Zusammenhang zwischen der sich schnell wandelnden parlamentarischen Gesetzgebung und einer die gesellschaftlichen Strukturen stabilisierende Rechtsprechung aufzeigten. In bisher nicht gekannter Deutlichkeit wurden die repressiven Urteile der Justiz gegenüber der Opposition in der ihr verbundenen Presse, aber auch bildnerischen Zeugnissen angeprangert, wobei sich die republikanische Bewegung in 1
Godechot (Hrsg.), Les Constitutions de la France depuis 1789, Paris 1970, S. 247.
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ihrem Handeln auch darin bestätigt sah, dass nur dank einer radikalen Gegenbewegung eine konservative Auslegung der Verfassung gestoppt werden könne. Dem gegenüber waren die politischen Repräsentanten der JuliMonarchie von ihrem Standpunkt aus gezwungen, auf die außerordentlich heftigen Attacken der Opposition zu reagieren, um sich über eine – die Angriffe dementierende – positive Gegendarstellung als freie Verfechter der Ideen der Julirevolution von 1830 auszuweisen. Unter geschickter Einbeziehung der regierungsfreundlichen Zeitungen setzte sie die republikanische und legitimistische Opposition gleich, trotz deren grundsätzlich divergierenden Zielsetzungen. Grandville und Travies 2 antworteten 1833 auf dieses Verhältnis von Regierung und die sie unterstützenden Zeitungen mit der Kennzeichnung von dirnenhafter Käuflichkeit (Abb. 1 + 2). Der Mechanismus der Presseverfolgung war einfach zu durchschauen, denn Regierung und Justiz beriefen sich auf andere Artikel der Verfassung als die Opposition! Nicht von Einschränkung der Pressefreiheit oder gar Zensur wurde seitens der Justiz gesprochen, sondern von legitimen Eingriffen auf Grundlage des Gesetzes über die Unverletzbarkeit des Königs in Wort und Bild. In der angespannten gesellschaftlichen Situation nach 1830 richtete sich das Augenmerk der Justiz vor allem auf die republikanische Presse, wenn-
Abb. 1: Grandville und Traviès „Les F(eu)illes publiques et leurs souteneurs“ La Caricature, 26. Septembre 1833 2
„Les F(eu)illes publiques et leurs souteneurs“, in: La Caricature, 26.9. und 10.10.1833.
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Abb. 2: Grandville und Traviès „Les F(eu)illes publiques et leurs souteneurs“ La Caricature, 10. Oktober 1833
gleich auch die legitimistische nicht unbetroffen blieb. So berichtet Hatin3 allein von 411 Presseprozessen, die bis 1833 stattgefunden haben und in denen 143 Verurteilungen sowohl mit Gefängnis- als auch Geldstrafen ausgesprochen wurden. Die Republikaner beantworteten diese Herausforderung mit konzentrierten Gegenangriffen, wobei die künstlerischen Interventionen in der satirischen Wochenzeitschrift „La Caricature“ einen herausragenden Platz einnahmen. 1832 lithographierten Grandville und Julien ihren Petersilienstrauch 4, der dem Bürgerkönig Louis-Philippe von der Justiz übergeben wird (Abb. 3). Unter Anspielung auf Generalstaatsanwalt Persil – das französische Wort für Petersilie – hält der Justizvertreter einer auf dem Stuhl ausgestellten Birne – das Sinnbild für König Louis-Philippe – das Bouquet devot entgegen, aus dessen Mitte der Kopf eines Hingerichteten sichtbar wird. Diese Anspielung ist wohl nicht wörtlich zu nehmen, doch stellen die präsentierten Gegenstände auf der Konsole des Kamins5 eine Verbindung zu dem Versprechen der Juli-Tage 1830 her, für die die gefallenen Revolutionäre 3
Hatin Histoire de la presse en France, Bd. 8, Paris 1889, S. 555. „Le Bouquet de Persil; Répétition d’un compliment qui devait être prononcé“, in: La Caricature, 6.9.1832. 5 Betrachtet man die Ansammlung von links nach rechts, dann wird 1. das Abbild eines Republikaners in ungenutzten Gläsern konserviert, 2. stecken in einer Vase Sägen, wobei die Doppelsäge als Zeichen für Persil und die Doktrin des Juste-Milieu anzusehen ist, 3. eine Uhr, die zu einem Schaffotplatz mit aufgebauter Guillotine umdekoriert wurde, 4. erneut eine Vase mit Sägen, 5. eine Freiheitsallegorie mit aufgestecktem Löschhütchen. 4
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Abb. 3: Grandville und Julien „Le Bouquet de Persil; Répétition d’un compliment qui devait être prononcé“ La Caricature, 6. September 1832
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gekämpft hatten. Die republikanischen Künstler klagten also die Justiz an, über eine extensive Auslegung des Artikels über die Unverletzbarkeit des Königs faktisch die Zensur, die ausdrücklich in der vorliegenden Verfassung untersagt war, wieder einzuführen. Im Januar 1832 veröffentlichten Grandville und Forest die Lithographie „Résurrection de la Censure“ (Abb. 4), die
Abb. 4: Grandville und Forest „Résurrection de la Censure“ La Caricature, 5. Januar 1832
das mit der Verfassung unvereinbare Auferstehen der Zensur aufgrund des politischen Kräfteverhältnisses verurteilte 6. Unter Rückgriff auf das Auferstehungsmotiv der christlichen Ikonographie lassen die Künstler den Zensor, Comte d’Argout, mit einer riesigen Zensorenschere aus „Carton ministériel“ auferstehen, der auf die geschichtsträchtigen Pflastersteine des 27., 28., 29. Juli (1830) gesetzt wurde. Links schlafen als Wächter die regierungsEin an der Wand hängendes Glockenspiel mit der Überschrift „Momento“, zusammengesetzt aus den beschlagnahmten Zeitungen, beschließt die königliche Nippessammlung. 6 La Caricature, 5.1.1832.
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freundlichen Zeitungen „Le Constitutionnel“, „Le Moniteur“ und „Le Messager“, während die kleinen Oppositionsblätter mehr oder minder aktiv die Auferstehung der personifizierten Zensur verhindern wollen 7. So nutzte vor allem Grandville in den ersten Erscheinungsjahren von „La Caricature“ den Rückgriff auf die Ikonographie und Kompositionsschemata der religiösen Malerei, um zu einer Verstärkung des Bildinhalts zu gelangen. Abermals wird nun hier ein christliches Motiv säkularisiert, seines traditionellen Bildinhaltes entlastet, um aktualisierend die passive Haltung der Presse des Juste-Milieus aufzuzeigen, die die Angriffe auf demokratische Rechte als eine notwendige Reaktion für eine kontinuierliche Entwicklung zum Wohle Frankreichs rechtfertigte. In schneller Folge hatten die personell sich rasch ändernden Regierungen bis April 1831 fünf Gesetze durch die Abgeordnetenkammer gebracht, die den Teil des 7. Artikels der Verfassung „en se conformant aux lois“ präzisierten und die Pressezensur auf diesem Umweg wieder in wichtigen Bereichen möglich machten: Neben der Unverletzlichkeit der Person des Königs in Wort, Bild und Ausruf 8, musste die geforderte Kaution für die Herausgabe von Zeitungen zumindest abrufbar im Besitz des Verlegers sein9; weiter stellten die erhobenen Steuern eine erhebliche Belastung gerade auch für die kleineren oppositionellen Zeitungen dar10. Darüber hinaus konnten Presseprozesse nun in einem beschleunigten Verfahren von den Gerichten durchgeführt werden, das in der Praxis zu einer spürbaren Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten der angeklagten Presseorgane führte. Die hektischen Aktivitäten Persils und d’Argouts gegen die republikanischen Oppositionsblätter konterte Bouquet11 siegesbewusst, als er den „Vater-Säge“ bei dem Versuch darstellte, einen lächelnden Drucker auf dem Berg beschlagnahmter Ausgaben der „La Caricature“ zu zersägen (Abb. 5). Gleichwohl hatten die Verfolgungen für die finanzschwachen Blätter bedrohliche Formen angenommen. So kommentierte Charles Philipon, der Verleger von „La Caricature“, zehn Tage nach seiner ersten Verurteilung gemeinsam mit Desperet die gegenwärtige Lage, als er den Ausspruch LouisPhilippes „Die Verfassung wird von nun an eine Wirklichkeit“ dank den neuen „befreienden“ Taten der Juli-Monarchie ironisierend in „La charte est une vérité…donc la presse est parfaitement libre“ verwandelte (Abb. 6). Vor lauter Belastungen „Steuern, Verurteilungen, Prozesskosten, Beschlagnahmungen etc.“ wird die demokratische Presse erdrückt.12 Dass dieses Faktum 7 Ebda.: „…le „Courrier“ se réveilla, le „Figaro“ saisit sa mordante plume, la „Tribune“ essaya de combattre le ressuscité“. 8 Gesetz vom 10.12.1830. 9 Gesetz vom 14.12.1930. 10 Gesetz vom 14.12.1930. 11 La Caricature, 14.5.1832. 12 La Caricature, 24.11.1831.
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Abb. 5: Bouquet „Pere-Scie“ La Caricature, 14. Mai 1832
Abb. 6: Desperet und Philipon „La Charte est une vérité … donc la presse est parfaitement libre. Timbre, amende, procès-verbaux, assignation, saisie à la Poste, saisie avant publication, 12 procès à la caricature etc.“ La Caricature, 24. November 1831
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nicht resignativ hingenommen wurde, sondern die Verteidigung der verfassungsmäßigen Rechte durch den Einsatz satirischer Mittel versucht wurde, zeigt den kämpferischen Einfallsreichtum der bedrohten Zeitungen an. Gemeinsam gründeten Verleger, Journalisten, aber auch Politiker die „Gesellschaft zur Verteidigung der patriotischen Presse“, zu deren Mitgliedern prominente Kammerabgeordnete wie Etienne Arago, Dupon de I’Eure, Garnier-Pagès, aber auch Lafayette gehörten, um über Sammlungen und Spendenaktionen die Geldmittel zur Bezahlung der ausgesprochenen Geldstrafen zusammenzubringen. In diesem Zusammenhang muss man sich stets vergegenwärtigen, dass in dieser Auseinandersetzung erstmals die Differenzierung der verfassungsmäßigen Rechte und ihrer Anwendung und Interpretation gemäß des politischen Kräfteverhältnisses unter einer bürgerlichen Regierung erkannt wurde. Immer wieder betonten Journalisten und fortschrittliche Künstler die enge Verbindung der Pressefreiheit mit dem gesellschaftlich demokratischen Fortschritt bzw. dessen Bedrohung, wie nach Hatin der Name der „Gesellschaft zur Verteidigung der patriotischen Presse“ später durch den Zusatz „en défense de la liberté individuelle“13 erweitert wurde. Auch Philipon initiierte gegen die Angriffe der Justiz eine Aktion zur materiellen Absicherung seiner Zeitung, die gleichzeitig ein wirkungsvolles Instrument gegen Zensur und Regierung werden sollte. Nachdem er in einem der ersten Presseprozesse zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war, entwickelte er während der Haft den Gedanken, der zur Entstehung einer „Vereinigung für die Pressefreiheit“ führte. Am 26.7.1832 kündigte er die Gründung einer „Association pour la liberté de la presse“ mit folgender Begründung und Zielsetzung in „La Caricature“ an: Zwanzig Beschlagnahmungen, sechs Gerichtssprüche mit drei Verurteilungen, mehr als 6.000 Francs Geldstrafe, die Forderung von 24.000 Francs Kaution belegen die Wirksamkeit von „La Caricature“ und den Hass der herrschenden Macht gegen sie, „… tout cela dans l’espace d’un an est une preuve incontestable de la profonde haine du pouvoir contre nous.“14 Um die finanzielle Kraft zu weiteren Auseinandersetzungen zu haben, schlug Philipon als Gesellschaftsform dieser Vereinigung eine Aktiengesellschaft vor, deren unbegrenzte Anteile im Wert von einem Franc im Monat erworben werden sollten. An jedem letzten Donnerstag eines Monats sollte als Dividende eine Lithographie an die Aktionäre ausgeliefert werden, exklusiv und ausschließlich für diese hergestellt. Stimulierend verwies Philipon noch auf einen anderen Gesichtspunkt hin: Da man diese zukünftigen Lithographien exklusiv vertreiben würden, und diese also auch nicht über die mit der Zeitung verbun-
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Hatin Bd. 8, a.a.O., S. 556. La Caricature, 26.7.1832.
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denen Kunsthandlung Aubert in den Handel gelangten, würden sie stets einen besonderen Sammlerwert haben, der den materiellen Einsatz mit Sicherheit in der Zukunft übersteigen dürfte. Uneingeschränkt können wir die damals kühne Prophezeiung bestätigen; die meisten der insgesamt 24 Veröffentlichungen der „Association pour la liberté de la presse“ zählen heute zu den Spitzenwerken der Lithographiegeschichte.15 Die Republikaner setzten den Kampf fort und isolierten erstaunlicherweise den Konflikt um die Pressefreiheit nicht von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Aus den wenigen, nur die Presse darstellenden Blätter sollen zwei Arbeiten von Honoré Daumier in die Diskussion miteinbezogen werden, die den kämpferischen und keinesfalls resignativen Charakter der Auseinandersetzung aufzeigen. Daumiers Darstellung „Ah! Tu veux te frotter à la presse“(Abb. 7) zeigt Louis-Philippe auf einem Druckwagen, bearbeitet von einem schelmisch dreinblickenden Drucker.16 Dieser kurbelt die Druckblöcke langsam zueinander, wodurch sich die voluminöse Gestalt des Bürgerkönigs in die Breite ausdehnt. Auch in dieser frühen Lithographie zeichnet sich Daumiers gegenüber Grandville auf wenige Personen beschränkte Darstellungsweise ab. Zentriert auf je einen repräsentativen Vertreter der unterschiedlichen Parteien wird der Sinn des Blattes aussagestark erkenntlich. Die Gliederung der Abbildung erhält über die massiv ausgestellte Druckmaschine mit ihren auf den Betrachter zulaufenden Schienen und in der differenzierten Tongebung eine ansprechende Tiefe, die für den helltönig lithographierten Drucker zum Handlungsraum wird. Die schwarz gehaltene Maschine in ihrer Verbindung mit dem Repräsentanten der JuliMonarchie, verliert ihren bedrohlichen Charakter, weil Daumier die Fähigkeit des Druckers hervorhebt, die Maschine bewusst einsetzen zu können – formal kennzeichnet er diesen Zusammenhang durch die helltönige Gestaltung des Arbeiters und die ebenfalls helltönig gestaltete Apparatur der Druckmaschine. Seit Oktober 1833, dem Erscheinungsdatum dieses Blattes, durchlebte die französische Öffentlichkeit eine krisenhafte Zuspitzung in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Immer lautstarker wiesen die ärmeren Bevölkerungsschichten darauf hin, dass sich ihre materiellen Verhältnisse seit der Julirevolution keinesfalls verbessert hatten, also im krassen, sichtbaren Gegensatz zu der versprochenen Prosperität des französischen Volkes stand, die der „goldene Mittelweg“ der Juli-Monarchie hatte leisten wollen. Die wachsende Unzufriedenheit eskalierte im Jahre 1834 zu einem mit militärischen Mitteln geführten Machtkampf zwischen Regierung und der aufständi15 Auch wenn der angestrebte monatliche Rhythmus nicht immer eingehalten werden konnte, stellen die großformatigen Líthographien ein bedeutendes Ensemble für die französische Graphik des 19. Jahrhunderts dar. 16 La Caricature, 3.10.1833.
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Abb. 7: Honoré Daumier „Ah! tu veux te frotter à la presse“ La Caricature, 3. Oktober 1833
schen Bevölkerung. Mit bürgerkriegsähnlichen Kampfhandlungen in Lyon, blutigen Ausschreitungen der Nationalgarde bei der Niederschlagung der Aprilaufstände einerseits und den gesetzgeberischen Aktivitäten der Regierung andererseits ist der Spannungsrahmen kurz umschrieben, für den das folgende Blatt von Bedeutung ist. Daumiers „Ne vous-y frottez pas“
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(Abb. 8) erschien als 20. Blatt der „Association pour la liberté de la presse“, angezeigt als Dividende für den Monat März 1834. In der bisherigen Daumier-Literatur wurde dann auch die Lithographie, einhellig als eines seiner Meisterwerke gewürdigt, dem März als Erscheinungsdatum zugeschrieben, womit es zwar mit den ersten Lyoner Unruhen im Februar und mit den Gesetzen gegen die öffentlichen Ausrufe in Zusammenhang gebracht werden könnte, nicht jedoch mit dem dramatischen Verlauf der Aprilaufstände und der darauf einsetzenden Verfolgung der oppositionellen Presse. Tatsächlich wurde erst am 5. Juni 1834 in „La Caricature“ die Zeichnung 20 und 21 der Vereinigung angekündigt, also gemeinsam die Blätter für März und April17, die somit nach der bisherigen Veröffentlichungspraxis gerade verschickt wurden. Auch wenn dieses Datum nicht unbedingt ein Indiz für die Entstehungszeit ist, erscheint ein enger Zusammenhang zwischen den im April verfolgten oppositionellen Politikern und Presseleuten eher denkbar, als die Herstellung der Lithographie im März.
Abb. 8: Honoré Daumier „Ne vous-y frottez pas“, 1834
17 La Caricature, 5.6.1834, Dessin du mois de mars: Daumier: „Ne vous-y frottez pas“; dessin du mois d’avril: Grandville/Desperets: „Enfants, croyez-nous, ne jouez pas avec ces armes-lá.“
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Monumental in den Bildvordergrund gestellt, erwartet ein kämpferischer Drucker mit geballten Fäusten den Angriff des Bürgerkönigs. Kompositionell umgibt Daumier den Drucker mit dem Schriftzug „Liberté de la presse“, der die Bildmitte vertikal und in der Größe dominierend einnimmt, und personifiziert in der monumentalen Gestalt des Druckers die Pressefreiheit. Von links naht der mit dem Regenschirm drohende Louis-Philippe, von Persil geschoben und von Odillon Barrot am Vorwärtslaufen behindert, während rechts – als Reminiszenz auf die Reaktion der Presse auf die berühmten vier Ordonnancen des letzten Bourbonenkönigs – Charles X niedergeschlagen am Boden liegt, dem zwei europäische Monarchen zu Hilfe eilen. Mit dieser Darstellung der Pressefreiheit, personifiziert und typisiert durch einen männlichen Drucker, „la Liberté de la Presse, personnifiée par un jeune et vigoureux imprimeur, attend bien campée, les attaques d’un gros et gras personnage que pousse Persil et qu’Odillon Barrot cherche à retenir“18, antizipiert Daumier die Positionen späterer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Die optimistische und kämpferische Gestaltung ist umso erstaunlicher, als sich das Juste-Milieu mit dem blutigen Aprilunruhen endgültig als Herrschaftsform in Frankreich verankert hatte. So wurden nach der Niederlage erstmals die unteren Volksschichten dargestellt, personifiziert durch eine typische Gestalt des aktuellen Konfliktes. Die herausragende Bedeutung des Blattes, das „sich zu historischer Größe erhebt“19 erkannte auch Philipon, der in der knappen Bilderklärung betonte, dass Daumier mit dieser Lithographie eine der besten zeitgenössischen politischen Zeichnungen gestaltet habe.20 „Liberté de la Presse“ oder „Ne vous-y frottez pas“ verdeutlichen mit dem parallel erschienenen Zyklus „La grande croisade contre la liberté“ eine zentrale Einschätzung der Republikaner im Zusammenhang der Neuwahl des Parlaments, dass nämlich die Auseinandersetzung um die Pressefreiheit eine hohe politische Aussagekraft hat. Kennzeichnet dieser Kampf doch die demokratische Entwicklung einer Gesellschaft, da in ihm einerseits das Ringen um die Anwendung progressiver Verfassungsartikel zum Ausdruck kommt, wie er andererseits für den Versuch der konservativen Abgeordnetenmehrheit steht, diese politisch zu verhindern. Die weit vorausschauende Einsicht der Republikaner in das Wechselspiel von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit lässt in den vorgestellten Lithographien Beispiele erkennen, deren inhaltliche Prägnanz in der damaligen künstlerischen Produktion der Juli-Monarchie ihresgleichen sucht. Nach dem glänzenden Sieg des Juste-Milieu bei den Juniwahlen 1835 fand die erbitterte Auseinandersetzung um die Pressefreiheit ein vorläufiges Ende. 18
La Caricature, 5.6.1834. Balzer Der junge Daumier und seine Kampfgefährten, Dresden 1965, S. 65. 20 La Caricature, 5.6.1835. „Nous ne craignons pas de dire que cette planche de H. Daumier, d’un dessin large, ferme et cependant plein de finesse, est un des meilleurs croquis en France.“ 19
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Trotz einer komfortablen Mehrheit im Parlament löste die Gesetzesvorlage über die Wiedereinführung der Pressezensur doch noch grundsätzliche Diskussionen in der Kammer aus. So schlug die Regierung vor, folgende Vergehen unter die Gesetze des Hochverrats zu stellen: Jede Provokation, mit oder ohne Folgen, gegen die Person des Königs oder die königliche Familie; jeden Versuch, die Regierung zu wechseln – d.h. ohne Wahlen zu stürzen – oder die Erbfolge der Krone zu ändern; jede Maßnahme, die Bevölkerung aufzuhetzen und aufzufordern, sich bewaffnet gegen die königliche Autorität aufzulehnen. Zusätzlich sollte als Hochverrat jede Kritik an den Prinzipien des „l’ordre public“ der Regierung bestraft werden, da diese durch die Verfassung abgesichert seien: „C’est également se rendre coupable d’un attentat à la sûreté de l’état que d’offenser gravement le roi ou d’attaquer intentionnellement le principe ou la forme du gouvernement établie par la charte“.21 Die Gesetzvorlagen riefen eine heftige Diskussion und großen Protest hervor, die auch in den heterogenen Fraktionen des Juste-Milieu nicht einheitlich geführt wurde. Offen wurde dabei hervorgehoben, dass der repressive Charakter der Gesetze mit dem Geist der Juli-Revolution unvereinbar und Ausdruck eines neuen Herrschaftsverhältnisses sei, da sie vom Geiste absoluter Herrscher vergangener Gesellschaftsstrukturen bestimmt sind. Der frühere Kammerpräsident Royer-Collard, der König Charles X 1830 das Misstrauensvotum der 221 Abgeordneten überbracht hatte, ergriff zu den vorgelegten Gesetzen das erste Mal nach der Juli-Revolution von 1830 wieder das Wort in der Abgeordnetenkammer. Als überzeugter konservativer Deputierter hielt er eine denkwürdige Rede über die Gewaltenteilung, da die Pairs-Kammer nach den neuen Gesetzen die Funktion der Verfassungsüberwachung übernehmen sollte, eine Aufgabe, die nach seiner Ansicht nur der vom Volk gewählten Abgeordnetenkammer zukam. Gleichzeitig verwies er auf die Tradition der Pressefreiheit als Errungenschaft des bürgerlichen Kampfes gegen die absolute Monarchie und wollte den Widerspruch zwischen ideellem Staatsgedanken und politischer Praxis zu Gunsten einer Respektierung unterschiedlicher Positionen als Freiheitsausdruck gelöst sehen. „Il s’agit de la presse. Je n’ai nulle sympathie pour le désordre. Si vous savez des répressions efficaces que la Charte avoue et que la prudence conseille, je les appuierai. Mais, Messieurs, il y a sur la presse des vérités acquises qui sont sorties victorieuses de nos longues discussions, qui ont pénétré peu à peu les esprits, et qui forment aujourd’hui la raison publique, celles-ci, par exemple: le bien et le mal de la presse sont inséparables; il n’y a pas de liberté sans quelques; le délit échappe à la définition, l’interprétation reste arbitraire. Le délit lui-même est inconstant; ce qui est délit dans un temps ne l’est pas dans l’autre.“22 21
Ledré Histoire de la presse, Paris 1958, S. 167. Royer-Collard De la liberté de la presse. Nachdruck mehrerer Parlamentsreden anlässlich der 100 Jahres-Feier der Revolution von 1848, Paris 1949, S. 68. 22
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Letztlich konnten in der vom 13. bis 29. August 1835 geführten Parlamentsdebatte keine grundlegenden Veränderungen der Gesetzesvorlagen erreicht werden. Und als am 29. August 1835 mit 226 Stimmen der 379 Abgeordneten die verschärften Pressegesetze verabschiedet wurden, mussten 40 als radikal angesehene Zeitungen ihr Erscheinen einstellen, unter Ihnen auch „La Caricature“, die als wöchentlich erscheinende Zeitung bereits am 27. August das letzte Mal eine Ausgabe veröffentlichte. In einer inhaltlichen Einschätzung der Deputiertenkammer beschließt Daumier mit der Lithographie „C’était vraiment bien la peine de nous faire tuer“ (Abb. 9) die herausragende künstlerische Geschichte dieser Zeitung. Aus einem Totenhügel mit geöffneter Grabplatte entsteigen drei gefallene Julirevolutionäre ihrem Grab, um zu erkennen, dass die aktuelle gesellschaftliche und politische Situation sich in Widerspruch zu den Zielen der Julirevolution von 1830 entwickelt hat, für die sie mit dem Tod das höchste Opfer gebracht hatten. Der anhebende Grabhügel mit der schräg nach oben geöffneten Grabplatte verstärkt eindrucksvoll die anklagende Haltung der Opfer. Daumier zeichnet in einer dreiviertel Körperabbildung einen die Mitte überragenden Julikämpfer, dessen zerrissene Kleidung, kräftige Arme und dessen verbundener Kopf die vergangene Hoffnung des Kampfes tragisch ausdrücken. Gemeinsam blickt
Abb. 9: Honoré Daumier „C’était vraiment bien la peine de nous faire tuer.“ La Caricature, 27. August 1835
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er mit einem zweiten Opfer, durch die Kleidung eindeutig als Bürger ausgewiesen, nach rechts, wo Daumier schemenhaft die Verfolgung der Aprilaufständischen anklagt. Die dritte Person, links, büstenhaft im Profil sichtbar, erblickt eine konfessionelle Prozession, die an die großen kirchlichen Umzüge unter Charles X erinnert und gleichzeitig auf die sich anbahnende Aussöhnung zwischen der Juli-Monarchie und der katholischen Kirche hinweist. Abermals setzt Daumier virtuos eine Staffelung schwarz-weißer Töne ein, um über eine differenzierte Farbgestaltung als kompositionellem Mittel zu einer Kongruenz mit dem Bildinhalt zu gelangen. Säule und Kreuz weisen mit dem Schriftzug „Mort pour la liberté, 27., 28., 29. juillet 1830“ auf ein kollektives Heldengrab zu Ehren der Gefallenen hin, das ideell die großen republikanischen und demokratischen Ideen repräsentiert. Mit Charles Philipon, dem Gründer der Zeitungen „La Caricature“ und „Le Charivari“, begegnet uns eine herausragende Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts für den Bereich der illustrierten Zeitung in Frankreich.23 Eine nicht unerhebliche Anzahl von Anekdoten über ihn, kolportierte Zitate und Stellungnahmen in wichtigen künstlerischen Kontroversen belegen seinen Einfluss, doch unterlaufen sie gleichzeitig eine systematische Einschätzung seines direkten oder indirekten Wirkungsbereiches. Die Rekonstruktion seiner Schaffensperioden, seine Verknüpfung mit dem Kunsthandel erscheint schwierig, zumal in Publikationen partiell Überliefertes ständig rekapituliert wird. Der 1800 in Lyon geborene Charles Philipon ging bereits als junger Mann 1817 nach Paris, um in das Atelier des Historienmalers Gros einzutreten. Allerdings musste er zwischenzeitlich auf väterlichen Wunsch nach Lyon zurückkehren 24, doch siedelte er 1823 endgültig nach Paris über 25. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich als Zeichner und Lithograph in kommerziellen Unternehmen, wobei die Mitarbeit 1829 bei „La Silhouette“ als wesentliche Erfahrung für seine ersten Zeitungsgründung gelten muss. Als überzeugter Republikaner nutzte er in dieser Zeit seine künstlerischen Fähigkeiten, um als Zeichner den Bourbonen König Charles X lächerlich zu machen. Zur gleichen Zeit werden wohl die Pläne einer eigenen Zeitungsgründung in den Vordergrund gerückt sein, da er nach der Proklamation von König Louis-Philippe, dem Repräsentanten des jüngeren Bourbonzweiges, an die Realisierung seines Vorhabens ging. Gemeinsam mit seinem Schwager
23 Die bisher umfassendste Würdigung von Charles Philipon verdanken wir James Cuno Charles Philipon and La Maison Aubert: The Business, Politics and Public of Caricature in Paris, 1820–1840, PhD. Thesis, Harvard University 1985. 24 Philipons Vater war ein bekannter Lyoner Tapetenfabrikant, der als entschiedener Republikaner einen anerkannten politischen Namen hatte. 25 Hûon Charles Philipon, in: Prinet/L’Heretier/Pichois (Hrsg.), Les Physiologies, Paris 1958, S. 17.
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Aubert 26 gründete Philipon die Wochenzeitung „La Caricature“, deren erste Ausgabe am 4. November 1830 erschien. Für seine Zeitschrift arbeiteten unter anderen so hervorragende Künstler wie Daumier, Traviès, Grandville oder Décamps. Wenn der berühmte Fotograf Nadar in seinem Nachruf auf Philipon dessen „inépuisable fécondité de moyens et d’inventions“27 hervorhebt, muss man diese unter dem Gesichtspunkt sehen, dass die meisten Künstler erst während der Zusammenarbeit mit Charles Philipon sich zu dem entwickelten, was ihre heutige Bedeutung ausmacht. Und „La Caricature“ hatte von Anbeginn an sich als eine politische und literarische Zeitschrift vorgestellt, die unter dem Motto „Journal politique, moral et littéraire“ für sich warb. Diese Zeitung stellte mit ihrer ungewöhnlichen Konzeption als illustrierte Publikation und ihrem Schwerpunkt in der politischen Satire einen ersten Höhepunkt in der französischen Zeitungsgeschichte dar. Während in früherer Zeit künstlerische Darstellungen Zeitungen als Einzelblattdrucke beigefügt wurden, bestand nun die Neuerung darin, dass dank des drucktechnischen Fortschritts die Karikaturen integraler Bestandteil der Zeitung werden konnten. Die satirische Wochenzeitschrift „La Caricature“ startete 1830 mit einer Auflage von 850 Exemplaren, die aber bereits ein Jahr später auf über 1000 gesteigert werden konnte und die dank ihrer republikanischen Ausrichtung eine bemerkenswerte Aufmerksamkeit vor allem in der Pariser Öffentlichkeit fand. Als Verleger knüpfte Philippe an die Traditionen der französischen Revolution an, er kämpfte mit „La Caricature“ als „Bürgerpublizist“ gegen den „Bürgerkönig“ Louis-Philippe. Mit den neuen technischen Errungenschaften, die früher separat gedruckte Flugschriften und Einblattkarikaturen als einander interpretierende Medien in der Zeitung zusammenführte, wurden bisher getrennt auftretende künstlerische und literarische Darstellungen um 1830 in einer zukunftsweisenden Symbiose vereint. Ein weiterer, wichtiger Schritt für Philipons journalistische und verlegerische Tätigkeit war die Gründung der satirisch-literarischen Zeitung „Le Charivari“, die 1832 als Schwesterblatt zu „La Caricature“ täglich erschien. Das neue Presseorgan wurde mit beträchtlichen Werbemitteln in der Öffentlichkeit bekannt gemacht, ein Werbeprospekt mit einer Auflage von 20.000 Exemplaren informierte die Bevölkerung über die Neuerscheinung mit einer Kampfansage an die Monarchie: „Quand nous fondâmes „Le Charivari“, nous avions le pressentiment que cette langue, toute nouvelle en France, mais si appropriée au caractère national, serait bientôt populaire chez nous, comme depuis longtemps déjà, elle l’était chez nos libres voisins… Le crayon
26 Aubert übernahm bei der Gründung des Verlags und der Kunsthandlung die administrative Leitung der Unternehmen. 27 Zitiert nach Ribeyre Les grands journaux de France, Paris 1862, S. 401.
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est désormais une arme puissante dont chaque opinion doit faire usage à sa manière. Le succès a dépassé nos espérances, nous pouvons le dire sans vanité, car c’est un fait patent.“28 Die neue Tageszeitung erschien am 1. Dezember 1932 mit einem 4seitigen Umfang; die dritte Seite war stets wiederkehrend für eine Lithographie mit Untertitel reserviert. Die Auflage erreichte sofort eine Höhe von 1900 Exemplaren und konnte in einem Monatsabonnement von 5 Francs über zahlreiche Abnehmer auch in der Provinz vertrieben werden. Abermals gelang es Philipon, profilierte Künstler und Journalisten für die Zeitung zu gewinnen. Neben der künstlerischen Mitarbeit von Daumier, Grandville, Travies, Pigal, Gavarni, Numa oder Bouquet, leiteten Louis Desnoyers, Altaroche und Albert Clerc den literarisch-satirischen Teil, die, wie Rebeyre kolportiert 29 „les trois hommes d’Etat du Charivari“ genannt wurden. Die inhaltliche Ausrichtung des „Charivari“ muss gegenüber jener von „La Caricature“ unpolitischer genannt werden; es ist nicht auszuschließen, dass dessen Gestaltung von dem Gedanken getragen war, nicht auch diese Zeitung grundsätzlich durch Presseprozesse zu gefährden. Unabhängig von dieser Einschätzung blieb der „Charivari“ mit einer leicht veränderten Konzeption auch nach den 1835 verabschiedeten Pressegesetzen von einem Publikationsverbot unbetroffen. Mit dem täglichen Erscheinen sicherte er sich einen besonderen Rang unter den Pariser Blättern, dessen Bedeutung – auch als Zeitdokument – von Honoré Balzac 30 erkannt und folgendermaßen charakterisiert wurde: „Der Charivari, der Matador der kleinen Zeitschriften, ist das einzige Blatt, das das Problem verwirklicht hat, jeden Tag eine Karikatur zu veröffentlichen. Diese Sammlung wird gewiss eines Tages zu den kostbarsten unserer Epoche zählen.“31 Als Gründer beider Zeitungen muss Charles Philipon als spritus rector der satirischen Journale in Frankreich angesehen werden. Seine Fähigkeit, kritische Künstler und Literaten für eine kontinuierliche Mitarbeit zu gewinnen, hat ihn gerade zu Beginn der JuliMonarchie zu einer bekannten Persönlichkeit werden lassen. Aber als ein dem Ideal der Französischen Revolution verpflichteter „Bürgerpublizist“ wird er auch Opfer der politischen Verhältnisse seiner Zeit. Verurteilungen, Gefängnis- und Geldstrafen, die Wiedereinführung der Pressezensur führen dazu, dass Charles Philipon bereits Anfang 1836 „Le Charivari“ dem belgischen Senator Lefèvre-Meuret verkauft, die dieser jedoch bald darauf an Armand Dutacq weitergab. In den vierziger Jahren wurde die Zeitung
28 Zitiert nach Max Die Satire in der französischen Publizistik unter besonderer Berücksichtigung des französischen Witzblattes, Hrsg. München 1834. 29 Rebeyre Les grands journaux de France, Paris 1862, S. 401. 30 Honoré de Balzac veröffentlichte in „Le Charivari“ unter den Pseudonymen Henri Courreaux, Jules Morrisot und Vicomte de B. 31 Zitiert nach Ausstellungskatalog Honore Daumier NGBK, Berlin/West 1974, S. 151.
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schließlich in eine Aktiengesellschaft umgewandelt 32, während sich der Mitarbeiterstab mit Albert Clerc und Alteroche als Chefredakteure, Delord und Huart als Redakteure stabilisierte, die mit den Künstlern Daumier, Garvarni, Edouard de Beaumont und später Cham und Vernier eine kontinuierliche publizistische Arbeit leisteten. Obwohl Charles Philipon als Journalist bei der Zeitung weiter mitarbeitete, verlagerte er die Schwerpunkte seines Tätigkeitsbereiches. Er gründete erneut kleinere Blätter wie „La Caricature provisoire“, die von November 1838 bis Dezember 1843 erschien, und „Musée pour rire“. Darüber hinaus erwies sich die Herausgabe der zweibändigen Karikaturenzyklopädie „Musée Philipon“ mit 1400 Abbildungen als ein großer Verkaufserfolg.33 In der historischen Rückschau können wir feststellen, dass nach der Verabschiedung der repressiven Pressegesetze in Frankreich auch für die Karikaturen eine interessante Entwicklung einsetzte. Aus der Hinwendung zu gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Themen formierte sich eine künstlerische Produktion, die in der Auseinandersetzung mit der konstitutionellen Monarchie und den sie tragenden gesellschaftlichen und politischen Gruppierungen Anerkennung in der Bevölkerung fand. Aus einer dezidierten republikanischen Grundeinstellung heraus, verbanden sich die streitbaren Künstler und Journalisten um Charles Philipon zu einem Kreis, der im Kampf um die Pressefreiheit dazu beitrug, das Fundament für die Durchsetzung demokratischer Grundrechte in Frankreich zu legen.
32 Das Kapital dieser Gesellschaft setzte sich aus 20 ausgegebenen Aktien zu je 10.000 Francs zusammen. Charles Philipon verfügte über eine Aktie. 33 In kurzer Zeit wurden von dem zweibändigen „Musée Philipon“ über 11.000 Exemplare verkauft.
Kurt Tucholsky als Jurist * Hermann Weber I. Einleitung: eine frühe Rezension Statt einer Einleitung sei hier mit einem – etwas ausführlicheren – Zitat aus einer Buchbesprechung begonnen – wie geschaffen für eine Beschäftigung mit „Literatur und Recht“: „‚Das Recht in Goethes Faust. Juristische Streifzüge durch das Land der Dichtung‘. Der Verfasser ist Oberlandesgerichtsrat in Naumburg, heißt Müller und ist auch so. 372 Seiten, 657 Anmerkungen. Kapitelüberschriften: ‚Rechtliche Höhepunkte und Wendepunkte des Dramas‘, ‚Der Teufelspakt‘, ‚Das Recht in Geisterreich und Menschheit‘. In dieser Art. Wie ist das mit dem Mephisto? ‚Der Hauptinhalt des Abkommens bildet demnach auf des Teufels Seite alsbaldiger Dienst für bestimmte Zeit, auf des Menschen Seite eine betagte Gegengabe: Übergabe seiner selbst nach Ablauf jener Zeit.‘ Nun weiß mans. Und die Tötung Valentins? Kein Zweikampf, sondern ein Tötungsverbrechen, und zwar ein vorsätzliches, vgl. hierzu Binding Lehrbuch des gemeinen Strafrechts, Besonderer Teil I 71, § 18, IV 2; von Liszts Strafrecht § 93 II. … Scherz beiseite. Die mißlungene Arbeit eines trockenen Schleichers könnte uns in keinem anderen Fall die Zunft verekeln. Hier tut sie es. Hier offenbart sich die kurzstirnige und begrenzte Arbeitsweise des Apparats, der zwischen Tritt und Schritt mit staubigen Wälzern operiert, um zu beweisen, daß er überhaupt geht, hier ist Reinkultur des Typus einer Sorte, die belastet von einem Wust an Einzelheiten und historischem Wissen, nichts als gegeben hinnimmt, nicht heilt, wenn man sie zu Hilfe ruft, nie aktiv ist, sondern – in der Nase bohrend – geruhig meditiert, einhertrottelt: Jurisprudenz. Juristerei ist keine Wissenschaft. Sie ist bestenfalls ein Handwerk. Aber Richten und Entscheiden ist oft mehr: das ist eine Kunst. Die ganze Unzulänglichkeit, die jämmerliche Kleinheit dieser Pseudowissenschaft könnte nicht klarer zum Ausdruck kommen, wenn sie sich nicht schon im Leben täglich blamierte. Wenn ein Mediziner (ausgenommen ein Psychiater) eine klinische Untersuchung über die Tötung Valentins von sich gäbe, so würde man mit Recht sagen, daß man seine Verbandsstoffe hier nicht benötige – aber er würde doch sachlich immer ein* Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Verfasser unter demselben Titel am 17.12.2008 auf der Tagung 39d/08 („Literatur und Recht“) der Deutschen Richterakademie in Wustrau gehalten hat. – Die Texte Kurt Tucholskys werden im Folgenden nach der – von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp und Gerhard Kraiker im Rowohlt Verlag herausgegebenen – Gesamtausgabe („Texte und Briefe“), bisher 20 (von 21 geplanten) Bänden und ein Vorwegband (Materialien), 1966–2008, sowie nach der von von Soldenhoff herausgegebenen Auswahl: Tucholsky Justitia schwooft! Schriften zum deutschen Justizalltag, 3. Aufl. (1990), zitiert.
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wandfrei bleiben. Der Jurist – du lieber Himmel! Das greift täppisch daneben, weil es nicht weiß, was ein Degen und ein Mädel und eine Mutter ist. Vielmehr sehen sie nur die bewegliche Sache und die Frauensperson und eine Aszendentin im ersten Grad. Ich empfehle allen, sich die fleißige Arbeit des Juristen Müller näher anzusehen. Sie ist in Berlin bei Carl Heymann erschienen.“
Die Rezension mit ihrer respektlosen Kritik nicht nur (und nicht einmal in erster Linie) an dem besprochenen Buch und seinem Verfasser, sondern an der Juristerei allgemein ist am 14.8.1913 in Siegfried Jacobsohns (später in „Weltbühne“ umgetaufter) Zeitschrift „Schaubühne“ erschienen.1 Ihr Verfasser war kein anderer als Kurt Tucholsky, damals 23 Jahre alt und kurz vor der juristischen Promotion, der freilich den Text nicht mit seinem bürgerlichen Namen, sondern mit „Ignaz Wrobel“, einem seiner vier Pseudonyme, gezeichnet hat. Die – dem Freirechtler Ernst Fuchs, dessen Publikationen Tucholsky damals stark beeindruckt hatten, gewidmete – Polemik enthält in nuce (nicht zuletzt in der bewussten Unterscheidung zwischen Jurisprudenz einerseits und der Kunst richterlichen Entscheidens andererseits) bereits einen Gutteil der späteren Kritik Tucholskys an der Justiz der Weimarer Republik. Wer aber war dieser Jurist und Justizkritiker Kurt Tucholsky?
II. Lebenslauf und literarisches Werk 1. Leben Für viele Details in Tucholskys Leben fehlt es an wirklich zuverlässigen Quellen.2 Immerhin gibt es heute zwei akzeptable Biographien: die präzise, knapp zusammenfassende Darstellung von Michael Hepp in der Reihe „rowohlts monographien“ 3 und die ausführliche Lebensbeschreibung von Helga Bemmann4 – diese freilich ein wenig hagiographisch, in der politischen Sicht ihrem Gegenstand mitunter ein wenig zu nahe und leider im Detail auch nicht immer ganz zuverlässig. Beide erlauben einen knappen Überblick über Leben und Lebensdaten: Kurt Tucholsky wird am 9.1.1890 als Sohn wohlhabender, gutbürgerlichjüdischer Eltern in Berlin-Moabit geboren; ihm folgen 1896 der Bruder Fritz
1 Abdruck in: Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 1, Texte 1907–1913, 1997, Nr. 143, S. 237 ff., 237, 238 f., 239, und bei Tucholsky Justitia schwooft (o. Fn. *), S. 13 f. 2 Vgl. dazu insbesondere den kritischen Überblick zur älteren biographischen Literatur zu Tucholsky bei Weck Wider den Dreimännerskat der Justitia, in: Kilian (Hrsg.), Dichter, Denker und der Staat. Essays zu einer Beziehung ganz eigener Art, 1993, S. 157 ff., 159 ff. 3 Hepp Kurt Tucholsky, 4. Aufl. (2008). 4 Bemmann Kurt Tucholsky. Eine Biographie, erstmals 1990, zuletzt (seitengleiche) Taschenbuchausgabe 1994 (im Folgenden zitiert nach dieser Ausgabe).
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und 1897 die Schwester Ellen. Der Vater Alexander Tucholsky stammte aus Greifswald, die Mutter Doris Tucholski, eine Kusine des Vaters, aus dem mit „i“ statt mit „y“ geschriebenen Familienstamm im damals westpreußischen Posen. Alexander Tucholsky war einige Jahre zuvor als Bankkaufmann in die 1856 von Carl Fürstenberg gegründete Berliner Handelsgesellschaft eingetreten. 1893 verzieht die Familie nach Stettin, wo Alexander Tucholsky von nun an die Interessen der Bank wahrzunehmen hat und Kurt 1896 den Schulbesuch beginnt. 1899 wird Alexander Tucholsky von Fürstenberg nach Berlin zurückberufen, Kurt wird dort auf das Französische Gymnasium geschickt, das vor ihm – neben anderen Geistesgrößen – schon die Dichter Heinrich von Kleist und Adelbert von Chamisso besucht hatten. 1903 wechselt Kurt auf das Kgl. Wilhelms-Gymnasium. Wenig später, 1905, stirbt der Vater, mit dem Kurt zeitlebens ein enges Verhältnis verbunden hat. Mit der Mutter – die erst am 7.5.1943 im Alter von 83 Jahren im KZ Theresienstadt verstorben ist – kommt er schon damals (und auch später) nur schlecht zurecht. 1907 nimmt sie ihn wegen zunehmender Spannungen aus der Schule und gibt ihn zur Vorbereitung des Abiturs in Pension zu Studienrat Dr. Wilhelm Kraßmöller in der Französischen Straße. 1909 besteht Tucholsky als Externer das Abitur und beginnt wenige Wochen danach das Jurastudium in Berlin, das er 1912 ohne Examen abschließt. 1914 folgt die juristische Promotion in Jena. Auf beides wird noch näher einzugehen sein. Noch während des Studiums lernt Kurt Tucholsky seine spätere erste Frau Else Weil kennen, mit der er 1911 einige Sommertage in Rheinsberg verbringt. Im selben Jahr besucht Tucholsky in Prag Max Brod und begegnet dort Franz Kafka. 1913 wird er Mitglied des Verbands Deutscher Schriftsteller, 1914 immatrikuliert sich Tucholsky nochmals für ein Semester an der Universität in Berlin, wo er Vorlesungen in Geographie und Psychologie belegt. In dieselbe Zeit fällt sein Austritt aus der Jüdischen Gemeinde Berlin am 1.7.1914. 1915 wird er als Armierungssoldat einberufen. Nach vorübergehendem Fronteinsatz im Memelgebiet wird er in die Schreibstube seiner Einheit versetzt und schließlich mit dieser in die Etappe an die Fliegerschule in Alt-Autz in Kurland verlegt. Dort begegnet er Mary Gerold aus Riga, mit der er ein Leben lang in Kontakt bleibt und die Jahre später seine zweite Frau wird. 1918 lässt er sich als Hilfspolizeibeamter zur politischen Polizei bei der Militärverwaltung in Rumänien versetzen. Er strebt an, Kommissar zu werden und damit eine Stellung zu erlangen, die es ihm erlauben würde, „von einer Kriegsstellung sachte in eine Friedensposition hinüberzugleiten“ und so die Basis für eine feste Verbindung mit Mary zu schaffen. Da er mit einigem Grund befürchtet, dass einem Dissidenten die angestrebte Beamtenstellung verschlossen bleiben müsste, lässt er sich am 21.7.1918 von einem Feldgeistlichen protestantisch taufen. Von der damit erworbenen Kirchenmitgliedschaft macht Tucholsky niemals Gebrauch. Aber auch seine Hoffnungen auf eine Beamtenstellung werden durch das Kriegsende zunichte ge-
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macht. Auf die schriftstellerischen Arbeiten in dieser und in der späteren Zeit wird noch gesondert einzugehen sein. Ende 1918 ist Tucholsky zurück in Berlin. In einer ausführlichen Korrespondenz mit Mary Gerold versichert er ihr, „daß es ohne sie nichts wäre und daß er wissen wolle, für wen er sich abrackere“ – ohne zu erwähnen, dass er in derselben Zeit auch seine frühere Beziehung mit Else Weil wieder aufgenommen hat. Anfang 1920 kommt Mary nach Berlin. Es kommt rasch zur – vorläufigen – Trennung. Wenige Monate später heiratet Tucholsky zunächst Else Weil. Die Ehe hält nicht lange: Anfang 1924 wird die Scheidung rechtskräftig. Schon Ende August 1924 kommt es nun doch zur Ehe mit Mary Gerold. 1925 zieht Mary zu Kurt nach Paris, wo dieser seit Frühjahr 1924 als Korrespondent der „Weltbühne“ und der „Vossischen Zeitung“ tätig ist. Auch ihre Beziehung zerbricht: 1927 lernt Tucholsky Lisa Matthias kennen, mit der ihn bis 1931 ein enges Liebesverhältnis verbindet; viele Jahre später (1962) wird sie unter dem Titel „Ich war Tucholskys Lottchen“ mit Klatsch gespickte Erinnerungen an ihre Zeit mit Tucholsky veröffentlichen. Mary verlässt Tucholsky im November 1928 endgültig und lebt nun wieder in Berlin. Die gegenseitige Achtung und der Kontakt zwischen beiden bleiben unabhängig von der Trennung erhalten. Erst 1933 lässt Tucholsky sich scheiden, um Mary sonst zu befürchtende Schwierigkeiten wegen ihrer beider Verbindung zu ersparen. Tucholsky, der in diesen Jahren zunehmend an einer nicht klar definierten Erkrankung der Atemwege leidet, die ihn im Laufe der Jahre zu zahlreichen Sanatoriumsaufenthalten und mehreren Operationen zwingt, zieht seinerseits 1930 nach Hindås in Schweden. Dort entwickelt sich rasch ein Liebesverhältnis zu Gertrud Meyer, die zunächst als Dolmetscherin und Sekretärin zu ihm gekommen war. Wenige Jahre später, 1932, lernt Tucholsky in Locarno die Züricher Ärztin Dr. Hedwig Müller kennen, bei der er 1932 und 1933 fast ein Jahr lang wohnt (wobei er ein wenig auch an Heirat denkt) und der er – trotz Fortbestand seiner Beziehung zu Gertrud Meyer und trotz eines engen Briefkontakts zu seiner früheren Frau Mary – bis zu seinem Lebensende verbunden bleibt. Seinen Lebensunterhalt bestreitet Tucholsky in den Jahren bis 1933 aus den Erträgen seiner schriftstellerischen und journalistischen Arbeit, aber auch mit Texten und Chansons für Kabarett, Revuen und Theater. Nur die Zeit der Hochinflation muss er anderweitig überbrücken: Für diese Zeit bietet ihm der Bankier, Mäzen und USPD-Finanzier Hugo Simon eine Tätigkeit im Bankhaus Bett, Simon & Co. an, dessen Teilhaber er ist. Vom 1.3.1923 bis zu seinem Aufbruch nach Paris im Frühjahr 1924 arbeitet Tucholsky in der Bank. Neben seiner literarischen Tätigkeit – auf die noch einzugehen sein wird – ist Tucholsky in den Jahren der Weimarer Republik in zahlreichen politischen Organisationen engagiert: Schutzverband Deutscher Schriftsteller, Deutscher Republikanischer Reichsbund, Friedensbund der Kriegsteilnehmer, USPD, Deutsche Liga für Menschenrechte, Rote Hilfe Deutschlands.
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2. Werk Für Tucholskys politische Wirkungen weit wichtiger als seine Aktivitäten in der organisierten Politik aber sind seine schriftstellerischen und journalistischen Arbeiten. Schon 1907 werden zwei kleine Texte des Schülers anonym im „Ulk“ – einer humoristischen Beilage des „Berliner Tageblatts“ – veröffentlicht. 1911, in der Zeit seines Jurastudiums, publiziert Tucholsky einen ersten Artikel im sozialdemokratischen „Vorwärts“, dem bis zum Kriegsbeginn zahlreiche weitere folgen. 1912 liefern ihm die Sommertage mit Else Weil in Rheinsberg das Sujet für seine erste rein belletristische Arbeit – den noch heute zu Recht gern gelesenen kleinen Roman „Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte“, dessen Wirkung Michael Hepp in seiner Tucholsky-Biographie auf den Punkt gebracht hat: „Die Gegensätze von Großstadthektik und beschaulicher kleinstädtischer Atmosphäre, von verkrusteter Bürgerlichkeit und jugendlicher Bohème, von anerzogener Wohlanständigkeit und spielerischer Sinnenlust zeugen von einer Oppositionshaltung, die viel zu der Beliebtheit des Buches beitrug. Zudem erschien es mitten im Jubeljahr zum 200. Geburtstag Friedrichs des Großen, der einige seiner schönsten Jahre in Rheinsberg verbracht hatte. … Ausgerechnet dort siedelte Tucholsky seine Liebesgeschichte an, machte sich aber über Schloß und Konventionen nicht nur lustig. Mit Wölfchen und Claire setzte er ihnen ein entschieden anderes Lebensgefühl entgegen. So sehr der Ort der Handlung mit Wald und See (einschließlich Kahnpartie) Natur ist und die Sehnsucht der Großstadtkinder nach ihr durch alle Zeilen schimmert, so auffällig ist das Schloß aber auch Kulisse eines verfremdeten, ironisierten Schäferspiels, dessen Darsteller weder das Spiel noch sich selbst ernst nehmen.“ 5
Das Buch wird denn auch sofort zu einem großen Erfolg bei Kritik und Publikum; schon ein Jahr nach Erscheinen kann der Verlag dritte Tausend ankündigen, und bis 1931 werden 100.000 Exemplare verkauft. 1913 folgt eine entscheidende Weichenstellung für Tucholskys literarische Laufbahn – die Begegnung mit Siegfried Jacobsohn, dem Herausgeber der „Schaubühne“ der ihm – so noch einmal Michael Hepp – „Vaterersatz, Mentor, und Lehrer wurde, fast kritiklos anerkannte Autorität und Freund zugleich“ 6. Schon im ersten Jahr ihrer Begegnung wird Tucholsky zum wichtigsten Autor der Zeitschrift. Er schreibt politische Artikel, Theaterkritiken, literarische Essays, Buchbesprechungen, Glossen, satirische Verse, beantwortet Leserfragen und veröffentlicht in einem Heft meist mehrere Beiträge. Dafür erfindet er sich die Pseudonyme Peter Panter, Theobald Tiger und Ignaz Wrobel, denen sich nach Rückkehr aus dem Krieg, der Tucholskys literarische Tätigkeit – von der Gestaltung einer Frontzeitschrift abgesehen – zunächst einmal unterbricht, als letztes Kaspar Hauser hinzugesellt.
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Hepp (o. Fn. 3) S. 23 f. Hepp (o. Fn. 3) S. 27.
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Nach Berlin zurückgekehrt, wird Tucholsky sofort wieder publizistisch tätig. Noch 1918 übernimmt er für zwei Jahre die Redaktion des „Ulk“. Gleichzeitig erneuert er seine Mitarbeit bei Siegfried Jacobsohns – jetzt in „Weltbühne“ umgetaufter – Zeitschrift. Daneben schreibt er für unterschiedliche – zunächst überwiegend bürgerlich-liberale, in seiner Zeit als Parteimitglied immer mehr auch der USPD nahe stehende – Zeitungen. Tucholsky veröffentlicht nach wie vor „Feuilletons, Reportagen, kleine Artikel, essayistische Aufsätze, Leitartikel und sonstige kleine Prosa“, schreibt „Satiren und Parodien in epischer, szenischer und lyrischer Gewandung“, dichtet „‚Gebrauchslyrik‘ und frech-frivole Chansons.“7 Den Schwerpunkt seiner Publizistik bilden aber immer deutlicher politische Artikel – Artikel, in denen Tucholsky sich mit der Rolle des Militärs im Weltkrieg und in Staat und Gesellschaft der neuen Republik, mit dem Misstrauen des Bürgertums, insbesondere der alten Eliten, gegenüber der neuen Republik und mit von ihm konstatierten Missständen in der rechtlichen Ordnung des Reichs, vor allem aber in der als reaktionär empfundenen Justiz (und hier vor allem in der Rechtsprechung der Strafgerichte) beschäftigt. Mit der Übersiedlung nach Paris 1924 kommen als weitere Schwerpunkte der Einsatz für die deutschfranzösische Verständigung und mit ihm verbunden der Versuch einer Revision des Frankreichbildes in Deutschland hinzu. Die politischen Standpunkte Tucholskys im Verlauf dieser Jahre bleiben nicht unverändert: Aus dem Weltkrieg ist er als „verirrter Bürger“ 8 heimgekehrt. In den Jahren danach lassen sich mit Bernhard Weck drei Phasen seines Engagements als politischer Schriftsteller unterscheiden: „Nach der Abschaffung der Monarchie verfocht er bis 1920 die Herbeiführung einer geistigen Revolution, worunter er ein radikales Umdenken auf die ungewohnten demokratischen Grundsätze der jungen Republik verstand; das Ziel der Sicherung und durchgreifenden Republikanisierung der Republik stand bis 1925 im Vordergrund seines Schaffens; ab 1925 setzte eine starke Radikalisierung seiner Überzeugungen ein, die ihn vorübergehend zur Annäherung an die KPD führten und die gewissermaßen revolutionäre Umgestaltung der ersten in eine zweite Republik fordern ließ. Es versteht sich, daß die Übergänge zwischen diesen Phasen fließend sind.“ 9
Ende 1926 stirbt – ganz unerwartet – Siegfried Jacobsohn in Berlin. Tucholsky übernimmt vom einen auf den anderen Tag als Herausgeber die Leitung der „Weltbühne“. Unterstützt wird er von dem – damals noch jungen – Carl von Ossietzky, mit dem ihn ein nicht immer ganz ungetrübtes persönliches Verhältnis verbindet. Unbeschadet dessen gibt Tucholsky schon im Mai 1927 die Redaktion der Zeitschrift an Ossietzky ab, der vom Oktober an auch offiziell auf dem Titelblatt als Herausgeber genannt wird („Unter Mitarbeit von Kurt Tucholsky geleitet von Carl von Ossietzky“). Unabhängig von dem 7 8 9
Weck (o. Fn. 2) S. 165, dort auch die Zitate. Hepp (o. Fn. 3) S. 48. Weck (o. Fn. 2) S. 166.
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Wechsel der Herausgeberschaft bleibt Tucholsky der Zeitschrift aber als ihr wichtigster Autor erhalten: Allein im Jahre 1927 stammen mehr als 70 Artikel der „Weltbühne“ aus seiner Feder. Die in diesen Jahren erschienenen Buchpublikationen sind in aller Regel Sammlungen kürzerer, meist schon in Zeitungen oder Zeitschriften veröffentlichter Arbeiten. Das gilt etwa für die Bände „Träumereien an preußischen Kaminen“ (1920), „Mit 5 PS“ (1928), „Das Lächeln der Mona Lisa“ (1929), „Lerne lachen, ohne zu weinen“ (1931). Kurze – hier zum Teil aber auch neue – Texte enthält auch der im selben Jahr erschienene Band „Deutschland, Deutschland über alles“ mit Fotomontagen von John Heartfield, der wegen seines besonders aggressiven Tons „für anhaltenden heftigen Wirbel sorgte und Tucholskys Freunde wie Feinde in mehrere Lager spaltete“ 10. Eine Ausnahme ist das 1927 veröffentlichte „Pyrenäenbuch“ – ein Bericht über eine Pyrenäenreise, die er 1925 mit seiner Frau Mary unternommen hatte, die aber zu einer Ehekatastrophe ausgeartet war (was dazu führte, dass Mary an keiner Stelle des Buchs erwähnt und so der Eindruck erweckt wird, als habe der Autor die Reise allein unternommen). Die zweite Ausnahme ist der 1931 unter dem Eindruck der Beziehung zu Gertrude Meyer geschriebene Roman „Schloß Gripsholm“ – nach Tucholsky selbst eine „Fingerübung“, ein „Omelette soufflée“, bei genauerer Lektüre aber eine „teilweise psychologische Erzählung“ (Kirsten Erwentraut), verborgen hinter der Leichtigkeit einer „besinnlichen Liebesdichtung“ (Max HerrmannNeiße).11 Wie „Schloß Rheinsberg“ am Beginn, so steht „Schloß Gripsholm“ am Ende von Tucholskys literarischem Werk. 1932 verstummt der Autor Kurt Tucholsky weitgehend; auch der Plan eines weiteren, diesmal umfangreicheren Romans bleibt unausgeführt. Die Gründe für diesen Rückzug lagen wohl weniger in dem sich verschlechternden Gesundheitszustand Tucholskys als in seiner zunehmenden Resignation über die politische Entwicklung in Deutschland (eine Resignation, die auf seinen Gesundheitszustand ihrerseits sicher nicht ohne Wirkung geblieben war). Nach dem Jahr in Zürich zieht Tucholsky sich endgültig nach Schweden zurück. Seine finanziellen Mittel erschöpfen sich schnell, der Kampf um die schwedische Staatsangehörigkeit bleibt ohne Erfolg und auch die gesundheitliche Situation Tucholskys verschlechtert sich zunehmend. Am 21.12.1935 um 16 Uhr findet Gertrude Meyer Tucholsky bewusstlos in seiner Wohnung. Er wird – schon im Koma – ins Krankenhaus in Göteborg eingeliefert und stirbt dort noch am selben Abend. Alle Umstände sprechen für Selbstmord durch eine Überdosis Veronal; Vermutungen über einen Mordanschlag der Nationalsozialisten sind
10 11
Hepp (o. Fn. 3) S. 121. Hepp (o. Fn. 3) S. 128 mit Nachweis der Zitate in Fn. 454–456.
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trotzdem nie ganz verstummt. Absolute Sicherheit hierüber wird sich Jahrzehnte später ebenso wenig herstellen lassen wie über die jüngst von Michael Hepp ins Gespräch gebrachte weitere Möglichkeit („Selbstmord aus Versehen“ durch Einnahme einer zu hohen Dosis von Schlafmitteln ohne Selbsttötungsabsicht 12).
III. Die Laufbahn Tucholskys als Jurist Zum ersten Mal dürfte Tucholsky durch seinen Onkel Max mit der Juristerei in Berührung gekommen sein: Tucholskys Biographin Helga Bemmann schildert den Bruder der Mutter und seine Rolle in der Familie: „Onkel Max … mit dem kleinen Schnurrbärtchen und den großen beweglichen Augen aller Tucholskis war schon von seiner Statur her eine Respektsperson, wenn er zum Gericht ging oder im Salon am Flügel saß. Sein Ruf als Rechtsanwalt mit großer Praxis machte ihn zu einer einflußreichen Persönlichkeit im Berliner Leben. Für die Familie war er die anerkannte juristische Autorität. Er beriet die Mutter in allen Rechts- und Geldangelegenheiten und war Kurts Vormund. Daß Justizrat Max Tucholski Hausmusikabende gab, bei den Familienfeiern beeindruckend Klavier spielte und auch mit eigenen, im Bloch-Verlag gedruckten Kompositionen brillieren konnte, hat den Neffen Kurt fast damit versöhnt, daß die Onkel allesamt dagegen waren, als ihm 1911 das von Vaters Seite ererbte Vermögen ausgezahlt werden sollte.“ 13
Nach dem Abitur im September 1909 entscheidet sich Kurt Tucholsky, durch sein väterliches Erbe finanziell abgesichert, für ein Studium der Jurisprudenz. Welche Motive ihn zu seiner Studienwahl veranlasst haben, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen. Auch hierzu noch einmal seine Biographin: „Ob … Onkel Max, der Rechtsanwalt oder der Familienrat seinen Einfluß auf Mutter und Sohn geltend gemacht hat, muß offenbleiben. Vater Alex wäre es sicher recht gewesen, daß sein Ältester sich an der der Universität für diese Fach immatrikulierte, da man mit einem Jurastudium auch im Bankwesen eine Menge anfangen konnte.“14
Wenige Wochen nach dem Abitur, im Oktober 1909, nimmt Kurt Tucholsky das Studium an der Juristischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin auf, das er sechs Semester später – darunter einem Sommersemester in Genf im Jahre 1910 – ohne Examen im August 1912 abschließt. Der Fakultät – deren Hörsäle und Übungsräume schon damals in der „Kommode“, dem alten Gebäude der Staatsbibliothek am Opernplatz, unterge12
Hepp (o. Fn. 3) S. 150 f. Bemmann (o. Fn. 4) S. 52. 14 Bemmann (o. Fn. 4) S. 50 f.; zur Studienwahl Kurt Tucholskys und zur Person Max Tucholskis und dessen Rolle bei der Studienwahl vgl. neuestens noch ausführlich Miederhoff Man erspare es mir, mein Juristenherz auszuschütten. Dr. jur. Kurt Tucholsky, sein juristischer Werdegang und seine Auseinandersetzung mit der Weimarer Strafrechtsreform am Beispiel der Rechtsprechung durch Laienrichter, 2008, S. 32 ff., 35 ff. 13
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bracht waren – gehörten in Tucholskys Studienzeit noch heute so bekannte Professoren wie Otto von Gierke, Josef Kohler, Franz von Liszt, Wilhelm Kahl, Theodor Kipp, Martin Wolff und – als Junior der Fakultät – Gerhard Anschütz an; aus einem für die spätere Promotion in Jena eingereichten Lebenslauf ergibt sich, dass Tucholsky bei einem Großteil der Genannten Vorlesungen gehört hat. Darüber hinaus ist vom Studium Tucholskys nicht allzu viel bekannt.15 Großen Eindruck jedenfalls scheinen all die Koryphäen der Fakultät auf ihn nicht gemacht zu haben. So schreibt er noch 1929, dass erst „drei Jahre, nachdem die Examensbüffelei schon vorbei war, ihm manches aufgegangen, er alles verstanden habe, was ihm vorher unklar gewesen sei“16. Glaubt man einem Bericht seiner Biographin Helga Bemmann, hat Tucholsky sich sogar kurz nach Beendigung seines Studiums in einem Artikel im „Vorwärts“ mit dem liberalen Staatsrechtler Gerhard Anschütz öffentlich angelegt, weil es ihm – so der Bericht von Helga Bemmann – absolut sinnlos erschien, dass „dieser Professor im Glauben an ‚sauberes Recht‘ in Preußen-Deutschland redliche Gutachten schrieb und mit Paragraphen argumentierte, die gegen die Übergriffe von Amtsstellen nicht das geringste nützten“17. Der Bericht lässt sich freilich zumindest anhand der – sehr zuverlässigen – neuen TucholskyGesamtausgabe („Texte und Briefe“) nicht verifizieren; im ersten Band mit Tucholskys Schriften aus den Jahren 1907 bis 1913 findet sich jedenfalls kein einschlägiger Artikel. Verifizieren lässt sich dagegen eine Kritik in Versform am Juristentag in Wien, die Tucholsky 1912 nachweislich im „Vorwärts“ veröffentlicht hat: „Juristentag in Wien Das räuspert sich und speichelt Paragraphen In Reden, Gegenreden, Kommentaren ein … Man ist gewissermaßen unter sich allein – Der Redner spricht. Die andern Herren schlafen. Das dünkt sich wohlerfahren, strotzt von Würden. – Hier wird das Leben wissenschaftlich aufgefasst: – Doch jeder Kerl, der eine schwere Last zu Hafen trägt, weiß mehr als sie von unsern Lebensbürden. 15 Zum Studium und zur Promotion Tucholskys vgl. vor allem Wambach Grenzgänger zwischen Jurisprudenz und Literatur. Werner Krauss, Kurt Tucholsky, Friedrich Georg Jünger und Martin Beradt, 2000, S. 55 ff., 58 ff., auf dem die folgende Darstellung in weiten Teilen beruht; dort auch bereits ein Großteil der im Folgenden wiedergegebenen Zitate. Vgl. ferner aus neuester Zeit noch sehr ausführlich Miederhoff (o. Fn. 14) S. 37 ff. (unter Auswertung mancher bisher unbekannter Quellen). 16 Wambach Grenzgänger (o. Fn. 15) S. 55; vgl. ferner den ausführlichen Bericht bei Tucholsky selbst: Panter Ich möchte Student sein, Vossische Zeitung vom 27.1.1929, PostAusgabe, Abdruck in: Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 11, Texte 1929, 2005, Nr. 21, S. 49 ff., 49 f. 17 Bemmann (o. Fn. 4) S. 64.
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Das glaubt noch an juristische Gewalten. Und zwängt es sich nicht in Begriffe ein, Dann wird das Leben wohl nicht richtig sein … Das schwätzt und alles bleibt beim Alten. Der Schöffe ist ein Strohwisch, eine Puppe … Was weiß der Landgerichtsdirektor mit der Atemnot Von Streik und Hunger und von Qual und Tod! Er urteilt ab, das andre ist ihm schnuppe. Er geht nach Haus und deckt sich durch verdammte Hochnäsigkeit und Akten und Papier Und Tinte … Wozu sind die Professoren hier? – Juristen? – Wissenschaftler? – Richtbeamte!“ 18
Einzig den bedeutenden Strafrechtler und Strafrechtsreformer Franz von Liszt erwähnt Tucholsky später noch positiv. 1929 schreibt er im Rahmen einer seiner Justizkritiken: „Ich besinne mich noch auf den Tadel, den ich einmal im Seminar von Franz von Liszt bekommen habe, als ich in einer strafrechtlichen Arbeit eine Analogie konstruieren wollte. Die langen Federstriche am Rande riefen mich laut zur Ordnung: im Strafrecht gäbe es keine Analogie, sondern nur ausdrücklich angeordnete und vom Gesetzgeber bestimmte Strafen und wenn der Tatbestand nicht unter einen solchen Paragraphen zu subsummieren sei, so sei eben freizusprechen. Mangelhaft. Mit Recht: Mangelhaft.“19
In den Jahren seines Studiums scheint Tucholsky durchaus noch ernsthaft an die spätere Aufnahme eines juristischen Berufs gedacht zu haben. Dabei stand ihm das Ziel vor Augen, Anwalt (und hier speziell Strafverteidiger) zu werden. Einen Beleg bietet der Bericht in Franz Kafkas Tagebüchern über die Begegnung mit Tucholsky im September 1911 in Prag – zugleich die wohl einzige zeitgenössische Schilderung Tucholskys aus seiner Studienzeit: „Tucholski und Safranski. Das gehauchte Berlinerisch, in dem die Stimme Ruhepausen braucht, die von ‚nich‘ gebildet werden. Der erste ein ganz einheitlicher Mensch von 21 Jahren. Vom gemäßigten und starken Schwingen des Spazierstocks, das die Schulter jugendlich hebt, angefangen, bis zum überlegten Vergnügen und Mißachten seiner eigenen schriftstellerischen Arbeiten. Will Verteidiger werden, sieht nur wenige Hindernisse – gleichzeitig mit der Möglichkeit ihrer Beseitigung: seine helle Stimme, die nach
18 Kurt Vorwärts vom 8.9.1912; Abdruck in: Tucholsky, Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 1 (o. Fn. 1) Nr. 66, S. 87 f. 19 I. Wrobel Das A-B-C des Angeklagten, Weltbühne vom 8.1.1929, Abdruck in: Tucholsky-Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 11 (o. Fn. 16) Nr. 7, S. 17 ff., 20 f., und in: ders. Justitia schwooft (o. Fn. *), S. 265 ff., 267; zu weiteren Bezugnahmen auf Franz von Liszt in justizkritischen Artikeln Tucholskys vgl. noch den Kommentar zu Tucholskys Brief vom 2.8.1913 an die Universität Jena in Bd. 16 der Tucholsky-Gesamtausgabe („Texte und Briefe“), Briefe 1911–1918, 2008, Kommentar zu Brief 17 Zeile 10, S. 549. Zum Einfluss Liszts auf Tucholsky zuletzt wieder ausführlich Miederhoff (o. Fn. 14) S. 60 ff.
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dem männlichen Klang der ersten durchredeten halben Stunde angeblich mädchenhaft wird – Zweifel an der eigenen Fähigkeit zur Pose, die er sich aber von größerer Welterfahrung erhofft – endlich Angst vor einer Verwandlung ins Weltschmerzlerische, wie er es an älteren Berliner Juden seiner Richtung bemerkt hat, allerdings spürt er vorläufig gar nichts davon.“20
Nur am Rande vermerkt sei hier, dass Tucholsky einer der ersten war, die Kafkas Bedeutung lange vor dessen allgemeiner Rezeption erkannt haben: Schon 1913 rühmt er in einer Besprechung von Kafkas „Ausflug ins Gebirge“ dessen „großes Können“.21 1926 schreibt er in einer Rezension zu Kafkas – damals posthum erschienenen – „Proceß“: „Nun aber ist Kafka ein Dichter seltenen Formats … Franz Kafka wird in den Jahren, die seinem Tode folgen, wachsen … Kafka hat Bücher geschrieben, einige wenige, unerreichbare, niemals auszulesende Bücher“22. Und noch einmal drei Jahre später, 1929, resümiert er – diesmal in einer Auseinandersetzung mit Kafkas Roman „Amerika“: „Ich bin mit Max Brod der festen Meinung, dass die Zeit dieses wahren Klassikers der deutschen Prosa noch einmal kommen wird.“ 23 Ein Jahr nach der Begegnung mit Kafka, 1912, am Schluss seines Studiums, verzichtet Tucholsky (nach seiner eigenen Darstellung im späteren Promotionsverfahren während der Abfassung der – dann nicht abgegebenen – schriftlichen Prüfungsarbeit 24) auf das – zuvor durch Pauken und Repetitorbesuch intensiv vorbereitete – Staatsexamen und auf die Referendarausbildung (und damit zugleich auf die Tätigkeit in einem der traditionellen juristischen Berufe, insbesondere in dem des Anwalts). Stattdessen präpariert er zusammen mit seinem früheren Privatlehrer Dr. Krassmöller zurückgebliebene Schüler aufs Abitur. An seinen Korrespondenzpartner und späteren Freund Hans Erich Blaich (unter dem Pseudonym „Dr. Owlglass“ prominenter Autor des Simplizissimus) schreibt er Anfang September 1913: „Es hat sich gezeigt, daß es mit der Juristerei nichts ist – und wannen er den Dr. juris utriusque gebaut hat, so will er Geld mit einer Presse verdienen. Maßen die Trottel und Adligen nie alle werden.“ 25
20 Kafka Eintrag vom 29.9.1911, in: Tagebücher, hrsg. von Koch, M. Müller und Pasley, Bd. 1, 1990, S. 46. 21 Tucholsky Drei neue Bücher: Max Brod, Franz Kafka, Ernst Blaß, Prager Tageblatt vom 27.1.1913, Abdruck in: Tucholsky-Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 1 (o. Fn. 1) Nr. 75, S. 131 ff., 132. 22 Panter Der Prozeß, Die Weltbühne vom 9.3.1926, Abdruck in: Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 8, Texte 1926, 2004, Nr. 49, S. 148 ff. 23 Panter Auf dem Nachttisch, Vossische Zeitung vom 26.2.1929, Abdruck in: Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 11 (o. Fn. 16), Nr. 37, S. 77 ff., 79. 24 Brief Tucholskys an die Universität Jena vom 2.8.1913, abgedruckt in: Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 16 (o. Fn. 19) Brief Nr. B 16, S. 22 f., 23; vgl. jetzt auch Miederhoff (o. Fn. 14) S. 115 f. 25 Brief vom 9.10.1913, Abdruck in: Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 16 (o. Fn. 19), Brief Nr. B 27, S. 32 ff., 33.
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All das hat Tucholsky freilich nicht gehindert, in einem Brief an Mary Gerold, seine spätere zweite Frau, zu resümieren: „Das bißchen, was ich weiß, habe ich in meinen Studienjahren zusammengesammelt. Mich reut es nicht.“26 Ein Grund für den Abschied von der Jurisprudenz mag in dem Erfolg seines damals erschienenen ersten Buchs „Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte“ gelegen haben, der ihm die Tür für eine schriftstellerische Laufbahn zu öffnen schien. Bestärkt haben ihn aber wohl auch Beobachtungen in einer mündlichen Referendarprüfung der er während seines Studiums als Zuhörer beigewohnt hatte und die er – noch unter dem frischen Eindruck des Erlebnisses – in einer Skizze geschildert hat, die 1912 in der kurz zuvor im Verlag von Paul Cassirer erneuerten, von Alfred Kerr herausgegebenen Zeitschrift „Pan“ veröffentlicht worden ist: „Schmale Türen öffnen sich, und die Studenten brechen rempelnd herein, auf die krachenden Bänke. Vorne sagt eine leise Stimme etwas, Bücher klappen, Räuspern, die vier schwarzen Examensvögel sitzen wie auf einer langen Stange, mit eingezogenem Hals, gebückt. Worauf der Professor anhob, über den ersten Prüfling mit einem Gestöber von Fragen herzufallen … Antworten kamen, zögernd, eingelernt, aber sie kamen und wurden vorne nur von dem Fragenden vernommen, die anderen stierten längst, trüb und starr, in die Hefte oder auf die gegenüberliegende Wand. Einer hielt die Augen geschlossen. Es war nicht ihr Fach … Sie fragen: unregelmäßig, gedehnt oder sich überpurzelnd, sie reden unaufhörlich, Begriffe wünschen sie definiert zu sehen, Theorien erörtert, Gesetze geschichtlich entwickelt. … Einer, der es mit Strafrecht hat, entwickelt blutrünstige Geschichten. Und dann werden sie hinausgeschickt und wieder hereingerufen werden, und nur einer wird es nicht bestanden haben, und die anderen werden … nach hause eilen in die Arme der beglückten Mütter, Bräute, Schwestern, an die geldspendende Hand des Vaters. Sie haben es hinter sich: sie denken nie wieder daran.“27
Es fällt schwer, bei dieser Schilderung nicht an das – fast gleichzeitig, ebenfalls unter dem Eindruck der Teilnahme an Berliner Referendarprüfungen als Zuhörer entstandene – Gedicht „Die Professoren“ eines anderen Dichterjuristen, des bedeutenden Expressionisten Georg Heym, zu denken: „Zu vieren sitzen sie an grünem Tische, Verschanzt in seines Daches hohe Kanten. Kahlköpfig hocken sie auf den Folianten Wie auf dem Aas die alten Tintenfische.
26 Brief vom 4.9.1918, in: Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 16 (o. Fn. 19), Brief Nr. B 398, S. 397 ff., 398. 27 Tucholsky Referendarexamen, in: Pan 2 (1911/12), Nr. 40 vom 22.8.1912, S. 1113 ff.; Abdruck in Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 1 (o. Fn. 1), Nr. 57, S. 76 ff., 77 f. – Der oben wiedergegebene Auszug auch bei Wambach Grenzgänger (o. Fn. 15), S. 56.
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Manchmal erscheinen Hände, die bedreckten Mit Tintenschwärze. Ihre Lippen fliegen Oft lautlos auf. Und ihre Zungen wiegen Wie rote Rüssel über den Pandekten. Sie scheinen manchmal ferne zu verschwimmen, Wie Schatten in der weißgetünchten Wand. Dann klingen wie von weitem ihre Stimmen. Doch plötzlich wächst ihr Maul. Ein weißer Sturm Von Geifer. Stille dann. Und auf dem Rand Wiegt sich der Paragraph, ein grüner Wurm.“ 28
Immerhin erwähnt sei noch, dass Tucholsky seine Rechtskenntnisse auch bei Abschluss des Verlagsvertrags über „Rheinsberg“ ungenutzt gelassen hat, indem er sich die Verlagsrechte für alle Auflagen für ein Einmalhonorar von 125 Goldmark hat abkaufen lassen.29 Nachhaltige positive Wirkung auf seine schriftstellerische Tätigkeit hatte dagegen sein bereits erwähnter Repetitorbesuch: Hören wir dazu noch einmal Tucholsky selbst: „Wir sind fünf Finger an einer Hand. Der auf dem Titelblatt und: Ignaz Wrobel. Peter Panter. Theobald Tiger. Kaspar Hauser. Aus dem Dunkel sind die Pseudonyme aufgetaucht, als Spiel gedacht, als Spiel erfunden. … Ich sah sie alle fünf: Wrobel, einen essigsauren Kerl, in der Nähe eines Buckels und roter Haare; Panter, einen beweglichen, kugelrunden kleinen Mann, Tiger sang nur Verse, waren keine da, schlief er … Woher die Namen stammen –? Die alliterierenden Geschwister sind Kinder eines juristischen Repetitors aus Berlin. Der amtierte stets vor gesteckt vollen Tischen, und wenn der pinselblonde Mann mit den kurzsichtigen blinzelnden Augen und dem schweren Birnenbauch dozierte, dann erfand er für die Kasperlebühne seiner ‚Fälle‘ Namen der Paradigmata. Die Personen, an denen er das Bürgerliche Gesetzbuch und die Pfändungsbeschlüsse und die Strafprozessordnung demonstrierte, hießen nicht A und B, nicht: Erbe und Erblasser. Sie hießen Benno Büffel und Theobald Tiger, Peter Panter und Isidor Iltis und Leopold Löwe und so durchs ganze Alphabet. Seine Alliterationstiere mordeten und stahlen, sie leisteten Bürgschaft und wurden gepfändet, begingen öffentliche Ruhestörung in Idealkonkurrenz mit Abtreibung und benahmen sich überhaupt sehr unge-
28 Heym Dichtungen und Schriften Bd. 1, Lyrik, 1964, S. 157 – Zu Georg Heym und seinem (gestörten) Verhältnis zur Jurisprudenz vgl. Weber Georg Heym – Dichter des Expressionismus und Jurist wider Willen, in: HUMANIORA. Medizin – Recht – Geschichte, Festschrift für Adolf Laufs zum 70. Geburtstag, 2006, S. 531 ff.; Wambach Die Dichterjuristen des Expressionismus, 2002, S. 301 ff. 29 Vgl. auch dazu schon Wambach Grenzgänger (o. Fn. 15). S. 58.
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bührlich. Zwei dieser Vorbestraften nahm ich mit nach Hause – und, statt Amtsrichter zu werden, zog ich sie auf.“ 30
Auch hier gibt es eine Parallele zu einem Dichterjuristen des Expressionismus, diesmal zu dem pointiert-witzigen Lyriker und ironischen Prosaisten Alfred Lichtenstein, der denselben Repetitor besucht hatte wie Tucholsky und sich von ihm ebenfalls zu alliterierenden Namen – diesmal freilich nicht als Pseudonyme für sich selbst, sondern als Verfremdungen seiner Konkurrenten und Widersacher in den literarischen Fehden der Cafehauskultur im Berlin der Jahre vor dem ersten Weltkrieg – hat anregen lassen („Berthold Bryller“ für Karl Hiller, „Ludwig Lenzlicht“ für Franz Blei, „Lutz Laus“ für Karl Kraus, „Max Mechenmal“ für Jakob van Hoddis, „Maria Mondmilch“ für Else Lasker-Schüler, „Spinoza Spaß“ für Ernst Blaß).31 Da Kurt Tucholsky – wie auch aus dem zitierten Brief an Hans Erich Blaich 32 erkennbar wird – denn doch nicht ganz auf einen auch formalen Abschluss seines juristischen Studiums verzichten mochte, reichte er im August 1913 beim Dekan der Juristischen Fakultät der Universität Jena ein Promotionsgesuch ein33. Beigefügt war die – nicht erhalten gebliebene – erste Fassung einer Promotionsarbeit zur Löschungsvormerkung im Hypothekenrecht mit dem Titel „Die Vormerkung aus § 1179 BGB und ihre Wirkungen“. Nach Klärung der formalen Voraussetzungen für die Promotion – die Fakultät argwöhnte, dass der ortsfremde Bewerber, der nicht in Jena studiert hatte, möglicherweise im Referendarexamen in Berlin gescheitert war – wurde als Gutachter Professor Heinrich Lehmann bestellt (zumindest den Älteren unter uns durch seine auch nach 1945 noch aufgelegten Werke, den Allgemeinen Teil des BGB und die Neubearbeitung des Schuldrechts im Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts von Enneccerus, in deutlicher Erinnerung). Das Gutachten fiel zu Ungunsten von Tucholsky aus: Lehmann schreibt: „Der Verfasser stellt die Lehre von der Vormerkung kurz in nicht immer einfacher und einwandfreier Sprache dar. Die Referate über die Literaturmeinungen entbehren zum
30 Tucholsky Start, Vorrede zu ders., Mit 5 PS, 1928, S. 9–15; Abdruck in: Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 9, Texte 1927, Nr. 173, S. 654 ff., 654. 31 Vgl. dazu Kanzog Nachwort, in: Lichtenstein, Gesammelte Prosa, 1966, S. 111 ff. (insb. S. 129 mit Hinweis auch auf die Parallele zu Tucholsky); Wambach Dichterjuristen (o. Fn. 28) S. 71 f., 331 ff. (auch dieser mit Hinweis auf die Parallele zu Tucholsky, S. 332). 32 Vgl. oben bei und in Fn. 25. 33 Zum Promotionsverfahren und zur Dissertation Tucholskys Wambach Grenzgänger (o. Fn. 15) S. 58 ff.; vgl. ferner den Abdruck der Briefe Tucholskys an die Universität Jena in: Tucholsky Gesamtausgabe Bd. 16 (o. Fn. 19) Briefe Nr. B 16, B 51, B 53, S. 22 ff., 52 f., 54 f., und neuestens wieder ausführlich Miederhoff (o. Fn. 14) S. 121 ff. mit Faksimilewiedergabe einer Auswahl von Dokumenten aus den Promotionsakten im Archiv der Universität Jena, S. 256 ff.
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Teil der Klarheit. Die Disposition ist nicht überall glücklich … Vor allem aber fehlt der Arbeit die förderliche und eigene Note. … Die Arbeit ließe sich zwar bei entsprechender Anleitung leicht umarbeiten. Ich sehe aber gegenüber einem Auswärtigen keinen Anlaß, mich mit dieser Arbeit zu belasten, und schlage die Abweisung vor, weil die Dissertation nicht hinreichend wissenschaftlich beachtenswert ist.“ 34
Es half also nichts – Tucholsky musste nachbessern, was ihm wenig Freude bereitete. Jahre später erinnert er sich: „1914. Gearbeitet am Doktor. Gar keine Erinnerung mehr. Eklige, leere Zeit“35. Nichtsdestoweniger gelingt es ihm, im Juni 1914 eine Neufassung der Dissertation nach Jena zu senden. Tucholskys Biographin Helga Bemmann vermutet, freilich ohne Belege, dass „Onkel Max mit seinen guten Beziehungen zu den Berliner Universitätsdozenten … dabei dem Neffen durch Vermittlung nötiger Konsultationen hilfreich unter die Arme gegriffen haben“ dürfte36. Wie dem auch sei – jedenfalls hat Kurt Tucholsky diesmal Erfolg. Professor Heinrich Lehmann, wiederum zum Gutachter bestellt, urteilt nun: „Der Verfasser hält jetzt bei seiner Darstellung ein gewisses Niveau und beurteilt die Gestaltung der Löschungsvormerkung von einem freieren, über den bloßen Konstruktionen stehenden Standpunkt aus. Das verleiht seiner Abhandlung Wert, wenn sie auch positive neue Ergebnisse nicht bringt. … Daher kann ich die Arbeit zur Annahme empfehlen, – ohne Druckerlaubnis da einige Kleinigkeiten zu bessern sind. – Als Prädikat schlage ich ‚cum laude‘ vor.“37
Nachdem die Fakultät auf das bei einem auswärtigen Bewerber an sich vorgeschriebene Studiensemester in Jena verzichtet hatte und Tucholsky den anfänglichen Versuch, den Prüfungstermin unter Berufung auf ein angebliches „Herzleiden“ hinauszuzögern, aufgegeben hatte, konnte der Termin für das Rigorosum auf den 19.11.1914 nachmittags 5 Uhr festgesetzt werden. Nach mündlicher Prüfung im Strafrecht, Strafprozessrecht, Privat- und Kirchenrecht wurde er dem Vorschlag Lehmanns entsprechend mit der Note „cum laude“ zum Dr. juris promoviert. Einen Umsturz im Hypothekenrecht hat die – 1915 gedruckte und jetzt auch in der neuen Tucholsky-Gesamt34 Der Auszug aus dem – in den Promotionsakten Tucholskys überlieferten – Gutachten Lehmanns ist abgedruckt in Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 16 (o. Fn. 19), Kommentar zu Brief 51 Zeile 13 f., S. 591 ff., 592, Hervorhebungen im Original; vollständiger Abdruck bei Wambach Grenzgänger (o. Fn. 15) S. 59. 35 Notiz vom 1.9.1919 für Mary Gerold in: Blätter für Meli (Beilage zum Brief vom 3.9.1919), Abdruck in: Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 17. Briefe 1919– 1924, 2006, Brief Nr. B 44, S. 80, 81. 36 Bemmann (o. Fn. 4) S. 111. 37 Auch das zweite Gutachten Lehmanns ist in den Promotionsakten Tucholskys überliefert. Abdruck des oben wiedergegebenen Auszugs wiederum im Kommentar zu Brief 51 – diesmal Zeile 14 – in Bd. 16 der Tucholsky Gesamtausgabe (o. Fn. 19), S. 592; vollständiger Abdruck auch hier bei Wambach Grenzgänger (o. Fn. 15), S. 59 f. – Faksimile der ersten Seite des – handschriftlichen – Gutachtens bei Miederhoff (o. Fn. 14) S. 258.
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ausgabe in vollem Wortlaut enthaltene 38 – Arbeit sicher nicht bewirkt, wohl aber – wie Lovis Maxim Wambach im Einzelnen dargelegt hat 39 – einen nach damaligen Maßstäben durchaus akzeptablen Diskussionsbeitrag zu den Problemen des § 1179 BGB geliefert. Die in einem engeren Sinn juristische Karriere Tucholskys war mit diesem ihrem Beginn freilich zugleich beendet. Zur Betätigung Tucholskys in einem juristischen Beruf ist es niemals gekommen. Auch das kurze Zwischenspiel im Bankhaus Bett, Simon & Co. in Berlin in der Zeit der Hochinflation bildet keine Ausnahme: Nach einigen Wochen „Lehrzeit“ in der Bank, in der er in mehreren Abteilungen hospitierte, übernahm Tucholsky die für ihn von vorneherein vorgesehene Aufgabe als persönlicher Sekretär des Mitinhabers Hugo Simon; dabei mag ihm seine Eigenschaft als „gelernter Jurist“ 40 zwar manches erleichtert haben, um eine eigentlich juristische Tätigkeit handelte es sich aber mit Sicherheit nicht. In ganz anderer Richtung freilich hat Tucholsky seine juristischen Kenntnisse auch später intensiv genutzt: als Publizist und Kritiker der Justiz vor allem in der Zeit der Weimarer Republik. „Aus dem Studium und aus der Auflehnung gegen das teilweise als rückständig empfundene Rechtssystem bezog Tucholsky die Waffen für seinen späteren Kampf um Recht und Gerechtigkeit.“41 Darauf wird jetzt einzugehen sein.
IV. Tucholsky als Justizkritiker Auch hier möchte ich mit einem Zitat beginnen, einem Zitat, das schon Bernhard Weck an die Spitze seines Artikels „Wider den ‚Dreimännerskat der Justitia‘. Bemerkungen zur Biographie und Justizkritik Kurt Tucholskys“ aus dem Jahre 1993 gesetzt hat 42. Tucholsky schreibt im Jahre 1920: „Da oben steht Justitia. Starr hält sie die Waage in der Hand; ihr Schwert glitzert in der Sonne, und eine ehemals weiß gewesene Binde ist ihr stramm um den Kopf gebunden. Tritt näher heran. Tipp die Figur mit dem Finger an, schlage mit dem Knöchel dagegen: Sie ist hohl. Befühle das Schwert: Es ist bronzierte Pappe. Die Waage fällt klirrend zu Boden, die ehemals weiß gewesene Binde löst sich, es glänzt ein Monokel auf, gerötete Schmisse durchziehen eine feiste Backe und vor Deinen erstaunten Augen taucht ein Dir so bekanntes Antlitz auf, eines, das Du hundertmal im Kasino und in den Landratsstuben gesehen hast, das preußische Gesicht.“ 43 38 Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“), Bd. 2, Texte 1914–1916, 2003, Nr. 94, S. 208 ff. 39 Wambach Grenzgänger (o. Fn. 15), S. 60 ff.; vgl. auch den ausführlichen Kommentar zur Dissertation Tucholskys von Weck in Bd. 2 der Tucholsky Gesamtausgabe (o. Fn. 38) S. 749 ff. 40 Bemmann (o. Fn. 4) S. 256. 41 Hepp (o. Fn. 3) S. 20. 42 Weck Dreimännerskat (o. Fn. 2) S. 157. 43 I. Wrobel Richter, Die Freiheit Jahrgang 3 Nr. 203 vom 1.6.1920, Abdruck in: Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 4, Texte 1920, Nr. 107, S. 214 ff., 217.
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Schon dies Zitat schlägt einen Ton an, der die gesamte spätere Justizkritik Tucholskys durchziehen sollte. Eine zusammenfassende Darstellung und Systematisierung dieser Justizkritik ist nicht ganz einfach, weil es bis heute nicht nur an einer wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Gesamtedition der einschlägigen Schriften Tucholskys, sondern auch – sieht man einmal von dem genannten Artikel Bernhard Wecks ab – an systematischen Auseinandersetzungen mit Tucholskys Justizkritik in der juristischen Literatur weithin fehlt 44. Im Rahmen eines kurzen Beitrags muss ich mich auf eine knappe Skizze beschränken: Dass Tucholsky sich schon in der Zeit seines Studiums und seiner Promotion mit ersten justizkritischen Publikationen zu Wort gemeldet hat, ist bereits erwähnt worden. Erwähnt sei noch Tucholskys erste justizkritische Arbeit – ein Plädoyer gegen die Todesstrafe aus dem Jahre 1912 im „Vorwärts“ 45 – ein Plädoyer, das er Jahre später zwar mehrfach wiederholt 46, aber dann doch auch deutlich relativiert hat („Die Vollstreckung der Todesstrafe in revolutionären Epochen halte ich für eine Notwendigkeit“ 47). Nachgetragen sei auch noch ein freches Gedicht des 23jährigen: „Unsere Justiz steht jetzt auf dem ersten Platz in der Welt: es ist erreicht! Die kompliziertesten und die schwersten Rechtsfälle lösen wir spielend leicht … Wir haben in Heften, Broschüren und Bänden Entscheidungen unseres Reichsgerichts – Ich will nicht behaupten, daß wir sie verständen, doch klingen sie hübsch, und da macht das nichts. Wir haben weißbärtige Professoren, von denen der eine den andern auszischt. Wir haben unzählige Kommentatoren – Na also! Wie? Was? Ist das immer noch nischt?
44 Detailliert dazu – nach dem Stande von 1990 – Weck Dreimännerskat (o. Fn. 2) S. 168 ff.; vgl. seither vor allem noch Hepp (Hrsg.), Kurt Tucholsky und die Justiz. Dokumentation der Tagung der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft vom 23.–26.10.1997 in Berlin, 1998, eine ausführliche Analyse speziell der Auseinandersetzung Tucholskys mit der Laienbeteiligung am Strafprozess neuestens bei Miederhoff (o. Fn. 14) S. 149–241. 45 Tucholsky Hinrichtung, Vorwärts vom 7.2.1912, abgedruckt in: Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 1 (o. Fn. 1), Nr. 22, S. 33 f., und in Tucholsky Justitia schwooft (o. Fn. *), S. 11. 46 Vgl. dazu die Darstellung bei Weck Dreimännerskat (o. Fn. 2) S. 192 m. Nachw. in Fn. 292. 47 I. Wrobel Der Mörder und der Staat. Antwort auf eine Umfrage, in: Mungenast (Hrsg.), Der Mörder und der Staat, Stuttgart 1928; Abdruck in: Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 10, Texte 1928, 2001, Nr. 95, S. 286 f., 287, und in: Tucholsky Justitia schwooft (o. Fn. *) S. 203.
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Wir haben mannigfaltige Strafen, voll schneidiger Schärfe, nach altem Brauch, Gesetze, Vorschriften, Paragraphen – Richter?! Ja, Richter haben wir auch.“ 48
Nach dem Krieg verschärft sich der Ton. 1919 beginnt Tucholsky, „die für seine Justizpublizistik typischen, politisch dezidiert Stellung beziehenden Berichte über Strafverfahren und sonstige Themenbereiche der Rechtsprechung zu schreiben“49. Im Mittelpunkt stehen dabei scharfe Abrechnungen mit der Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte und der – in den frühen Jahren der Republik noch existierenden – Militär- und Sondertribunale in politisch eingefärbten Strafsachen. Zu nennen sind hier Tucholskys Berichte über die Prozesse zu den Morden an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg und zum so genannten „Matrosenmord in der Französischen Straße“. Hier und auch später sieht er in den Gerichtsurteilen eine einseitig gegen Links gerichtete politische Justiz: „Feststeht: Die Mörder der deutschen Radikalen sind bis jetzt straflos ausgegangen. … Ist denn moralische Sauberkeit wirklich nicht mehr das absolute erste Erfordernis des öffentlichen Lebens? wohin geraten wir? wo treiben wir hin? wohin soll es führen, wenn nun auch die Rechtsprechung anfängt zu wanken: Wenn politische Gesichtspunkte ganz offen Sondergerichte beeinflussen? Wie lange noch, und die ordentlichen Gerichte folgen.“ 50
Einer der Höhepunkte unter den Prozessberichten Tucholskys sind zwei Artikel zum Verfahren gegen die Täter des Attentats gegen den Publizisten Maximilian Harden 51. Harden, einer der bekanntesten Journalisten des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, wegen seiner Gegnerschaft zum persönlichen Regime Wilhelms des Zweiten, aber auch seiner pazifistischen Haltung halber in national-reaktionären Kreisen verhasst (zugleich auch selbst ein kritischer Beobachter vieler Gerichtsverfahren, dessen 1913 erschienenen, noch heute lesenswerten Sammelband „Prozesse“ Tucholsky 48 Kurt Vorwärts vom 19.4.1911, Abdruck in: Bd. 1 der Tucholsky Gesamtausgabe (o. Fn. 1) Nr. 4, S. 10. 49 Weck Dreimännerskat (o. Fn. 2) S. 173. 50 I. Wrobel Prozeß Marloh, Die Weltbühne vom 18.12.1919; Abdruck in: Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“), Bd. 3, Texte 1919, Nr. 232, S. 461 ff., 465, und in: Tucholsky Justitia schwooft (o. Fn. *) S. 33 ff. (36, 37). 51 Tucholsky Prozeß Harden, Die Weltbühne vom 21.12.1922; Abdruck in: Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 5, Texte 1921–1922, Nr. 261, S. 588 ff., und in: Tucholsky Justitia schwooft (o. Fn. *), S. 89 ff.; ders. Die Zwölf auf der Bank, Die Welt am Montag vom 18.12.1922, Abdruck in Tucholsky Gesamtausgabe Bd. 5, Nr. 260, S. 585 ff. – Zum Prozeß Harden und dessen prozesskritischer Begleitung durch Kurt Tucholsky vgl. Weck Kurt Tucholsky und der Prozeß wegen des Attentats auf den Publizisten Maximilian Harden, NJW 1993, S. 1436 ff., wieder abgedruckt in: Weber (Hrsg.), Prozesse und Rechtsstreitigkeiten um Recht, Literatur und Kunst, Recht und Literatur in der Neuen Juristischen Wochenschrift, Bd. 3, 2002, S. 23 ff.
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schon zu Jahresbeginn 1914 besprochen hatte 52), war am 3.7.1922 vor seinem Haus im Berliner Stadtteil Grunewald von drei Tätern überfallen und schwer verletzt worden. Der behandelnde Arzt schloss aus der Art und Intensität der Verletzungen, dass die Täter beabsichtigt hatten, den Angegriffenen zu töten. Zwei der an der Tat Beteiligten wurden noch am Tatort gefasst; ihnen wurde Ende 1922 vor dem Schwurgericht des Landgerichts III in Berlin der Prozess gemacht. Als Tatmotiv hatten die rechtsradikalen Verschwörer in der Voruntersuchung angegeben, „Harden habe wegen der von ihm betriebenen Herabsetzung Deutschlands und der Verherrlichung des Bolschewismus beseitigt werden müssen“53; in der Hauptverhandlung rückten sie von diesem Geständnis ab. Nach einem Prozess, in dem der Vorsitzende durchweg sehr einseitig zugunsten der Angeklagten agiert, viele ihrer Ausflüchte kommentarlos hingenommen und sich auch nicht bemüht hatte, die „geheime Hintergrundregie“54 des Attentats aufzuklären, verneinten die Geschworenen einen wesentlichen Teil der Schuldfragen, insbesondere das Vorliegen eines versuchten Mords oder Totschlags; im Ergebnis wurden die beiden Täter nur wegen gefährlicher Körperverletzung bzw. Anstiftung zu einer solchen Tat zu Gefängnisstrafen von vier Jahren neun Monaten bzw. zwei Jahren neun Monaten verurteilt. Die Hintergründe der Tat im Dunkel „vaterländischer Kreise in München und damit auch die Frage nach den Drahtziehern des Attentats“ blieben unaufgeklärt. All dies kritisierte Tucholsky in seinen bereits erwähnten Artikeln. Bernhard Weck resümiert: „In ihnen [gemeint: den erwähnten Artikeln] erweist sich Tucholsky als scharfsichtiger Beobachter, der die Regeln des Strafprozesses souverän beherrscht und deswegen die Schwachstellen der Verhandlungsleitung schonungslos aufzudecken vermag. … Die Schilderungen Tucholskys zeichnen ein strafprozessuales Desaster, und diesen Eindruck erhärtet die Lektüre der erhaltenen Aktenteile. Im Kreuzfeuer der Kritik stand die Prozeßführung des Vorsitzenden Richters, der offensichtlich [so Tucholsky] ‚den Anforderungen dieser klaren und einfachen Verhandlung‘ nicht gewachsen war: ‚Er [so noch einmal Tucholsky] versagte nicht nur, er verdarb alles.‘ Der Vorwurf mangelhafter Sachverhaltsaufklärung wog besonders schwer, und er traf den Kern der Problematik des Prozesses … Dem Verhalten der Geschworenen und grundsätzlichen Fragen des Laienrichtertums widmete Tucholsky seine Aufmerksamkeit ebenfalls. Er kritisierte die Auswahlmethoden und bekannte seine Abneigung gegen die Geschworenengerichte der Weimarer Justiz …“
52 Tucholsky Hardens Prozesse, in: März Jahrgang 8 Heft 1 vom 3.1.1914, Abdruck in: Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 2 (o. Fn. 38) Nr. 4, S. 11 ff. 53 Weck NJW 1993, S. 1438; im Abdruck bei Weber (o. Fn. 51) S. 29. 54 Weck NJW 1993, S. 1438; im Abdruck bei Weber (o. Fn. 51) S. 30.
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Abschließend zitiert Weck die verbitterte Schlussfolgerung Tucholskys: „Das ist keine schlechte Justiz. Das ist keine mangelhafte Justiz. Das ist überhaupt keine Justiz. … Der Urteilsspruch ist klar. Er bedeutet: „Weitermachen“. … Reißt dieser Justiz die falsche Binde herunter! Wir haben keine Justiz mehr. Il y avait des juges à Berlin.“ 55
Prozessberichte – oder vielleicht besser Prozesskritiken – liefert Tucholsky auch zu Hoch- und Landesverratsprozessen – zuletzt zu dem sehr zweifelhaften Verfahren aus dem Jahre 1931, in dem Carl von Ossietzky wegen Enthüllungen der geheimen Zusammenarbeit zwischen Reichwehr und sowjetischer Roter Armee in der „Weltbühne“ zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt wurde – und zu Prozessen um Kunst und Künstler, darunter dem Verfahren um das Verbot der Aufführung von Schnitzlers „Reigen“ in Berlin und dem Gotteslästerungsprozess gegen den Zeichner George Grosz wegen seines – nicht zuletzt durch den Prozess berühmt gewordenen – Bildes „Christus mit der Gasmaske“56. Darüber hinaus äußert sich Tucholsky immer wieder kritisch zu allgemeinen Fragen vor allem von Strafjustiz, Strafprozess und Strafvollzug. Einen Schwerpunkt bildet dabei die kritische Auseinandersetzung Tucholskys mit der Laienbeteiligung in der Strafrechtspflege der Weimarer Republik.57 Seine Kritik an den Berufsrichtern – in erster Linie immer eine Kritik der Strafrichter, Äußerungen zur Ziviljustiz finden sich nur gelegentlich und beiläufig – fasst er in einer Artikelreihe aus dem Jahr 1927 noch einmal zusammen: Einige wenige Zitate aus dieser Artikelreihe mögen noch einmal den Duktus der Justizkritik Tucholskys (aber auch die nicht ganz unproblematische Seite dieser Justizkritik ) illustrieren: „Tatsächlich ist bei den Richtern die Auslese, die der Stand vornimmt, gefährlicher und schlimmer als bei der ihnen gesinnungsverwandten Reichswehr. Es liegt bei beiden der Fall einer klaren Kooption vor: die Gruppe wählt sich hinzu, wer sich dem Gruppengeist anpasst – immer adäquate, niemals heterogene Elemente. Das fängt bei der Justizprüfungskommission an, und mit dem feinen Siebe der Personalreferenten gehts weiter. Das Resultat ist dieser Richterstand. Der deutsche Richter schaut durch die Brillengläser seiner Klasse des mittleren und gehobenen Bürgertums. Was sich darüber und darunter bewegt, findet kaum Platz im Richterstand und hat als Opfer und Objekt wenig Aussicht, vom Gericht verstanden zu werden – von Außenseitern sehe ich ab. … Ich fasse zusammen: Die Kaste, aus der sich der deutsche Richterstand rekrutiert, repräsentiert nicht das dasjenige Deutschtum, das etwa von Goethe über Beethoven bis Hauptmann jene Elemente enthält, um derentwillen wir das Land lieben, um derentwillen wir gern deutsch sprechen, um derentwillen wir der geistigen Einheit Deutschland
55
Weck NJW 1993, S. 1438 f.; im Abdruck bei Weber (o. Fn. 51) S. 31 f. Zu den Feuilletons Tucholskys zu Kunstprozessen s. Weck Dreimännerskat (o. Fn. 2) S. 189 f. mit weiteren Beispielen. 57 Vgl. dazu jetzt ausführlich Miederhoff (o. Fn. 14) S. 149–240. 56
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angehören. Der Richterstand, so wie er da ist, repräsentiert nur einen klassenmäßigen Ausschnitt aus dem Lande; er ist das Resultat einer Auswahl von Menschen, die nicht berechtigt sind, im Namen des Volkes Recht zu sprechen: sie sollten es in ihrem eignen tun. Satz für Satz, Begründung für Begründung, Idee für Idee sind ihre in den Urteilen niedergelegten Anschauungen bekämpfenswert, widerlegbar, zu verwerfen. Ihr subjektiv guter Glauben ist in vielen Fällen zuzugeben: die Wirkung ihrer Tätigkeit ist unheilvoll. Gibst es keine Gegenwehr? Es gibt nur eine große, wirksame, ernste: den antidemokratischen, hohnlachenden, für die Idee der Gerechtigkeit bewußt ungerechten Klassenkampf.“ 58
Die Radikalität des zum Abschluss der Passage formulierten Programms wird auch dadurch nicht gemildert, dass Tucholsky neben ihm immerhin „einige kleine Mittel, Vorschläge, Pillen und Mixturen für jene unheilbare Krankheit“ für möglich hält (und als solche den Schutz durch öffentliche Kontrolle, die durchgängige Öffentlichkeit auch im Vorverfahren und die Dienstbarmachung einer Minderheit „vom Klüngel abgesprengter und gesinnungstüchtiger Juristen“ für den allernötigsten Rechtsschutz der Arbeiter nennt). Sein Resümee bleibt nichtsdestoweniger eindeutig: „Es hat immer eine Minorität von anständigen Juristen gegeben, die gegen die Untaten ihrer Kollegen gegen die offenkundigen Mängel des Systems, gegen ein größenwahnsinnig gewordenes Strafrecht gekämpft haben. Aber mit welch braven Mitteln! Ich glaube nicht an eine Evolution im Strafrecht. Administrative Evolution ist ein Schlagwort für Ängstliche. Seine Erfolglosigkeit ist durch die Zahl eines Jahres bewiesen, in dem man nicht gewagt hat, diese Beamten und diese Richter auf die Straße zu setzen, ‚weil sie doch die Bestimmungen so schön kannten‘: 1918. Es gibt, um die Bürokratie zu säubern, nur eines. Jenes eine Wort, das ich nicht hierhersetzen möchte, weil es für die Herrschenden seinen Schauer verloren hat. Dieses Wort bedeutet: Umwälzung. Generalreinigung. Aufräumung. Lüftung.“59
V. Tucholsky als „Kunde“ der Justiz Wer austeilt muss auch einstecken. Angesichts der Schärfe seiner Polemiken nicht nur gegenüber Richtern und Gerichten, sondern auch gegenüber Dritten konnte es kaum ausbleiben, dass Tucholsky auch seinerseits immer wieder in den Fokus der Strafjustiz geriet: Nach einem Überblick, den
58 I. Wrobel Deutsche Richter, dreiteilige Artikelfolge, Die Weltbühne vom 12., 19. und 26.4.1927; Abdruck in: Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“), Bd. 9 (o. Fn. 30) Nr. 52, 55, 59, S. 331 ff., 321 ff., 335 ff., Zitate dort S. 313, 326, und in: Tucholsky Justitia schwooft (o. Fn. *), S. 160 ff. (Zitate dort S. 161 f., 168). Vgl. im Übrigen noch den zusammenfassenden, in Details abweichenden Abdruck der drei Beiträge in: Tucholsky Deutschland, Deutschland über alles, 1929, S. 156 ff., im Faksimile wiedergegeben in: ders. Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 12, Deutschland, Deutschland über alles, 2004. 59 I. Wrobel Deutsche Richter (o. Fn. 58); Zitat Gesamtausgabe S. 339, Justitia schwooft S. 171 f.
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Michael Hepp auf einer Tagung der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft vorgetragen hat, sind in der Zeit der Weimarer Republik 13 Strafverfahren (darunter zwei Privatklagen) gegen Tucholsky eingeleitet worden60. Eine systematische Analyse dieser Verfahren aus juristischer Sicht steht bis heute aus. Auch hier kann nicht mehr als eine kurze Skizze geboten werden: Erste Verfahren wegen eines Gedichts bzw. eines Titelblattes im „Ulk“ in den Jahren 1919 und 1921 werden eingestellt.61 Eine Beleidigungsklage des damals bekannten, von Tucholsky als Schieber angegriffenen Spekulanten Sklarz im Jahre 1920 wird wohl wegen des Sklarz unwillkommenen Aufsehens, das das Verfahren gemacht hat, zurückgezogen; die Presse mokiert sich über den „nicht beleidigten“ Sklarz, den „Schützer der Pressefreiheit“ 62. Im August 1920 veröffentlicht Tucholsky in der Berliner „Freiheit“ einen Artikel „Offiziere“, den er am Ende wie folgt resümiert: „Das deutsche Offizierskorps hat im Kriege seine Pflicht nicht erfüllt. Das deutsche Offizierskorps setzt sich aus kulturfeindlichen Schädlingen zusammen, die um ihres Postens willen bereit sind, jede Desperadopolitik mitzumachen. Der Geist des deutschen Offizierskorps taugt nichts. Ein ständig wachsender Teil der Nation lehnt diesen Ungeist und seine Träger ab. Wir brauchen sie nicht mehr. Beleidigungsklagen ändern an diesem Urteil nichts“.63
Reichswehrminister Geßler stellt Strafanzeige. Tucholsky verteidigt sich damit, er habe nicht die Offiziere der Reichswehr beleidigen wollen; er bekämpfe nicht Personen, sondern das System. Im Prozess vor der 10. Strafkammer des Landgerichts Berlin wird Tucholsky freigesprochen.64 Das Urteil kommentiert er in einem Artikel „Geßler“ in der „Welt am Montag“, in dem er dem Reichswehrminister zwar nicht den guten Willen, wohl aber die Fähigkeit für sein Amt abspricht.65 Wenig später kommt es wegen einer anderen Militärkritik („Die Erdolchten“) erneut zu einem Strafverfahren. In dieser Sache fühlt Tucholsky sich schuldig, weil er in dem Artikel die Namen zweier Offiziere verwechselt und so „einen unschuldigen Mann beschimpft“ hatte. Obwohl er den Fehler in der Zeitschrift berichtigt und sich bei dem Betroffenen entschuldigt hat, kommt es zum Strafverfahren, in dem Tucholsky verurteilt wird; die „Weltbühne“ muss eine Erklärung veröffentlichen, in der die Offiziere der Reichswehr ausdrücklich von den in dem Artikel er-
60 Hepp Angeklagter Dr. Kurt Tucholsky, in: ders. (Hrsg.), Tucholsky und die Justiz (o. Fn. 44) S. 31 ff., 33. 61 Bemmann (o. Fn. 4) S. 229. 62 Hepp Angeklagter (o. Fn. 60) S. 33. 63 I. Wrobel Offiziere, Die Freiheit, Jahrgang 3 Nr. 333 vom 16. August 1920, Abdruck in: Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 4 (o. Fn. 43) Nr. 175, S. 363, 367. 64 Hepp Angeklagter (o. Fn. 60) S. 34 f.; Bemmann (o. Fn. 4) S. 230. 65 I. Wrobel Geßler, Welt am Montag vom 7.11.1921, Abdruck in: Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 5 (o. Fn. 51), Nr. 76, S. 172 ff.
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hobenen Vorwürfen ausgenommen und diese selbst mit dem Ausdruck des Bedauerns zurückgezogen werden.66 In seinem Artikel „Erinnerung“ 67 hat Tucholsky nicht das Ergebnis des Verfahrens, wohl aber die Prozessführung des Vorsitzenden in aller Schärfe kritisiert. Weitere Ermittlungsverfahren gegen Tucholsky, so 1928 wegen Gotteslästerung durch das – aus Anlass eines englischen Bergarbeiterstreiks entstandene – Gedicht „Gesang der englischen Chorknaben“, 1929 wegen Äußerungen in einem Vortrag in Wiesbaden (nach dem Bericht einer NaziZeitung sollte Tucholsky in dem Vortrag die Kirche als „ein Klosett mit Wasserspülung“ bezeichnet haben) und 1932 wegen Verstoßes gegen das Sammlungsgesetz durch einen Spendenaufruf für die „Rote Hilfe“ werden eingestellt. Im ersten Verfahren hatte Tucholskys Verteidigung Erfolg, nach der er nicht die (anglikanische) Kirche habe beleidigen, sondern nur den „Mißbrauch mit dem Namen Gottes“ aufzeigen wollen, im zweiten erwiesen sich die gegen Tucholsky erhobenen Vorwürfe als falsch und nicht haltbar.68 Noch einmal freilich – 1928 – muss Tucholsky zurückstecken: In einem Artikel (auch diesmal wieder in der „Weltbühne“) hatte er den Verriss eines bayerischen Geographielehrbuchs veröffentlicht, das er als Aufhetzung zur Revanche empfand; in seiner Kritik hatte er den Bearbeiter und Herausgeber des Buchs, einen Münchener Oberstudienrat Dr. Wührer, als „Fälscher und Lügner“, seinen Text als „Gewäsch“ bezeichnet. Wührer erhob Privatklage. Im Prozess vor dem Amtsgericht München kam es zu einem Vergleich: Tucholsky musste 2000 Mark an die Jugendfürsorge der Stadt München zahlen und die Verfahrenskosten tragen.69 An dem berühmtesten Presseprozess über eine Publikation Tucholskys war dieser selbst überhaupt nicht beteiligt: Am 4.8.1931 war in der „Weltbühne“ unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel die politische Glosse „Der bewachte Kriegsschauplatz“ erschienen. Stein des Anstoßes war der bis heute umstrittene Satz „Soldaten sind Mörder“. Die Reichwehr stellte Strafantrag wegen Verletzung der Soldatenehre. Da sich der Autor des Artikels, Kurt Tucholsky, im Ausland aufhielt, beschränkte sich die Anklage auf den presserechtlich verantwortlichen Redakteur Carl von Ossietzky. Tucholsky, der von einer Teilnahme am Prozess abgesehen hatte, weil er sich in Deutschland bedroht fühlte, hatte deshalb vor allem Ossietzky gegenüber – der für den Prozess aus der Haft in Tegel vorgeführt wurde – schwere Skrupel: „Nach außen bleibt
66
Hepp Angeklagter (o. Fn. 60) S. 35 ff. I. Wrobel Erinnerung, Die Weltbühne vom 16.6.1925, Abdruck in: Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 7, Texte 1925, Nr. 93, S. 273 ff., und in: Tucholsky Justitia schwooft (o. Fn. *) S. 110 ff. 68 Vgl. zu allen diesen Verfahren Hepp Angeklagter (o. Fn. 60) S. 41 ff. 69 Auch zu diesem Verfahren Hepp Angeklagter (o. Fn. 60) S. 45 ff.; ferner Bemmann (o. Fn. 4) S. 456. 67
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ein Erdenrest zu tragen peinlich. Es hat so etwas von Desertion, Ausland, im Stich lassen, der Kamerad Oss im Gefängnis …“70. Im Ergebnis erweist sich Tucholskys Kommen freilich als unnötig. Ossietzky wird vom Schöffengericht in Charlottenburg aus Rechtsgründen freigesprochen: Das Gericht hatte sich nicht überzeugen können, dass der Satz „Soldaten sind Mörder“ auf einen „bestimmten erkennbaren Kreis von Personen und auf die Teilnehmer des Weltkriegs, die jetzt der Reichswehr angehören, angewandt worden sei“. Die Revision des Staatsanwalts zum Kammergericht als letzter Instanz blieb ohne Erfolg.71
VI. Resümee Zieht man die Bilanz all der eben geschilderten Verfahren, so erweist sich die Weimarer Strafjustiz jedenfalls Tucholsky gegenüber denn doch nicht als ganz so einäugig, wie seine Justizkritik es eigentlich hätte vermuten lassen. Damit ist bereits übergeleitet zu dem Versuch einer allgemeineren Bilanz: Dass Tucholskys Bedeutung für das Recht nicht in einer im engeren Sinne fachjuristischen Tätigkeit, sondern in der – freilich fachjuristisch geschulten und gerade deswegen den Punkt treffenden – Kritik an Missständen der Justiz seiner Zeit bestanden hat, ist deutlich geworden. Die einschlägigen Artikel, sprachlich und stilistisch fast immer glänzend formuliert, bilden einen wesentlichen (vielleicht sogar den wesentlichsten) Teil von Tucholskys Publizistik in den Weimarer Jahren – einer Publizistik, die ihn in ihrer Gesamtheit als den vielleicht bedeutendsten Feuilletonisten der Epoche erscheinen lässt. Im Negativen legt die Kritik fast immer den Finger exakt in die Wunden der Justiz der damaligen Zeit; manche Prophezeiungen Tucholskys für die Zukunft, etwa seine – hier nicht zitierten Verse über die Richtergeneration von 1940 72 – muten aus der Sicht einer späteren Zeit als geradezu prophetisch an. Dass Tucholsky über die Kritik im Negativen hinaus ein ebenso überzeugendes Gegenbild im Positiven zu bieten hat, lässt sich freilich mit Fug
70 Brief an Mary Gerold-Tucholsky vom 29.3.1932; Abdruck in Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“), Bd. 19, Briefe 1928–1932, 2005, Brief Nr. B 379, S. 358 ff., 359. 71 Vgl. zu dem Prozess und seiner Vorgeschichte Hepp/Otto „Soldaten sind Mörder“. Dokumentation einer Debatte 1931–1996, 1996, S. 13 ff. Das Urteil des KG ist in JW 1933, 972 (mit einer kritischen Anmerkung von Ministerialrat im Ruhestand Geheimrat Dr. Wagner) veröffentlicht. Ein Abdruck von Urteil und Anmerkung auch in der genannten Dokumentation auf S. 87 ff. 72 Tiger Deutsche Richtergeneration 1940, Weltbühne vom 5.5.1921, Abdruck in: Tucholsky Gesamtausgabe („Texte und Briefe“) Bd. 5 (o. Fn. 51) Nr. 29, S. 65 f., und in: Tucholsky Justitia schwooft (o. Fn. *), S. 54 f.
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bezweifeln73: Er wendet sich gegen die Unabsetzbarkeit der Richter, hält eine unpolitische Justiz schon im Ansatz für undenkbar (was die Vermutung impliziert, dass er letztlich nur eine politische Justiz durch eine andere ersetzen will) und predigt – jedenfalls in seinen späteren Jahren – statt des demokratischen Richters den Klassenkampf. Die hier erkennbare Radikalität Tucholskys – entgegen Hans Wrobel (einem Namensvetter also von Tucholskys gerade als Justizkritiker tätigem alter ego Ignaz Wrobel) eine Radikalität nicht nur in Formulierungen74, sondern auch in der Sache – hat ihm den Blick für das Mögliche, auf ein konstruktives Bemühen um eine Reform der Justiz seiner Zeit im republikanisch-demokratischen Sinne verstellt und ihn oft auch zu ungerechten Urteilen gegenüber all denen veranlasst, die auf einem solchen Weg – wie der zeitweilige Reichsjustizminister Gustav Radbruch – seine Verbündeten hätten sein können75. Symptomatisch sind insoweit die Äußerungen über die Zeitschrift des Republikanischen Richterbundes „Die Justiz“ in Tucholskys bereits zitierter Aufsatzreihe „Deutsche Richter“. Er schreibt: „ich glaube auch nicht, dass der etwas flau geführte Kampf der reinlichen und gut gemeinten Zeitschrift ‚Die Justiz‘, herausgegeben von Mittermaier, Radbruch, Sinzheimer und Kroner, nützen wird. Deren Programm ist nicht schlecht. Es handelt sich um die Überschätzung der technischen Jurisprudenz in unserer Zeit und um die Unterschätzung der Menschlichkeit in der deutschen Rechtspflege. Das ist recht zart gesagt und nicht allzu konkret. Und ganz abgesehen davon, daß der eine Herausgeber der Zeitschrift, Radbruch, in der Praxis versagt hat …, so geht’s nicht. Eine deutsche Justizreform ohne Aufhebung der heute überhaupt erst vorhandenen Unabsetzbarkeit der Richter ist undenkbar.“76
So sehen denn auch einer einseitigen Sicht aus rechtem Blickwinkel ganz unverdächtige Beobachter die Rolle, die Tucholskys in der Publizistik der Weimarer Zeit gespielt, nicht nur positiv: Golo Mann etwa meint, die „hellsichtige Bosheit, mit der Kurt Tucholsky die Weimarer Republik verspottete, alle ihre Lahmheiten und Falschheiten“ habe der Republik doppelt weh getan, „indem sie unbarmherzig ihre Schwächen aufdeckte; und indem sie trotzdem als gültiger Ausdruck republikanischen Geistes empfunden wurde“77. Noch schärfer formuliert es Heinrich August Winkler: 73 So letztlich nach auch Wesel Auch ein Kampf ums Recht: Kurt Tucholskys Justizkritik, in: ders. Aufklärungen über Recht, 1981, S. 101 ff., 107: „Was er immer gefordert hatte, war: Diese Richter müssen weg. Man muß von vorn anfangen. Auf den Universitäten mit einer anderen Ausbildung beginnen. Die Justiz umkrempeln. Aber wie man das machen sollte, hat er letztlich auch nicht gewusst.“ 74 In dieser Richtung aber H. Wrobel Tucholsky und die Justiz. Ein Überblick, in: Hepp (o. Fn. 44) S. 9 ff., 20. 75 In gleicher Richtung auch H. Wrobel (o. Fn. 73) S. 21 ff. 76 I. Wrobel Deutsche Richter (o. Fn. 58), Zitat in Tucholsky Gesamtausgabe, S. 312 f., und in Justitia schwooft, S. 161. 77 G. Mann Deutsche Geschichte des XX. Jahrhunderts, 1958, S. 239, 240.
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„In der Wirkung war der Kampf, den Tucholsky und seine Freunde gegen die Sozialdemokratie führten, ein Kampf gegen die parlamentarische Demokratie. In dieser Hinsicht standen die Intellektuellen des Kreise um die ‚Weltbühne‘ den Antiparlamentariern der ‚konservativen Revolution‘ sehr viel näher, als beiden Seiten bewusst war“.78
Und selbst innerhalb der Linken von Weimar war diese Seite von Tucholskys Justizkritik durchaus nicht unangefochten. So meinte etwa Walter Benjamin schon in der Weimarer Zeit, Tucholskys linker Radikalismus, der keine Aktion, sondern eigentlich nur mehr Resignation zulasse, stehe nicht „links von dieser oder jener Richtung, sondern ganz einfach links vom Möglichen überhaupt“ 79. Dass Tucholsky deshalb – wie manche, unter ihnen aus der juristischen Literatur etwa Friedrich Karl Fromme 80 es vertreten haben – ein Gutteil Mitschuld an Untergang der Weimarer Republik getroffen, dass er sie „förmlich kaputtgeschrieben“ habe81, dürfte freilich ebenso übertrieben sein wie Tucholskys umgekehrt einseitige Überzeugung, nach der die „Republik von Weimar wenn auch nicht alleine, so doch maßgeblich an ihrer Justiz zugrunde gegangen ist“82.
78 Winkler Der lange Weg nach Westen, Bd. 1. Deutsche Geschichte vom Ende des alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, 2000, S. 467. 79 Zitiert nach Hepp (o. Fn. 3) S. 122 f. (mit Zitatnachweis in Fn. 431). 80 Diskussionsbeiträge von Fromme ZRP 1986, 60 ff., 183 ff., zu dem Artikel von H. Wrobel Dank an Kurt Tucholsky, ZRP 1985, 313 ff. – Eine ähnlich kritische, freilich satirisch formulierte Sicht der politischen Positionen Tucholskys auch bei dem früheren Präsidenten des BVerwG Sendler Kann man Liberalität übertreiben, ZRP 1994, 343, 345: „Als hoffnungslos reaktionär dürfte gelten, wer dem Ansehen Tucholskys zu nahe tritt und gar zu denken wagt, daß manche seiner allzu kessen Sprüche dazu angetan gewesen sein und ein klein wenig dazu beigetragen haben könnten, der Republik von Weimar das Wasser abzugraben“. 81 So die zusammenfassende Charakterisierung des – von ihm kritisierten – Positionen bei Hepp (o. Fn. 3) S. 123. 82 So die Formulierung bei Weck in seiner sehr ausgewogenen Gesamtabwägung in: Dreimännerskat (o. Fn. 2), S. 196 ff., 197.
Die rechtsverbindliche Rückgabezusage Matthias Weller I. Einleitung Dass die Interessen des Jubilars breit gefächert sind, zeigt sich nicht zuletzt an den verschiedenen Themenabschnitten dieser Festschrift. Es gehört dabei zu den hervorstechenden Eigenschaften des Jubilars, sich auf Neues einzulassen und auch neue Rechtsgebiete zu erschließen. So ließ er es sich beispielsweise auf Anfrage des im Jahre 2006 gegründeten Heidelberger Instituts für Kunst und Recht IFKUR e.V.1 nicht nehmen, als Beiratsmitglied zu fungieren 2 und dem Institut seine Expertise aus Revisionsverfahren mit kunst- und urheberrechtlichem Bezug sowie aus seinem ehrenamtlichen Engagement für Kunst und Kultur zur Verfügung zu stellen. Zudem lieferte der Jubilar mit einem vielbeachteten Beitrag zur Reichweite der Kunstfreiheit im Fall „Esra“ 3 den eindrucksvollen Auftakt zur Erstveranstaltung des IFKUR, dem Ersten Heidelberger Kunstrechtstag am 8.9.2007 4, und führte diesen für die 1 Institut für Kunst und Recht IFKUR e.V., www.ifkur.de. Als Gründungsvorstände amtieren Dr. Nicolai B. Kemle und der Verf. 2 Die weiteren Beiräte sind (alphabetisch): Prof. Dr. Burkhard Hess Geschäftsführender Direktor des Instituts für internationales und ausländisches Privat- und Wirtschaftsrecht; Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Erik Jayme ebendort; Prof. Dr. Athanassios Kaissis AristotelesUniversität Thessaloniki, Griechenland; Prof. Dr. iur. Dr. phil. h.c. Peter Michael Lynen, Leiter des Centrums für Internationales Kunstmanagement an der Hochschule Köln, vormals Kanzler der Kunstakademie Düsseldorf; Prof. Dr. Heinz-Peter Mansel, Institut für internationales Privatrecht der Universität zu Köln; Prof. em Harry S. Martin III, vormals Heny N. Ess III Librarian und Professor of Law, Harvard Law School, Cambridge, USA; RAin Dr. Astrid Müller-Katzenburg Berlin; Prof. Dr. Kerstin Odendahl Lehrstuhl für Völker- und Europarecht, Universität St. Gallen, Schweiz; Prof. Norman Palmer Barrister, Lincoln’s Inn, London, UK; Prof. Dr. Thomas Pfeiffer Prorektor für Lehre der Universität Heidelberg und Direktor des Instituts für internationales und ausländisches Privat- und Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg; RA Prof. Dr. Peter Raue Hogan & Hartson Raue Berlin; Prof. Dr. Gerte Reichelt Jean Monnet Professor für Europarecht Universität Wien, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Europarecht, Wien; Prof. Dr. em. Kurt Siehr Universität Zürich/Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Hamburg. 3 BGH. Urt. v. 21.6.2005 – VI ZR 122/04; BVerfG, Beschl. v. 13.6.2007 – 1 BvR 1783/05. 4 Krämer Kunstfreiheit vs. Persönlichkeitsrecht – Der Fall „Esra“, in: Weller/Kemle/ Lynen (Hrsg.), Des Künstlers Rechte – die Kunst des Rechts: Tagungsband des Ersten Heidelberger Kunstrechtstags, Schriften zum Kunst- und Kulturrecht Bd. 2, Baden-Baden 2008, S. 11 ff.
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Folgeurteile 5 zu „Esra“ auf dem Zweiten Heidelberger Kunstrechtstag am 5. und 6.9.2008 fort.6 Der Verf. möchte dem Jubilar deshalb einen Beitrag aus dem Kunst- und Kulturrecht widmen, der zugleich Schnittstellen zum Zivilund Verwaltungsprozessrecht, zum Völkerrecht, zum deutschen und europäischen Verfassungsrecht wie auch zum Wirtschaftsrecht aufweist, nämlich eine Untersuchung der rechtsverbindlichen Rückgabezusage nach § 20 Kulturgüterschutzgesetz (KultGSchG).7 Nach dieser Vorschrift kann die zuständige Behörde einen Verwaltungsakt erlassen, der bewirken soll, dass Leihgaben von Kunstwerken und Kulturgütern aus dem Ausland für Ausstellungen im Inland gleichsam immun gegenüber hoheitlichem Zugriff sind und ganz ähnlich wie Diplomaten „Freies Geleit“ genießen.8 Rechtstechnisch geschieht dies durch den vorübergehenden Ausschluss des Zugangs zu Gericht für Klagen auf Herausgabe einschließlich flankierender hoheitlicher Sicherungsmaßnahmen. Dass ein solcher Verwaltungsakt das verfassungsrechtlich garantierte Recht auf effektiven Rechtsschutz präsumtiver Eigentümer oder Gläubiger berührt, liegt auf der Hand. Bedenkt man, dass gerade die sogenannten blockbuster-Ausstellungen auf hochkarätige Leihgaben aus dem Ausland angewiesen sind, wird zudem klar, dass werthaltige Wirtschaftsgüter und Vermögensinteressen sowohl bei Anspruchstellern als auch bei Ausstellungsveranstaltern betroffen sind.
II. Normtext § 20 KultGSchG sieht vor: (1) Soll ausländisches Kulturgut vorübergehend zu einer Ausstellung im Bundesgebiet ausgeliehen werden, so kann die zuständige oberste Landesbehörde im Einvernehmen mit der Zentralstelle des Bundes dem Verleiher die Rückgabe zum festgesetzten Zeitpunkt rechtsverbindlich zusagen. Bei Ausstellungen, die vom Bund oder einer bundesunmittelbaren juristischen Person getragen werden, entscheidet die zuständige Behörde über die Erteilung der Zusage.
5 BGH, Urt. v. 10.6.2008 – VI ZR 252/07, hierzu auch Weller LMK 2008, 269192; OLG München, Urt. v. 8.7.2008 – 18 U 2280/08, nicht rechtskräftig. 6 Achim Krämer Kunstfreiheit vs. Persönlichkeitsrecht: Nachlese zum Fall „Esra“, in: Weller/Kemle/Lynen (Hrsg.), Kulturgüterschutz – Künstlerschutz: Tagungsband des Zweiten Heidelberger Kunstrechtstags am 5. und 6.9.2008, Schriften zum Kunst- und Kulturrecht, Baden-Baden 2009, S. 167 ff. 7 Gesetz zum Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung in der Fassung der Bekanntmachung vom 8.7.1999 (BGBl. I S. 1754), zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 18.5.2007 (BGBl. I S. 757). 8 Begründung BT-Drucks. 13/10789, S. 10. Jayme Das Freie Geleit für Kunstwerke, in: Reichelt (Hrsg.), Vorlesungen und Vorträge 2001, Ludwig Boltzmann Institut für Europarecht, Wien 2001, S. 3 ff.
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(2) Die Zusage ist vor der Einfuhr des Kulturgutes schriftlich und unter Gebrauch der Worte „Rechtsverbindliche Rückgabezusage“ zu erteilen. Sie kann nicht zurückgenommen oder widerrufen werden. (3) Die Zusage bewirkt, dass dem Rückgabeanspruch des Verleihers keine Rechte entgegengehalten werden können, die Dritte an dem Kulturgut geltend machen. (4) Bis zur Rückgabe an den Verleiher sind gerichtliche Klagen auf Herausgabe, Arrestverfügungen, Pfändungen und Beschlagnahmen unzulässig.
III. Normgenese Den konkreten Anlass zur Einführung der rechtsverbindlichen Rückgabezusage gab eine bevorstehende Ausstellung von Werken, für die der Leihgeber gesetzlichen Schutz vor Herausgabeansprüchen Dritter zur Bedingung der Leihe machte: die Ausstellung „Schätze der Himmelssöhne“ in der Bundeskunsthalle in Bonn im Jahre 2003 aus dem Nationalen Palastmuseum Taipeh, Taiwan, mit führenden Exponaten aus dem China der Kaiserzeit, etwa dem kaiserlichen Siegel, das die bei Ausbruch der Kulturrevolution amtierende chinesische Regierung bei ihrer Flucht nach Taiwan aus Peking mitnahm.9 Taiwan befürchtete deshalb Herausgabeansprüche der Volksrepublik China, zumal weder Deutschland noch die Staaten der Europäischen Union Taiwan als Staat anerkennen, so dass zum einen die unmittelbare Zusicherung Freien Geleits durch die Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem verleihenden Staat als ad hoc-Sicherungsinstrument nicht in Betracht kam,10 zum anderen die Frage hätte entstehen können, an wen die Ausstellungsstücke als berechtigten Eigentümer im Prätendentenstreit hätten herausgegeben werden müssen. Ganz ähnlich ist die Normgenese der jüngst in Kraft getretenen englischen Gesetzgebung zum Schutz ausländischer Leihgeber: Die Royal Academy wollte in der für Dezember 2008 geplanten Ausstellung „From Russia“ Leihgaben aus dem Staatlichen Puschkin-Museum zeigen, und zwar unter anderem Werke, die in der Oktoberrevolution enteignet worden waren, so dass mit Herausgabeansprüchen der Erben früherer Eigentümer zu
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Toyka-Fuong (ed.), Ausstellung Schätze der Himmelssöhne. Die Kaiserliche Sammlung aus dem Nationalen Palastmuseum, Taipeh, Die Großen Sammlungen, vom 18.7.2003 bis 12.10.2003 im Alten Museum in Berlin und vom 21.11.2003 bis 15.2.2004 in Bonn in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH, Katalog, Ostfildern-Ruit (2003). 10 Es wird zwar erwogen, dass diplomatische Zusagen des „Freien Geleits“ dem Gaststaat gegenüber von staatlichen Leihgaben hinreichend schützen, vgl. z.B. Palmer Adrift on a Sea of Troubles: Cross-Border Art Loans and the Specter of Ulterior Titel, 38 Vand.J. Trans’l. L. 947, 965 (2005), Staatenpraxis hierzu ist aber nicht ersichtlich und die rechtliche Qualifikation ist ungeklärt. Am ehesten käme wohl eine Analogie zum Status eines ad hocDiplomaten in Betracht.
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rechnen war. Denn bereits 1994 war anlässlich einer Ausstellung im Centre George Pompidou eine Herausgabeklage vor französischen Gerichten erhoben worden, allerdings ohne Erfolg.11 Im Übrigen muss Russland wohl jederzeit mit dem Zugriff verschiedener Gläubiger von Geldforderungen rechnen, wie der – gleichermaßen erfolglose – Vollstreckungsversuch aus einem internationalen Schiedsspruch gegen Rußland anlässlich einer Ausstellung von Leihgaben aus dem Puschkin-Museum an die Fondation Pierre Gianadda in Martigny im Wallis, Schweiz, kürzlich belegt.12 Dies zeigt, dass Kunstwerke natürlich nicht nur Kulturgüter, sondern auch eine oft höchst werthaltige Haftungsmasse sind: der Marktwert der russischen Leihgaben wurde auf USD 1 Milliarde geschätzt. Dessen ungeachtet ermöglichte das Vereinigte Königreich die für Dezember 2007 geplante Ausstellung, indem es eine entsprechende Regelung in Part 6 des Tribunals, Courts and Enforcement Act 2007 einfügte und das Gesetz am 31.12.2007 nach einem ungewöhnlich kurzen, zugleich rechtspolitisch äußerst umstrittenen Gesetzgebungsverfahren verabschiedete.13
IV. Interessen Die Normgenese macht den Interessenkonflikt deutlich: Auf der einen Seite steht das verfassungsrechtlich garantierte Recht des präsumtiven Eigentümers oder Gläubigers auf effektiven Rechtsschutz. Auf der anderen Seite steht das kulturpolitische Anliegen des internationalen Kulturaustau-
11 Tribunal de Grande Instance, Paris, Urt. v. 5.3.1993; hierzu z.B. Anglade Anti-seizure statutes in art law – the influence of “La Danse” on French law, in: Breen Liber memorialis Professor James C. Brady, Dublin 2001, S. 3 ff.; Redmond-Cooper Art, Antiquity & Law 1996, 1 ff. Zu der Bedeutung dieses Falles als Staatenpraxis für die völkergewohnheitsrechtliche Regel, dass staatliche Leihgaben zum hoheitlichen Zweck des Kulturaustausches dem Vollstreckungszugriff des Gaststaates entzogen sind Weller Immunity for Artworks on Loan? A Review of International Customary Law and Municipal Anti-seizure Statutes in Light of the Liechtenstein Litigation, 38 Vanderbilt Journal of Transnational Law 2005, 997–1039. 12 Weller Freies Geleit für die Kunst – Die Schweiz setzt einen Maßstab für Leihgaben im Völkerrecht, FAZ, 25.11.2005, Nr. 275, S. 35 (Feuilleton); Weller Völkerrechtliche Grenzen der Zwangsvollstreckung – vom Botschaftskonto zur Kunstleihgabe, Rpfleger 2006, 364–373; Odendahl Immunität entliehener ausländischer staatlicher Kulturgüter – Eine Analyse der Affäre um die Beschlagnahme der Gemälde aus dem Puschkin-Museum im November 2005, AJP/PJA 10/2006, 1175 ff.; Peter Les tableaux du Musée Pouchkine de Moscou, Schuldbeitreibung und Konkurs 70 (2006), S. 61 ff. 13 Vgl. z.B. Stephens A common thief does not obtain ownership of stolen goods, and it is no different when the thieves are bolsheviks, The Art Newspaper, 31.1.2008; ihm erwidernd Sir Rosenthal History is history and it is time that everyone learned to put historical events behind them, The Art Newspaper, 6.3.2008.
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sches und das Interesse der Öffentlichkeit an Zugang zu bedeutenden Kulturgütern – Ziele, zu denen sich die Bundesrepublik Deutschland wie andere Staaten in zahlreichen bi- und multilateralen völkerrechtlichen Verträgen verpflichtet hat,14 sowie die Erkenntnis, dass sich die zwischenstaatlichen und sonstigen Konflikte, die dem internationalen Leihverkehr entgegen stehen, nicht kurzfristig lösen lassen und die in zahlreichen Staaten 15 mittlerweile erlassenen Schutzgesetze im Kern lediglich den status quo vor der Leihgabe erhalten, nicht aber die Rechtsposition des präsumtiven Anspruchstellers verschlechtern.
V. Regelungsgehalt Die rechtsverbindliche Rückgabezusage ist ein Verwaltungsakt i.S.v. § 35 VwVfG. Zuständig sind regelmäßig die Kultusministerien der Länder, Zentralstelle des Bundes ist der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.16 Rechtstechnisch wird die Sicherung der Rückgabe vor allem prozessual durch den vorübergehenden Ausschluss der Klagbarkeit von Herausgabeansprüchen und des Zugriffs der Vollstreckungsorgane auf den Leihgegenstand bewirkt. Hinzu tritt die materiellrechtliche Suspension jeglicher Rechte präsumtiver Anspruchsteller außerhalb des vertraglichen Leihverhältnisses, die dem Rückgabeanspruch entgegen gesetzt werden können. Der auf den ersten Blick nicht deutliche und auch vom Gesetzgeber in seiner Entwurfsbegründung nicht erläuterte Mehrwert von Abs. 3 gegenüber Abs. 4 der Vorschrift für den Leihgeber könnte zunächst darin liegen, auch vor Feststellungsklagen und nicht nur vor Herausgabeklagen geschützt zu sein. Eine Klage auf Feststellung des Eigentums wäre dann bei erteilter Rückgabe-
14 Etwa Art. 4 Convention culturelle européenne de Paris, 19.12.1954: „Chaque Partie contractante devra, dans la mesure du possible, faciliter la circulation et l’échange des personnes ainsi que des objects de valeur culturelle aux fins d’application des articles 2 et 3“; Art. 5: „Chaque Partie contractante considérera les objets présentant une valeur culturelle européenne qui se trouveront placés sous son contrôle comme faisant partie intégrante du patrimoine culturel commun de l’Europe, prendra les mesures nécessaires pour les sauvegarder et en facilitera l’accès“. Weitere Nachweise bei Weller (Fn. 11), S. 1010. 15 Alphabetisch: Alberta (Kanada), (mit Einschränkungen) Australien, Belgien, British Columbia (Kanada), Frankreich, (mit Einschränkungen) Irland, Manitoba (Kanada), New York (USA), Ontario (Kanada), Österreich, Quebec (Kanada), Rhode Island (USA), Schweiz, USA (Bundesebene), Texas (USA), Vereinigtes Königreich. Selbst Israel hat kürzlich ein entsprechendes Gesetz erlassen, hierzu Shoshana Berman Protection of Cultural Objects on Loan: the Israeli Perspective, Art, Antiquity & Law 2008, S. 116 ff. 16 Schenk Die Umsetzung des UNESCO-Übereinkommens von 1970 in Deutschland aus der Sicht des Gesetzgebers, in: Weller/Kemle/Lynen (Hrsg.), Kulturgüterschutz – Künstlerschutz: Tagungsband des Zweiten Heidelberger Kunstrechtstags am 5. und 6.9. 2008, Schriften zum Kunst- und Kulturrecht, Baden-Baden 2009, S. 75.
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zusage nach § 20 Abs. 3 KultGSchG als derzeit unbegründet abzuweisen. Dies setzt freilich voraus, dass das Gegenrecht des Eigentums durch § 20 Abs. 3 KultGSchG nicht nur in Ansehung des Rückgabeanspruchs, sondern insgesamt suspendiert ist – ein Eingriff in die Rechtsstellung des Anspruchstellers, der dem Wortlaut nicht unmittelbar zu entnehmen ist, der über den Zweck der Sicherung der Rückführung der Leihgabe hinausgeht und daher nicht von der Teleologie der Norm getragen ist.17 Jedenfalls verhindert § 20 Abs. 3 KultGSchG, dass die vorübergehende Belegenheit des Leihgegenstands in Deutschland Anlass für Klagen im Ausland, insbesondere im Sitzstaat des Verleihers, gibt. Denn da die Kollisionsrechtsordnungen wohl fast aller Staaten für Sachenrechte auf die lex rei sitae verweisen,18 führt die internationale Leihgabe zu einem Statutenwechsel, sobald der Leihgegenstand die Grenze zu Deutschland überschreitet. Die Änderung der auf die sachenrechtliche Rechtslage anwendbaren Vorschriften könnte es dem Kläger ermöglichen, im Sitzstaat des Verleihers nunmehr erfolgreich auf Herausgabe zu klagen und nach Rückkehr der Leihgabe in den Sitzstaat zu vollstrecken. Dem beugt aber § 20 Abs. 3 KultGSchG dadurch vor, dass es auch materiellrechtlich das Recht des Eigentümers oder des Inhabers eines beschränkten dinglichen oder eines sonstigen Gegenrechts suspendiert. Voraussetzung für die Wirksamkeit dieses Schutzes ist natürlich, dass das ausländische Kollisionsrecht die Suspendierung als Wirkung der lex rei sitae anerkannt. Im Übrigen lässt sich aus § 20 Abs. 3 KultGSchG die international zwingende Verdrängung von Gegenrechten aus dem Vertragsstatut entnehmen. Im inländischen Verfahren bleibt dies wegen des ohnehin schon bestehenden Ausschlusses des Vollstreckungszugriffs nach § 20 Abs. 4 KultGSchG jedoch ohne praktische Bedeutung. Im ausländischen Verfahren tritt die schützende Wirkung nur ein, wenn das ausländische Gericht bereit ist, die fremde Eingriffsnorm durchzusetzen, und dies ist eher selten. Von deutscher Seite hat der Gesetzgeber dessen ungeachtet alles ihm Mögliche getan, um erfolgreiche Herausgabeklagen gegen Verleiher oder Entleiher im In- und Ausland zu verhindern. Ohne weiteres klagbar bleiben allerdings Schadensersatzansprüche des präsumtiven Eigentümers. Dann jedoch stellt sich bei Klagen des präsumtiven Eigentümers die bisher ungeklärte Frage, inwieweit § 20 Abs. 3 KultGSchG nicht nur das „Gegenrecht“ des Eigentums in Ansehung des Herausgabeanspruchs nach § 985 BGB, sondern dadurch insgesamt das Eigentümer-Besitzer-Verhältnis suspendiert. 17 Weitergehend hingegen die Begründung des Gesetzentwurfs zu § 20 Abs. 3 KultGSchG, BT-Drucks. 13/10789, S. 10: „Die Geltendmachung privater Rechte an den Leihgaben muss für die Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet zurückstehen“. 18 Zur internationalen Verbreitung der lex rei sitae vgl. nur die rechtsvergleichenden Nachweise bei Kegel/Schurig Internationales Privatrecht, 9. Aufl. 2004, S. 763 ff.; Looschelders Internationales Privatrecht, Art. 3–46 EGBGB, Berlin 2004, S. 635 Rz. 13 ff., dort auch zur zunehmenden Verbreitung von Sonderanknüpfungen für Mobilien.
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VI. Anfechtung Hat die zuständige Behörde den Verwaltungsakt der Rückgabezusage erteilt, sind Rücknahme und Widerruf nach §§ 48, 49 VwVfG ausgeschlossen, § 20 Abs. 2 KultGSchG. Dies soll den Bestand des Verwaltungsaktes sichern. Allerdings ist ein Dritter dadurch keineswegs gehindert, Anfechtungsklage zu erheben, § 42 Abs. 1 VwGO.19 Das Widerspruchsverfahren entfällt dabei nach § 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 VwGO. Nach § 80 Abs. 1 VwGO hat die Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Der Verleiher kann allerdings nach § 80a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 VwGO die Anordnung der sofortigen Vollziehung beantragen. Das öffentliche Interesse an der Sicherung der Rückführung, die der Gesetzgeber durch § 20 KultGSchG zum Ausdruck brachte, dürfte sich durchsetzen, § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO. Besser wäre freilich gewesen, wenn der Gesetzgeber bereits in § 20 KultGSchG ausdrücklich angeordnet hätte, dass die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage entfällt. Denn schon das Verfahren hierüber wird ausländische Leihgeber nicht wenig verunsichern. Ihnen ist deswegen zu raten, zugleich mit der rechtsverbindlichen Rückgabezusage die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit zu beantragen oder vorsorglich den Antrag nach § 80a VwGO zu stellen. Allerdings könnte der präsumtive Eigentümer selbst dann noch nach §§ 80a Abs. 3, 80 Abs. 5 VwGO die Anordnung bzw. bei erfolgreichem Antrag des Verleihers auf Anordnung der sofortigen Vollziehung die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung beantragen. Die Entscheidung hierüber hängt nicht zuletzt von den Erfolgsaussichten in der Hauptsache ab. Größte Hürde des Antragstellers dürfte dabei die Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO sein. Diese fehlt, wenn subjektive Rechte des Antragstellers nicht betroffen sind. Teilweise wird von vornherein vertreten, dass § 20 KultGSchG keine Schutznorm ist.20 Allerdings verlangt die pflichtgemäße Ermessensausübung durch die zuständige Behörde auch die Berücksichtigung der Interessen des Anspruchstellers und präsumtiven Eigentümers oder Gläubigers beim Eingriff in sein verfassungsrechtlich geschütztes Recht auf effektiven Rechtsschutz und, wenn ausländische Staaten Herausgabe auf völker- oder europarechtliche Ansprüche stützen, deren kulturgüterschutzrechtlichen Rückführungsansprüche, so dass die Frage nach der Vereinbarkeit des Klagbarkeitsausschlusses mit höherrangigem Recht auch auf die Klagebefugnis i.S.v. § 42 Abs. 2 VwGO zumindest ausstrahlen dürfte. Wenn
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Zum folgenden Kempen Internationaler Kulturgüteraustausch: die Bedeutung der „Rechtsverbindlichen Rückgabezusage“, in: Brenner (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel, Tübingen 2004, S. 1079, 1092 ff. 20 Kempen (Fn. 19), S. 1092.
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dies richtig ist,21 dann kommt es für die Aufrechterhaltung der Wirkung der Rückgabezusage im Anfechtungsverfahren darauf an, inwieweit ihre Anfechtung im Übrigen im Ergebnis erfolgreich sein kann:
VII. Europa- und völkerrechtliche Rückführungsansprüche Kollisionen mit europa- und völkerrechtlichen Rückführungsansprüchen sind vor allem im Hinblick auf die Herausgabeansprüche nach der Kulturgüterrückgaberichtlinie 22 sowie des UNESCO-Übereinkommens von 1970 denkbar, 23 beide umgesetzt in § 6 des – ursprünglich allein der Richtlinienumsetzung dienenden und jüngst für die Transformation des UNESCOÜbereinkommens neu gefassten 24 – Kulturgüterrückgabegesetzes (KultGüRückG).25 Voraussetzung ist allerdings zunächst, dass die Rückgabezusage überhaupt gegenüber öffentlich-rechtlichen Rückführungs- oder Herausgabeansprüchen schützt. Nach dem Wortlaut ist dies der Fall, jedoch lässt sich aus den Materialien ein Argument zur teleologischen Reduktion ableiten, denn dort ist von „privaten Rechten“ die Rede, die nach Erteilung der Rückgabezusage zurückstehen sollen.26 Allerdings schließt schon diese Erläuterung nicht zwingend öffentlich-rechtlich begründete Rechte aus, sondern benennt lediglich den Regelfall, der dem Gesetzgeber vor Augen war. Außerdem dürfte aus der klar erkennbar werdenden objektiven Teleologie
21 Zum komplexen, nicht abschließend geklärten Verhältnis der Grundrechte zum einfachen Gesetzesrecht bei der Frage nach der Klagebefugnis vgl. nur Wahl/Schütz in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Erg.-Lfg. 2008, § 42 Rz. 58 ff. und Wahl, aaO, vor § 42 Rz. 44 ff. 22 RL 93/7/EWG des Rates vom 15.3.1993 über die Rückgabe von unrechtmäßig aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates verbrachten Kulturgütern, Abl. L 74 vom 27.3. 1993, S. 74–79. 23 UNESCO-Übereinkommen über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der rechtswidrigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut vom 14.11.1970, 10 I.L.M. 289. 24 Hierzu Weller, Zur Umsetzung der UNESCO-Konvention von 1970 aus deutscher Sicht, in: Reichelt (Hrsg.), Rechtsfragen der Restitution von Kulturgütern, Symposium des Ludwig Boltzmann Instituts für Europarecht am 12.10.2007 im Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur Wien, Wien 2008, S. 27–38; ferner eingehend die Beiträge – z.T. aus rechtsvergleichender Perspektive – von Schenk, Siehr, Renold, Ivone und Feddersen in: Weller et al. (Hrsg.), Kulturgüterschutz – Künstlerschutz, Tagungsband des Zweiten Heidelberger Kunstrechtstags am 5. und 6.9.2008, Baden-Baden 2009, S. 49 ff. 25 Gesetz zur Ausführung des UNESCO-Übereinkommens vom 14.11.1970 über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der rechtswidrigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut und zur Umsetzung der Richtlinie 93/7/EWG des Rates vom 15.3.1993 über die Rückgabe von unrechtmäßig aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verbrachten Kulturgütern) i.d.F. v. 18.5.2007, BGBl. I 2007, 757. 26 BT-Drucks. 13/10789, S. 10.
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der Vorschrift das stärker wiegende Argument erwachsen, so dass anzunehmen ist, dass auch derjenige, der seinen Herausgabeanspruch auf öffentliches Recht stützt, etwa ausländische Staaten nach § 6 KultGüRückG, der Zugang zu den Gerichten verwehrt sein soll. Ob dies freilich mit der Kulturgüterrückgaberichtlinie vereinbar ist, wird unterschiedlich beurteilt. Fuchs etwa hält die richtlinienkonforme teleologische Reduktion von § 20 KultGSchG dahingehend für geboten, dass trotz verbindlicher Rückgabezusage der Herausgabeanspruch anderer EG-Mitgliedstaaten nicht suspendiert und der Zugang zum Gericht nicht verwehrt ist und will den gesetzgeberischen Willen zur solchermaßen richtlinienkonformen Umsetzung gerade aus dem vorzitierten Verweis auf die „privaten Rechte“ in den Materialien ableiten.27 Ob die Kulturgüterrückgaberichtlinie hierzu wirklich zwingt, ist zweifelhaft. Denn die Richtlinie ist ihrerseits im Lichte des Primärrechts auszulegen, und Art. 151 Abs. 2 Spiegelstrich 4 EG, wonach die Europäische Gemeinschaft durch ihre Tätigkeit die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten fördert, unterstützt und erforderlichenfalls ergänzt u.a. in dem Bereich des „nichtkommerziellen Kulturaustausches“, legt nahe, dass der Kulturaustausch durch Leihgaben unter den Mitgliedstaaten mit dem primärrechtlichen Querschnittsziel der Kulturförderung mindestens vereinbar ist, eine Sekundärrechtsmaßnahme zur Regelung dieser Form des Kulturaustauschs hingegen ohne Kompetenzgrundlage wäre.28 Zu bedenken ist freilich, dass sich ein Argument aus Art. 151 Abs. 2 Spiegelstrich 4 EG nur für den nichtkommerziellen Kulturaustausch ableiten lässt, die rechtsverbindliche Rückgabezusage indes keineswegs auf nichtkommerzielle Leihgaben beschränkt ist und für Leihgaben von Hauptwerken für blockbuster-Ausstellungen durchaus Entgelt geleistet wird und Gewinnerzielungsabsicht besteht. Im Übrigen definiert die Kulturgüterrichtlinie, die auf unrechtmäßig aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates verbrachte Kulturgüter Anwendung findet, nach ihrem Art. 1 Nr. 2 Spiegelstrich 2 die Unrechtmäßigkeit der Verbringung als „jede nicht erfolgte Rückkehr nach Ablauf der Frist für eine vorübergehende rechtmäßige Verbringung“, und die Leihe ist nichts anderes als ein Beispiel für eine vorübergehende rechtmäßige Verbringung. Ganz eindeutig ist die Rechtslage daher nicht, auch wenn manches für die Richtlinienkonformität einer erteilten Rückgabezusage selbst im Fall eines bestehenden Rückgabeanspruchs nach § 6 Abs. 1 KultGüRückG spricht. Zu entscheiden hat dies der EuGH. Bis dahin dürfte die rechtsverbindliche Rückgabezusage (einschließlich der sofortigen Vollziehbarkeit) auch unter der Abwägung nach 27
Fuchs Kulturgüterschutz im Kulturgutsicherungsgesetz, IPRax 2000, 281, 286. Kempen (Fn. 19), S. 1096; Julia El-Bitar Das Verhältnis zwischen „Freiem Geleit“ und gemeinschaftsrechtlicher Rückgabeklage, EuZW 2005, 173; Jayme Das Freie Geleit für Kunstwerke, in: Reichelt (Hrsg.), Vorlesungen und Vorträge 2001, Ludwig Boltzmann Institut für Europarecht, Wien 2001, S. 3 ff. 28
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§ 80 Abs. 5 VwGO europarechtsfest sein. Im Ausgangspunkt Entsprechendes dürfte für Ansprüche auf Herausgabe anderer Mitgliedstaaten aus der Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Rechtshilfeinstrumente gelten.29 Ähnliche Probleme stellen sich schließlich für das Verhältnis der Rückgabezusage zum Herausgabeanspruch von Vertragsstaaten des UNESCO-Übereinkommens von 1970 nach § 6 Abs. 2 KultGüRückG. Auch dieser Anspruch wird grundsätzlich von § 20 KultGSchG erfasst. Bei der Ermessensausübung unterliegt die zuständige Behörde gleichermaßen dem Gebot völkerrechtskonformer Ermessensausübung wie dem der richtlinienkonformen Ermessensausübung. Es kommt also auch hier darauf an, welche Verpflichtung die Bundesrepublik völkervertraglich durch den Beitritt zum UNESCO-Übereinkommen von 1970 in Bezug auf Leihgaben aus Vertragsstaaten eingegangen ist, um abschätzen zu können, welche Erfolgsaussichten die Anfechtungsklage eines Vertragsstaates unter Berufung auf das UNESCO-Übereinkommen hat. In Bezug auf illegal aus einem Vertragsstaat ausgeführtes Kulturgut enthält das Übereinkommen keine Rückführungspflicht anderer Vertragsstaaten, sondern lediglich Mitteilungs- und allgemeine Kooperationspflichten, Artt. 7 lit. a S. 2 bzw. 13 lit. b.30 Allerdings ergibt sich aus Art. 7 lit. b ii, dass Kulturgüter, die aus einem Museum oder einem öffentlichen weltlichen oder religiösen Bauwerk oder einer ähnlichen Einrichtung in einem Vertragsstaat gestohlen wurden, vom Importstaat gegen eine angemessene Entschädigung des gutgläubigen Erwerbers zurückzugeben sind. Ob sich diese Verpflichtung auf Leihgaben im Importstaat erstreckt, lässt sich dem Wortlaut des Übereinkommens nicht entnehmen, er steht einer Auslegung dahingehend jedenfalls nicht unmittelbar entgegen.31 Allerdings drängt der Vereinheitlichungszweck des multilateralen Völkervertrags zur Zurückhaltung bei teleologischer Auslegung. Unter diesen Umständen dürfte die Abwägung nach § 80 Abs. 5 VwGO erneut zugunsten des Verleihers ausfallen, solange keine gegenteilige Gerichtsentscheidung zur Konventionsauslegung ergangen ist. Europa- und völkerrechtliche Rückführungsansprüche
29 Z.B. Rahmenbeschluss 2003/577/JI des Rates vom 22.7.2003 über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln der Europäischen Union, Abl. EG Nr. L 196, S. 45, umgesetzt durch Art. 1 Nr. 19 des Gesetzes v. 6.6.2008, BGBl. I, 995, welches das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) anpasst. Nach diesen Instrumenten ergeben sich allerdings nur Ansprüche auf vorläufige Beschlagnahme und Sicherung zur Unterstützung eines laufenden Strafverfahrens. In welchem Verhältnis diese zu einem Rückführungsanspruch nach § 5 Abs. 1 KultGüRückG stehen, ist offen, hierzu Schenk (Fn. 16), S. 77. 30 Boos Kulturgut als Gegenstand des grenzüberschreitenden Leihverkehrs, Berlin 2006, S. 211. 31 Boos (Fn. 30) S. 52 ff., die sich im Ergebnis für eine teleologisch gestützte Erstreckung auf Leihgaben ausspricht, weil die ratio der Konvention die Verhinderung jeglicher Formen des rechtswidrigen Kulturgüteraustausches bezwecke.
Die rechtsverbindliche Rückgabezusage
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anderer Staaten werden nach alledem durch die Rückgabezusage derzeit auch im Hinblick auf § 80 Abs. 5 VwGO verlässlich ausgesetzt. Zu fragen ist daher nur noch, ob dies auch im Lichte des verfassungsrechtlich garantierten Anspruchs des Anspruchstellers als Eigentümer oder Gläubiger auf effektiven Rechtsschutz ausnahmslos gilt:
VIII. Grundrechte Bodo Pieroth und Bernd Hartmann haben in einem aus einem Gutachtenauftrag hervorgegangenen Beitrag zutreffend dargelegt, dass die mit der rechtsverbindlichen Rückgabezusage einhergehende Beschränkung des Zugangs zu gerichtlichem Rechtsschutz zwar in den Schutzbereich des grundrechtlich garantierten Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz eingreift, dieser Eingriff jedoch – wie für die Verfassungskonformität der Vorschrift erforderlich – aus einem legitimen Grund geschieht und der Eingriff verhältnismäßig ist.32 Dies entspricht zu Recht der herrschenden Meinung: 33 Zwar ist der im Kern seit langem 34 anerkannte 35 Justizanspruch notwendiges Korrelat zum Gewaltmonopol des Staates. Normativer Anknüpfungspunkt ist zunächst Art. 20 Abs. 3 GG und das dort angesprochene Rechtsstaatsprinzip,36 das eine erste verfahrensrechtliche Ausprägung für Verfahren im Verhältnis Staat – Bürger in Art. 19 Abs. 4 GG erhält.37 Flankieren lässt sich die Herleitung aus dem Grundgesetz überdies mit dem Verweis auf Artt. 101 Abs. 1 S. 2, 103 Abs. 1 GG. Die dort garantierten Ansprüche auf einen gesetzlichen Richter und auf sein Gehör implizieren den Anspruch darauf, überhaupt zunächst Zugang zu ihm zu haben.38 Da der Justizanspruch auf die Verwirklichung materieller Rechte zielt und damit unabdingbare Voraussetzung zur freien Entfaltung der Persönlichkeit durch die Ausübung von Rechten sowie durch 32 Pieroth/Hartmann Rechtswegbeschränkung zur Sicherung des Leihverkehrs mit ausländischen Kulturgütern, NJW 2000, 2129, 2132 ff. 33 Keinerlei verfassungsrechtliche Bedenken äußern etwa Kempen aaO, S. 1079 ff.; Schoen Die rechtsverbindliche Rückgabezusage – Das „Freie Geleit“ für Kulturgut, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste Magdeburg, Im Labyrinth des Rechts – Wege zum Kulturgüterschutz, Magdeburg 2007, S. 79, 97; a.A. Stumpf Kulturgüterschutz im internationalen Recht unter besonderer Berücksichtigung der deutsch-russischen Beziehungen, 2003, S. 303. 34 Z.B. Rosenberg ZPO, 3. Aufl. 1931, § 2 II 3, S. 7. 35 Z.B. Brehm in: Stein/Jonas ZPO, 22. Aufl. 2003, vor § 1 Rz. 289 mwN. 36 BVerfG 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02, NJW 2003, 1924, 1926; BVerfGE 54, 277: „Aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes ist auch für bürgerlichrechtliche Streitigkeiten im materiellen Sinn die Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes abzuleiten“; ferner z.B. Schwab/Gottwald Verfassung und Zivilprozess (1984), S. 31. 37 BVerfG 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02, NJW 2003, 1924. 38 So schon Baur AcP 153 (1954), 393, 396.
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Unrechtsabwehr ist, muss der Justizanspruch schließlich auch als Bestandteil der grundgesetzlichen Freiheitsgarantien verstanden werden,39 so dass auch die einzelnen Freiheitsverbürgungen des Grundgesetzes sowie subsidiär die allgemeine Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG mit zur verfassungsrechtlichen Grundlage des Justizanspruchs beitragen. Hieraus folgt aber nun nicht, dass der Justizanspruch nicht eingeschränkt werden könnte. Dies folgt mittelbar bereits daraus, dass der Justizanspruch der rechtlichen Ausgestaltung durch Verfahrensregeln bedarf, denn jeder einfachgesetzlichen Inhaltsbestimmung ist eine gewisse Beschränkungswirkung immanent. Darüber hinaus ist es aber auch anerkannt, dass selbst nicht wenig einschneidende Beschränkungen im Ergebnis verfassungskonform sein können, wie etwa die §§ 18 ff. GVG zeigen. Entscheidend ist die Verhältnismäßigkeit, die ihrerseits die Verfolgung eines legitimen Ziels voraussetzt. Dass der internationale Kulturaustausch ein solches legitimes Ziel ist, lässt sich schon mit Blick auf die bereits genannten, zahlreichen völkervertraglichen Verpflichtungen der Bundesrepublik kaum ernsthaft bestreiten,40 ebenso wenig, dass § 20 KultGSchG zur Verwirklichung dieses Ziels beiträgt. Auch an der Erforderlichkeit kann kein Zweifel bestehen, denn weniger belastende Alternativen sind nicht ersichtlich. Für die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne spricht der Umstand, dass die Beschränkung nur vorübergehend und zwar für einen relativ kurzen Zeitraum besteht und dass ohne die Rückgabezusage das Kulturgut nicht nach Deutschland gelangt wäre, so dass dem präsumtiven Anspruchsteller nichts von seinem status quo genommen wird. Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne allein fraglich ist deswegen die Konstellation, dass der Anspruchsteller nirgendwo sonst Zugang zu effektivem Rechtsschutz findet, so dass die rechtsverbindliche Rückgabezusage zu einer vollständigen Justizverweigerung führt. Denkbar sind solche Konstellationen, wenn es um den Rechtsschutz gegen Enteignungsmaßnahmen und anderer Entziehungen des Eigentums durch Unrechtsregime geht, deren „Gerichte“ dem Rechtsinhaber keinen effektiven Rechtsschutz gewähren. Verfassungsrechtlich gebotener Grundsatz des Internationalen Zuständigkeitsrechts beispielsweise ist, ungeachtet der eigenen Zuständigkeitsordnung immer dann eine Notzuständigkeit zu eröffnen, wenn der Kläger kein anderes Forum findet.41 Für die Handhabung von Vorschriften über 39 Z.B. Stürner Aufklärungspflichten der Parteien (1976), S. 40: Vollzug der freien Entfaltung der Persönlichkeit liege „wesentlich in der Wahrnehmung von Rechten“; Smid Rechtsprechung: zur Unterscheidung von Rechtsfürsorge und Prozess, Köln 1990, S. 127: abzuleiten aus dem „Zusammenhang von Privatautonomie und Prozessrecht“. 40 Oben Fn. 14. 41 Z.B. Weller Ordre-public-Kontrolle internationaler Zuständigkeitsvereinbarungen, Tübingen 2005, S. 183 mwN. Ferner die ausdrückliche Regelung dieses allgemeinen Rechtsgedankens z.B. in Art. 3 schweiz. IPRG: „Notzuständigkeit: Sieht dieses Gesetz keine Zuständigkeit in der Schweiz vor und ist ein Verfahren im Ausland nicht möglich
Die rechtsverbindliche Rückgabezusage
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den Ausschluss der Klagbarkeit von Ansprüchen vor deutschen Gerichten gelten im Kern dieselben Grundsätze. Eine verfassungskonforme Ermessensausübung liegt daher nahe: Im Fall der Justizverweigerung darf die zuständige Behörde die rechtsverbindliche Rückgabezusage nicht erteilen. Tut sie es trotzdem, ist es nicht mehr von vornherein ausgeschlossen, dass die Abwägung unter § 80 Abs. 5 VwGO zugunsten der Aussetzungsinteressen des Anfechtungsklägers ausfällt, so dass die Schutzwirkung der rechtsverbindlichen Rückgabezusage noch während der Leihe entfällt und Dritte auf die Leihgaben zugreifen können.
IX. Europäische Menschenrechte Hinzu tritt die völkervertragliche Gewährleistung eines Rechts auf Zugang zu justizförmigem Rechtsschutz aus Art. 6 Abs. 1 EMRK,42 so dass der Justizanspruch außer im Grundgesetz auch völkerrechtlich und insbesondere europarechtlich Stützen findet. Hier gilt nun aber ganz ähnliches wie unter deutschem Verfassungsrecht: Dass auch Art. 6 Abs. 1 EMRK keinen absoluten Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gewährt, ist anerkannt. Es gilt vielmehr ebenso das Verhältnismäßigkeitsgebot, das seinerseits einen legitimen Zweck zur Beschränkung der aus Art. 6 Abs. 1 EMRK fließenden Garantie voraussetzt. Entscheidend ist also erneut, ob das Ziel des internationalen Kulturaustausches – nunmehr allerdings im Lichte der EMRK – als legitim erscheint und ob die konkrete Beschränkung der Rechtsschutzgarantie verhältnismäßig ist. Eine Entscheidung des EGMR unmittelbar zur rechtsverbindlichen Rückgabezusage liegt nicht vor. Allerdings lässt die Entscheidung des EGMR im Fall Liechtenstein ./. Deutschland 43 den Rückschluss zu, dass
oder unzumutbar, so sind die schweizerischen Gerichte oder Behörden am Ort zuständig, mit dem der Sachverhalt einen genügenden Zusammenhang aufweist“; prägnant Neuhaus Internationales Zivilprozessrecht und Internationales Privatrecht – Eine Skizze, RabelsZ 20 (1955), 201, 265: „Wo sonst kein Gericht zuständig ist, soll jedes Gericht zuständig sein“. 42 So schon z.B. EGMR 21.2.1975, EuGRZ 1975, 91 – Golder EGMR 9.10.1979, EuGRZ 1979, 626 – Airey; ferner die – allerdings völkerrechtlich unverbindliche – Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948; Art. 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966; auch das BVerfG sieht in Art. 6 Abs. 1 EMRK die europäische Rechtsgrundlage des Justizanspruchs, zuletzt BVerfG 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02, sub C II 1, NJW 2003, 1924; diese Gewährleistung übernimmt Art. 47 Abs. 2 Grundrechte-Charta, die durch Art. 1 Ziff. 8 Lissaboner Vertrag durch Änderung von Art. 6 EUV verbindlich erklärt werden soll; Heß EMRK, GrundrechteCharta und europäisches Zivilverfahrensrecht, in: Mansel et al. (Hrsg.), Festschrift für Erik Jayme Bd. I, München 2004, S. 339 ff. 43 EGMR, Urt. v. 12.7.2001, no. 42527/98 – Prinz Hans-Adam II von Liechtenstein ./. Deutschland, NJW 2003, 649–654, hierzu z.B. Blumenwitz AVR 40, 215–242 (2002); Fassbender EuGRZ 2001, 459–466. Vorgehend BVerfG, Beschl. v. 28.1.1998, Az: 2 BvR 1981/97;
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das Freie Geleit für internationale Leihgaben auch menschenrechtlich Bestand haben wird: Das tschechische Denkmalamt Brno hatte das Gemälde „Römische Szene um einen Kalkofen“ von Pieter van Laer an das WallrafRichartz-Museum in Köln für die Ausstellung „I bamboccianti“ 44 ausgeliehen. Prinz Hans-Adam II verlangte als Eigentümer Herausgabe und machte geltend, das Gemälde sei nach dem Zweiten Weltkrieg rechtswidrig als deutsches Feindvermögen unter Benesch-Dekret Nr. 12 durch die Tschechoslowakei enteignet worden. Obwohl das persönliche Eigentum des Staatsoberhauptes des Fürstentums Liechtensteins unter keinem denkbaren Gesichtspunkt als im Ausland belegenes Vermögen eines Deutschen gelten und damit für Reparationsenteignungen herhalten konnte, entschieden sämtliche der befassten deutschen Gerichte einschließlich des Bundesverfassungsgerichts, dass Ansprüche im Zusammenhang mit Reparationsenteignungen nach dem Überleitungsvertrag 45 vor deutschen Gerichten nicht klagbar seien. Der EGMR erklärte diese Beschränkung des Justizanspruchs mit Art. 6 Abs. 1 EMRK für vereinbar und hielt dabei für abwägungsrelevant, dass sich die Möglichkeit zur Klage für Prinz Hans-Adam II vor deutschen Gerichten nur zufällig durch die Leihe ergeben habe und die Streitigkeit damit nur geringe Verbindung zu Deutschland aufweise.46 Diese ratio lässt sich unmittelbar auf ausländische Leihgaben insgesamt übertragen – soweit die Leihgabe nicht über die vorübergehende Belegenheit in Deutschland hinaus weitere Verbindungen zu Deutschland hat, wie dies natürlich z.B. für jedes Kunstwerk der Fall ist, das durch nationalsozialistische Verfolgung entzogen wurde. Ist dies nicht der Fall, kommt es nur noch darauf an, ob der mit dem Ausschluss der Klagbarkeit verfolgte Zweck des internationalen Kulturaustauschs auch unter der EMRK als legitimer Zweck anzuerkennen ist. Dies wird man erwarten dürfen.
BGH, Beschl. v. 25.9.1997, Az: II ZR 213/96; OLG Köln 22. Zivilsenat, 9.7.1996, Az: 22 U 215/95. 44 Levine/Mai (Hrsg.), I bamboccianti – Niederländische Malerrebellen im Rom des Barock, Mailand 1991. 45 Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen in der Fassung der Bekanntmachung vom 30.3.1955, BGBl. II 1955, 405, Teil 6 Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3. Fortgeltung aufgrund des Vertrags über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland vom 12.9.1990 (BGBl. II 1990, 1318) Art. 7 Abs. 1 und Abs. 2. 46 EGMR, aaO, Tz. 67 f.: „For the applicant, the possibility of instituting proceedings in the Federal Republic of Germany to challenge the validity and lawfulness of the expropriation measures (…) was a remote and unlikely prospect“, daher lediglich „fortuitous connection between the factual basis of the applicant’s claim and German jurisdiction“.
Die rechtsverbindliche Rückgabezusage
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X. Schluss Die rechtsverbindliche Rückgabezusage wirft eine Fülle wenig aufgearbeiteter Fragen an Schnittpunkten des Kunst- und Kulturrechts mit dem Zivilverfahrensrecht, Verwaltungsverfahrensrecht, Völker- und Europarecht und dem Verfassungsrecht auf und berührt das Wirtschaftsrecht, wenn es um Spitzenwerke für blockbuster-Ausstellungen mit Gewinnerzielungsabsicht und den Vollstreckungszugriff auf Leihgaben geht. Mit der Forderung nach Zugang der Weltgesellschaft zu Kulturgütern jenseits ungelöster Streitigkeiten und politischer Spannungen, die sich in der weltweit zunehmenden Zahl von Gesetzen zum Freien Geleit von Kunstleihgaben widerspiegelt, vollzieht das Kunst- und Kulturrecht einen weiteren Schritt von der komplexen Querschnittsmaterie zur Spezialdisziplin des Rechts mit eigenständiger Wertungsgrundlage, die zum Ausgleich mit widerstreitenden Wertungen wie derjenigen des Zugangs zu effektivem Rechtsschutz drängt. Es ist nicht zuletzt dem Engagement des Jubilars zu danken, dass sich nicht nur im anglo-amerikanischen Rechtsraum, sondern auch in Deutschland das Kunstund Kulturrecht fortentwickelt.
Renaissance der Religion im Fadenkreuz der Säkularisierung? Friedrich Graf von Westphalen
Der verehrte Jubilar zeichnet sich nicht nur als glänzender Jurist aus. Viel spannender ist es in der Regel, mit ihm über philosophische und auch theologische Themen zu debattieren. Selten hat der Verfasser dieses Beitrags, der die gleichen Neigungen wie der Jubilar zu seinen Vorlieben zählt, einen kundigeren Gesprächspartner gefunden, was angesichts der unterschiedlichen Konfessionen auch noch den Reiz des Ökumenischen einschließt. Da lag die Versuchung nahe, nicht auf das weite, oft bestellte – gemeinsame – Feld des Zivilrechts auszuweichen, um den Jubilar angemessen zu ehren, sondern den Versuch zu wagen, den Gesprächsfaden auf dem Terrain des PhilosophischTheologischen auszubreiten, natürlich mit dem Vorbehalt des Laien, was der Jubilar – dessen bin ich sicher – mit einem milden Lächeln verzeihen wird.
I. Eine (gegenläufige, aber notwendige) Vorbemerkung: Der Buchmarkt Ob in der Tat von einer „Renaissance der Religion“, des Christentums mithin, des Glaubens an Gott, überhaupt redlicherweise gesprochen werden darf, ist schon im Ansatz sehr zweifelhaft. Die Fakten scheinen eine deutliche andere Sprache zu sprechen. Im Buchmarkt, in dem sich stets der „Zeitgeist“ unmittelbar widerspiegelt, trifft man leicht auf gegenläufige Indizien. Es ist von der „Wiederkehr des Atheismus“ die Rede 1. Der „Spiegel“ veröffentlichte im letzten Jahr genau unter diesem Titel seine Hauptstory: „Gott ist an allem schuld“.2 Demgegenüber scheint der Besteller von Manfred Lütz mit dem Titel „Gott – eine kleine Geschichte des Größten“ 3 fast ein wenig auf verlorenem Posten zu stehen, obwohl kein anderer als der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau vor einigen Jahren ihm zur Seite zu springen schien. 1
Striet Wiederkehr des Atheismus – Fluch oder Segen für die Theologie, Freiburg 2008. Nr. 22/2007; vgl. auch Schärtl Neuer Atheismus, in: Stimmen der Zeit, Nr. 3/2008, S. 147 ff.; ferner Kessler Das Konzept Gott – warum wir es nicht brauchen (Burkhard Müller) – Auseinandersetzung mit einem respektablen Atheismus, in: Augustin/Krämer (Hrsg.), Gott denken und bezeugen, Freiburg 2008, S. 512 ff. 3 Lütz Gott, München 2007. 2
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Von ihm stammt eine bemerkenswerte Schrift, die der „Zukunft der Religionen“ gewidmet ist.4 Doch erst kürzlich hat sich der Verfassungsrichter Udo di Fabio in einem höchst lesenswerten Buch dem Thema „Religion“ – nicht nur aus der juristischen Perspektive – zugewandt 5, während der bekannte Soziologe Ulrich Beck fast gleichzeitig dem „eigenen Gott“ eine umfassende Analyse gewidmet hat, um „Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen“ unter die Lupe zu nehmen6. Doch erreicht er damit kaum die Tiefenschärfe des vom Philosophen Hans Joas vor Jahresfrist herausgegebenen, von verschiedenen Religionsfachleuten verantworteten Sammelbandes „Säkularisierung und Weltreligionen“ 7. Aber Religion und Recht liegen gerade im Zeichen einer möglichen „Renaissance der Religion“ und einer wohl stets gegenläufig hierzu zu verstehenden „Säkularisierung“ auf das engste zusammen. Denn immer geht es der einen wie der anderen Disziplin um den Menschen, um die Errichtung einer mehr oder weniger friedlichen und gerechten Ordnung von Staat und Gesellschaft, die – das ist der springende Punkt – um des Menschen und seines Heiles willen zu gestalten ist 8. Schärfer formuliert: Es geht in Staat und Gesellschaft – und da berührt das Recht die Sphäre der Religion – schlechthin um das „Bild des Menschen im Recht“ 9. Denn keine Frage, so sagte es seinerzeit Gustav Radbruch, ist für eine Rechtskultur so entscheidend wie die Frage nach dem „Bild vom Menschen im Recht“, das den normativen Regeln staatlicher Gesetzgebung zugrunde liegt, anknüpfend an das staatliche Gewaltmonopol im Fall ihrer Missachtung. Und daran schließt sich sogleich die wohl alles entscheidende Frage an: Ist dieses Bild nur durch die Konturen umschrieben, die sich aus der Geltung des blanken Positivismus des Rechts herleiten lassen, weil eben nur das demokratische Mehrheitsprinzip Maß gibt, allenfalls noch verankert in einem Humanismus ohne Gott?10 Oder sind in diesem Bild auch Wesenszüge erkennbar, die entsprechend dem christlichen Welt- und Menschenbild auf einen Schöpfergott 11 verbindlich, d.h. normativ verweisen und damit dem Mehrheitsprinzip Grenzen setzen12? 4 5
Rau Zukunft der Religionen, Frankfurt 2003. Di Fabio Gewissen, Glaube, Religion – wandelt sich die Religionsfreiheit?, Berlin
2008. 6
Beck Der eigene Gott, Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen“, Berlin
2008. 7
Joas/Wiegandt Säkularisierung und die Weltreligionen, 2. Aufl., Frankfurt 2007. Vgl. Reder/Schmidt Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, Eine Diskussion mit Jürgen Habermas Frankfurt 2008. 9 Radbruch Der Mensch im Recht, Göttingen 1957, S. 15. 10 Hierzu wohl immer noch grundlegend de Lubac Die Tragödie des Humanismus ohne Gott – Nietzsche, Feuerbach, Comte und Dostojewski als Prophet, Salzburg 1950. 11 Vgl. Kehl Und Gott sah, dass es gut war, Eine Theologie der Schöpfung, Freiburg 2005. 8
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II. „Gottesebenbildlichkeit“ – Dawkins „Gotteswahn“ 1. Skizze der Gedanken Dawkins Denn könnte man Letzteres unter Beweis stellen, dass also die Werte des Christlichen, der christlichen Religion wieder Teil des „Bildes vom Menschen im Recht“ (Radbruch) geworden sind, dann wäre damit zumindest in einem wichtigen Teilgebiet die Frage nach einer „Renaissance der Religion“ wohl untermauert. Di Fabio hat wohl uneinholbar Recht, wenn er bemerkt, dass die „religiöse Quelle“ des Menschenbildes nicht nur auf die „Gottesebenbildlichkeit“ verweist, sondern damit auch die „Gemeinschaft der Gattung Mensch mit Gott“ in den Blick nimmt „und die Liebe zu Gott in der Liebe zu jedem, der der Gattung zugehörig ist, sichtbar“ werden lässt.13 Damit ist, so Di Fabio, der „Quellcode“ angesprochen, der den „Bauplan von Würde, Freiheit und Vernunft“ des Menschen umschließt.14 Doch – ganz im Sinn des „Zeitgeistes“ – ist es wichtig, sogleich die Gedanken von Richard Dawkins wenigstens zu streifen, die sich in seinem im vorletzten Jahr erschienen Bestseller „Gotteswahn“15 wiederfinden16. Denn ganz und gar unabweisbar steht seitdem die Frage im Mittelpunkt: Wer ist eigentlich dieser Gott, zu dem die Christen beten? 17 Wer aber – wie Dawkins – von einem „Gotteswahn“ spricht und diesen allen Christen rundweg attestiert, der macht eine recht einfache Gleichung auf: Wer – ausgehend von dem Begriff „Wahn“ – allein seine eigenen, subjektiven Einbildungen für objektiv wahr hält, der ist in der gängigen Terminologie schlicht geisteskrank. Wenn hingegen ein ganzes Kollektiv, wie dies die gläubigen Christen tun, einen „Wahn“ als richtig und für das eigene Leben verbindlich einschätzt, dann nennt man dies, so kann man die Gedanken von Dawkins auf den Punkt bringen, „Religion“18. Daher liegt für Dawkins auch die Folgerung auf der Hand: Alle metaphysischen Voraussetzungen, auf denen das Gebäude der Religion – vor allem das der christlichen – aufruht, sind unbegründet und auch unbegründbar,
12 Von seinem strikt normativ-theologischen Ansatz beeindruckend Schockenhoff Grundlegung der Ethik – ein theologischer Entwurf, Freiburg 2007. 13 Di Fabio aaO, S. 55. 14 Ebenda. 15 Dawkins, Gotteswahn, Berlin 2007. 16 Hierzu aus der reichhaltigen Literatur nur ansatzweise für dieses Thema: Graf Der „liebe Gott“ als blutrünstiges Ungeheuer: Richard Dawkins und Christopher Hitchens – ein biologischer Hassprediger und ein liberaler Skeptiker greifen in ihren Büchern Gott an, in: Striet, Wiederkehr des Atheismus, Freiburg 2008, S. 21 ff.; Schärtl Neuer Atheismus, in: Stimmen der Zeit Nr. 2/2008, S. 147 ff. 17 Schärtl aaO, S. 152. 18 Graf aaO, S. 23.
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angefangen von der Unmöglichkeit, die Existenz Gottes zu beweisen bis zu den angeblichen Phänomenen der Auferstehung und der jungfräulichen Geburt Jesu. Der Gedanke an einen Schöpfergott wird in dieser Sicht schlicht als absurd zurückgewiesen,19 weil – im Gegenteil – naturwissenschaftlich fundierte Theorien offenbar hinreichend in der Lage sind, selbst die Kontingenz des Anfangs menschlichen Lebens ausreichend plausibel zu erklären. Gott wird in dieser naturwissenschaftlich-evolutionistischen Perspektive überflüssig. Mehr noch: Der Glaube an Gott ist infantil und bietet nur dies: Blanke Überlebensvorteile sind es, die sich aus bestimmten Funktionen des „Christlichen“ – eben: den Tugenden – ableiten lassen. Mitleid, Barmherzigkeit, Trost, Liebe, Krisenbewältigung eben schaffen den so Handelnden Vorteile und Abhängigkeiten zu denjenigen, die diese „christlichen“ Haltungen an sich erfahren haben. In dieser Binnensicht wird so ein überhöhtes Stammesbewusstsein geschaffen, das verbindet. Das Alte Testament enthält, so sagt uns Dawkins, nur das Bild eines Gottes, der ein Chauvinist, ein Rächer, ein Rassist ist, der in menschlichen Kategorien gewertet Charakterstörungen aufweist.20 Aus dem Neuen Testament schlägt uns nicht das Gebot der Nächsten- und das der Feindesliebe entgegen, getragen und geprägt auch durch die Seligpreisungen und die Werke der geistigen und leiblichen Barmherzigkeit. Vielmehr ist es vor allem eine Leibfeindlichkeit, die auszumachen ist. Angst wird verbreitet, Angst vor Sünde und ewigem Tod.21 Vor allem aber – das ist sicherlich einer der wahren Gründe, die den Leseerfolg des Buches „Gotteswahn“ ausmachen: Alle erdenklichen Verbrechen sind angeblich von Menschen im Namen Gottes verübt worden, von den Religionskriegen bis zur Inquisition22, von der Frauenfeindlichkeit bis hin zu den Fällen sexuellen Missbrauchs durch Priester. Die Schlussfolgerung 23 ist scheinbar unausweichlich: Wer gleichwohl noch Christ ist und sich öffentlich zu seinem Glauben bekennt und diesen auch noch praktiziert, leidet eben an einem „Wahn“ und ist schlicht irrsinnig. Anders gewendet und gegenläufig argumentiert: Der biologische Fortschritt der Menschheit besteht darin, dass – folgt man Dawkins – alle Religion abgeschafft wird; sie ist ja ohnedies nur ein „Wahn“, eine „Projektion“ 24 eben.
19 Zur vertiefenden gegenteiligen Lektüre Küng Der Anfang aller Dinge, 3. Aufl., München 2007, S. 102 ff.; speziell auch Kreiner Gott als Designer? Kreationismus, Intelligent Design, Darwinismus, in: Augustin/Krämer, aaO, S. 542 ff. 20 Dawkins S. 237 ff. 21 Dawkins S. 250 ff. 22 Dawkins S. 279 ff. 23 Gegen diese immer wieder vorgebrachten Angriffe sei die Lektüre des umfangreichen Buchs von Angenendt Toleranz und Gewalt, Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, 3. Aufl., Münster 2007, sehr empfohlen. 24 Striet in: Striet, aaO, S. 104.
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2. Ansatzpunkte einer Widerlegung Es wäre vermessen, hier eine Widerlegung der Gedanken von Dawkins zu versuchen. Das wäre ersichtlich außerhalb der Kompetenz des Verfassers. Doch zwei Einwände seien vorgetragen: Ein klarstellender: Der Kurienkardinal Walter Kasper hat schon in seiner Habilitationsschrift „Der Gott Jesu Christi“ nachgewiesen, dass naturwissenschaftliche und theologische Aussagen auf zwei unterschiedlichen Ebenen liegen, weil Gott eben „per definitionem keine weltliche Größe neben anderen weltlichen Größen“ ist 25. Wäre dies anders, so folgert Kasper, dann wäre Gott ein „begrenztes endliches Wesen“ und „durch die Welt begrenzt“.26 Nimmt man diese Aussage zum Nennwert, dann steht die Anerkennung der „Absolutheit Gottes“ der im Kern nur naturwissenschaftlich formulierten These von Dawkins entgegen, zumal diese Sicht dazu beigetragen hat, im wahrsten Sinn des Wortes die Vorstellung eines Gottes zu begraben27. Daran schließt sich eine Frage an, die notwendigerweise nicht allgemein, sondern als zentrale und fundamentale Sinnfrage nur von jedem einzelnen selbst beantwortet werden kann: Bleibt nicht doch – trotz allen angeblichen „Gotteswahns“ – die Sehnsucht des Menschen, eines jeden Menschen als Frage der Sehnsucht nach Gott, weil eben nur ein Gott in der Lage ist, letzte Fragen des Menschen, denen er nicht entrinnen kann, zu beantworten? Es ist die Frage nach dem: Wer bin ich? Woher komme ich? Und wohin gehe ich? Wenn aber in der Tat für eine zureichende Antwort auf diese Sinnfragen eines jeden Menschen für den Christen jene Instanz existiert, die wir „Gott“ nennen, dann, aber auch nur dann, ist die Hoffnung berechtigt, dass ein sinnerfülltes Leben doch – außerhalb von „Wahn“ und Projektion – durchaus möglich ist, gefüllt und getragen auch von einer „Sehnsucht nach Glück“28. Mehr noch, dann zielt diese Sinnfrage auch auf Hoffnung, dass nämlich mit dem Tod nicht alles vorbei und beendet ist 29. Die Christen wagen es nämlich, diese Frage mit ihrem Glauben und in ihrer Hoffnung mit einem deutlichen „ja“ für sich und die Welt zu beantworten.30 Und sie wagen es auch, ihr eigenes Leben – wenngleich oft sehr bruchstückhaft und mit Sünde und Schuld beladen – nach den Verheißungen der Bibel auszurichten, abseits aller gegenläufigen Erfahrungen und Anfechtungen der Gegenwart, des „Zeitgeistes“ und des abweisenden Urteils der Zeitgenossen. 25
Kasper Der Gott Jesu Christi, 3. Aufl., Mainz 1995, S. 40. AaO, S. 41. 27 Hierzu instruktiv und mutig Lennox Hat die Wissenschaft Gott begraben?, 7. Aufl., Wuppertal 2007. 28 Wegweisend wohl Johannes Paul II Sehnsucht nach Glück, Freiburg 2003. 29 Kessler in: Striet, aaO, S. 74. 30 Hierzu im Einzelnen Benedikt XVI Enzyklika Spe Salvi, Über die christliche Hoffnung, Kisslegg 2008. 26
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III. Das entchristlichte Umfeld 1. Abseits der Zahlenmystik Die religiöse Lage ist – selbst im Kontext der europäischen Staaten – nicht einfach zu beschreiben.31 Feststeht jedenfalls, dass die neuen Bundesländer das Land sind, gefolgt von Tschechien und Skandinavien, das religiös am „unmusikalischsten“ ist: Nur ein Viertel glaubt in durchaus diffuser Form, wie hinzuzusetzen ist, noch an Gott 32; die Mehrheit bezeichnet sich selbst als „atheistisch“. Kein Indikator ist – per Saldo – so drastisch wie die gesunkenen Zahlen, die die Kirchenbesucher ausmachen: Es sind – ausgenommen Ostdeutschland und Skandinavien – in der Regel weniger als 20 % 33. Der Besuch der Moscheen liegt demgegenüber bei etwa 40 %.34 Der Prozess der Säkularisierung ist damit ins Bild gesetzt. Es ist ein langsam, aber stetig sich vollziehender Niedergang. Besonders drastisch schlägt er sich darin nieder, dass es offenbar der Generation der heutigen „Rentner“ nicht gelungen ist, den früher von ihnen mehr oder weniger fraglos akzeptierten und auch praktizierten Glauben an die nachwachsende Generation weiterzugeben. Denn vor allem in den Niederlangen (43 %) und in Großbritannien (33 %) sowie in Frankreich (31%) erklären die Erwachsenen ohne Anflug von Reue, sie hätten in der Zwischenzeit ihren Kinderglauben verloren.35 Und in Ostdeutschland und in Tschechien ist bereits die zweite Generation ohne Glaubens- und Kirchenbindung aufgewachsen (48 %/33 %).36 Ein etwas klareres, weil konturenschärferes Bild liefert der von der Bertelsmann-Stiftung durchgeführte Religionsmonitor. Ihm liegen 21.000 Befragungen zugrunde. Gefragt wurde nach dem „Interesse an religiösen Themen“, nach dem „Glauben an Gott oder etwas Göttliches“, nach der „öffentlichen und privaten religiösen Praxis“, aber auch nach „religiösen Erfahrungen“ und der „allgemeinen Alltagsrelevanz von Religion“ 37. Auf dieser Basis ist festgestellt worden: In Marokko etwa glauben 99 % an Gott sowie an ein Leben nach dem Tod. Diese Auffassung teilen 90 % der Türken, Brasilianer und Nigerianer. In hochreligiösen Ländern wie Nigeria und Guatemala beten die jungen Erwachsenen mindestens einmal am Tag, in Marokko und Indien beten drei von vier der Befragten täglich. In Europa ist das Gebetsleben bei der Jugend praktisch zum Erliegen gekommen; in Frankreich betet nur noch ein Prozent der Jugendlichen, in Russland sind es immerhin acht Prozent und in Österreich sieben. 31 32 33 34 35 36 37
Hierzu Casanova in: Joas/Wiegandt, Säkularisierung und Weltreligionen, S. 322 ff. Casanova aaO, S. 324. Casanova aaO, S. 326 f. Casanova aaO, S. 327. Casanova aaO, S. 328. Casanova ebenda. www.religionsmonitor.de
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Das Fazit: Auch wenn – global bewertet – 85 % der jungen Erwachsenen sich als „religiös“ einstufen und immerhin fast die Hälfte als „hochreligiös“, so führt doch kein Weg an der Feststellung vorbei, dass die Jugend in Europa „säkularisiert“ ist. Der Unterschied zu der Generation der Erwachsenen und der dort praktizierten Religiosität ist gerade auch unter Beachtung dieser Zahlen auffallend; die Weitergabe des Glaubens von den Eltern an ihre Kinder ist in Europa offenbar gescheitert. Dies steht in einem eklatanten Unterschied zu den USA. Sowohl bei den Erwachsenen als auch bei den Jugendlichen finden sich in Amerika „weitaus mehr religiöse Menschen als in den meisten anderen westlichen Ländern“.38 Und 57% der jungen Amerikaner sagen, dass sie täglich beten.39 2. Der Weltjugendtag in Köln Doch auch das deckt sich wiederum mit den soziologischen Befunden, die im Anschluss an den Kölner Weltjugendtag 2005 erhoben worden sind 40. Sieht man nämlich von der Einstellung der mehr oder weniger traditionalistisch geprägten Jugendgruppen ab, dann ist das Bild keineswegs katholischkirchlich, sondern in hohem Maße diffus. Denn die zentrale These lautet: Es gibt „die“ katholische Jugend nicht; vielmehr ist ihre „religiöse Haltung“ geprägt von „einer „selbstverständlichen Souveränität“ gegenüber Hierarchie und Lehramt“.41 Mehr als 40 % der befragten Jugendlichen schätzten aber ihr Verhältnis zur Kirche als durchaus positiv ein. Die Kirche gibt also durchaus diesen Jugendlichen noch Orientierung, aber sie entscheiden letztlich – vor allem auf dem Feld der Sexualmoral – lieber selbst, welchen Weg sie gehen wollen 42.
IV. Tendenzen der Säkularisierung: Individualismus – Pluralismus 1. Als gesellschaftliches Phänomen Schon diese kurzen Striche lassen das Bild erkennen, dass in vielen Ländern Europas, auch in Deutschland „Religion im Sinn einer Kette kollektiven Gedächtnisses im Verschwinden“ begriffen ist 43. Das Umfeld des Bürgers ist 38
Ebenda S. 2 f. Instruktiv Joas in: Joas/Wiegandt, aaO, S. 358 ff. – 94 % der Befragten bejahen die Frage, dass sie an Gott glauben, S. 360 f. 40 Gebhardt Weltjugendtage – Religion als Abenteuer, Stimmen der Zeit Nr. 7/2008 S. 435 ff. 41 Gebhardt S. 435, 438. 42 Gebhardt S. 435, 440. 43 Casanova aaO S. 328 f. 39
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weithin säkularisiert und entchristlicht. Geprägt ist es nachhaltig von einer zunehmenden Individualisierung 44 und einer sich steigernden Pluralisierung 45 aller Wertvorstellungen. Es ist aber auch und nicht zuletzt der Verfall der ethischen und der in der christlichen Religion verankerten Werte, der uns hier begegnet 46. Denn da, wo das Individuum nur noch sich selbst verantwortlich ist, wo es kein oben und auch kein unten – keinen Gott und auch keinen Teufel – gibt, weil der moderne Mensch vor allem aus seinen Erfahrungen lebt 47 und weder Instanz noch Autorität außerhalb seiner selbst anzuerkennen bereit ist, da wird der Pluralismus zum Codewort der Moderne. Einem jeden Menschen steht dann das gleiche Recht zu, nur nach seinem eigenen Gutdünken die zuvor apostrophierten Sinnfragen zu beantworten. Letzte Verbindlichkeiten gibt es in dieser Sicht nicht mehr. Vielmehr herrscht nach wie vor die von Arnold Gehlen schon vor Jahrzehnten beschworene „Geneigtheit zum Wegsehen“ 48. Es gibt eben, wie könnte es anders sein, eine „gehörige Toleranzbreite der Konzessionen“ 49, die sich mit einer „Daseinsgefräßigkeit“ – dem blindwütigen Konsum – paart 50. Kein Geringerer als der große Mann der deutschen Psychologen, Horst-Eberhard Richter, hat diese Entwicklung kürzlich in seinem Buch über „Das Ende der Egomanie“ auf den Punkt gebracht: „Wenn man nicht mehr weiß, vor welcher Instanz man noch verantwortlich ist außer vor dem eigenen Ego, dann glaubt man sich natürlich frei zu allem und jedem. Und die Ängste und Schuldgefühle, die trotzdem auftauchen, die tut man als Infantilismus oder GutmenschenKitsch ab oder delegiert sie an die Praxis der Psychotherapeuten“.51 Diese Individualisierung und Pluralisierung begegnet uns heute auf Schritt und Tritt. Beide Phänomene charakterisieren die Lebensrealität schlechthin, auch wenn Richter meint, das „Ende der Egomanie“ konstatieren zu können, gipfelnd in einem Appell, dass nämlich „vor dem anderen das Ich unendlich verantwortlich“ ist 52. Doch im Bereich von Ehe und Familie ist diese Entwicklung nach wie vor überdeutlich zu sehen: Die Partnerschaft auf Zeit hat 44 Hierzu immer noch instruktiv von seinem demographischen Ansatz Miegel/Wahl Das Ende des Individuums, 2. Aufl. Bonn 1994. 45 Vgl. Koch Die Gottesfrage in Gesellschaft und Kirche, in: Augustin/Krämer (Hrsg.), Gott denken und bezeugen, Freiburg 2008, S. 481 ff. 46 Grundlegend Ratzinger Werte in Zeiten des Umbruchs, Freiburg 2005; vgl. auch Pera/Ratzinger Ohne Wurzeln – Der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur, Augsburg 2005; Girard/Vattimo Christentum und Relativismus, Freiburg 2008. 47 Hierzu Freudinger/Graeser/Petrus (Hrsg.), Der Begriff der Erfahrung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, München 1996; dort: Graeser Erfahrung und Ethik – Ethik und Erfahrung, S. 199 ff. 48 Gehlen Moral und Hypermoral, Frankfurt 1970, S. 41. 49 Ebenda. 50 Ebenda S. 143. 51 Richter Das Ende der Egomanie, München 2003, S. 235. 52 Ebenda S. 236 ff.
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inzwischen ihre Legalität erfahren, welche die substantiellen Unterschiede zur Ehe weitgehend eingeebnet hat. Die Homosexuellen-Ehe ist ebenso anerkannt wie die Verbindung von Lesben. Aber da Ehe weithin nur noch als ein „Prozess“ betrachtet wird, nicht mehr aber als eine lebenslange bindende Verpflichtung, ist es nahe liegend: Prozesse können beendet werden: Mittlerweile wird fast jede dritte Ehe geschieden; etwa 130.000 sind es pro Jahr. Die Patchwork-Familie der oft mehrmals verheirateten Ehegatten ist Wirklichkeit geworden; gleichzeitig ist das oft sehr bittere Schicksal der Alleinerziehenden harte Realität. Dass Ehe einmal als ein Institut galt, das dem Willen der Parteien im Blick auf eine Scheidung weithin entzogen war, weil das Dogma der Unauflöslichkeit der Ehe anerkannt und auch – oft sicherlich mehr recht als schlecht – gelebt wurde, das ist uns Heutigen als Lebensplan völlig fremd geworden. Denn die Ehe ist ein schlichter Vertrag, der dann gekündigt werden kann, wenn es denn so weit gekommen ist, dass die Eheleute sich trennen und den Scheidungsrichter bemühen. Die Ehe ist inzwischen ein überaus brüchiges „Projekt“ geworden, das nur noch auf Zeit und auf Widerruf Geltung beansprucht, aber in jedem Fall vom änderbaren, aber dann auch jeweils zu beachtenden Willen der beteiligten Ehegatten abhängt. Die Kinder haben das Nachsehen und zahlen die Zeche. 2. Als philosophisches Phänomen Pluralität – und auf einer anderen Ebene auch Individualisierung – sind aber auch in der Philosophie – und zu einem Gutteil auch in der Theologie – die einzige Basis, das Ganze der (pluralen) Wirklichkeit noch erfassen zu können, weil mittlerweile überaus vielfältige Religionsangebote – reichend bis zur Esoterik – den Alltag des Menschen beherrschen. Nicht mehr der Anspruch auf Wahrheit, dass eben eine Religion auch den unabweisbaren Anspruch erhebt, die „Wahrheit“ zu verkünden, steht im Bewusstsein. Letztgültige Verbindlichkeiten, die den Einzelnen auch in die Pflicht nehmen, stehen nicht mehr im Vordergrund, sondern der Toleranzbegriff herrscht. Er ist zur festen Dominante geworden; jede Unterscheidung, gar das Stellen der Frage nach „Wahrheit“ religiöser Bekenntnisse gerät sogleich in den Dunstkreis der Diskriminierung des je anderen53. Religionen, so wird uns Heutigen immer wieder zugerufen, sind eben alle gleichwichtig und auch gleichberechtigt. Ob Buddhismus, Esoterik, Atheismus oder christlicher Glaube – alles dies ist immer und überall gleich gültig. Sie alle leben mehr oder weniger im Schatten der Säkularisierung54 und jedes Individuum reklamiert dabei sein je
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Koch aaO, S. 483. Joas/Wiegandt Säkularisierung und die Weltreligionen, passim.
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eigenes Recht, seinen eigenen Glauben nach den Vorstellungen und Vorlieben zu formulieren und auch für das eigene Leben fruchtbar zu machen, wie dies dem je eigenen Gutdünken entspricht. Letzte Verbindlichkeiten, die Geltung für sich in Anspruch nehmen, jedenfalls sind nicht mehr erwünscht. Unausweichlich ist daher der christliche Glaube, wenn denn eine „Renaissance der Religion“ in der Tat Realität sein oder werden soll, vor die epochale Herausforderung gestellt, wie er angesichts dieses Relativismus von Glauben, Religiosität und Wertvorstellungen überhaupt noch mit Anspruch auf Gehör und Gefolgschaft von einer „Offenbarung Gottes“ sprechen kann, weil diese Selbstoffenbarung Gottes in seinem Sohn Jesus Christus natürlich für den gläubigen Christen wahr ist (und auch wahr sein muss) und damit letztgültigen Charakter als personales Zeugnis besitzt. So gesehen scheint es, dass es sich angesichts des Individualismus und des Pluralismus nicht nur um eine Krise der Kirchen handelt, sondern um eine Gotteskrise55. Es geht daher nicht primär im Rahmen einer wohlfeilen und allüberall auch geübten Kritik an der Kirche um die Abschaffung des Zölibats, um die gültige Wiederverheiratung Geschiedener, um ihre Zulassung zu den Sakramenten oder auch um den Primat des Papstes und schließlich im Blick auf eine doch wohl stagnierende Ökumene um Amt und Verständnis von Kirche und Sakrament. Vielmehr geht es, wenn denn eine „Renaissance der Religion“ gelingen soll, fundamental darum, dass es uns Heutigen als Christen so schwer fällt, uns genau das vorzustellen und mit der Gnade des Glaubens und des Gebets immer tiefer das Mysterium zu erfassen, was der Papst in seiner ersten Enzyklika in Worte gefasst hat, dass nämlich „Gott die Liebe ist“ 56, dass er ein liebender Gott der Geschichte, auch unserer je eigenen Geschichte ist – trotz aller Anfechtungen, die darauf zielen, warum denn ein gütiger und liebender Gott all das zulassen kann, was an Leid, Elend, Hunger, Sterben, Grausamkeit und dem Bösen im Menschen sich Bahn bricht.
V. Das demokratische Prinzip des Relativismus 1. Verlust der Haltepunkte Doch die aus den Grundgedanken des Individualismus und des Pluralismus resultierende Analyse muss noch ein wenig vertieft werden, um die gesellschaftliche Wirklichkeit noch mehr in den Blick zu nehmen. Es liegt ja auf der Hand, dass der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat auf dem
55 Koch in: Röser, Mehr Himmel wagen – Spurensuche in Gesellschaft, Kultur und Kirche, Freiburg 1999, S. 17. 56 Benedikt XVI Gott ist die Liebe, Freiburg 2006.
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Grundgedanken des Relativismus aufbaut,57 der nichts anderes ist als die Summe von Individualismus und Pluralismus. Es ist eben das Mehrheitsprinzip, welches Recht schafft, weil allein die Mehrheit in der Lage ist, ihren eigenen Willen durchzusetzen und die Gesetze zu formulieren, die ihren je eigenen Vorstellungen und Vorlieben entsprechen. Es geht dabei natürlich auch um Toleranz.58 Denn im Kontext von Pluralismus und Individualismus sind alle Vorlieben des einzelnen und auch seine Entscheidungen, wie er denn sein Leben zu führen gedenkt, ob strebsam, ob faul, ob dem Alkohol zugewandt, ob verheiratet, homosexuell oder schlicht konservativ private Lebensentscheidungen, die unter dem Gesichtswinkel der Toleranz hinzunehmen sind. Das alles (und noch viel mehr) geht niemanden etwas an. Es wäre ein blanker Verstoß gegen das allseits bindende Toleranzgebot. Das private Verhalten darf daher grundsätzlich auch nicht zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte werden, wenn es sich nicht um eine „Person der Zeitgeschichte“ handelt. Doch es darf nicht nur bei alledem um den Disput um so oder anders geprägte Lebensstile des einzelnen gehen. Denn diese individualistische und auch notwendigerweise pluralistische Sicht verdrängt die dahinter aufscheinende fundamentale Frage nach der Wahrheit, nach der zutreffenden Deutung der Welt, weil ja der Mensch als ein nach Sinn und Antwort strebendes Wesen nur „sinnorientiert“ 59 gedacht werden kann. An keiner Stelle wird dieser Zusammenhang so deutlich wie darin, dass das Naturrecht kaum noch einen Verfechter aufbieten kann. Es setzt ja einen Begriff von der Natur des Menschen voraus, von der Einsicht in seine wahre Natur, in sein Sein eben, aus dem ein Sollen im Rahmen der rechtlichen Ordnung folgte, weil Natur und Vernunft ineinander griffen und die Natur – vom Schöpfergott gegeben – auch selbst vernünftig war 60. Unter dem Druck der allein naturwissenschaftlich argumentierenden Evolutionstheorie ist diese Sicht weithin abhanden gekommen.61 Sicherlich, die geltende Verfassung setzt der Mehrheit und den von ihr beschlossenen Gesetzen strikte Grenzen. Es gibt – etwa verkörpert in dem Begriff der von jeder Staatsgewalt zu schützenden menschlichen Würde – quasi unverrückbare Bastionen, verankert in der so genannten „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG, der seinerseits auf Art. 1 GG – die zu schützende Würde der menschlichen Person – verweist. Doch was denn im Einzelfall die zu achtende menschliche Würde wirklich gebietet, das ist durchaus
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Hierzu vor allem auch Ratzinger Werte in Zeiten des Umbruchs, S. 41 ff. Di Fabio aaO S. 35 ff. 59 Vgl. di Fabio aaO, S. 38. 60 Vgl. Ratzinger aaO, S. 35. 61 Zum notwendigen Diskurs zwischen Naturwissenschaften und Religion Küng Am Anfang aller Dinge, 3. Aufl., München 2007. 58
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nicht unmittelbar einsichtig, weil es vom „Bild des Menschen“ im Recht abhängt. Der reine Positivismus einer Rechts- und Verfassungsordnung kann hier keine letzten Antworten bereit halten. Die Folgen der darin liegenden Auflösung naturrechtlichen Denkens sind rasch zu besichtigen. 2. Fundamentale Herausforderungen So stellt sich etwa bei der Stammzellenforschung, bei der Abtreibung, aber auch bei der gerade in letzter Zeit lebhaft diskutierten Frage nach den Grenzen der „Euthanasie“, angestoßen durch die Initiative des ehemaligen Hamburger Justizsenators Dr. Kusch, eine doppelte Frage: Gilt hier abschließend das demokratische Mehrheitsprinzip, das auch die Tötung des Embryos gestattet, weil dieser eben noch keinen sanktionierungsfähigen Anspruch auf Achtung seiner Würde gegenüber dem Staat reklamieren kann wie der geborene Mensch 62, weil die Würde der menschlichen nur ein prozesshaft sich entwickelnder Begriff ist? Oder gilt entsprechend den Vorstellungen der (katholischen) Kirche das vom Staat zu achtende Würdegebot uneingeschränkt von dem Zeitpunkt an, in welchem sich Same und Eizelle verbinden, das dann bis zum Hirntod zu beachten ist? Die hier zu erteilende Antwort zielt unmittelbar auf die Intensität des Schutzes menschlichen Lebens, das der freiheitliche Rechtsstaat um seiner selbst willen garantieren muss. Zwei Gedanken sollen helfen, das Gemeinte zu verdeutlichen. Das Recht steht im Zeichen von Relativismus und demokratischem Mehrheitsprinzip vor der alles entscheidenden Frage, ob es nämlich in den zuvor aufgezeigten Feldern den sich einem Schöpfergott verdankenden Menschen vor sich selbst – vor seinem Machtanspruch – schützen will und kann. Denn – so der Papst – der „Mensch ist imstande, Menschen zu machen, sie sozusagen im Reagenzglas zu produzieren. Der Mensch wird zum Produkt, und damit verändert sich das Verhältnis des Menschen zu sich selbst von Grund auf. Er ist nicht mehr ein Geschenk der Natur oder des Schöpfergottes; er ist sein eigenes Produkt“.63 3. Der Ansatz von Habermas/Ratzinger Kein Geringerer als der Philosoph Jürgen Habermas hat in seinem Buch „Die Zukunft der menschlichen Natur“ mit dem fragenden Untertitel „Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?“ diesen Zusammenhang aus seiner Sicht auf den Punkt gebracht: „Die restriktive Verwendung des Begriffs der Menschenwürde“, so sagt er, liefert die Schutzbedürftigkeit und die
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So vor allem Herdegen in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, München 2003, Art. 1 Rn. 48 ff. Ratzinger Werte in Zeiten des Umbruchs, S. 33.
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Schutzwürdigkeit des Embryos einer Güterabwägung aus, die die Tür zur Instrumentalisierung menschlichen Lebens und zur Aushöhlung des kategorischen Sinns moralischer Forderungen einen Spalt weit öffnet“ 64. Bezogen auf die Auswirkungen einer pränatalen Diagnostik meint Habermas, dass die „anthropologisch tief sitzende kategoriale Unterscheidung zwischen Subjektivem und Objektivem, Gewachsenem und Gemachten unscharf werden“ 65 könnte, weil ja nicht mehr die Eltern, sondern der Arzt als Dritter über Leben oder Tod sowie über die genetische Zusammensetzung der zu gebärenden Person abschließend entscheidet, was die Gattungsethik deswegen verletzt, weil wir es bislang im Rahmen der „sozialen Interaktion nur mit geborenen, nicht aber mit gemachten Personen“ zu tun hatten 66. Dass in diesem Kontext – auch aus der Sicht von Habermas – der Schöpfergott abgedankt hat, bezeichnet das Problem auf einer anderen Ebene. Doch genau um diese Frage geht es, wenn die Frage nach dem „Bild vom Menschen im Recht“ (Radbruch) erneut aufgeworfen wird. Der Papst – und dies soll das zweite Zitat sein – umschreibt diesen Befund wie folgt: „Es geht um die Frage, ob das Wirkliche auf Grund von Zufall und Notwendigkeit, also aus dem Vernunftlosen entstanden ist, ob mithin die Vernunft ein zufälliges Nebenprodukt des Unvernünftigen und im Ozean des Unvernünftigen letztlich auch bedeutungslos ist oder ob wahr bleibt, was die Grundüberzeugung des christlichen Glaubens und seiner Philosophie bildet: In principio erat verbum – am Anfang aller Dinge steht die schöpferische Kraft der Vernunft“67. Hier offenbart sich der Grunddissens unserer Zeit. Denn der andere Aspekt der hier zu beantwortende Frage betrifft die Grundformel von Böckenförde, wonach der Staat aus moralischen und sittlichen Werten lebt, die er selbst weder garantieren noch schaffen kann. Damit ist unwiderruflich das Mehrheitsprinzip umschrieben, weil danach der Staat nur der Notar ist, der die Wertevorstellungen reflektiert, die in der Gesellschaft nachhaltig Anspruch auf Schutz durch staatliche Gesetze erheben. Das ist in seiner Substanz inzwischen wenig mehr als der von Robert Spaemann in die Debatte eingeführte Begriff des „banalen Nihilismus“68. Mehrheiten können sich eben irren. Das 20. Jahrhundert mit den fürchterlichen Erfahrungen von zwei Weltkriegen und dem Totalitarismus sowohl im Namen des Nationalsozialismus als auch des Kommunismus belegt diese These zur Genüge. Mehrheiten garantieren keineswegs, dass die Menschenrechte geachtet und dass das
64 Habermas Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt 2001, S. 70. 65 Habermas aaO, S. 121. 66 Habermas aaO, S. 112. 67 Ratzinger in: Ratzinger/Flores d’Arcais, Gibt es Gott? Berlin 2006, S. 16 f. 68 Zitiert nach Ratzinger Werte in Zeiten des Umbruchs, Freiburg 2005, S. 43.
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respektiert wird, was man fundamental mit der Würde des Menschen umschreibt 69. Guantanamo und der völkerrechtswidrige Irak-Krieg sind dafür Beleg ebenso wie der allgemeine Skandal von Hunger und Elend in zahlreichen Ländern der Welt, die ungerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen eingeschlossen. 4. Die neue Rolle der Religion Dahinter steht ein weiterer Gedanke von Habermas. Er hat mit Recht beklagt, dass sich „der Riss zwischen Weltwissen und Offenbarungswissen nicht wieder kitten“ lässt.70 Und er fordert anzuerkennen, dass „religiöse Äußerungen zur Klärung kontroverser Grundsatzfragen einen sinnvollen Beitrag leisten können“.71 Mehr noch: Der „liberale Staat muss auch von seinen säkularen Bürgern erwarten, dass sie in ihrer Rolle als Staatsbürger religiöse Äußerungen nicht schlechthin für irrational halten“.72 Dieser Ansatz trifft sich im Kern mit einer weiteren Bemerkung des Papstes: „Institutionen“, so sagt er, „können nicht halten und nicht wirken ohne gemeinsame sittliche Überzeugungen. Diese aber können aus bloß empirischer Vernunft nicht kommen“.73 Und er trifft sich auch mit einer daran anschließenden Bemerkung von di Fabio: Es geht darum, den Kirchen „besonders zuzuhören“, weil sie mit ihrem „Glauben und der biblischen Erfahrung ein Rationalitätsspeicher eigener Art“ 74 sind. Ulrich Beck steigert diesen Gedanken noch. Er sieht die Religionen als „Legitimationsressourcen im Kampf für die Würde des Humanen in einer sich selbstgefährdenden Zivilisation“.75 Und am Schluss stellt er die bange Frage, wer denn sonst – wenn nicht die Kirchen und die Religionen – könnten die „blutige und wütige Gewaltverliebtheit der Fundamentalisten“ stoppen.76 Wenn also auf der Ebene von Staat und Gesellschaft das „Bewusstsein von dem, was fehlt“ 77 vorhanden ist und sich langsam auszubreiten begonnen hat, dann deutet diese Entwicklung erkennbar darauf hin, dass der freiheitliche Rechtsstaat eine „religio civils“ benötigt, um eben diese „sittlichen Überzeugungen“ 78 als gemeinsame Basis zu schaffen. Dann hat auch di Fabio Recht, wenn er anmerkt, die „religiöse Verankerung der kulturellen Lebens69 70 71 72 73 74 75 76 77 78
Hierzu einprägsam Ratzinger aaO, S. 56 ff. Habermas Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, Frankfurt 2008, S. 28. Habermas aaO, S. 34. Ebenda. Ratzinger Werte in Zeiten des Umbruchs, aaO, S. 47. Di Fabio aaO, S. 45. Beck Der eigene Gott, aaO, S. 247. Beck aaO, S. 249. Habermas aaO. Ratzinger aaO.
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welt ein unentbehrliches Grundgerüst des Humanum darstellt“.79 Doch gilt sogleich die Mahnung, dass nach allen geschichtlichen Erfahrungen „Lebendiges nur von Lebendigem kommen kann“.80 Es geht eben, wie der lange schon verstorbene französische Theologe und Philosoph Henri de Lubac schreibt, um den „Kampf der Geister“ 81, weil „jedes Zeitalter den Ansturm des Unglaubens sich erneuern sieht“ 82. 5. Die Frage nach der Wahrheit Bei aller gebotenen Toleranz wird man die Frage nach der Wahrheit genauso wenig verdrängen dürfen wie den Hinweis zu unterlassen, dass die Muslime ihre religiöse Überzeugung in der Regel mit mehr Kraft und Engagement vertreten als die überwiegende Mehrzahl der Christen. Mahnend ist den Christen eine Sentenz aus der Regensburger Rede des Papstes entgegenzuhalten: „Eine Vernunft, die dem Göttlichen gegenüber taub ist und Religion in den Bereich der Subkulturen abdrängt“, ist zum Dialog mit anderen Kulturen und Religionen „unfähig“ 83. Das hängt mit einer einfachen Diagnose zusammen: Obwohl wir uns mehrheitlich noch Christen nennen, betrachten wir die Offenbarung nicht mehr als letzte, weil von Gott selbst in seinem Sohn Jesu Christus vermittelte Wahrheit. Wir anerkennen den Jesus Christus nicht mehr als „Gott der Geschichte“.84 Wo jedoch die christliche Wahrheit nicht mehr als verpflichtend gesehen wird, da wird der interreligiöse Dialog mit dem oft auch unausgesprochenen Ziel geführt, die Wahrheit erst zu finden, dann sind jedoch die Gesprächsebenen verfehlt. Denn der interreligiöse Dialog kann „kein Instrument sein, die Wahrheit aufzudecken, weil er in dieser Funktion von der Offenbarung ersetzt wird“.85 So gesehen erweist sich in einer Ära des „triumphierenden Relativismus“, der Politik, Philosophie und Theologie gleichermaßen erfasst hat, ein letzter Gedanken des italienischen Philosophen Pera als hilfreich: Das Wahre wird vielfach nicht mehr als nicht mehr existent angesehen, weil wir uns angewöhnt haben, „die Sendung der Wahrheit als Fundamentalismus (zu) betrachten“, „schon das Beharren auf der Wahrheit weckt Ängste und Befürchtungen“ 86.
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Di Fabio aaO, S. 50. Pera/Ratzinger aaO. 81 De Lubac Die Tragödie des Humanismus ohne Gott – Nietzsche, Feuerbach, Comte und Dostojewski als Prophet, Salzburg o.J., S. 92. 82 Ebenda. 83 Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 174, Bonn 2006, S. 83. 84 Koch in: Augustin/Krämer, aaO, S. 500. 85 Pera/Ratzinger aaO, S. 38. 86 Ebenda S. 47. 80
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VI. Summe Die Kirchen, aber vor allem die Christen, müssen also, um ein abschließendes Wort von di Fabio aufzugreifen, „unsere eigene Variante von Vernunft“ 87 pflegen und in den öffentlichen Diskurs der Gesellschaft einbringen, als Antwort auf das, was im Sinne der Ausführungen von Habermas dem säkularisierten Staat „fehlt“. Dieser Dialog sollte aber nicht in „Feindschaft zur Philosophie des Humanismus und der Menschenrechte“ geschehen, sondern als „unentbehrlicher Komplementär“ 88. Denn die Mehrzahl der uns Heutige beschäftigenden – von Menschen verursachten – Katastrophen entwickeln ihre Folgen in der Regel nach dem Beispiel des Untergangs der Titanic: Die Mehrzahl der Opfer (Klima, Abtreibung, Hunger, Krieg) sind arm und schwach; sie befinden sich in den unteren Kabinen. Für sie gibt es kein Entrinnen, wenn die überzeugten und glaubwürdigen Vertreter der christlichen Religion nicht doch noch bald eingreifen. Wer sonst, so ist mit Ulrich Beck zu fragen, kann es leisten? 89
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Di Fabio aaO, S. 50. Di Fabio aaO. Vgl. Beck aaO, S. 248 f.
Das Kirchliche Verwaltungsgericht der Evangelischen Landeskirche in Baden Ein rechtshistorischer Fall Jörg Winter I. Mit der Festschrift zum 70. Geburtstag von Achim Krämer wird nicht nur einem hoch angesehenen Anwalt beim Bundesgerichtshof und akademischen Lehrer der Rechtswissenschaft die Reverenz erwiesen, sie gibt auch die Gelegenheit, die Verdienste zu würdigen, die er sich als Richter des Kirchlichen Verwaltungsgerichts der Evangelischen Landeskirche in Baden in den Jahren 1978 bis 2008 erworben hat. Seine persönliche Beziehung zur evangelischen Kirche fand ihren sichtbaren Ausdruck bereits in seiner 1973 erschienen Dissertation über die gegenwärtige Abendmahlsordnung in der Evangelischen Kirche in Deutschland1, die aus dem kirchenrechtlichen Seminar hervorgegangen ist, das Prof. Dr. Erik Wolf 2 damals zusammen mit Oberkirchenrat Prof. Dr. Günther Wendt 3 an der Universität Freiburg veranstaltet hat. Wendt, mit dem sich Achim Krämer bis zu dessen Tod im Januar 2004 persönlich eng verbunden wusste, hatte sich 1950 in Freiburg ursprünglich als Schüler von Adolf Schönke für die Fächer Straf- und Strafprozessrecht habilitiert, war dann aber mit Wirkung vom 1.4.1953 in der Nachfolge von Otto Friedrich 4 in den Evangelischen Oberkirchenrat5 eingetreten. Sein Interesse 1 Gegenwärtige Abendmahlsordnung in der Evangelischen Kirche in Deutschland, Die Abendmahlsfrage in ihrer theologischen, historischen und ekklesiologischen Bedeutung im Blick auf Abendmahlsgemeinschaft zwischen lutherischen, unierten und reformierten Landeskirchen, München 1973 (Jus Ecclesiasticum Bd. 16). 2 Zu seiner Person vergl.: Schneider Erik Wolf zum 70. Geburtstag, ZevKR 17 (1972), 3 ff.; Hollerbach Erinnerungen an Erik Wolf, Freiburger Universitätsblätter 2002, 99 ff. 3 Über ihn vergl.: Engelhardt „… geistlich und rechtlich in unaufgebbare Einheit …“, Dank an Günther Wendt, ZevKR 29 (1984), 1 ff. und meinen Nachruf ZevKR 49 (2004), 415. 4 Über ihn vergl. meine Biografie in: Biograhisches-Bibliograhisches Kirchenlexikon, begr. und hrsg. von F. W. Bautz. Fortgef. von T. Bautz Bd. 17, Herzberg 2000, Sp. 406 ff. 5 Der Evangelische Oberkirchenrat ist nach der Grundordnung (heute Art. 78 Abs. 1 GO) „der zum Dienst an der Kirchenleitung berufene ständige Rat der Landeskirche“. Er besteht unter dem Vorsitz des Landesbischofs aus hauptamtlichen theologischen und nichttheologischen Mitgliedern.
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galt seitdem der wissenschaftlichen Pflege des evangelischen Kirchenrechts. Zum 1.2.1960 wurde er „zum geschäftsleitenden Vorsitzenden des Evangelischen Oberkirchenrats“ ernannt und in eine Planstelle der Besoldungsgruppe B6 eingewiesen.6 Die Umstände, die dazu geführt haben, sind eine interessante Episode aus der Geschichte der Evangelische Landeskirche in Baden und ihres Verwaltungsgerichts. Der Fall, um den es geht, ist die Auseinandersetzung zwischen Oberkirchenrat Dr. Friedrich Bürgy und der Landeskirche über die Annahme seines Rücktritts vom Amt des Finanzreferenten durch Landesbischof Julius Bender 7 im Jahre 1959, mit der sich das Verwaltungsgericht der Landeskirche beschäftigen musste. Im Blick auf das kirchliche Verwaltungsgericht ist zunächst zu berichten, dass dieses in Baden durch eine Novelle zur Kirchenverfassung von 1919 im Jahre 1928 errichtet worden ist.8 Die Unabhängigkeit vom Staat, aber auch das Bedürfnis nach einer besseren Kontrolle der kirchlichen Verwaltung waren die damals maßgeblichen Motive. Insbesondere wurde es von den beschwerdeführenden Parteien als ein „unguter“ Zustand empfunden, dass es bis dahin nur die Beschwerde gab, über die Verwaltungsstellen zu entscheiden hatten, die politischen Einflüssen ausgesetzt sein können. Wie berechtigt gerade die Forderung nach einer politisch unabhängigen Kontrolle gewesen ist, hat gleich der erste Fall deutlich gemacht, mit dem sich das neu gegründete Gericht 1931 zu befassen hatte. Der evangelische Oberkirchenrat hatte gegen den Führer der religiösen Sozialisten, Pfarrer Erwin Eckert, im Zusammenhang mit dessen Agitation gegen den aufkommenden Nationalsozialismus ein Redeverbot bei politischen Veranstaltungen verhängt, gegen das Eckert das kirchliche Verwaltungsgericht anrief, im Ergebnis allerdings ohne Erfolg.9 Dieses Verfahren sollte allerdings über lange Zeit das einzige bleiben, mit dem das kirchliche Verwaltungsgericht sich befassen musste. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde es
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Ernennungsurkunde vom 18.1.1960, PA Günther Wendt. Julius Bender 1893 in Meßkirch geboren, wurde 1946 als Nachfolger von Julius Kühlewein zum badischen Landesbischof gewählt. Bald nach seiner Zurruhesetzung 1964 starb Bender im Januar 1966 in Karlsruhe. Über ihn vergl.: Sepaintner in: Ottnad (Hrsg.), Badische Biographien, Neue Folge, Bd. III, Stuttgart 1990, S. 35 ff. 8 Vergl. dazu: Friedrich Einführung in das Kirchenrecht 2. Aufl., Göttingen 1978, S. 221 f.; Maurer Die Verwaltungsgerichtsbarkeit der evangelischen Landeskirchen, Göttingen 1958, 21 (Göttinger Rechtswissenschaftliche Studien, Bd. 25); Kotb Die Verwaltungsgerichtsbarkeit der Evangelischen Landeskirche in Baden, Frankfurt a.M. u.a., 1998 (Europäische Hochschulschriften Reihe II Rechtswissenschaft Bd. 2448). 9 Zu diesem Prozess vergl. Kotb ebd., S. 25 ff.; zum Fall Eckert vergl. im Übrigen Balzer, (Hrsg.), Ärgernis und Zeichen, Erwin Eckert – Sozialistischer Revolutionär aus christlichem Glauben, Bonn 1993; Wennemuth Geschichte der evangelischen Kirche in Mannheim, Sigmaringen 1996, S. 300 ff. (Quellen und Darstellungen zur Mannheimer Stadtgeschichte Bd. 4). 7
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gar nicht angerufen. 1948 wurde es auf der Rechtsgrundlage des Gesetzes von 1928 neu eingerichtet, sodass der damals eingefügte § 137a der Kirchenverfassung von 1919 mit folgendem Wortlaut zunächst weiterhin in Geltung stand: „Die Entscheidungen kirchlicher Behörden und alle Wahlen mit Ausnahme der Wahl zur Landessynode können von den Beteiligten und dem Oberkirchenrat durch Klage vor dem kirchlichen Verwaltungsgericht angefochten werden, wenn die Klage auf Verletzung einer Rechtsvorschrift oder darauf gestützt wird, daß die obwaltenden tatsächlichen Verhältnisse die Berechtigung der Behörde zu der angefochtenen Verfügung ausschließen. Soweit die staatlichen Gerichte oder Verwaltungsgericht angerufen werden können, ist das kirchliche Verwaltungsgericht nicht zuständig.“ Nach Artikel 2 des Errichtungsgesetzes setzte sich das Gericht aus fünf von der Kirchenregierung auf Lebenszeit zu ernennenden Mitgliedern zusammen, von denen der Vorsitzende und drei Beisitzer die Befähigung zur Bekleidung des Richteramtes besitzen mussten. Ein Beisitzer musste Pfarrer der Landeskirche sein. Die Bemühungen um eine ordnungsgemäße Neubesetzung verliefen nach der Wiedererrichtung jedoch zunächst im Sande, da kein Verfahren anhängig war und seit Längerem eine Neufassung des Gesetzes zur Diskussion stand 10. Erst die Klage von Bürgy war Anlass, die Bemühungen um eine vollständige Wiederbesetzung voranzutreiben.11 Damit beauftragt wurde der Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof Erwin Umhauer 12, der bereits 1928 in das Gericht berufen worden war 13 und sich als Einziger der Richter noch im Amt befand. Die Neubesetzung erfolgte in der Sitzung des Landekirchenrates vom 24.10.1960. Berufen wurden der Vizepräsident des baden-württembergischen Rechnungshofes Dr. Klaus Tellenbach aus Karlsruhe als Vorsitzender, Prof. Dr. Hans Gerber 14 aus Freiburg als stellvertretender Vorsitzender sowie Prof. Dr. Siegfried Reicke 15 aus Hei10 Das neue Gesetz über die Ordnung der kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde erst am 16.4.1970 (GVBl. S. 53) beschlossen. 11 Vergl. dazu: Kotb ebd., S. 137 ff. und die Vorgänge im LKA GA 8836. 12 Erwin Umhauer (1878–1961) stand der DVP nahe und war nach dem Ende der Großen Koalition vom 10.1. bis zum 10.3.1933 badischer Innenminister, dann Rechtsanwalt in Karlsruhe (zuletzt am Bundesgerichtshof). Vergl. E. R. Huber Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, Stuttgart u.a. 1981, S. 798. Von 1945 bis 1959 war Umhauer Präsident der Landessynode. 13 VOBl. Nr. 12 v. 28.9.1928. 14 Zu seiner Person vergl. Wieacker Hans Gerber zum 80. Geburtstag, AöR 94 (1969), 605 ff.; zu seinem wissenschaftlichen Werk in der Zeit des Nationalsozialismus vergl. meine Dissertation, Die Wissenschaft vom Staatskirchenrecht im Dritten Reich, Frankfurt a.M. u.a. 1979, S. 221 ff. (Europäische Hochschulschriften Bd. Reihe II, Rechtswissenschaften Bd. 212). 15 Über ihn vergl. den Nachruf von Dickel ZevKR 17 (1972), 1 f.
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delberg, Rechtsanwalt am BGH Hans Joachim Reinicke 16 aus Karlsruhe und Dekan Fritz Mono aus Konstanz zu Beisitzern.17 Vor diesem Gericht wurde der Prozess zwischen Oberkirchenrat Bürgy und der Landeskirche geführt, über den nun im Folgenden berichtet werden soll.
II. Dr. Friedrich Bürgy, geboren am 5.9.1901 in Würzburg, war nach seiner juristischen Ausbildung in Würzburg und Heidelberg am 1.1.1928 zunächst im Angestelltenverhältnis in den kirchlichen Dienst getreten. Nach seiner Übernahme in das Beamtenverhältnis und verschiedenen Tätigkeiten in der kirchlichen Verwaltung leitete er von 1938 bis zu seiner Einberufung zur Wehrmacht 1943 die Evangelische Pflege Schönau in Heidelberg. Nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft wurde er im November 1945 zunächst kommissarisch mit der Wahrnehmung der Geschäfte eines Oberkirchenrates 18 beauftragt, bevor ihm die Planstelle mit Wirkung vom 16.11.1946 auf Lebenszeit übertragen wurde. Von Otto Friedrich übernahm er zum 1.4. 1953 auch die Funktion der Geschäftsleitung.19 In der Sitzung des Evangelischen Oberkirchenrates am 3.10.1959 kam es zu einem Eklat, der dazu führte, dass Bürgy noch in der Sitzung seinen Rücktritt als Finanzreferent der Landeskirche erklärte, was er noch am gleichen Tage gegenüber dem Landesbischof mit einem handschriftlichen Schreiben bestätigte.20 Hintergrund war – wohl auch bedingt durch Schwierigkeiten bei der Aufstellung des Haushaltplanes durch das Finanzreferat – ein Streit über die Frage, inwieweit Bürgy das Kollegium21 an Entscheidungen über die in seinem Geschäftsbereich anfallenden Vorgänge zu beteiligen hatte. Sein Gegenspieler war dabei vor allem sein juristischer Kollege Günther Wendt, der die Auffassung vertrat, dass in Zukunft eine größere Anzahl von Dingen, die bisher im Finanzreferat endgültig erledigt wurden, im Kollegium mit den nötigen Unterlagen vorher besprochen und beschlossen werden sollten.
16 Reinicke, geboren am 27.10.1899 in Offenbach/Main, wurde 1958 beim BGH als Rechtsanwalt zugelassen. Er starb am 6.3.1966. 17 GVBl. vom 29.11.1960, S. 55. 18 Oberkirchenrat ist die Amtsbezeichnung für die Mitglieder des Evangelischen Oberkirchenrates. 19 Das geschäftsleitende Mitglied des Evangelischen Oberkirchenrates ist nach der Grundordnung verantwortlich für den geordneten Ablauf der Verwaltungsgeschäfte. 20 LKA PA 7592, S. 72. 21 Der Begriff „Kollegium“ ist ein untechnischer Begriff, der im internen Sprachgebrauch dazu dient, den Evangelischen Oberkirchenrat als Leitungsorgan von der Gesamtorganisation der kirchlichen Verwaltung mit gleichem Namen abzugrenzen. Im Rechtssinne bezeichnen beide Begriffe dasselbe Gremium.
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Offensichtlich kam es darüber zwischen Wendt und Bürgy zu so heftigen Meinungsverschiedenheiten, dass Bürgy später gegenüber dem Landeskirchenrat erklärte, er sei zurückgetreten, „weil Herr Wendt mich in ungezogener Weise fortgesetzt schikaniert und das Kollegium dies geduldet hat“. Tatsächlich standen die übrigen Mitglieder des Oberkirchenrates in der Sache auf der Seite von Wendt, wie aus einem Schreiben des Landesbischofs an Bürgy vom 4.11.1959 hervorgeht, in dem es heißt: „Nicht nur Herr Wendt, sondern wir alle meinen, dass die wichtigen finanziellen Fragen, weil sie das geistliche Leben einer Einzelgemeinde wie der Gesamtkirche berühren, ebenso vom Oberkirchenrat mitverantwortet werden müssen, wie die Pfarrstellenbesetzung oder Vikarsversetzungen. Sie haben uns in der Sitzung vor 8 Tagen, wo wir über diese Dinge sprachen, die Genesis der jetzigen Verwaltungspraxis dargestellt, wie die turbulenten Verhältnisse nach 1945 dazu gezwungen haben, dass Sie sich die Verwaltung nach Ihren eigenen Worten ‚auf den Leib zugeschnitten haben‘. Was unter den außerordentlichen Verhältnissen der ersten Nachkriegsjahre verständlich, ja wohl unumgänglich war, entspricht heute nicht mehr der Intention der Kirchenordnung, die als eine Frucht des Kirchenkampfes‚ die unaufgebbare Einheit von geistlicher und rechtlicher – und ich füge hinzu – verwaltungsmäßiger Leitung der Kirche herausstellt. Das heißt praktisch, dass die Verwaltung der kirchlichen Finanzen, des kirchlichen Bau- und Steuerwesens usw. in der Verantwortung des Oberkirchenrats gestellt ist.“ Der Brief des Landesbischofs endet mit den versöhnlichen Worten: „Gerade weil die aufgetretenen Spannungen nicht im Persönlichen, sondern im Sachlichen ihren Grund haben, können sie unter Christen überwunden werden. Die Verantwortung vor der Landeskirche, die auf uns sieht, ist so groß, dass augenblicklichen Erregungen und Ermüdungen nicht nachgegeben werden darf; wir stehen sonst als Kirchenleitung 22 in der Gefahr, unglaubhaft zu werden. Darum noch einmal: Bleiben Sie bei uns, lieber Herr Bürgy, wir bitten Sie alle darum.“23 Dass es dann dazu doch nicht kam, hängt mit dem Beschluss des Oberkirchenrates vom 8.12.1959 zusammen, eine von der Landessynode bei ihrer Herbsttagung im November 1959 bewilligte neue Stelle eines zweiten Oberkirchenrates für das Finanzwesen sofort zu besetzen, was Bürgy nach eigenen Worten „maßlos erregt“ 24 und dazu veranlasst hat, an den Landesbischof ein Schreiben mit folgendem Inhalt zu richten:
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Hervorhebung im Original. LKA1055a (Abschrift v. Konzept). Brief an Dekan Dr. Merkle vom 16.2.1960, LKA GA 1055a.
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„Auf Ihr Schreiben von heute bitte ich, meinem Antrag vom 3. v. Mts. nunmehr zu entsprechen und zwar auf 20.1.1960. Die Zeit vom 9.12.1959 bis 20.1.1960 ist mein Urlaub, den ich morgen antreten werde. Ich bitte nicht zu versuchen, mich im Dienst halten zu wollen.“ 25 Der Landesbischof beantwortete diesen Antrag noch am gleichen Tage mit einem Brief, in dem es zu Beginn heißt: „Ihre Antwort auf mein heutiges Schreiben hat mich und die Mitglieder des Kollegiums tief geschmerzt, weil es das Ende einer langen Zusammenarbeit bedeutet. Es fällt mir schwer, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass diese Zusammenarbeit auf so bedrückende Weise zu Ende gekommen ist, und es bleibt mir nichts anderes übrig, als Ihrem Gesuch um Zurruhesetzung zu entsprechen mit dem 31.1.1960 als Termin.“ 26 Bürgy ließ daraufhin den Landesbischof am 10. oder 11.12.1959 über Pfarrer Ziegler 27 als Mittelsmann wissen, dass er doch bereit sei, im Amt zu bleiben. Neben dem Zuspruch anderer nennt er als einen der Gründe für seinen Sinneswandel in einem Brief vom 16.2.1960 an den Landessynodalen Dekan Dr. Merkle: „Mir selbst wurde, nachdem sich die Erregung gelegt hatte, klar, dass ich mit meiner Arbeit so verbunden war, dass die Trennung Gefahr für Leib und Seele bedeuten würde.“28 Der Oberkirchenrat war aber offenbar nicht mehr bereit, Bürgy entgegenzukommen. Der Landesbischof teilte ihm in einer persönlichen Unterredung am 19.12.1959 mit, dass der Oberkirchenrat am 12.12.1959 seine Zurruhesetzung beschlossen habe und dieser Beschluss nicht geändert werde. Seine Zurruhesetzung wurde Bürgy durch Schreiben des Landesbischofs vom 13.1.1960 erneut bestätigt. Bürgy legte am 5.3.1960 dagegen Beschwerde beim Landeskirchenrat ein, der dieser in seiner Sitzung vom 24.3.1960 aber nicht stattgab. Im Beschluss des Landeskirchenrates in synodaler Besetzung29 heißt es u.a.: „Der Landeskirchenrat ist 25
LKA PA 7952, S. 74. LKA PA 7952, S. 76. 27 Vermutlich handelt es sich um den Landespfarrer für Diakonie, Wilhelm Ziegler; über ihn vergl.: Winter „Fröhlich helfen“ – Der badische Landeswohlfahrtspfarrer Wilhelm Ziegler (1901–1993); in: Kaiser (Hrsg.), Soziale Arbeit in historischer Perspektive. Zum geschichtlichen Ort der Diakonie (Festschrift für Helmut Talazko zum 65. Geburtstag), Stuttgart 1998, S. 67 ff. 28 LKA GA 1055a (Abschrift). Tatsächlich starb Bürgy nur wenige Jahre nach seiner Zurruhesetzung am 17.7.1964. 29 Der Landeskirchenrat besteht in voller Besetzung aus den stimmberechtigten Mitgliedern des Evangelischen Oberkirchenrats, der Präsidentin bzw. dem Präsidenten der Landessynode und einer Anzahl von Mitgliedern, die von der Landessynode für die Dauer ihrer Amtszeit gewählt werden. Ihre Zahl steht im Verhältnis von 3 zu 2 zur Zahl der Mitglieder des Oberkirchenrats. Beschwerdeentscheidungen gegen Beschlüsse des Oberkirchenrats trifft der Landeskirchenrat „in synodaler Besetzung“, d.h. nur mit seinen synodalen Mitgliedern. 26
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schmerzlich betroffen von den schweren und beleidigenden Vorwürfen, die Herr Bürgy gegen den Landesbischof und die übrigen Mitglieder des Oberkirchenrates, darunter namentlich gegen Herrn Dr. Wendt in der Begründung seiner Beschwerde erhoben hat. (…) Aus eingehender eigener Kenntnis weist der Landeskirchenrat die erhobenen Vorwürfe als ungerechtfertigt zurück. Er ermahnt Herrn Dr. Bürgy, sich ernstlich zu prüfen und unverantwortliche, ihm selbst und unserer Kirche schadende Schritte zu unterlassen.“30 Bürgy wählte daraufhin den Weg einer Eingabe an die neu gebildete Landessynode. Diese wurde zwar vom Ältestenrat für unzulässig gehalten, „soweit sie darauf ausgeht, die Landessynode möge eine Art von Untersuchungsausschuss einsetzen“, im Übrigen aber zunächst dilatorisch behandelt. Der Ältestenrat wollte „Dr. Bürgy nicht einfach auf den kirchlichen Rechtsweg verweisen“ und hat drei Mitglieder 31 damit beauftragt, eine „brüderliche Fühlungnahme“ mit Bürgy zu versuchen. Der Ältestenrat bat die Landessynode, „solange diese Bemühungen im Gange sind, die Angelegenheit nicht zu erörtern.“32 Bei der nächsten Tagung der Landessynode sah sich der neue Präsident der Landessynode, Dr. Wilhelm Angelberger 33, allerdings am 27.10.1960 veranlasst, der Synode mitzuteilen, dass die auf schriftlichem und mündlichem Wege durchgeführten Bemühungen der „brüderlichen Fühlungnahme“ erfolglos geblieben waren. Zur Rechtslage führt Angelberger sodann aus: „Nach § 119 Absatz 2 Satz 3 unserer Grundordnung sind die Entscheidungen des Landeskirchenrates im Beschwerdeverfahren endgültig. Eine Behandlung der Eingabe im Sinne des § 91 der Grundordnung vorgesehenen Mitsorge- und Beratungsrechtes der Synode hält der Ältestenrat für unzulässig. Zur Überprüfung des Verwaltungsaktes der Auflösung eines aktiven Dienstverhältnisses steht der kirchliche Rechtsweg offen. Von dieser Möglichkeit hat Herr Dr. Bürgy durch Erhebung einer Klage beim kirchlichen Verwaltungsgericht am 3.9.1960 bereits Gebrauch gemacht. Das kirchliche Verwaltungsgericht ist durch Beschluss des Landeskirchenrates vom 24.10.1960 gebildet. Somit sind Herrn Dr. Bürgy alle die Möglichkeiten gegeben, die er mit seiner Eingabe vom 30.4.1960 von der Landesynode erbeten hat. In völliger Übereinstimmung mit dem Ältestenrat sehe ich bei dieser Sach- und Rechtsklage von der Behandlung der Eingabe ab.“ 34 30
LKA GA 1055a. Das waren Arnold Kley, Amtsgerichtsdirektor in Konstanz; Hermann Schneider, Bürgermeister in Konstanz und Günter Adolph, Pfarrer in Singen; siehe Protokoll des Landeskirchenrats vom 2.6.1960, LKA 1055a. 32 Vergl. Verhandlungen der Landessynode, ordentliche Tagung vom Mai 1960, S. 37. 33 Angelberger war damals Oberstaatsanwalt in Waldshut und wurde später Präsident des Landgerichts in Mannheim. 34 Vergl.: Verhandlungen der Landessynode, Ordentliche Tagung vom Oktober 1960, S. 51. 31
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Vorausgegangen war ein erneuter Beschluss des Landeskirchenrates vom 2.6.1960, in dem dieser nach dem Scheitern der Bemühungen der Dreierkommission in Abwesenheit der Mitglieder des Oberkirchenrates den Beschluss des früheren Landeskirchenrates vom März 1960 bestätigte. In diesem Beschluss wurden nicht nur die „ungerechtfertigten und unbegründeten Vorwürfe in der Sache gegenüber sämtlichen Mitgliedern des Evang. Oberkirchenrates“ erneut zurückgewiesen, sondern darüber hinaus „die sehr schweren Beleidigungen gegenüber dem Herrn Landesbischof, Herrn Oberkirchenrat Dr. Wendt und den übrigen Mitgliedern des Evang. Oberkirchenrats“ entschieden missbilligt.35 Im Unterschied zum ersten Beschluss des Landeskirchenrates, auf dessen Veröffentlichung man zunächst verzichtet hatte, wurde dieses Mal beschlossen, beide Beschlüsse bis spätestens zum 1.7.1960 durch Mitteilung an die Mitglieder der Landessynode, die Dekane und sämtliche Pfarrämter zu veröffentlichen. In der gleichen Sitzung wurden die Herren Dr. Helmut Jung als Referent für Haushaltsfragen und Dr. Walther Löhr als Referenten für die Vermögensverwaltung in den Oberkirchrat berufen.36
III. Das kirchliche Verwaltungsgericht musste sich mit drei Klagen befassen, die Bürgy gegen die dargestellten Vorgänge eingereicht hat.37 Mit seiner Klage vom 3.9.1960 beantragte er zunächst, die Landeskirche zu verurteilen, die Landeskirchenkasse anzuweisen, an ihn auch nach dem 31.1.1960 die Bezüge eines aktiven Oberkirchenrates nach Besoldungsgruppe B6 zu zahlen. Auf Anregung des Vorsitzenden änderte er diesen Klageantrag dahin, „dass er die Aufhebung der seine Zurruhesetzung betreffenden Maßnahmen, d.h. des Schreibens des Landesbischofs vom 8.12.1959 und des Erlasses vom 13.1.1960 begehre.“ Mit einer weiteren Klage vom 19.11.1960 verlangte Bürgy die Veröffentlichung des Beschlusses des Landeskirchenrates vom 2.6.1960, die am 1.7.1960 mit einem Rundschreiben erfolgt war, zurückzunehmen. Mit der dritten Klage vom 27.12.1960 schließlich verfolgte Bürgy das Ziel, die Entscheidung des Präsidenten der Landessynode vom 27.10.1960 aufzuheben. Zu allen drei Klagen befinden sich in den Handakten Gerber undatierte und namentlich nicht gekennzeichnete, jeweils als „Referate und Votum“ 35
LKA GA 1055a. Ebd. 37 Unzutreffend ist die bei Kotb Die Verwaltungsgerichtsbarkeit der Evangelischen Kirche in Baden, Frankfurt a.M. u.a. 1998, S. 138 wiedergegebene Mitteilung, die Klage Bürgys sei beim staatlichen Verwaltungsgericht eingereicht worden. Die nachfolgende Darstellung stützt sich auf ein dem Autor zur Verfügung stehendes Aktenstück, das sich gegenwärtig noch nicht im Bestand des landeskirchlichen Archivs befindet. Offensichtlich handelt es sich dabei um die Handakten von Hans Gerber. 36
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bezeichnete Schriftstücke in einheitlicher maschinenschriftlicher Typologie, die der Vorsitzende den Mitgliedern des Gerichts mit Schreiben vom 15.6. 1961 übersandte. Einige der darin angesprochenen Rechtsfragen, die für das Verständnis kirchenrechtlicher Vorschriften und für das Verhältnis zwischen kirchlicher und staatlicher Gerichtsbarkeit von Interesse sind, sollen im Folgen skizziert werden. Die für die Auseinandersetzung zentrale kirchenrechtliche Norm findet sich in der Grundordnung der Evangelischen Landeskirche in Baden vom 23.4.1958, deren § 109 Abs. 4 Satz 2 in der damaligen Fassung lautete: „Mitglieder des Evangelischen Oberkirchenrats sind auf ihren Antrag vom Landesbischof in den Ruhestand zu versetzen.“38 Im Prozess wurde über die Rechtsnatur und die Reichweite dieser Bestimmung im Blick auf das staatliche Beamtenrecht gestritten. Bürgy hat seine Klage nicht nur auf das Argument gestützt, das Schreiben des Landesbischofs vom 8.12.1959 und das Bestätigungsschreiben vom 13.1.1960 entsprächen nicht den förmlichen Voraussetzungen einer Zurruhesetzung, wie sie nach dem auf ihn anwendbaren Bestimmungen des staatlichen Beamtenrechts zu stellen seien, sondern auch vorgetragen, bei der Maßnahme nach § 109 Abs. 4 GO handele es sich um einen sogenannten „mitwirkungsbedingten Verwaltungsakt“. Der Landesbischof habe daher eine Verfügung über seine Zurruhesetzung nicht mehr treffen dürfen bzw. hätte die bereits bestehende als rechtswidrig zurücknehmen müssen, nachdem er diesen hatte wissen lassen, im Amt bleiben zu wollen. Damit sei die Voraussetzung seiner Mitwirkung entfallen. Die beklagte Landeskirche dagegen vertrat die Auffassung, die Grundordnung der Landeskirche treffe in dem Abschnitt über die Kirchenleitung für das Dienstverhältnis der Mitglieder des Evangelischen Oberkirchenrats eine eigene, dem Wesen kollegialer Kirchenleitung angemessene, sich vom Beamtenrecht erheblich unterscheidende Regelung für die Begründung des Dienstverhältnisses als Oberkirchenrat durch Berufung und für dessen außerordentliche Beendigung. Die zum Kirchenverfassungsrecht erhobene dienstrechtliche Regelung in § 109 Abs. 4 Satz 2 sei unmittelbar Ausdruck des Kollegialprinzips in der Kirchenleitung. Durch das jedem Mitglied des Evangelischen Oberkirchenrates uneingeschränkt gewährte und in seiner Ausübung keiner weiteren Begründung bedürftige Recht auf Ausscheiden aus dem Kollegium solle die innerlich und äußerlich freie und von
38 Die Bestimmung findet sich nach wie vor auch in der zum 1.1.2008 in Kraft getretenen neuen Grundordnung vom 28.4.2007 im Art. 79 Abs. 8 mit heute folgendem Wortlaut: „Die Mitglieder des Evangelischen Oberkirchenrates sind auf ihren Antrag nach Anhörung des Landeskirchenrates mit einer anderen Aufgabe zu betrauen oder in den Ruhestand zu versetzen.“
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einer gemeinsamen Verantwortung getragene Zusammenarbeit des Evangelischen Oberkirchenrates gewährleiste werden. § 109 Abs. 4 Satz 2 GO enthalte daher ein einseitiges Gestaltungsrecht der Mitglieder des Oberkirchenrates, dessen Vollzug eine verfassungsrechtliche Pflicht des Landesbischofs darstelle. Für eine nach pflichtgemäßem Ermessen oder nach Prüfung bestimmter materieller Voraussetzungen zu vollziehende Entscheidung des Landesbischofs sei dabei kein Raum. Der Berichterstatter schließt sich in seinem Votum dieser Auffassung grundsätzlich an, fährt dann aber mit der für das Grundverständnis des Kirchenrechts interessanten Begründung fort: „Der Beklagten kann dagegen nicht in der Auffassung gefolgt werden, dass der Landesbischof auch keinerlei Möglichkeit für die Ausübung des Ermessens habe, sodass er dem Antrag eines Mitgliedes des Oberkirchenrates auf Zurruhesetzung unter allen Umständen sofort entsprechen müsste. Eine solche ausschließlich auf das Förmliche beschränkte Mitwirkung des Landesbischofs wäre kaum mit seiner Stellung innerhalb der Landeskirche vereinbar; sie wäre auch kaum mit dem im Vorspruch zur Grundordnung aufgestellten Grundsatz in Einklang zu bringen, dass jede Bestimmung der Grundordnung im Geiste der Liebe Christi zu halten ist. Dieser Grundsatz erfordert es, dem Landesbischof insbesondere dann die Möglichkeit zuzugestehen, nach seinem Ermessen die Zurruhesetzung hinauszuschieben, wenn sie von einem Mitglied des Oberkirchenrates aus einer Konfliktsituation heraus beantragt worden ist. Nur so kann z.B. das antragstellende Mitglied vor übereilten Entschlüssen bewahrt und der Weg für eine friedliche Beilegung des den Antrag veranlassenden Konflikts freigehalten werden. Darüber hinaus dürfte aber die Ermessensfreiheit des Landesbischofs nicht gehen.“ Im Blick auf die Zulässigkeit der Klage wird im Votum des Berichterstatters die Frage erörtert, ob der Landesbischof eine „Behörde“ im Sinne des Art. 129a der Kirchenverfassung von 1919 ist, was von ihm mit folgender Begründung bejaht wird: „Wenn auch das Schwergewicht des Amtes des Landesbischofs auf dem geistlichen Gebiet liegt (…), so ist es doch unverkennbar, dass er auch sehr bedeutsame Verwaltungsaufgaben wahrzunehmen hat. Als eine solche Aufgabe auf dem Gebiet der Verwaltung ist ihm durch den § 109 Abs. 4 GO übertragende Befugnis anzusehen, die Mitglieder des Evang. Oberkirchenrats unter den dort festgelegten Voraussetzungen in den Ruhestrand zu versetzen. Insoweit gilt demnach der Landesbischof als kirchliche Behörde im Sinne des § 137a Abs. 1 KV 1919.“ Hinsichtlich der Frage, ob das kirchliche Gericht im Verhältnis zur staatlichen Gerichtsbarkeit überhaupt zur Entscheidung befugt sei, wird im Votum des Berichterstatters zunächst der strittige Meinungsstand zu dieser
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Frage referiert. Die Zuständigkeit des kirchlichen Gerichts wird im Ergebnis mit dem Argument bejaht, dass es dem Grundgedanken des auch im kirchlichen Bereich wirksamen Artikels 19 Abs. 4 GG widersprechen würde, wenn sich das kirchliche Gericht in einem Fall für unzuständig erklären würde, in dem nicht mit voller Sicherheit feststeht, dass der Betroffene Rechtsschutz vor den staatlichen Gerichten findet. Im Hinblick auf diese Ungewissheit glaube das Gericht, seine Zuständigkeit nicht verneinen zu dürfen.
IV. Die in dem Verfahren aufgeworfenen Rechtsfragen sind im Ergebnis vom Gericht nicht entschieden worden, weil Bürgy seine Klage zurückgenommen hat. Die dafür gegebene Begründung sei hier wörtlich zitiert, weil sie zu einem kuriosen Nachspiel geführt hat: Bürgy teile dem Gericht in einem Schreiben vom 15.10.1961 mit: „Ich nehme die Klagen vom 3.9., 19.11. und 27.12.60 zurück, weil ich nach Informationen, die ich über die Bildung des Gerichts durch den bekl. Oberkirchenrat, über die Zusammenarbeit des Gerichts mit dem bekl. Oberkirchenrat und über die bisherige Tätigkeit bzw. Untätigkeit39 des Gerichts erhalten habe, kein Vertrauen mehr in dessen unabhängige Rechtsprechung habe, zu einem Gericht, dessen Entscheidungen durch Rechtsmittel nicht anfechtbar sind 40, müsste ich aber ein besonders großes Vertrauen haben können.“ Entgegen der ursprünglichen Empfehlung des Vorsitzenden, die von Bürgy geäußerten Zweifel an der Unparteilichkeit des Gerichts lediglich als „völlig unbegründet zurückzuweisen“, kam es mit Schreiben vom 6.12.1961 zu einem Strafantrag des Gerichts bei der Staatsanwaltschaft Karlsruhe, nachdem Bürgy unter Fristsetzung Gelegenheit gegeben worden war, seine, die Ehre des Gerichts und seiner Mitglieder angreifenden Behauptungen, zurückzunehmen. Da dieser davon keinen Gebrauch gemacht hat, wurde am 4.11.1961 beschlossen, bei der zuständigen Staatsanwaltschaft Strafantrag wegen Beleidigung zu stellen. Die Staatsanwaltschaft allerdings stellte das Verfahren ein, was bei den Gerichtsmitgliedern auf erhebliches Unverständ39 Tatsächlich zog sich die Behandlung des Falles durch das Gericht zeitlich in die Länge. Der Vorsitzende teilte in einem Brief an Gerber vom 2.6.1961 dazu mit, er sei gezwungen gewesen „die Arbeiten zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung längere Zeit aus der Hand zu legen, da meine Zeit durch mehrere große Sonderaufgaben voll beansprucht war, die sich unvorhergesehen in meinem Hauptamt ergeben hatten.“ 40 Nach heutiger Rechtslage ist die Revision beim Verwaltungsgerichtshof der UEK in Hannover eröffnet.
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nis stieß, weil sie darin übereinstimmten, „daß die Staatsanwaltschaft mit der Behandlung der Sache der Institution des Kirchl. Verwaltungsgerichts keinen Dienst erwiesen hat!“41
V. Im Kontext der heutigen Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen einer kirchlichen Gerichtsbarkeit fällt zunächst auf, dass § 137a der Kirchenverfassung von 1919 dem kirchlichen Rechtsschutz ausdrücklich die Nachrangigkeit gegenüber den staatlichen Gerichten einräumt. Insbesondere nach der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Frage ist heute von der umgekehrten Rechtslage auszugehen, nämlich davon, dass staatliche Gerichte in innerkirchlichen Streitigkeiten erst angerufen werden können, wenn die zur Verfügung stehenden innerkirchlichen Möglichkeiten gerichtlichen Rechtsschutzes ausgeschöpft worden sind.42 Warum das sinnvoll ist, hat der frühere Vizepräsident des Bundesgerichtshofs, Joachim Wenzel, der diesem kirchlichen Gericht in den Jahren 1995–2003 selbst als Richter angehört hat, in seinem Festvortrages aus Anlass der Gründung des Kirchlichen Verwaltungsgerichts der Evangelischen Landeskirche in Baden vor 75 Jahren bei der Tagung der Landessynode am 20.10.2003 wie folgt auf den Punkt gebracht: „Abschließend läßt sich feststellen, daß eine selbständige und unabhängige kirchliche Gerichtsbarkeit der streit- und parteinahen Konfliktschlichtung dient, über größere Sachnähe verfügt und dem Rechtsschutzgebot Rechnung trägt. Sie trägt dazu bei, daß schon im innerkirchlichen Bereich ein in einem ordnungsgemäßen Verfahren ergangenes unabhängiges Sachurteil ergehen kann und Rechtsfrieden hergestellt wird. Den Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten schließt sie zwar nicht aus, begrenzt aber die Prüfungsdichte in der Sache auf eine reine Wirksamkeitskontrolle.“ 43 Der geschilderte Fall gibt dafür ein anschauliches Beispiel, weil in ihm Besonderheiten des kirchlichen Rechts eine Rolle spielen, deren angemessene Würdigung und Berücksichtigung von staatlichen Gerichten kaum erwartet werden können. Das gilt z.B. für die Stellung und die Befugnisse des Landesbischofs nach der Kirchenverfassung vor allem aberfür den Grundsatz, nach dem das kirchliche Recht „im Geist der Liebe Christi“ zu halten ist, eine Kategorie, die der staatlichen Rechtsordnung von vornherein fremd ist. Die 41
So Gerber in einem Schreiben an den Gerichtsvorsitzenden vom 22.5.1962. Vergl. dazu: Winter Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. Köln 2008, S. 215 ff. 43 Wenzel „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet“ – Zum Richten in Staat und Kirche, ZevKR 49 (2004), 559, 577. 42
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Einhaltung der rechtsstaatlich gebotenen Standards wird nicht zuletzt durch die Besetzung mit hochrangigen Vertretern aus dem staatlichen Justizwesen und der akademischen Wissenschaft gewährleistet, die in ihrer sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit keinerlei Zweifel unterliegen. Die Evangelische Landeskirche in Baden hat dabei das besondere Glück, dass sie bereits für die erste Instanz immer wieder auf die Bereitschaft von Mitglieder des Bundesgerichtshofs, des Bundesverfassungsgerichts 44 und der Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof zurückgreifen kann, sich in das kirchliche Verwaltungsgericht berufen zu lassen. Nicht zuletzt Achim Krämer hat sich durch seine Tätigkeit in diesem Gericht über 30 Jahre hinweg um die Pflege der kirchlichen Gerichtsbarkeit in besonderem Maße verdient gemacht.
44 Anstelle des verstorbenen BGH-Anwalts Dr. Reinicke wurde 1966 der Richter des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Hans Kutscher als Richter berufen.
Verzeichnis der Schriften von Achim Krämer 1. Dissertation Gegenwärtige Abendmahlsordnung in der Evangelischen Kirche in Deutschland. Die Abendmahlsfrage in ihrer theologischen, historischen und ekklesiologischen Bedeutung im Blick auf Abendmahlsgemeinschaft zwischen lutherischen, unierten und reformierten Landeskirchen, Jus Ecclesiasticum Band 16, 1973 2. Herausgegebene Schriften Bankrecht 2002, RWS-Forum, Bd. 22 (zusammen mit Norbert Horn) Festschrift für Joachim Wenzel zum 65. Geburtstag (zusammen mit Werner Merle, Wolfgang Krüger und Heinrich Kreuzer), 2005 Festschrift für Gerd Nobbe – Entwicklungslinien im Bank- und Kapitalmarktrecht (zusammen mit Mathias Habersack und Hans-Ulrich Joeres), 2009 3. Aufsätze und Beiträge in Sammelwerken Der Rechtsanwalt – ein „staatlich gebundener Vertrauensberuf“?, NJW 1975, 849–853 Das „Verteidigungsprivileg“ der §§ 97, 53 StPO im Ermittlungsverfahren nach dem GWB aus verfassungsrechtlicher Sicht, BB 1975, 1225–1230 Die „gemeinschaftliche Verteidigung“ im Sinne des § 146 StPO, NJW 1976, 1664–1669 Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 14 GG, AnwBl 1977, 376–376 Die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1977, 1426–1436 Zur Rechtsstellung der leitenden Angestellten im Mitbestimmungsgesetz und den Wahlordnungen, NJW 1977, 2142–2146
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Das Verbot der Mehrfachverteidigung gem. § 146 StPO, AnwBl 1978, 14–17 Rückforderung gezahlter Armenanwaltsgebühren aufgrund geänderter Rechtsprechung, AnwBl 1979, 168–170 Die Nichtzulassung der Revision, FamRZ 1980, 971–975 Die Vertreterklausel beim Bauherrenmodell, AnwBl 1980, 332–335 Verfassungsrechtliche und staatskirchenrechtliche Probleme Kirchlicher Gerichtsbarkeit, DVBl 1981, 1–4 Verfassungsrechtliche Aspekte des neuen Revisionsrechts, NJW 1981, 799–800 Die gesellschaftsvertragliche „Ausschließung“ aus der Personengesellschaft, NJW 1981, 2553–2556 Die Barmer Theologische Erklärung und das kirchliche Recht, 3. Tagung für Richter an Kirchlichen Verfassungs- und Verwaltungsgerichten, 1984, S. 1–42 Toleranz als Rechtsprinzip, Gedanken zu einem ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz, in: Festschrift für Günther Wendt, 1984, S. 113–122; ZevKR 1984, Bd. 29, 113 Der verfassungsrechtliche Status des Rechtsanwalts, BRAK-Mitt. 1988, 67–69 (Sonderheft) BGH-DAT – Eine Computer-Datei der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen, AnwBl 1988, 472–473 Beitrag anlässlich der Podiumsdiskussion „AGB-Gesetz und Kreditwirtschaft“, in: Hadding/Hopt (Hrsg.), Verbraucherkreditrecht, AGB-Gesetz und Kreditwirtschaft, Bankrechtstag 1990, Bd. 1, S. 139–142 Das Sachlichkeitsgebot für Rechtsanwälte, in: Festschrift für Konrad Redeker, 1993, S. 589–596 Die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, JZ 1994, 400–403 Die Überprüfung der Beweisaufnahme durch den Bundesgerichtshof, in: Der medizinische Sachverständige (Hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft Rechtsanwälte im Medizinrecht e.V.), Recht der Medizin, Bd. 2, 1995, S. 155–164 Die verfassungsrechtliche Stellung des Rechtsanwalts, NJW 1995, 2313–2317 Die Nichtannahme der Revision wegen Erfolglosigkeit des Rechtsmittels „im Endergebnis“, in: Festschrift für Hans Erich Brandner, 1996, S. 701–712
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Anwaltswerbung und UWG, in: Festschrift für Henning Piper, 1996, S. 327– 339 Anhörungsrüge und modifizierte Anhörungsrüge, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 1998, S. 215–227; AnwBl 1998, 617 Bundesverfassungsgericht – quo vadis?, AnwBl 1999, 247–253 Streitschlichtung in der Revisionsinstanz, in: Kartengesteuerter Zahlungsverkehr, außergerichtliche Streitschlichtung, Schriftenreihe der Bankrechtlichen Vereinigung, Bd. 14, 1999, S. 229–244 Verfassungs- und privatrechtliche Aspekte der Rückenteignung, in: Festschrift für Horst Hagen, 1999, S. 115–130 Rechtliche Inhaltskontrolle von Verträgen als Verfassungsgebot, in: Bankrecht – Schwerpunkte und Perspektiven, Festschrift für Herbert Schimansky, 1999, S. 367–388 Verfassungsrechtliche Fragen im Arzthaftungsprozess, in: Festschrift für Karlmann Geiß, 2000, S. 437–448 Kritisches zur Reform der Revision in Zivilsachen, in: Festschrift für Alexander Hollerbach, 2001, S. 267–283 Prozessuale Besonderheiten des Haftpflicht- und Versicherungsprozesses, RuS 2001, 177–183 Das System der Beweiserleichterungen im Arzthaftungsprozess, in: „WaffenGleichheit“ (Hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft Rechtsanwälte im Medizinrecht e.V.), Schriftenreihe Medizinrecht, 2002, S. 31–39 Rüdiger Zuck zum 70. Geburtstag, NJW 2002, 3682 Bürgschaft auf erstes Anfordern, in: Bankrecht, Tagungsband zum RWSForum am 14. und 15.3.2002 in Berlin, RWS 2003, S. 177–198 Haftung aus Gefälligkeit, in: Festschrift für Gerhart Kreft, 2004, S. 79–96 Nachvertragliche Wettbewerbsverbote im Spannungsfeld von Berufs- und Vertragsfreiheit, in: Festschrift für Volker Röhricht, 2005, S. 335–347 Der nachbarrechtliche Ausgleichsanspruch, in: Festschrift für Joachim Wenzel, 2005, S. 345–359 Der Rechtsanwalt – Garant des Rechtsstaats, in: Festschrift für Peter Raue, 2006, S. 165–172 Kunstfreiheit versus Persönlichkeitsrecht – der Fall „ESRA“, in: Des Künstlers Rechte – die Kunst des Rechts, 2008, S. 11–18
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Der Grundsatz der Waffengleichheit im Arzthaftungsprozess, in: Festschrift für Günter Hirsch, 2008, S. 387–396 Bankenhaftung im Bereich der Vermögensverwaltung, in: Festschrift für Gerd Nobbe, 2009, S. 619–638
4. Urteilsanmerkungen Anmerkung zum Urteil des BVerfG vom 30.1.1973 (2 BvH 1/72; zur Frage der Anwendung des Grundsatzes vom Wegfall der Geschäftsgrundlage auf eine staatsverträgliche Vereinbarung), JZ 1973, 365–366 Anmerkung zur Entscheidung des BVerfG vom 8.2.1977 (1 BvR 74/77; zur Anwendung von § 146 ZPO im Privatklageverfahren), AnwBl 1977, 223–224 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 12.2.1985 (VI ZR 225/83; betr. Güterabwägung zwischen Ehrschutz und Meinungsfreiheit im Widerrufsprozeß), WuB IV A. §§ 823, 824 BGB 2.85 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 12.7.1984 (I ZR 37/82; betr. Prozeßführungsbefugnis eines Mischverbandes, Nichtigkeit von § 1 Abs. 1 PreisangabenVO), WuB V B. §§ 3, 13 UWG 1.85 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 23.4.1986 (VIII ZR 125/85; betr. Annahme eines verspäteten Vorbringens bei Begründung der Klage im Berufungsverfahren mit zusätzlichen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten), WuB VII A § 528 Abs. 2 ZPO 1.86 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 1.10.1985 (VI ZB 13/85; betr. Beschwerdefähigkeit einer unanfechtbaren Entscheidung bei Verletzung spezifischen Verfassungsrechts), WuB VII A. § 567 Abs. 3 S. 1 ZPO 1.86 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 15.1.1986 (VIII ZR 6/85; betr. Zustimmung zum Vertragsschluß aufgrund widerspruchloser Hinnahme einer Auftragsbestätigung), WuB IV A. §§ 151, 242 BGB 1.86 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 29.1.1986 (VIII ZR 298/84; betr. Zulässigkeit der Aufrechnung im Urkundenprozeß mit einer bereits hilfsweise in einem anderen Verfahren zur Aufrechnung gestellten Forderung), WuB VII A. § 597 Abs. 2 ZPO 1.86 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 23.10.1985 (VIII ZR 210/84; betr. Umfang und Voraussetzungen einer Haftung des handelnden Gesellschafters und Geschäftsführers einer GmbH aus Verschulden bei Vertragsschluss), WuB II C. § 13 GmbHG 3.86
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Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 10.4.1986 (VII ZR 286/85; betr. Umfang der Rechtskraft eines abweisenden Urteils bei einer negativen Feststellungsklage), WuB VII A. § 322 ZPO 3.86 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 31.10.1985 (IX ZR 175/84; betr. Aufrechnungsausschluß in einem Anwaltsvertrag, Sorgfaltspflichten eines Anwalts bei der Auswahl zwischen mehreren Handlungsmöglichkeiten), WuB IV A. §§ 611, 276 BGB 1.86 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 8.7.1985 (II ZR 198/84; betr. Darlegungs- und Beweislast bei einem Anspruch auf Ersatz des Kassenfehlbetrages gegen einen GmbH-Geschäftsführer), WuB II C. § 43 GmbHG 1.86 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 13.5.1986 (VI ZR 96/85; betr. Statthaftigkeit der Revision in nichtvermögensrechtlichen Streitigkeiten auch bei Nichtzulassung durch das Berufungsgericht), WuB VII A. § 554 b ZPO 1.86 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 12.7.1985 (V ZR 15/84; betr. Beweisantritt im Urkundenprozeß), WuB VII A. § 595 Abs. 1 ZPO 1.86 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 2.6.1986 (II ZR 300/85; betr. Selbständiger Prüfung von Prozeßvoraussetzungen durch die Revisionsinstanz), WuB VII A. § 561 ZPO 1.87 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 2.4.1987 (IX ZR 68/86; betr. Beweislast für die objektive Pflichtwidrigkeit einer Vertragsverletzung bei Geltendmachung eines entsprechenden Schadensersatzanspruches), WuB VII A. § 286 ZPO 1.87 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 9.4.1987 (IX ZR 138/86; betr. Rechtsschutzinteresse für eine – neue – Klage des Altgläubigers gegen den Vermögensübernehmer trotz daneben bestehender Möglichkeit einer Klage auf unmittelbare Vollstreckungserteilung), WuB IV A. § 419 BGB 1.87 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 3.7.1986 (VII ZR 284/85; betr. Unzulässige Überraschungsentscheidung durch das Berufungsgericht), WuB VII A. § 278 ZPO 1.87 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 11.12.1986 (IX ZR 165/85; betr. Streitgegenstand bei Klagen des Hauptschuldners gegen den Gläubiger auf Entlassung und Nichtinanspruchnahme des Bürgen), WuB VII A. § 322 ZPO 1.87 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 26.2.1988 (V ZR 231/86; betr. Widerruflichkeit einer rechtsgrundlos unwiderruflich erteilten Vollmacht), WuB IV A. § 168 BGB 1.88
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Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 12.10.1987 (II ZR 21/87; betr. Zulässigkeit der Nachholung notwendigen Vortrags zur Klagebefugnis in der Revisionsinstanz), WuB VII A. § 51 ZPO 4.88 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 30.9.1987 (IVb ZR 86/86; betr. Wirksamkeit der Verlängerung einer Berufungsbegründungsfrist fünf Monate nach Antragstellung), WuB VII A. § 519 ZPO 1.88 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 20.2.1989 (II ZR 148/88; betr. Vormundschaftsgerichtliche Genehmigung nach BGB § 1822 Nr. 3 und Nr. 10 bei Erwerb eines GmbH-Anteils durch Minderjährigen), WuB II C. § 15 GmbHG 4.89 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 9.10.1989 (II ZR 16/89; betr. Anstellung eines GmbH-Geschäftsführers durch einen Gesellschafter als Vertreter ohne Vertretungsmacht), WuB IV A. § 179 BGB 1.90 Anmerkung zur Entscheidung des LG Osnabrück vom 17.10.1989 (13 O 15/89; betr. Sittenwidrigkeit der Bürgschaft eines gerade erst volljährigen Bürgen), WuB I F. 1a Bürgschaft 1.91 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 27.9.1990 (VII ZR 135/90; betr. Versäumnisurteil ohne Androhung im Anwaltsprozeß), WuB VII A. § 513 ZPO 1.91 Anmerkung zur Entscheidung des BVerfG vom 14.5.1991 (1 BvR 502/91; betr. Verfassungsmäßigkeit des § 3 Abs. 1 Nr. 4 AnfG), EWiR 1991, 635–636 Anmerkung zur Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 28.3.1991 (6 U 234/90; betr. Beweislast für die Werthaltigkeit der Sacheinlage), WuB II C. § 9 GmbHG 1.92 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 30.3.1993 (X ZR 51/92; betr. Vorschriftsmäßiger Besetzung des Gerichts bei überbesetztem Spruchkörper), WuB VII A. § 579 ZPO 1.93 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 10.10.1996 (IX ZR 264/95; betr. Zulässigkeit der Rüge der internationalen Unzuständigkeit nach Ablauf der Klageerwiderungsfrist), WuB VII A. § 549 ZPO 1.97 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 9.7.1998 (IX ZR 324/97; betr. Aufklärungspflichten und Warnpflichten des Rechtsanwalts), WuB IV A. § 675 BGB 2.99 Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 12.3.2004 (V ZR 257/03; zur Frage der Tatsachenfeststellungen durch das Berufungsgericht), AnwBl 2004, 445
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5. Rechtsprechungsübersichten Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1983 (gemeinsam mit Christian Kirchberg), AnwBl 1984, 578–595 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1984 (gemeinsam mit Christian Kirchberg), AnwBl 1986, 166–182 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1985 (gemeinsam mit Christian Kirchberg), AnwBl 1987, 106–123 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1986 (gemeinsam mit Christian Kirchberg), AnwBl 1988, 186–204 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1987 (gemeinsam mit Christian Kirchberg), AnwBl 1989, 249–258 (Teil 1), 306–320 (Teil 2)
6. Buchbesprechungen Seifert, Paul Joseph Riegger (1705–1775). Ein Beitrag zur theoretischen Grundlegung des josephinischen Staatskirchenrechts, Freiburger DiözesanArchiv 93 (1973), 456–459 v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, JZ 1974, 655–656 Sievers, Der Mensch im Recht. Ein Beitrag zu einer evangelischen Rechtstheologie, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 20 (1975), 197–203 Schmidt-Eichstaedt, Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts, DÖV 1976, 931–932 Scheffler, Staat und Kirche. Die Stellung der Kirche im Staat nach dem Grundgesetz, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 21 (1976), 320–326 Schneider, Der Rechtsanwalt, ein unabhängiges Organ der Rechtspflege, NJW 1977, 1957–1958 Bender, Staatshaftungsrecht, VBlBW 1982, 193 Schmidt, Zuwendungsrecht – Zuwendungspraxis, VBlBW 1983, 223 Palandt, BGB, 42. Aufl., 1983, VBlBW 1982, 352 Festschrift für Otto Mühl, VBlBW 1982, 383 Schlosser, Neues Revisionsrecht in der Bewährung, NJW 1983, 2489
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Güde, Die rechtliche Stellung der Juden in den Schriften deutscher Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts, VBlBW 1983, 224 Bergmann, Die Kommunalhaftung, 1991, NVwZ 1992, 761 Zugehör, Handbuch der Anwaltshaftung, 2. Aufl., NJW 2007, 1431
7. Sonstiges Nachruf auf Erik Wolf, NJW 1978, 203–204 Nachruf auf Frhr. v. Stackelberg, NJW 1994, 2202
Autorenverzeichnis Bernhard Altehenger, Dr., Rechtsanwalt in Karlsruhe Alfred Bergmann, Dr., Richter am Bundesgerichtshof Karl Otto Bergmann, Prof. Dr., Rechtsanwalt in Hamm Uwe Blaurock, Prof. Dr., Universitätsprofessor, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Joachim Bornkamm, Prof. Dr., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Siegfried Broß, Prof. Dr. Dr. h.c. (Universitas Islam Indonesia), Richter des Bundesverfassungsgerichts Helmut Bruchner, Dr., Rechtsanwalt in Oberschleißheim Hermann Büttner, Dr., Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof Katharina Deppert, Dr., Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof a.D. Konrad Deufel, Dr., Oberstadtdirektor a.D., Hildesheim Thomas Dreier, Prof. Dr., M.C. J. (New York University), Universitätsprofessor, Universität Karlsruhe Friedrich-Wilhelm Engel, Dipl.-Phys., Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof Hanns Engelhardt, Dr., Richter am Bundesgerichtshof a.D. Reinhard Gaier, Prof. Dr., Richter des Bundesverfassungsgerichts Cornelie von Gierke, Rechtsanwältin beim Bundesgerichtshof Wulf Goette, Prof. Dr., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Hans-Peter Greiner, Dr., Richter am Bundesgerichtshof a.D. Norbert Gross, Prof. Dr., Docteur en Droit, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof, Präsident der Rechtsanwaltskammer beim Bundesgerichtshof Wilhelm Güde, Dr., Vorsitzender Richter am Landgericht a.D. Reiner Hall, Dr., Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof Erik Jayme, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Universitätsprofessor (em.), RuprechtKarls-Universität Heidelberg Hartmut Kilger, Rechtsanwalt in Tübingen Christian Kirchberg, Prof. Dr., Rechtsanwalt in Karlsruhe Gerhart Kreft, Dr., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a.D. Wolfgang Krüger, Prof. Dr., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Johannes Masing, Prof. Dr., Universitätsprofessor, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Richter des Bundesverfassungsgerichts Thomas Mayen, Prof. Dr., Rechtsanwalt in Bonn Wendt Nassall, Dr., Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof Gerd Nobbe, Dr. h.c., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a.D.
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Autorenverzeichnis
Andreas Piekenbrock, Prof. Dr., Universitätsprofessor Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg Nina Polt, Dr., Rechtsanwältin in Karlsruhe Peter Raue, Prof. Dr., Rechtsanwalt in Berlin Gerhard Robbers, Prof. Dr., Universitätsprofessor an der Universität Trier Wolfgang Schlick, Vizepräsident des Bundesgerichtshofs Klaus Schrenk, Prof. Dr., Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen Andreas W. Tilp, Rechtsanwalt in Kirchentellinsfurt Eike Ullmann, Prof. Dr., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a.D. Volkert Vorwerk, Prof. Dr., Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof Hermann Weber, Prof. Dr., Rechtsanwalt in Frankfurt Matthias Weller, Dr., Mag.rer.publ., Wissenschaftlicher Assistent am Institut für internationales und ausländisches Privat- und Wirtschaftsrecht der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Joachim Wenzel, Dr., Vizepräsident des Bundesgerichtshofs a.D. Harm Peter Westermann, Prof. Dr. Dr. h.c., Universitätsprofessor (em.), Eberhard-Karls-Universität Tübingen Marion Westpfahl, Dr., Rechtsanwältin in München Friedrich Graf von Westphalen, Prof. Dr., Rechtsanwalt in Köln Jörg Winter, Prof. Dr., Oberkirchenrat i.R., Karlsruhe Thomas Winter, Dr., Rechtsanwalt in Karlsruhe Achim von Winterfeld, Dr., Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof Rüdiger Zuck, Prof. Dr., Rechtsanwalt in Stuttgart