Festschrift für Thomas Raiser zum 70. Geburtstag am 20. Februar 2005 9783110910452, 9783899491104

[The Festschrift for Thomas Raiser on the occasion of his 70th birthday on 20th February 2005] The Festschrift is dedica

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German Pages 916 [922] Year 2005

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Festschrift für Thomas Raiser zum 70. Geburtstag am 20. Februar 2005
 9783110910452, 9783899491104

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II

I Festschrift für Thomas Raiser zum 70. Geburtstag

III

Festschrift für

Thomas Raiser zum 70. Geburtstag am 20. Februar 2005 herausgegeben von

Reinhard Damm Peter W. Heermann Rüdiger Veil

De Gruyter Recht · Berlin

IV Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Vereins für Wirtschaftsrecht und Rechtssoziologie, Berlin und Gießen e.V.

Ü Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-89949-110-6

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http://dnb.ddb.de > abrufbar.

© Copyright 2005 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung/Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen

Thomas Raiser zum 20. Februar 2005 Claus Dietrich Asendorf Ulrich Bälz Walter Bayer Uwe Blaurock Brun-Otto Bryde Lawrence Church Reinhard Damm Kenneth B. Davis, Jr. Tim Drygala Volker Emmerich Axel Flessner Stefan Grundmann Barbara Grunewald Mathias Habersack Walther Hadding Horst Hammen Peter W. Heermann Hartwig Henze Heribert Hirte Wolfgang Hoffmann-Riem Hasso Hofmann Uwe Hüffer Christian Kirchner Michael Kort

Arthur Kreuzer Bruno Kropff Friedrich Kübler Siegfried Kümpel Rüdiger Lautmann Marcus Lutter Peter O. Mülbert Claus Ott Hans-Joachim Priester Karlheinz Quack Hubert Rottleuthner Karsten Schmidt Uwe H. Schneider Joachim Schulze-Osterloh Eberhard Schwark Hans-Peter Schwintowski Johannes Semler Gunther Teubner Wolfgang Theobald Peter Ulmer Rüdiger Veil Günter Weick Harm Peter Westermann Georg Wiesner

VI

Inhalt

VII

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII

A. Gesellschaftsrecht Uwe Blaurock Mindestkapital und Haftung bei der GmbH . . . . . . . . . . . .

3

Reinhard Damm Neues Gesellschaftsrecht der Freien Berufe – Richterrechtliche Wende zur BGB -Gesellschaft und Sozietätsrecht – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Kenneth B. Davis, Jr. U.S. Corporate Governance – The Independent Director’s Role .

49

Tim Drygala Gesellschafterregress im Personengesellschaftskonzern . . . . . .

63

Stefan Grundmann Die Mobilität der Kapitalgesellschaften – The Golden Five – . . .

81

Barbara Grunewald Die Haftung der Mitglieder bei Einflussnahmen auf abhängige eingetragene Vereine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

Mathias Habersack Die Einbeziehung des Tochtervorstands in das Aktienoptionsprogramm der Muttergesellschaft – ein Problem der §§ 311 ff. AktG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

111

Walther Hadding Nochmals: Rechtsfähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts und persönliches Verpflichtetsein ihrer Gesellschafter . . . . . . .

129

Hartwig Henze Voraussetzungen und Folgen des Delisting . . . . . . . . . . . .

145

VIII

Inhalt

Uwe Hüffer Das Leitungsermessen des Vorstands in der Aktiengesellschaft .

163

Christian Kirchner Zur ökonomischen Theorie der juristischen Person – Die juristische Person im Gesellschaftsrecht im Lichte der Institutionenökonomik – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181

Michael Kort Die Außenhaftung des Vorstands bei der Abgabe von Erklärungen nach § 161 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . .

203

Bruno Kropff Informationspflichten des Aufsichtsrats . . . . . . . . . . . . .

225

Friedrich Kübler Mitbestimmungsfeindlicher Missbrauch der Societas Europaea? .

247

Marcus Lutter und Karlheinz Quack Mitbestimmung und Schadensabwehr . . . . . . . . . . . . . .

259

Peter O. Mülbert „Altfälle“ im Recht der Pflichtangebote . . . . . . . . . . . . .

273

Hans-Joachim Priester Innenbereichsrelevante Zustimmungsvorbehalte stiller Gesellschafter im GmbH- und Aktienrecht . . . . . . . . . . .

293

Karsten Schmidt Die begrenzte Ausfallhaftung nach §§ 24, 31 Abs. 3 GmbHG im System des GmbH-Haftungsrechts – Neuerliches Plädoyer für ein systemstimmiges Haftungsmodell – . . . . . . . . . . . . .

311

Uwe H. Schneider Der Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens im Konzern – Ein Beitrag zum Konzernverfassungsrecht – . . . . . . . . . .

341

Joachim Schulze-Osterloh Verdeckte Sacheinlage und Kapitalrücklage

. . . . . . . . . . .

359

Eberhard Schwark Zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung . . . . . . . . . .

377

IX

Inhalt

Johannes Semler Die Effizienzprüfung des Aufsichtsrats

. . . . . . . . . . . . . .

399

Wolfgang Theobald Drittanstellung von Vorstandsmitgliedern in der Aktiengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

421

Peter Ulmer Rechtsfolgen nachträglicher Diskrepanz zwischen Satzungssitz und tatsächlichem Sitz der GmbH – § 4a Abs. 2 GmbHG als Schlag ins Wasser? – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

439

Rüdiger Veil Aktionärsschutz bei der Verschmelzung von Aktiengesellschaften durch vertragliche und gesellschaftsrechtliche Haftung . . . . . .

453

Georg Wiesner Übergang des Rückgewährsanspruchs nach § 62 Abs. 1 AktG auf den Aktienerwerber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

471

B. Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Walter Bayer Fehlerhafte LPG -Umwandlungen – Nachlese zum DFG -Forschungsprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

487

Lawrence Church Diversity in American Higher Education . . . . . . . . . . . . .

503

Wolfgang Hoffmann-Riem Sozialwissenschaftlich belebte Rechtsanwendung . . . . . . . . .

515

Arthur Kreuzer Vergleichende Online-Delinquenzbefragung Gießen-Madison 2003 539 Rüdiger Lautmann Rechtsstab und Ethnizität Vorüberlegungen zur Interkulturellen Öffnung der Verwaltung . .

559

Hubert Rottleuthner Korrelation und Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . .

579

X

Inhalt

C. Wirtschaftsrecht Claus Dietrich Asendorf Zwischen Markenrecht und Wettbewerbsrecht – Zur Standortbestimmung der geographischen Herkunftsangaben und zum Anwendungsbereich des § 2 MarkenG – . . .

601

Ulrich Bälz Fondsgesellschaft der Anleger versus Anlegerschutz? – Bemerkungen zu BGHZ 156, 46 – . . . . . . . . . . . . . . .

615

Volker Emmerich Ausnahmebereich Krankenversicherung? . . . . . . . . . . . .

647

Horst Hammen Beteiligungserwerb eingetragener (Börsen-)Vereine und Gruppenbildungen durch Finanzdienstleister – Eine Fallstudie – . . . . .

661

Peter W. Heermann Ausnutzung der geschäftlichen Unerfahrenheit von Kindern und Jugendlichen in der Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

681

Siegfried Kümpel Zur Unanwendbarkeit der Informationspflichten des WpHG auf Direkt(Selbst)emissionen und Investmentgesellschaften . . .

699

Claus Ott Verbraucherschutz auf dem grauen Kapitalmarkt – Private Kapitalanlagen in Immobilienfonds – . . . . . . . . .

723

Hans-Peter Schwintowski Konkurrenz der Öffentlichen Hand für privatwirtschaftliche Unternehmen aus der Perspektive des Vergaberechts . . . . . .

751

Gunther Teubner Unternehmenskooperationen als verbundene Verträge: Zur rechtsdogmatischen Rekonstruktion privater Ordnungen . .

769

Harm Peter Westermann Gläubiger und Schuldner der Nebenpflichten aus dem bankgeschäftlichen Darlehensvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . .

787

Inhalt

XI

D. Verfassungsrecht, Europarecht, Ausländisches Recht Brun-Otto Bryde Das Arbeitsrecht in der neuen europäischen Verfassung . . . . . .

811

Axel Flessner Die Unternehmensperspektive im europäischen Insolvenzrecht . .

827

Heribert Hirte Die Organisationsverfassung der italienischen Aktiengesellschaft nach neuem Recht – aus der Sicht des deutschen Juristen . . . . .

839

Hasso Hofmann Änderungen des Grundgesetzes Erfahrungen eines halben Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . .

859

Günter Weick Konkurrenz, Konvergenz oder Uniformität im europäischen Privatrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

871

E. Verzeichnis der Veröffentlichungen von Thomas Raiser

887

F. Autorenverzeichnis

889

XII

Inhalt

Vorwort Thomas Raiser wurde am 20. Februar 1935 in Stuttgart geboren. Er gehört damit zu einer Generation, deren Schulzeit zu Beginn auch Kriegszeit ist und deren weiterer Ausbildungsgang in die Anfangsjahre der noch jungen Bonner Republik fällt. Später werden Angehörige dieser Generation auch als „Zivilrechtslehrer 1934/35“ ihren Weg gehen. Ob diese die frühe Lebensphase begleitende historische Umbruchphase mit ursächlich für die von Anfang an außerordentlich breite thematische Orientierung bis hin zur späteren, Fachwissenschaft und Interdisziplinarität verknüpfenden Lehr- und Forschungsperspektive geworden sein könnte, mag hier dahinstehen. Es passt hierzu jedenfalls die – nach der Auszeichnung für den besten Abituraufsatz – zunächst getroffene Entscheidung für ein Studium der Philosophie und klassischen Philologie, bevor die Rechtswissenschaft in den Mittelpunkt tritt. Nach der Promotion in Tübingen (1962 bei Ernst Steindorff) und Habilitation in Hamburg (1969 am Lehrstuhl Reimer Schmidt, Gutachter sind Hans Würdinger und Hans Möller) erreicht ihn sehr schnell der Ruf auf eine ordentliche Professur an der Justus-Liebig-Universität Gießen, der Thomas Raiser von 1970 bis 1992 die Treue halten wird. In diesen beiden Jahrzehnten wächst nicht nur das wissenschaftliche Werk auf der dominierenden, auch über die Zeit konsequent eingehaltenen Doppelspur von Gesellschafts- und Unternehmensrecht einerseits und Rechtssoziologie andererseits. Es entfaltet sich darüber hinaus das breite Tätigkeitsfeld des Hochschullehrers als Richter und Regierungsberater, Sachverständiger und Prozessbevollmächtigter, mit Verbandsfunktionen innerhalb und außerhalb der Wissenschaft. So gehören zu dieser „mittelhessischen“ Zeit nicht zufällig auch der langjährige Vorsitz in der Mittelhessischen Gesellschaft für Recht und Wirtschaft wie auch die Weichen stellenden Gründungsaktivitäten und die geschäftsführende Vorstandstätigkeit für die Vereinigung für Rechtssoziologie. In diese Zeit fallen zahlreiche wissenschaftliche Auslandskontakte, von denen die Anbahnung und Pflege einer langjährigen Partnerschaft mit der University Wisconsin, Law School Madison, besondere Hervorhebung verdienen. Aus der geographischen Mitte der „alten“ Bundesrepublik zieht es Thomas Raiser in einer bereits fortgeschritteneren Lebensphase dann im Jahre 1992 in das noch junge politische Zentrum des wiedervereinigten Deutschland. Der Hochschullehrer mag sich an den jungen Referendar erinnert haben, der vor Jahrzehnten einen Teil seiner Ausbildung in dieser, damals noch geteilten Stadt erfahren hatte. Die Humboldt-Universität zu Berlin wird

XIV

Vorwort

nun auch für ihn, nach einer noch kurz zuvor kaum vorstellbaren historischen Zäsur, zum wissenschaftlichen Ort wie auch zum Schauplatz eines tief greifenden Transformationsprozesses, an dem er sich mit dem ihn auszeichnenden Engagement beteiligt. Die „Schicksalsjahre einer Universität“ sind auch von ihm mit gestaltete Jahre. Elfenbeintürme werden auch hier nicht zum bevorzugten Aufenthaltsort von Thomas Raiser. Die Übernahme von Verantwortung in der akademischen Selbstverwaltung einschließlich des Dekansamts in unruhiger Zeit schließen dies von vornherein aus. Die neben der Interdisziplinarität schon immer ausgeprägte Internationalität der wissenschaftlichen Arbeit erfährt eine weitere Steigerung, nicht zuletzt durch Studienaufenthalte, Vortragsreisen und Gastprofessuren in Ostasien. Veröffentlichungen in chinesischer Sprache passen in dieses Bild. Im Übrigen werden neue, aufeinander verweisende Akzente in den Bereichen des Anwaltsrechts und der Ausbildungsreform gesetzt. Dies schließt den Aufbau und die Geschäftsführung des Instituts für Anwaltsrecht an der HumboldtUniversität ein. Thomas Raiser hat in seiner bisherigen Arbeit in rechtswissenschaftlicher und rechtspolitischer Hinsicht eine breite und markante Spur gezogen. Minderheitspositionen hat er weder gesucht noch, wo für nötig befunden, gescheut. Hierzu boten die gewählten Themenfelder Gelegenheit genug. Als Beleg hierfür reicht bereits die Nennung einiger Stichworte: Unternehmen und juristische Person, Mitbestimmung und Aussperrung, Auseinandersetzungen mit Gegnern wie Anhängern der Rechtssoziologie. Durchgängiger Grundzug bleibt, neben dem angesprochenen, Fachgrenzen übergreifenden Interesse, die konsequente Verknüpfung theoretischer Analyse mit rechtspraktischer Orientierung, die in einer derart deutlichen Prägung selten zu finden ist. Dies gilt sowohl für Theorie und Praxis des Unternehmensrechts wie auch für das Nebeneinander theoretischer Rechtsoziologie und empirischer Rechtstatsachenforschung. Neben dem Theorie-Praxis-Verbund ist das noch wichtigere normative, auch rechtsethische Zentrum des Lebenswerks von Thomas Raiser hervorzuheben: Eine Leitlinie ist das Positive, nicht aber Positivistische des Rechts, eine weitere, hiermit verbunden, die Normativität des Rechts einschließlich der Normativität der Grundlagen des Rechts. Die Verknüpfung von „Recht und Moral, soziologisch betrachtet“ (Abdruck in JZ 2004, 261 ff.), die der zur Emeritierung gehaltenen Berliner Vorlesung im Oktober 2003 zu Grunde gelegt wird, weist also über diesen Anlass hinaus. Nicht isoliert, sondern aufeinander verweisend, gehören, wie vor Jahren auf einem Kongress in Tokio betont, „Theorie und Aufgaben des Unternehmensrechts“ zu den Aufgaben des Unternehmensrechtlers und es sind die „dogmatischen Strukturen“, „wirtschaftlichen Hintergründe“ und „rechtspolitischen Wert- und Zielvorstellungen“ des Rechts (Recht der Kapitalgesellschaften, 3. Auflage, S. V) in ihrer Gleichzeitigkeit und Wechselbezüglichkeit zur Sprache und Geltung zu brin-

XV

Vorwort

gen. Und dem völlig entsprechend ist auch Rechtssoziologie weder spekulativ noch positivistisch ausgerichtet. Sie schließt in akzentuierter Weise die Erforschung der „Rechtskultur“ ein. Nicht nur Rechtswissenschaft, sondern auch Rechtssoziologie ihrerseits muss sich interdisziplinär ausrichten und so von einer „Abschottung von der Rechts- und Sozialphilosophie und von der dogmatischen Jurisprudenz“ gleichermaßen frei halten. Das Konzept einer „Rechtssoziologie des liberalen und sozialen Rechtsstaats“ (Das lebende Recht, Vorwort zur zweiten Auflage) kann so generalisiert als Kennung des Gesamtwerkes von Thomas Raiser gelten: Teilhabe und Teilnahme am Bau des Rechts des liberalen und sozialen Rechtsstaats. Diese den Würdigungen des Jubilars vorangeschickten Zeilen blieben unvollständig ohne einen besonderen Hinweis auf den Menschen Thomas Raiser. Persönliche Geradlinigkeit und Verlässlichkeit prägen sein Bild bei all denen, die ihn, vielfach seit Jahrzehnten, kennen und schätzen. Die besondere Wertschätzung, derer er sich bei seinen Schülern in der Rückschau auf eine angenehme und fruchtbare Zeit der Zusammenarbeit erfreut, soll auch durch diese Festschrift zum Ausdruck gebracht werden. In das persönliche Bild passt es, dass, einer Leitidee von „Gegenseitigkeit auf Dauer“ entsprechend, die Verbundenheit mit Schülern, Mitarbeitern und Kollegen auch institutionell schon seit langem auf einer festen Grundlage ruht. So führt der Verein für Wirtschaftsrecht und Rechtssoziologie Berlin und Gießen e.V. diesen Personenkreis seit vielen Jahren in regelmäßigen Abständen zu Fachgespräch und persönlicher Begegnung zusammen. Und es verbliebe Unvollständigkeit ohne die besondere Erwähnung von Frau Sitta Raiser, die für alle, die es angeht, in all den Jahren mit ihrer teilnehmenden Klugheit zur Mitte des hier zu ehrenden wissenschaftlichen und persönlichen Verbundprojekts gehört hat. Reinhard Damm Februar 2005

Peter W. Heermann

Rüdiger Veil

XVI

Vorwort

1

A. Gesellschaftsrecht

2

Mindestkapital und Haftung bei der GmbH Uwe Blaurock

Inhaltsübersicht Seite

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Institutionelle Haftungsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . 1. Juristische Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mindestkapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bedürfnis eines effektiven Gläubigerschutzes . . . . . . . . . . III. Funktionen des Mindestkapitals . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gläubigerschutz und Kapitalisierungsfunktion . . . . . . . . . . a) Kein Schutz gegen Auszehrung des Haftungsfonds durch Verluste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Keine Orientierung am individuellen Eigenkapitalbedarf . . . c) Privatautonome Risikoabsicherung . . . . . . . . . . . . . . 2. „Eintrittspreis“ für das Privileg der beschränkten Haftung . . . . 3. Seriositätsschwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Indiz für persönliche Seriosität . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ordnungspolitisches Seriositätsprinzip . . . . . . . . . . . . 4. Anleger- und Minderheitenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Selbsterhaltungsschutz durch präventiven Überschuldungsschutz IV. Institutionelle Haftungsbeschränkung ohne Mindestkapital . . . . 1. Befundsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Alternative Gläubigerschutzkonzepte . . . . . . . . . . . . . . a) Insolvenzverschleppungshaftung . . . . . . . . . . . . . . . b) Haftung wegen materieller Unterkapitalisierung . . . . . . . c) Publizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Resumée . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . .

3 6 6 7 7 8 8

. . . . . . . . . . . . . . . .

9 9 10 11 12 13 13 14 14 15 15 18 18 19 21 22

I. Einführung Durch die neuen Entwicklungen auf europäischer Ebene ist das deutsche Gesellschaftsrecht unter Reformdruck geraten.1 In erheblichem Maße be1 Bayer BB 2003, 2357 (2365): „Der Handlungsbedarf ist gewaltig“; Noack FAZ vom 26. 11. 2003, S. 25: „Das Recht der GmbH braucht eine Runderneuerung“; Maul/ C. Schmidt BB 2003, 2297 (2298); Leible/Hoffmann EuZW 2003, 677 (682); dies. ZIP 2003,

4

Uwe Blaurock

trifft dies das Recht der GmbH und hier insbesondere die Vorschriften über die Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung. Gelegentlich wird dabei dem deutschen Mindestkapitalsystem attestiert, es sei „Wirtschaftsrechtsgeschichte des letzten Jahrhunderts“, 2 und der Gesetzgeber wird aufgefordert, einen „radikalen Schnitt“ 3 zu machen, um die Wettbewerbsfähigkeit der GmbH zu erhalten. Andere sehen zwar durchaus Anlass für eine Deregulierung des GmbH-Rechts, halten aber am Prinzip des Mindestkapitals fest, um nicht die Akzeptanz und Kreditwürdigkeit der GmbH zu gefährden. 4 Ausgelöst wurde die Diskussion durch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Inspire Art. 5 Was bereits in der Entscheidung Überseering6 angedeutet wurde, ist spätestens mit diesem Urteil Realität: der innereuropäische Wettbewerb der Gesellschaftsformen ist eingeläutet. 7 Bislang bildete die Sitztheorie für das deutsche Kapitalgesellschaftsrecht einen Schutz vor Umgehung durch ausländische Gesellschaften mit inländischem Verwaltungssitz. Konnte man nach dem Urteil Überseering, in dem der EuGH im Ergebnis die Sitztheorie mit der Niederlassungsfreiheit für unvereinbar hielt, noch daran denken, die Grundstrukturen des deutschen Kapitalgesellschaftsrechts mit seinen vergleichsweise strengen Vorschriften über Mindeststammkapital, Kapitalaufbringung und -erhaltung durch einzelgesetzliche Sonderanknüpfungen zu retten, 8 so ist seit Inspire Art geklärt, dass auch solche Sonderanknüpfungen gegen die Niederlassungsfreiheit nach Art. 43, 48 EG verstoßen. Die Vorschriften des deutschen Gesellschaftsrechts über die Aufbringung eines bestimmten Mindestkapitals und dessen Erhaltung finden damit auf ausländische Kapitalgesellschaften – z. B. eine englische private limited company, die mit einem Pfund (ca. 1,40 Euro) gegründet werden kann – selbst dann keine Anwendung, wenn diese in Deutschland ihren Verwaltungssitz haben oder hier eine Zweigniederlassung unterhalten. 9 Die ausländische Kapitalgesellschaft „importiert“ vielmehr ihr eigenes Gründungsrecht (lex societatis).10 925 (926 f.); Haarmann BB 2003, H. 16 (Die Erste Seite); Triebel BB 2003, H. 36 (Die Erste Seite). 2 Hirte GmbHR 2003, R 421. 3 Meilicke GmbHR 2003, 1271 (1273). 4 Bayer BB 2003, 2357 (2366); Melchior/Schulte GmbHR 2003, R 1. 5 EuGH, Urteil vom 30. 9. 2003, NJW 2003, 3331. 6 EuGH, Urteil vom 5. 11. 2002, NJW 2002, 3614. 7 Vgl. Zimmer NJW 2003, 3585 (3587): „faktische eröffnete Rechtswahlfreiheit (durch den EuGH)“. 8 So vergleichbar das niederländische „Wet op de formeel buitenlandse vennootschappen“ vom 17. 12. 1997 ( WFBV). 9 Wachter GmbHR 2003, 88 (91); Hirsch/Britain NZG 2003, 1100 (1102); Lutter BB 2003, 7 (9); Schulz NJW 2003, 2705 (2707); Zimmer NJW 2003, 3585 (3591); Meilicke GmbHR 2003, 1271 (1272); anders aber Altmeppen NJW 2004, 97 (99 ff.). 10 Anschaulich Geyrhalter/Gänßler NZG 2003, 409 (411).

Mindestkapital und Haftung bei der GmbH

5

Damit ist das Kapitalschutzkonzept kontinentaleuropäischer Prägung insgesamt in die Kritik geraten: Der EuGH bezweifelt, ob die Mindestkapital- und Kapitalaufbringungsvorschriften überhaupt geeignete Mittel zum Gläubigerschutz sind; 11 Generalanwalt Siegbert Albert hat diese Frage bereits verneint.12 Auch die Winter-Gruppe 13 spricht dem in der Kapitalrichtlinie für Aktiengesellschaften kodifizierten Mindestkapitalsystem seine Effektivität ab. Neben Irland und Großbritannien hat nun auch Frankreich mit der „loi pour l’initiative économique“ 14 das Erfordernis eines Mindestkapitals bei der einer GmbH vergleichbaren SARL aufgegeben.15 Mit dem Schlagwort der 1-Euro-GmbH („Créer une SARL à 1 euro de capital“16) will Frankreich Unternehmensgründungen erleichtern und beschleunigen.17 Interessant bei diesem Modell ist, dass zwar de facto das Erfordernis eines Mindeststammkapitals aufgegeben, ansonsten aber das System des kontinentaleuropäischen Kapitalschutzes aufrechterhalten wurde, d. h. die Regeln über die Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung nicht verändert wurden. Schließlich gestaltet auch Spanien die Gründung einer GmbH schneller und flexibler (sog. Blitz-GmbH 18), das Mindeststammkapital beträgt dabei (nur) 3012 Euro. Beide Gesetzesänderungen gehen auf die Mitteilung der Europäischen Kommission zurück, die das Ziel hat, Europa für Kleinunternehmen bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.19 Dagegen ist gegenwärtig nach deutschem Recht eine schnelle und unbürokratische Eintragung der GmbH wegen der strengen Vorschriften über das Mindeststammkapital und seiner Aufbringung sowie der registergerichtlichen Prüfung nach § 9c Abs. 2 GmbHG nicht möglich. Abhilfe können auch Vorratsgründungen nicht EuGH NJW 2003, 3331 (3334). Schlussanträge des Generalanwalts Siegbert Alber v. 30. 1. 2003, GmbHR 2003, 302 Rn. 141 ff. 13 Report of the High Level Group of Company Law Experts v. 4. 11. 2002, Text abrufbar unter http://europa.eu.int/comm/internal_market/en/company/company/modern/index.htm. 14 Loi no 2003–721 du 1er aout 2003 pour l’initiative économique. Vergleiche dazu Becker, GmbHR 2003, 706 (707). 15 Neufassung von Art. L. 223–2 c. com.: „Le montant du capital de la société est fixé par les status. Il est divisé en parts sociales égales“. 16 http://premier-ministre.gouv.fr/fr/p.cfm?ref=36150. 17 Neben der Abschaffung eines Mindeststammkapitals soll ein vereinfachtes Gründungsverfahren unter Nutzung neuer elektronischer Technologien dazu beitragen, eine SARL innerhalb von 24 Stunden zu gründen („Blitz- SARL“), dazu Becker GmbHR 2003, 706. 18 „Sociedad Limitada Nueva Empressa“. Unter Verwendung von standardisierten Gesellschaftsverträgen haben die Gründer Anspruch auf Eintragung in das Handelsregister binnen 48 Stunden nach Errichtung der notariellen Urkunde. Vgl. dazu Vietz GmbHR 2003, 523; dies. GmbHR 2003, 26; Melchior/Schulte GmbHR 2003, R1. 19 Europäische Charta für Kleinunternehmen: Jahresbericht über die Umsetzung, KOM (2001) 122 endgültig. 11 12

6

Uwe Blaurock

schaffen, denn die spätere Verwendung des alten GmbH-Mantels qualifiziert der BGH als eine wirtschaftliche Neugründung, so dass die Vorschriften über die Kapitalaufbringung und des Kapitalerhalts auf die Einbringung von Unternehmen in die Mantel-GmbH analoge Anwendung finden. 20 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn in der Literatur die Bandbreite der Reformvorschläge von einer bloßen Streichung der gesetzlichen Mindestkapitalziffer ohne Änderung des Gesamtsystems bis hin zur Abschaffung des festen Mindestkapitals einschließlich der Regeln zur Kapitalaufbringung und -erhaltung reicht. 21

II. Institutionelle Haftungsbeschränkung 1. Juristische Person Zwischen juristischer Persönlichkeit und institutioneller Haftungsbeschränkung besteht weder ein zwingender rechtstheoretischer noch ein funktionaler Zusammenhang. Die institutionelle Haftungsbeschränkung lässt sich nicht dogmatisch mit den Lehren zum Wesen der juristischen Person erklären. Die Gleichstellung der juristischen Person mit natürlichen Personen legt zwar die institutionelle Haftungsbeschränkung nahe, denn hinter natürlichen Personen haften in der Regel auch nicht weitere Schuldner. 22 Jedoch ist dieser Schluss nicht zwingend, vielmehr kann die Rechtsordnung trotz juristischer Persönlichkeit die Mithaftung ihrer Mitglieder anordnen (z. B. §§ 278 Abs. 1, 3 AktG, 161 Abs. 2, 128 HGB). Das Haftungsprivileg ist damit kein notwendiges Merkmal der juristischen Person. 23 Aufgrund der Haftungstrennung besteht aber ein Regel-Ausnahme-Prinzip zwischen Haftungsbeschränkung und Haftungsdurchgriff. Diese Umkehrung des Regel-Ausnahme-Prinzips von unbeschränkter zu beschränkter Haftung ist rechtstheoretisch und rechtspraktisch die Hauptfunktion der juristischen Personifizierung. 24

BGH ZIP 2003, 1698. Kulms ZvglRWiss 102 (2003), 272; Meilicke GmbHR 2003, 1271 (1273); ders. GmbHR 2003, 793 (808). Anders Bachmann ZGR 2001, 351 (365 ff.), der vorschlägt, es einer GmbH künftig freizustellen, ob sie das volle Kapital aufbringen will und eine etwaige Nichtaufbringung offenlegen müsste. 22 Raiser FS Lutter, 2000, S. 640 f. 23 Näher dazu Raiser FS Lutter, S. 637 ff. 24 Dazu näher Bruns, Haftungsbeschränkung und Mindesthaftung, 2003, § 7 II 2c, S. 189. 20 21

Mindestkapital und Haftung bei der GmbH

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2. Mindestkapital Wenn man sich auch darin einig ist, dass das Haftungsprivileg kein notwendiges Merkmal der juristischen Person ist, so wird aber umgekehrt gelehrt, es bestehe ein zwingender Zusammenhang zwischen Mindestkapitalisierung und Enthaftung der Mitglieder: eine angemessene Eigenkapitalausstattung, die durch Mindestkapitalvorschriften gewährleistet werde, sei notwendige Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Haftungsprivilegs.25 Damit existiere ein funktionaler Zusammenhang zwischen Mindestkapitalisierung und institutioneller Haftungsbeschränkung, weil sich hierdurch die persönliche Entlastung der Anlagegesellschafter mit der Sicherung der Keditwürdigkeit der Unternehmen in idealer Weise verbinde.26 Jedoch macht diese Lehre nicht hinreichend deutlich, dass die Festlegung einer Mindestkapitalisierung durch gesetzliche Mindestkapitalziffer lediglich eine rechtspolitische Entscheidung zur angemessenen Verteilung des Unternehmensrisikos zwischen Gesellschaftern und Gläubigern ist. Ein zwingender Zusammenhang zwischen Eigenkapitalausstattung durch Mindestkapitalziffer und institutioneller Haftungsbeschränkung lässt sich dagegen nicht herstellen. So genießt etwa der nichtwirtschaftliche eingetragene Verein eine institutionelle Haftungsbeschränkung, die mittelbar aus der Handelndenhaftung nach § 54 BGB abgeleitet werden kann, obwohl keine Eigenkapitalausstattung durch gesetzliche Mindestkapitalvorschriften verlangt wird.27 Ebenso besteht bei dem wirtschaftlichen eingetragenen Verein nach Erteilung der Konzession eine institutionelle Haftungsbegrenzung ohne Mindestkapitalvorschriften. 3. Bedürfnis eines effektiven Gläubigerschutzes Durch die Möglichkeit einer beschränkten Haftung erhöht sich das Ausfallrisiko der Gläubiger. Grundsätzlich trägt zwar jeder Gläubiger das Insolvenzrisiko seines Schuldners verbunden mit dem Grundsatz, dass der Schuldner auch mit seinem gesamten Vermögen unbeschränkt persönlich haftet. Gesteht das Gesetz aus volkswirtschaftlichen Gründen Unternehmern zu, ihre persönliche Haftung durch Gründung einer Kapitalgesellschaft zu beschränken, besteht die Gefahr, dass der Unternehmer sein unternehmerisches Risiko auf die Kreditgeber abwälzt, obwohl diese keinen Einfluss auf die Geschicke des Unternehmens haben. 28 Daher fordert das So insbesondere Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, § 4 I 3b, S. 203. Wiedemann (Fn. 25) S. 203. 27 Der BGH hat aber eine Haftung der Mitglieder wegen materieller Unterkapitalisierung bei einem Verein anerkannt, der als Pächter von an die Mitglieder weiter vergebenen Kleingartengrundstücken auftrat, von diesen aber nicht mit dem Kapital aufgestattet wurde, das zur Zahlung der Pachtzinsen benötigt wurde, BGHZ 54, 222. 28 Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, § 10 I 1; vgl. auch BT-Drucks. 8/3908, S. 69. 25 26

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Gläubigerschutzprinzip als Korrelat zur beschränkten Haftung, dass das Unternehmens- und Ausfallrisiko zwischen Eigenkapital- und Fremdkapitalgebern (Kreditgebern) angemessen verteilt wird. 29 Dabei spielen die Funktionen von Eigen- und Fremdkapital eine entscheidende Rolle. Das Eigenkapital wird dem Unternehmen zur Verfügung gestellt, um damit zu wirtschaften. Gleichzeitig ist es Risikokapital: Unternehmensverluste treffen zuerst das Eigenkapital. Das Ausfallrisiko des Fremdkapitalgeber besteht also erst, wenn das Eigenkapital aufbraucht ist (Verlustpufferfunktion des Eigenkapitals). 30 Ferner dient das Eigenkapital als Liquiditätspuffer. Mit einer Fremdkapitalfinanzierung ist zwangsläufig ein gewisses Liquiditätsrisiko verbunden, denn es bedarf liquider Mittel, um die fälligen Verbindlichkeiten zu begleichen. Unter dem Gesichtspunkt des Liquiditätsrisikos ist freilich der Bedarf an Eigenkapital umso geringer, je weiter die Fälligkeit des Fremdkapitals hinausgeschoben ist.

III. Funktionen des Mindestkapitals 1. Gläubigerschutz und Kapitalisierungsfunktion Die Eigenkapitalausstattung einer Gesellschaft hat aufgrund der Verlustpufferfunktion entscheidende Bedeutung für den Gläubigerschutz. Ein durch Mindestkapitalregeln bezweckter Gläubigerschutz könnte allerdings auch in anderer Weise erreicht werden. So wird als Alternative zum Mindestkapitalsystem im anglo-amerikanischen Rechtskreis versucht, eine angemessene Eigenkapitalausstattung der Gesellschaften durch privatautonome Risikoabsicherung und Selbstregulation des Marktes zu bewirken. Darüber hinaus wird der Kapitalisierungsschutz durch Dividendenbeschränkungen – also einem höheren Kapitalerhaltungsstandard als dem durch § 30 GmbHG geleisteten – und mittels Durchgriffshaftung wegen materieller Unterkapitalisierung verwirklicht. 31 Im kontinentaleuropäischen Rechtskreis soll hingegen durch eine gesetzliche Mindestkapitalziffer eine gewisse Eigenkapitalausstattung der Gesellschaft gewährleistet werden. Die strengen Regeln über die Kapitalaufbringung stellen sicher, dass dieses Eigenkapital der Gesellschaft auch tatsächlich Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, § 10 I 1. Vgl. Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2003, Rn. 150, der aber auch klarstellt, dass das Eigenkapital diese Pufferfunktion unabhängig davon übernimmt, ob seine Aufbringung durch Gesetz vorgeschrieben ist oder auf einer privatautonomen Entscheidung beruht. 31 Wobei die Durchgriffshaftung („piercing the corporate veil“) im Vereinigten Königreich sehr restriktiv gehandhabt wird, dazu Bruns (Fn. 24) § 5 II 2, S. 127. 29 30

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zufließt. Die Regeln über die Kapitalerhaltung verbieten eine Rückausschüttung dieses Eigenkapitals an die Gesellschafter, wobei § 30 GmbHG eine Rückausschüttung nur unterhalb des Stammkapitals verbietet. § 57 AktG hingegen verhindert jede Rückausschüttung jenseits des Bilanzgewinnes, bietet also einen mit den Regelungen des anglo-amerikanischen Rechtskreises vergleichbar hohen Kapitalerhaltungsstandard. Insbesondere wegen der Funktion des Mindestkapitals als Haftungsfonds für die Gläubiger hat Wiedemann das gesetzliche Mindestkapital als „Kulturleistung ersten Ranges“ 32 gefeiert. a) Kein Schutz gegen Auszehrung des Haftungsfonds durch Verluste Die Bezeichnung des Mindestkapitals als Haftungsfonds für die Gläubiger zieht indessen die irrige Vorstellung nach sich, dass den Gläubigern stets eine feste Haftungsmasse zur Verfügung steht, mindestens in Höhe des Stammkapitals. Der Nennbetrag des Stammkapitals garantiert ein entsprechendes Vermögen jedoch nur für den Augenblick der Gründung bzw. der Kapitalerhöhung der GmbH. 33 Für den weiteren Verlauf der Entwicklung der Gesellschaft stellt die Stammkapitalziffer nur noch eine bilanzielle Rechengröße dar, denn mit dem Eigenkapital wird gearbeitet, es ist Betriebskapital. Das Mindestkapital bietet daher kein Schutz gegen Auszehrung des „Haftungsfonds“ durch Verluste. Zwar verlangt das Rückzahlungsverbot des § 30 GmbHG auch, dass Verlustvorträge, die das Stammkapital schmälern, erst durch spätere Gewinne wieder ausgeglichen werden müssen, ehe Gewinne ausgeschüttet werden dürfen; aber auch dies verfängt nicht gegenüber fortlaufenden Verlusten. b) Keine Orientierung am individuellen Eigenkapitalbedarf Ferner lässt die abstrakte Festlegung einer gesetzlichen Mindestkapitalziffer eine Orientierung am individuellen Eigenkapitalbedarf des jeweiligen Unternehmens und damit am konkreten Insolvenzrisiko des Rechtsverkehrs vermissen. Somit ist jede Nennkapitalziffer nichtssagend, weil es an einem konkreten Bezugspunkt fehlt; die abstrakte Festlegung einer Nennkapitalziffer wirkt vielmehr willkürlich. Dies zeigt sich schon daran, dass die im Jahre 1892 die die GmbH vorgesehenen 20 000 Mark einen ganz an-

Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, § 10 IV 1. Frey FS Wiedemann, 2002, S. 851 (852); Kübler, Aktie, Unternehmensfinanzierung und Kapitalmarkt, 1989, S. 30; ders. AG 1994, 141 (145 f.); Fabricius GmbHR 1970, 137 (139). 32 33

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deren Wert repräsentierten als 50 000 DM im Jahre 1980. 34 Das neue Minimum von 50 000 DM war bereits 1980 nicht so hoch, als dass es den echten Kapitalbedarf der durchschnittlichen GmbH repräsentiert hätte. Über zwei Jahrzehnte später muss die effektive Bedeutung des Mindeststammkapitals noch stärker relativiert werden. Minimale Befriedigungsquoten für einfache Insolvenzgläubiger und die große Zahl masseloser Insolvenzen belegen, dass effektiver Gläubigerschutz durch ein Mindeststammkapital von 25 000 Euro nicht gewährleistet wird. 35 Ist das Mindestkapital mithin für den Gläubigerschutz schon ein wenig effektives Instrument, so sagt darüber hinaus der Blick in das Handelsregister nichts darüber aus, was im Zeitpunkt der Insolvenz noch an Gesellschaftsvermögen vorhanden ist. Gläubigerschutz durch Mindeststammkapital erweist sich damit als Illusion. Im Lichte dieser Erkenntnisse entschloss sich deshalb auch Frankreich, das Erfordernis eines Mindeststammkapitals bei der SARL abzuschaffen. 36 c) Privatautonome Risikoabsicherung Abgesehen davon, ist ein Gläubigerschutz durch ein festes Mindestkapital in den meisten Fällen auch nicht erforderlich, da die Gläubiger schon auf andere Weise ausreichend und oft effektiver geschützt sind. So sind die Finanzgläubiger dazu übergegangen, sich durch umfangreiche Vertragswerke selbst zu schützen, um damit maßgeschneiderte Lösungen zu erreichen. Waren- und Dienstleistungsgläubiger können auf dingliche oder persönliche Sicherheiten zurückgreifen. Ein solches System der privatautonomen Risikoverteilung funktioniert allerdings bei Kleingläubigern nicht. Unterhalb einer gewissen Höhe lohnt es sich aufgrund der hohen Transaktionskosten nicht, die Vertragsbedingungen individuell auszuhandeln, 37 bzw. es besteht hierzu gar keine Möglichkeit. Dies gilt auch für die Gläubigergruppe der Arbeitnehmer. Bei dieser wird jedoch das Risiko der insolvenzbedingten Arbeitslosigkeit hauptsächlich durch die Arbeitslosenversicherung aufgefangen. Schließlich versagt das System der privaten Risikoverteilung vor allem bei Deliktsgläubigern. Allerdings hat hier der Gläubiger in der Person des unmittelbar Handelnden 34 Dazu Fromm, Gläubigerschutz durch Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung in Kommanditgesellschaft und Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Diss. Bonn 1979, S. 76 ff. 35 Bereits 1990 betrug die durchschnittliche Höhe der Verluste der GmbH in abgewickelten Konkursverfahren 1,6 Millionen DM , Statistisches Jahrbuch 1992, S. 152. 36 Vgl. Exposé des motifs de project de loi pour l’initiative économique, S. 3: „Si l’exigence d’un capital social minimal avait initialement pour but de protéger les créanciers en apportant une garantie face aux engagements, celle-ci est, dans les faits, illusoire puisque le capital social est le plus souvent dépensé dans les premières semaines d’activité“. 37 Bauer, Gläubigerschutz durch formelle Nennkapitalziffer, Diss. Frankfurt a.M. 1995, S. 106.

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einen als natürliche Person unbeschränkt haftenden Schuldner; zudem wird ein Großteil der Haftungsrisiken durch Versicherungen abgedeckt. 38 2. „Eintrittspreis“ für das Privileg der beschränkten Haftung Kernstück der GmbH-Novelle von 1980 war die Erhöhung des Mindeststammkapitals von damals 20 000 DM auf 50 000 DM . Gesetzgeberische Ratio war dabei, „die Schwelle der Inanspruchnahme der beschränkten Haftung zu erhöhen (…), denn die (Haftungsbeschränkung) erlaube es, das Risiko des Scheiterns eines Unternehmens letztlich auf Dritte, auf die Gläubiger zu verlagern. Es liege auf der Hand, dass der bisherige Betrag von 20 000 DM nicht mehr ausreiche, um die Haftungsbeschränkung zu rechtfertigen. Die Anhebung habe eine erzieherische Funktion“.39 Die Vorstellung, dass nur eine Art „Eintrittspreis“ die Inanspruchnahme des Haftungsprivilegs rechtfertige, knüpft an die in der Literatur vertretene These an, nur eine angemessene Eigenkapitalausstattung erlaube die in der Haftungsbeschränkung liegende Externalisierung des Unternehmensrisikos. 40 Die gesetzliche Festlegung einer angemessenen Eigenkapitalausstattung ist jedoch praktisch unmöglich; es würde auch an einem konkreten Bezug zur Unternehmenstätigkeit fehlen. Ferner lässt sich, wie dargelegt, kein zwingender Zusammenhang zwischen der institutionellen Haftungsbeschränkung und einer Mindestkapitalausstattung herstellen. Das Erfordernis eines gesetzlichen Mindestkapitals ist vielmehr eine rechtspolitische Entscheidung, aber keineswegs zwingend für die Inanspruchnahme des Haftungsprivilegs. Ob ein Gesellschafter institutionell beschränkt oder unbeschränkt haftet, hängt nicht davon ab, in welcher Höhe er der Gesellschaft Eigenkapital zur Verfügung stellt. Alleine entscheidend ist die Wahl der von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellten Rechtsform. 41 Deshalb hat Raiser vor allem auf die ordnungspolitische Funktion des Mindestkapitals abgestellt: Das Privileg der Haftungsbeschränkung solle nur demjenigen zugute kommen, der bereit sei, als Kompensation dafür eine gewisse Mindesthaftung zu übernehmen. 42 Damit habe das Mindeststammkapital eine „erzieherische Funktion“, die das verantwortungsbewusste Wirtschaften fördere, wenn dieses mit einem spürbaren eigenen Ri38 Kübler Aktie, S. 32. Im Bereich der Produkthaftung bestehen aber noch große unversicherte Risiken. Dazu Adams, Eigentum, Kontrolle und Beschränkte Haftung, 1991, S. 65 ff. 39 BT-Drucks. 8/3908, S. 68 f. 40 Wiedemann, Haftungsbeschränkung und Kapitaleinsatz, 1968, S. 18; Immenga, Die personalistische Kapitalgesellschaft, 1970, S. 391 f.; Gessler GmbHR 1966, 106; Lutter, Kapital, Sicherung der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung in den Aktien- und GmbHRechten der EWG , 1964, S. 54. 41 Ballerstedt GmbHR 1967, 69; 42 Die Stellungnahme von Raiser ist abgedruckt in BT-Drucks. 8/3908, S. 68.

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siko verbunden sei. 43 Ähnlich argumentiert Schön, wenn er von der „kollektivvertraglichen Wirkung“ des zugesagten Haftkapitals spricht: 44 Zwischen den Gründern und dem Publikum entstehe ein „Kollektivvertrag“ durch die Zusage einer finanziellen Eigenbeteiligung, die damit als Aussage über die Einschätzung der Risiken und der künftigen Geschäftpolitik der Unternehmung verstanden werden kann. Die Wirkung einer solchen „erzieherischen Funktion“ lässt sich allerdings kaum messen. Einerseits fehlen Erkenntnisse über einen Zusammenhang zwischen der Höhe des Stammkapitals (bei Gründung) und der Insolvenzanfälligkeit einer Gesellschaft, und zum anderen zeigt die Insolvenzstatistik der letzten Jahre, dass die Insolvenzquote mit Erhöhung des Mindeststammkapitals auf 50 000 DM nicht gefallen, sondern konstant geblieben, zeitweise sogar gestiegen ist. 45 3. Seriositätsschwelle Eng an das ordnungspolitische Konzept des „Eintrittspreises für die beschränkte Haftung“ knüpft die These von der „Seriositätsschwelle“ des Mindeststammkapitals an. 46 Dabei wird die Formulierung des GmbH-Gesetzgebers von 1892 wieder aufgegriffen, der durch ein Mindeststammkapital vor „unsoliden Gesellschaften“47 schützen wollte. Wie Fabricius 48 herausstellt, war das Motiv des historischen Gesetzgebers von 1892 zumindest auch auf dem staatspolitischen Hintergrund der gewollten Beschränkung der Vereinigungsfreiheit zu sehen. Durch ein vergleichsweise hohes Mindeststammkapital von 20 000 Mark49 sollte zum einen eine ausreichende Kapitalisierung der Gesellschaft zum Schutz der Gläubiger erreicht werden, andererseits wollte man aber auch Vereinigungen mit sozialpolitischer Zielsetzung nur unter erschwerten Bedingungen Vermögensfähigkeit zuerkennen, weil sie „als fest gegliederte Körperschaften (…) einer Machtentfaltung fähig“ seien, „die sich im voraus nicht ermes43 44

BT-Drucks. 8/3908, S. 69. Schön ZHR 166 (2002), 1 (3 f.)

45 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1976, S. 176 und S. 192; 1981, S. 113 und S. 133; 1986, S. 116 und S. 133; 1991, S. 141 und S. 150; 1999, S. 138. 46 Teilweise wird zwischen beiden Funktion auch nicht unterschieden. Nach Kreuzer ZIP 1980, 597 (599) wird nur durch die Erhöhung des effektiven „Eintrittspreises“ eine „Seriositätsschwelle“ geschaffen, welche die Gründung einer GmbH wirklich erschwert. Zur Funktion des Mindeststammkapitals als Seriositätsschwelle auch K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 18 II 4; Ballerstedt ZHR 135 (1971), 384 ff.; v. Caemmerer in: liber amicorum Pieter Sanders, 1972, S. 18. 47 Entwurf 1892, S. 40. 48 In GmbHR 1970, 137 (138). 49 Der Betrag von 20 000 Mark reichte damals aus, um damit ein Eigenheim zu errichten, vgl. Knur, Probleme der GmbH-Reform, S. 165, 175.

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sen“ lasse. 50 Somit stand 1892 neben der wirtschaftlichen auch die politische Solidität im Vordergrund. 51 Heute kann jedoch nur noch das Motiv der wirtschaftlichen Solidität eine Rolle spielen. a) Indiz für persönliche Seriosität Als Indiz für persönliche Seriosität ist ein Mindeststammkapital von 25 000 Euro nicht ausreichend. Auch ein höchst unseriöser Unternehmer kann diesen Betrag leicht aufbringen. Im Übrigen schützt vor persönlich unseriösen Unternehmern bereits § 6 Abs. 2 Satz 3 und 4 GmbHG . Danach kann derjenige, der wegen einer bestimmten Straftat verurteilt wurde bzw. mit Berufs- oder Gewerbeausübungsverbot belegt wurde, nicht Geschäftsführer einer GmbH sein. Ferner besteht eine Anzeigepflicht nach § 14 GewO, soweit ein Gewerbebetrieb besteht. Die Ausübung des Gewerbes durch eine unzuverlässige Person, kann zur Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO führen. Diese Vorschriften reichen aus. b) Ordnungspolitisches Seriositätsprinzip Daher kann mit dem Mindeststammkapital nur ein ordnungspolitisches Seriositätsindiz gemeint sein. Der deutsche Markt soll vor einer Flut von überstürzten und damit unsoliden GmbH-Gründungen bewahrt werden. Diese Funktion wird zum Großteil bereits durch die Warn- und Beratungsfunktion 52 der notarielle Beurkundungspflichtigkeit des Gesellschaftsvertrages übernommen, denn die Beurkundungspflichtigkeit im Rahmen des § 2 Abs. 1 Satz 1 GmbHG hat auch das Ziel, übereilte GmbH-Gründungen zu verhindern. 53 Insofern besteht also schon ein gewisser Mindestschutz vor übereilten GmbH-Gründungen; eine zusätzliche Seriositätsschwelle durch ein Mindeststammkapital ist deshalb nicht erforderlich. Es ist auch fraglich, ob ein Mindeststammkapital von 25 000 Euro überhaupt ein geeignetes Indiz für die wirtschaftliche Solidität einer Gesellschaft sein kann. Ein solches Indiz müsste an die konkrete Leistungsfähigkeit der Gesellschafter bei der Gründung in Höhe von 12 500 Euro (§ 7 Abs. 2 Satz 2 GmbHG ) anknüpfen. Die darüber hinausgehende Mindestkapitalziffer erhöht zwar das Verlustrisiko des Gesellschafters und kann damit zu einer etwas größeren Vorsicht bei der Gründung anregen, dies aber nur bei den50 Motive zum Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches, Protokolle der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs des BGB in Mugdan, Die gesamten Materialien zum bürgerlichen Gesetzbuch für das deutsche Reich, 1899, S. 401. 51 Bauer (Fn. 37) S. 136. 52 RGZ 54, 418 (419); BGH NJW 1969, 1856; Ulmer in Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl. 1992, § 2 Rn. 11. 53 Ulmer (Fn. 52) § 2 Rn. 11.

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jenigen, die tatsächlich ein höheres Risiko laufen. 54 Denn diejenigen, die über 12 500 Euro hinaus ohnehin nicht liquide sind, daher nichts einzusetzen und deshalb nichts zu verlieren haben, hält man mit einem höheren Verlustrisiko von insgesamt 25 000 Euro auch nicht von der Gründung ab. 55 Somit können durch die heutige Regelung des Mindeststammkapitals nur die gänzlich illiquiden Unternehmer an einer GmbH-Gründung gehindert werden, die aber ohnehin bereits am Gründungsaufwand (notarieller Beurkundspflichtigkeit, anwaltliche Beratung) scheitern werden. 56 4. Anleger- und Minderheitenschutz Die Pflicht zur Aufbringung und Belassung einer Mindesteinlage verbindet die Gesellschafter zu einer Risikogemeinschaft,57 aus der sich der einzelne nicht ohne weiteres zum Nachteil der anderen verabschieden kann, weder durch offene noch durch verdeckte Einlagenrückgewähr. Der durch das Recht der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung insofern gewährleistete Gleichbehandlungsschutz knüpft aber nicht notwendigerweise an ein gesetzliches Mindestkapital an, sondern kann auch bei privatautonom festsetzbarem Stamm- bzw. Grundkapital gewährleistet werden. Die gesetzliche Mindestkapitalziffer hat für sich genommen daher keinerlei anlegerschützende Funktion. 5. Selbsterhaltungsschutz durch präventiven Überschuldungsschutz Schließlich besteht ein Zusammenhang zwischen dem notwendigen Mindestkapital und dem Insolvenzrecht. Bei juristischen Personen kennt das Insolvenzrecht den besonderen Eröffnungsgrund der Überschuldung (§§ 16, 19 Abs. 1 InsO), die eintritt, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt (§ 19 Abs. 2 S. 1 InsO). Bei der AG und der GmbH gewährt das Gesetz darüber hinaus dem Leitungsorgan zur Stellung des Insolvenzantrages eine zusätzliche Frist von drei Wochen nach Feststellung der Überschuldung (§ 92 Abs. 2 Satz 2 AktG, § 64 Abs. 1 Satz 2 GmbHG). Anders als in der Handelsbilanz wird die Einlage in der Insolvenzbilanz nicht passiviert. 58 Durch das gesetzliche Mindestkapital verleiht das Recht den Kapitalgesellschaften also erst ihre Lebensfähigkeit, Kreuzer ZIP 1980, 597 (599). Kreuzer ZIP 1980, 597 (599). 56 Bitz/Hemmerde/Rausch, Gesetzliche Regelungen und Reformvorschläge zum Gläubigerschutz, 1986, S. 143. 57 Der Gesetzgeber von 1892 sprach dabei von einem „Ernstlichkeitstest“ der Gesellschafter untereinander, der durch die Einzahlungsvorgänge belegt werde, vgl. Entwurf 1892, S. 59. Dazu näher Fromm (Fn. 34) S. 75 ff. 58 Baumbach/Hueck, GmbH-Gesetz, 17. Aufl. 2000, § 34 Rn. 23. 54 55

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weil sonst insbesondere in der Startphase ständig geprüft werden müsste, ob nicht bereits Überschuldung eingetreten ist. Die Lebenserhaltungsfunktion 59 des Mindestkapitals zeigt sich besonders deutlich in der Pflicht der Geschäftsleitung zur Einberufung der Gesellschafter- bzw. Hauptversammlung, wenn eine Unterbilanz in Höhe der Hälfte des Stamm- bzw. Grundkapitals besteht (§ 49 Abs. 3 GmbHG , § 92 Abs. 1 Satz 1 AktG). Hier treffen Anlegerschutz, Gläubigerschutz und Selbsterhaltungsschutz zusammen, wobei aber die Gesellschaft gegenüber ihren Gesellschaftern keinen Anspruch auf Bestand hat 60 (vgl. § 262 Abs. 1 Nr. 2 AktG, § 60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG ). Diese Funktion kann jedoch ebenfalls ein statutarisches Stammbzw. Grundkapital erfüllen. So knüpfen auch § 49 Abs. 3 GmbHG und § 92 Abs. 1 Satz 1 AktG nicht an die Mindestkapitalziffer von 25 000 bzw. 50 000 Euro, sondern an das statutarische Stamm- bzw. Grundkapital an.

IV. Institutionelle Haftungsbeschränkung ohne Mindestkapital 1. Befundsanalyse Damit ergibt sich folgender Befund: Das Mindestkapital ist nahezu funktionslos geworden. Es vermag keine angemessene Eigenkapitalausstattung und damit auch keinen effektiven Gläubigerschutz zu gewährleisten. Auch als (abstraktes) Indiz für wirtschaftliche Solidität, mithin ein ordnungspolitisches Motiv, ist das Mindeststammkapital bei der GmbH allenfalls dazu geeignet, gänzlich illiquide Unternehmer von der GmbH-Gründung abzuhalten. Die volkswirtschaftlichen Nachteile der Mindestkapitalregelung sind dagegen nicht von der Hand zu weisen. So sind auch solche Gesellschaften zur Aufbringung des Mindestkapitals verpflichtet, deren Zweck aus Sicht eventueller Gläubiger überhaupt nicht ein so hohes Eigenkapital erfordert, wie z. B. bei vielen Gesellschaften mbH mit gemeinnützigen oder ideellen Zwecken, Verwaltungsgesellschaften ohne Umsatz usw. 61 Dies hat eine Fehlallokation von Mitteln zur Folge. 62 Auf der anderen Seite wird der mit einem solchen Mindeststammkapital bezweckte Gläubigerschutz nur unzureichend verwirklicht. Zum einen gleicht ein Mindeststammkapital von 25 000 Euro bei einem durchschnittlichen Forderungsausfall von 2,7 Mio. Euro aller abgewickelten Insolvenz59 Näher zu dieser Funktion des Mindestkapitals Bruns, Haftungsbeschränkung und Mindesthaftung, 2003, § 7 V 4 c, S. 202 f. 60 BGH NJW 2002, 3024 (3025) – KBV. 61 Kreuzer ZIP 1980, 597 (599). 62 Vgl. die Stellungnahme der Centrale für GmbH gegenüber dem Rechtsausschuss des Bundestages, GmbHR 1978, 193 (194).

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verfahren im Jahre 2002 63 nur einem Tropfen auf den heißen Stein. Der Betrag von 25 000 Euro reicht noch nicht einmal als Startkapital für wirtschaftliche Unternehmungen aus und würde bei einem Einzelunternehmer auch nicht genügen, um die Kaufmannseigenschaft nach § 1 Abs. 2 HGB zu begründen. 64 Insoweit wäre daher eine wesentlich höhere Mindestkapitalziffer angebracht. Darüber hinaus ist ein gesetzliches Mindestkapital nicht nur ein ineffektives Instrument zur Gläubigersicherung, es kann die Gläubiger vielmehr auch in die Irre führen: 65 Der verbreitete Irrglaube, Gläubigern stehe ein Haft- oder Garantiekapital in der im Handelsregister vermerkten Höhe zur Verfügung, kann diese verleiten, auf eine eigenverantwortliche Risikoabsicherung zu verzichten. 66 Angesichts der funktionellen Defizite des gesetzlichen Mindestkapitals liegt es nahe, zumindest die Regeln über eine feste Mindestkapitalziffer zu überdenken. 67 Wie erwähnt, besteht kein zwingender Zusammenhang zwischen einer Mindestkapitalausstattung und der institutionellen Haftungsbeschränkung. Die juristische Persönlichkeit ist zwar die konstruktive Grundlage für eine Haftungstrennung. Aus dem Wesen der juristischen Person ergibt sich aber kein notwendiger Zusammenhang zwischen Mindesthaftung und Haftungsbeschränkung. Nach der Fiktionstheorie ist es Aufgabe der Rechtsordnung, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Haftungsprivilegs zu formulieren. Die Theorie von der realen Verbandspersönlichkeit lässt überhaupt keine Rückschlüsse auf die Finanzverfassung der juristischen Person zu. Nur die Zweckvermögenstheorie verlangt die Bereitstellung eines Sondervermögens, sagt aber nichts über dessen Höhe aus. Mithin kann dieses auch nur 1 Euro betragen. Die inzwischen komplexen Regeln 68 über die Aufbringung des Mindeststammkapitals werden ihrer wirtschaftlichen Bedeutung nicht mehr gerecht. Es empfiehlt sich deshalb, das Mindeststammkapital der GmbH auf den symbolischen Betrag von 1 Euro zu reduzieren. Dies kann ebenso wie in Frankreich ohne Systembruch geschehen, denn das Kapitalschutzsystem kontinentaleuropäischer Prägung mit seinen strengen Regeln zur Kapitalaufbringung und -erhaltung (Ausschüttungsverbot) kann hier beibehalten Statistische Jahrbuch für die Bundesrepublik 2003, S. 138. Vgl. dazu Fromm (Fn. 34) S. 87. 65 Wymeersch Company Law in Europe and European Company Law, Referat auf dem 1. Europäischen Juristentag, 2001, Abt. II , Gemeinschaftsweite Unternehmenstätigkeit, S. 85 (130 f.) 66 So Kübler, Aktie, S. 30 ff. Ein Blick in die USA zeigt, dass dort die Eigenkapitalquote trotz fehlender Mindestkapitalvorschriften wesentlicher höher liegt als in Deutschland, Perlitz/Küpper/Löbler ZGR 1985, 16 (18). 67 Vgl. Hirte Kapitalgesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2003, Rn. 5.25 f. (S. 216) 68 Vgl. nur die Rechtsprechung zur „verschleierten Sacheinlage“, BGHZ 110, 47 ( IBH / Lemmers); BGHZ 113, 335; Lutter/Hommelhoff, GmbH-Gesetz, 15. Aufl. 2000, § 5 Rn. 37 ff. Kritisch zuletzt Wilhelm ZHR 167 (2003), 520 (540). 63 64

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werden. Ein solchermaßen flexibles Haftkapital ermöglicht es den Unternehmen, den tatsächlichen Kapitalbedarf des jeweiligen Unternehmens individuell festzulegen. Es wird den Unternehmensgründern anheim gestellt, ob sie das Unternehmen mit einem geringen Stammkapital gründen und dann weiteres Eigenkapital in Form von offenen Rücklagen zuführen oder sie die Gesellschaft mit einem hohen Stammkapital ausstatten, was unter Umständen von Bedeutung für die Kreditgeber sein kann. Entscheiden sich die Unternehmensgründer für eine niedrige Stammkapitalziffer, so kann z. B. ein Unternehmen ohne langwierige registergerichtliche Prüfung (§ 9c Abs. 2 GmbHG) als über die Erfüllung der Stammeinlagepflicht hinausgehende „freie“ Sacheinlage eingebracht werden. Auch brauchen die Gründer nicht mehr im bisherigen Maße eine spätere Haftung wegen verschleierter Sacheinlage zu befürchten. Eine solche gesetzliche Konzeption würde die schnelle und flexible Gründung von Kleinunternehmen fördern und so auch volkswirtschaftlich positive Anreize zu unternehmerischer Tätigkeit schaffen. 69 Verbindet man diese Reform mit einer weiteren Beschleunigung des Verfahrens durch Einrichtung von Beratungszentren und Nutzung neuer elektronischer Technologien, kann auch in Deutschland die Gründung einer GmbH innerhalb von 24 Stunden Wirklichkeit werden (Blitz-GmbH).70 Dagegen lässt sich nicht anführen, inhaltliche Abstriche vom Mindeststammkapital unterminierten die Kreditwürdigkeit und Akzeptanz der GmbH. 71 Das Mindeststammkapital ist aufgrund des Stichtagprinzips gerade kein Kriterium für die Kreditwürdigkeit der GmbH. Für den Gläubigerschutz wäre es effektiver, von dem Konzept des institutionellen Gläubigerschutzes hin zum Konzept des informationellen Gläubigerschutzes zu wechseln, 72 bei dem sich zu jedem Zeitpunkt zeigt, ob die Gesellschaft ausreichend mit Eigenkapital ausgestattet ist. Der Vergleich mit anderen Rechtsordnungen zeigt, dass auch ohne Mindestkapital ein effektiver Gläubigerschutz gewährleistet werden kann. Im Vereinigten Königreich wird dies im Wege einer schärferen Geschäftsleiterhaftung im Liquidationsverfahren für betrügerische Geschäftsführung (fraudulent trading 73) und einer wesentlich weitergehenden Haftung des direcor bzw. shadow director für 69 Rogusch, Mindesteigenkapital, Haftungsbeschränkung und Gläubigerschutz bei der GmbH, Diss. Frankfurt a.M. 1979, S. 12 f.; Bauer (Fn. 37) S. 99. 70 So auch das ehrgeizige Ziel Frankreichs, vgl. dazu CES , Création et pérennisation de l’entreprise de petite taille, Rapport Annuel 2001. Näher zur französischen „Blitz- SARL“ Becker GmbHR 2003, 706. 71 So aber Melchior/Schulte GmbHR 2003, R 1. 72 Ähnlich die IAS -Verordnung ( EG ) Nr. 1606/2002, die mit Wirkung ab 2005 börsennotierte Unternehmen in der EG zur Erstellung der Konzernabschlüsse nach den International Accounting Standards verpflichten soll. Zugleich wird den Mitgliedstaaten die Option eingeräumt, auch die Einzelabschlüsse von Kapitalgesellschaften diesen informationsorientierten Bilanzregeln zu unterstellen. 73 Sec. 213 Insolvency Act 1986.

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fehlerhafte Geschäftsführung in der masselosen Insolvenz (wrongful trading 74) verwirklicht. Dabei muss man berücksichtigen, dass gerade in kleineren Gesellschaften die Geschäftsführerrolle häufig von Gesellschaftern übernommen wird und hier die Haftung des shadow director zur persönlichen Gesellschafterhaftung führt. In den USA schließlich spielt wegen fehlender gesetzlicher Garantiekapitalregeln die materielle Unterkapitalisierung als Grundlage des Haftungsdurchgriffs eine ganz wesentliche Rolle. 75 Verzichtet man auf ein Mindestkapital, dann bedarf es jedoch eines anderen Gläubigerkonzepts als Korrelat. Unabhängig davon sollte aber das allgemeine Kapitalsicherungskonzept beibehalten werden. Insbesondere die gesetzlichen Regeln über die Kapitalerhaltung gewährleisten, dass die Gesellschaft an ihre Gesellschafter nur dann Mittel ausschütten darf, wenn ein Bilanzgewinn oberhalb der zugesagten Haftsumme vorhanden ist. 76 Dieses System schützt weitgehend vor Manipulationen des Gesellschaftsvermögens durch die Gesellschafter. Es ist wegen seiner Präzision und Verlässlichkeit einem missbrauchsorientiertem piercing the corporate veil überlegen. 77 2. Alternative Gläubigerschutzkonzepte Bekanntlich ist die GmbH die insolvenzanfälligste Unternehmensform. 78 Das bisherige Mindestkapitalsystem balanciert das Unternehmensrisiko zwischen Gesellschaftern und Gläubigern nicht angemessen aus. Damit stellt sich die Frage, welches andere System die Aufgabe einer angemessenen Verteilung der Risiken übernehmen kann. a) Insolvenzverschleppungshaftung Aus dem Insolvenzrecht ist dabei keine Lösung zu erwarten. Für den Insolvenzgrund der Überschuldung ist stets auch eine Überlebensprognose zu stellen. Damit besteht hier aber stets auch ein Zeitrahmen. Innerhalb dieses Rahmens bemüht sich das Gesetz jedoch um eine möglichst frühzeitige Insolvenzanmeldung (§ 64 Abs. 1 Satz 1 GmbHG , § 92 Abs. 2 Satz 1 AktG). Verletzt der Geschäftsleiter seine Pflicht zur rechtzeitigen Insolvenzanmeldung, zieht dies eine verschuldensabhängige Schadensersatzhaftung nach sich (§ 823 Abs. 2 BGB). Den Altgläubigern ist der Quotenschaden zu ersetzen,79 Sec. 214 Insolvency Act 1986. Bruns (Fn. 59) § 4 IV 3, S. 100. 76 Schön ZHR 166 (2002), 1 (5). 77 Schön ZHR 166 (2002), 1 (5). 78 In der relativen Häufigkeit übertrifft sie andere Rechtsformen um das 3- bis 5fache; statistische Angaben bei Weitbrecht, Haftung der Gesellschafter wegen materieller Unterkapitalisierung der GmbH, 1990, S. 2 Fn. 7. 79 BGHZ 29, 100 (102 ff.); 126, 181; 138, 211. 74

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den Neugläubiger dagegen der volle Ausfall, da sie bei rechtzeitiger Insolvenzanmeldung nicht mehr mit der GmbH kontrahiert hätten.80 Ferner kommt eine Haftung wegen culpa in contrahendo81 sowie nach § 826 BGB82 in Betracht. Nicht nur der formelle, sondern auch der faktische Geschäftsführer,83 also jeder der die Geschicke der Gesellschaft wie ein bestellter Geschäftsführer lenkt, unterliegt der Insolvenzverschleppungshaftung. Zudem wurde eine Erweiterung der haftenden Personen über den Kreis der formellen und faktischen Geschäftsführer hinaus auch auf den beherrschenden bzw. unternehmerischen Gesellschafter ähnlich der Haftung des shadow director in England, teils über culpa in contrahendo, teils über Anstiftungsregelungen erreicht. Eine darüber hinausgehende generelle Erweiterung der Geschäftsleiterhaftung wegen Insolvenzverschleppung würde keine weiteren Vorteile für die Gläubiger bringen. b) Haftung wegen materieller Unterkapitalisierung Dagegen wäre das Unternehmensrisiko im Hinblick auf die Verlustpufferfunktion des Eigenkapitals durch eine ausreichende Eigenkapitalausstattung der Gesellschaft angemessen zwischen Gesellschaftern und Gläubigern verteilt. Anders als bei der abstrakten Festlegung einer Mindestkapitalziffer muss sich diese Kapitalstruktur an dem individuellen Kapitalbedarf des Unternehmens orientieren. Bislang wurde eine Haftung wegen materieller Unterkapitalisierung in Deutschland vor allem mit dem Argument abgelehnt, es gebe keine abstrakte Regel für die Bemessung des Eigenkapitals, insbesondere kein bestimmtes Verhältnis zwischen Fremd- und Eigenkapital. Das trifft zwar zu, jedoch kommt es gerade nicht auf eine abstrakte Regel an sondern auf die Umstände des Einzelfalles, für dessen Beurteilung sich Kriterien finden lassen. So kann ebenso wie bei der nominellen Unterkapitalisierung (§§ 32a, 32 b GmbHG) von einer ausreichenden Eigenkapitalisierung ausgegangen werden, solange und sofern das Unternehmen von dritter Seite zu marktüblichen Konditionen Kredit erlangen kann. Wenn dieses Abgrenzungsmerkmal bei der nominellen Unterkapitalisierung brauchbar ist, so muss es erst recht für die Beurteilung der materiellen Unterkapitalisierung tauglich sein. Ferner kommt es auf den Gegenstand der Gesellschaft an. Hier muss zwischen dem Haftkapital und dem nach der Satzung vorgesehenen Wirtschaftsziel eine vernünftige Relation bestehen. 84 80 81 82

BGHZ 126, 181. BGHZ 87, 27; BGH NJW 1984, 2284; BGH ZIP 1988, 505. BGHZ 108, 134 (142); BGH ZIP 1991, 1140 (1144); BGH ZIP 1992, 694. Für einen Aus-

bau der genannten Vorschriften zu einer eigenständigen Insolvenzverschleppungshaftung Merkt ZGR 2004, 305 (323). 83 BGHZ 104, 44 (46 ff.). 84 Hierzu im einzelnen Blaurock FS Stimpel, 1985, S. 553 (561 f.).

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Problematisch ist allerdings die dogmatische Anknüpfung einer solchen Haftung wegen materieller Unterkapitalisierung. Die Missbrauchslehre stellt auf subjektive Kriterien ab und spricht von einem Missbrauch der Haftungsbeschränkung. Eine Haftung wegen materieller Unterkapitalisierung ist demzufolge zugleich eine Verschuldenshaftung. 85 Die Normzwecktheorie knüpft dagegen allein an dem objektiven Missverhältnis zwischen erforderlichem und tatsächlichem Eigenkapital an. 86 Dies kommt einer Strukturhaftung gleich. Eine solche setzt aber ein ex ante abstrakt bestimmbares „richtiges“ Verhältnis von Eigen- und Fremdkapital voraus, was kaum möglich ist. Je nach Unternehmensstruktur kann auch eine hohe Fremdfinanzierung bei niedriger Eigenkapitalausstattung legitim sein. 87 Führt man dagegen die Unterkapitalisierung auf die Kreditunfähigkeit zurück, so liegt der Vorwurf darin, dass die Gesellschafter auf den sich ergebenden Kapitalbedarf nicht verantwortungsbewusst reagieren (Finanzierungsfolgeverantwortung). Damit ist die Haftung wegen materieller Unterkapitalisierung keine Struktur-, sondern eine Verhaltenshaftung. Diese knüpft an eine Pflichtverletzung gegenüber der GmbH an und ist folgerichtig verschuldensabhängig.88 So sind zwar die Gesellschafter nicht zur Zuführung neuen Eigenkapitals verpflichtet, sie stehen aber vor der Alternative der Sanierung oder Liquidation. Kann kein erfolgversprechendes Sanierungskonzept entwickelt werden, so muss die Liquidation erfolgen, um eine vorteilhaftere Verwertung des Aktivvermögens als in der Insolvenz zu erreichen. Diese Finanzierungsentscheidung fällt in die Verantwortung der Gesellschafter. Entscheiden sich aber die Gesellschafter trotz Kreditunfähigkeit der Gesellschaft zur Fortsetzung der Unternehmenstätigkeit, so haben sie die darin liegende Finanzierungsfolgeverantwortung zu tragen und können diese nicht auf die Fremdkapitalgeber abwälzen. Geht man von einer solchen Pflichtenbindung gegenüber der Gesellschaft aus, auf die die speziellen Pflichten der Gesellschafter aus Unterkapitalisierung zurückgeführt werden können, so ist gleichzeitig das Haftungskonzept als Innenhaftung festgelegt. 89 Die Haftung wegen materieller Unterkapitalisierung kommt anders als die herkömmliche Durchgriffshaftung nur in der Insolvenz der Gesellschaft zum Tragen; dann aber steht dem Insolvenzver85 Roth/Altmeppen, GmbHG Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Kommentar, 4. Aufl., § 13 Rn. 24; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., § 9 IV 4 c. 86 Lutter/Hommelhoff GmbHG (Fn. 68) § 13 Rn. 6; Banerjea ZIP 1999, 1153. 87 Roth/Altmeppen GmbHG (Fn.84) Einl. Rn. 30. 88 Ebenso Roth ZGR 1993, 170 (198 ff.); K. Schmidt Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., § 9 4c; Hölzle ZIP 2004, 1729. 89 So im Ergebnis auch Banerjea ZIP 1999, 1153; K. Schmidt Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., § 9 IV 5; Grunewald, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl., 2002, S. 375. In Übereinstimmung mit der herrschenden Durchgriffslehre entschied sich der BGH jedoch bei der Haftung wegen existenzvernichtendem Eingriffs für das Konzept der Außenhaftung, BGH NJW 2002, 3042 – KBV; näher dazu Wiedemann ZGR 2003, 283.

Mindestkapital und Haftung bei der GmbH

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walter das Zugriffsrecht zu, und es geht in erster Linie um eine Verstärkung der Insolvenzmasse. Das Konzept der Innenhaftung, das auf eine Pflichtverletzung im Verhältnis zur Gesellschaft gestützt wird, erfordert auch eine Schadensberechnung aus Sicht der Gesellschaft und nicht der Gläubiger. Der Vermögensverlust ist zu ersetzen, welcher der Gesellschaft durch eine nicht genutzte Sanierungschance oder durch das Versäumen einer vorteilhafteren Liquidation entstanden ist. Dieser Schaden deckt sich freilich in der Regel mit dem Ausfallschaden der Gläubiger, wenn man über die Minderung des Aktivvermögens auch die Schuldenvermehrung einrechnet. 90 c) Publizität Als Korrelat zur weitgehenden Finanzierungsautonomie müssen den Gläubigern Informationen im Hinblick auf die tatsächliche wirtschaftliche Situation und weitere Geschäftsentwicklung zur Verfügung gestellt werden, um die Kreditwürdigkeit der Gesellschaft beurteilen zu können und um sich gegebenenfalls Sicherheiten auszubedingen. Ein Vorbild für ausgeprägtere Publizitätspflichten kann das englische Recht liefern. Dort muss in dem jährlich zum Gesellschaftsregister einzureichenden Bericht (annual return) die Kapitalstruktur präzise aufgeschlüsselt sein. So müssen die aktuellen Beträge des Nominalkapitals, des gezeichneten, eingezahlten und noch ausstehenden Kapitals, der eingeforderten Einlagen sowie der ausgegebenen Schuldverschreibungen und der eingetragenen Belastungen des Gesellschaftsvermögens angegeben werden.91 Neben strengen Publizitätserfordernissen ist der zweite Pfeiler des englischen Gläubigerschutzkonzepts eine strenge Staatsaufsicht.92 Der Secretary of State kann von Amts wegen eine Sonderprüfung anordnen, wenn Anhaltspunkte bestehen, dass die Gesellschaft in grob missbräuchlicher, gesetzeswidriger oder betrügerischen Weise zum Nachteil der Gläubiger geführt wird.93 Bestätigt sich dieser Verdacht, so können die Behörden zum einen die Geschäftsleiter wegen Ungeeignetheit abberufen;94 ferner können sie die gerichtliche Auflösung der Gesellschaft veranlassen, wenn sich die Kapitalausstattung als völlig unzureichend erweist.95 Ob über die Publizität hinaus ein solches System der Staatskontrolle für die deutsche GmbH geeignet ist, kann man bezweifeln. Aber jedenfalls hat diese ex-post-Kontrolle den Vorteil, dass sie sich am jeweiligen Eigenkapitalbedarf des Unternehmens orientiert und entsprechend flexibel ist. 90 91 92 93 94 95

So BGHZ 59, 148; Beispiel bei Roth ZGR 1993, 170 (208). Vgl. sec. 363–364A CA 1985. Näher dazu Fleischer DStR 2003, 1015 (1019). Sec. 432 (2) CA 1985. Sec. 1 Company Director’s Disqualifiaction Act 1986. Sec. 124A Insolvency Act.

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V. Resumée Die neue Entwicklung des internationalen Gesellschaftsrechts in Europa bedeutet keineswegs die Totenglocke für die GmbH; 96 was nottut, ist vielmehr eine Reform des Kapitalaufbringungsrechts verbunden mit zusätzlichen Gläubigerschutzregeln etwa durch eine schärfe Haftung bei materieller Unterkapitalisierung sowie einer erweiterten Publizität.

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So zu Recht Priester FAZ v. 31. 3. 2004 S. 25

Neues Gesellschaftsrecht der Freien Berufe – Richterrechtliche Wende zur BGB-Gesellschaft und Sozietätsrecht – Reinhard Damm Inhaltsübersicht Seite

I. Entwicklungsdynamik freiberuflicher Zusammenschlüsse . . . . . II. Richterrechtliche Wende zur Gesellschaft bürgerlichen Rechts und Freie Berufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechts- und Parteifähigkeit der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . IV. Vertragsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Haftungsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Haftung der Sozietät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesellschafterhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Akzessorische Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Haftung für deliktische Verbindlichkeiten . . . . . . . . . c) Haftung für Altschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Generalisierung oder Differenzierung des neuen GbR-Konzepts? . 1. Reichweite der neuen Rechts- und Haftungsverfassung . . . . 2. Freiberuflervorbehalt als Berufshaftungsvorbehalt? . . . . . . a) Spezieller Berufshaftungsvorbehalt bei Altschuldenhaftung? b) Genereller Freiberuflervorbehalt? . . . . . . . . . . . . . VII. Interprofessionelle Sozietäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vertrags-/ Mandatsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Haftungsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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26 27 29 31 31 32 32 33 35 37 38 40 40 41 43 43 46 47

I. Entwicklungsdynamik freiberuflicher Zusammenschlüsse Der Beitrag beschäftigt sich mit den Konsequenzen der jüngsten richterrechtlichen Entwicklung zur Gesellschaft bürgerlichen Rechts für freiberufliche Zusammenschlüsse. Ein gewisser kapitalgesellschaftsrechtlicher bias des Jubilars1 wird dessen Billigung eines das Personengesellschaftsrecht the1

Vgl. nur Raiser Recht der Kapitalgesellschaften, 3. Auflage, 2001.

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matisierenden Beitrags nicht ausschließen. Diese Bemerkung zielt nicht auf die dem Autor seit Jahrzehnten bekannte persönliche Toleranz von Thomas Raiser, gilt vielmehr der Aktualität des Gegenstandes. Dieser betrifft im Übrigen auch Fragen, die die gesellschafts- und anwaltsrechtliche Grundlagenarbeit des hier zu Ehrenden berühren. Das Gesellschaftsrecht der freien Berufe hat in jüngster Zeit nicht nur allgemein, sondern insbesondere in der personengesellschaftsrechtlichen Abteilung deutliche Entwicklungsschübe erfahren. Nicht zuletzt für den rechtssoziologisch interessierten Rechtswissenschaftler vollziehen sich die einschlägigen Rechtsentwicklungen vor dem Hintergrund tiefgreifender rechtstatsächlicher Wandlungsprozesse der Professionen. Sie sind, worauf hier nur hingewiesen sein soll, unter den Stichworten einer fortschreitenden Spezialisierung und Professionalisierung, aber auch der Kommerzialisierung, Interprofessionalität und Internationalität vielfach beschrieben worden, für die Anwaltschaft etwa in der stichwortartigen Orientierung: „vom freien Beruf und Rechtspflegeorgan zum Dienstleistungsgewerbe“. 2 Freiberufliche Leistungen stehen in der Dienstleistungsgesellschaft unter erhöhtem Spezialisierungsdruck, nationalem und internationalem Wettbewerbsdruck. Die Fragen nach angemessenen Formen der Kooperation und Organisation spielen dabei eine zentrale Rolle und unterstreichen, dass einschlägige Probleme auch für den Juristen nicht als isolierte Rechtsfragen zu begreifen sind, sondern den Blick auf den berufspraktisch, professionspolitisch und wirtschaftlich außerordentlich relevanten Zuschnitt ganzer Dienstleistungsmärkte einschließen. Betroffen ist grundsätzlich das gesamte Dienstleistungsspektrum vermögenssorgender und gesundheits(ver)sorgender Berufe, gewissermaßen zwischen „Beratung“ und „Behandlung“ in Sozietät3 und Gemeinschaftspraxis. Vor diesem Hintergrund vollzieht sich auch die rechtliche Entwicklungsdynamik der freien Berufe, nicht zuletzt der freiberuflichen Zusammenschlüsse und deren gesellschaftsrechtlicher Bearbeitung. In einer allgemeinen Orientierung weist das einschlägige Gesellschaftsrecht zwei Stränge auf: Einerseits geht es um die Expansion des Rechtsformenarsenals, andererseits um die Revision tradierter Rechtsformen. Für den ersten Aspekt sei auf die zunehmende Verfügbarkeit der Kapitalgesellschaft auch auf Grund gesetzgeberischer (so bei der Anwalts-GmbH) oder richterlicher Entschei-

2 Dazu mit Nachweisen Raiser Das lebende Recht. Rechtssoziologie in Deutschland, 3. Auflage, 1999, S. 374 ff., 375; Damm/von Mickwitz Kooperation und Haftung in interprofessionellen Sozietäten, JZ 2001, 76 ff.; Damm Gesellschaftsrecht der Freien Berufe im Wandel, FS Brandner, 1996, S. 31 ff. 3 Soweit im folgenden der Begriff der Sozietät ohne weitere Erläuterung verwandt wird, sind grundsätzlich die Sachprobleme freiberuflicher Zusammenschlüsse im weiteren Sinne umfasst, namentlich für den medizinischen Bereich die ärztliche Gemeinschaftspraxis.

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dung (so für die Anwalts- AG 4 und Heilbehandlungs-GmbH 5) sowie auf besonderes freiberufliches Personengesellschaftsrecht (so bei der Partnerschaft) verwiesen. Der zweite Gesichtspunkt verweist auf die gesellschaftsrechtsinterne Entwicklung, nicht zuletzt durch richterliche Rechtsfortbildung. Insofern kommt bekanntlich der jüngsten richterrechtlichen Wende zur Gesellschaft bürgerlichen Rechts besondere Bedeutung zu. 6 Diese im Zentrum die Rechts- und Parteifähigkeit der Gesellschaft und die akzessorische Haftung der Gesellschafter betreffende Neuorientierung gewinnt ihre Bedeutung nicht nur aus der Summe von Einzelproblemen, sondern darüber hinaus aus gewichtigen Problemverbünden, die nicht nur die Gesellschaft bürgerlichen Rechts betreffen, sondern Grundlagen und System des Personengesellschaftsrechts insgesamt. Bereichsspezifisch tangiert die richterrechtliche Neuorientierung nicht zuletzt das Gesellschaftsrecht der freien Berufe. Und mit Blick auf die Grundlagenarbeit am Gesellschaftsrecht ist auch das wissenschaftliche Lebenswerk von Thomas Raiser berührt. Dies gilt im hier gegebenen Zusammenhang namentlich für dessen Pilotstudien zu den Traditionskonzepten der Gesamthand und juristischen Person. 7 Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass die Beschäftigung mit dem freiberuflichen Gesellschaftsrecht in jüngster Zeit außerordentlich rege ist. Dies gilt zunächst offenkundig für die Anwaltschaft und andere vermögenssorgende Beratungsberufe. 8 Besonders aktuell sind aber auch die Entwicklungen im Bereich medizinischer Kooperation. Hier ist, neben der vertrauten ärztlichen Gemeinschaftspraxis, im Verbund mit neuen sozialrechtlich initiierten Kooperationsformen geradezu ein „neues Gesellschaftsrecht“ für neue medizinische Zusammenschlüsse im Entstehen. 9 BayObLG NZG 2000, 649. BGHZ 124, 224. 6 Zentral BGHZ 146, 341. Diese Entscheidung hat bekanntlich eine Diskussionswelle ausgelöst und in mehreren, noch anzusprechenden Folgeentscheidungen Konkretisierungen und Differenzierungen erfahren. 7 Raiser Gesamthand und juristische Person im Licht des neuen Umwandlungsrechts, AcP 194 (1994), 495; ders. Gesamthandsgesellschaft oder juristische Person. Eine Geschichte ohne Ende?, FS Zöllner, 1999, S. 469; ders. Unternehmen und juristische Person, Festgabe Zivilrechtslehrer 1934/35, 1999, S. 489; ders. Recht der Kapitalgesellschaften, § 3 II (S. 12 ff.). 8 Dazu etwa Damm FS Brandner, 1996, S. 31 ff.; Römermann Entwicklungen und Tendenzen bei Anwaltsgesellschaften, 1995; Römermann/Hartung Anwaltliches Berufsrecht, 2002, S. 115 ff. 9 Dazu Saenger Gesellschaftsrechtliche Gestaltung ärztlicher Kooperationsformen, NZS 2001, 234; Rieger Vernetzte Praxen, MedR 1998, 75; Preißler Verzahnung, Vernetzung und andere neue ärztliche Kooperationsformen, MedR, 1998, 90; Gollasch Die ärztliche Gemeinschaftspraxis. Rechtliche Voraussetzungen und Grundlagen der gemeinsamen Berufsausübung von Ärzten unterschiedlicher Fachgebiete in der Gesellschaft bürgerlichen Rechts, 2003, S. 91 ff. 4 5

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II. Richterrechtliche Wende zur Gesellschaft bürgerlichen Rechts und Freie Berufe Die richterrechtliche Wende zum Recht der Gesellschaft bürgerlichen Rechts ist, je nach Sachposition und Autorentemperament, als überfällige Neuorientierung, missglückte Rechtsfortbildung, „Revolution“10 oder auch als Paukenschlag am Ende eines „30-jährigen Krieges“ 11 gewürdigt worden. Der Literaturstand wird allmählich zu dem, was als unübersehbar bezeichnet zu werden pflegt.12 Hier soll es um die Konsequenzen der neuen Richterrechtslage aus dem Blickwinkel freiberuflicher Zusammenschlüsse gehen, die in diesem Zusammenhang nicht zufällig vielfach angesprochen werden. Eine umfassende Folgenbearbeitung des neuen Rechtskonzepts für diese Berufsgruppe wird aber noch beträchtlichen inhaltlichen und zeitlichen Aufwand erfordern. Eine Befassung mit dem Gesellschaftsrecht der freien Berufe kann vor diesem Hintergrund einer gesellschaftsrechtlichen Neuorientierung und Transformationsphase besonders gute Gründe für sich in Anspruch nehmen, jedenfalls drei Gründe: Zum einen betrafen die Kontroversen um das Grundverständnis der Personengesellschaft wegen der abweichenden rechtspositiven Lage bei den Personenhandelsgesellschaften von vornherein zentral die bürgerlichrechtliche Gesellschaft. Zum anderen berührt jede Auseinandersetzung um diese Rechtsform naturgemäß die freiberuflichen Zusammenschlüsse als eines der traditionellen Hauptanwendungsfelder eben dieser Rechtsform. Und schließlich steht gerade mit Blick auf die freien Berufe nahezu das gesamte gesellschaftsrechtliche System auf dem Prüfstand. Damit ist namentlich die dort mittlerweile gegebene Rechtsformenvarianz angesprochen. Diese bewegt sich zwischen der „Grundform“ der Gesellschaft bürgerlichen Rechts, den mit Hinweis auf die Unverträglichkeit von freiem Beruf und Handelsgewerbe traditionell abgelehnten, aber doch nicht völlig ausgeschlossen Personenhandelsgesellschaften, der neuen Gesellschaftsform der Partnerschaft mit der ihrerseits ambivalenten Zwischen- oder Zwitterstellung zwischen bürgerlichrechtlicher und handelsrechtlicher Personengesellschaft und der ebenfalls herkömmlich als problematisch angesehenen, nunmehr aber aufgrund richterrechtlicher oder gesetzgeberischer Normbildung grundsätzlich ebenfalls zugänglichen Kapitalgesellschaft.

10 Ulmer Gesellschaft bürgerlichen Rechts und Partnerschaftsgesellschaft, 4. Aufl., 2004, Vorwort. 11 K. Schmidt NJW 2001, 993 ff. (994, 995). 12 Stürner JZ 2002, 1108 f, spricht davon, dass die einschlägige Literatur bereits Bibliotheken zu füllen beginne und bezieht sich auf eine Recherche, die bereits für April 2002 über 90 einschlägige Publikationen ausweist. Diese Zahl hat sich mittlerweile offenkundig erheblich erhöht.

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III. Rechts- und Parteifähigkeit der Gesellschaft Der mittlerweile unzählige Male zitierte zentrale Leitsatz des Bundesgerichtshofs lautet bekanntlich nicht: „Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts besitzt Rechtsfähigkeit“, sondern: „Die (Außen-)Gesellschaft bürgerlichen Rechts besitzt Rechtsfähigkeit, soweit sie durch Teilnahme am Rechtsverkehr eigene Rechte und Pflichten begründet“.13 Die darin zum Ausdruck kommenden offenen Flanken der Basisaussage schlagen sich auch in kritischen Stellungnahmen nieder. So ist die „Soweit“-Einschränkung als „tautologischer Natur“ bezeichnet worden.14 Die Aussage zur Rechtsfähigkeit ist zentral, es war ihr aber bereits vor der richterrechtlichen Wende durch die gesellschaftsrechtliche Literatur und Rechtsprechung der Boden bereitet. Von daher war auch die „Verlängerung“ 15 des ersten Leitsatzes durch den prozessrechtlich ausgerichteten zweiten Leitsatz zur Parteifähigkeit zwar grundsätzlich konsequent. Sie stand aber immerhin in deutlichem Gegensatz zum bisher dominierenden Meinungsstand in Literatur und Rechtsprechung. Ihre Folgen sind im Einzelnen wohl noch länger zu bearbeiten als die des materiellrechtlichen Postulats der Rechtsfähigkeit, die Rechtsfortbildung ist insofern „ungleich gewichtiger“.16 Die prozessrechtliche Erweiterung steht daher auch besonders in der teilweise scharfen Kritik von Gegenpositionen. Insofern ist die Rechtsprechung in ihrer Bedeutung als „Erdrutsch“ bezeichnet worden, der Versuch, die neue richterliche Position mit dem Gesetz in Einklang zu bringen, als geradezu „grotesk“.17 Ungeachtet dogmatischer Einhegungsversuche des BGH ist von der Rechtsfähigkeit der GbR „als solcher“ auszugehen.18 Das Verhältnis von Rechtsfähigkeit und Rechtspersönlichkeit/Rechtssubjektivität bleibt dabei gerichtlich letztlich ungeklärt.19 Insofern ist auffallend, dass die Grundsatzentscheidung des BGH terminologisch eher unentschieden wirkt. Der einschlägige Leitsatz stellt auf „Rechtsfähigkeit“ ab, die Entscheidungsgründe beziehen sich wiederholt auf „Rechtssubjektivität“ oder doch „beschränkte Rechtssubjektivität“,20 für die OHG auf „Rechtssubjektivität im oben beschriebenen Sinne“.21 Es soll aber doch die Gesellschaft bürgerlichen Rechts nur „rechtsfähig“ sein, „ohne juris-

13 BGHZ 146, 341; vgl. zur Grundrechtsfähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts die Bezugnahme bei BVerfG NJW 2002, 3533. 14 Derleder BB 2001, 2485 ff. (2487); vgl. auch Prütting EWiR § 50 ZPO 1/01, 341, zu § 14 Abs. 2 BGB , auf den sich BGHZ 146, 341 (343, 347) mehrfach beruft: „reine Tautologie“. 15 K. Schmidt NJW 2001, 993. 16 Ulmer aaO., § 705 Rn. 318. 17 Prütting EWiR § 50 ZPO 1/01 341 (342). 18 K. Schmidt NJW 2001, 1003. 19 Derleder BB 2001, 2487. 20 BGHZ 146, 341 (344, 345). 21 BGHZ 146, 341 (346), mit Hinweis: „vgl. § 124 Abs. 1 HGB “.

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tische Person zu sein“.22 Die Annäherung der GbR an die OHG belässt es so für einen Teil der Literatur auch bei der zu dieser bestehenden herkömmlichen Position, wonach Rechtsträgerschaft gegeben sei, jedoch „nicht ein von den Gesellschaftern verschiedenes Rechtssubjekt“.23 Ob also Rechtsfähigkeit die GbR auch zur Rechtsperson macht, ob man es personenrechtlich mit einer rechtsfähigen Gesellschaft mit oder ohne Rechtspersönlichkeit 24 zu tun hat, steht weiter zur Diskussion. 25 Damit ist insbesondere die Alternative einer Trias der Rechtsträgerschaft (natürliche Person, juristische Person, Gesamthandsgesellschaft) und einer Einheitsfigur der juristischen Person unentschieden und daher auch die Auseinandersetzung zwischen Thomas Raiser und dem traditionellen Konzept der Rechtsträgerschaft. Insofern steht das „Gegenmodell“26 von Thomas Raiser auch in der Diskussion zur gesellschaftsrechtlichen Wende der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Karsten Schmidt, der der Konzeption von Raiser „außerordentlich nahe“ steht, hat diese Konzeption als möglicherweise „auf die Dauer unentbehrlich“ bezeichnet, sie aber (noch) nicht übernommen. 27 Er hat im Zusammenhang der Rechtsprechungsänderung formuliert: „Unentschieden ist auch die schwierige Frage, ob die Außen-Personengesellschaften die Fessel des Gesamthandsprinzips verlassen und als juristische Personen anerkannt werden müssen, wie dies in Bezug auf oHG und KG ausländischen Vorbildern entspricht und vor allem von Raiser als geltendes Recht angesehen wird … Ganz offenbar ist die GbR, so, wie der Senat sie sieht, im Sinne des Grundgesetzes juristische Person, im Sinne des BGB eine rechtsfähige Personengesellschaft und im Sinne der InsO eine Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit, mithin eine ‚rechtsfähige Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit‘.“ Es sollten danach aber diese Systemfragen als weiterhin diskussionsbedürftig und das Verhältnis zwischen „Rechtspersönlichkeit“ und „Rechtsfähigkeit“ also als gerichtlich nicht geklärt angesehen werden. Aber unter rechtspraktischen Gesichtspunkten gilt: „Die Rechtsfähigkeit ist dictum genug.“ 28 Allerdings scheint die neue Entwicklung auch dictum genug, die Systemfragen auf dem Weg hin zur Konzeption von Thomas Raiser zu sehen.

22 BGHZ 146, 341 (343), mit Hinweis: „vgl. § 14 Abs. 2 BGB “; übernommen bei Baumbach/Hopt Handelsgesetzbuch, 31. Aufl., 2003, Einl. v. § 105, Rn. 14. 23 Baumbach/Hopt aaO., § 124 Rn. 1. 24 Vgl. K. Schmidt NJW 2001, 996. 25 Zur Stellung der juristischen Person im Personenrecht Damm Personenrecht. Klassik und Moderne der Rechtsperson, AcP 202 (2002), 841 (861 ff.). 26 Derleder BB 2001, 2487. 27 K. Schmidt Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., 2002, § 8 I,3 (S. 184); entschieden demgegenüber Timm NJW 1995, 3209 (3210 ff.). 28 Alle Zitate bei K. Schmidt NJW 2001, 993 (996).

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IV. Vertragsverfassung Auswirkungen der neuen Richterrechtslage sind auch für freiberufliche Zusammenschlüsse sowohl auf der Vertragsebene als auch der Haftungsebene in Rechnung zu stellen. Hinsichtlich der Vertragsebene soll es hier nur um die Außenbeziehung der Sozietät oder Gemeinschaftspraxis zu Mandanten, Klienten und Patienten gehen. Es sei aber jedenfalls angemerkt, dass auch der Gesellschaftsvertrag und damit das Innenverhältnis der freiberuflichen Gesellschafter bereits im Wirkungskreis der neuen Rechtsentwicklung zur Debatte stehen. Dies gilt etwa im medizinischen Bereich für das diffizile, berufs- und sozialrechtlich unterlegte Verhältnis von Gesellschaftsvertragsrecht und Vertragsarztrecht bei der nun rechtsfähigen, aber als solcher nicht zulassungsfähigen Gemeinschaftspraxis, mit dem der gesellschaftsrechtliche Senat mittlerweile befasst war. 29 Im vertraglichen Außenverhältnis sollte nun die Stellung der Sozietät oder Gemeinschaftspraxis als Vertragspartei jedenfalls grundsätzlich nicht mehr zweifelhaft sein. Die Sozietät ist Vertragspartnerin, Gläubigerin und Schuldnerin, und nur sie. Es kommt nur ein Vertrag zustande und nicht eine Mehrzahl von Verträgen (mit Gesellschaft/Sozietät und Gesellschaftern/Sozien), „primäres Verpflichtungssubjekt“ ist allein die Gesellschaft.30 Daran ändern auch die persönliche Betreuung durch einen bestimmten Anwalt und das besondere Vertrauensverhältnis zum behandelnden Arzt nichts. Insofern sind die Fragen nach Vertragspartei und Vertragsinhalt auseinander zu halten.31 Auch neuere Literatur ist wohl noch nicht durchgängig auf dem nun erreichten Rechtsprechungsstand angelangt. So soll bei der ärztlichen Gemeinschaftspraxis der Arztvertrag „zwischen dem Patient und sämtlichen Ärzten“ der Gemeinschaftspraxis zustande kommen.32 Und entsprechend findet sich für Anwaltssozietäten auch in der jüngsten Auflage des GbR-Kommentars von Ulmer die Aussage, bei diesen Zusammenschlüssen komme es nicht nur zur Entstehung von Gesamthandsforderungen, „sondern auch zur vertraglichen Verpflichtung aller Sozien.33 Die Aufarbeitung der jüngsten Rechtsprechung ist also nach wie vor auch in den Grundsätzen noch nicht abgeschlossen. Im Übrigen werden die vertraglichen Beziehungen der Sozietät und entsprechend der Gemeinschaftspraxis beziehungsweise ihrer Mitglieder zu au-

BGH NJW 2002, 3536; 2002, 3538; dazu Wertenbruch NJW 2003, 1904. Timm NJW 1995, 3209 (3215); vgl. auch K. Schmidt Gesellschaftsrecht, § 60 III (S. 1800 f). 31 K. Schmidt Gesellschaftsrecht, § 60 II (S. 1776). 32 Uhlenbruck/Schlund in: Laufs/Uhlenbruck: Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., 2002, § 18 Rn. 12, 14; ebenso Heberer Das ärztliche Berufs- und Standesrecht, 2. Aufl., 2001. 33 Ulmer aaO., vor § 705 Rn. 36 (Hervorhebung im Original). Als Belege werden hier, mit Ausnahme von Sieg WM 2002, 1432 (1435 f), ausschließlich Rechtsprechung und Literatur aus der Zeit vor BGHZ 146, 341 herangezogen. 29 30

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ßenstehenden Gläubigern seit vielen Jahren durch ein von der Rechtsprechung entwickeltes Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Gesamtmandat und Einzelmandat bestimmt. Danach galt seit langem der Grundsatz, dass etwa das einem zur Sozietät gehörenden Rechtsanwalt angetragene Mandat von ihm im Namen der Sozietät entgegen genommen wird. Und es verpflichtete sich nach dem Konzept der Doppelverpflichtung nicht nur der nach außen Auftretende persönlich, sondern zugleich auch seine ihm zur gemeinsamen Berufsausübung verbundenen Sozien. „Daß ein Sozietätsanwalt ein ihm angetragenes Mandat regelmäßig zugleich im Namen der übrigen Sozietätsmitglieder annimmt“,34 ist vom BGH auch in jüngerer Zeit immer wieder, in der Sprache der Doppelverpflichtungslehre, unterstrichen worden. Dieser Grundsatz sollte das Zustandekommen eines Einzelmandats mit nur einem Sozietätsmitglied im Einzelfall keineswegs ausschließen, aber nur als begründungsbedürftigen Ausnahmefall in Betracht kommen lassen. In zahlreichen Entscheidungen ist der BGH nicht müde geworden, den Grundsatz als Auslegungsregel und Regelfall zu unterstreichen, aber im Einzelund Ausnahmefall die Vereinbarung eines Einzelmandats mit nur einem Sozietätsmitglied bei Vorliegen besonderer Umstände für möglich zu halten. Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Gesamt- und Einzelmandat galt als weitgehend anerkannt, weniger klar war aber häufig eben die insofern entscheidende Frage, ob es sich im je gegebenen Fall um ein Kanzleimandat oder Einzelmandat handele. Das Einzelmandat in der Anwaltssozietät birgt vielfach übersehene Probleme für Sozietät, Anwalt und Mandant. 35 Der BGH hat ein Einzelmandat etwa „für nahe liegend gehalten, wenn bei einem Prozessauftrag nur einer der verbundenen Rechtsanwälte bei dem Gericht zugelassen ist, vor dem die Sache zu verhandeln ist“, dies aber zugleich mit dem Hinweis auf abweichende Rechtsprechung des Gerichts verbunden. 36 Die Formulierungen machen deutlich, dass offenbar auch in dieser Konstellation keine eindeutige Regel herrscht. Vielmehr ist danach auch bei alleiniger Gerichtszulassung nur eines Sozietätsmitglieds ein Einzelmandat nur „nahe liegend“. Ebenfalls zu den Problemfällen der Unterscheidung zwischen Gesamt- und Einzelmandat zählen seit langem interprofessionelle Sozietäten. 37 Darauf soll noch gesondert eingegangen werden. Jedenfalls belegen diese Hinweise, dass der relativ eindeutigen Qualifikation von Gesamt- und Einzelmandat als Regel-Ausnahme-Verhältnis nicht ebenso klare Trennlinien bei der Anwendung der Auslegungsregel im Einzelfall entsprechen. BGH NJW 2000, 1333 (1334); BGHZ 124, 48. Dazu Hartung MDR 2002, 1224. 36 BGH NJW 2000, 1333 (1334), mit Hinweis auf die abweichende Entscheidung BGH NJW 1995, 1841. 37 Ausführlich dazu Damm/von Mickwitz JZ 2001, 76. 34 35

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Nach der nun vollzogenen Neuorientierung der Rechtsprechung zur Gesellschaft bürgerlichen Rechts soll der Grundsatz des bislang vielfach so bezeichneten Gesamtmandats „erst recht“ gelten und dem gemäß „das Mandat im Regelfall der Sozietät als rechtsfähiger Gesellschaft übertragen“ werden. 38 Und es findet danach dieser Grundsatz, „nachdem nunmehr die Sozietät selbst Vertragspartner ist, in der jüngsten Rechtsprechung des BGH eine zusätzliche Stütze“.39 Dies ist im Ergebnis sicher zutreffend, aber eher unklar, wieso dies nunmehr „erst recht“ der Fall sein soll. Die rechtssubjektive Verselbständigung der Gesellschaft führt zu einem Bedeutungszuwachs der Sozietätsverpflichtung, die den Fall des Einzelmandats zu einem noch begründungsbedürftigeren Ausnahmefall werden lässt.

V. Haftungsverfassung Die Haftungsverfassung der GbR hat auf Grund der richterrechtlichen Neuorientierung neben der Parteifähigkeit die am weitesten gehenden Auswirkungen auch und gerade im freiberuflichen Bereich. Allerdings sind insofern die Konsequenzen hinsichtlich der Haftung der Gesellschaft und der Gesellschafterhaftung von deutlich unterschiedlichem Gewicht. 1. Haftung der Sozietät Die Haftung der Sozietät „als solcher“ ist bekräftigt. Sie sollte hinsichtlich der von ihr rechtsgeschäftlich übernommenen Eigenverpflichtungen mittlerweile grundsätzlich unproblematisch sein. Für gesetzliche, insbesondere deliktische Verbindlichkeiten ist die Frage nunmehr ebenfalls höchstrichterlich entschieden. Danach muss sich die Gesellschaft zu Schadensersatz verpflichtendes Handeln ihrer geschäftsführenden Gesellschafter entsprechend § 31 BGB zurechnen lassen. Und es haben die Gesellschafter grundsätzlich auch für gesetzlich begründete Verbindlichkeiten ihrer Gesellschaft persönlich und gesamtschuldnerisch einzustehen. 40 Im Ergebnis ist damit der lange Weg der GbR zur Anwendung des § 31 BGB mit einem Schritt zu Ende gegangen, der als „vorletzter Schritt auf dem Weg zur oHG “ bezeichnet worden ist. 41 Daran ist soviel richtig, dass die über Jahrzehnte mit geschleppten Altbegründungen 42 geHenssler/Prütting-Hartung Bundesrechtsanwaltsordnung, 2. Aufl., 2004, § 59a Rn. 35. Hartung MDR 2002, 1224, mit Belegen für die durch ein gewissermaßen „regelwidrig“ vereinbartes Einzelmandat entstehenden Probleme. 40 BGH NJW 2003, 1445. 41 Waldner NZG 2003, 620. 42 Seit BGHZ 45, 311, mit der höchstrichterlichen Sentenz, wonach die Gesellschaft bürgerlichen Rechts „zu wenig körperschaftlich organisiert“ sei. 38 39

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gen die Anwendung des § 31 BGB bei der bürgerlichrechtlichen Gesellschaft schon lange nicht mehr überzeugen konnten, und dies auch mit Blick auf die allgemein anerkannte Heranziehung der Norm im Bereich der Personenhandelsgesellschaften. Die Zurechnung von Organverhalten beansprucht als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens der „Repräsentationshaftung“ Geltung für alle Verbände, die Träger von Rechten und Pflichten sein können. 43 „Repräsentantenhaftung“ 44 oder „Repräsentationshaftung“ ist daher aus gesellschaftsrechtlicher Sicht keineswegs ein nur enges rechtsformspezifisches Konzept. 45 Diese Auffassung ist mittlerweile auch mit Blick auf freiberufliche Zusammenschlüsse zu Recht auf dem Vormarsch. 46 Rechtshistorisch, rechts- und organisationssoziologisch könnte man auch diese Entwicklung als Bestandteil einer allgemeiner sich vollziehenden Integration des „Unternehmens als Organisation“ 47 in das Gesellschaftsrecht und des Einzugs der lange „verdrängten Organisation“ 48 in das allgemeine Zivilrecht ansehen. 2. Gesellschafterhaftung a) Akzessorische Haftung Der Weg hin zum Akzessorietätskonzept ist nun auch vom BGH zu Ende gegangen worden. Damit haben sich seit langem artikulierte Prognosen, wonach die Zukunft dem Akzessorietätsprinzip gehöre, 49 bestätigt, eine Einschätzung, die unter rechtspolitischem Blickwinkel auch von einigen Autoren geteilt worden ist, die sich de lege lata noch für die Doppelverpflichtungslehre meinen entscheiden zu müssen. 50 Auch insofern ist die jüngste Handbuchliteratur zur freiberuflichen Zusammenarbeit noch nicht auf dem jüngsten Rechtsprechungsstand angekommen. So sollen Ärzte der Gemeinschaftspraxis dem Patienten „aus dem Arztvertrag“ haften51 und soll gar nach „einhelliger Auffassung von Rechtsprechung und Literatur“ eine „gesamtschuldnerische vertragliche Haftung“ der Partner der Gemeinschaftspraxis für Behandlungsfehler bestehen. 52 Demgegenüber ist festzuhalten: Die Gesellschafterhaftung in der GbR ist gesetzliche Haftung, und Ausführlich K. Schmidt Gesellschaftsrecht, § 10 IV (S. 273 ff.). Martinek Repräsentantenhaftung, 1979. 45 So aber Brüggemeier Prinzipien des Haftungsrechts, 1999, S. 112. 46 Vgl. etwa Gollasch aaO., S. 192 ff. 47 Raiser Das Unternehmen als Organisation, 1969; Raiser Recht der Kapitalgesellschaften, § 6 (S. 23 ff.). 48 Brüggemeier aaO., S. 112. 49 So schon Damm FS Brandner, 1996, S. 31 (41). 50 Etwa Kübler Gesellschaftsrecht, 5. Aufl., 1999, S. 55. 51 Uhlenbruck/Schlund in: Laufs/Uhlenbruck aaO., § 18 Rn. 12. 52 Heberer aaO., S. 503 (Hervorhebung im Original). 43 44

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zwar unabhängig davon, ob es sich um eine rechtsgeschäftliche oder gesetzliche Gesellschaftsschuld handelt. b) Haftung für deliktische Verbindlichkeiten Die Situation der Gesellschafterhaftung präsentiert sich bei gesetzlichen Schuldverhältnissen bekanntlich seit je erheblich schwieriger als bei Vertragsverhältnissen. Daher liegt auch hinsichtlich der deliktischen Haftung die eigentliche Bedeutung der jüngsten Rechtsprechungsentwicklung im zweiten Schritt einer Ausweitung der Gesellschafterhaftung, für die die Haftung der Gesellschaft für deliktische Verbindlichkeiten das Transformationsmedium bildet. Akzessorische Gesellschafterhaftung setzt „im Gefolge“53 deliktischer Gesellschaftshaftung aus Organzurechnung ein. Dies wird in den Leitsätzen der neuen Leitentscheidung und in deren Begründung deutlich. In einem „gewöhnlichen Betrugsfall“54 folgt danach der Weichenstellung für eine gesellschaftsbezogene Zurechnung deliktischen Verhaltens geschäftsführender Gesellschafter die Verlängerung in die Haftung der Gesellschafter. Die Begründung des Senats ist aufschlussreich, wenn nach dem ausdrücklichen Abschied vom immer wieder zitierten Altjudikat (BGHZ 45, 311) für die Anwendung des § 31 BGB hinsichtlich der Haftung der Gesellschaft lediglich auf den nunmehr vollzogenen „Wandel im Verständnis der Rechtssubjektivität der Gesellschaft bürgerlichen Rechts und ihrer Haftungsverfassung“ verwiesen wird. Demgegenüber erfährt der zweite Schritt zur Gesellschafterhaftung eine etwas eingehendere Begründung, wonach es „keinen überzeugenden Grund (gibt), diese Haftung – anders als bei der OHG – auf rechtsgeschäftlich begründete Verbindlichkeiten zu beschränken“. Als inhaltliche Kriterien werden Gläubigerschutz, Zumutbarkeit und das Umwandlungsrecht im Verhältnis von GbR und einer „personen- und strukturgleichen OHG “ herausgestellt. 55 Während der erste Schritt der Anwendung des § 31 BGB auf die GbR auch von Kritikern des zweiten Schritts nunmehr aIs geklärt angesehen wird, 56 wurde und wird eben dieser zweite Schritt in einer nach wie vor kontroversen Diskussion als der problematischere betrachtet und teilweise heftig kritisiert. Dies betrifft nicht zuletzt auch Freiberuflergesellschaften. Angesprochen sind damit zunächst Positionen, die sich schon allgemein gegen eine über die Anwendung des § 31 BGB bei der Gesellschaft bürger-

BGH NJW 2003, 1445 (1446). Altmeppen NJW 2003, 1553; zu Recht weist K. Schmidt NJW 2003, 1897 (1899), darauf hin, dass die Leitsätze des BGH -Urteils vom 24. 2. 2003 überzeugender sind als das Ergebnis im konkreten Fall. 55 Alle Zitate BGH NJW 2003, 1446. 56 Altmeppen NJW 2003, 1553. 53 54

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lichen Rechts vermittelte Gesellschafterhaftung wenden. 57 Diese Position wird nunmehr auch in das Gesellschaftsrecht der freien Berufe übertragen. 58 Im Ergebnis hat die neue Rechtsprechung einen auffallend raschen und breiten Meinungsumschwung pro Gesellschafterhaftung auch für deliktische Verbindlichkeiten der Gesellschaft zur Folge gehabt. Der eine Gesellschafterhaftung ablehnenden Auffassung ist im Ausgangspunkt insoweit zuzustimmen, als eine isolierte dogmatische „Konstruktion“ mit einer gewissermaßen automatischen Ausdehnung des Akzessorietätskonzepts auf Delikte für sich genommen ohne weitere Wertungsgesichtspunkte nicht tragfähig erscheint. Es ist aber durchaus fraglich, ob der nun an Boden gewinnenden Position dieser Vorwurf wirklich gemacht werden kann. Ob insofern eine bis in das 19. Jahrhundert zurückgreifende aufwendige historische Auslegung zu den §§ 31 BGB , 128 HGB 59 für die aktuelle Auseinandersetzung tragfähig ist, mag dahin stehen. Festzuhalten ist aber, dass teilweise gegen die ganz überwiegende Meinung und ausdrücklich oder in der Sache über eine teleologische Reduktion eine Gesellschafterhaftung bereits für die OHG abgelehnt wird. Von entscheidender Bedeutung ist letztlich, woher einschlägige Wertungsgesichtspunkte zu beziehen sind. Dies betrifft das Verhältnis von deliktsrechtlichen und gesellschaftsrechtlichen Systemfragen. Insoweit geht es namentlich um die Frage, wie weit für das Gesellschaftsrecht der Hinweis auf einen Grundsatz des Haftungsrechts führt, wonach es keine persönliche Haftung für fremdes deliktisches Verschulden gebe, 60 ja, eine solche Haftung „aus der Sicht des Deliktsrechts unakzeptabel“ sei. 61 Diese Argumentation ist für Freiberuflergesellschaften mit dem Votum übernommen worden, wonach es für deren Gesellschafter bei dem „ausdifferenzierten Haftungssystem des Deliktsrechts“ bleibe. 62 Ob und wieweit dies dem erreichten eigenen Entwicklungstand des Deliktsrechts im Bereich der Organisations- und Unternehmenshaftung gegenüber der ursprünglich „verdrängten Organisation“ 63 entspricht, kann hier nicht weiter diskutiert werden. Es ist aber kaum ein nur formales Argument, wenn davon ausgegangen wird, dass es hier von vornherein nicht um 57 So namentlich bereits vor der jüngsten Rechtsprechungsentwicklung Flume Die Personengesellschaft, 1977, § 16 IV ,6 (S. 343 f); Altmeppen NJW 1996, 1017; auf die neue Rechtsprechung reagierend wiederum Flume DB 2003, 1775; Altmeppen NJW 2003, 1553; vgl. aus jüngster Zeit auch Schäfer ZIP 2003, 1225 (1227 ff.). Es ist darauf hinzuweisen, aber an dieser Stelle nicht auszuführen, dass von dieser Position aus eine Gesellschafterhaftung, ausdrücklich oder in der Sache, über eine teleologische Reduktion insofern auch bereits bei der OHG abgelehnt wird. 58 Vgl. etwa Gollasch aaO., S. 194 ff. 59 Vgl. dazu die zitierten Arbeiten von Altmeppen. 60 Flume Die Personengesellschaft, S. 343. 61 Altmeppen NJW 2003, 1553 (1558). 62 Gollasch aaO., S. 199. 63 Brüggemeier aaO., S. 112.

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das Einstehenmüssen für fremdes Delikt, 64 sondern um Gesellschafterhaftung für Gesellschaftsverbindlichkeiten geht. Und insoweit handelt es sich bei der „deliktischen“ Gesellschafterhaftung nicht um eine bloß konstruktiv-dogmatische Begriffsdeduktion aus dem Akzessorietätskonzept, sondern um eine aus der analogen Anwendung des § 128 HGB bezogene Rechtsfolge. Dass aber diese Bestimmung ihrerseits mit Blick auf Wortlaut und jahrzehntelangen Meinungsstand nur über eine teleologische Reduktion aus der Anwendung gebracht werden könnte, ist auch den Kritikern der jüngsten Rechtsentwicklung bewusst, 65 es ist aber ein solcher methodischer Schritt wie das damit angesteuerte Ergebnis letztlich nicht überzeugend. 66 Das gilt auch für die auf das freiberufliche Gesellschaftsrecht zielende Auffassung, wonach deliktsrechtliches Prinzip (grundsätzlich nur persönliche Täterhaftung für Delikt) und gesellschaftsrechtliches Prinzip (persönliche Gesellschafterhaftung für Gesellschaftsschulden) in einem „gewissen Widerspruch“ stünden. 67 Zivilrechtliche Zurechnungsnorm (§ 31 BGB ) und gesellschaftsrechtliche Haftungsnorm (§ 128 HGB) können nicht, auch nicht mit dem Vorwurf der „doppelten Analogie“, 68 in dieser Weise gegeneinander ausgespielt werden, sondern basieren auf je eigenen Normzwecken, die ihre Berechtigung auch dann behalten, wenn sie im Einzelfall beide zur Wirkung kommen. c) Haftung für Altschulden Die grundsätzliche Neuorientierung der Rechtsprechung hinsichtlich der ebenfalls umstrittenen Haftung eintretender Neugesellschafter für Altschulden hat insbesondere im freiberuflichen Bereich wohl für die größte Aufregung gesorgt. Dies ist auf den ersten Blick auf den Umstand zurückzuführen, dass es der BGH in seinem hierauf bezogenen Urteil69 mit einer Anwaltssozietät zu tun hatte. Der Doppelschlag, nach dem nicht nur der eintretende GbR-Gesellschafter für Altverbindlichkeit zu haften, sondern dieser Grundsatz auch für freiberufliche Berufsausübungsgemeinschaften zu gelten hat, musste auf eine hellwache freiberufliche Fachöffentlichkeit stoßen. Darauf, dass zu den Altschulden nunmehr auch die soeben erörterten deliktischen Verbindlichkeiten gehören können, sei nebenbei hingewiesen. Allerdings ist insofern alsbald der einschränkende Hinweis zu machen, dass eben dieses Urteil bekanntlich auch das obiter dictum enthält, wonach die Frage nach einer möglichen Ausnahme von dem neuen Grundsatz gerade 64 65 66 67 68 69

So zu Recht Ulmer aaO., § 714 Rn. 39. So insbesondere Altmeppen aaO. Ebenso Ulmer ZIP 2003, 1113 (1115). Gollasch aaO., S. 196. Vgl. bei Gollasch aaO., S. 198, mit Hinweis auf Henssler FS Vieregge, 1995, S. 366. BGH NJW 2003, 1803; jetzt auch in der amtlichen Sammlung als BGHZ 154, 370.

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für Berufshaftungsfälle offen bleiben soll. Das Urteil enthält danach sowohl eine zusätzliche Inpflichtnahme von Freiberuflern als auch die gleichzeitige Inaussichtstellung einer entlastenden Ausnahme für den Zentralbereich freiberuflicher Haftung. Hinzu kommt die auf Vertrauensschutz zielende dritte richterliche Regelbildung, nach der die dem § 130 HGB entsprechende Altschuldenhaftung nicht für Altfälle, sondern nur für künftige Beitrittsfälle eingreifen soll. Alle drei Urteilsaussagen stehen seitdem in einer regen, teilweise auch aufgeregten Diskussion. Eine Selbstverständlichkeit ist die Altschuldenhaftung in der Tat nicht. 70 Dies gilt auch auf der Grundlage des Akzessorietätskonzepts, wie auch der BGH unter Hinweis auf Wiedemann und ausländisches Recht und dort praktizierte akzessorische Gesellschafterhaftung ohne Altschuldenhaftung hervorhebt. 71 Im Übrigen belegt gerade die Existenz des § 130 HGB , dass auch der Gesetzgeber des HGB ungeachtet des Akzessorietätskonzepts eine Sonderregelung der Altschuldenhaftung für erforderlich hielt. 72 Im Bereich der freien Berufe ist die Beunruhigung groß. Es ist von einem „existenziellen Gefährdungspotential“73 und „sehr fatalen Folgen“ 74 für Freiberufler die Rede, und die Vorkehrungen in der Praxis werden zwischen Freistellungsvereinbarungen im Innenverhältnis und Gläubigervereinbarung im Außenverhältnis diskutiert. 75 Es wird auch auf Probleme der Berufshaftpflichtversicherung verwiesen. 76 Für bestimmte freiberufliche Zusammenschlüsse wird bereits der aus einer Altschuldenhaftung resultierende anwaltliche Beratungsbedarf erörtert. Dies gilt etwa für ärztliche Gemeinschaftspraxen. Insofern gibt es mittlerweile differenzierte Vorschläge für angemessene rechtliche Strategien gegen drohende Haftung für Altverbindlichkeiten, die sich detailliert mit gesellschafts- und schuldrechtlichen Gegenmaßnahmen als Reaktion auf die neue Rechtsprechung befassen. Dazu gehören insbesondere Möglichkeiten schuldrechtlicher Vereinbarungen mit Gläubigern und eine seitens des eintretenden Arztes durchzuführende Due DiligenceÜberprüfung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse der Gemeinschaftspraxis im Innenverhältnis. Insofern werden umfangreiche Fragenkataloge bereitgehalten, die die äußerst sensible Materie verdeutlichen. 77 Die in alledem zum Ausdruck kommenden Schwierigkeiten müssen ernst genommen werden, können aber wohl letztlich eine Herausnahme freibeSo auch K. Schmidt NJW 2003, 1897 (1901). BGH NJW 2003, 1803 (1804), mit Hinweis auf Wiedemann JZ 2001, 661 (664). 72 Zu diesem Gesichtspunkt Schäfer ZIP 2003, 1225 (1230). 73 So für Arztpraxen Möller MedR 2004, 69 (69 f.). 74 Henssler/Prütting-Hartung aaO., § 59a Rn. 51; vgl. auch Dauner-Lieb FS Ulmer, 2003, S. 73 (85). 75 Henssler/Prütting-Hartung aaO., § 59a Rn. 51; Möller MedR 2004, 69 (75). 76 Grams BRAK-Mitt. 2002, 60 (61). 77 Dazu Möller MedR 2004, 69 (75 f.). 70 71

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ruflicher Sozietäten aus der Altschuldenhaftung nicht rechtfertigen. Es ist daher kein Zufall, dass auch von Seiten solcher Autoren, die eine Haftung der Gesellschafter für deliktische Verbindlichkeiten ablehnen, die Haftung des Neugesellschafters für Altschulden befürwortet wird 78 und dass sich hierunter auch Stimmen aus der Anwaltschaft finden. 79 Die für und wider eine Altschuldenhaftung diskutierten Gesichtspunkte können hier nicht im Einzelnen ausgebreitet werden. 80 Im Ergebnis spricht insbesondere der Aspekt des Gläubigerschutzes unter mehreren Untergesichtspunkten81 für eine Einbeziehung auch der GbR einschließlich freiberuflicher Sozietäten in die Altschuldenhaftung. Dass dies auch rechtsdogmatisch in der Konsequenz der nunmehr weiter Platz greifenden Annäherung an die Haftungsverfassung der OHG als „Grundmodell“82 und „Normalstatus“ 83 liegt, ist offenkundig. Auf einen weiteren Gesichtspunkt sei hier nur hingewiesen, aber nicht weiter eingegangen. Er betrifft die zukünftige Entwicklung zu § 28 HGB und die damit verknüpfte Frage, ob diese Bestimmung auch auf den Beitritt zu einem nichtkaufmännischen, „vor allem aber freiberuflichen“ Unternehmen analoge Anwendung finden sollte. 84 Zu dieser Frage liegt nunmehr bereits eine Antwort des BGH vor, jetzt allerdings eine solche des IX . Zivilsenats. Darin wird eine entsprechende Anwendung des § 28 HGB auf den Fall eines in eine Einzelkanzlei eintretenden Anwalts verneint. 85 Die Begründung des Senats ist ausgesprochen mandats-/vertragsrechtlich und nicht „unternehmensrechtlich“ orientiert. Dass sie hierzu das letzte, sei es auch nur richterliche Wort darstellt, ist kaum zu erwarten. 86

VI. Generalisierung oder Differenzierung des neuen GbR-Konzepts? Die Entscheidung zur Altschuldenhaftung war dem BGH Anlass zu dem bereits angesprochenen und viel beachteten obiter dictum, mit dem insoweit ein Vorbehalt gerade für die Berufshaftung in freiberuflichen ZusammenEtwa Schäfer ZIP 2003, 1225 (1229 f.). Elsing BB 2003, 909 (915); differenzierend Wössner ZIP 2003, 1235 (1239). 80 Vgl. etwa die Zusammenstellung bei Schäfer ZIP 2003, 1225 (1229 f.). 81 Vgl. zusammenfassend Möller MedR 2004, 69 (71): Verkehrsschutzinteresse, Haftkapital, Publizität, Umwandlung; zu den vom BGH herangezogenen Gesichtspunkten Ulmer ZIP 2003, 113 (1115 f.). 82 Timm NJW 1995, 3209 (3216). 83 K. Schmidt Gesellschaftsrecht, § 58 V,2 (S. 1723). 84 K. Schmidt NJW 2003, 1897 (1903); Ulmer ZIP 2003, 1113 (1116). 85 BGH NJW 2004, 836. 86 Zum Meinungsstand Angaben etwa bei Ulmer Gesellschaft bürgerlichen Rechts, § 714 Rn. 75. 78 79

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schlüssen formuliert wird. 87 Darauf wird alsbald noch eingegangen, vorweg aber darauf hingewiesen, dass dies nicht der einzige gesellschaftsrechtliche Ort ist, an dem es um die Alternative von Generalisierung oder Differenzierung des neuen Personengesellschaftsrechts geht. 1. Reichweite der neuen Rechts- und Haftungsverfassung Eine der grundsätzlichsten Fragen in der kontroversen Auseinandersetzung um die neue Rechts- und Haftungsverfassung der Gesellschaft bürgerlichen Rechts ist die nach der Reichweite der Neuorientierung angesichts der Vielgestaltigkeit der realen Erscheinungsformen dieser Rechtsform. Diese Diskussion ist hier nur insofern aufzunehmen, als es um ihre Bedeutung für freiberufliche Zusammenschlüsse geht. Sie wird unter verschiedenen sachlichen und terminologischen Bezugspunkten geführt und ist mit Sicherheit noch lange nicht abgeschlossen. Dabei geht es um sich überschneidende Argumentationsstränge bei ansonsten gegensätzlichen gesellschaftsrechtlichen Grundpositionen. Die Frage, ob die einschlägigen Neuorientierungen die Gesellschaft bürgerlichen Rechts als „Einheitsfigur“88 oder in ihrer „Vielgestaltigkeit“,89 in einer „monistischen Struktur“90 oder in einem differenzierenden, „zweispurigen“, „nicht flächendeckenden“91 Konzept einbeziehen soll, gehört zu den zentralen Diskussionspunkten. Sie ist bei Licht besehen keine neue Frage. Gesellschaften mit unternehmenstragender und anderer Funktion, mit oder ohne wirtschaftliche Zwecksetzung, mit oder ohne Identitätsausstattung, Dauer- und Gelegenheitsgesellschaften, mit oder ohne flukturierenden Mitgliederbestand heissen einschlägige Gegensatzpaare, aber auch bereits Innen- und Außengesellschaften mit ihren Abgrenzungsproblemen. Vorgeschlagen wurde auch schon eine generelle Ausnahme vom neuen Haftungsregime für „privilegierungsbedürftige Gesellschaften“.92 So ist die Prognose von Karsten Schmidt wohl plausibel: „Nicht das systematische Verhältnis zwischen ‚rechtsfähiger Personengesellschaft‘ und ‚juristischer Person‘, wohl aber das innerhalb des Rechts der GbR obwaltende BGH NJW 2003, 1803 (1805). Mit Fragezeichen K. Schmidt NJW 2003, 993 (1001). 89 Vgl. Wössner ZIP 2003, 1235. 90 Dazu und dagegen etwa Derleder BB 2001, 2485. 91 Stürner JZ 2002, 1110. 92 Wössner ZIP 2003, 1235; darunter sollen Gesellschaften fallen, „deren Gesellschaftern die Wahl einer Gesellschaftsform mit gesetzlich normierter Haftungsbeschränkung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen versagt ist“ (aaO., S. 1236, 1239). Danach sind Freiberufler von vornherein aus dem Kreis „privilegierungsbedürftiger Gesellschaften“ ausgeschlossen, da ihnen die „Wahl der Partnerschaftsgesellschaft möglich und zumutbar“ ist (aaO., S. 1236). Im Ergebnis nichts anderes gilt für „privilegierungsbedürftige“ Gesellschaften im Verständnis von Ulmer aaO., § 714 Rn. 61, dessen Ausschlusserwägungen ebenfalls nicht die freien Berufe betreffen. 87 88

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System wird der künftigen Praxis Kopfschmerzen bereiten“. 93 Die Sonderbehandlung von Immobilienfonds94 ist nur ein Beispiel für die auch die Rechtsprechung umtreibende Frage nach Reichweite und Grenzen der neuen Grundsätze. Dieser Diskussion kann und braucht an dieser Stelle nicht im Einzelnen nachgegangen zu werden. Denn ungeachtet der teilweise grundsätzlichen Meinungsunterschiede in der Literatur bestehen, zunächst, wenig Zweifel an der Unterwerfung der freiberuflichen Sozietäten unter das neue Konzept und zwar sowohl auf der Ebene des Rechts-/Rechtsfähigkeitsstatus der Gesellschaft als auch der Ebene der Gesellschafterhaftung. Die für gewerbliche Unternehmen teilweise durch die Handelsrechtsreform von 1998 beseitigten Probleme sind für Freiberufler angesichts der bei ihnen nach wie vor jedenfalls überwiegend und jedenfalls grundsätzlich unterstellten Nichtgewerblichkeit 95 gerade nicht beseitigt. Dies ist Positionen entgegenzuhalten, die wegen der neuen handelsrechtlichen Rechtslage davon ausgehen, dass das praktische Bedürfnis für eine Analogie zu § 128 HGB nicht mehr allzu groß sei. 96 Allerdings geht es auch hier seit langem um die Tradition und Erosion eines Ausgrenzungskonzepts, das über eine einfache Gleichung, freie Berufe – kein Handelsgewerbe – Exklusion aus dem handelsrechtlichen System, bekanntlich schnell fixiert ist. Auch soweit die freien Berufe einstweilen nicht als Fälle des Handelsrechts angesehen werden, repräsentieren sie jedenfalls einen der handelsrechtlichen „Problemfälle“.97 Ob und wie weit der Schritt in das Handelsrecht wie auch sonstige Rechtsformenprobleme auch Probleme des Berufsrechts sind, bleibt hier unerörtert, auf die strikte Unterscheidung von Gesellschaftsrecht und Berufsrecht der freien Berufe sei aber hingewiesen. Im Übrigen sollte die Integration der freien Berufe in das „neue“ bürgerlichrechtliche Gesellschaftsrecht im Grundsatz keinem Zweifel unterliegen. 93 K. Schmidt NJW 2003, 993 (1001). Und natürlich spielt der von Karsten Schmidt seit langem vertretene Sonderstatus der unternehmenstragenden BGB -Gesellschaft in dieser Diskussion eine zentrale Rolle; dazu mit Nachweisen K. Schmidt Gesellschaftsrecht, § 58 V (S. 1720 ff.). Auch die Beurteilung der Gesellschaft bürgerlichen Rechts als juristische Person verfährt nicht ohne Differenzierungen: „Eine andere Beurteilung ist … nur bei den Erscheinungsformen der Gesellschaft bürgerlichen Rechts gerechtfertigt, die im Rechtsverkehr nicht als eigenständige Einheiten in Erscheinung treten“; so Raiser AcP 199 (1999), 104 (140); hierzu auch Timm NJW 1995, 3209 (3216). 94 BGHZ 150, 1. 95 Dies unter dem Vorbehalt, dass das freiberufliche Gesellschaftsrecht insofern bereits Binnendifferenzen aufweist. Insofern sei etwa auf die Apotheker und deren Zugang zur OHG verwiesen (§ 8 Apothekengesetz). Und Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaften können personengesellschaftsrechtlich bekanntlich nur in der Rechtsform einer Handels- oder Partnerschaftsgesellschaft betrieben werden (§§ 27 Abs. 1 WPO , 49 Abs. 1 StBerG). 96 Vgl. Beuthien JZ 2003, 969 (972). 97 Hopt ZGR 1987, 145 ff.

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Zwingend ist dies, wenn keinerlei, etwa auf den Gesellschaftszweck/Unternehmensgegenstand bezogene Differenzierung zwischen den Realtypen der BGB -Außengesellschaft vorgenommen wird. So verfährt ohne weitere Auseinandersetzung jedenfalls das Grundsatzurteil des BGH vom Januar 2001, was ihm Zustimmung bei einem Teil der Literatur eingetragen hat. So ist unterstrichen worden: „Der BGH hat der insbesondere von Karsten Schmidt vertretenen Unterscheidung zwischen so genannten Mitunternehmergesellschaften und schlicht zivilistischen Gesellschaften im Hinblick auf die Rechts- und Parteifähigkeit zu Recht stillschweigend eine Absage erteilt. Jede Gesamtshandsgesellschaft (Außengesellschaft) ist unabhängig vom konkreten Gesellschaftszweck rechts- und parteifähig.“98 Aber auch für differenzierende Positionen gehören die Freiberuflergesellschaften in den Anwendungsbereich des neuen GbR-Rechts. Dies ist selbstverständlich, wenn das Kriterium der Mitunternehmerschaft zugrunde gelegt wird und die Sozietät eine „Mitunternehmer- BGB -Gesellschaft“ ist.99 Es gilt aber auch für Kritiker der neuen Rechtsprechung. Auch unter diesen ist, bei aller Geisselung der „Systemvergessenheit im deutschen Gesellschaftsrecht“, die Auffassung anzutreffen, dass § 128 HGB nur, aber immerhin, „auf unternehmensbetreibende, nicht aber auf eine nichtwirtschaftliche GbR entsprechend anwendbar (ist)“ und es wird insofern wiederholt neben der unternehmensbetreibenden Gesellschaft auch die freiberufliche Gesellschaft bürgerlichen Rechts angesprochen.100 Auch für andere Diagnostiker des Abschieds von der „monistischen Struktur“ der Gesellschaft bürgerlichen Rechts gehört die Freiberuflergesellschaft zu den Kandidaten für Rechtssubjektivität und akzessorische Haftung.101 2. Freiberuflervorbehalt als Berufshaftungsvorbehalt? a) Spezieller Berufshaftungsvorbehalt bei Altschuldenhaftung? Die vorangehenden Ausführungen stehen unter einem Vorbehalt, den der BGH , wie betont, in Gestalt eines Freiberuflervorbehalts als Berufshaf-

tungsvorbehalt in einem obiter dictum angedeutet, aber offen gelassen hat. Er hat darin eine Option formuliert, wonach die nunmehr judizierte Altschuldenhaftung auf Berufshaftungsfälle möglicherweise nicht anzuwenden sei und insofern auf das Modell der Haftungskonzentration gem. § 8 Abs. 2 PartGG verwiesen.102 Es ist insofern eben diese spezielle Frage nach einer Herausnahme der freiberuflichen Berufshaftung aus der Haftung für Altver98 99 100 101 102

Wertenbruch NJW 2002, 324 (328). K. Schmidt Gesellschaftsrecht, § 58 III ,5b (S. 1706). Beuthien JZ 2003, 969 (973, 977 Fn. 83, 92). Derleder BB 2001, 2485 (2486, 2489). BGH NJW 2003, 1803 (1805).

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bindlichkeiten von der nach einer möglicherweise sogar generellen Privilegierung der Berufshaftpflicht zu unterscheiden. Mit Blick auf den zu entscheidenden Fall hatte der BGH weder Anlass, insofern auf den Altschuldenaspekt noch und erst recht nicht auf den Generalisierungsaspekt einzugehen, da er die Klage gegen den neuen Sozius unter anderen, nämlich Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes abwies. Für die Altschuldenproblematik ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass insofern der vom BGH erwogene § 8 Abs. 2 PartGG von vornherein ein ungeeigneter Anknüpfungspunkt ist.103 Die freiberufliche Altschuldenhaftung als solche ergibt sich zu Lasten der Gesellschafter einer Partnerschaftsgesellschaft bereits aus der ausdrücklichen Verweisung des § 8 Abs. 1, Satz 2 PartGG auf § 130 HGB . Und das Haftungsprivileg des § 8 Abs. 2 PartGG wirkt offenkundig zu Gunsten aller nicht mit der Auftragsbearbeitung befassten Gesellschafter, ohne insofern einen Unterschied zwischen Alt- und Neugesellschaftern zu machen. Es sollte daher auch einer Differenzierung zwischen diesen Gesellschaftern in der Gesellschaft bürgerlichen Rechts nicht gerade unter Bezugnahme auf dieses gesetzliche Modell das Wort geredet werden. b) Genereller Freiberuflervorbehalt? Noch bedeutungsschwerer wäre die vom BGH erwogene Angleichung der freiberuflichen Berufshaftung an das Regelungskonzept des § 8 Abs. 2 PartGG , wenn man es im Sinne einer generalisierenden Haftungsprivilegierung der freien Berufe verstehen wollte.104 Eine solche Annahme tangiert das gesamte gesellschaftsrechtliche System freiberuflicher Zusammenschlüsse in grundsätzlicher Weise. Diese Regelung des Partnerschaftsgesellschaftsgesetzes ist vom Gesetzgeber sicher nicht als Kodifikation eines allgemeinen Grundsatzes verstanden worden, sondern als eine spezielle haftungsrechtliche Begünstigung der neuen Rechtsform, die nicht zufällig erst durch eine Gesetzesänderung von 1998 in das noch junge Gesetz eingefügt worden ist. Es wird daher mit weiterer, hier nicht auszubreitender Begründung, zutreffend davon ausgegangen, dass § 8 Abs. 2 PartGG „eine nicht verallgemeinerungsfähige Sonderbestimmung darstellt, die mit Grundprinzipien des deutschen Haftungsrechts bricht“. Dieses „eigenartige Regelungsmodell“ kommt daher für eine Ausdehnung auf die Gesellschaft bürgerlichen Rechts nicht in Betracht.105 Es sollte also dabei bleiben, die Regelung des Partnerschaftsgesellschaftsgesetzes als „singuläre“106 Haftungsordnung zu begreifen. Eine Ulmer ZIP 2003, 1113 (1116). Dazu etwa Lux NJW 2003, 2806; Ulmer ZIP 2003, 1113 (1118 f). 105 So auch, samt Zitaten, Mülbert Die rechtsfähige Personengesellschaft, AcP 199 (1999), 38 (96). 106 K. Schmidt Gesellschaftsrecht, § 64 IV ,4 (S. 1889). 103 104

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generelle Herausnahme der Berufshaftungsfälle aus dem akzessorischen Haftungskonzept und ihre Unterstellung unter das partnerschaftsgesetzliche Regime wäre auch vor dem Hintergrund der überkommenen Rechtsprechungsgrundsätze zur Haftung in der Sozietät kaum nachvollziehbar. Auf der Grundlage der Doppelverpflichtungslehre war seit der Grundlagenentscheidung des BGH aus dem Jahre 1971107 höchstrichterlich klargestellt, dass alle Sozietätsmitglieder persönlich für Pflichtverletzungen eines einzelnen Sozius haften. Insofern wurde über eine auf Interessenlage und Verkehrsauffassung bezogene Auslegung des Mandatsvertrags und entgegen § 425 Abs. 1 BGB eine haftungsrechtliche gesamtschuldnerische Einstandspflicht aller Sozien schon seit langem bejaht. Es wäre kaum nachvollziehbar, wenn ausgerechnet die allgemeine Richtungsänderung hin zur akzessorischen Gesellschafterhaftung insofern eine die Haftung einschränkende Rückwärtsbewegung für die freiberufliche Berufshaftung in der Gesellschaft bürgerlichen Rechts zur Folge haben sollte. Ein Blick auf die gesetzgeberische Intention bei der Schaffung der Partnerschaftsgesellschaft und speziell des § 8 Abs. 2 PartGG von 1998 bestätigt diese Sichtweise. Es sollte den freien Berufen eine spezielle Rechtsform gerade auch als Alternative zu den Kapitalgesellschaften und den gewerblichen Personengesellschaften geboten werden und die Gesellschafterhaftung auf ein vernünftiges Maß beschränkt werden. Namentlich die Haftungskonzentration zielt auf Akzeptanz und besondere Attraktivität der neuen Rechtsform, eine Zielsetzung, die durch eine Verallgemeinerung des Haftungskonzepts konterkariert würde. Eine Bestätigung erfährt diese Sichtweise durch das Berufsrecht, wenn dieses die gesetzgeberische Auffassung zum Ausdruck bringt, nach der eine Haftungsbegrenzung für Sozien nicht automatisch, sondern nur bei Vorliegen einer entsprechenden Mandatsklausel eingreift.108 Der BGH sollte somit den von ihm angedeuteten Sonderweg für die freiberufliche Gesellschaft bürgerlichen Rechts nicht beschreiten. Ob es sich hierbei um eine „kollegiale Referenz“109 des zweiten Senats gegenüber den mit einschlägigen Haftungsfällen zuständigen anderen Senaten handelt oder gerade umgekehrt um eine Situation „großer kollegialer Harmonie“,110 muss hier offen bleiben. Betroffen sind insofern verfahrens- und gerichtsverfassungsrechtliche Fragen, die der zweite Senat in seinem „nachgeschobenen“ Kostenbeschluss zum Verfahren der Entscheidung BGHZ 146, 341 107 BGHZ 56, 355; vgl. außerdem etwa BGHZ 124, 47 (Anwaltsmandat und später eintretende Sozien). 108 Vgl. die §§ 51a BRAO , 67a StBerG, 54a WPO ; Lux NJW 2003, 2806 (2808); Schäfer ZIP 2003, 1225 (1231); Ulmer ZIP 2003, 1113 (1119). 109 Boehme NZG 2003, 764 (766); bei Ulmer ZIP 2003, 1113 (1116), findet sich die Erwägung, ob das obiter dictum „dazu dienen sollte, einem möglicherweise bestehenden Dissens gegenüber anderen BGH -Senaten Rechnung zu tragen“. 110 Stürner JZ 2002, 1108.

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hat beantworten wollen.111 Danach hat auf eine Anfrage des Senats keiner der anderen Zivilsenate erklärt, an einer eventuell abweichenden Rechtsauffassung in früheren Entscheidungen festhalten zu wollen. Eine Divergenzvorlage an den Großen Senat für Zivilsachen sei daher nicht angezeigt gewesen. Ob mit Blick auf die vom Gericht erörterte Rechtsprechung von BAG , BSG , BVerwG und BFH die Nichtbefassung des Gemeinsamen Gerichtshofs der obersten Gerichtshöfe des Bundes als „ganz und gar nicht geglückt“ 112 zu betrachten ist, kann hier nicht weiter verfolgt werden.

VII. Interprofessionelle Sozietäten Es besteht Anlass, die Auswirkungen der neuen Rechtsentwicklung für interprofessionelle Zusammenschlüsse einer gesonderten Betrachtung zu unterziehen. Dies ist in der bisherigen Diskussion zur neuen Rechtsprechung, soweit ersichtlich, noch nicht geschehen, aber mit Blick auf die tatsächliche Bedeutung und rechtlichen Sonderprobleme interprofessioneller Sozietäten113 und fachübergreifender Gemeinschaftspraxen 114 dringend angezeigt. Ja, man wird auf die weitere Rechtsprechungsentwicklung gerade zu diesen Zusammenschlussformen besonders gespannt sein dürfen, da weder die bisherige einschlägige Rechtsprechung noch die Aufnahme dieser Rechtsprechung in der Literatur völlig einheitlich ist, teilweise sogar ausgesprochen kontrovers ausgefallen ist. Dabei stellen sich Sonderprobleme freiberuflicher fachübergreifender Kooperationen wiederum sowohl auf der Vertragsebene als auch der Haftungsebene. 1. Vertrags-/Mandatsverfassung Hinsichtlich der Vertragsverfassung im Außenverhältnis gehört die interprofessionelle Freiberuflergesellschaft, wie bereits hervorgehoben, zu den gerichtlich und literarisch bearbeiteten Problemfällen. Dies gilt namentlich für das oben in allgemeiner Perspektive erörterte Verhältnis von Gesamtund Einzelmandat. Prototypisch sind Zusammenschlüsse von Rechtsanwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern. Insofern gibt es mittlerweile eine bereits seit längerem eingefahrene Rechtsprechung, die hierzu Sonderregeln entwickelt hat. Diese zielen, auf der Grundlage der vordem geltenden Doppelverpflichtungslehre, nicht zuletzt auf eine Umkehrung der bereits behandelten allgemeinen Regel, wonach das einem zur Sozietät gehörenden 111 112 113 114

BGH JZ 2002, 1106 (mit kritischer Anmerkung von Stürner). Stürner JZ 2002, 1109. Dazu Damm/von Mickwitz JZ 2001, 76. Dazu jüngst Gollasch aaO.

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Sozius angetragene Mandant von ihm zugleich für die Sozietät und die anderen Sozien entgegengenommen wird. Für interprofessionelle Sozietäten soll aber ein anderes gelten, nämlich grundsätzlich ein Einzelmandat mit dem fachlich für die Mandatsbearbeitung befähigten beziehungsweise befugten Mitglied der Sozietät: „Dementsprechend kommt bei Sozietäten unterschiedlicher Berufsangehöriger der Vertrag im Zweifel nur mit denjenigen Sozien zustande, die auf dem zu bearbeitenden Rechtsgebiet tätig werden dürfen.“ 115 Es wird damit der allgemeinen sozietätsspezifischen Auslegungsregel pro Gesamtmandat eine interprofessionsspezifische Auslegungsregel zweiter Ordnung pro Einzelmandat zur Seite gestellt. Dabei spielt an dieser Stelle das Berufsrecht in bemerkenswerter Weise in das Zivilrecht hinein. Dies liegt daran, dass die bei der Vertragsauslegung herangezogene Befähigung der in Betracht kommenden Gesellschafter ihre Grundlage in berufsrechtlichen Normen findet.116 So ist etwa für die Rechtsberatung insofern auf den weiten Zuschnitt rechtsberatender Tätigkeit in den §§ 3 Abs. 1 BRAO , 3 Nr. 2 StBerG zu verweisen, im Übrigen auf das in diesem Zusammenhang wichtige Rechtsberatungsgesetz. Zwar ist es Wirtschaftprüfern und Steuerberatern gemäß Art. 1 § 5 Nr. 2 RBerG nicht verwehrt, in Angelegenheiten, mit denen sie beruflich befasst sind, auch die rechtliche Bearbeitung zu übernehmen, soweit diese mit den berufsspezifischen Aufgaben in „unmittelbarem Zusammenhang“ stehen. Aber damit ist, hier durch das Gesetz, eine heikle Abgrenzungsaufgabe auf dem dünnen Eis unscharfer begrifflicher Kriterien gestellt. Ein solcher unmittelbarer Zusammenhang ist nur gegeben, „wenn die wirtschaftsberatende Tätigkeit im Vordergrund steht und vom Wirtschaftsprüfer nicht ohne die rechtliche Bearbeitung sachgemäß bearbeitet werden könnte“.117 Es ist weiter von erheblicher Bedeutung, dass die Rechtsprechung die Auslegung der mandatsbegründenden Willenserklärungen mit dem Gesichtspunkt der Vertragsnichtigkeit wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot verknüpft. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass die Verpflichtung eines Wirtschaftsprüfers oder Steuerberaters zu einer ihm nicht gestatteten Rechtsbesorgung gegen Art. 1 § 1 RBerG und damit gegen ein Verbotsgesetz verstößt. Hieraus wird auf die Gesamtnichtigkeit des ganzen Vertrages auch dann geschlossen, wenn dieser zugleich eine erlaubte Tätigkeit mit umfasst. Und gerade deshalb sei eine den Vertragszweck des einheitlichen Geschäftsbesorgungsvertrages gefährdende Einbeziehung eines unerlaubt tätig werdenden Steuerberaters oder Wirtschaftsprüfers bei verständiger Würdigung der Willenserklärungen der Vertragsschließenden von 115

BGH NJW 2000, 1333 (1335); weitere Nachweise bei Damm/von Mickwitz JZ 2001, 76

(79). 116 Nicht eingegangen wird hier auf die Frage der berufsrechtlichen Zulässigkeit interprofessioneller Sozietäten; dazu für die Anwaltschaft § 59a BRAO . 117 BGH NJW 2000, 1333 (1334); BGHZ 102, 128 (131); vgl. auch BGHZ 153, 214.

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vornherein nicht gewollt.118 Danach sollte es zu einer Mitverpflichtung des Anwalts hinsichtlich der Tätigkeit von Steuerberatern der Sozietät kommen, nicht aber umgekehrt zur Mitverpflichtung des Steuerberaters hinsichtlich der Anwaltstätigkeit. Im Ergebnis kam es also zu einer Asymmetrie der Vertragsverfassung. Dies ist bereits unter allgemeinen Vertragsrechtsgrundsätzen nicht unproblematisch, kann hier aber nicht im Einzelnen verfolgt werden.119 Hervorzuheben ist allerdings, dass auch unter dem früheren Rechtsprechungskonzept zur Gesellschaft bürgerlichen Rechts die Judikatur zu interprofessionellen Zusammenschlüssen keineswegs durchgängig auf Zustimmung gestoßen war. So wird schon seit längerem die Ansicht vertreten, dass auch in einer interprofessionellen Sozietät sämtliche Sozien Vertragspartner werden und nur die Erfüllung des Vertrages, also die konkrete Erbringung der geschuldeten Dienstleistung selbst, durch den berufsrechtlich hierzu befugten Sozius zu erfolgen habe.120 Mit etwas anderem Akzent ist bis in die jüngste Vergangenheit gegen die Rechtsprechung des BGH und einiger Instanzgerichte geltend gemacht worden, dass auch bei einer gemischten Sozietät aus Rechtsanwälten und Steuerberatern bei Übernahme eines Prozessführungsmandats auch die Steuerberater Vertragspartner würden. „Die übrigen Sozien müssen in einem solchen Fall nur darauf achten, daß die Ausführung des Mandats … ausschließlich den hierfür beruflich qualifizierten Partnern überlassen bleibt. Wird dies befolgt, kann kein Verstoß gegen Art. 1 § 1 RBerG angenommen werden.“121 Sofern auch nur ein Mitglied der Sozietät berufsrechtlich zur Erbringung der Vorbehaltsaufgabe legitimiert sei, sei der Sozietät die Vertragserfüllung möglich, so dass allein die Annahme eines Vertragsschlusses mit allen Sozien interessengerecht sei und der Verkehrsauffassung entspreche.122 Nach der jüngsten Rechtssprechungsentwicklung zur BGB -Gesellschaft erscheint eine Überprüfung der bislang von der Rechtsprechung vertretenen Grundsätze erst recht und dringend erforderlich. Wenn und soweit nunmehr grundsätzlich die rechtsfähige Sozietät Vertragspartnerin der Mandanten wird, dann geraten auch bisher hoch gehaltene Grundsätze und Sonderregeln zu interprofessionellen Zusammenschlüssen unter neuen Begründungszwang. Auch die interprofessionelle Sozietät und fachübergreifende Gemeinschaftspraxis verpflichtet sich als solche zur Erbringung der BGH NJW 2000, 1333 (1335); BGHZ 50, 90 (95); 70, 12 (17). Ausführlicher Damm/von Mickwitz JZ 2001, 76 (81 f). 120 Römermann WiB 1997, 667 (668), kritisch zu OLG Köln WiB 1997, 667; Droste Gemeinschaftliche Berufsausübung von Rechtsanwälten mit Angehörigen anderer steuer- und wirtschaftsberatender Berufe, 1998, S. 165 ff.; vgl. früher bereits hierzu Kornblum AnwBl 1973, 153 (159); ders. AnwBl 1981, 260 (265); Michalski Das Gesellschafts- und Kartellrecht der berufsrechtlich gebundenen freien Berufe, 1989, S. 196 ff. 121 Henssler/Streck-Streck Handbuch des Sozietätsrechts, 2001, B Rn. 778 (S. 426). 122 Droste aaO., S. 165 ff. 118 119

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vertraglich geschuldeten Leistung. Dass sie sich durch interne Organisation hierzu eines dafür qualifizierten und befugten Gesellschafters zu bedienen hat, versteht sich nachgerade von selbst. Sind die Gesellschafter als Vertragspartner nunmehr grundsätzlich aus der Schusslinie, können Bedenken gegen die Wirksamkeit dieses, also eben Sozietätsmandats kaum noch aus der Individualposition von nicht befugten Sozien abgeleitet werden. Berufsrechtliche Befugnis ist nicht mehr ein Problem der Vertragsschlussebene, sondern der Erfüllungsebene. Entsprechende Überlegungen gelten für die fachübergreifende ärztliche Gemeinschaftspraxis. Hier ist das Interesse von Patient und Gesellschaftern an einer Mitverpflichtung auch der Arzt-Gesellschafter herausgestellt worden, die selbst zur Erfüllung der Primärverpflichtung nicht befugt sind.123 Die Verpflichtung der fachübergreifenden Gemeinschaftspraxis ist auf die Erbringung der medizinischen Leistung ausschließlich durch den Arzt gerichtet, in dessen Fachgebiet die Leistung fällt.124 2. Haftungsverfassung Für die Haftungsverfassung hat eine Umstellung der Vertragsverfassung ebenfalls weitreichende Konsequenzen. Der vorher unterstellten Asymmetrie auf der Vertragsebene entsprach eine Asymmetrie der Haftungsverfassung. Rechtsprechung und überwiegende Literaturmeinung sind davon ausgegangen, dass eine gesamtschuldnerische Verpflichtung nur entstehen könne, soweit jeder Sozius die allgemeinen rechtlichen und fachlichen Voraussetzungen zur Bearbeitung des erhaltenen Auftrags erfüllt. Demgemäß sollte in einer Sozietät zwischen Anwalt und Steuerberater nur im Bereich der steuerberatenden Tätigkeit eine gesamtschuldnerische Mithaftung des Steuerberaters begründet werden, umgekehrt aber ein Steuerberater-Sozius nicht für außersteuerliche, ihm selbst gemäß Art. 1 § 1 RBerG verbotene Rechtsberatung durch seinen Rechtsanwaltssozius haften.125 Auch dies war schon unter dem „alten“ Recht nicht unumstritten. Ausdrücklich gegen die BGH -Rechtsprechung gewandt, wurde eine gesamtschuldnerische Haftung sämtlicher Sozien auch dann bejaht, wenn das betreffende Mandat nicht zu dem durch sie bearbeiteten Bereich gehört.126 Dies muss nach der Umstellung von einer aus Vertragspartnerposition resultierenden Gesellschafterhaftung auf eine gesetzliche Haftung für Gesellschaftsverbindlichkeiten um so mehr gelten. Gollasch aaO., S. 136 ff. Gollasch aaO., S. 155. Der Autor hebt hervor, dass ungeachtet aller sonstigen Unterschiede in dieser Hinsicht im Ergebnis kein Unterschied zwischen Doppelverpflichtungsund Akzessorietätslehre bestehe. 125 Alle Zitate bei Zugehör/Sieg Handbuch der Anwaltshaftung, 1999, Rn. 375 (S. 155). 126 Henssler/Streck-Streck aaO., B Rn. 779 (S. 426), mit ausdrücklicher Wendung gegen BGH NJW 2000, 1333 und OLG Köln WiB 1997, 667. 123 124

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Dies schließt auch deliktische Verbindlichkeiten ein. In dem bereits kritisch angesprochenen, eine interprofessionelle Sozietät betreffenden Urteil des BGH (IX . Zivilsenat) wäre also angesichts der im konkreten Fall gegebenen Veruntreuung von Mandantengeldern sehr wohl eine Haftung des Sozius für Gesellschaftsschulden auch aus §§ 823 Abs. 2, 826, 31 BGB in Betracht gekommen. Hierauf nimmt der Anwaltssenat auch ausdrücklich Bezug, lehnt aber eine Haftung mit der Begründung ab: „Deliktisch haften die Sozien des Rechtsanwalts aber nur ausnahmsweise mit. Die §§ 31, 831 BGB sind auf eine Anwaltssozietät nicht ohne weiteres anzuwenden.“127 Der insofern einzige Beleg durch die alte, längst nicht mehr überzeugende Entscheidung BGHZ 45, 311, ist auch hier nicht tragfähig. Dies gilt auch für die jüngst auf die fachübergreifende ärztliche Gemeinschaftspraxis bezogene und den Wechsel zur Akzessorietätslehre bereits einbeziehende Ablehnung der Gesellschafterhaftung für deliktische Gesellschaftsverbindlichkeiten.128 Nicht überzeugend ist insofern eine Argumentation, nach der der Gesichtspunkt des gesellschaftsbezogenen Charakters des deliktischen Gesellschafterhandelns bereits bei der Zurechnung dieses Handelns an die Gesellschaft gemäß § 31 BGB herangezogen werde, also gewissermaßen verbraucht sei, und nicht noch einmal Rechtsgrund für eine akzessorische Gesellschafterhaftung sein könne. Dieses bereits bei der allgemeinen Erörterung des Verhältnisses von Deliktshaftung und Gesellschafterhaftung129 zurückgewiesene Argument wird im Zusammenhang interprofessioneller Zusammenschlüsse nicht richtiger.

VIII. Ausblick Die Wende der Rechtsprechung des zweiten BGH -Senats zur Gesellschaft bürgerlichen Recht ist fallbezogen nicht zufällig auch am Gegenstand der Freiberuflergesellschaft vollzogen worden. Auch soweit dies im Einzelfall nicht so war, sind die freien Berufe als dominante Nutzer dieser Rechtsform sehr grundsätzlich von der richterlichen Neuorientierung betroffen. Ebenso sicher ist davon auszugehen, dass auch und insbesondere für dieses Segment des Gesellschaftsrechts einschlägige Folgeprobleme und Feinjustierungen Rechtsprechung und Wissenschaft noch länger beschäftigen werden. Dies gilt sowohl für im Grundsatz entschiedene Fragen (Delikts- und Altschuldenhaftung) wie insbesondere für offen gebliebene Fragen (möglicher Berufshaftungsvorbehalt zugunsten Freiberuflergesellschaften). Aber es sind doch mit dem neuen Konzept Schritte vollzogen, die für Sozietäten wesentliche Klar- und Weichenstellungen beinhalten. 127 128 129

BGH NJW 2000, 1333. Gollasch aaO., S. 195 ff. Oben unter V.2.b).

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Das Interesse der freien Berufe an einer institutionellen Haftungsbeschränkung qua Rechtsform statt einer nur individuellen Haftungsbeschränkung qua Vereinbarung 130 ist als grundsätzlich legitimes Interesse anzuerkennen. Diese Feststellung ist nach der richterrechtlichen Wende zur Gesellschaft bürgerlichen Rechts aktueller denn je. Die weitere substantielle Annäherung der GbR an die OHG hat dem weitere Nahrung gegeben und erneut die „Öffnung der OHG “ 131 zur Sprache kommen lassen. Näher liegend erscheint es in diesem Zusammenhang, mit Blick auf die gesetzespositive Lage und schon diesseits der Freiberufler-Kapitalgesellschaft zu betonen: Die Partnerschaftsgesellschaft ist geöffnet. Es ist nicht überraschend, sondern angemessen, dass angesichts des scharfen Rechtsprechungsschwenks und der teilweise auch scharfen Folgediskussion zur Legitimität der Rechtsfortbildung die Frage nach der Zuständigkeit gesellschaftsrechtlicher Normbildung fortgesetzt (werden) wird. Für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts insgesamt gilt dies auch für die grundsätzliche Frage, ob nach der Stunde des Gesetzgebers von 1900, der lange währenden „Stunde“ von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert und darüber hinaus, nunmehr wieder die „Stunde des Gesetzgebers“ 132 geschlagen hat. Speziell für die freien Berufe ist der normative Doppelschlag von richterlicher Revision der alten Rechtsform einerseits und der legislativen Kreation neuer Rechtsformen namentlich für Freiberufler andererseits Anlass genug, auch in dieser Doppelung gewürdigt zu werden. Gerade unter Berücksichtigung der Summe dieser Normbildungsprozesse sollten die freien Berufe im Rahmen des Richterrechts der BGB -Gesellschaft grundsätzlich keine Sonderstellung in Anspruch nehmen, die ihnen mit Blick auf die Partnerschaftsgesellschaft durch Gesetzesrecht jedenfalls in zentralen Fragen wie der der Gesellschafterhaftung bereits eingeräumt worden ist.

130 Zu deren Verhältnis jetzt grundlegend Bruns Haftungsbeschränkung und Mindesthaftung, 2003. 131 Stürner JZ 2002, 1109. 132 K. Schmidt NJW 2003, 1904; vgl. auch Ulmer aaO., vor § 705 Rn. 26 f.

U.S. Corporate Governance – The Independent Director’s Role Kenneth B. Davis, Jr.

Inhaltsverzeichnis Seite

I. II. III. IV.

Introduction . . . . . . . . . The Model’s Contributions . Institutional Explanations . . Conclusion – What Instead?

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I. Introduction There is a popular saying in the U.S.: „Be careful what you wish for, … for you just might get it.“ A case in point may be the institution that has been the watchword of corporate governance reformers in the U.S. for the last three decades – the „Monitoring Model“ of the board of directors. This essay evaluates how that Model has been implemented over the years and its implications for the performance of outside directors. It is an essay as much about the process of corporate governance reform in the U.S. as the resulting substance. A critical feature of the U.S. corporate governance – perhaps difficult for many foreign observers to appreciate at first blush – is the decentralized and fragmented responsibility for making rules and setting standards. Congress, the federal courts, state legislatures, state courts, the Securities Exchange Commission ( SEC ), and the stock exchanges all contribute significantly to the current state of U.S. corporate governance law. Further, the absence of any definitive, central authority for lawmaking enhances the role of policy pronouncements from a variety of private professional organizations, such as the American Law Institute ( ALI ), the Corporate Laws Committee of the American Bar Association, and the Business Roundtable. My thesis is that as attractive as the Monitoring Model is in theory, its implementation through the necessarily diffused and sporadic efforts of these various lawmakers threatens to confine independent directors to a series of narrow and specialized roles. What we stand to lose as a result is their participation in a

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variety of broader corporate policymaking settings to which they seem well suited. After examining these and other concerns, and the institutional forces that produce them, in greater detail, this essay concludes with some examples of what this broader participation might include. We begin, though, with a bit of history. Until the 1970s, U.S. corporate laws uniformly mandated that a corporation’s business and affairs be „managed by“ its board of directors. Even the most casual observer of the large, publicly-traded corporation appreciated, however, that it was the Chief Executive Officer (CEO ) and other senior officers who actually managed the corporation. Those officers also served on the board – constituting, in most cases, a third to a half of its membership. The remaining directors were typically executives of other corporations and professionals (lawyers, investment or commercial bankers, etc.) whose firms provided services to the corporation. Absent a crisis, the usual function of these outsiders was simply to provide advice and counsel. Studies revealed that the typical board did not take the lead in establishing the corporation’s objectives, policy or strategy, much less managing its business.1 Nonetheless, legal authorities were content to maintain the Management Model on the statute books, while applying a far more tolerant standard in the rare case where the directors were called to account. Several events in the 1970s ultimately led to the Management Model’s rejection. One was the critical accounts – in both the popular press and reports of government investigations – of the detachment and complacency of Penn Central’s directors as the fortunes of the newly merged railroad careened toward bankruptcy. Another was the post-Watergate discovery that many of the nation’s largest and most respected corporations had been engaged in a pattern of improper political contributions and overseas bribes. Investigations revealed that, by and large, the boards of these corporations were entirely ignorant of the off-the-books accounts and slush funds used for these payments. The ensuing concern and debate over the performance of U.S. corporate boards ultimately evolved to the following fundamental question: Acknowledging that time and staffing limitations precluded the ordinary outside director from either „managing“ the corporation or even making corporate policy, what role could the board realistically be expected to play instead? „Monitoring“ was the answer that emerged, chiefly from the academic community. But monitoring what? Advocates often lumped together three separate concerns that pose very different practical problems of oversight – management’s economic performance, management’s integrity and the corporation’s compliance with law.

1 Melvin Aron Eisenberg, The Structure of the Corporation 139–70 (1976); Myles L. Mace, Directors: Myth and Reality (1971).

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From the outset, implementation of the Monitoring Model has focused on three lines of reform: (1) increasing the proportion of outside directors on corporate boards; (2) assuring that these outsiders were in fact „independent“ (status as a non-employee was not by itself sufficient); and (3) entrusting various board functions, such as oversight of the audit, nomination of board candidates, and compensation of the CEO and other senior executives, to committees comprised of these outsiders. By 1980 various institutions, including the Securities & Exchange Commission ( SEC ), New York Stock Exchange ( NYSE ) and ALI , had launched initiatives to advance these reforms. These efforts met a mixed response. Much of the business community opposed the concept of a mandatory, „one size fits all“ approach to board structure. As a result, many of these initiatives were ultimately diluted or abandoned. While some elements of the Model early found their way into prescriptive law, such as the NYSE ’s 1977 requirement of audit committees consisting solely of independent directors, most of the Model’s implementation has occurred through voluntary acceptance and changes in the corporate culture. The impact has been significant, nonetheless. Numerous studies confirm the steady increase in both the number and role of independent directors over the last three decades. Were it not for the Enron-WorldCom wave of financial reporting scandals in 2001–02, this process of gradual but steady implementation seems likely to have continued for the indefinite future. But in their race to reassure both voters and the financial markets following these scandals, Congress, the White House, SEC and stock exchanges looked to the Monitoring Model and, through a combination of the Sarbanes-Oxley Act and NYSE and NASDAQ listing standards, mandated adoption of its principal components.

II. The Model’s Contributions How has the Monitoring Model changed the way publicly traded corporations are governed in the U.S.? In my view, there are three noteworthy consequences. The most obvious and direct is to assign a variety of governance tasks to the corporation’s independent directors, tasks previously carried out by the full board, by members of senior management, or in some cases even by outsiders, such as courts. The most established is oversight of the audit and our experience with this assignment is instructive, although it is probably too soon to know how much of it can be generalized to other independentdirector activities. The cumulative effect of recent rulemaking is to toughen the independence criteria for audit committee membership, significantly expand the committee’s workload and requires that at least one committee

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member qualify as a „financial expert.“ The critical issue for our purposes is whether the deployment of the independent directors to these increasingly specialized tasks threatens to „balkanize“ the board and divert committee members from collaborating with their non-committee board colleagues on broader corporate issues. To put that issue in proper perspective, though, we need to round out our examination of how the Monitoring Model has changed the face of U.S. corporate governance. The second principal consequence of the Model (one probably not foreseen, much less welcomed by its early advocates) is to substantially enhance the availability of the „business judgment rule“ ( BJR ) – the legal doctrine that requires courts to defer to the directors’ judgment on matters of corporate policy. In the 1980s courts increasingly invoked the BJR to limit review of matters in which individual directors had a conflict of interest, so long as the matter had been addressed in good faith by a committee of other, disinterested members of the board. Leading examples include transactions between the corporation and one or more directors 2 and shareholders derivative litigation. 3 Why this change? A simple answer might be that before the emergence of the Monitoring Model boards had too few independent directors to raise the question. A more policy-grounded answer, though, is that inasmuch as the Monitoring Model identifies independent directors as the keystone of corporate reform, it would hardly be consistent to deny effect to their work product. 4 Thus far we have considered only developments that serve to expand the responsibilities and powers of the independent directors. How has that expanded power been exercised to improve the performance or responsiveness of senior managers or achieve the other objectives envisioned by the Monitoring Model’s advocates? In other words, what about outputs rather than inputs? Here the record is much more sketchy and subject to debate. Recent studies find no substantial evidence of a positive relationship between the Model’s principal components, such as a higher proportion of independent directors, and the economic performance of the corporation. 5 2 Model Business Corporation Act ( MBCA ) §§ 8.61(b)(1), 8.62; Marciano v. Nakash, 535 A.2d 400, 405 n.3 (Del. 1987). 3 MBCA § 7.44; Zapata Corp. v. Maldonado, 430 A.2d 779 (Del. 1981); Auerbach v. Bennett, 393 N.E.2d 994 (N.Y. 1979). Additionally, even when the BJR was not available, courts reduced their scrutiny when the decision was the product of a board or committee with independent directors in the majority. Unocal Corp. v. Mesa Petroleum Co., 493 A.2d 946, 955 (Del. 1985) (rejection of a takeover bid); Weinberger v. UOP, Inc., 457 A.2d 701, 709 n.7 (Del. 1983) (parent-subsidiary mergers). 4 Burks v. Lasker, 441 U.S. 471, 482–85 (1979), although technically an interpretation of the Investment Act of 1940, represents the best embodiment of these sentiments. 5 See Sanjai Bhagat & Bernard Black, The Uncertain Relationship Between Board Composition and Firm Performance, 54 Business Lawyer 921, 940–50 (1999); Benjamin E. Hermalin & Michael S. Weisbach, Boards of Directors as an Endogenously Determined Institu-

U.S. Corporate Governance – The Independent Director’s Role

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What if we look, instead, at the impact on key sub-factors that affect that economic performance? Among the Model’s chief goals was for the board to exert a viable disciplinary force over senior management’s performance, and the ouster of CEOs at General Motors, IBM , Procter & Gamble and other leading U.S. corporations attests to a sharp break from the traditional deference of the boardroom. The Model’s third principal contribution therefore involves the board’s willingness to terminate the CEO on performance grounds. The raw data certainly suggest that willingness has steadily increased over time as acceptance of the Monitoring Model has grown. In a recent study of CEO terminations, Huson, Parrino and Starks report the following percentages as „forced“: 6 Time Period

Number of CEO Turnovers

Percent „Forced“

1971–76

295

10.2 %

1977–82

319

13.5 %

1983–88

382

17.0 %

1989–94

320

23.4 %

To put these results in proper perspective, however, we must recognize two concerns. First, is it really the independent directors who have played the lead role in producing this trend? Published accounts of CEO firings often reveal that the board’s action followed pressure for change from key shareholders. Much of the observed increase in the rate of forced turnovers may thus be due to the brisk increase in institutional investor activism triggered by the mid-1980s takeover wave. Indeed, the annualized version of the data reported above show a sharp jump in 1984, the year that public pension funds began the initiatives leading to the formation of the Council of Institutional Investors. Compared to a pre-1984 average of 11.2 percent, the rate of forced turnovers climbed to 21.4 percent for the remaining 11 years of the study. What we have, therefore, is most likely a case of joint causation – intensified shareholder pressure applied to more independent (and therefore more responsive) boards.

tion: A Survey of the Economic Literature, FRBNY Economic Policy Review, April 2003, at 7, 12–13 (summarizing studies). 6 R. Mark Huson et al., Internal Monitoring Mechanisms and CEO Turnover: A LongTerm Perspective, 56 J. Finance 2265 (2001). The authors specifically test and reject the possibility that the increase in the percentage deemed „forced“ is due simply to changes in how CEO departures were reported and described in the press. Id. at 2291–94.

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Second, experience has shown that the CEOs ’ enhanced vulnerability for perceived poor performance introduces problems of its own. The evidence suggests that the measure for that performance has often been short-term returns in the company’s stock. Multiple studies confirm a significant relationship between recent declines in stock price and the probability of the CEO ’s termination. 7 This connection is hardly lost on CEOs and those who advise them. In its annual report on CEO turnovers, the management consulting firm, Booz Allen Hamilton, observes: „Boards are judging CEO underperformance more strictly. Chief executives who were dismissed in 2002 had generated median shareholder returns 6.2 percentage points lower than those generated by CEOs who retired voluntarily.“ 8 Recent events demonstrate the temptation facing executives to „manage“ quarterly earnings in order to meet or exceed the expectations of stock market analysts and avoid a drop off in the price of the corporation’s stock. As a result, the idea of „disciplining“ the CEO to perform, whether by the board or large shareholders, is no longer the unambiguous goal that 1970s reformers likely envisioned. Taken as a whole, the foregoing discussion leads to a fundamental observation about the Monitoring Model’s contributions. They have not generally come at the independent directors’ initiation. Rather, they represent the agenda of some other group – lawmakers, corporate insiders seeking the protections of the BJR , or institutional investors – which desires to put that independence to use. This returns us to the challenges of specialization and balkanization identified earlier. Do recent corporate governance initiatives threaten to further dilute the independent directors’ participation in key issues of corporate policy? From the outset of the corporate governance debate, reform advocates have identified three barriers to the independent directors’ active and meaningful participation: (1) time demands, (2) expertise, and (3) lack of staffing. To round out the picture, we should add two more, neither as obvious as the traditional three: (4) independence requirements, which we will address below, and (5) the threat of personal liability, which we defer until the next section. Confining ourselves for now to the first three, we can see why committees have played such an effective role in channeling the outside directors’ energies and input. The directors’ time and attention is focused on a single set of problems; no mastery of the full sweep of corporate issues is expected as a pre-condition to the director’s effective participation; and the 7 E.g., David J. Denis et al., Ownership Structure and Top Executive Turnover, 45 J. Financial Economics 193, 202–05 (1997). 8 Chuck Lucier et al., CEO Succession 2002 – Deliver or Depart 4. For North America, the differential was 10.1 percent.

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subject matter typically involves a specialized topic (audit and accounting requirements, compensation policy, the merits of a pending derivative suit, etc.) for which outside experts may be engaged. Sarbanes-Oxley and the other post-Enron reforms can only reaffirm committee service as the core of the outside director’s involvement. The most recent round of annual surveys of directors confirms that the time and meeting demands for audit committee service have increased dramatically. 9 The SEC ’s proposal for shareholder nomination of board candidates and the ongoing criticism of CEO compensation suggest that the workload of those two committees will likely grow as well. Reformers will no doubt see the newly mandated independence of those committees as an invitation to fresh initiatives. Further, the new independence and expertise requirements mean that newcomers will increasingly be selected for board membership based on their capacity to serve on a particular committee – a phenomenon that has long been the case for special litigation committees (SLCs ) appointed to respond to shareholder suits. True, nothing in this more committee-centric framework directly precludes the independent director from active engagement as a member of the full board as well. Some might argue that the enhanced demands of committee service will necessarily drive independent directors deeper into the corporation’s affairs and, if anything, result in their being more effective members of the full board. Yet inasmuch as time was seen as the key obstacle even when committee demands were lighter, we would be unrealistic to dismiss its challenges now. For the kinds of high-profile individuals who serve as outside directors, that challenge usually entails juggling a multitude of commitments without jeopardizing either one’s personal reputation or sense of responsibility. In choosing how to allocate available time between the committee and full board, independent directors have three important reasons to make committee work their priority: The opportunity for personal contribution, as an outsider, will typically be greater. Committees have been the focal point for shareholder and public expectations regarding the independent directors’ potential role in curing the ills of corporate governance. Finally, the committee’s much smaller size and supposed freedom from management influence make for a much higher risk that the independent director will be faulted, as an individual, for any perceived failures of the group. More subtly, the new independence requirements may contribute to this trend. Academics have compiled a substantial body of empirical evidence challenging the proposition that more independent boards improve either the effectiveness of the board or the performance of the corporation. We 9 Deloitte, Audit Committee Financial Expert Designation and Disclosure Practices Survey 9–10 (Nov. 2003); Spencer Stuart Board Index 13 (2003).

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have yet to approach consensus, however, on the reasons or how to address them. Implicit in the proposals for more independence, board meetings with no members of management present, and a chair other than the CEO is a belief that the critical problem continues to be the CEO’s power to control the agenda and discourage active participation by the outside directors. The competing vision has its roots in the survey and anecdotal evidence indicating that directors regard the traditional problems of expertise, information and time, not the power of the CEO, as the true obstacles to their more effective participation.10 An emerging line of management literature argues that more mandated independence will jeopardize CEOs ’ willingness to take outside directors into their confidence and seek out their advice and counsel. Studies by James Westphal and others demonstrate how directors’ perceptions of their influence on shaping the corporation’s strategic direction increase with both the relevance of their background to the corporation’s business and their personal ties to the CEO.11 Neither of these alternative visions bodes well for the directors’ general participation in policymaking. Though the new structures may make individual directors more willing to bring their concerns to the full board’s attention, they will hardly lead the CEO to encourage or facilitate the board’s participation in matters that have yet gone unquestioned, particularly if the discussion is likely to continue in the CEO’s absence. Conversely, to the extent that independence and expertise are the core problem, they will further the director’s tendency to focus his or her efforts on service at the committee level, where everyone or virtually everyone is also an outsider and the requisite expertise is typically supplied not by internal management but an outside professional.

III. Institutional Explanations Lest there be any doubt about the law’s commitment to this committeebased framework, consider the aftermath of Enron and WorldCom. Over the last 30 years, no institution has embodied the aspirations of corporate governance advocates, and served as the focal point for their reforms, more than the audit committee. The audit committees of both Enron and WorldCom were replete with „blue ribbon“ names – academic leaders, accomplished business executives, and the former head of a major regulatory agency – yet it was under their noses that the two largest financial reporting scandals in U.S. history occurred. Interestingly, the reaction was never to 10 E.g., Jay W. Lorsch, Pawns or Potentates – The Reality of America’s Corporate Boards 83–89 (1989). 11 James D. Westphal, Second Thoughts on Board Independence, Corporate Board, Sept/ Oct. 2002, at 6; id., Collaboration in the Boardroom: Behavioral and Performance Consequences of CEO -Board Social Ties, 42 Academy of Management J. 7 (1999).

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seriously question whether this revealed a flaw in the assumptions underlying the Monitoring Model as to what could realistically be expected of independent directors. Instead, we retained the basic framework. Enron and WorldCom followed thirty years of steady and substantial increases in the number, independence and involvement of outside directors. Yet for the solution we looked to more outside directors, greater independence and deeper involvement, with the independent committee as the principal means of carrying them out. I am not arguing that audit and other independent committees will be no more effective as a result. Hopefully, at the margin, they will be. The larger point, though, is that the time and energy of the outside directors are a scarce resource. At no point in the reform debate did we stop to ask whether this was their most efficient use. Whether by design, inertia or some combination of the two, the most visible involvement of independent directors to date, such as service on audits committees and SLCs , has been in the very areas where entire industries of elite professional firms already exist, supposedly to provide sophisticated expertise and independent judgment to corporations and their shareholders. Of course, developments in the marketplace for professional services have made us increasingly wary of management’s ability to influence the work product of these firms by offering or withholding additional business. In response, a principal role of outside directors – perhaps after Enron and WorldCom, the principal role – is as buffer between management and the outside firms that will be doing the real fieldwork and making most of the critical judgments. We could simply attribute these developments to political expediency and stop there. After Enron and WorldCom, investors were in need of quick reassurance. It was far easier to assume that more independent and engaged outside directors would produce a meaningful change than to undertake wholesale reforms of politically well organized professions. This is surely part of the explanation. But it cannot be the entire explanation. As we’ve seen, the reforms were not a standalone event, but the most recent data point on a three-decade trendline. As suggested in the Introduction, the search for broader explanations starts with the diffused nature of U.S. corporate law. The principal reason why lawmakers have not inquired more generally into the most efficient use of outside directors’ time and talent is that they are rarely in the position to act on the answer. Instead, each independent lawmaking body is from time to time presented with a single corporate task and the choice of where best to assign it. Depending on the circumstances, Congress or the SEC or the stock exchanges might take up whether responsibility for some step in the audit process should lie with the outside auditor, internal management or the audit committee. Courts are asked whether responsibility for determining if a derivative suit is in the corporation’s best interests should lie with the judge or

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the SLC . And so forth. The current state of the Monitoring Model is simply the cumulative product of a series of these discrete choices over the years. Each of these choices is invariably made in juxtaposition to the status quo, in which outside directors have traditionally assumed little responsibility for the task at issue. It is therefore easy to indulge in an idealized vision of how they might change things for the better. Readers still tempted to believe that recent developments reflect real confidence in outside directors as the optimal solution to the monitoring problem, rather than simply dissatisfaction with the incumbent arrangements, should at least engage in the following thought experiment. Suppose corporate practice had always been the reverse. That is, outside directors had historically exercised primary responsibility for overseeing the audit with the outside auditor playing only a consultant’s role. Is there any doubt, whenever an Enron or WorldCom then occurred, that the overwhelming response would be calls to take responsibility out of the hands of management’s „cronies“ on the board and put it into the hands of the independent professional experts? In a very real sense, this diffusion in lawmaking responsibility begets more diffusion, as parties take advantage of the resulting opportunity for „forum shopping.“ Most of the pro-management initiatives over the years have come from the state legislatures, where local corporations have considerable lobbying strength and out-of-staters can credibly threaten to charter elsewhere. Examples include anti-takeover laws and provisions shielding directors from personal liability for negligence. Pro-investor initiatives, in contrast, tend to emanate from the SEC or the stock exchanges. The one body with the power to counter this diffusion and rationalize the system, Congress, has far too many claims to its agenda to involve itself in corporate governance on anything approaching a regular basis. This reluctance is reinforced both by concepts of federalism that see corporate law as principally a state matter and by the many powerful interest groups with stakes in the corporate governance debate, most of whom have far more to lose than gain if Congress decides to act. As a result, Congress tends to limit its involvement in matters of pure corporate law (as distinct from overall regulation of the financial markets) to the kinds of scandals and financial calamities that galvanize public opinion at the national level – stock market crashes, corrupt foreign payments, insider trading, Enron-WorldCom and the like. These are settings in which the overwhelming tendency is to point much of the blame at the powerful corporate insiders and in turn at the boards of directors who might have reined them in. They are not settings conducive to dispassionate and detailed inquiry into improving the board’s overall effectiveness. As noted earlier, political expediency is hardly the lone cause for the state of U.S. corporate governance, either before or after Enron-WorldCom. But the systemic character of the underlying forces suggests its influence has been, and will continue to be, a recurring one.

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Diffusion of lawmaking also contributes to the fifth and final obstacle to the outside director’s involvement – the threat of personal liability. Readers might question this addition to the list, on two accounts. Intuitively, shouldn’t the risk of personal liability for negligence spur directors to be more involved, not less? Second, doesn’t U.S. corporate law effectively shield the director from personal liability for ordinary and even gross negligence? This latter objection raises one of the most perplexing and frustrating aspects of the current U.S. scheme. Directors typically enjoy three independent layers of protection against liability based solely on the duty of care: immunity shields such as section 102(b)(7) of the Delaware statute, indemnification under the corporation’s bylaws, and D&O liability insurance. Add to this the fact that, as a practical matter, no claim can ordinarily proceed unless first recommended by an SLC consisting of other directors. Notwithstanding this seemingly impregnable web of protection, outside directors remain ever mindful of the threat of personal liability. I have participated in numerous corporate law drafting projects at the state and national levels. Over all those years, I cannot recall a single discussion over whether to assign some new task to the board that did not trigger a chorus of concern over the fresh source of potential liability that would result. This returns us to the first of the possible objections: Why should the risk of liability deter greater involvement? I have elsewhere described the concept of the director’s „duty“ in terms of a continuum that runs from „Aspiration“ through „Expectation“ to „Obligation,“ the endpoint at which personal liability occurs.12 By engaging themselves more deeply in corporate affairs or exercising greater oversight over matters traditionally within the province of management, most outside directors appreciate that they may help create the Expectation that this is what they should be doing. Taken alone, this seems an altogether healthy development – a valuable contribution to the broader discussion of what constitutes good governance practice. But directors will be wary that emerging Expectations may ultimately lead to new Obligations, through a „slippery slope“ process over which they have no practical control. As a result, directors may conclude that the prudent course is to confine their conduct to what is already expected of them and venture no further. Diffusion essentially denies corporate directors a single forum in which they can openly discuss additional „best practices“ with confidence that no new Obligations will result, or at a minimum, they will be assured where any new lines will be drawn. In light of the staggering dollar magnitude of potential liability, we can readily appreciate why that confidence is essential. Several phenomena interact to impede it. Given the factual intensity of the 12 „The Director’s Duty of Oversight,“ in Proceedings to Commemorate the 40th Anniversary of the Korean Commercial Code (Seoul Oct. 2002)

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duty of care, clarity can be delivered only by the courts, through cases that would typically reach final judgment years after the particular business and financial conditions that give rise to the issue have disappeared. Because virtually all of the cases are settled, the case law principally consists of motions to dismiss the claims at an early stage, when the plaintiff’s characterization of the facts must be taken on faith. The resulting decisions may therefore create an exaggerated sense of the true risk of ultimate liability. This is exacerbated by the corporate lawyers interpreting those decisions, who have a professional (and often financial) interest in advising their clients to err on the side of caution.13 Finally, efforts to supply the needed confidence indirectly through immunity statutes, indemnification and insurance have fallen short mainly because they necessarily rely on verbal formulations that often cannot anticipate the various factual nuances that the duties or care and loyalty will take on over time. The Caremark line of cases suggesting that under some circumstances the board’s prolonged failure to act may negate the element of „good faith“ as required by the Delaware immunity statute is a vivid current example of these phenomena at work.14

IV. Conclusion – What Instead? Thirty years ago the Monitoring Model emerged as a response to the perceived „reality gap“ between the then prevalent Management Model and what boards actually did. It has produced significant changes in the composition of corporate boards, and together with the enhanced activism of institutional investors, led to a much tighter linkage between financial return to the shareholders and the CEO ’s tenure. The extent to which it has also improved the board’s ability to monitor management’s performance on criteria other than reported earnings and stock price remains an open question. Recent events demonstrate that boards consisting of accomplished and sophisticated outsiders can still be taken in. Were we designing a corporate monitoring system from scratch, I very much doubt we would cast outside directors in the central role. But we are not, so the issue becomes whether, within the current system, this is the best use of their time. By choosing the Monitoring Model as the template for future reforms, 1970s corporate governance advocates implicitly rejected an alternative re13 See, e.g., Donald C. Langevoort, The Human Nature of Corporate Boards: Law, Norms, and the Unintended Consequences of Independence and Accountability, 89 Georgetown Law J. 797, 823–825 (2001). 14 In re Abbott Laboratories Derivative Shareholders Litigation, 325 F.3d 795, 808–811 (7th Cir. 2003); In re Walt Disney Co. Derivative Litigation, 825 A.2d 275, 288–290 (Del. Ch. 2003); In re Caremark Int’l Inc. Derivative Litigation, 698 A.2d 959, 971 (Del. Ch. 1996).

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form agenda designed to strengthen the outsider director’s voice on matters of corporate policy and strategy. It is unlikely they saw matters in those terms. But as we’ve seen, the record to date reveals that most examples of deeper engagement by outside directors have not come at their own initiative. Prioritizing one set of reforms, therefore means that other possible initiatives, even though complimentary, will probably not happen. In our case, however, they may not even be complimentary. This essay has examined many ways in which the Monitoring Model may actually undermine the independent director’s potential role in strategy and policy formulation. What kinds of corporate strategy or policy discussions stand to benefit the most from the independent directors’ greater involvement? The ideal candidates are those in which the underlying issues are both multi-faceted and universal, so that a diversity of outside viewpoints would be helpful and a national level dialogue about the appropriate level of the board versus management is feasible. Examples might include: (1) Large-scale acquisitions, particularly those financed with stock, where on average, shareholders of the acquiring firm lose out.15 Although senior managers have much to gain personally and professionally from expanding the corporate empire, they retain the protections of the BJR . Independent directors of the acquirer therefore do not have as great a voice as their counterparts on the board of the target. (2) The critical link between issues of earnings management and accounting „quality“ and the CEO ’s compensation and tenure incentives. Has the separate existence of the audit and compensation committees facilitated or hindered the full board’s discussions of this as an integrated issue? (3) Disclosure policy in a climate that increasingly calls for candid, future-oriented information, and the role of unduly cautionary disclaimers. Perhaps after an informed, national-level dialogue, the consensus would be that these are not, in fact, suitable candidates for greater involvement by independent directors. So be it. The problem is that this dialogue is unlikely ever to take place because, for the reasons we’ve identified above, independent directors will see little reason to initiate or encourage it. They will instead resist it as a potential source of both new demands likely to add to, not replace, those that already fill their time-strained agendas and increased liability exposure. This is a wasted opportunity, for today’s outside directors have stronger incentives to perform their jobs well than at any point in the past. Compensation levels are large enough for them to justify allocating 15 This seems now the predominant view in both academic literature and the popular press. See, e.g., Sara B. Moeller et al., Do Shareholders of Acquiring Firms Gain from Acquisitions?, NBER Working Paper No. w9523 (Mar. 2003); Gregor Andrade et al., New Evidence and Perspective on Mergers, 15 J. Economic Perspectives 103 (2001); David Henry, Mergers: Why Most Big Deals Don’t Pay Off, Business Week, Oct. 14, 2002, at 60.

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substantial time to their board obligations, but not so large to taint their objectivity. And one of the less noticed lessons of Enron-WorldCom is that the enhanced activism of union and other pension funds puts the outside directors’ hard-won personal reputations very much at risk if they are deemed to be lax on the job.

Gesellschafterregress im Personengesellschaftskonzern Tim Drygala*0 Inhaltsübersicht Seite

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Gesellschafterforderung in der Personengesellschaft . . . . . . 1. Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vertragliche Bindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Leistungsvermehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Problemfälle: Aufkauf von Forderungen durch Gesellschafter und Darlehensgewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Darlehensgewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Besonderheiten bei Darlehen in der Krisenlage? . . . . . b) Aufkauf von Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bedeutung der freiwilligen Zahlung . . . . . . . . . . . bb) Verstoß gegen die gemeinsame Finanzierungsentscheidung cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Handeln einer Konzerngesellschaft statt des Mitgesellschafters . . . 1. Geltung der Regressbeschränkung auch für Dritte . . . . . . . . 2. Geltung der Rücksichtspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Begrenzung des Anspruchs insgesamt . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Das Verhältnis der Gesellschaft zu ihren Mitgliedern hat Thomas Raiser stets beschäftigt, und zu dieser Frage gehört untrennbar das Problem, wann die juristische Selbständigkeit der Gesellschaften an ihre Grenzen stößt.1 Er hat dabei früh erkannt, dass eben dieses Problem der juristischen Selbständigkeit sich nicht in Haftungsfragen erschöpft, sondern in vielfältigen Kon*0 Ich danke meinem Mitarbeiter Herrn Estel für die Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts. Dem Beitrag liegt eine Anfrage aus der Praxis zugrunde. 1 Vgl. etwa Raiser FS Lutter, 2000, 637 ff.; ders. AcP 199 (1999), 104; ders. FS Zöllner, 1999, S. 469 sowie K. Schmidt Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., 2002, § 9, S. 217 ff.

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stellationen im Leben einer Gesellschaft eine Rolle spielt – von der Frage, ob ein Gesellschafter das die Gesellschaft treffende Wettbewerbsverbot beachten muss, bis hin zu der Überlegung, ob die Gesellschaft eine dem Gesellschafter „nahe stehende Person“ im Sinne des § 138 Abs. 2 Nr. 1–3 InsO ist. 2 Dabei war und ist Raiser stets darum bemüht, diese Fragen nicht als eine Ansammlung von Einzelfällen zu begreifen, sondern auf ein gemeinsames Prinzip zurückzuführen, für das er den einprägsamen Namen „Zurechnungsdurchgriff“ gefunden hat. Dies hat nicht nur zu der zutreffenden Begriffsbildung geführt, sondern auch zur Herausbildung von Regeln, in welchen Fällen und Fallgruppen die Selbständigkeit der Gesellschaft durchbrochen wird, und diese Fallgruppen dürften rein zahlenmäßig betrachtet praktisch relevanter sein als der viel diskutierte Haftungsdurchgriff. Das legt es nahe, als Gegenstand für diesen Beitrag ein Thema zu wählen, für das es auf den Zurechnungsdurchgriff entscheidend ankommt, und dabei zugleich zu versuchen, seinen Anwendungsbereich vorsichtig über das Gebiet der Kapitalgesellschaften hinaus zu erweitern.

II. Die Gesellschafterforderung in der Personengesellschaft 1. Ausgangspunkt Ausgangspunkt der Überlegungen dieses Beitrags ist der Umstand, dass in der Personengesellschaft die Forderung eines Gesellschafters gegen die Gesellschaft und gegen die Mitgesellschafter anderen rechtlichen Regeln unterliegt als die Forderung eines Dritten. Diese Unterscheidung hat ihren Ursprung in der Bindung des Gesellschafters an den Gesellschaftsvertrag, zum Teil im Verbot der Leistungsvermehrung nach § 707 BGB . a) Vertragliche Bindungen Aufgrund des Gesellschaftsvertrages und der darin stillschweigend mit enthaltenen Pflicht zur Förderung der Gesellschaft unterliegt der Gesellschafter der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht. 3 Das wirkt sich auch auf die Frage aus, ob und inwieweit er bei seinen Mitgesellschaftern Regress für Aufwendungen nehmen kann, die er im Gesellschaftsinteresse gemacht hat. Beschränkungen können sich insbesondere hinsichtlich der Zeit sowie der Art und Weise ergeben, in der die Forderung geltend gemacht wird. Besonders zu erwähnen ist insbesondere die Verpflichtung, vor einer persönlichen 2 Vgl. die Darstellung einschlägiger Sachverhaltskonstellationen bei Raiser Recht der Kapitalgesellschaften, 3. Aufl., 2001, § 29, Rn. 7–18. 3 Zum Rechtsgrund der Treuepflicht Lutter AcP 180 (1980), 84, 102 ff.

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Inanspruchnahme des Mitgesellschafters die Gesellschaftskasse in Anspruch zu nehmen. 4 Weiterhin ist er an gesellschaftsvertragliche Abreden mit seinen Mitgesellschaftern gebunden, die eine Inanspruchnahme möglicherweise ausschließen. Haben beispielsweise die Gesellschafter im Gesellschaftsvertrag vereinbart, dass die Finanzierung der Gesellschaft jenseits der einmal erbrachten Einlage ausschließlich über Fremdmittel erfolgen soll, so kann eine solche Abrede die persönliche Inanspruchnahme des Mitgesellschafters insgesamt ausschließen, so dass der Forderungsberechtigte allein auf die Inanspruchnahme der Gesellschaftskasse verwiesen ist. 5 Schließlich und endlich ist der Gesellschaftsvertrag auch eine anderweitige Bestimmung im Sinne des § 426 Abs. 1 Satz 1 BGB . 6 Sofern es bei der Regressforderung also um eine solche geht, aus der auch der Anspruchsberechtigte als Gesamtschuldner mitverpflichtet ist, so bestimmt der Gesellschaftsvertrag, welchen Teil der Forderung er sich als seinen Verlustanteil anrechnen lassen muss. 7 Dafür lässt sich auch anführen, dass anderenfalls der in Anspruch genommene Mitgesellschafter wieder Ausgleichung von dem Gesellschafter, der die Drittforderung geltend gemacht hat, verlangen könnte, da dieser, berücksichtigt er seinen eigenen Verlustanteil bei der Geltendmachung der Forderung nicht, etwas fordert, was er aufgrund seines Beteiligungsverhältnisses möglicherweise zurückgeben müsste. Mithin wäre die Geltendmachung des Anspruchs in voller Höhe dem Einwand der Arglist ausgesetzt. 8 b) Leistungsvermehrung Demgegenüber ist die Beschränkung des Regresses, die sich im Bereich des § 110 HGB durchgesetzt hat, 9 stärker auf den Gedanken zurückzuführen, dass ein Leistungsverlangen, das über die im Gesellschaftsvertrag vereinbarte Beitragspflicht hinausgeht, ohne Zustimmung des betroffenen Gesellschafters unzulässig ist (§ 707 BGB ). Diese Einschränkung lässt sich am 4 Dazu ist es nicht erforderlich, gerichtlich gegen die Gesellschaft vorzugehen oder sogar die Vollstreckung gegen die Gesellschaft zu versuchen. Der Regressberechtigte kann sich vielmehr bereits dann an den Mitgesellschafter halten, wenn der OHG freie Mittel nicht zur Verfügung stehen, BGH NJW 1980, 339, oder wenn sie auf eine entsprechende Aufforderung des Gesellschafters hin keine Leistung erbringt, BGH NJW- RR 2002, 455; vgl. auch K. Schmidt (Fn. 1) § 49 V (S. 1437); Habersack in Staub Großkommentar zum HGB , 4. Aufl., 1997, § 128 Rn. 26, jeweils mwN. 5 BGH NJW 1980, 339, 340. 6 K. Schmidt (Fn. 1) § 49 V 2 (S. 1437); Heymann/Emmerich HGB , 2. Aufl., 1996, § 110 Rn. 15; A. Hueck Das Recht der OHG , 4. Aufl., 1971, § 18 III 2. 7 BGH NJW 1983, 749; Staub/Habersack (Fn. 4) § 128 Rn. 25; vgl. K. Schmidt (Fn. 1) § 49 II (S. 1413) mwN. 8 Dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est, vgl. BGH NJW 1983, 749. 9 Allgemein zum Anwendungsbereich des § 110 HGB gegenüber Mitgesellschaftern Baumbach/Hopt HGB , 31. Aufl., 2003, § 128 Rn. 22; K. Schmidt (Fn. 1) § 47 II 4 d (S. 1380).

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besten an dem Fall demonstrieren, dass ein Gesellschafter Aufwendungen im Gesellschaftsinteresse macht, aufgrund derer ihm ein Ersatzanspruch gegen die Gesellschaft zusteht, § 110 HGB . Könnte er diesen Ersatzanspruch nicht nur gegen die Gesellschaft sondern auch gegenüber dem Mitgesellschafter geltend machen, so müsste dieser über seinen ursprünglich vereinbarten Beitrag hinaus zusätzliche Mittel aufwenden, was aber nach § 707 BGB nur mit dem Einverständnis des betroffenen Gesellschafters möglich ist. Aus diesem Grunde ist der anspruchsberechtigte Gesellschafter darauf zu verweisen, allein das Gesellschaftsvermögen in Anspruch zu nehmen.10 Reicht dies zur Befriedigung nicht aus, muss er die Liquidation betreiben und kann im Liquidationsverfahren seinen Ersatzanspruch als Rechnungsposten zu seinen Gunsten einbringen.11 Damit ist der Anspruch letztlich auch gegen den Mitgesellschafter durchsetzbar, kann aber aus dem Liquidationserlös befriedigt werden, ohne dass der Mitgesellschafter neue liquide Mittel aufbringen muss. Eben darin liegt der Sinn dieser Einschränkung des § 128 HGB . Ein weiterer Ausnahmefall betrifft die Erfüllung von Gläubigerforderungen durch einen Gesellschafter. Nimmt er wegen des finanziellen Aufwandes, der zur Befriedigung des Gesellschaftsgläubigers erforderlich war, seine Mitgesellschafter auf Ersatz in Anspruch, so sind ebenfalls hinsichtlich einer Anwendung des § 128 HGB Besonderheiten zu beachten. Nach inzwischen wohl einhelliger Meinung setzt sich hier die zwischen den Gesellschaftern bestehende Gesamtschuld gegenüber dem Rechtsgedanken des § 707 BGB durch, so dass der zahlende Gesellschafter Regress bei seinen Mitgesellschaftern zwar nicht nach § 110 oder § 128 HGB , wohl aber nach § 426 BGB nehmen kann.12 Der Bundesgerichtshof 13 begründet diese Ansicht insbesondere damit, dass es nicht gerechtfertigt sei, dem betreffenden Gesellschafter den Regress gegen seinen Mitgesellschafter zu versagen, wenn er von der Gesellschaft keine Befriedigung verlangen kann. Denn es hätte jeder Mitgesellschafter von dem Gesellschaftsgläubiger in Anspruch genommen werden können, §§ 128 HGB , 421 Satz 1 BGB . Es ist allein dem Zufall geschuldet, 10 BGHZ 37, 299 (301 f.); K. Schmidt (Fn. 1) § 47 II (S. 1379 f.); Grunewald Gesellschaftsrecht, 5. Aufl., 2002, Rn. 1 B 47; Staub/Habersack (Fn. 4) § 128 Rn. 12. 11 BGH NJW 1980, 340; BGHZ 37, 299 (302 f.); K. Schmidt (Fn. 1) § 47 III (S. 1380); A. Hueck (Fn. 6) § 18 III 2 (S. 267); Ulmer in Staub Großkommentar zum HGB , 4. Aufl., 1988, § 110 Rn. 31 mwN. 12 K. Schmidt (Fn. 1) § 49 V 2 (S. 1436 f.); Schlegelberger/K. Schmidt HGB , 5. Aufl., 1995, § 128 Rn. 34; Staub/Habersack (Fn. 4) § 128 Rn. 47 ff.; Staub/Ulmer (Fn. 11) § 110 Rn. 32; Hadding/Häuser WM 1988, 1585, 1588; Walter JuS 1982, 83 f., jeweils mwN. Der Absicht des historischen Gesetzgebers entspricht das freilich nicht, vgl. Denkschrift zum Entwurf eines Handelsgesetzbuchs, 1896, S. 94. Auch das RG lehnte die Inanspruchnahme unter Berufung auf § 707 BGB ab, so RGZ 31, 139, 141; RGZ 80, 268, 272; so auch aus jüngerer Zeit zuletzt Zunft NJW 1962, 2148. 13 BGHZ 37, 299, (302); BGH NJW 1980, 339, 340; BGH NJW- RR 2002, 455.

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welcher Gesellschafter letztlich in Anspruch genommen wurde. Dieser Zufall rechtfertige es nicht, dass der in Anspruch Genommene eine Erstattung von seinem Mitgesellschafter nicht verlangen kann. Vielmehr erfordere es gerade die Gerechtigkeit, dass jeder seiner Mitgesellschafter den Teil des verauslagten Betrages zu erstatten hat, der nach dem Gesellschaftsvertrag auf den einzelnen Gesellschafter entfällt. Dem stehe auch nicht der Grundsatz des § 707 BGB entgegen, da die persönliche Haftung des Gesellschafters für die Gesellschaftsverbindlichkeiten neben der gesellschaftsvertraglich festgelegten Beitragspflicht steht und die Erstattungspflicht im Verhältnis unter den Gesellschaftern die mittelbare Folge dieser persönlichen Haftung gegenüber den Gesellschaftsgläubigern darstellt.14 Auch in diesem letztgenannten Fall verbleibt es aber bei den oben genannten Einschränkungen, die sich aus dem Gesellschaftsvertrag und der gesellschaftsrechtlichen Treupflicht ergeben. Der Regressanspruch aus § 426 BGB ist daher ebenfalls subsidiär gegenüber einem Anspruch gegen die Gesellschaftskasse, und der auf den regressberechtigten Gesellschafter entfallende Verlustanteil ist vorab zu berücksichtigen. Diese Rechtslage gilt nicht nur in der OHG und der KG , sondern auch in der GbR. Schon vor der Anerkennung einer Gesellschafterhaftung nach dem Vorbild von § 128 HGB wurden die zum Gesellschafterregress in den Handelsgesellschaften entwickelten Grundsätze auch auf die GbR angewendet.15 Nachdem die neuere Rechtsprechung die GbR noch weiter den Handelsgesellschaften angenähert hat,16 liegt eine Anwendung dieser Grundsätze auch bei der GbR näher denn je. 2. Die Problemfälle: Aufkauf von Forderungen durch Gesellschafter und Darlehensgewährung Näher zu diskutieren ist der Umfang der Regressberechtigung in den Fällen, in denen ein Gesellschafter der Gesellschaft ein Darlehen gewährt und denjenigen, in denen er von sich aus Forderungen der Gesellschaftsgläubiger ablöst und danach anteiligen Regress gegen den oder die Mitgesellschafter verlangt. Hierbei stellt sich die Frage, ob es sich um so genannte DrittforSo auch A. Hueck (Fn. 6) S. 166 f. So etwa BGH NJW 1980, 339 f.; Ulmer in Münchener Kommentar zum BGB , Band 5, 4. Aufl., 2004, § 713 Rn. 14; Soergel/Hadding BGB , Band 4, 11. Aufl., 1985, § 713 Rn. 10; von Gamm in RGRK , BGB , Band II , 4. Teil, 12. Aufl., 1978, § 705 Rn. 24; Erman/Westermann, BGB , Band I, 11. Aufl., 2004, § 713 Rn. 5; Palandt/Sprau BGB , 62. Aufl., 2003, § 714 Rn. 21. 16 BGHZ 142, 315; BGH NJW 2001, 1056, 1061; Grunewald (Fn. 10) Rn. 1 A 106; K. Schmidt (Fn. 1) § 60 III 2 (S. 1790); Hüffer Gesellschaftsrecht, 5. Aufl., 1998, S. 102; Ulmer ZIP 1999, 554, 559 f.; Mülbert AcP 199 (1999), 38, 67; kritisch zu dieser Tendenz Canaris ZGR 2004, 69 ff. 14 15

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derungen handelt, mit der Folge, dass nur die allgemeinen, oben genannten Beschränkungen eingreifen, oder ob so genannte Gesellschafterforderungen gegeben sind, bei denen, wie oben zu § 110 HGB gezeigt, eine Inanspruchnahme der Mitgesellschafter ausgeschlossen und die Geltendmachung der Forderung erst als Rechenposten in der Liquidation möglich ist. Die Unterscheidung zwischen Gesellschafterforderung und Drittforderung ist dabei anhand des Verhältnisses des Anspruchsinhabers zur Gesellschaft zu treffen. Handelt es sich bei ihm um einen gesellschaftsfremden Dritten, so liegt ohne weiteres eine Drittforderung vor.17 Ebenso ist aber eine Drittforderung gegeben, wenn die Forderung zwar einem Gesellschafter zusteht, aber ihre Ursache nicht im Gesellschaftsverhältnis hat, sondern auf Vertrag beruht, bei dem der Gesellschafter der Gesellschaft wie ein Dritter gegenübersteht.18 Diese Forderungen, die nur zufällig in der Hand eines Gesellschafters entstehen, ansonsten aber auch mit jedem Dritten möglich wären, sind Gesellschaftsverbindlichkeiten i.S.v. § 128 HGB , so dass die Mitgesellschafter dafür auch persönlich haften.19 Ein Beispiel dafür derartige Forderungen ist die Lieferung von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen durch Gesellschafter: Selbst wenn es sich dabei um Beiträge handelt, deren Erbringung im Gesellschaftsvertrag festgesetzt ist, 20 kann die Gesellschaft diese Leistungen ebenso gut auch von Dritten beziehen, deshalb folgen die daraus entstehenden Forderungen hinsichtlich der Inanspruchnahme der Mitgesellschafter den allgemeinen Regeln. 21 Gesellschafterforderungen, sog. Sozialverbindlichkeiten, sind demgegenüber Forderungen des Gesellschafters gegen die Gesellschaft, die auf dem Gesellschaftsverhältnis beruhen. 22 Sie stellen keine Gesellschaftsverbindlichkeiten im Sinne des § 128 HGB dar, so dass der Mitgesellschafter nicht nach § 426 BGB in Anspruch genommen werden kann. Grund dafür ist die bereits oben beschriebene, mögliche Kollision mit dem Verbot der Leistungsvermehrung aus § 707 BGB . 23 Auch hier kommt es auf die rechtliche Grundlage an, aufgrund derer der Vertrag geschlossen wird. So kann auch eine Vereinbarung außerhalb des Gesellschaftsvertrages einen Sozialanspruch begründen, wenn die darin enthaltene Zusage dem begünstigten 17 So BGHZ 37, 299 (301 f.); Baumbach/Hopt (Fn. 9) § 128 Rn. 22; Glanegger HGB , 6. Aufl., 2002, § 128 Rn. 20; Staub/Habersack (Fn. 4) § 128 Rn. 12; Schlegelberger/ K. Schmidt (Fn. 12) § 128 Rn. 12; inzwischen wohl allgemeine Meinung. 18 RGZ 153, 305 (310 f.); BGH WM 1960, 187; Schlegelberger/K. Schmidt (Fn. 12) § 128 Rn. 12; Baumbach/Hopt (Fn. 9) § 128 Rn. 2. 19 RGZ 153, 305, 307, 310 f.; BGH WM 1960, 187; BGH NJW 1983, 749. 20 Dazu Hillmann in Ebenroth/Boujong/Joost HGB , Band 1, 2001, § 128 Rn. 10. 21 Vgl. K. Schmidt (Fn. 1) § 49 I 2 b (S. 1412); Heymann/Emmerich (Fn. 6) § 128 Rn. 15; Glanegger (Fn. 17) § 128 Rn. 21; Staub/Habersack (Fn. 4) § 128 Rn. 13. 22 Vgl. Staub/Habersack (Fn. 4) § 128 Rn. 12; K. Schmidt (Fn. 1) § 19 III 2 (S. 556). 23 Baumbach/Hopt (Fn. 9) § 128 Rn. 22; K. Schmidt (Fn. 1) § 47 II 4 d (S. 1380); Hillmann in Ebenroth/Boujong/Joost (Fn. 20) § 128 Rn. 11.

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Gesellschafter gerade wegen seiner Verdienste um die Gesellschaft gemacht wurde. 24 a) Darlehensgewährung aa) Ausgangslage Bei der Einordnung des Gesellschafterdarlehens in diese Kriterien scheint zunächst alles für die Beurteilung als Drittforderung zu sprechen. Insbesondere hat der Anspruch aus einem Darlehensvertrag seine Grundlage nicht im Gesellschaftsverhältnis, und er ist ohne weiteres auch mit gesellschaftsfremden Dritten möglich. Dementsprechend wird der Darlehensvertrag heute einheitlich als Drittforderung behandelt, 25 und zwar selbst dann, wenn die Pflicht zur Darlehensgewährung im Gesellschaftsvertrag festgelegt ist, 26 weil die Darlehensgewährung dann nur als Beitrag, nicht aber als Einlage, erfolge. 27 Dennoch ist das Reichsgericht ursprünglich zu einer abweichenden Beurteilung gekommen, die es damit begründet hat, dass jedenfalls im konkreten Fall das Darlehen dazu gedient habe, der Gesellschaft als Betriebskapital zu dienen und deshalb die Forderung während des Bestehens der Gesellschaft allein aus dem Gesellschaftsvermögen zu befriedigen sei. 28 Wo eine andere Gestaltung gewollt sei, so müsse dem darlehensgebenden Gesellschafter aufgrund besonderer Vereinbarung die Stellung eines Dritten eingeräumt werden. 29 Die gegenteilige Position vertritt freilich das Reichsgericht in einer späteren Entscheidung, und zwar interessanterweise wieder in einer Konstellation, in der die Gesellschaft auf die fraglichen Darlehen zur Fortsetzung des Geschäftsbetriebs dringend angewiesen war. 30 Hier betont das Reichsgericht durchaus zutreffend, dass der reine wirtschaftliche Zusammenhang zwischen der Darlehensgewährung und der Gesellschafterstellung nicht ausreichen könne, um den Charakter als Drittforderung zu verneinen. Es komme vielmehr auf die rechtliche Betrachtung an, also auf die Frage, ob die Anspruchsgrundlage, auf die der Gesellschafter sich stützt,

BGH WM 1989, 1021, 1022; Hillmann in Ebenroth/Boujong/Joost (Fn. 20) § 128 Rn. 11. In diesem Sinne bereits RGZ 153, 305, 310 f.; K. Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB , Band 2, 2004, § 128 Rn. 12; Hillmann in Ebenroth/Boujong/Joost (Fn. 20) § 128 Rn. 10; Glanegger (Fn. 17) § 128 Rn. 21; Heymann/Emmerich (Fn. 6) § 128 Rn. 14 und 17. 26 Hillmann in Ebenroth/Boujong/Joost (Fn. 20) § 128 Rn. 15; Schlegelberger/K. Schmidt (Fn. 12) § 128 Rn. 12; Staub/Habersack (Fn. 4) § 128 Rn. 13; Heymann/Emmerich (Fn. 6) § 128 Rn. 17. 27 MünchKomm- HGB /K. Schmidt (Fn. 25) § 128 Rn. 12; Schlegelberger/K. Schmidt (Fn. 12) § 128 Rn. 12. 28 RGZ 77, 102 (105); a.A. später RGZ 153, 305 (310 ff.). 29 RGZ 77, 105 a.E. 30 RGZ 153, 305 ff., 308. 24 25

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ihre Basis im Gesellschaftsverhältnis hat oder nicht. 31 Dies ist bis heute die einhellig vertretene Auffassung zur Abgrenzung von Sozialansprüchen und Drittgläubigerforderungen und führt zu der oben bereits geschilderten Beurteilung, wonach ein Darlehen selbst dann eine Drittgläubigerforderung begründe, wenn seine Gewährung im Gesellschaftsvertrag vorgesehen sei. Denn dies ändere nichts an der Tatsache, dass das Darlehen keine Einlage sei und der Rückzahlungsanspruch daher im Schuldrecht und nicht im Gesellschaftsrecht wurzele. 32 bb) Besonderheiten bei Darlehen in der Krisenlage? An dieser Stelle berührt sich freilich diese Diskussion mit einer anderen, die hinsichtlich der Darlehensleistungen von Gesellschaftern in Personengesellschaften geführt wird, nämlich der Frage, ob sich hinter einem Gesellschafterdarlehen materiell eine Einlageleistung verbergen kann, oder ob ein Gesellschafterdarlehen kraft Gesetzes in der Krise der Gesellschaft in Eigenkapital umqualifiziert werden kann. 33 Zu diesem Thema kann und soll hier nicht grundlegend Stellung genommen werden, hinzuweisen ist aber darauf, dass das Thema durchaus auch Relevanz für die Haftung der Gesellschafter untereinander hat. Zwar wäre dort, wo schon der Rückzahlungsanspruch gegen die Gesellschaft analog §§ 30, 31 GmbH gesperrt ist (etwa weil es sich um eine Gesellschaft ohne natürliche Person als Gesellschafter handelt, § 172 a HGB ), bei einer Krisenfinanzierung aufgrund der Akzessorietät der Gesellschafterhaftung auch die Geltendmachung gegen die Mitgesellschafter ausgeschlossen. Von daher käme es auf eine weitere Beschränkung der Gesellschafterforderung nicht entscheidend an. In den übrigen Fällen der Personengesellschaft fehlt hingegen eine §§ 30, 31 GmbHG entsprechende Vermögensbindung. Die Gesellschaft kann daher Mittel in beliebiger Höhe auszahlen und insbesondere auch Sanierungs- und Krisenkredite zurückzahlen. Rechtsfolge einer solchen Darlehensrückzahlung kann – wenn überhaupt – nur eine insolvenzrechtliche Folge analog §§ 135 InsO, 138 Abs. 2 Nr. 2 InsO, 32b GmbHG , 3 Abs. II AnfG sein. 34 Dann aber scheitert die Inanspruchnahme der Mitgesellschafter außerhalb der Insolvenz nicht bereits an der Akzessorietät der Gesellschafterhaftung, und es muss darüber nachgedacht werden, wie sich der besondere Charakter des Darlehens auf die Gesellschafterhaftung auswirkt. 31

RGZ 153, 310 f.

Vgl. insbes. MünchKomm- HGB /K. Schmidt (Fn. 25) § 128 Rn. 12. Dafür insbes. K. Schmidt GmbHR 1986, 337, 342; ders. ZIP 1991, 1 ff.; ders. (Fn. 1) § 18 III 4 (S. 530 ff.). Zust. Koller FS Heinsius, 1991, S. 371 ff.; ähnlich Joost ZGR 1987, 370 ff. in Bezug auf Kommanditistendarlehen; abl. Groß BB 1991, 2386 ff.; Habersack ZHR 162 (1998), 214; Kleindiek FS Lutter, 2000, S. 894 ff. 34 K. Schmidt ZIP 1991, 1, 4. 32 33

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Dabei muss man zunächst danach fragen, woraus sich die besondere Qualifikation der Leistung ergibt. Die Qualifikation als Eigenkapital kann sich insbesondere aus dem Darlehensvertrag selbst ergeben, insbesondere wenn das Darlehen mit Rangrücktritt gewährt wird, und auch in den Fällen der gesplitteten Einlage kommt eine Qualifikation als Eigenmittel in Betracht. 35 In diesem Fällen ist das Darlehen aber gerade nicht nur Beitrag, der aufgrund Darlehensvertrag gewährt wird, so wie das Reichsgericht das in seiner späteren Entscheidung 36 angenommen hat. Es liegt vielmehr nach dem Parteiwillen eine Einlageleistung vor, und der Anspruch auf Rückgewähr der Einlage ist gesellschaftsrechtlicher Natur. Daher ist ganz unabhängig von der Frage, wie man zu einem Ausschluss der Haftung der Gesellschaft wegen Eigenkapitalersatzes steht, jedenfalls die Inanspruchnahme der Mitgesellschafter aus solchen Forderungen ausgeschlossen. Fehlt es hingegen an einer entsprechenden Parteivereinbarung, kann sich die Einstufung als Eigenkapital nur aus einer gesetzlichen Umqualifikation ergeben, die vom Parteiwillen unabhängig ist. Hält man das auch in der gesetzestypischen Personengesellschaft für richtig, 37 so stellt sich die Frage, warum der darlehensgebende Gesellschafter außerhalb der Insolvenz seine Mitgesellschafter aus der Forderung soll in Anspruch nehmen können, denn dadurch tritt gerade jene Verteilungskonkurrenz mit den Gläubigern ein, die die Regeln über eigenkapitalersetzende Leistungen unterbinden wollen. Das von den Mitgesellschaftern erlangte Geld fehlt in der Haftungsmasse, die in der gesetzestypischen Personengesellschaft aus der Gesamtheit von Gesellschaftsvermögen und Gesellschaftervermögen gebildet wird. Es muss auf dem mühsamen Weg der Insolvenzanfechtung zurückgeholt werden, wobei die Frage offen ist, ob der Rückforderungsanspruch beim Empfänger durchsetzbar ist. Wenn aber die Betrachtung gerade bei dem Gedanken ansetzt, dass eigenkapitalersetzende Darlehen trotz ihrer schuldrechtlichen Einkleidung materielles Eigenkapital sind, so spricht alles dafür, diese Erkenntnis nicht nur nach außen im Verhältnis zu den Gläubigern, sondern auch nach innen im Verhältnis zu den Mitgesellschaftern zur Geltung zu bringen. 38 Aber auch wer den Gedanken der Umqualifizierung im Gläubigerinteresse für die gesetzestypische Personengesellschaft ablehnt, sollte noch einmal darüber nachdenken, ob nicht für Krisen- und Sanierungsdarlehen hin35 BGH NJW 1981, 2251; BGH NJW 1985, 1079; näher dazu K. Schmidt (Fn. 1) § 18 III 3 (S. 528 ff.); Habersack ZHR 162 (1998), 201, 214. 36 RGZ 153, 305, 311. 37 Dafür K. Schmidt ZIP 1991, 1, 2 ff. 38 Das Kommanditistendarlehen bzw. die vom Kommanditisten bestellte Sicherheit aus der Entscheidung BGH NJW- RR 2002, 455, 456 wäre daher gegen die Mitgesellschafter außerhalb der Liquidation nicht durchsetzbar gewesen, wenn es, wofür der Sachverhalt immerhin einige Anhaltspunkte enthält, als eigenkapitalersetzend zu qualifizieren gewesen wäre.

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sichtlich der Inanspruchnahme der Mitgesellschafter eine Besonderheit zu gelten hat. Denn diejenigen, die diesem Gedanken ablehnend gegenüberstehen, begründen das (abgesehen von methodischen Bedenken angesichts eines als abschließend verstandenen § 172a HGB) zumeist damit, dass für eine Erstreckung der Regelung über die eigenkapitalersetzenden Darlehen auf die Personengesellschaft kein Bedarf bestehe, weil in der gesetzestypischen Personengesellschaft die persönliche Haftung einer natürlichen Person für einen angemessenen Gläubigerschutz ausreiche. 39 Diese ganz auf den Gläubigerschutz bezogene Überlegung ändert aber nichts an dem Umstand, dass im Verhältnis der Gesellschafter zueinander der Kredit wie Eigenkapital behandelt werden kann, wenn er die Funktionen von Eigenkapital erfüllt, was bei einem in der Krise gewährten Darlehen ja gerade anzunehmen ist. Auch der Gesichtspunkt des § 707 BGB spricht für diese Überlegung. Denn erklärt sich ein Gesellschafter bereit, der Gesellschaft in einer Situation, in der sie anderweitig keinen Kredit mehr erlangen kann, Kredit zu geben, so kann sich der Mitgesellschafter wohl darauf verlassen, dass der Darlehensgeber bereit sei, mit der Geltendmachung der Forderung zu warten, bis sich die Lage der Gesellschaft gebessert hat. Dann wäre es aber zweckwidrig, wenn man dem Darlehensgeber die Möglichkeit einräumen wollte, während der fortdauernden Krise der Gesellschaft den Mitgesellschafter nach § 128 HGB auf Rückzahlung in Anspruch zu nehmen. Hierin läge eine planwidrige Leistungsvermehrung, vor der § 707 BGB den Gesellschafter gerade schützen will. Daher erweist sich die Entscheidung RGZ 77, 102 auch heute noch als richtig und die Entscheidung RGZ 153, 305 als falsch, wenn man in beiden Fällen das Vorliegen von Sanierungsdarlehen unterstellt: In einem solchen Fall haftet während der Krise allein die Gesellschaft; hingegen ist wegen des Eigenkapitalcharakters der Forderung die Inanspruchnahme des Mitgesellschafters nach § 707 BGB solange ausgeschlossen, wie die besondere Qualifikation des Darlehens andauert. b) Aufkauf von Forderungen Fraglich ist vor dem Hintergrund der oben geschilderten Rechtslage auch, wie der Aufkauf der Forderungen von Gläubigern durch einen Gesellschaftern zu werten ist. In dieser Konstellation ist die Forderung zunächst unzweifelhaft als Drittforderung entstanden. Sie könnte aber ihren Charakter dadurch geändert haben, dass sie in Vollzug des Kaufvertrages auf den Gesellschafter der Personengesellschaft übergegangen ist. Das RG hat freilich einen solchen Wechsel der Rechtsnatur abgelehnt und allein darauf abgestellt, dass die Forderung als Drittgläubigerforderung entstanden 39 BGHZ 112, 31, 38 f.; Groß BB 1991, 2386, 2391; Habersack ZHR 162 (1998), 201, 214; Rümker ZGR 1988, 494, 512; Fleck EWiR § 171 HGB 1/88, S. 1224.

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sei und ihre Grundlage nicht im Gesellschaftsverhältnis, sondern in einem davon unabhängigen Vertrag habe, 40 und diese Aussage findet auch Zustimmung in der heutigen Kommentarliteratur. 41 Zutreffend ist sie trotzdem nicht. aa) Bedeutung der freiwilligen Zahlung Auf den ersten Blick erscheinen die beiden Handlungsweisen freilich austauschbar, vor allem, wenn man auf das wirtschaftliche Ergebnis abstellt: In beiden Fällen wird der Gläubiger befriedigt und der zahlende Gesellschafter erlangt die Forderung des Gläubigers gegen die Gesellschaft, sei es, weil sie infolge der Zahlung kraft Gesetzes auf ihn übergeht, 42 sei es, weil er sie sich im Vollzug des Forderungskaufs abtreten lässt. Das spricht dafür, die beiden Fälle einheitlich zu behandeln. Hält man das im Ausgangspunkt für richtig, so kann man weitere Formen der freiwilligen Zahlung in diese Lösung mit einbeziehen, die ursprünglich für den in Anspruch genommenen Gesellschafter entwickelt wurde; bis hin zu der Annahme, auch der an einen Gläubiger freiwillig zahlende atypisch-stille Gesellschafter schwinge sich damit faktisch zu einem persönlich haftenden Gesellschafter auf und unterfalle folglich den für diesen entwickelten Regeln. 43 Hierbei wird jedoch das Verbot der Leistungsvermehrung nach § 707 BGB zu weit in den Hintergrund geschoben. Denn die Regel, dass wegen Aufwendungen in Gesellschaftsangelegenheiten während der Dauer der Gesellschaft ein Regress nur gegen die Gesellschaft zulässig ist, beruht gerade auf dieser für den Schutz der Mitgesellschafter besonders wichtigen Vorschrift.44 Die Ausnahme von diesem Grundsatz, die für den Fall der Inanspruchnahme des Gesellschafters zugelassen wird, stützt sich aber ganz maßgeblich auf das Zufallsargument, dass nämlich anstatt des zahlenden Gesellschafters auch ein anderer hätte von Gläubiger in Anspruch genommen werden können. Eben diese Lage ist nicht gegeben, wenn der Gesellschafter freiwillig leistet, möglicherweise sogar von sich aus an den Gläubiger wegen eines Ankaufs der Forderung herantritt. Der leistende Gesellschafter kommt damit gerade dem Zufall zuvor und setzt sich dem Risiko aus, keinen Ersatz für seine Aufwendungen von der RG in Bolze, Die Praxis des Reichsgerichts in Zivilsachen, Bd. 9, Nr. 469. Dem RG zust. Heymann/Emmerich (Fn. 6) § 128 Rn. 17; Staub/Habersack (Fn. 4) § 128 Rn. 13. 42 Ein derartiger Forderungsübergang ist nach zutr. Auffassung Rechtsfolge der Befriedigung des Gesellschafters, näher K. Schmidt (Fn. 1) § 49 V 1 (S. 1435 f.), ders., JuS 2003, 228, 230 f.; Grunewald (Fn. 10) Rn. 1 B 48; Koller/Roth HGB , 3. Aufl., 2002, §§ 128, 129 Rn. 8; a.A. etwa Hillmann in Ebenroth/Boujong/Joost (Fn. 20) § 128 Rn. 28; Röhricht/v.Westphalen/Gerkan HGB , 2. Aufl., 2001, § 128 Rn. 7. 43 So jetzt BGH NJW- RR 2002, 455, 456 in Abgrenzung zu BGHZ 37, 299, 302; mit Recht kritisch zu dieser Konstruktion K. Schmidt JuS 2003, 228 ff. 44 Vgl. dazu oben Fn. 23. 40 41

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möglicherweise zahlungsschwachen Gesellschaft zu erhalten. Mithin ist für den Fall des Aufkaufs der Forderung durch einen Gesellschafter gerade kein Raum für die Durchbrechung des oben geschilderten Grundsatzes, dass ein Regress nur gegen die Gesellschaft zulässig ist. Dem Gesellschafter ist es damit versagt, Rückgriff gegen seinen Mitgesellschafter zu nehmen. bb) Verstoß gegen die gemeinsame Finanzierungsentscheidung Je nach den Verhältnissen der betroffenen Gesellschaft ist es auch leicht denkbar, dass die formale Beurteilung, die der Ansicht des RG und der Literatur zugrunde liegt, gegen die Finanzierungsplanung der Gesellschafter verstößt. Jede Gesellschaft verfügt (ausdrücklich oder konkludent) über einen Plan der Gesellschafter zur Finanzierung des Geschäftsbetriebs. Sieht dieser Plan vor, dass ein gewisses Verhältnis von Eigen- zu Fremdmitteln gewährt werden soll, so ergeben sich erhebliche Verwerfungen, wenn man den Regress des einen Gesellschafters gegen den anderen aufgrund eines Aufkaufs von Forderungen zulässt. Zwar wirkt ein Finanzplan in der Regel nur einseitig verbindlich: Er bestimmt zwar das erforderliche Eigenkapital, aber untersagt es dem einzelnen Gesellschafter nicht, zusätzliche Eigenmittel aufzubringen. In diesem Fall muss jedoch die Entscheidung des einen Gesellschafters zugunsten einer zusätzlichen Eigenfinanzierung für den anderen Gesellschafter unverbindlich bleiben. Das gilt vor allem dann, wenn nach dem Gesellschaftsvertrag für eine Änderung der Finanzplanung Einstimmigkeit vorgeschrieben ist. Dann würde diese Regelung unterlaufen, wenn man die einseitige Finanzierungsmaßnahme eines der Gesellschafter mit der Befugnis zum Gesellschafterregress kombiniert. Denn dann könnte der betreffende Gesellschafter durch die Übernahme der Finanzierung durch Aufkauf von Forderungen Fakten schaffen, und entgegen der gesellschaftsvertraglich vorgesehenen Verfahrensweise vom Mitgesellschafter verlangen, sich anteilig an der einseitig getroffenen Maßnahme zu beteiligen. Das kann in einer Gesellschaft, die eine bestimmte Art und Weise der Finanzierung einvernehmlich vorgesehen hat, nicht zulässig sein. 45 cc) Zwischenergebnis Auch dieses Argument spricht also dafür, den Gesichtspunkt der Freiwilligkeit der Zahlung stärker zu berücksichtigen. Die besseren Gründe spre45 Wer einen generellen Ausschluss des Regresses ablehnt, muss daher zumindest in der gemeinsamen Finanzplanung der Gesellschafter eine individuelle haftungsbeschränkende Abrede im Sinne der Entscheidung BGH NJW 1980, 339, 340 sehen, die einen Regress nach Aufkauf von Forderungen ausschließt. Ansonsten würde die Finanzierungsabrede (einschließlich einer diesbezüglich vereinbarten Einstimmigkeitsklausel) ihre Funktion, finanzielle Planungssicherheit für die beteiligten Gesellschafter zu gewährleisten, evident verfehlen.

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chen also dafür, den Aufkauf von Drittforderungen als ein gesellschaftsbezogenes Geschäft zu werten und der Regressbeschränkung gegenüber dem Mitgesellschafter zu unterstellen. Dies bedeutet im Ergebnis auch nicht, dass der zahlende Gesellschafter die im Gesellschaftsinteresse übernommenen Lasten ad infinitum allein zu tragen hat. Denn Regressbeschränkung betrifft nur die Ansprüche gegen die Gesellschafter, nicht diejenigen gegen die Gesellschaft, 46 zum anderen besteht die Regressbeschränkung nur während des Bestehens der Gesellschaft. 47 Es bleibt dem in Vorleistung getretenen Gesellschafter daher unbenommen, auf die Liquidation der Gesellschaft hinzuwirken. In der Liquidation ist sein Ausgleichsanspruch gegen die Gesellschaft ein Rechnungsposten in der Schlussbilanz, so dass sich der Anteil des Vorleistenden am Liquidationserlös entsprechend erhöht. 48 Gleiches hätte im Falle eines Ausscheidens für die Abfindung nach § 738 BGB zu gelten. Der Vorteil dieser Lösung besteht jedoch darin, dass dann der Anspruch des Vorleistenden aus dem Liquidationserlös befriedigt werden kann, während ansonsten der Mitgesellschafter entgegen § 707 BGB zu einer planwidrigen Aufwendung eigener Mittel veranlasst würde.

III. Handeln einer Konzerngesellschaft statt des Mitgesellschafters Im Konzern ist alles anders, das wissen wir seit den Untersuchungen von Herbert Wiedemann. 49 Untersucht werden muss also, ob sich an dem hier gefundenen Ergebnis dann etwas ändert, wenn nicht der Mitgesellschafter selbst im Hinblick auf die betreffende Forderung gehandelt hat, sondern eine ihn beherrschende Konzerngesellschaft. Hat also diese die Aufwendungen zugunsten der Personengesellschaft getätigt, ein Darlehen gewährt oder die Forderung eines Drittgläubigers abgelöst, so fragt es sich also, ob sich die genannten Beschränkungen in den Konzern hinein verlängern. Wäre dies der Fall, so wäre die Forderung der Konzerngesellschaft ebenfalls subsidiär und nur nach Maßgabe der Verlustbeteiligung zu erfüllen, und in den Fällen der Aufwendungen nach § 110 HGB , der Darlehensgewährung und des Aufkaufs von Forderungen könnte sie Regress überhaupt nur bei der Gesellschaft, nicht aber bei den anderen beteiligten Gesellschaftern nehmen. Hierfür kommt es sämtlich darauf an, ob ein Zurechnungsdurchgriff zwischen der beteiligten Gesellschaft und der Obergesellschaft möglich ist. 46 Vgl. BGHZ 37, 299, 301 f.; Staub/Habersack (Fn. 4) § 110 Rn. 29; MünchKomm- BGB / Ulmer (Fn. 15) § 713 Rn. 14 f. 47 BGHZ 37, 229, 303; BGH NJW 1980, 340; MünchKomm- BGB /Ulmer (Fn. 15) § 714 Rn. 47; Hadding/Häuser WM 1988, 1585, 1591 ff. mwN. 48 BGHZ 37, 299, 304 f.; näher zur Abwicklung Hadding/Häuser WM 1988, 1591 ff. mwN. 49 Wiedemann Die Unternehmensgruppe im Privatrecht, 1988, S. 18 ff.

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1. Geltung der Regressbeschränkung auch für Dritte Die hier relevante Frage, ob sich die Restriktionen des Gesellschafterregresses auch auf Dritte erstrecken, die mit dem betroffenen Gesellschafter in einer Konzernbeziehung stehen, wird in der Literatur – soweit ersichtlich – nicht diskutiert, Rechtsprechung dazu besteht nicht. Diskutiert wird die Frage, ob auch ein Nicht- Gesellschafter an die Beschränkungen des Regresses nach § 128 HGB gebunden ist, jedoch für den Fall des ausgeschiedenen Gesellschafters. Hier bejaht die Rechtsprechung, dass auch ein ausgeschiedener Gesellschafter sich darauf berufen kann, dass der Regressberechtigte primär die Gesellschaftskasse in Anspruch nehmen muss, da sich seine Rechtsstellung durch das Ausscheiden nicht verschlechtern kann. 50 Für den umgekehrten Fall, dass der Regressberechtigte inzwischen aus der Gesellschaft ausgeschieden ist, hat der BGH betont, dass sich die Regressbeschränkung zwar primär an den Mitgesellschafter richte, aber dass der Ausgeschiedene zumindest an besondere Vereinbarungen der Parteien gebunden bleibe, die die nähere Ausgestaltung des Regresses regeln oder auch ganz ausschließen. 51 Auch für den Fall nahe stehender Angehöriger eines Gesellschafters wurde für den Fall eines Rückgriffs nach Inanspruchnahme aus einer Bürgschaft eine Regressbeschränkung vereinzelt bejaht. 52 Damit erscheint es aber nicht gänzlich ausgeschlossen, dass sich die Beschränkung der Inanspruchnahme nach § 128 HGB im Einzelfall auch gegen Personen richten kann, die nicht oder nicht mehr Gesellschafter sind, wenn Sinn und Zweck dieser Beschränkung eine solche Erstreckung auf Dritte gebieten. Das deckt sich mit dem Ansatz von Thomas Raiser zur Begründung des Zurechnungsdurchgriffs. 2. Geltung der Rücksichtspflicht Der Zweck der Regressbeschränkung im Rahmen des § 128 HGB liegt zum einen in der Rücksichtnahme auf den Mitgesellschafter. Dieser soll nur dann in Anspruch genommen werden können, wenn es wegen Erschöpfung des Gesellschaftsvermögens unumgänglich ist und nicht, wie es bei einer Anwendung von § 128 HGB möglich wäre, nach Belieben des Gläubigers. Ferner geht es darum, einen Regress, wenn überhaupt, nur nach Maßgabe der näheren Bestimmungen des Gesellschaftsvertrages zuzulassen, d. h. dort niedergelegte Bestimmungen über die Höhe der Verlustbeteiligung und ihren eventuellen Ausschluss gegenüber dem Mitgesellschafter zu beach-

BGH NJW 1981, 1095, 1096. BGH NJW 1980, S. 339 (340); ähnlich auch BGHZ 37, S. 299 (303); näher dazu Hadding/Häuser WM 1988, 1585 (1588 ff.). 52 BGH NJW- RR 1993, 1377; MünchKomm- HGB /K. Schmidt (Fn. 25) § 128 Rn. 102. 50 51

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ten. 53 Auch dies ist letztlich ein Gebot der Vertragstreue und der Rücksichtnahme unter den Gesellschaftern. Diese Rücksichtnahmepflicht kann man aber ohne weiteres auch der Muttergesellschaft auferlegen, wenn sie Maßnahmen trifft, die die Rechtsbeziehungen ihrer Tochtergesellschaft zu deren Mitgesellschaftern berühren. Das ist seit der Heumann/Ogilvy-Entscheidung insbesondere für den Fall anerkannt, dass die Muttergesellschaft über ihre zwischengeschaltete Tochter Gesellschafterrechte in einer Personengesellschaft wahrnimmt. In diesem Fall kommt es nicht auf die formale Gesellschafterstellung an, die Treuepflicht erstreckt sich vielmehr auf denjenigen, der, wenn auch mittelbar, in der Gesellschafterversammlung den entscheidenden Einfluss hat. 54 Damit wirkt die Treupflicht insgesamt konzerndimensional. Auch der in der Girmes-Entscheidung angelegte Gedanke einer Treupflicht auch des Nichtgesellschafters lässt sich für diese Überlegung fruchtbar machen. Denn dort hat die Rechtsprechung eine entsprechende Rücksichtnahmepflicht auch für Personen bejaht, die, ohne selbst Gesellschafter zu sein, für andere in der Gesellschafterversammlung abstimmen und damit gesellschaftsrechtlich vermittelten Einfluss wahrnehmen. 55 Entscheidend ist damit letztlich die Möglichkeit, auf die Belange der Gesellschaft Einfluss zu nehmen, nämlich die so genannte wirkungsbezogene Treuepflicht. 56 Eine solche Einflussmöglichkeit hat ohne Zweifel der Alleingesellschafter, wenn er in Angelegenheiten der Gesellschaft tätig wird. Eben dies hat die Muttergesellschaft auch getan, als sie eine Forderung eines Dritten gegen die OHG aufkaufte, mithin eine Schuld beglich, die eigentlich von der OHG und ihren Gesellschaftern zu zahlen gewesen wäre. Da die Muttergesellschaft damit Handlungen vorgenommen hat, die ihrer Tochtergesellschaft oblegen hätten, besteht kein Anlass, sie hinsichtlich der Rechtsfolgen anders als einen Mitgesellschafter zu behandeln. Mit dieser Erwägung lässt sich die Erstreckung der Subsidiarität der Gesellschafter-Inanspruchnahme ebenso begründen wie die Geltung besonderer haftungsbeschränkender Abreden auch im Konzernverhältnis. 3. Begrenzung des Anspruchs insgesamt Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob sich auch die Berücksichtigung der Verlustquote des Gesellschafters in den Konzern hinein verlängert, 53 BGH NJW 1980, 339 (340); OLG Koblenz NJW- RR 1995, 486 (487); Heymann/Emmerich (Fn. 6) § 110 Rn. 15; Neubauer in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band I, 1995, § 62 Rn. 35 f.; Prediger BB 1970, 869 (872). 54 So ausdr. BGHZ 89, 162 (166, 168) – Heumann/Ogilvy. 55 BGHZ 129, 136 (146) – Girmes; vgl. auch Timm WM 1991, S. 481 (488 f.); Marsch-Barner ZHR 157 (1993), 172 (184); Schöne WM 1992, S. 209 (212). 56 Vgl. Dreher ZHR 157 (1993), 150 ff.

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und ob die Muttergesellschaft in den dazu herausgearbeiteten Fallgruppen mit der Inanspruchnahme der Gesellschafter der Personengesellschaft gänzlich ausgeschlossen und auf die Inanspruchnahme der Gesellschaft verwiesen ist. Bejaht man das, käme es im Konzern zu einer Vermögensverlagerung. Denn bei einer Leistung durch die Tochtergesellschaft als unmittelbarem Gesellschafter müsste diese die Kürzung ihres Anspruchs hinnehmen bzw. wäre mit ihrem Regress gegen die Mitgesellschafter während des Bestehens der Gesellschaft gänzlich ausgeschlossen. Erstreckt man diese Regeln in den Konzern hinein, so träte der entsprechende Nachteil stattdessen bei der Muttergesellschaft ein. Insofern fragt sich, ob man die Konzerngesellschaften nicht nur in Bezug auf die Wahrnehmung von Gesellschafterrechten, sondern auch finanziell als eine Einheit ansehen kann. Das wird man ohne weiteres da bejahen können, wo zwischen den beteiligten Gesellschaften insgesamt eine Haftungseinheit besteht. Das freilich ist nach geltendem Recht ohne weiteres nur noch bei Bestehen eines Vertragskonzerns der Fall, während die dichte und umfassende Leitung der betreffenden Konzerngesellschaft dafür nicht (mehr) genügt. 57 Ebenso ist die finanzielle Einheit unter Zurechnungsaspekten aber dort zu bejahen, wo die Obergesellschaft zu 100 % an der Gesellschaft beteiligt ist, die ihrerseits wieder die Beteiligung an der Personengesellschaft hält. Denn bei einer 100 %-igen Beteiligung wäre der Nachteil, den die unmittelbar beteiligte Gesellschaft durch die Regressbeschränkung erlitten hätte, im Wege des Gewinnbezugsrechts auf die Mutter durchgeschlagen: Jede Verminderung des Gewinns der Tochter wirkt sich unmittelbar auf den Betrag aus, der für eine Ausschüttung an die Mutter zur Verfügung steht. Würde man hier eine konzerndimensionale Betrachtung ablehnen, so ließe sich der Nachteil zudem aus der Perspektive des Konzerns leicht dadurch vermeiden, dass die Mutter statt der Tochter die Maßnahme vornimmt oder sonst ein konzernangehöriges Unternehmen dazu eingeschaltet wird. Für eine solche Privilegierung des Konzernunternehmens ist kein Grund ersichtlich. Noch weitergehend kann man fragen, ob nicht auch schon eine geringere Beteiligung genügt, solange jedenfalls die Konzernvermutung nach §§ 15, 18 AktG noch gegeben ist. Dafür könnte sprechen, dass diese Lösung im Recht der eigenkapitalersetzenden Darlehen überwiegend vertreten wird; dort genügt es für die Annahme, dass ein nahe stehender Dritte im Sinne des 57 Für einen Zurechnungsdurchgriff bei Vorliegen eines qualifiziert-faktischen Konzerns noch Raiser (Fn. 2) § 53 Rn. 63 und Lutter/Hommelhoff GmbHG , 15. Aufl., 2000, § 32a Rn. 64. Diese Fallgruppe der Zurechnung ist zweifelhaft geworden, seitdem der BGH nur noch auf die nachhaltige Schädigung der Gesellschaft abstellt. Soweit dadurch eine Durchgriffshaftung begründet wird (BGH ZIP 2002, 1578 f. – KBV), kann man in dieser wohl auch die erforderliche finanzielle Einheit sehen. Aufgrund der Subsidiarität dieser Haftung kommt eine Zurechnung auf dieser Grundlage aber nur in Betracht, wenn die Gesellschaft bereits in die Insolvenz gefallen ist.

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§ 32a III GmbHG gehandelt habe, dass der Darlehensgeber mit Mehrheit an der unmittelbaren Gesellschafterin beteiligt ist. Derartige Unternehmen werden also unter dem Aspekt der Darlehensgewährung als eine Einheit behandelt, 58 weil der gesellschaftsrechtlich vermittelte Einfluss der Mehrheitsbeteiligung es der Obergesellschaft ermöglicht, maßgeblich über Gewährung und Verbleib des Darlehens zu entscheiden. 59 Diese Aspekte des Einflusses und der Weisung spielen auch hier eine Rolle, jedoch ist hier ebenso wie bei § 32a GmbHG nicht gesagt, dass sich der Konzerneinfluss gerade auf die fragliche Maßnahme bezog. Gleichzeitig gibt es keine Vermutung dafür, dass eine konzernabhängige Gesellschaft in jeder Hinsicht unter der Leitung der Muttergesellschaft steht, vielmehr reicht für eine einheitliche Leitung im Sinne des § 18 AktG auch die sektorale Leitung aus. Für eine Zurechnung der Leistung der Mutter auf die Tochter ist daher bei einer in bloßem Mehrheitsbesitz stehenden Tochter erforderlich, dass die Mutter bei Vornahme der Finanzierungsmaßnahme bewusst im Hinblick auf die finanziellen Verhältnisse der Tochter gehandelt hat, so, wie auch bei § 32a GmbHG nach zutreffender Ansicht eine bewusste Übernahme der Finanzierungsverantwortung zu verlangen ist. 60 Diese kann man ohne weiteres dort bejahen, wo die Muttergesellschaft die Konzernfinanzierung insgesamt an sich gezogen hat. 61 Im Übrigen kann die finanzielle Einheit in Anlehnung an § 18 AktG vermutet werden, jedoch steht der Muttergesellschaft die Möglichkeit offen nachzuweisen, dass der Erwerb der Forderung nicht in der Absicht erfolgt ist, damit einen Regress gegen die Mitgesellschafter der Tochtergesellschaft auszulösen. In diesem Fall ist sie nur an die Treupflicht gebunden, kann ansonsten aber unbeschränkten Regress nehmen.

IV. Ergebnisse 1. In der Personengesellschaft unterliegt ein Gesellschafter beim Regress gegen seine Mitgesellschafter bestimmten Einschränkungen. Insbesondere muss er sich, unabhängig von der Rechtsnatur der geltend gemachten Forderung, seinen gesellschaftsvertraglichen Verlustanteil von seiner Forderung abziehen lassen. Der Anspruch ist zudem subsidiär gegenüber 58 BGHZ 81, 315; BGHZ 81, 365; BGH NJW 1984, 1036; BGH NJW 1987, 1080 (1081); BGH NJW 1999, S. 2822; st. Rechtsprechung; vgl. näher dazu Pentz in Rowedder/SchmidtLeithoff GmbHG , 4. Aufl., 2002, § 32 a Rn. 77 und 81; kritisch Raiser (Fn. 2) § 38 Rn. 27. 59 BGHZ 81, 311 (316); OLG Düsseldorf GmbHR 1997, 353, 355. 60 Näher Lutter/Hommelhoff (Fn. 57) § 32 a/b Rn. 3; Raiser (Fn. 2) § 38 Rn. 17; Hachenburg-Ulmer GmbHG , 8. Aufl., 1992, § 32 a/b Rn. 8. 61 Zu denken ist insbesondere an Fälle des Cash-Pools oder ähnlicher Formen konzerninterner Finanzierungen, vgl. dazu Wehlen in Lutter/Scheffler/Schneider, Handbuch der Konzernfinanzierung, § 23 Rn. 28 ff.

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einer Inanspruchnahme der Gesellschaft und kann durch besondere Absprachen zwischen den Gesellschaftern ganz ausgeschlossen sein. Bei den so genannten Gesellschafterforderungen, insbesondere bei Ansprüchen aus § 110 HGB , findet ein Regress gegen die Mitgesellschafter überhaupt nicht statt, es haftet allein die Gesellschaft. 2. Als eine solche Gesellschafterforderung, die nur gegen die Gesellschaft geltend gemacht werden kann, sind auch Forderungen aus Gesellschafterdarlehen anzusehen, wenn diese zu einer Zeit gewährt wurden, zu der die Gesellschaft Kredit von Dritter Seite nicht erlangen konnte (entsprechend § 32a GmbHG). Ein Regress gegen die Mitgesellschafter ist ferner ausgeschlossen, wenn ein Gesellschafter Drittgläubigerforderungen freiwillig aufkauft. 3. Diese Einschränkungen gelten auch dann, wenn die Darlehensgewährung oder der Forderungserwerb nicht durch den an der Personengesellschaft beteiligten Gesellschafter selbst erfolgen, sondern durch ein mit ihm konzernverbundenes Unternehmen. Die Regressbeschränkung in der Personengesellschaft verlängert sich also in den Konzern hinein.

Die Mobilität der Kapitalgesellschaften – The Golden Five – Stefan Grundmann

Inhaltsübersicht Seite

I. Die Grundfreiheitenrechtsprechung als Mobilitätskatalysator . . . . 1. Die maßgeblichen Urteile, die gemeinsame Grundlage heute . . 2. Leitgesichtspunkt: Allgemeinheit des Mobilitätsgebots . . . . . 3. Folgen der Gesellschaftsmobilität für den „Stil“ des Europäischen Gesellschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Societas Europaea als spezielles Mobilitätsinstrument und das Mitbestimmungsregime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mobilitätsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mitbestimmungsregime als Hemmnis? . . . . . . . . . . . . . . III. Grenzüberschreitende Strukturmaßnahmen, vor allem die Fusion als zunehmend allgemeines Mobilitätsinstrument . . . . . . . . . . 1. Die grenzüberschreitende Fusion . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die grenzüberschreitende Sitzverlegung . . . . . . . . . . . . . 3. Die (grenzüberschreitende) Übernahme . . . . . . . . . . . . . IV. Thesen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Mobilität von Gesellschaften als Gesamtheit ist die letzte Form der Mobilität unternehmerischen Tuns, die noch nicht vollständig durchgesetzt ist, richtiger: die (erst) im letzten Jahrfünft umfassend durchgesetzt wurde und für die derzeit (nur noch) die sekundärrechtlichen Implementierungsnormen erarbeitet werden, die dann auch die letzte Rechtssicherheit verbürgen. Die Mobilität der Produkte (Waren, Dienstleistungen) ist längst gesichert, ebenso die der Faktoren, Arbeit und (Kapital-)Anteil (zu Letzterem später noch). Jetzt folgt(e) die Mobilität von Gesellschaften, sie ist nochmals wichtiger bei Kapitalgesellschaften und hat dort auch rechtlich ihren Schwerpunkt. Wenn es den „Kapitalgesellschaftsrechtler“ in Deutschland gibt, so ist dies Thomas Raiser.1 Damit tritt man auch den großen Lehrbüchern und Kom1 Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften – ein Handbuch für Praxis und Wissenschaft – Aktiengesellschaft, Kommanditgesellschaft auf Aktien, Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Kapitalgesellschaft & Co., Umwandlungsrecht, Konzernrecht, internationales Gesellschaftsrecht 3, 2001 (erste Aufl. 1983).

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mentaren nicht zu nahe, die natürlich das Kapitalgesellschaftsrecht umfassen oder Hauptaspekte vertiefen, auch vor Raisers Lehrbuch,2 und auch sehr gewichtig unter seinen Kollegen an der Humboldt-Universität.3 Das Kapitalgesellschaftsrecht, in seinem konzentrierten Zuschnitt, ist jedoch, im Marketingjargon gesprochen, ein Unique Selling Profit. Das hat Nachfolger gefunden,4 doch das Werk des Jubilars bleibt das Urwerk. Und sicherlich sind auch die Werke zum Europäischen Gesellschaftsrecht primär Werke zum Kapitalgesellschaftsrecht, aber eben zum Europäischen.5 Einen weiteren Unique Selling Profit weist das Werk des Jubilars vor allem auf, den auch seine Abschiedsvorlesung wieder eindrucksvoll vorscheinen ließ.6 Wirtschaftsrechtler arbeiten, wenn interdisziplinär, eher mit Blick auf die Ökonomie, Raiser ist Wirtschaftsrechtler und Rechtssoziologe, wie kein anderer in Deutschland. Dies hat meist auch eine inhaltliche Seite, Wirtschaft und Soziales stehen sich hier meist besonders nahe. Und obwohl die große Verbindung zwischen Gesellschaftsrecht und Arbeitsrecht noch immer lebt, auch hier u. a. und prominent in der Kollegenschaft des Jubilars an der Humboldt-Universität, hat dies doch bei Raiser eine eigene, eben die methodische Dimension. Und Raiser ist Europäer, vielleicht weniger schwerpunktmäßig im wissenschaftlichen Werk,7 umso beeindruckender jedoch im persönlichen Gespräch. Und was anderes als auch ein persönliches Geschenk ist ein Festschriftbeitrag. 2 Genannt seien nur Kübler Gesellschaftsrecht – die privatrechtlichen Ordnungstrukturen und Regelungsprobleme von Verbänden und Unternehmen – ein Lehrbuch für Juristen und Wirtschaftswissenschaftler5, 1999 (erste Aufl. 1981); Wiedemann Gesellschaftsrecht – ein Lehrbuch des Unternehmens- und Verbandsrechts, Bd. I: Grundlagen, 1980; natürlich das Hueck’sche Lehrbuch, vgl. nächste Fn.; schon etwas später das Standardlehrbuch von Schmidt Gesellschaftsrecht 4, 2002 (erste Aufl. 1986). 3 Hueck/Windbichler Gesellschaftsrecht – ein Lehrbuch 20 , 2003 (erste Aufl., damals Alfred Hueck, von 1948); Schwark (Hrsg.), Kapitalmarktrechtskommentar – Börsengesetz mit Börsenzulassungsverordnung, Verkaufsprospektgesetz mit Verkaufsprospektverordnung, Wertpapierhandelsgesetz, Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz, 2004 (erste Aufl. als „Börsengesetz“ 1976, wie auch die zweite Aufl. noch in Alleinautorschaft). 4 Hirte Kapitalgesellschaftsrecht 5 , 2003 (erste Aufl. 1997); Wilhelm Kapitalgesellschaftsrecht 2, 2003 (erste Aufl. 1998). 5 Lutter, Europäisches Unternehmensrecht – Grundlagen, Stand und Entwicklung nebst Texten und Materialien zur Rechtsangleichung 4, 1996 (erst Aufl. 1979); heute Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht – Einführung für Studium und Praxis2, 2003; Schwarz Europäisches Gesellschaftsrecht – ein Handbuch für Wissenschaft und Praxis, 2000; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht – eine systematische Darstellung unter Einbeziehung des Europäischen Kapitalmarktrechts, 2004; und aus der fremdsprachigen Literatur: Edwards, EC Company Law, 1999; Menjucq Droit international et européen des sociétés, 2001; Werlauff, EC Company Law – the Common Denominator for Business Undertakings in 12 States, 1993; und ebenfalls Grundmann European Company Law, 2004. 6 Raiser, Recht und Moral, soziologisch betrachtet, JZ 2004 (im Erscheinen). 7 Vgl. jedoch, beliebig herausgegriffen, in diesem Bereich: Raiser, Die Europäische Aktiengesellschaft und die nationalen Aktiengesetze, FS Semler 1993, S. 277; ders., Führungsstruktur und Mitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft nach dem Verordnungsvorschlag der Kommission vom 25. August 1989, FS Steindorff 1990, S. 201.

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Also Europäer, Kapitalgesellschaftsrechtler mit einer Verbindung zur Vielfalt im Recht und im Sozialen – da liegt da nahe, von der Mobilität der Kapitalgesellschaften in Europa zu sprechen, von der Freiheit des Investments, Steuern und Wettbewerb der Standorte bis hin etwa zur Mitbestimmung.8 Dazu werden drei Entwicklungen der letzten fünf Jahre beleuchtet, die Grundfreiheitenrechtsprechung, das Regime der Societas Europaea als eines sekundärrechtlichen „Versuchsballons“ für eine bestimmte Gesellschaftsform und sodann die Erstreckung des Gedankens recht allgemein auf das Gesellschafts-, jedenfalls Kapitalgesellschaftsrecht. Im Vordergrund stehen dabei inhaltlich – wieder – fünf Instrumente: Die Grundfreiheitenrechtsprechung, das SE -Statut, die (Projekte einer) Internationale(n) Fusions- und Sitzverlegungs-Richtlinie sowie die unlängst verabschiedete Übernahme-Richtlinie. Auch fünf Urteile sind dabei zu behandeln, neben Centros, Golden Shares (als Einheit), Überseering und Inspire Art auch das fünfte, das noch aussteht und das dann klarstellen wird, dass in der Tat auch der Wegzug umfassend grundfreiheitlich verbürgt ist. Also in mehrfacher Hinsicht zum siebzigsten: the Golden Five.

I. Die Grundfreiheitenrechtsprechung als Mobilitätskatalysator 1. Die maßgeblichen Urteile, die gemeinsame Grundlage heute Den Anfang machte die Grundfreiheitenrechtsprechung, am 9. 3. 1999, mit der Entscheidung in Sachen Centros: 9 den Anfang im Zeitlichen, zudem von der Normhierarchie her, weil hier die primärrechtlichen Vorgaben und Schubkräfte für das andere abgesteckt wurden, und zuletzt auch systematisch, da in den Grundfreiheiten das Gesamttableau angelegt ist – hinsichtlich der Gesellschaftsformen,10 hinsichtlich der Umstrukturierungsformen, die alle erfasst sind, und hinsichtlich der Richtung der Veränderung, Zu- wie

8 Etwa Raiser, Geklärte und ungeklärte Fragen der Konzernmitbestimmung, FS Kropff 1997, S. 243. Dazu mehrfach im Folgenden. 9 EuGH Rs. C-212/97 Centros, Slg. 1999, I-1459 (1495); zu den unzähligen Anmerkungen vgl. (neben den im Folgenden Genannten) Nachw. in Grundmann (Fn. 5), § 22 Fn. 30. 10 Bekanntlich gilt die Niederlassungsfreiheit nach Art. 48 Abs. 1 EG i.V.m. Art. 43 EG für praktisch alle Gesellschaftsformen, wenn sie nur auf Einkünfteerzielung (nicht nötig Gewinnstreben) ausgelegt sind: Everling Das Niederlassungsrecht im Gemeinsamen Markt, 1963, 33 f.; Grabitz/Hilf/Randelzhofer/Forsthoff Art. 48 EGV Rn. 8; Kruse, Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften innerhalb der EG – Vereinbarkeit der einschlägigen Regelungen des deutschen Sach- und Kollisionsrechts mit dem EG -Vertrag, 1997, 60. Zur ebenfalls wichtigen Kapitalverkehrsfreiheit, die sicher den Schwerpunkt (allein) in den kapitalmarktorientierten Gesellschaften, also bei den Anteilen allein bei der AG , hat, später noch.

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Wegzug.11 Zu Letzterem Beidem noch im Folgenden. Im Stillen mag man auch denken: Es war ein Sieg der Richter und Rechtswissenschaftler über BSE , Gibraltar und ein gerüttelt Maß politischer Unvernunft und Ineffizienz. Sprechen wir also über die Zeit vom 9. 3. 1999 bis zum 8. 3. 2004, was dann zufällig, wenn man Festschriftbeitragenden ihre gewohnheitsrechtlich verbürgte „akademische Woche“ zugibt, den Abgabetermin für diese Festgabe bezeichnet. Zur Entscheidung in Sachen Centros treten – in chronologischer Reihenfolge – diejenigen in Sachen Golden Shares,12 Überseering13 und Inspire Art.14 Auf dem Weg zwischen diesen Urteilen sind – besonders zwischen Centros und Überseering – über einige Fragen Streitigkeiten entstanden, wohl am grundlegendsten: ob die im Centros-Urteil gemachten Aussagen für Länder, die wie bisher Deutschland der Sitztheorie folgen, unanwendbar bleiben.15 Heute jedoch sind folgende Positionen gesichert: Die Aussagen (auch) in der Centros-Entscheidung gelten für alle Mitgliedstaaten, weil eine Anwendung etwa nur auf Mitgliedstaaten, die der Gründungstheorie folgen, vom ehernen Europarechtsgrundsatz einer einheitlichen Anwendung des EG Rechts abwiche 16 und natürlich der Sitztheorie, also der flächendeckend zwingenden Anwendung eines bestimmten Gesellschaftsrechts (typischerweise des Gastlandes), nicht weniger Behinderungspotential innewohnt als seiner punktuellen. Die Niederlassungsfreiheit ist auch unmittelbar anwendbar und dies auch hinsichtlich Strukturmaßnahmen, die die Primärnie11 Für alle Parallelfreiheiten unstr., da im Fall der Waren- und der Kapitalverkehrsfreiheit ausdrücklich den Normen zu entnehmen (vgl. Art. 29 und 56 Abs. 1 EG ), und im Fall der Dienstleistungsfreiheit dezidiert so entschieden in EuGH Rs. C-384/94 Alpine Investment, Slg. 1995, I-1141 (bes. 1176–1178), ja sogar strenger hinsichtlich der sog. Vertriebsmodalitäten. 12 EuGH Rs. C-503/99 Kommission/Belgien, Slg. 2002, I-4809; Rs. C-483/99 Kommission/Frankreich, Slg. 2002, I-4781; Rs. C-367/98 Kommission/Portugal, Slg. 2002, I-4731; zu weiteren Urteilen in Sachen Golden Shares und der Entwicklung über die Konstellation Golden Shares hinaus vgl. nur Grundmann/Möslein Die Goldene Aktie – Staatskontrollrechte in Europarecht und wirtschaftspolitischer Bewertung, ZGR 2003, 317. 13 EuGH Rs. C-208/00 Überseering, Slg. 2002 I-9919. 14 EuGH Rs. C-167/01 Inspire Art, NJW 2003, 3331; zu den zahlreichen Anmerkungen auch zu den drei zuletzt genannten Urteilen vgl. Nachw. in Grundmann (Fn. 5), § 22 Fn. 46, 40, 33. 15 So vertreten vor allem in der deutschen Literatur, wohl am prominentesten: Kindler Niederlassungsfreiheit für Scheinauslandsgesellschaften? – die Centros-Entscheidung des EuGH und das internationale Privatrecht, NJW 1999, 1993; Ebke, Das Schicksal der Sitztheorie nach dem Centros-Urteil des EuGH , JZ 1999, 656 (658); Roth, W.-H. Centros: Viel Lärm um nichts? – Besprechung der Entscheidung EuZW 1999, 216, ZGR 2000, 311; Sonnenberger/Großerichter, Konfliktlinien zwischen internationalem Gesellschaftsrecht und Niederlassungsfreiheit, RIW 1999, 721 (726 f.). 16 EuGH Rs. C-367/96 Kefalas, Slg. 1998, I-2843 (2870); Behrens, Anerkennung, internationale Sitzverlegung und grenzüberschreitende Umstrukturierung von Gesellschaften nach dem Centros-Urteil des EuGH, JBl . 2000, 341 (346).

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derlassung, die Gesellschaft als Ganzes, betreffen (sog. primäre Niederlassungsfreiheit),17 jedenfalls im Grundsatz: Der EuGH hat nämlich nationale Normen, die auf eine Maßnahme reagierten, die (nach diesem nationalen Recht) als Änderung der primären Niederlassung zu qualifizieren war, für unanwendbar erklärt18 und dies ist nur denkbar, wenn der EuGH insoweit die unmittelbare Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit bejahte. Freilich hat der EuGH noch immer nicht die Entscheidung in Sachen Daily Mail vollständig verworfen, in der das Gegenteil (allgemein) behauptet worden war.19 Die Hauptfrage geht daher dahin, welche Fragen dieser Vorbehalt erfasst, für welche Situationen hingegen die neue Ausrichtung gilt, dass auch Strukturmaßnahmen die primäre Niederlassung betreffend durch eine unmittelbar anwendbare Niederlassungsfreiheit geschützt werden. Ebenfalls gesichert ist, dass, wenn denn die Niederlassungsfreiheit unmittelbar eingreift, die Behinderungswirkung relativ weitgehend angenommen und umgekehrt eine Rechtfertigung relativ restriktiv gefasst wird, im Ergebnis also regelmäßig die fragliche nationale Norm für unanwendbar erklärt wird. So war es in der Tat bei allen genannten Leitentscheidungen der letzten fünf Jahre (mit Ausnahme einer der recht zahlreichen Golden Shares Entscheidungen). Die Behinderungswirkung wird relativ weitgehend angenommen, weil eine solche einerseits schon bei Abweichung der Normen für internationale Transaktionen von denen für nationale Transaktionen angenommen wird, 20 also etwa bei (grenzüberschreitender) Sitzverlegung und Fusion, wenn eine höhere als die im Inland übliche qualifizierte Mehrheit gefordert wird, 21 aber auch bei sonstigen Diskriminierungen der grenzüber17 Für die sekundäre Niederlassungsfreiheit, die sich auf die sekundären Niederlassungen, vor allem Zweigniederlassung und Gründung von Tochtergesellschaften, bezieht, ist dies bereits ungleich länger gesicherter Bestand. Hierzu und zur Unterscheidung etwa Behrens JBl . 2000, 341 (344 f.); Edwards (Fn. 5), 342–386; Eyles, Das Niederlassungsrecht der Kapitalgesellschaften in der Europäischen Gemeinschaft – die Überlagerung des deutschen Gesellschaftsrechts und Unternehmenssteuerrechts durch Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1990, 98–128; Grundmann (Fn. 5), Rn. 762–764; Kruse (Fn. 10), 66–80; Schön, Die Niederlassungsfreiheit von Kapitalgesellschaften im System der Grundfreiheiten, FS Lutter 2000, S. 685 (689 f.); Tietje in Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2003, § 10 Rn. 33–36. 18 Deutschland qualifizierte im Überseering-Fall die Verlegung des Verwaltungssitzes nach Deutschland als solche, faktisch (wenn auch nicht rechtskonstruktiv) war auch die „Zweigstellen“Eröffnung durch Centros in Dänemark eine solche: vgl. etwa etwa Behrens JBl . 2000, 341 (345); Grabitz/Hilf/Randelzhofer/Forsthoff Art. 48 EGV Rn. 62; Koppensteiner Centros und die Folgen, VGR 2 (2000) 151 (173 f.); Schön, FS Lutter 2000, 685 (696 f.). 19 EuGH Rs. 81/87 Daily Mail, Slg. 1988, 5483; Anmerkungen vgl. Nachw. in Grundmann (Fn. 5), § 22 Fn. 29. 20 Ebendies verbietet denn auch Art. 2 Abs. 5 Vorschlag 2003 zu einer Internationalen Verschmelzungs-Richtlinie (unten Fn. 44) ausdrücklich; schon bisher Menjucq (Fn. 5) 220 f.; Heenen, La Directive sur les Fusions Internes, CDE 1981, 15 (15). 21 Das ist übrigens keineswegs in allen Mitgliedstaaten so, etwa nicht in Italien (vgl. Kindler, Italienisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2002, 407; Bruhn, Niederlassungsfreundliche

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schreitenden Transaktion, und weil andererseits, wichtig vor allem für Übernahmen, im Rahmen der Kapitalverkehrsfreiheit bereits die sog. indirekte Anteilszugangsbeschränkung erfasst erscheint, d. h. jede nationale Norm, die den Anteil als spürbar weniger attraktiv erscheinen lässt (so der EuGH in den Golden Shares Entscheidungen), was bei Einschränkungen von Stimmrechten, etwa für Übernahmesituationen, überwiegend angenommen wird. 22 Umgekehrt wird eine Rechtfertigung regelmäßig nicht angenommen, die Voraussetzungen erscheinen sehr hoch. Alle genannten Entscheidungen – eher nichtssagend in diesem Zusammenhang allenfalls die Überseering-Entscheidung stehen hierfür: Mindestkapitalregeln sind nicht durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt, weil das Register über diese Größe Auskunft gibt (Vorrang von Informationsregeln, die, da das Register extensiv ist, viele Bereiche erfassen; Centros, Inspire Art); allgemeiner sind zwingende Vorgaben nicht gerechtfertigt, wenn sie nicht auch auf ausländische Gesellschaften, die ohne eigene Sekundärniederlassung grenzüberschreitend anbieten, ebenfalls angewandt werden, was fast nie der Fall ist (lückenloses Konsistenzgebot, Centros). Hinzu kommt, wichtig für die grenzüberschreitende Fusion, dass nationale Normen für Bereiche, die harmonisiert sind und zu denen daher im Ausland vergleichbare Schutzregeln zu finden sind, ohnehin nicht mehr auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses gestützt werden können (auch und gerade, wenn sie über die Richtlinie hinausgehen). 23 Und allgemein muss (jedenfalls bei Einschränkung von Aktionärsrechten) das mildeste Mittel verwandt werden, was typischerweise nur einen sehr exakt fokussierten Schutz, der zudem ex post wirkt, hinnehmbar erscheinen lässt (Golden Shares). Sitzverlegung und Verschmelzung über die Grenze nach italienischem Recht – eine rechtsvergleichende Untersuchung unter Berücksichtigung der europäischen Niederlassungsfreiheit, 2002, 142–197 und 197–234). Mit der Lösung, dass nicht einmal Einstimmigkeit genügt und in jedem Fall Auflösung und Neugründung verlangt werden, steht Deutschland sogar eher allein. Vgl. rechtsvergleichende Kurzübersicht zu den großen Mitgliedstaaten bei Grundmann (Fn. 5) Rn. 776, 784. Allerdings votieren praktisch alle Kollisionsrechte für Kumulation, so dass die Transaktion schon dann unmöglich ist, wenn sie dies nach einem der betroffenen Rechte ist. 22 EuGH Rs. C-503/99 Kommission/Belgien, Slg. 2002, I-4809 (4831 Tz. 40 f.); dazu Armbrüster, „Golden Shares“ und die Grundfreiheiten des EG -Vertrags, JuS 2003, 224 (227); Bayer, Zulässige und unzulässige Einschränkungen der europäischen Grundfreiheiten im Gesellschaftsrecht, BB 2002, 2289 (2290); Grundmann/Möslein ZGR 2003, 317 (335 f.); Merkt, Zum Verhältnis von Kapitalmarktrecht und Gesellschaftsrecht in der Diskussion um die Corporate Governance, AG 2003, 126 (134). 23 Ausführlich (auch zu Gegenstimmen): Grundmann, Binnenmarktkollisionsrecht – vom klassischen IPR zur Integrationsordnung, RabelsZ 64 (2000), S. 457, 471–476; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, 2003, S. 146–170. Völlig unbestreitbar ist jedenfalls, dass gleichwertiger Schutz im Herkunftsland eine Anwendung inländischen Rechts unzulässig macht: EuGH Rs. 272/80 Biologische Producten, Slg. 1981, 3277 (3291 f. Tz. 14 f.); Rs. 25/88 Wurmser u. a., Slg. 1989, 1105 (1129 f. Tz. 18 f.); Rs. 293/94 Brandsma, Slg. 1996, I-3159 (3177 Tz. 12).

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2. Leitgesichtspunkt: Allgemeinheit des Mobilitätsgebots Ist also von Unanwendbarkeit belastender nationaler Normen regelmäßig in allen Konstellationen auszugehen, in denen die unmittelbare Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit bejaht wird, so betrifft die Hauptzweifelsfrage heute das Verhältnis zwischen Centros und Überseering hier und Daily Mail dort: Ist danach die Niederlassungsfreiheit grds. für alle Strukturmaßnahmen zur Primärniederlassung ebenfalls unmittelbar anwendbar und betrifft der Daily-Mail-Vorbehalt nur einen ganz engen Ausschnitt (dann: welchen?) oder gilt letzterer noch für einen recht substantiellen Bereich? Ersteres ist richtig und im Folgenden zu begründen. Zweiteres wird jedoch gerne angenommen für alle Wegzugsbeschränkungen, für die nach dieser Meinung die Niederlassungsfreiheit noch immer nicht unmittelbar anwendbar ist. 24 Sie sind daher als erstes kurz zu beleuchten. Der EuGH hat in Überseering zwar keineswegs judiziert, weiterhin bleibe Daily Mail für Wegzugsbeschränkungen generell maßgeblich, sondern nur, dass er in Daily Mail Beschränkungen des die Rechtsfähigkeit ursprünglich verleihenden Mitgliedstaates hinsichtlich der Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes aus dessen Hoheitsgebiet für zulässig erachtet hat, die der Erhaltung der Rechtsfähigkeit nach dessen Recht dienen (Tz. 70). Es wird jedoch argumentiert, der Grundfreiheitenschutz entfalle, sobald nach nationalem Recht die Fähigkeit entfällt, Träger von Rechten und Pflichten zu sein. Das ist freilich schon formaljuristisch angreifbar, weil Gesellschaften i. d. R. selbst mit Auflösungsbeschluss, der in den Sitzverlegungsbeschluss zwingend mit hinein gelesen wird, diese Fähigkeit noch nicht verlieren sondern erst mit Vollbeendigung. Jedenfalls macht diese Meinung wieder (!) den Grundfreiheitenschutz von der formaljuristischen Konstruktion in einem nationalen Recht abhängig (was der EuGH schon im Anschluss an Centros für unzulässig erklärte). Es geht doch darum, ob die Grundfreiheit einer Gesellschaft, die derzeit Trägerin von Rechten und Pflichten nach nationalem Recht ist, ein Recht auf Mobilität, also die Sitzwahl identitätswahrend (grundsätzlich) verbürgt. Und warum soll ein Wegzugstaat privilegiert werden, weil er an den Wegzug alle negativen Folgen 24

So die h.M. noch nach Centros, vgl. nur Grabitz/Hilf/Randelzhofer/Forsthoff Art. 48

EGV Rn. 57–60 (m. ausf. Nachw.); Schön, Die Niederlassungsfreiheit von Kapitalgesellschaften im System der Grundfreiheiten, FS Lutter 2000, 685 (702 f.); nach Überseering: Forsthoff, EuGH fördert Vielfalt im Gesellschaftsrecht – traditionelle deutsche Sitztheorie verstößt gegen Niederlassungsfreiheit, DB 2002, 2471 (2474) (bei Verwaltungssitzverlegung); Kallmeyer Tragweite des Überseering-Urteils des EuGH vom 5. 11. 2002 zur grenzüberschreitenden Sitzverlegung, DB 2002, 2521 (2522) (bei Satzungssitzverlegung); Kers-

ting, Rechtswahlfreiheit im Europäischen Gesellschaftsrecht nach Überseering – Ein Richtlinienvorschlag, NZG 2003, 9 (13, de lege lata, anders aber de lege ferenda, 12); Leible ZGR-Symposium 2004, demnächst in ZGR ; im Ergebnis auch OLG Düsseldorf NZG 2001, 610.

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knüpft, während einer, der nur gewisse Beschränkungen vornimmt, die Rechtsträgerschaft aber unberührt lässt, unzweifelhaft einer Überprüfung anhand der Niederlassungsfreiheit unterfällt? Zuletzt: Immerhin wurde auch für die Dienstleistungsfreiheit argumentiert, Exportbeschränkungen seien mit Importbeschränkungen nicht vergleichbar, was der EuGH in Alpine Investment (Fn. 11) zu Recht umfassend verwarf. In einer Freihandelszone mag nur die Öffnung für den Import das Ziel sein, in einem Binnenmarkt ist es freie – allseitige – Zirkulationsfähigkeit. Und da ist kein Grund ersichtlich, dessentwegen es dem Zuzugsstaat verboten sein kann, die (partielle) Rechtsfähigkeit in Wegfall zu bringen, wenn für den Wegzugsstaat nicht das Gleiche gilt, obwohl ein anderer Staat (nunmehr der Zuzugsstaat) diese nach seinem Recht anerkennt. Hingegen kann der Daily-Mail-Vorbehalt unschwer folgendermaßen mit allgemein anerkannten Argumentationslinien erklärt werden: Über die Nationalität entscheidet (auch für natürliche Personen) jeder Mitgliedstaat selbst, das darf er auch für Gesellschaften, sie also bei Erfüllung bestimmter Tatbestandsmerkmale versagen. Er darf jedoch nicht so weit gehen, deshalb ihre Zirkulationsfähigkeit oder Nationalität, die ihnen ein anderer Mitgliedstaat verleiht, in Abrede zu stellen. Die Wegzugsbeschränkungen sind nicht der einzige umstrittene Bereich, auch nicht der einzige, an dem sich der zunehmend allgemeine, flächendeckende Zugriff der Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit erkennen lässt. Allgemeinheit des Zugriffs ist das Leitmotiv der jüngeren Entwicklung, auch in drei weiteren Hinsichten. In aller Kürze: Auch nationales Recht, das grenzüberschreitende Fusionen nicht zulässt, ist an der Niederlassungsfreiheit zu messen, auch insoweit ist sie unmittelbar anwendbar, obwohl die bisherigen Urteile diese Konstellationen noch nicht zum Gegenstand hatten und daher auch nicht ausdrücklich ansprachen. 25 Wieder wird dadurch eine grenzüberschreitende Transaktion verhindert, hier sogar mit der Besonderheit, dass angesichts bestehender sehr weitreichender Harmonisierung sowohl des Gesellschafts- als auch des Steuerrechts 26 eine Recht25 Schon Kallmeyer, Grenzüberschreitende Verschmelzungen und Spaltungen?, ZIP 1996, 535; auch Lutter in Lutter (Hrsg.), Umwandlungsgeset 2, 2000, § 1 Rn. 10 (wegen Art. 43 EG ). Dennoch skeptischer zur Bedeutung der Niederlassungsfreiheit für grenzüberschreitende Fusionen (noch auf der Grundlage von Centros): Behrens JBl . 2000, 341 (355); für die Zeit vor Centros a.A. ganz h.M., etwa Bühler Die grenzüberschreitende Fusion von Kapitalgesellschaften in der Europäischen Union – gesellschafts- und steuerrechtliche Rahmenbedingungen mit rechtsvergleichenden Exkursen zum schweizerischen Recht, 2000, 81–85. 26 Dritte Richtlinie des Rates 78/855/ EWG vom 9. 10. 1978 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Verschmelzung von Aktiengesellschaften, ABl . EG 1978 L 295/36; ergänzt durch ABl . EG 1982 L 378/47 (Spaltung); Richtlinie des Rates 90/434/ EWG vom 23. 7. 1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, ABl . EG 1990 L 225/1; Novelie-

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fertigung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses a limine ausscheidet. Und dies wird, ein zweiter Aspekt, in den meisten Mitgliedstaaten sogar nicht nur für die AG gelten, sondern jedenfalls für alle Kapitalgesellschaften, da im Zuge der Umsetzung das Verschmelzungsrecht allgemein für Kapitalgesellschaften und teils darüber hinaus nach dem Modell der Richtlinie(n) gestaltet wurde.27 Die Grundfreiheiten im Verbund mit autonomer überschießender Umsetzung (für andere Gesellschaftsformen) erfassen also nicht nur die Instrumente flächendeckend, sondern zunehmend breit auch die Gesellschaftstypen. Anders ist das freilich im Grundsatz bei der Kapitalverkehrsfreiheit, die an die Freiheit der Zirkulation der Kapitalanlage anknüpft und damit primär und teils ausschließlich die kapitalmarktorientierte AG betrifft. Ein dritter Aspekt der Verallgemeinerung: Heute wird darüber gestritten, ob nicht mit Überseering die Sitztheorie allgemein für unzulässig erklärt wurde.28 In der Tat scheint der Wortlaut der Entscheidung in diese Richtung zu deuten. Und in der Tat ist die Sitztheorie rechtsvergleichend in den Mitgliedstaaten deutlich auf dem Rückzug.29 Ein vielleicht noch schlagenderes Argument aus der Grundfreiheitenrechtsprechung, aus der zweiten großen Entscheidung des EuGH des gleichen Jahrs, wird kaum bedacht: Grundidee der Golden Shares Entscheidungen ist es, dass pauschale Schutzansätze gut fokussierten zu weichen haben. Die Sitztheorie wird nun gerechtfertigt mit Schutzinteressen ganz allgemein, einige davon, etwa der Gläubigerschutz durch Mindestkapitalerfordernisse, wurden bereits für europarechtlich unhaltbar erklärt. Die Gründungstheorie, verbunden mit einzelnen auch international zwingenden Schutznormen, wäre ungleich fokussierter. Dies ist im Binnenmarkt die (von den Grundfreiheiten her einzig mögliche) Zukunft.

rungsvorschlag (Erweiterung persönlicher Anwendungsbereich) KOM (2001) 582 endg., 14 und 17; näher Grundmann (Fn. 5) §§ 25 und 29. 27 Sehr ähnlich wie in Deutschland: Italien, Belgien und die Niederlande, aber grds. auch Frankreich und das Vereinigte Königreich: Wymeersch A Status Report on Corporate Governance Rules and Practices in Some Continental European States, in: Hopt/Kanda/Roe/ Wymeersch/Prigge (Hrsg.), Comparative Corporate Governance – the State of the Art and Emerging Research, 1998, 1045 (1064). 28 So Kersting NZG 2003, 9 (9 f., 11); und grds. Eidenmüller Wettbewerb der Gesellschaftsrechte in Europa – zugleich Besprechung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 5. 11. 2002 in der Rechtssache C-208/00 (Überseering BV gegen Nordic Construction Company Baumanagement GmbH), ZIP 2002, 2233 (2238, 2240 f.); Schanze/Jüttner, Die Entscheidung für Pluralität: Kollisionsrecht und Gesellschaftsrecht nach der EuGH -Entscheidung Inspire Art, AG 2003, 30; a.A. etwa Großfeld RIW 12/2002 Erste Seite; unklar Leible/Hoffmann Überseering und das (vermeintliche) Ende des Sitztheorie – Anmerkung zu EuGH , Urteil vom 5. 11. 2002 – Rs. 208/00, RIW 2002, 945, RIW 2002, 925 (927 einerseits, 930 andererseits). 29 So die Nachbarländer Schweiz und Österreich, recht weitgehend auch Italien und Frankreich, weitergehend als teils behauptet sogar das Vereinigte Königreich, vgl. Grundmann (Fn. 5) Rn. 173.

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3. Folgen der Gesellschaftsmobilität für den „Stil“ des Europäischen Gesellschaftsrechts Für den „Stil“ des Europäischen Gesellschaftsrechts ändert sich damit zumindest zweierlei sehr grundlegend: Rechtswahlfreiheit bedeutet, aus Sicht der Nachfrager, Wettbewerb der Regelgeber. Dieses Konzept ist derzeit in keiner Lehrbuch- oder Kommentardarstellung des Europäischen Gesellschaftsrechts ein tragendes, 30 im Gegenteil – all dies, obwohl Vielfalt auch langfristig nicht in Frage stehen kann (politisch und vom Subsidiaritätsprinzip her) und obwohl die Mobilität der Gesamteinheit vollständig zum Durchbruch gelangt. Ein Wettbewerb der Regelgeber ist im Europäischen Gesellschaftsrecht bereits Realität (wenn auch nicht für alle Regelungsbereiche, etwa nur beschränkt bei der Mitbestimmung), das wird sich noch verstärken. Er ist auch wünschenswert, wie Wettbewerb allgemein, die Hauptfrage muss sein, wie negativen (Neben-)Effekten am besten regulierend begegnet werden kann (vor allem Informationsproblemen und negativen Effekten auf Dritte). Das macht eine viel breitere Diskussion in dieser Schlüsselfrage nötig. Nicht das „ob“ ist heute zu diskutieren, sondern das „wie“, und sicherlich ist das Thema auch nicht mit Schweigen zu behandeln. Damit bekommt die zunehmend geforderte Intensivierung der Gesellschaftsrechtsvergleichung 31 nochmals ein größeres Gewicht. Sie ist nicht mehr nur Erkenntnisquelle, hilft nicht mehr nur bei Harmonisierungsvorhaben. Sie ist in vielen Konstellationen ebenso wichtig wie bisher im innerstaatlichen Recht ein vergleichendes Bedenken von GmbH- und AG -Recht und anderer Kapitalgesellschaftsrechtsformen, eine der großen Stärken des Kapitalgesellschaftsrechtsbuchs des Jubilars. Solch eine auch grenzüberschreitend vergleichende Berücksichtigung von Vor- und Nachteilen gehört bald zur Rechtsberatung lege artis. Literatur hierzu wird unverzichtbar. All dies bildet den Rahmen, die Grundstruktur. Nochmals beeindruckender wird der Strom hin zur Mobilität der (Kapital-)Gesellschaft als Gesamt30 Zu all dem vgl. jüngst nur Eidenmüller ZIP 2002, 2233; aus der Feder des Verfassers: Grundmann, Wettbewerb der Regelgeber im Europäischen Gesellschaftsrecht – jedes Marktsegment hat seine Struktur, ZGR 2001, 783; contra Merkt Das Europäische Gesellschaftsrecht und die Idee des „Wettbewerbs der Gesetzgeber“, RabelsZ 59 (1995), S. 545; eher zurückhaltend auch Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im europäischen Binnenmarkt – Studien zur Privatrechtskoordinierung in der Europäischen Union auf den Gebieten des Gesellschafts- und Vertragsrechts, 2002; und zumindest sehr skeptisch oder indifferent die Werke (alle Fn. 5) von Edwards, Habersack, Lutter, Menjucq, ablehnend das von Schwarz. 31 Vgl. vergleichbare Forderungen bei Ebke, Unternehmensrecht und Binnenmarkt – e pluribus unum, RabelsZ 62 (1998), S. 195 (241 f.); Wouters European Company Law: Quo vadis?, 37 CMLR (2000) 257 (307). In Lehrbuchform jetzt ansatzweise: Grundmann (Fn. 5), bes. §§ 3, 12 und 13.

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heit dadurch, dass auch die sekundärrechtlichen Implementierungsvorschriften jetzt bestehen oder verabschiedet werden. Daher auch hierzu einige, auf Grund der Platzvorgaben viel kürzere Betrachtungen. 32

II. Die Societas Europaea als spezielles Mobilitätsinstrument und das Mitbestimmungsregime 1. Mobilitätsformen Mit dem Regime der Societas Europaea 33 ist das erste sekundärrechtlich abgesicherte Instrument einer grenzüberschreitenden Mobilität auf EG Ebene geschaffen und zwar für alle Mobilitätsformen: 34 Für die einmal entstandene Societas Europaea ist gesichert, dass sie (allein) unter den Voraussetzungen, wie sie auch innerstaatlich für Strukturmaßnahmen gelten, etwa allein schon mit qualifizierter Mehrheit, sowohl den Sitz identitätswahrend verlegen kann (Art. 8 des Statuts) als auch grenzüberschreitend verschmolzen werden kann auf andere SEs : 35 Die grenzüberschreitende Fusion einer bestehenden SE folgt dem Regime der Gründung einer SE durch Fusion nationaler AGs (Art. 2 Abs. 1, 17–32 des Statuts), Art. 3 Abs. 1 des Statuts verweist hierauf. Die Frage stellt sich, ob diese Möglichkeiten nicht auch für Gesellschaftsformen nationalen Rechts fruchtbar gemacht werden können. Selbstverständlich ist dies der Fall, soweit mit der Strukturmaßnahme die Schaffung 32 Ausführlicher zu den Entwicklungen auf dem jüngsten Stand Grundmann (Fn. 5) §§ 24, 26 f., 30. 33 Verordnung ( EG ) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. 10. 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft ( SE ), ABl . EG 2001 L 294/1; Richtlinie 2001/86/ EG des Rates vom 8. 10. 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, ABl . EG 2001 L 294/22. Jüngste Darstellungen u. a. Grundmann (Fn. 5), § 30 (dort auch näher zu allem Folgenden und Nachw. zu(r) umfangreichen Gesetzgebungsgeschichte und -materialien); Theisen/Wenz (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft – Recht, Steuern und Betriebswirtschaft der Societas Europaea (SE ), 2002. 34 Vergleichbares galt vorher für die EWIV , seitdem für die Europäische Genossenschaft, vgl. Art. 12–14 bzw. 7 der jeweiligen Statuten; Kurzbeschreibung bei Grundmann (Fn. 5), Rn. 1082 und 1099. 35 Vgl. nur Buchheim, Europäische Aktiengesellschaft und grenzüberschreitende Konzernverschmelzung – der aktuelle Entwurf der Rechtsform aus betriebswirtschaftlicher Sicht, 2001; Förster/Lange Grenzüberschreitende Sitzverlegung der Europäischen Aktiengesellschaft aus ertragssteuerlicher Sicht, RIW 2002, 585; Grundmann, Grenzüberschreitende Sitzverlegung und Fusion, in: Deutsches Aktieninstitut (Hrsg.), Die Europa-AG – eine Perspektive für deutsche Unternehmen?, 2003 (Heft 21), 47; Huiskes, The European Company as an Instrument for Corporate Reorganisation within the European Internal Market, in: Wouters/Schneider (Hrsg.), Current Issues of Cross-Border Establishment of Companies in the European Union, 1995, 157; Teichmann Minderheitenschutz bei Gründung und Sitzverlegung der SE , ZGR 2003, 367.

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einer SE beabsichtigt ist und die Voraussetzungen einer der Gründungsformen nach Art. 2 des Statuts, im Einzelnen dann Art. 17–37 des Statuts, erfüllt sind. Hier gilt freilich bekanntlich ein numerus clausus. Außerhalb des numerus clausus und vor allem in Fällen, in denen die Rückumwandlung in eine nationale Rechtsform intendiert ist, scheint eine Nutzbarmachung des Statuts ungleich schwerer: 36 Der numerus clausus entfaltet bei der grenzüberschreitenden Fusion nur Sperrwirkung für andere Rechtsformen als die AG , für die dann aber schlicht eine Umwandlung nach nationalem Recht voranzugehen hat; und die Sitzverlegung (ggf. nach vorheriger Umwandlung nach nationalem Recht in eine AG ) ist jedenfalls als grenzüberschreitende Fusion auf eine neu zu gründende AG im Ausland, die dann bei Verschmelzung SE wird, möglich. Schwieriger ist die Rückumwandlung, etwa die Sitzverlegung einer nationalen GmbH auf dem „Umweg“ über Art. 8 des Statuts in einen anderen Mitgliedstaat (weiterhin) als GmbH nach nationalem Recht: Zum einen darf eine Sitzverlegung nicht mit einem Beschluss, die nationale AG in eine Societas Europaea umzuwandeln, verbunden werden (Art. 37 Abs. 3 des Statuts). Außerhalb einer Fusion, also unter Fortbestand der Einzelgesellschaft, kann eine Gesellschaft nationalen Rechts demnach den Sitz nur in zwei Akten ins Ausland verlegen. Zum anderen ist für die Rückumwandlung in eine Gesellschaft nationalen Rechts (im neuen Mitgliedstaat) nicht nur eine weitere – nunmehr dritte – Strukturmaßnahme nötig, sondern ist diese auch mindestens zwei Jahre hinauszuschieben (Art. 66 Abs. 1 des Statuts). Abhilfe im ersten Punkt verspricht freilich die beschriebene Fusion auf eine neu gegründete AG im Ausland. Stellen sich also gewisse Schwierigkeiten bei der Rückumwandlung, so hat man sich jedoch umgekehrt auch nach dem Nutzen einer solchen zu fragen: Das Statut der Societas Europaea verbürgt in einem zentralen Punkt, bei der Frage nach der Struktur des Leitungsorgans (ein- oder zweistufig), allenfalls mehr Freiheit. Ansonsten jedoch wird so extensiv auf nationales Recht verwiesen, 37 dass nahezu die gleiche Vielfalt an nationalen Gestaltungen gewählt werden kann, wie mit der grenzüberschreitenden Strukturmaßnahme einer Gesellschaft nach nationalem Recht. Allerdings ist wählbar ohne Rückumwandlung jeweils nur ein Aktienrecht. Vgl. Grundmann (vorige Fn.). Beschreibung im Einzelnen (häufig kritisch): Jaeger, Die Europäische Aktiengesellschaft – europäischen oder nationalen Rechts? – eine rechtsvergleichende Untersuchung anhand des britischen, deutschen, französischen und niederländischen Aktienrechts zur Ausfüllung des Verordnungsvorschlags für das Statut der Europäischen Aktiengesellschaft vom 16. 5. 1991, 1994, etwa 215 et passim („nicht zu verantworten“); Raiser, FS Semler, 1993, S. 277 (295 f. et passim); auch Grote, Das neue Statut der Europäischen Aktiengesellschaft zwischen europäischem und nationalem Recht, 1990, bes. 57–189; zum Zusammenspiel eindringlich Brandt/Scheifele, Die Europäische Aktiengesellschaft und das anwendbare Recht, DStR 2002, 547; Wagner, Die Bestimmung des auf die SE anwendbaren Rechts, NZG 2002, 985. 36 37

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2. Mitbestimmungsregime als Hemmnis? Teils wird befürchtet, dass diese (für das Aktienrecht schon recht umfassenden) Mobilitätsformen faktisch nur beschränkt zur Verfügung stehen. Neben dem hohen Mindestkapital wird vor allem das Mitbestimmungsregime als potentiell hinderlich gesehen. Lange war die (fehlende Einigung zur) Mitbestimmung das Haupthindernis für eine Verabschiedung des Statuts, heute würde demnach der gefundene Kompromiss weiterhin ähnliche Wirkungen zeitigen, jedenfalls für manche Unternehmen und Länder: Da die Regelung, wenn keine andere Verhandlungslösung mit teils recht hohen Mehrheitserfordernissen zustande kommt, vom Prinzip des Erhalts des strengsten beteiligten Regimes ausgeht, 38 würden gerade Unternehmen aus Staaten mit hoher Mitbestimmungsquote gemieden. Denn diese würden die anderen beteiligten Unternehmen mit ihrem Mitbestimmungsregime „infizieren“. 39 Eine sicherlich reale Befürchtung. Man kann, im Geist des Jubilars, jedoch auch andere Szenarien in Erwägung ziehen. Die Sicht der Mitbestimmung hat sich in den letzten Jahren wohl eher gewandelt, auch im Ausland. Zunehmend wird gerade in der ökonomischen und rechtspolitischen Diskussion darauf hingewiesen, dass sie positive wie negative Wirkungen zeitigt, 40 positiv vor allem die Vertrauensbildung, die eine Ausbildung firmenspezifischen Humankapitals bei den Mitarbeitern tendenziell anregt, negativ Probleme mit der Entscheidungsfindung, die verlängert wird, und der Geheimhaltung. Bei Unternehmen, bei denen jedoch auf Grund von Komplexität und Spezialisierung Ersteres wichtig ist – und je arbeitsteiliger eine Gesellschaft, umso häufiger ist dies zu erwarten –, mögen die Vorteile überwiegen. Daher wird jedenfalls ein fakultatives Mitbestimmungsregime heute häufig eher positiv gesehen. Also mag die deutsche Seite eher zu Überzeugungsarbeit gezwungen als ausgeschlossen werden. Und da im Ausland derzeit das Bild von der 38 Dabei wird regelmäßig als maßgeblicher Parameter allein die Beteiligungsquote herausgegriffen. Vgl. Wortlaut Anhang Teil 3 lit. b und a des Statuts und auch Art. 2 lit. k der flankierenden Richtlinie; ebenso Heinze, Die Europäische Aktiengesellschaft, ZGR 2002, 66 (82); Herfs-Röttgen, Arbeitnehmerbeteiligung in der Europäischen Aktiengesellschaft, NZA 2001, 424 (426 f.). 39 Natürlich vor allem deutsche, schon weniger niederländische Firmen. Zu diesem Bedenken: Heinze ZGR 2002, 66 (74, 83); Lutter, Europäische Aktiengesellschaft – Rechtsfigur mit Zukunft?, BB 2002, 1 (5 f.). 40 Zum Folgenden etwa Blair, Firm-specific human capital and the theory of the firm, 1996, S. 45 f.; Schmidt/Grohs, Angleichung der Unternehmensverfassung in Europa aus ökonomischer Perspektive – ein Forschungsprogramm, in Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts – Gesellschaftsrecht, Arbeitsrecht, Schuldvertragsrecht, 2000, S. 145, 164 f.; auch Hopt, Gemeinsame Grundsätze der Corporate Governance in Europa? – Überlegungen zum Einfluss der Wertpapiermärkte auf Unternehmen und ihre Regulierung und zum Zusammenwachsen von common law und civil law im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, ZGR 2000, 779, 801 f.

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Mitbestimmung in den Unternehmensführungen noch sehr schlecht ist, dies auch auf Gewohnheit und Pfadabhängigkeiten beruht, mag der aufgebaute gewisse Zwang den Vorteil haben, dass nur so eine Gewöhnung an den Mitbestimmungsgedanken gefördert werden kann. Gewohnheiten können sich nämlich ändern, gerade in großen Unternehmen, wie die zweistufige Leitungsorganstruktur zeigt. 41 Und dann würde mit der Mitbestimmung ein zweites großes Strukturmerkmal (nach dem des ein- oder zweistufigen Leitungsorgans) 42 zunehmend in Europa als allgemein wählbar eingeführt – wenn denn auch die Arbeitnehmerseite in anderen Fällen Flexibilität beim Akzeptieren von mitbestimmungsmindernden Verhandlungslösungen zeigt. Zugegebenermaßen ein Szenario, das Geduld verlangt, das es jedoch lohnen mag.

III. Grenzüberschreitende Strukturmaßnahmen, vor allem die Fusion als zunehmend allgemeines Mobilitätsinstrument 1. Die grenzüberschreitende Fusion Wahrhaft praktiziert wird die grenzüberschreitende Fusion, obwohl schon derzeit nach Primärrecht möglich, erst, wenn sie auch sekundärrechtlich zugelassen ist. Denn erst dann ist Rechtssicherheit verbürgt, was angesichts der Größe der Transaktion wohl meist unverzichtbare Voraussetzung für die Wahl dieser Gestaltungsform ist. 43 Die Arbeiten zur Verabschiedung der sekundärrechtlichen Implementierungsvorschriften stehen vor ihrem Abschluss. 44 Ohne diesen Akt hier zu analysieren, seien zwei Punkte hervorgehoben. Wenn ausgeführt wurde, dass das Bedürfnis nach einem Instrument für die grenzüberschreitende Fusion nationaler AGs weitgehend durch 41 In Frankreich ist die zweistufige Form des Leitungsorgans (seit Einführung 1966) zwar allgemein unbedeutend geblieben, nicht aber bei den größten (immerhin ca. 20 %): vgl. näher Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des Sociétés14, 2001, Rn. 780; Hopt ZGR 2000, 779 (815); Teichmann, Corporate Governance in Europa, ZGR 2001, 645 (664). 42 Bekanntlich gibt das SE -Statut in diesem Hauptstrukturpunkt die Wahlfreiheit direkt an die Unternehmen, auch gegen das nationale Recht, wenn dieses, anders als das französische, jetzt italienische und theoretisch auch britische, das Wahlrecht nicht kennt: Art. 38 lit. b des Statuts, besonders eindringlich Fleischer in seinem Beitrag zur SE auf der Zivilrechtlehrertagung 2003, demnächst in AcP; sowie Hommelhoff, Einige Bemerkungen zur Organisationsverfassung der Europäischen Aktiengesellschaft, AG 2001, 279 (282 f.); Lutter BB 2002, 1 (4). 43 Edwards (Fn. 5), 375; Meilicke, Zum Vorschlag der Europäischen Kommission für die 14. EU -Richtlinie zur Koordinierung des Gesellschaftsrechts – Sitzverlegungs-Richtlinie, GmbHR 1998, 1053 (1053); Lutter, Überseering und die Folgen, BB 2003, 7 (10). 44 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten, KOM (2003) 703. Diskussion dieses Akts schon in Grundmann (Fn. 5) § 26.

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das SE -Statut abgedeckt ist (und damit weitestgehend auch ein neues nationales AG -Recht wählbar gemacht wird), Gleiches jedoch nicht für andere Rechtsformen gilt, so erscheint ein erster Schritt überzeugend: Im Vorschlag 2003 sind erstmals alle Kapitalgesellschaften, vor allem auch die GmbH, erfasst. Sicherlich war es da hilfreich, dass viele nationale Rechte die Fusions-Richtlinie auch für diese umsetzten (Fn. 27), obwohl ein Zwang nur für die AG bestand. Die Internationale Fusions-Richtlinie bringt Rechtssicherheit also vor allem für die anderen Kapitalgesellschaften, an die bei den Bemühungen (vom ursprünglichen Übereinkommensentwurf bis zur nationalen Fusions-Richtlinie und zum Vorschlag 1985 für eine Internationale Fusions-Richtlinie) noch gar nicht gedacht war. Für die dort noch allein in den Blick genommene AG ist sie angesichts der Verabschiedung des SE -Statuts (in einer Rumpfform) gar nicht mehr so wichtig. Umgekehrt ist jetzt auch geklärt, dass diese zweite Sekundärmaßnahme wiederum ein Ausscheren aus dem Mitbestimmungszwang nicht ermöglichen wird. Die Mitbestimmung wird freilich, da auch andere Kapitalgesellschaften erfasst sind, nach nationalem Recht für die beteiligten Gesellschaften weniger häufig angeordnet sein – so dass sie in solchen Fällen auch nicht perpetuiert werden muss und kann. 2. Die grenzüberschreitende Sitzverlegung Eine sekundärrechtliche Implementierungsmaßnahme für die grenzüberschreitende Sitzverlegung ist mehrfach durch diejenige zur grenzüberschreitenden Fusion konditioniert. So sollen die Akte hier jenen für die Internationale Funktion folgen: ein im Regelbestand ähnlicher gesellschaftsrechtlicher Akt ist angekündigt, desgleichen die Erstreckung der FusionsbesteuerungsRichtlinie (Fn. 26), die Steuerneutralität verbürgt.45 Vor allem jedoch: Da eine grenzüberschreitende Sitzverlegung auch als Fusion auf eine neu zu gründende Gesellschaft im Ausland gestaltet werden kann, hätte eine Sitzverlegungs-Richtlinie für Kapitalgesellschaften nicht mehr die größte Bedeutung, zumal für die Sitzverlegungs-Richtlinie, da nur eine Gesellschaft beteiligt ist, ein verschärfter Vollerhalt der Mitbestimmung zu erwarten ist (nach dem Vorbild von Art. 7 Abs. 2 und Anhang Teil 3 lit. a SE -Statut). Im bisherigen Vorschlag waren denn auch alle Gesellschaften (iSv Art. 48 EG), nicht nur Kapitalgesellschaften erfasst, was dem Regime in der Tat einen wichtigen An-

45 Aktionsplan vom 21. 5. 2003, KOM (2003) 284 endg., 24; KOM (2001) 582 endg., 14 (durch Orientierungshilfen zur EuGH -Rechtsprechung). Bisher Vorentwurf für eine vierzehnte Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verlegung des Sitzes einer Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat mit Wechsel des für die Gesellschaft maßgebenden Rechts vom 20. 4. 1997, abgedruckt etwa in ZIP 1997, 1721.

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wendungsbereich (außerhalb des Kapitalgesellschaftsrechts) erhielte, bisher jedoch häufig kritisiert wurde.46 3. Die (grenzüberschreitende) Übernahme Schon bisher möglich war die grenzüberschreitende Übernahme, die kapitalmarktorientierte Form des Share Deal, desgleichen auch diese Oberform selbst. Auch handelt es sich um die Maßnahme, bei der die nationalen Regeln schon heute nicht zwischen grenzüberschreitender und inländischer Variante unterscheiden. Und Steuerneutralität im Auslandsfall verbürgt auch hierfür die Fusionsbesteuerungs-Richtlinie (Fn. 26). In einem Zentralpunkt freilich ist der Auslandsfall doch besonders: Nur in ihm besteht das Hauptproblem, um das bei der Verabschiedung der Übernahme-Richtlinie 47 primär – und lange – gestritten wurde; nur in ihm treffen Gesellschaften aufeinander, die unterschiedlichen Rechten unterfallen und deren Vorstände daher unterschiedliche Macht haben, Abwehrmaßnahmen zu ergreifen (kein level playing field). In aller Kürze: Die Grundidee für die Übernahme-Richtlinie war, die Ergreifung von Verteidigungsmaßnahmen während der Angebotslaufzeit ausschließlich der Hauptversammlung zu gestatten (auch kein Vorratsbeschluss), außerdem jedoch auch alle ähnlich wirkenden Gestaltungen zumindest in ihrer Wirkung zu suspendieren (Durchbruchsregel), etwa Ausnahmen vom Grundsatz „one share one vote“, etwa Erwerbsbeschränkungen. Im Vorschlag, der letztlich zur Verabschiedung führte, waren freilich die Mehrfachstimmrechte ausgenommen (angeblich aus verfassungsrechtlichen, wohl auch aus taktischen Gründen). Gerungen wurde um ihre Wiedereinbeziehung, von anderer Seite wurde die Zulässigkeit von Vorratsbeschluss und Aufsichtsratsratifikation gefordert. Die letztlich gefundene, von Portugal vorgeschlagene doppelte Optionslösung (Art. 12), der Preis für die Verabschiedung, wird teils als Phyrrussieg gesehen: 48 Mitgliedstaaten können in das – nunmehr wiederum vollständige – Modell einer Zurückdrängung aller Abwehrgestaltungen hineinoptie46 Etwa Hoffmann, Neue Möglichkeiten zur identitätswahrenden Sitzverlegung in Europa? – Der Richtlinienvorentwurf zur Verlegung des Gesellschaftssitzes innerhalb der EU , ZHR 164 (2000) 43 (59 f.); Neye, Größere Mobilität für Unternehmen in Europa – 14. EU Richtlinie zur Sitzverlegung geplant, GmbHR 1997, R 181 (182); Priester EU -Sitzverlegung – Verfahrensablauf, ZGR 1999, 36 (37); positiv Menjucq (Fn. 5) 309 f. 47 Derzeit: Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend Übernahmeangebote, ABl . EG 2004, Nr. L 142 S. 12 (nur noch formale Schritte ausstehend). Zur Literaturflut vgl. Literaturverzeichnis etwa in Grundmann (Fn. 5), § 27. Dort dann auch ausführlich zum Folgenden. 48 Die EG -Kommission selbst, nahezu einmalig, stimmte sogar dagegen, wenn sie auch nicht, wie vom zuständigen Kommissar Bolkestein gewünscht, den letzten Schritt ging und die Richtlinie durch Zurückziehen des Vorschlags zu Fall brachte.

Die Mobilität der Kapitalgesellschaften

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ren, als zwingendes oder dispositives Recht. Zugleich kann dies auch jedes Unternehmen, auch wenn sein Mitgliedstaat die Lösung nicht einmal als dispositives Recht übernahm. Die Option für das Regime ist zudem endgültig. Und die Ausübung der Optionen wird für alle Unternehmen aufgedeckt in einem europaweit zugänglichen Register. Ob Phyrrussieg oder nicht, wird sich erweisen. Jedenfalls längerfristig wird die Streitfrage über einen Marktmechanismus gelöst, was bei Streit über die beste Lösung als theoretisch sogar vorzugswürdige Lösung gilt: Eine Gesellschaft – und die meisten Gestaltungen bedürfen einer Satzungsregelung, also eines Hauptversammlungsbeschlusses – kann entweder mit einem Programm an den Markt gehen (oder ein solches jetzt beibehalten), bei dem Kursabschläge zu erwarten sind, In letzter Konsequenz können dann Anleger selbst entscheiden, wie hoch sie die besonderen Renditechancen, die in zukünftigen Übernahmeangeboten liegen, bewerten und ob der Preisabschlag das Sinken dieser Chancen kompensiert. Die Märkte mögen sich in der Frage der Verteidigungsmittel als stark genug erweisen – über die Transparenzregel.

IV. Thesen und Ausblick Die letzten fünf Jahre brachten einen gewaltigen Durchbruch für die letzte Form der Mobilität unternehmerischen Tuns, die noch nicht vollständig durchgesetzt war. Das ist übrigens ganz und gar nicht der einzige Durchbruch der letzten fünf Jahre im Europäischen Gesellschaftsrecht, das seit erstmaligem Erscheinen der Lehrbücher von Habersack (1999, jetzt 2003) und Schwarz (2000) und erst recht seit der letzten Auflage von Lutter ganz im Gegenteil rundum erneuert erscheint: rundum erneuert im großen Kerngebiet Bilanzrecht, das nunmehr wirklich einheitlich, viel stärker an internationalen Trends orientiert und moderner erscheint, zumindest für die börsennotierten Konzerne; rundum erneuert im kapitalmarktrechtlichen Bestand, mit der Konsolidierung aller börsenbezogenen Richtlinien in der Börsen-Richtlinie und der Neufassung aller Prospektpflichten in einer Richtlinie, zudem Reformen in den Hauptstücken des Sekundärmarktrechts, Insider-Richtlinie (jetzt Marktmissbrauchs-Richtlinie) und bald Wertpapierdienstleistungs-Richtlinie; rundum erneuert auch im Segment supranationale Gesellschaften (einschließlich Mobilitäts- und Mitbestimmungsproblematik, s. o.), mit der Societas Europaea und jetzt auch der Europäischen Genossenschaft; und rundum erneuert im Scharnierstück zwischen äußerer und innerer Governance, Kapitalmarkt und Gesellschaftsorganisation, der Übernahmerichtlinie, wenn auch in Knechtsgestalt (s. o.). Und mit dem Bericht der High Level Group und dem Aktionsplan der Kommission ist schon ein aktives nächstes Jahrfünft vorgezeichnet. In einem Satz: Im Grundfreiheitenbereich, im am dichtesten harmonisierten

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Bereich (Kapitalmarktrecht), im Kernbereich der klassisch gesellschaftsrechtlichen Richtlinien (Bilanzrecht) und bei den supranationalen Rechtsformen – überall brachten die letzten fünf Jahre Rechtsakte oder Rechtsentwicklungen, die den Kern des Teilgebiets völlig neu schreiben. Und daneben traten noch die Europäische Regelung des wichtigsten Beendigungsgrundes (Insolvenz), Änderungsvorschläge für eine Reihe weiterer Rechtsakte und möglicherweise der Beginn eines wahrhaft Europäischen Körperschaftssteuerrechts. Das Europäische Gesellschaftsrecht erlebt fast schon mehr als einen Boom. In diesem Strom und Thema vorliegend: Die letzten fünf Jahre brachten einen gewaltigen Durchbruch für die letzte, bisher nicht durchgesetzte Form der Mobilität unternehmerischen Tuns. Die unmittelbare Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit ist schon heute in der weitesten Form anzunehmen: auch beim Wegzug, auch bei anderen Strukturmaßnahmen als nur der Sitzverlegung, auch für den kollisionsrechtlichen Streit um Sitz- oder Gründungstheorie. Gesichert ist, dass, wenn denn die unmittelbare Anwendbarkeit zu bejahen ist, jede Norm, die die Grenzüberschreitung belastet – und jedenfalls wenn sie sie spezifisch belastet –, als behindernd qualifiziert wird und regelmäßig auch nicht gerechtfertigt ist. Mit dem Statut der Societas Europaea, ist für eine Gesellschaftsform auch die sekundärrechtliche Ausgestaltung bereits Wirklichkeit. Sie ist allerdings nur schwer für nationale Rechtsformen fruchtbar zu machen. Ob das Mitbestimmungsregime in der flankierenden Richtlinie, das die Verabschiedung überhaupt erst ermöglichte, negativ wirkt, vor allem für deutsche Gesellschaften, muss sich erst zeigen. Die Societas Europaea könnte (auch hier) als ein Ferment für eine tatsächliche europaweite Verbreitung von (sinnvollen) Gestaltungsalternativen wirken. Mit der Internationalen Fusions-Richtlinie, dem neuen Vorschlag, wird (wie wohl mit der Sitzverlegungs-Richtlinie) Mobilität zunehmend allgemein für verschiedenste Gesellschaftsformen angestrebt, nicht nur für die AG . Auch das ist neu, im Sinne einer allgemeinen Vertiefung des Binnenmarkts. Die Implementierung im Sekundärrecht, die nur die Ausgestaltung im einzelnen betrifft und letzte Rechtssicherheit verbürgt, vor allem mit der genannten Fusions- und Sitzverlegungs-Richtlinie, wird nicht nochmals fünf Jahre in Anspruch nehmen. Mit den vorliegend beschriebenen Schritten (und erst mit ihnen) ist der Binnenmarkt der – Gesellschaften (als Gesamtheiten) Wirklichkeit. Es ist ein Binnenmarkt, in dem Rechtswahlfreiheit (und damit Wettbewerb verschiedener Modelle) dominiert.

Die Haftung der Mitglieder bei Einflussnahmen auf abhängige eingetragene Vereine Barbara Grunewald

Inhaltsübersicht Seite

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Abhängigkeit von Vereinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abhängigkeit im Sinne von §§ 15 ff. AktG . . . . . . . . . . . . 2. Wirtschaftliche Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Haftungstatbestände für Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Analogien zum Aktienkonzernrecht . . . . . . . . . . . . . . . 2. Haftung wegen Verstoßes gegen die mitgliedschaftliche Treuepflicht 3. Durchgriffshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Materielle Unterkapitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vermögensvermischung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Existenzvernichtende Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Haftungstatbestände für Nichtmitglieder . . . . . . . . . . . . . . 1. Sphärenvermischung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konzernrechtliche Vertrauenshaftung . . . . . . . . . . . . . . 3. Haftung nach Deliktsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung In den letzten Jahren hat das GmbH-Konzernrecht, angestoßen durch die Judikatur zum existenzvernichtenden Eingriff,1 eine fundamentale Veränderung erfahren. Die Ablösung dieses Teilgebiets des GmbH-Rechts von dem Konzernrecht der Aktiengesellschaft ist damit weiter vorangeschritten2. Während jedenfalls das kodifizierte Aktien-Konzernrecht gemäß den in §§ 15 ff AktG niedergelegten Regeln an den Unternehmens- und Abhängigkeitsbegriff an1 Überblick bei Lutter/Banerjea ZGR 2003, 402; Henze, AG 2004, 405; Kindler NZG 2003, 1086; Roth NZG 2003, 1080; Schön ZHR 168 (2004), 268; Westermann NZG 2002, 1129; Wiedemann ZGR 2003, 283. 2 Zur Übertragbarkeit der Judikatur zum existenzvernichtenden Eingriff auf die AG Henze AG 2004, 405, 412 f.

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knüpft, setzt die Haftung nach den Grundsätzen zum existenzvernichtenden Eingriff weder Abhängigkeit noch eine Einflussnahme eines Unternehmens voraus. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob die Haftung für Einflussnahmen auf abhängige eingetragene Vereine dem einen oder dem anderen Modell entspricht oder ob das Vereinsrecht insoweit einen eigenen Weg geht. Im Mittelpunkt der Betrachtung wird dabei nicht nur die Abhängigkeit aufgrund einer entsprechenden Satzungsgestaltung, sondern auch die wirtschaftliche Abhängigkeit von Vereinen (etwa von Zuschüssen Dritter) stehen.3

II. Abhängigkeit von Vereinen 1. Abhängigkeit im Sinne von §§ 15 ff. AktG Nach § 17 AktG sind abhängige Unternehmen rechtlich selbständige Unternehmen, auf die ein anderes Unternehmen unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss ausüben kann. Nach allgemeiner Meinung kommt als abhängiges Unternehmen jede rechtlich besonders organisierte Vermögenseinheit in Frage. 4 Auf die Rechtsform kommt es nicht an. Daher kann auch ein Verein abhängiges Unternehmen sein. 5 Ein Unternehmen ist abhängig, wenn ein Gesellschafter beherrschenden Einfluss ausüben kann. Gemäß § 17 Abs. 2 AktG wird von einem in Mehrheitsbesitz stehenden Unternehmen vermutet, dass es von dem an ihm mit Mehrheit beteiligten Unternehmen abhängig ist. Eine Mehrheitsbeteiligung kann eine Kapital- oder eine Stimmenmehrheit sein.6 Eine Kapitalmehrheit ist bei einem Verein nicht vorstellbar, da es an einem dem festen Gesellschaftskapital vergleichbaren Vereinsvermögen fehlt7 Eine Stimmenmehrheit kann es bei einer atypisch ausgestalteten Vereinssatzung geben, da Mehrstimmrechte nicht von vornherein ausgeschlossen sind.8 Häufig sind solche Gestaltungen aber nicht. siehe den Fall OLG Köln AG 1999, 92. Bayer in Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl., § 15 Rn. 48; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 3. Aufl., § 15 Rn. 25; Hüffer Aktiengesetz, 5. Aufl., § 15 Rn.14. 5 Emmerich/Habersack Aktien- und GmbH-KonzernR-Emmerich (Fn. 4) § 15 Rn. 25; Hüffer AktG (Fn. 4) § 15 Rn. 14; a. A. aber ohne Begründung für den Idealverein MünchKommAktG-Bayer (Fn. 4) § 17 Rn. 132. 6 MünchKommAktG-Bayer (Fn. 4) § 17 Rn. 87; Emmerich/Habersack Aktien- und GmbH-KonzernR-Emmerich (Fn. 4) § 17 Rn. 33; Hüffer AktG (Fn. 4) § 17 Rn. 17. 7 MünchKommAktG-Bayer (Fn. 4) § 16 Rn. 17; Sprengel Vereinskonzernrecht, 1998, S. 102 f.; a. A. Emmerich/Habersack Aktien- und GmbH-KonzernR-Emmerich (Fn. 4) § 16 Rn. 18; Krieger in Münchner Handbuch zum Gesellschaftsrecht, 2. Aufl., Band 4, § 68 Rn. 28, 20; Windbichler in Großkommentar zum Aktiengesetz, 4. Aufl., § 16 Rn. 46 für wirtschaftliche Vereine. 8 MünchKommAktG-Bayer (Fn. 4) § 16 Rn. 17; Emmerich/Habersack Aktien- und GmbH-KonzernR-Emmerich (Fn. 4) § 16 Rn. 8; Emmerich/Sonnenschein/Habersack Kon3 4

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Gleiches gilt für andere Formen der Abhängigkeit im Sinne von § 17 AktG. Denn da unter diese Norm nur Einflussmöglichkeiten fallen, die ihre Basis in der Beteiligung bzw. – vereinsrechtlich gesprochen – in der Mitgliedschaft haben, ist der Verein mit der nach Köpfen abstimmenden Mitgliederversammlung als maßgeblichem Organ für eine solche Form der Abhängigkeit wenig anfällig. Immerhin kann eine Mitgliedschaft durch Sonderrechte so „ausgebaut“ werden, dass von einer Abhängigkeit im Sinne von § 17 Abs. 1 AktG gesprochen werden kann. 9 2. Wirtschaftliche Abhängigkeit In der Praxis ist die Abhängigkeit von Vereinen meist nicht vereinsrechtlicher, sondern wirtschaftlicher Natur. Zahlreiche Vereine haben nur einen oder jedenfalls nur einen maßgeblichen Sponsor oder Auftraggeber. Symptomatisch ist ein Fall, den das OLG Köln zu entscheiden hatte. Hier hatte der beklagte Verein Zuwendungen, die er vom Bundesministerium für Frauen und Jugend erhalten hatte, jahrelang an einen Verein zur Förderung berufspezifischer Ausbildung weitergeleitet (GFBA). Dieser hatte daraufhin entsprechende Kapazitäten zur Durchführung der geförderten Sprachkurse für Aussiedler aufgebaut. Zwischen beiden Vereinen bestanden zahlreiche personelle Verflechtungen, sowohl auf der Ebene der Mitglieder, wie auch der Geschäftsführung. Als die Nachfrage nach Sprachkursen aufgrund entsprechender Vorgaben des Bundesministeriums sank, musste der GFBA Konkurs anmelden. Der Konkursverwalter nahm den Beklagten mit der Begründung auf Verlustausgleich in Anspruch, das Fehlen jeder Vorsorge für den Fall des Rückgangs der Aufträge stelle eine missbräuchliche Ausübung von Leitungsmacht dar.10 Solche Formen der Abhängigkeit lassen sich nicht unter den aktienrechtlichen Abhängigkeitsbegriff subsumieren, da Basis der Abhängigkeit nicht die Mitgliedschaft im Verein ist.

III. Haftungstatbestände für Mitglieder 1. Analogien zum Aktienkonzernrecht Nur das Konzernrecht der AG ist kodifiziert. Dies hat zusammen mit der maßgeblichen wirtschaftlichen Bedeutung der Konzerne unter Beteiligung von Aktiengesellschaften dazu geführt, dass diese Regeln als Leitbild für die zernrecht, 7. Aufl., § 37 II 1; MünchHdb AG -Krieger (Fn. 7) § 68 Rn. 28; Sprengel (Fn. 7) S. 102 ff.; a. A. Flume, Juristische Person, 1983, § 7 II 2: Mehrstimmrechte unzulässig. 9 Emmerich/Sonnenschein/Habersack KonzernR (Fn. 8) § 37 II 1; Sprengel (Fn. 7) S. 105 f. 10 OLG Köln AG 1999, 92.

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Entwicklung eines auch für andere Rechtsformen maßgeblichen Konzernrechts zumindest zeitweilig gedient haben.11 Auch für Konzerne mit Vereinen als abhängige Unternehmen im Sinne von §§ 15 ff. AktG hat man eine Analogie zum Aktienkonzernrecht namentlich zu §§ 302, 303 AktG erwogen.12 Die praktische Bedeutung dieser Frage sollte nicht überschätzt werden. Wie geschildert sind Stimmenmehrheit und sonstige mitgliedschaftliche Einflussnahmen, die soweit gehen, dass von einer Abhängigkeit im Sinne von §§ 15 ff. AktG die Rede sein könnte, in Vereinen selten. Die Judikatur kennt soweit ersichtlich kein einziges Beispiel. Ganz unabhängig davon, wie häufig eine solche Konstellation ist, kann eine Analogie zu den Vorschriften des Aktienkonzernrechts nicht überzeugen. Denn ein festes Grundkapital, um dessen Schutz es im Aktienkonzernrecht zumindest auch geht, hat ein Verein im Unterschied zur AG von vornherein nicht. Auch kann der im Hintergrund der aktienrechtlichen Regeln stehende Konzernkonflikt, also die Gefahr der Verlagerung von Gewinnchancen von einem abhängigen Unternehmen auf die Konzernspitze oder ein ihr nahestehendes Unternehmen, meist schon deshalb nicht entstehen, weil ein Verein typischerweise nicht auf Gewinnerzielung ausgerichtet ist. Wirtschaftliche Vereine, bei denen dies anders sein kann, sind kaum je abhängige Konzernmitglieder. Sollte dies aber doch einmal der Fall sein, so kann der Schutz von Gläubigern und außenstehenden Mitgliedern nicht davon abhängig gemacht werden, ob das „herrschende Mitglied“ Unternehmen im Sinne des Aktiengesetzes ist, ob es also noch andere wirtschaftliche Interessenbindungen neben dem Verein aufweist.13 Genau das ist aber der Ausgangspunkt des Aktienkonzernrechts und damit auch seine Schwäche. Daher sollte entgegen einer in der Literatur vertretenen Meinung 14 auch im Falle einer qualifiziert faktischen Abhängigkeit 15 die Lösung nicht in einer Analogie zu §§ 302 ff. AktG gesucht werden.

siehe die Ausführungen bei Karsten Schmidt Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., § 17 III . OLG Köln AG 1999, 92, 93; Sprengel (Fn. 7) S. 85 ff., 171 ff. 13 MünchKommAktG-Bayer (Fn. 4) § 15 Rn. 13; Hüffer AktG (Fn. 4) § 15 Rn. 8 ff. 14 Emmerich/Sonnenschein/Habersack KonzernR (Fn. 8) § 37 II 2; Sprengel (Fn. 7) S. 188. 15 Definition und Schilderung der Entwicklung der Judikatur zu diesem Punkt bei Emmerich/Sonnenschein/Habersack KonzernR (Fn. 8) §§ 28, 31. 11 12

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2. Haftung wegen Verstoßes gegen die mitgliedschaftliche Treuepflicht Jedes Mitglied schuldet aufgrund der mitgliedschaftlichen Sonderrechtsbeziehung dem Verein eine gewisse Rücksichtnahme auf dessen Belange.16 Hierzu kann auch die Wahrung des Vereinsvermögens zählen. Welche Pflichten im Einzelnen aus der Sonderrechtsbeziehung zwischen Verein und Mitglied folgen, hängt von der Größe des Vereins und der Stellung des Mitglieds im Verein ab. Während ein einfaches Mitglied eines Massenvereins (etwa des ADAC) ähnlich wie einen Kleinaktionär gegenüber seiner AG so gut wie keine Treuepflicht trifft, ist dies bei Mitgliedern eines kleinen Vereins mit vielleicht sogar erheblichem Einfluss auf das Vereinsgeschehen anders. Wer etwa Mitglied eines kleinen Künstlervereines ist, kann unter Umständen sogar zur aktiven Teilnahme an einem Künstlerfest verpflichtet sein. Wer Mitglied in einem Verein mit dem Zweck der Suche von Sponsoren für ein bestimmtes Projekt ist, ist verpflichtet, sich für diesen Zweck meldende Sponsoren nicht stattdessen von der Notwendigkeit der Unterstützung anderer Ziele zu überzeugen. Der Vorteil dieser die Treuepflicht in den Mittelpunkt der Betrachtung stellenden Lösung gegenüber einer Analogie zum Aktienkonzernrecht liegt auf der Hand.17 Jedes Mitglied, gleichgültig ob Unternehmen und gleichgültig ob beherrschend im Sinne des Aktiengesetzes, ist an diese Pflicht gebunden. Sachwidrige Differenzierungen, die diese Kriterien mit sich bringen, entfallen. 3. Durchgriffshaftung Während Verstöße gegen die mitgliedschaftliche Treupflicht zur Haftung gegenüber dem Verein führen, hat die Durchgriffshaftung eine Außenhaftung des Mitglieds gegenüber den Gläubigern des Vereins zur Folge. Dieser Unterschied ist für das Mitglied allerdings nicht von maßgeblicher Bedeutung: Zahlen muss es in beiden Fällen. a) Materielle Unterkapitalisierung In der Literatur ist eine Durchgriffshaftung für den Fall erwogen worden, dass eine juristische Person mit einem absolut unzureichendem Kapital am Geschäftsverkehr teilnimmt.18 Wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung 16 Hadding in Soergel, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 13. Aufl., § 38 Rn. 23; Emmerich/Sonnenschein/Habersack KonzernR (Fn. 8) § 37 II 2; Grunewald Gesellschaftsrecht, 5. Aufl., 2. A. 67; Lutter AcP 180 (1980) S. 84,102; Reuter in Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 4. Aufl., § 38 Rn. 41; Westermann in Erman, Handkommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 10. Aufl., § 38 Rn. 1. 17 im Ergebnis so auch Emmerich/Sonnenschein/Habersack KonzernR (Fn. 8) § 37 II 2; Sprengel (Fn. 7) S. 173 ff. für den Fall, dass der Verein abhängig im Sinne des Aktiengesetzes ist. 18 Schilderung bei Eckhold, Materielle Unterkapitalisierung, 2002, S. 121; Grunewald (Fn. 16) 2. A. 62 ff.; Karsten Schmidt (Fn. 11) § 9 IV 4; Raiser, Recht der Kapitalgesellschaf-

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hat eine Entscheidung zum Vereinsrecht gehabt.19 Ein Verein hatte von dem späteren Kläger ein Gelände gepachtet, das er seinen Mitgliedern, den Beklagten, unterverpachtet hatte. Eine vom Kläger gerichtlich durchgesetzte Pachterhöhung gab der Verein nicht an seine Mitglieder weiter. Infolgedessen wurde er insolvent. Der BGH hat die Klage des Verpächters gegen die Vereinsmitglieder, gerichtet auf anteilige Pachtzahlung, für begründet gehalten. Da der Verein keine andere Aufgabe hatte, als die Abrechnung der Pacht für den Kläger zu erleichtern, die Vereinsmitglieder zudem über die prozessuale Durchsetzung der Pachterhöhung genau unterrichtet waren, hätten sie – so das Urteil – dafür Sorge tragen müssen, dass im Falle des Prozessgewinns des Verpächters die zur Begleichung der Schuld benötigten Mittel auch vorhanden waren. In einem solchen Falle sei es rechtsmissbräuchlich, wenn sich die Mitglieder auf die Zwischenschaltung der juristischen Person berufen würden. Im Ergebnis überzeugt das Urteil. Doch darf man nicht vergessen, dass die Fallgestaltung wirklich extrem gelagert war.20 Hier wurde der Gläubiger von den Mitgliedern sehenden Auges um seine Ansprüche gebracht. Im Normalfall führt eine unzureichende Finanzausstattung eines Vereins nicht zur Haftung der Mitglieder. Denn jedenfalls Vertragsgläubiger wissen, dass sie sich auf ein Rechtsgeschäft mit einem eingetragenen Verein einlassen und daher kein Mindest- oder gar angemessenes Kapital erwarten können. Für die Vereinsmitglieder gilt demgegenüber, dass sie nicht damit rechnen müssen, für die Schulden des Vereins haftbar gemacht zu werden. Wer die Mitgliedschaft in einem eingetragenen Verein erwirbt, hat auch nicht etwa die Pflicht, für ein ordnungsgemäßes Finanzgebahren seines Vereins Sorge zu tragen. Daher kommt, wenn keine besonderen Umstände vorliegen, nur dann eine Haftung der Mitglieder für die Schulden des Vereins in Frage, wenn es auf der Hand liegt, dass die Finanzausstattung des Vereins absolut unzureichend ist. Auch dann haften aber nur die Mitglieder, von denen aufgrund ihrer Stellung im Verein ein Tätigwerden erwartet werden kann. Da es um Pflichten gegenüber dem Verein geht, sollte diese Haftung entgegen der geschilderten Judikatur zu Ansprüchen des Vereins und nicht seiner Gläubiger führen.21

ten, 3. Aufl., § 29 Rn. 29; ders. FS Lutter, 2000, S. 637, 647; GroßKommAktG-Windbichler (Fn. 7) § 36 Rn. 35; ablehnend für den Verein Sprengel (Fn. 7) S. 115. 19 BGHZ 54, 222; umfassende Schilderung der Judikatur bei Raiser (Fn. 18) § 29 Rn. 29; MünchKomm BGB -Reuter (Fn. 16) Vor § 21 Rn. 36 ff., Wiedemann Gesellschaftsrecht 1980, S. 568 ff. 20 Ehricke AcP 199 (1999) S. 258, 265. 21 Eckhold (Fn. 18) S. 307 ff.; Grunewald (Fn.16) 2. A. 62; Karsten Schmidt (Fn. 11) § 9 IV 4 c; offen Raiser FS Lutter (Fn.18) S. 637, 648; Erman-Westermann (Fn. 16) Vor § 21 Rn. 6.

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b) Vermögensvermischung Noch in einem weiteren Fall wird vielfach von einer Haftung des Vereinsmitglieds für die Schulden des Vereins ausgegangen, nämlich wenn die Vermögenssphären von Verein und Mitglied nicht getrennt sind, wenn sich also nicht ermitteln lässt, welcher Gegenstand zum Vereinsvermögen zählt und welcher zum Vermögen des Mitglieds.22 Dieser vorwiegend für die Kapitalgesellschaften entwickelte Tatbestand ist für das Vereinsrecht weniger bedeutsam. Einschlägige Urteile sind nicht bekannt. Erneut ist aber darauf hinzuweisen, dass es um die Entwicklung von Pflichten des Mitglieds gegenüber seinem Verein geht. Daher kann Folge eines Verstoßes nur eine Haftung gegenüber dem Verein, nicht gegenüber seinen Gläubigern sein. Zudem kann nicht jedes, sondern nur das Mitglied in Anspruch genommen werden, das diese Pflichten schuldhaft verletzt hat. Geschuldet ist Schadensersatz.23 c) Existenzvernichtende Eingriffe Die Judikatur zum existenzvernichtenden Eingriff ist für die GmbH entwickelt worden und hat dort die Rechtsprechung zum sog. qualifiziert faktischen Konzern abgelöst. Das Verbot der Existenzgefährdung dient dem Gläubigerschutz und soll verhindern, dass die Gesellschafter die Existenz der Gesellschaft entgegen einem Mindestmaß an ordentlichem kaufmännischen Verhalten aufs Spiel setzen. 24 Diese Haftung setzt voraus, dass einer GmbH das Gesellschaftsvermögen ohne angemessene Rücksichtnahme auf seine Zweckbindung entzogen wird, so dass die Gesellschaft die Fähigkeit zur Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten verliert. Die Haftung richtet sich nicht nur gegen die Gesellschafter, die selbst von diesem Vermögensentzug profitiert haben, sondern auch gegen Gesellschafter, die anderweitig an dem Vermögensentzug mitgewirkt haben. 25 Diese Judikatur kann nur dann auf den Verein übertragen werden, wenn sie nicht ihren Grund in dem Schutz eines festen Kapitals hat, das zwar eine GmbH, nicht aber ein Verein vorzuweisen hat. In den einschlägigen Urteilen wird zwar immer wieder auf die der Kapitalerhaltung dienenden Normen des GmbH-Rechts Bezug genommen. Gleichwohl geht es aber nicht um eine Ab22 Grunewald (Fn. 16) 2. A. 64; Soergel BGB -Hadding (Fn. 16) vor § 21 Rn. 36; Raiser FS Lutter (Fn. 18) S. 637, 645; MünchKomm BGB -Reuter (Fn. 16) vor § 21 Rn. 32 ff; Karsten Schmidt (Fn. 11) § 9 IV 2 a. 23 Grunewald (Fn. 16) § 2 F Rn. 251; Karsten Schmidt (Fn. 11) § 9 IV 2 a; nach Raiser FS Lutter (Fn. 18) S. 637, 645 erfolgt der Durchgriff auf die Mitglieder, die zur Vermischung beigetragen haben oder davon profitiert haben. 24 BGHZ 149, 10; BGHZ 151, 181; BGH ZIP 2002, 848; Borgard, Gesellschaftsrecht in der Diskussion, 2002, S. 42; Röhricht FS 50 Jahre BGH 2000, S. 83, 117; weitere Nachweise in Fn. 1. 25 Darstellung bei Lutter/Banerjea ZGR 2003, 402, 405; Ulmer JZ 2002, 1049.

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sicherung dieser Bestimmungen, sondern um einen darüber hinausgehenden Aspekt des Gläubigerschutzes, gewissermaßen um einen Bestandsschutz im Interesse der Gläubiger. 26 Aspekte des Gläubigerschutzes haben gerade auch für den Verein Bedeutung. Zwar kann ein Gläubiger eines Vereins nicht von einem festen oder gar angemessenen Vereinsvermögen ausgehen. Dass die Mitglieder vorhandenes Vermögen aber nicht schlicht zu ihren Gunsten abziehen mit der Folge, dass der Verein insolvent wird, darauf darf auch ein Vereinsgläubiger vertrauen. Denn auch Vereinsvermögen ist zweckgebunden und steht den Mitgliedern nicht zur freien Verfügung. Auch einem Verein darf nicht durch Entzug seines Vermögens die Möglichkeit genommen werden, seine Verbindlichkeiten zu erfüllen. Allerdings dürfen die Besonderheiten eingetragener Vereine nicht außer Acht gelassen werden. Bei vielen Vereinen fehlt es – auch für die Gläubiger erkennbar – an einem qualifizierten Management. Daher können nur eklatant unvertretbare Verhaltensweisen zur Haftung führen. Jedenfalls bei der Übertragung dieser Judikatur auf den Verein sollte es bei einer Schadensersatzhaftung gegenüber dem Verein bleiben. 27 Die Übernahme eines darüber hinaus gehenden Risikos, das bei Kapitalgesellschaften mit Beweisproblemen gerechtfertigt werden mag, 28 kann für den Verein schon deshalb nicht überzeugen, weil hier jedenfalls typischerweise mit der Tätigkeit von Laien zu rechnen ist. Sie mit einer verschuldensunabhängigen, unbeschränkten persönlichen Haftung für die Vereinsschulden zu belasten, wäre alles andere als sachgerecht.

IV. Haftungstatbestände für Nichtmitglieder Die bislang diskutierten Tatbestände knüpfen an die Mitgliedschaft an. Gerade im Vereinsrecht kann es vorkommen, dass die maßgeblichen und einflussreichen Personen gar nicht Mitglieder sind. Denn da die Mitgliedschaft regelmäßig keinen (direkten) Vermögenswert hat, ist auch das Interesse an der Mitgliedschaft für manche Personen geringer. Daher liegt es nahe, nach Haftungstatbeständen Ausschau zu halten, die auch für Personen bedeutsam werden können, die nicht Mitglied des Vereins sind.

26 Lutter/Banerjea ZGR 2003, 402, 413; Raiser FS Ulmer 2003, 493, 500; auf eine unzulässige Erhöhung des Risikos bzw. der Insolvenzwahrscheinlichkeit stellen Roth NZG 2003, 1081, 1082 bzw. Bitter WM 2001, 2133, 2141 ab. 27 Generell für eine Innenhaftung Borgard (Fn. 24) S. 45, 47 ff; Karsten Schmidt (Fn. 11) § 9 IV 4 c bb; Ulmer ZIP 2001, 2021, 2026; für eine Innenhaftung bei pflichtwidriger Geschäftsführung Altmeppen ZIP 2002, 1553, 1562; dagegen Lutter/Banerjea ZGR 2003, 402, 412; Wiedermann ZGR 2003, 283, 291; differenzierend Schön ZHR 168 (2004), 268, 284 ff. 28 Lutter/Banerjea ZGR 2003, 402, 412.

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1. Sphärenvermischung Von einer Sphärenvermischung spricht man, wenn die Trennung zweier Rechtssubjekte nach außen nicht hinreichend deutlich wird. 29 Ist dies der Fall, so kann der Gläubiger beide in Anspruch nehmen. Im Grunde genommen ist dies nichts weiter als eine konsequente Anwendung des Vertretungsrechts. 30 Regelmäßig tritt eine Person als Vertreter für zwei Gesellschaften auf, wobei unklar ist, für welche er nun handelt. Hier greift die Regel für unternehmensbezogene Geschäfte, nach der der Vertreter eines Unternehmens im Zweifel das Rechtsgeschäft immer im Namen dieses Unternehmens abschließt, ein. 31 Für einen Verein kann nichts anderes gelten. Welches Unternehmen (Verein) vertreten ist, bestimmt sich aus der Sicht des Vertragspartners. Kann dieser aufgrund eines einheitlichen Auftritts nicht erkennen, dass es sich um mehrere verschiedene Rechtspersonen handelt, so sind alle vertreten. 32 Sollte eine entsprechende Vertretungsmacht für diesen Verein fehlen, kommt es zur Anwendung von § 179 BGB . 2. Konzernrechtliche Vertrauenshaftung Für Unternehmensgruppen ist mehrfach diskutiert worden, ob ein einheitliches Auftreten gegenüber Dritten zur Haftung der Mitglieder dieser Gruppe führt. Es geht dabei im Kern um die Frage, inwieweit die Erwartungen Dritter, dieses übereinstimmende Auftreten führe zu einer Haftung der als Einheit sich präsentierenden Gesellschaften, von der Rechtsordnung geschützt werden. 33 Diese Problematik kann auch für „Vereinsgruppen“ relevant werden, da auch insoweit einheitliche Logos und Namenskerne verwendet werden. Da es um Vertrauensschutz geht, setzen diese Grundsätze nicht voraus, dass der in Anspruch Genommene Mitglied des jeweiligen Vereins ist. Das geschilderte einheitliche Auftreten kann im Einzelfall zu einer Haftung nach den Regeln der Duldungs- bzw. der Anscheinsvollmacht führen. 34 Sofern ein Verein das einheitliche Auftreten fördert oder duldet, ohne zugleich dafür Sorge zu tragen, dass die rechtliche Verschiedenheit der einzelnen Gruppenmitglieder etwa durch entsprechende Namenszusätze deutlich wird, sind die Kriterien der Anscheinsvollmacht erfüllt. Insofern handelt es sich um einen Fall der Sphärenvermischung. Karsten Schmidt (Fn. 11) § 9 IV 2 b. Karsten Schmidt (Fn. 11) § 9 IV 2 b; Fleischer ZHR 163 (1999) S. 461, 471 und Raiser FS Lutter (Fn. 18) S. 637, 646 sprechen von Vertrauenshaftung. 31 Habermeier in Bamberger/Roth, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 2003, § 164 Rn. 25. 32 Fleischer ZHR 163 (1999), 461, 471. 33 Fleischer ZHR 163 (1999), 461, 463. 34 Fleischer ZHR 163 (1999), 461, 473. 29 30

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Darüber hinausgehend wird für Unternehmen diskutiert, ob allein die Verwendung konzerneigener Firmenbestandteile bzw. anderer Hinweise auf eine Konzernzugehörigkeit – für Vereine hieße das die Verwendung identischer Logos oder Namensbestandteile – zur Haftung führt. Zu Recht wird dies jedenfalls in neuerer Zeit allgemein abgelehnt. 35 Die Vertragspartner eines Unternehmens – für Vereine gilt nichts anderes – wissen, dass allein ein einheitliches Logo nicht besagt, dass jeder, der dieses Kennzeichen verwendet, für jeden anderen Verwender haftet, 36 zumal gerade in den letzten Jahren die Verwendung berühmter Marken durch rechtlich selbständige Einheiten üblich geworden ist. Eine Haftung über die jeweilige Einheit hinaus kann daher nur greifen, wenn weitere Voraussetzungen erfüllt sind. Hierzu zählt – sofern man eine konzernrechtliche Vertrauenshaftung überhaupt anerkennt 37 – eine Erklärung gegenüber einem Vertragspartner, die zumindest in die Richtung einer Garantiezusage geht. 38 Solche Erklärungen werden zugunsten von Vereinen kaum abgegeben. Sie lagen auch in dem geschilderten Fall des OLG Köln nicht vor. 3. Haftung nach Deliktsrecht Vereinsexterne haften gegenüber einem Verein jedenfalls nach den Regeln des Deliktsrechts. Dies ist selbstverständlich und soll hier auch nicht näher erläutert werden. Im Hinblick auf den eingangs geschilderten Fall des OLG Köln ist der Vollständigkeit halber aber die Frage zu untersuchen, ob auch Vereinsexterne nach den Grundsätzen des existenzvernichtenden Eingriffs haften. Dies setzt voraus, dass es sich um eine deliktische Anspruchsgrundlage handelt. Diese Frage ist in einem anderen Zusammenhang bereits diskutiert worden. Ausgelöst durch die Inspire Art-Entscheidung des EuGH 39 hat man untersucht, ob die Rechtsprechung zum existenzvernichtenden Eingriff deliktsrechtlich einzuordnen ist, da man davon ausgeht, dass sie dann – unabhängig vom anwendbaren Gesellschaftsrecht bei entsprechendem Handlungs- oder Erfolgsort – auch für Gesellschaften ausländischer Rechts-

35 Fleischer ZHR 163 (1999), 461, 479; Lutter ZGR 1982, 218, 256; Karsten Schmidt (Fn. 11) § 17 I 2 b; a.A. Wiedermann (Fn. 19) S. 237 f.; zurückhaltender ders., Die Unternehmensgruppe im Privatrecht, 1988, S. 90: Firma des herrschenden Unternehmens bei der Tochter mit Funktionsbezeichnung (X-Vertriebsgesellschaft) und weitere Voraussetzungen (Personalunion der Geschäftsführer) kann zur Haftung führen. 36 Fleischer ZHR 163 (1999), 461, 479. 37 Kritisch Habersack in Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 4. Aufl., vor § 765 Rn. 54; Horn in Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, vor § 765 Rn. 419. 38 Druey FS Lutter 2000, S. 1069, 1087; Fleischer ZHR 163 (1999), 461, 481. 39 EuGH NJW 2003, 3331.

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form relevant seien würde. 40 Im Ergebnis ist man sich insofern weitgehend einig, als diese Haftung zumindest auch deliktsrechtliche Komponenten hat und damit wohl § 826 BGB zugeordnet werden könnte. 41 Unabhängig davon, ob man dieser deliktsrechtlichen Einordnung folgt, ist kaum denkbar, dass ein Dritter nach diesen Regeln zur Verantwortung gezogen werden wird. Der eingangs geschilderte Fall des OLG Köln zeigt dies deutlich. Dritte stoppen vielleicht die Zufuhr ihrer Mittel an den Verein. Eingriffe in das Vereinsvermögen tätigen sie aber nicht. Allein die Tatsache, dass die Hoffnung auf weitere Mittel getrogen hat, führt aber nicht zur Haftung des ehemaligen Sponsors. Niemand ist außerhalb verbindlicher Zusagen verpflichtet, einem Dritten weiterhin Mittel zur Verfügung zu stellen.

V. Zusammenfassung 1. Die Haftung von Vereinsmitgliedern gegenüber ihrem Verein für Einflussnahmen auf den Verein beruht auf der mitgliedschaftlichen Treuepflicht, die Verein und Mitglied miteinander verbindet. Vereinsmitglieder haften für eine Vermögensvermischung, in Extremfällen auch für eine absolut unzureichende Kapitalausstattung und auch für existenzvernichtende Eingriffe in das Vereinsvermögen. Spezielle konzernrechtliche Haftungstatbestände in Analogie zum Aktienrecht greifen nicht ein. 2. Vereinsexterne haften nach Deliktsrecht. Eine auf § 826 BGB gestützte Haftung für Eingriffe in das Vereinsvermögen kann gegeben sein.

Kindler NZG 2003, 1086, 1090; Zimmer NJW 2003, 3585, 3589. Kindler NZG 2003, 1086, 1090; Schanze/Jüttner AG 2003, 661, 664; offen Zimmer NJW 2003, 3585, 3589; aA Spindler; Beispiele für eine auf § 826 BGB gestützte Haftung bei Westermann NZG 2002, 1129, 1135. 40 41

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Die Einbeziehung des Tochtervorstands in das Aktienoptionsprogramm der Muttergesellschaft – ein Problem der §§ 311 ff. AktG? Mathias Habersack

Inhaltsübersicht Seite

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Aktienrechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einräumung selbständiger Bezugsrechte auf eigene oder neue Aktien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bedingtes Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eigene Aktien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sonstige Optionsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Problemstellung und Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fallgestaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stand der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Dominanz skeptischer Stimmen . . . . . . . . . . . . . . . . b) Befürworter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Wortlaut des § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG im Lichte der kritischen Begleitung des Gesetzgebungsverfahrens durch das Schrifttum . . . . V. Systemwidrigkeit eines Verbots der Einbeziehung von Tochtervorständen in das Aktienoptionsprogramm der Mutter . . . . 1. Die Zulässigkeit des „faktischen“ Konzerns als Ausgangspunkt der Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wahrung der Vermögensinteressen der abhängigen Gesellschaft . 3. Die Zulässigkeit von Vorstandsdoppelmandaten . . . . . . . . . 4. Der den §§ 311 ff. AktG immanente Interessenkonflikt . . . . . . 5. Das vermeintliche Verbot konzernweiter Aktienoptionsprogramme: Ein Relikt des qualifizierten faktischen Konzerns . . . . . . . . . 6. Die Geltung der §§ 311 ff. auch für die Einpersonen -AG . . . . . . 7. Erfordernis tochterspezifischer Erfolgsziele? . . . . . . . . . . . VI. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung Das Recht der Stock Options, vor nicht einmal zehn Jahren in das Bewusstsein der deutschen Aktienrechtler gedrungen,1 hat sich rasant entwickelt. 2 Zunächst galt es, den Vorteilen von Aktienoptionsprogrammen, darunter insbesondere der Schaffung von Anreizen für eine an der langfristigen Wertsteigerung orientierten Unternehmensstrategie, durch die Zulassung reiner, also nicht mit einer Wandelanleihe verbundener Bezugsrechte auf neue oder alte Aktien Rechnung zu tragen. 3 Die nicht wenigen Bilanzskandale zu Beginn dieses Jahrhunderts haben sodann die negativen Anreizwirkungen von Aktienoptionen deutlich werden lassen und auf verschiedenen Ebenen „Gegenmaßnahmen“ hervorgerufen. Die Stationen dieser Entwicklung sind bekannt: Angestoßen durch die Regierungskommission Corporate Governance 4 hat sich zunächst der Deutsche Corporate Governance Kodex der Problematik angenommen, wobei namentlich die zum 21. 5. 2003 in Kraft getretenen Änderungen 5 für größere Transparenz des Vergütungssystems, für die Einführung anspruchsvoller und relevanter Vergleichsparameter sowie für die Angemessenheit der Gesamtvergütung sowie der einzelnen Vergütungsbestandteile sorgen sollen. Der – gleichfalls am 21. 5. 2003 vorgelegte – Aktionsplan der EG -Kommission „Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union“6 will gemeinschaftsweit für die Offenlegung der Vergütungsstrategie sorgen, Aktienbezugs- und Aktienoptionspläne einem Zustimmungsvorbehalt zugunsten der Hauptversammlung unterstellen und für einen angemessenen Ausweis der der Gesellschaft entstehenden Kosten im Jahresabschluss sorgen. 7 Letztgenanntes petitum hat zwischenzeitlich der International Accounting Standards Board aufgegriffen und in dem neuen „International Financial Reporting Standard 2“ bestimmt, dass Un1 Vgl. namentlich Baums FS Claussen, 1997, S. 3 ff.; Hüffer ZHR 161 (1997), 214 ff.; Kohler ZHR 161 (1997), 246 ff.; Lutter ZIP 1997, 1 ff.; Martens AG 1996, 337 ff.; ders. AG 1997, August-Sonderheft, S. 9 ff.; Menichetti DB 1996, 1688 ff; Peltzer AG 1996, 307 ff.; aus kapitalmarkt- und steuerrechtlicher Sicht Feddersen ZHR 161 (1997), 269 ff. 2 Guter Überblick über Verlauf und Stand der Entwicklung bei Martens, FS Ulmer, 2003,

S. 399 ff. 3 Dazu sogleich unter II . 2.; zur Terminologie s. Habersack, in: Münchener Kommentar zum AktG, 2. Aufl., § 221 Rn. 25. 4 Baums (Hrsg.), Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, 2001, Rn. 41 ff., 64, 226, 257 ff. 5 Dazu ZIP 2003, A 43 (Nr. 135). – Der Kodex kann in seiner aktuellen Fassung unter http://www.corporate-governance-code.de/ abgerufen werden. 6 Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament ( KOM [2003] 284 endg.); Abdruck in NZG 2003, Sonderbeilage zu Heft 13; dazu Habersack NZG 2004, 1 ff.; Maul/Lanfermann/Eggenhofer BB 2003, 1289 ff.; Wiesner ZIP 2003, 977 ff. 7 Dazu Expertengruppe Europäisches Gesellschaftsrecht ZIP 2003, 863, 870; Habersack NZG 2004, 1, 6 f.

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ternehmen künftig aktienbasierte Vergütungsregelungen in ihrer Rechnungslegung zu berücksichtigen haben. 8 Einen vorläufigen Schlusspunkt hat die Entscheidung des II . Zivilsenats des BGH in Sachen MobilCom gesetzt, 9 der zufolge Mitgliedern des Aufsichtsrats – ganz in Übereinstimmung mit dem Wortlaut der §§ 192 Abs. 2 Nr. 3, 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 5, 2. Halbs. AktG – weder Optionsrechte auf neue noch solche auf eigene Aktien der Gesellschaft eingeräumt werden können. Während die vorstehend angedeuteten Fragen die Gemüter erhitzt und eine lebhafte literarische Vor- und Nachbereitung erfahren haben, ist ein anderer Fragenkreis aus dem Recht der Stock Options bislang nur in Ansätzen erörtert. Die Rede ist von der Einbeziehung von Geschäftsleitern verbundener Unternehmen in das Aktienoptionsprogramm der Muttergesellschaft. Es bietet sich deshalb an, dieser Frage in einem dem Jubilar10 gewidmeten Beitrag nachzugehen.

II. Aktienrechtlicher Rahmen 1. Einräumung selbständiger Bezugsrechte auf eigene oder neue Aktien Die Gewährung selbständiger Bezugsrechte auf Aktien der Gesellschaft ist in §§ 192 Abs. 2 Nr. 3, 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 5 AktG geregelt. a) Bedingtes Kapital Die Hauptversammlung einer AG kann zunächst nach § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG eine bedingte Kapitalerhöhung beschließen, um Bezugsrechte an Arbeitnehmer und Mitglieder der Geschäftsführung der Gesellschaft oder eines verbundenen Unternehmens zu gewähren. Die derzeitige Fassung des § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG geht bekanntlich auf das KonTraG 11 zurück; es hat zugleich in § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG die Zuständigkeit für die inhaltliche Ausgestaltung des Aktienoptionsprogramms auf die Hauptversammlung verlagert. Bis zum Inkrafttreten des KonTraG hatte § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG einen deutlich engeren Anwendungsbereich: Das bedingte Kapital war nach Börsen-Zeitung vom 20. 2. 2004 (Nr. 35), S. 7. BGH NJW 2004, 1109. 10 Thomas Raiser hat sich wiederholt mit Fragen des Konzernrechts befasst; aus dem Kreis der konzernrechtlichen Fragen gewidmeten Veröffentlichungen jüngeren Datums seien genannt: Raiser Recht der Kapitalgesellschaften, 3. Aufl., 2001, §§ 50 ff.; ders. ZGR 1995, 156 ff.; ders. ZGR 1996, 465 ff.; ders. FS Kropff, 1997, S. 243 ff.; ders. FS Ulmer, 2003, S. 493 ff. 11 Art. 1 Nr. 26 des Gesetzes zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich vom 27. 4. 1998, BGBl . I, S. 786; s. dazu die Nachweise in Fn. 1. 8 9

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§ 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG a.F. nur zur Gewährung von Bezugsrechten an Arbeitnehmer der Gesellschaft zum Bezug neuer Aktien gegen Einlage von Geldforderungen aus einer den Arbeitnehmern von der Gesellschaft eingeräumten Gewinnbeteiligung zugelassen. Mit der Neuregelung wollte der Gesetzgeber es zum einen ermöglichen, das Management zu einer an der langfristigen Wertsteigerung orientierten Unternehmensstrategie zu motivieren; zum anderen sollten deutsche Gesellschaften in die Lage versetzt werden, entsprechende Vergütungskomponenten als Faktor im Wettbewerb um Führungskräfte einzusetzen.12 Nach ganz herrschender Meinung umfasst der Begriff der „verbundenen Unternehmen“ im Sinne des § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG zwar sämtliche Unternehmensverbindungen im Sinne der §§ 15 ff. AktG, freilich nur in dem Sinne, dass Arbeitnehmer und Organwalter nachgeordneter Konzerngesellschaften (einschließlich abhängiger Gesellschaften) an Vergütungsprogrammen der übergeordneten verbundenen Unternehmen teilnehmen.13 Eine Bezugsberechtigung von Organen der Mutter auf Aktien der Tochter kann danach also nicht begründet werden; hierauf wird zurückzukommen sein.14 b) Eigene Aktien Das KonTraG hat es den Gesellschaften darüber hinaus ermöglicht, eigene Aktien zur Bedienung von Aktienoptionen ihrer Führungskräfte zu verwenden.15 Grundlage hierfür ist § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG. Danach bedarf es – in Abweichung von dem in § 71 Abs. 1 Nr. 2 AktG geregelten Tatbestand des Erwerbs zum Zwecke der Ausgabe von Belegschaftsaktien – nicht nur eines den Erwerb deckenden Beschlusses der Hauptversammlung, sondern darüber hinaus eines Beschlusses, der die Abgabe der Aktien an die Optionsberechtigten legitimiert.16 Was den Beschluss über die Abgabe der Aktien betrifft, so sieht § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 5, 2. Halbs. AktG die entsprechende Anwendung des § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG vor. Dadurch soll verhindert werden, dass durch die Bedienung von Optionen aus eigenen Aktien die für das bedingte Kapital geltenden Anforderungen an den Inhalt des Erhöhungsbeschlusses unterlaufen werden.17 Dagegen lassen sich § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG Begr. RegE, BT-Drucks. 13/9712, S. 23. Vgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 13/9712, S. 24; Hüffer AktG, 6. Aufl., 2004, § 192 Rn. 20; Hoffmann-Becking NZG 1999, 797, 803; a.A. Krieger in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 4: Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 1999, § 63 Rn. 31. 14 Unter IV. 15 Begr. RegE, BT-Drucks. 13/9712, S. 14. 16 Vgl. dazu LG Berlin DB 2000, 765, aber auch Oechsler in Münchener Kommentar zum AktG, 2. Aufl., § 71 Rn. 223. 17 Näher dazu sowie zur Frage, ob der Verweis in § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 5 AktG auf § 186 Abs. 3 und 4 AktG auch in den Fällen des § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG eingreift, MünchKommOechsler (Fn. 16) § 71 Rn. 221 f.; S. Friedrichsen Aktienoptionsprogramme für Führungs12 13

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Einschränkungen hinsichtlich des Kreises der Bezugsberechtigten nicht entnehmen; vorbehaltlich aus §§ 311 ff. AktG abzuleitender Bedenken spricht deshalb nichts dagegen, dass die Hauptversammlung die Abgabe eigener Aktien an Führungskräfte verbundener Unternehmen gestattet. 2. Sonstige Optionsmodelle Auch nach Inkrafttreten der §§ 71 Abs. 1 Nr. 8, 192 Abs. 2 Nr. 3, 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG bleibt es der Gesellschaft unbenommen, Aktienoptionen über die Ausgabe von Options- oder Wandelanleihen gemäß § 221 Abs. 1, 2 AktG zu gewähren.18 Schon mit Blick auf das in § 221 Abs. 4 AktG geregelte Erfordernis eines Bezugsrechtsausschlusses hat man allerdings diesen Weg nach Inkrafttreten des KonTraG allenfalls beschritten, um die Mitglieder des Aufsichtsrats in ein Aktienoptionsprogramm einzubeziehen; ob die MobilCom-Entscheidung des BGH dies weiter zulässt, sei hier dahin gestellt.19 Entsprechendes gilt für „virtuelle“ Optionen, sei es in Form von „Phantom Stocks“ oder von „Stock appreciation rights“. Sie haben aus Sicht der Gesellschaft den Vorteil, dass es, soweit es um die Vergütung des Vorstands geht, eines Hauptversammlungsbeschlusses nicht bedarf. Der Nachteil besteht in der Notwendigkeit barer Zahlung durch die Gesellschaft. In Betracht kommt weiter das „Stuttgarter Modell“, mithin ein auf dem Erwerb und der anschließenden Weitergabe von Drittoptionen auf Aktien der Gesellschaft basierendes Vergütungskonzept. 20 Für keines dieser Alternativmodelle lässt sich dem AktG ein ausdrückliches Verbot der Einbeziehung von Führungskräften verbundener Unternehmen entnehmen.

III. Problemstellung und Meinungsstand 1. Fallgestaltungen Die Einbeziehung von Führungskräften der Tochtergesellschaft in ein konzernweites, auf der Ebene der Muttergesellschaft angesiedeltes Aktienkräfte, 2000, S. 221 ff.; allgemein zur Frage eines aus § 71 Abs. 1 AktG herzuleitenden Andienungs- und Erwerbsrechts der Aktionäre Habersack ZIP 2004, 1121 ff. 18 Begr. RegE, BT-Drucks. 13/9712, S. 23; OLG Stuttgart ZIP 1998, 1482, 1485; LG München I AG 2001, 376, 377; Baums (Fn. 4) Rn. 45; Hüffer (Fn. 13) § 192 Rn. 15, 19. 19 Dafür Baums (Fn. 4) Rn. 226 (mit Empfehlung, § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG auf alle vergütungshalber gewährten Optionsrechte zu erstrecken); dagegen Habersack ZGR 2004, 721, 728 ff. mwN. 20 Näher Mutter/Mikus ZIP 2001, 1949 ff.; Martens (Fn. 2) S. 408 ff.; Weiß Aktienoptionspläne für Führungskräfte, 1999, S. 253 ff.; allgemein zur Zulässigkeit der Begebung von selbständigen Optionsrechten nach § 221 MünchKomm-Habersack (Fn. 3) § 221 Rn. 36 ff. mwN.

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optionsprogramm begegnet in verschiedenen Varianten. So ist zunächst der Fall betroffen, dass die Führungskraft der Tochter weder Organmitglied noch Angestellter des herrschenden Unternehmens ist. Denkbar ist aber auch, dass ein Vorstandsmitglied der abhängigen Gesellschaft am Aktienoptionsprogramm des herrschenden Unternehmens aufgrund der Wahrnehmung organschaftlicher Funktionen innerhalb des herrschenden Unternehmens oder auf der Basis eines Anstellungsvertrags mit diesem teilnimmt. In beiden Konstellationen geht es indes im Kern um dieselbe Frage, nämlich um die Zulässigkeit eines auf den Aktienkurs der Mutter oder ein anderes mutterdefiniertes Erfolgsziel bezogenes Aktienoptionsprogramm und die damit verbundene Motivation auch der begünstigten Vorstandsmitglieder und sonstigen Führungskräfte der abhängigen Gesellschaft zur Steigerung des Kurses oder Ergebnisses der Mutter. 2. Stand der Diskussion a) Dominanz skeptischer Stimmen Die Problematik ist bereits im Vorfeld des Inkrafttretens des KonTraG erörtert worden. So hat sich Baums in einer Anhörung zum Referentenentwurf dafür ausgesprochen, die Gewährung von Optionen auf Aktien der Mutter an Organwalter der Tochter nur im Vertragskonzern sowie – im „faktischen“ Konzern – beim Fehlen von Minderheitsaktionären zuzulassen. 21 Damit hat er sich gegen die seinerzeit vorliegende Fassung des Referentenentwurfs eines KonTraG 22 ausgesprochen, der – insoweit 23 in Übereinstimmung mit § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG – die Gewährung von Bezugsrechten auch an Mitglieder der Geschäftsführung verbundener Unternehmen vorsah. Zur Begründung heißt es bei Baums, dass der Geschäftsleiter eines abhängigen Unternehmens, dem eine Option auf Aktien der Muttergesellschaft gewährt wird, den Anreiz erhalte, den Aktienkurs der Obergesellschaft, u. U. auch zum Nachteil seiner Gesellschaft, zu maximieren. Das sei jedenfalls in Tochtergesellschaften eines faktischen Konzerns mit außenstehenden Minderheitsgesellschaftern nicht hinnehmbar; die §§ 311 ff. AktG reichten als Schutz hiergegen nicht aus. Umgekehrt vermittle die Vergabe von Optionen auf Aktien einer börsennotierten Tochter den Anreiz, vorrangig deren Kurs zu pushen – gleichfalls unter Vernachlässigung des Interesses der eigenen Unternehmung. Aus diesen Gründen sei die Vergabe von Optionen auf Aktien anderer als der eigenen Gesellschaft Baums AG 1997, August-Sonderheft, S. 26, 35 f.; ders. FS Claussen, 1997, S. 3, 12. Abdruck in ZIP 1996, 2129, 2193. 23 Nach dem Referentenentwurf sollten zudem sonstige Organmitglieder und damit auch die Mitglieder des Aufsichtsrats der Gesellschaft oder eines verbundenen Unternehmens einbezogen werden können; s. dazu noch unter IV. 21

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außerhalb eines Vertragskonzerns ganz auszuschließen. Optionen auf Aktien einer Muttergesellschaft an Geschäftsleiter einer 100 %-Tochter bedürften im Hinblick auf Doppelmandate im Konzern besonderer Transparenz. Dieser Meinung haben sich zahlreiche weitere Autoren angeschlossen. So soll nach Ansicht von Hüffer die Einbeziehung verbundener Unternehmen nur dann unproblematisch sein, „wenn bei ihnen außenstehende Gesellschafter nicht vorhanden sind oder wenn [ein] Beherrschungsvertrag besteht“; im Übrigen soll es „kaum zu rechtfertigen sein, allein [die] Wertentwicklung der Aktien der Obergesellschaft als Erfolgsparameter einzusetzen“. Denkbar sei jedoch, „tochterspezifische Erfolgsziele (…) zu entwickeln und [die] Teilnahme am Aktienoptionsprogramm daran zu knüpfen“. 24 Ähnlich haben sich Frey, Hoffmann-Becking, Wagner und Zitzewitz geäußert. 25 Seibert zufolge ist bei Tochtergesellschaften, die sich nicht im hundertprozentigen Besitz der Gesellschaft befinden, mit Blick auf die außenstehenden Eigentümer „sorgfältig zu prüfen“, ob eine einseitige Motivation von deren Organen und Führungskräften auf die Wertentwicklung bei der Mutter zu rechtfertigen ist. 26 Differenzierter äußert sich Hirte. Nach ihm sollen zunächst Optionsrechte außer Betracht bleiben, bei denen die möglichen Gewinne im Verhältnis zum übrigen Geschäftsleitereinkommen nur geringfügig sind. Im Übrigen ließe sich der Konflikt dadurch entschärfen, dass bei Geschäftsleitern von verbundenen Unternehmen additiv Erfolgsziele in bezug auf Mutterund Tochtergesellschaft vorgegeben werden. 27 b) Befürworter Konzernweite Aktienoptionsprogramme finden freilich auch Befürworter. So will es namentlich Krieger bei dem klaren Wortlaut des § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG bewenden lassen und in der Folge sowohl Optionen von Mutterorganen auf Tochteraktien als auch Optionen der Organwalter nicht 100 %-iger Töchter auf Mutteraktien zulassen. 28 Auch Martens steht der Einbeziehung von Tochtervorständen in ein Aktienoptionsprogramm der Mutter aufgeschlossen gegenüber. 29 Er stellt schon die aus Sicht der Tochter nachteilige Anreizwirkung derartiger Programme in Zweifel und verweist Hüffer (Fn. 13) § 192 Rn. 20. Frey in Großkommentar zum AktG, 4. Aufl., § 192 Rn. 101, § 193 Rn. 68; HoffmannBecking NZG 1999, 797, 803; Wagner in: Heidel, Anwaltkommentar Aktienrecht, 2003, § 193 Rn. 14; Zitzewitz NZG 1999, 698, 700 f. 26 Seibert in: Pellens (Hrsg.), Unternehmenswertorientierte Entlohnungssysteme, 1998, S. 29, 42. 27 Hirte in: RWS -Forum 15, Gesellschaftsrecht 1999, 2000, S. 211, 215. 28 MünchHdb-Krieger (Fn. 13) § 63 Rn. 31. 29 Martens (Fn. 2) S. 416 f. 24 25

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im Übrigen auf das Einzelausgleichssystem der §§ 311 ff. AktG. Klawitter und Friedrichsen schließlich stellen auf die Ausgestaltung des Aktienoptionsprogramms im Einzelfall ab und sprechen sich klar gegen die Annahme aus, jede Einbeziehung des Tochtervorstands in ein Aktienoptionsprogramm der Mutter sei unzulässig. 30 Entsprechendes gilt wohl für Kallmeyer, der freilich die Einholung des Einverständnisses etwaiger Minderheitsgesellschafter empfiehlt. 31 c) Fazit Eine Durchsicht des einschlägigen Schrifttums ergibt nach allem ein diffuses Bild. Stimmen, die sich generell und einschränkungslos für die Unzulässigkeit der Einbeziehung des Vorstands einer mehrgliedrigen abhängigen AG in ein Aktienoptionsprogramm der Mutter aussprechen, stehen solche gegenüber, die den Schutz der abhängigen AG durch §§ 311 ff. AktG als ausreichend und folglich ein entsprechendes Aktienoptionsprogramm als zulässig erachten. Zwischen diesen beiden Polen stehen Autoren, die auf die Ausgestaltung des Programms im Einzelfall abstellen und sich weder für ein generelles Verbot noch für die generelle Zulässigkeit aussprechen.

IV. Wortlaut des § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG im Lichte der kritischen Begleitung des Gesetzgebungsverfahrens durch das Schrifttum Der Wortlaut des § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG spricht, daran kann kein Zweifel bestehen, eindeutig gegen die von wesentlichen Teilen des Schrifttums befürwortete Einschränkung, wonach nur die Vorstände vertraglich konzernierter oder 100 %-iger Tochtergesellschaften in ein Aktienoptionsprogramm der Mutter einbezogen werden dürfen. Nun liefert der Wortlaut einer Vorschrift in Zeiten, in denen namentlich systematische und teleologische Erwägungen, aber auch die Abstimmung des nationalen Rechts mit den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts eine überragende Bedeutung erlangt haben, häufig nicht mehr als eine erste Annäherung an die Problemlösung. Anders verhält es sich indes in Fällen, in denen dem Gesetzgeber die in Frage stehende Problematik sehr wohl bewusst war und er sich in Kenntnis derselben für einen bestimmten Wortlaut entschieden hat.

30 Klawitter in Achleitner/Wollmert (Hrsg.), Stock Options, 2. Aufl., 2002, S. 71 f.; Friedrichsen (Fn. 17) S. 209 f. 31 Kallmeyer AG 1999, 97, 102 f.

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So verhält es sich im vorliegenden Zusammenhang. In der Begründung des Regierungsentwurfs, mithin in den nach der Stellungnahme von Baums verfassten Materialien, heißt es nämlich: 32 „Bei Tochtergesellschaften, die sich nicht im hundertprozentigen Besitz der Gesellschaft befinden, wird mit Blick auf die außenstehenden Eigentümer sorgfältig zu prüfen sein, ob eine einseitige Motivation von deren Organen und Führungskräften auf die Wertentwicklung bei der Mutter zu rechtfertigen ist. Unproblematisch ist die Einbeziehung im Vertragskonzern. Eine Bezugsberechtigung von Organen der Mutter auf Aktien der Tochter sieht die Entwurfsregelung nicht vor.“ Im Zusammenhang mit § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG kann man darüber hinaus lesen, dass „Doppelbezüge von Vorständen, die zugleich gesetzliche Vertreter in Töchtern sind, tunlichst zu meiden“ seien. 33 Der Umstand, dass der Gesetzgeber von einer – zuvor von Baums geforderten – Beschränkung des Anwendungsbereichs des § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG auf vertraglich konzernierte und 100 %-ige Tochtergesellschaften abgesehen hat, lässt darauf schließen, dass er eine solch weitgehende Beschränkung nicht wollte. Andernfalls wäre es unschwer möglich gewesen, eine entsprechende Einschränkung im Wortlaut des § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG hinreichend klar zum Ausdruck zu bringen. Dies gilt zumal vor dem Hintergrund, dass der Regierungsentwurf durchaus Änderungen gegenüber dem Referentenentwurf aufwies. So war im Referentenentwurf noch die Gewährung von Aktienoptionen an „Organmitglieder“ (und damit auch an Mitglieder des Aufsichtsrats) der Gesellschaft und verbundener Unternehmen vorgesehen. 34 Schon der Regierungsentwurf hat sich für die sodann Gesetz gewordene Beschränkung auf Mitglieder der Geschäftsführung entschieden, und in der Folge hat der BGH in der schon erwähnten MobilCom-Entscheidung die Einbeziehung von Aufsichtsräten in ein Aktienoptionsprogramm – unter anderem unter Hinweis auf Entstehungsgeschichte und eindeutigen Wortlaut des § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG – strikt abgelehnt. 35 Der vorstehende Befund schließt es zwar nicht von vornherein aus, entsprechende Optionsprogramme im Einzelfall auf ihre Vereinbarkeit mit §§ 311 ff. AktG hin zu überprüfen. In diesem Sinne ließe sich auch die Bemerkung in dem Regierungsentwurf verstehen, wonach mit Blick auf die außenstehenden Eigentümer sorgfältig zu prüfen sei, ob eine einseitige Motivation von deren Organen und Führungskräften auf die Wertentwicklung bei der Mutter zu rechtfertigen sei. Ob damit allerdings seitens der Ent32 33 34 35

BT-Drucks. 13/9712, S. 23 f. Begr. RegE, BT-Drucks. 13/9712, S. 23. Vgl. Lutter ZIP 1997, 1, 7.

Vgl. die Nachweise in Fn. 9.

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wurfsverfasser tatsächlich die §§ 311 ff. AktG als normative Schranke für ein konzernweites Aktienoptionsprogramm angesprochen sind oder ob in der Bemerkung eher ein unverbindlicher Appell an die verantwortlichen Aktionäre und Organwalter zu sehen ist, lässt sich nicht mit hinreichender Gewissheit sagen. Immerhin spricht die Erwägung, dass „Doppelbezüge von Vorständen, die zugleich gesetzliche Vertreter in Töchtern sind, tunlichst zu meiden sind“, eher für die Annahme eines bloß appellierenden Charakters. Dies gilt zumal bei einem Vergleich mit der gleichfalls in der Regierungsbegründung getroffenen Feststellung, dass eine Bezugsberechtigung von Organen der Mutter auf Aktien der Tochter nicht vorgesehen sei. Zwar kommt diese (angebliche) Einschränkung des Anwendungsbereichs des § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG im Wortlaut dieser Vorschrift keineswegs zum Ausdruck. Dieser spricht vielmehr allgemein von der Möglichkeit, Geschäftsleiter verbundener Unternehmen in ein Aktienoptionsprogramm der Gesellschaft einzubeziehen, ohne zwischen übergeordneten und nachgeordneten Konzerngesellschaften zu unterscheiden.36 Wollte man indes mit der überwiegenden Ansicht37 einer entsprechenden Reduktion des Anwendungsbereichs des § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG das Wort reden, so könnte man sich insoweit immerhin auf einen eindeutigen Hinweis in den Materialien auf den diesbezüglichen Willen des Gesetzgebers stützen. Hinsichtlich der Einbeziehung von Tochtervorständen in ein Aktienoptionsprogramm der Mutter fehlt es dagegen hieran. Zumal vor dem Hintergrund, dass sich namentlich Baums unmittelbar vor Verabschiedung des Regierungsentwurfs für die Unzulässigkeit der Einbeziehung von Vorständen einer nur faktisch konzernierten und über Minderheitsaktionäre verfügenden AG in ein Aktienoptionsprogramm der Mutter ausgesprochen hat, kommt diesem Befund durchaus erhebliche Bedeutung zu.

V. Systemwidrigkeit eines Verbots der Einbeziehung von Tochtervorständen in das Aktienoptionsprogramm der Mutter 1. Die Zulässigkeit des „faktischen“ Konzerns als Ausgangspunkt der Betrachtung Das verbreitet angenommene Verbot einer Einbeziehung des Tochtervorstands in ein Aktienoptionsprogramm der Mutter muss sich darüber hinaus der Frage der Vereinbarkeit mit dem System der §§ 311 ff. AktG stellen. 36 MünchHdb.-Krieger (Fn. 13) § 63 Rn. 31 spricht sich denn auch für die Maßgeblichkeit des Wortlauts und damit für die Möglichkeit einer Einbeziehung von Mutter-Vorständen in ein Tochter-Aktienoptionsprogramm aus; s. ferner Hoffmann-Becking NZG 1999, 797, 803, der immerhin die Ausgabe solcher Aktienoptionen der Mutter an ihre Vorstände zulässt, deren Ausübung an tochterdefinierte Erfolgsziele gekoppelt ist. 37 S. die Nachweise in Fn. 13.

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Diesbezüglich kann davon ausgegangen werden, dass die §§ 311 ff. AktG von der Zulässigkeit – oder besser gesagt: der Rechtmäßigkeit – einfacher Konzernverhältnisse ausgehen. Im älteren Schrifttum war dies zwar umstritten. 38 Die heute ganz überwiegende Ansicht geht indes – sehr zu Recht – davon aus, dass die §§ 311 ff. AktG Konzernleitung ohne Beherrschungsvertrag zulassen, mithin die „Ausübung faktischer Konzernleitungsmacht nicht unterbinden, sondern nur begrenzen und ihre Folgen regeln“. 39 Auf der Basis dieses Grundverständnisses ist es sodann nur konsequent, in den §§ 311 ff. AktG nicht nur Vorschriften zum Schutze der Minderheitsaktionäre und Gläubiger der abhängigen Gesellschaft zu erblicken, sondern zugleich die Grundlage für ein Organisationsrecht des einfachen (faktischen) Konzerns, das sich namentlich in den Rechtsfolgen einer nachteiligen Einflussnahme niederschlägt. Sofern nämlich das herrschende Unternehmen den Nachteil nach Maßgabe des § 311 Abs. 2 AktG ausgleicht, treten namentlich (i) die strengen Kapitalerhaltungsregeln der §§ 57, 62 AktG und (ii) die allgemeinen Haftungstatbestände, insbesondere die Haftung des herrschenden Unternehmens wegen Treupflichtverletzung und aus § 117 AktG sowie die Haftung des Vorstands und Aufsichtsrats der abhängigen Gesellschaft aus §§ 93, 116 AktG, zurück. Anders gewendet bedeutet dies: Eine Einflussnahme, die aus Sicht des abhängigen Unternehmens nachteiligen Charakter hat, ist ungeachtet des Umstands, dass sie nach allgemeinem Aktienrecht verboten wäre und scharfe Sanktionen auslösen würde, erlaubt, wenn sie unter Einhaltung der Schutzmechanismen der §§ 311 ff. AktG erfolgt. Den §§ 311 ff. AktG kommt damit nachgerade die Funktion einer „Privilegierung“ des herrschenden Unternehmens und des einfachen Konzerns zu. 40 Nicht zuletzt die in § 311 Abs. 2 AktG vorgesehene Möglichkeit des gestreckten Nachteilsausgleichs fördert den Aufbau dezentral geführter Konzerne und soll dadurch eine Alternative zu dem (typischerweise straff und zentralistisch geführten) Vertragskonzern bieten; dies ist nicht zuletzt aus wettbewerbspolitischen Gründen durchaus zu begrüßen. 41 38 Vgl. namentlich Würdinger in Großkommentar zum AktG, 3. Aufl., 1975, § 311 Anm. 5; s. ferner Reuter ZHR 146 (1982), 1, 10; heute in der Tendenz wohl auch Lieb FS Lutter, 2000, S. 1151, 1156 f., 1163 f. 39 So Kropff in Münchener Kommentar zum AktG, 2. Aufl., vor § 311 Rn. 4, § 311 Rn. 28; Koppensteiner in Kölner Kommentar zum AktG, 2. Aufl., vor § 311 Rn. 6, § 311 Rn. 103; Hüffer (Fn. 13) § 311 Rn. 6; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 3. Aufl., 2003, § 311 Rn. 8; Lutter AG 1990, 179; Hommelhoff Die Konzernleitungspflicht, 1982, S. 109 ff.; offen gelassen von Raiser (Fn. 10) § 53 Rn. 3. 40 KölnKomm-Koppensteiner (Fn. 39) vor § 311 Rn. 3; Habersack (Fn. 39) § 311 Rn. 2; Hommelhoff (Fn. 39) S. 124 f.; Lutter/Timm BB 1978, 836, 838 f.; Mülbert, ZHR 163 (1999), 1, 22 ff.; s. ferner MünchKomm-Kropff (Fn. 39) § 311 Rn. 31; K. Schmidt FS Lutter, 2000, S. 1167, 1179 ff. 41 So denn auch Stellungnahme der Bundesregierung zum VII . Hauptgutachten der Monopolkommission, BT-Drucks. 11/4804, S. 16; ferner Rittner ZGR 1990, 203, 211 ff.; allgemein zu den ökonomischen Vorteilen faktischer Konzerne Schenk BFuP 1997, 652, 658.

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2. Wahrung der Vermögensinteressen der abhängigen Gesellschaft Die §§ 311 ff. AktG enthalten ungeachtet der ihnen eigenen „Privilegierungsfunktion“ eine Reihe von Schutzmechanismen zugunsten der abhängigen Gesellschaft, der Aktionärsminderheit und der Gläubiger. Insbesondere muss, wie §§ 311, 317 AktG unmissverständlich erkennen lassen, die Konzernleitung durch das herrschende Unternehmen unter strikter Wahrung der Vermögensinteressen der abhängigen Gesellschaft erfolgen. Obschon also § 311 AktG das allgemeine Schädigungsverbot und die Grundsätze über die Vermögensbindung außer Kraft setzt, soll dies doch unter dem Vorbehalt stehen, dass sämtliche Nachteile, die die abhängige Gesellschaft durch die einzelne Einflussnahme erleidet, vollumfänglich nach Maßgabe des § 311 Abs. 2 AktG ausgeglichen werden. Bei Lichte betrachtet nimmt § 311 AktG also eine Überlagerung der Autonomie und des Eigenwillens der abhängigen Gesellschaft durch den Willen der Konzernspitze – mithin durch das Partikularinteresse eines Aktionärs – und damit die Einbindung der abhängigen Gesellschaft in die allgemeine Gruppenpolitik hin, sofern nur die nachteiligen Folgen für das Vermögen der abhängigen Gesellschaft ausgeglichen werden. 42 Es dürfte unbestritten sein, dass der Vorstand der abhängigen Gesellschaft zwar nicht verpflichtet ist, einer Veranlassung zur einer nachteiligen Maßnahme durch das herrschende Unternehmen zu folgen. Unbestritten dürfte aber auch sein, dass der Vorstand auf Veranlassung des herrschenden Unternehmens eine für die abhängige Gesellschaft vorteilhafte oder jedenfalls nicht nachteilige Maßnahme ergreifen darf. Und schließlich dürfte es heute unbestritten sein, dass der Vorstand auf Veranlassung des herrschenden Unternehmens eine für die abhängige Gesellschaft nachteilige Maßnahme vornehmen darf, sofern (i) die Maßnahme im Konzerninteresse liegt, (ii) der Nachteil ausgleichsfähig ist und (iii) das herrschende Unternehmen zum Ausgleich der zu erwartenden Nachteile nach Maßgabe des § 311 Abs. 2 AktG bereit und imstande ist. 43 Nicht zuletzt hierin kommt die schon erwähnte Überlagerung der Autonomie und des Eigenwillens der abhängigen Gesellschaft klar zum Ausdruck: Der Vorstand darf, solange nur die Vermögensinteressen der Gesellschaft gewahrt sind, Veranlassungen durch das herrschende Unternehmen auch dann nachkommen, wenn die Maßnahme zwar dem Einzelinteresse der abhängigen Gesellschaft zuwiderläuft, wohl aber im Konzerninteresse liegt.

42 Zur Beurteilung von Nachteil und Vorteil aus der Sicht ex ante s. statt aller MünchKomm-Kropff (Fn. 39) § 311 Rn. 142, 229 f. 43 Vgl. etwa Habersack (Fn. 39) § 311 Rn. 78, MünchHdb.-Krieger (Fn. 13) § 69 Rn. 24; aus dem älteren Schrifttum Geßler FS H. Westermann, 1974, S. 145, 156 f.

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3. Die Zulässigkeit von Vorstandsdoppelmandaten Dem „konzernoffenen“ Charakter der §§ 311 ff. AktG entspricht es, dass nach heute ganz herrschender, auch von Raiser geteilter Meinung so genannte Vorstandsdoppelmandate, d. h. die Ernennung ein und derselben Person zum Mitglied des Vorstands des herrschenden und eines abhängigen Unternehmens, im Grundsatz zulässig sind. 44 Dies folgt schon aus § 88 Abs. 1 Satz 2 AktG, der davon ausgeht, dass Vorstandsmitglieder mit Einwilligung des Aufsichtsrats Mitglied des Vorstands einer anderen Gesellschaft sein können. Entsprechende Vorstandsdoppelmandate begründen insbesondere nicht den Tatbestand eines „qualifizierten faktischen Konzerns“: 45 Selbst wenn man diesen Tatbestand im Aktienrecht noch anerkennen wollte, 46 würde er doch nicht an eine Konzernstruktur, sondern allenfalls an eine bestimmte Form der Einflussnahme anknüpfen, mithin verhaltensorientiert sein. 4. Der den §§ 311 ff. AktG immanente Interessenkonflikt Darf somit der Vorstand der abhängigen Gesellschaft vom herrschenden Unternehmen veranlasste, mit Nachteilen verbundene Maßnahmen ergreifen und damit die von ihm geführte Gesellschaft der Gruppenpolitik unterordnen, so wird deutlich, dass sich der Vorstand der abhängigen Gesellschaft in einem permanenten Interessenkonflikt befindet; schließlich hat er Tag für Tag und in dem Bewusstsein der Personalhoheit des typischerweise durch das herrschende Unternehmen kontrollierten Aufsichtsrats zu entscheiden, ob und inwieweit er auf der Autonomie der abhängigen Gesellschaft beharrt oder sich (in aktienrechtlich zulässiger Weise) in die Gruppenpolitik einbinden lässt. In besonderem Maße gilt dies im Falle eines Doppelmandats, das vor allem gewählt wird, um die Gruppenpolitik durchzusetzen und abzusichern. 47 Allerdings darf die rechtliche Tragweite dieses Interessenkonflikts nicht überbewertet werden: Indem es §§ 311 ff. AktG dem Vorstand der abhängigen Gesellschaft ausdrücklich gestatten, sich fremder Einflussnahme insoweit zu öffnen, als dies unter Wahrung der Vermögensinteressen der abhän44 Raiser (Fn. 10) § 53 Rn. 12 („hat sich als Mittel der Konzernsteuerung bewährt“); Hoffmann-Becking ZHR 150 (1986), 570, 574 ff.; Semler FS Stiefel, 1987, S. 719, 732 ff.; aus der Rechtsprechung LG Köln AG 1992, 238, 240. 45 Näher Raiser (Fn. 10) § 53 Rn. 12; Krieger ZGR 1994, 375, 386; Kort in Großkommentar zum AktG, 4. Aufl., § 76 Rn. 178 ff.; MünchKomm-Kropff (Fn. 39) Anh. § 317 Rn. 84; Habersack (Fn. 39) § 311 Rn. 35, Anh. § 317 Rn. 13, 22; a.A. Säcker, ZHR 151 (1987), 59, 65 ff. 46 Dazu noch unter V. 5. 47 Raiser (Fn. 10) § 53 Rn. 12; Decher Personelle Verflechtungen im Aktienkonzern, 1990, S. 135 ff.

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gigen Gesellschaft geschieht, tragen sie gerade – unter realistischer Einschätzung der realen Gegebenheiten (§ 84 AktG) – dem Interessenkonflikt in der Person der Organwalter Rechnung. Denn nach § 311 AktG darf sich der Vorstand der abhängigen Gesellschaft letztlich so verhalten, als sei der Zweck der von ihm geführten Gesellschaft zumindest auch auf die Interessen des herrschenden Unternehmens ausgerichtet. 48 Dahinter steht die Erwägung, dass der Konzernerfolg letztlich auch der abhängigen Gesellschaft zugute kommt und somit Konzern- und Partikularinteressen bei einer Einheitsbetrachtung durchaus parallel laufen, herrschendes und abhängiges Unternehmen somit eine Schicksalsgemeinschaft bilden. 49 Hält man sich diese Zusammenhänge vor Augen, so wird deutlich, dass die Einbeziehung des Tochtervorstands in ein Aktienoptionsprogramm der Mutter einen Interessenkonflikt nicht zur Entstehung bringt, sondern allenfalls einen ohnehin bestehenden und vom Gesetz als solchen hingenommenen Interessenkonflikt verstärkt. Ungeachtet des in der Person des Vorstands der abhängigen Gesellschaft bestehenden Interessenkonflikts setzt das Schutzkonzept der §§ 311 ff. AktG bekanntlich bei der konkreten, d. h. sich in der Veranlassung einer nachteiligen Maßnahme äußernden Einflussnahme des herrschenden Unternehmens auf die abhängige Gesellschaft an. Hierdurch unterscheidet es sich von dem Recht des Vertragskonzerns, das – ebenso wie die auf europäischer Ebene zunächst favorisierte organische Konzernverfassung50 – bei der Struktur der Unternehmensverbindung ansetzt und den Schutz der außenstehenden Aktionäre und Gläubiger dadurch besorgt, dass es ohne Rücksicht auf konkrete Einflussnahmen und damit anlassunabhängig das unternehmerische Risiko der abhängigen Gesellschaft auf das herrschende Unternehmen verlagert. Vor dem Hintergrund dieser Dichotomie der Schutzkonzepte des Aktienkonzernrechts müsste es als systemwidrig bezeichnet werden, wollte man das anlassabhängige Schutzkonzept der §§ 311 ff. AktG ausgerechnet bei Partizipation des Tochtervorstands an einem Aktienoptionsprogramm des herrschenden Unternehmens in ein anlassunabhängiges Konzept umschlagen lassen. Genau hierauf läuft aber die unter III . 2. a) referierte Literaturmeinung hinaus, der zufolge eine solche Partizipation allgemein unzulässig sein soll. Der Systembruch dieser Ansicht tritt noch deutlicher zu Tage, wenn man sich vergegenwärtigt, dass § 88 Abs. 1 Satz 2 AktG Vorstandsdoppelmandate im Konzern hinnimmt, 51 und weiter bedenkt, dass das AktG in seinem 48 Vgl. etwa Habersack (Fn. 39) § 311 Rn. 2; MünchKomm-Kropff (Fn. 39) § 311 Rn. 313; Mülbert Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, 1995, S. 281. 49 MünchKomm-Kropff (Fn. 39) § 311 Rn. 313, 335; für vorliegenden Zusammenhang Martens (Fn. 2) S. 417. 50 Dazu Habersack Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl., 2003, Rn. 58 f.; Schwarz Europäisches Gesellschaftsrecht, 2000, Rn. 899 ff. 51 S. unter V. 3.

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§ 87 Abs. 1 AktG seit eh und je und im Zusammenspiel mit § 88 Abs. 1 Satz 2 auch in Bezug auf den Konzernvorstand, der zugleich Tochtervorstand ist, eine erfolgsbezogene Vergütung ausdrücklich zulässt. Der Interessenkonflikt, in dem sich ein solcher Vorstand befindet, ist stärker als der Konflikt, in dem sich das Vorstandsmitglied einer abhängigen Gesellschaft befindet, das, ohne Organwalter oder Führungskraft des herrschenden Unternehmens zu sein, an einem Aktienoptionsprogramm desselben teilnimmt. Wenn das Aktiengesetz in seinen §§ 87 Abs. 1, 88 Abs. 1 Satz 2 das Doppelmandat unter Gewährung einer erfolgsabhängigen Vergütung durch das herrschende Unternehmen hinnimmt und auf die Funktionsfähigkeit des Einzelausgleichssystems der §§ 311 ff. AktG vertraut, so kann die Teilnahme des Tochtervorstands an einem Aktienoptionsprogramm der Mutter als solche schwerlich unvereinbar mit §§ 311 ff. AktG sein. Was schließlich die Teilnahme eines Tochtervorstands, der zugleich Vorstandsmitglied oder Führungskraft der Mutter ist, an einem Aktienoptionsprogramm der Mutter betrifft, so entspricht sie dem in §§ 87 Abs. 1, 88 Abs. 1 Satz 2 AktG anerkannten Fall des Doppelmandats mit erfolgsabhängiger Vergütung durch die Mutter. Allein der Umstand, dass die erfolgsabhängige Vergütung nicht in Form einer Tantieme, sondern in Form von Bezugsrechten auf Mutteraktien erfolgt, vermag die Unvereinbarkeit eines solchen Vorgehens mit §§ 311 ff. AktG nicht zu begründen. Mit der Öffnung des bedingten Kapitals in § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG für entsprechende Vergütungsprogramme ist vielmehr allein eine neue Art der erfolgsabhängigen Vergütung geschaffen, nicht dagegen ein Paradigmenwechsel in der konzernrechtlichen Beurteilung entsprechender konzernweiter Vergütungsprogramme zum Ausdruck gebracht. 5. Das vermeintliche Verbot konzernweiter Aktienoptionsprogramme: Ein Relikt des qualifizierten faktischen Konzerns Bei Lichte betrachtet dürfte es sich bei der Lehre von der Unzulässigkeit einer Teilnahme von Vorstandsmitgliedern der abhängigen Gesellschaft an einem Aktienoptionsprogramm der Mutter um ein Relikt der über lange Zeit geführten Diskussion über den so genannten „qualifizierten faktischen Konzern“ handeln. Insbesondere im Gefolge der so genannten „Video“-Entscheidung des BGH sah man bekanntlich eine solche Unternehmensverbindung verbreitet bei Vorhandensein einer die dauernde und umfassende Einflussnahme ermöglichenden Konzernstruktur verwirklicht. 52 In diesem Zusammenhang hat man bisweilen angenommen, der Tatbestand des quali52 Vgl. BGHZ 115, 187; näher dazu die Beiträge in Hommelhoff/Stimpel/Ulmer Heidelberger Konzernrechtstage: Der qualifizierte faktische GmbH-Konzern, 1992; zum Aktienrecht Heyder Der qualifizierte faktische Aktienkonzern, 1997, S. 175 ff.

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fizierten faktischen Konzerns werde bereits durch die Existenz von Vorstandsdoppelmandaten begründet. 53 Spätestens die TBB -Entscheidung hat sich hiervon distanziert und den Haftungstatbestand auf ein Verhaltenselement zurückgeführt, nämlich auf die dem Einzelausgleich nicht zugängliche Nachteilszufügung. 54 Ob an dieser Rechtsprechung für das Aktienrecht festzuhalten ist, nachdem sich der BGH nunmehr für das GmbH-Recht gänzlich vom Tatbestand des „qualifizierten faktischen Konzerns“ distanziert und die Haftung des alleinigen Gesellschafters (unabhängig von seiner Unternehmenseigenschaft) auf die Existenzvernichtung der Gesellschaft gründet, kann im vorliegenden Zusammenhang dahin gestellt bleiben. 55 Entscheidend ist, dass der aktienrechtliche Tatbestand des „qualifizierten faktischen Konzerns“, sollte er denn anzuerkennen sein, nichts anderes als eine „qualifizierte“, d. h. dem Einzelausgleich nach §§ 311, 317 AktG nicht zugängliche Nachteilszufügung umschreibt und damit wie §§ 311, 317 AktG selbst verhaltensbezogen zu verstehen ist. 56 Ebenso wie Vorstandsdoppelmandate vermag deshalb auch die Teilnahme von Tochtervorständen an einem Aktienoptionsprogramm der Mutter als solche den Tatbestand der „qualifizierten Nachteilszufügung“ nicht zu begründen. Vor diesem Hintergrund aber ist kein Raum für die Annahme, ein solches Aktienoptionsprogramm sei mit §§ 311 ff. AktG unvereinbar. 6. Die Geltung der §§ 311 ff. auch für die Einpersonen-AG Es kommt hinzu, dass die namentlich von Baums und Hüffer vertretene Ansicht, ein konzernweites, auch die Tochtervorstände einbeziehendes Aktienoptionsprogramm könne (soweit es an mutterspezifische Erfolgsziele anknüpfe) im „faktischen“ Konzern nur beim Fehlen von Minderheitsaktionären hingenommen werden, 57 einer weiteren Grundwertung der §§ 311 ff. AktG widerspricht. Diese geht dahin, dass für das Eingreifen der §§ 311 ff. AktG nicht zwischen der mehrgliedrigen AG und der Einpersonen- AG zu unterscheiden ist. 58 Anders als das umfassende Schädigungsverbot des GmbH-Rechts finden also die Schutzinstrumentarien der §§ 311 ff. AktG, 53 So namentlich Säcker ZHR 151 (1987), 59, 65 ff.; ähnlich J. Mai Aktionärsschutz und Minderheitenschutz bei der Abwehr unkoordinierter Übernahmen börsennotierter Aktiengesellschaften, 2004, S. 63 f.; Nachweise zur herrschenden Gegenansicht s. unter V. 3. 54 BGHZ 122, 123. 55 Zur Aufgabe der Lehre vom „qualifizierten faktischen Konzern“ s. BGHZ 149, 10, 16; BGHZ 151, 181, 186 ff.; zu den Folgen für das Aktienrecht s. Habersack (Fn. 39) Anh. § 317 Rn. 4 ff. mwN. 56 Vgl. Habersack (Fn. 39) Anh. § 317 Rn. 9 ff.; MünchKomm-Kropff (Fn. 39) Anh. § 317 Rn. 34 ff. 57 S. die Nachweise in Fn. 21, 24. 58 MünchKomm-Kropff (Fn. 39) § 312 Rn. 27; Habersack (Fn. 39) § 311 Rn. 13, § 312 Rn. 6; kritisch Götz AG 2000, 498 ff.; dagegen wiederum Bachmann NZG 2001, 961, 970.

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darunter insbesondere der umfassende Schutz der Vermögensbelange der abhängigen Gesellschaft und die Verpflichtung zur Erstellung eines Abhängigkeitsberichts, auch dann Anwendung, wenn die abhängige Gesellschaft nicht über Minderheitsaktionäre verfügt. 59 Dann aber vermag es nicht einzuleuchten, in einem konzernweiten, auch Tochtervorstände umfassenden Aktienoptionsprogramm einen Verstoß gegen §§ 311 ff. AktG erblicken zu wollen, hiervon indes die abhängige Einpersonen- AG auszunehmen. Will man ein den Tochtervorstand einbeziehendes Aktienoptionsprogramm am Maßstab der §§ 311 ff. AktG kontrollieren, so kann die Beurteilung nur einheitlich, d. h. ohne Unterscheidung zwischen mehrgliedrigen und Einpersonen-Gesellschaften erfolgen. 7. Erfordernis tochterspezifischer Erfolgsziele? Es bleibt die Frage, ob die Teilnahme des Vorstands einer mehrgliedrigen Tochter- AG an einem Aktienoptionsprogramm der Mutter von der Einführung tochterspezifischer Erfolgsziele abhängig zu machen ist. 60 Auch hierfür fehlt es indes an gesetzlichen Anhaltspunkten. Zudem würde sich die Annahme einer solchen ungeschriebenen Voraussetzung in Widerspruch zu der Grundwertung der §§ 311 ff. AktG setzen, dass sich der Vorstand der abhängigen Gesellschaft (mag diese über Minderheitsaktionäre verfügen oder nicht) Konzernbelangen öffnen darf, sofern nur sichergestellt ist, dass den Vermögensinteressen der Gesellschaft durch Ausgleich aller auf Veranlassung des herrschenden Unternehmens zurückgehenden Nachteile Rechnung getragen wird. Eine Ausrichtung des Aktienoptionsprogramms an mutterdefinierten Erfolgszielen mag die Neigung des Vorstands, sich Konzernbelangen zu öffnen, steigern. Indes bleiben die Verpflichtung zum Nachteilsausgleich und die hierauf bezogenen Verhaltenspflichten des Vorstands ebenso unberührt wie die Aufsichts- und Prüfungspflichten des Aufsichtsrats und des Abschlussprüfers nach §§ 90, 116, 313, 314 AktG. Es kommt hinzu, dass das Erfolgsziel eines Aktienoptionsprogramms typischerweise kursbezogen ist, 61 der Aktienkurs aber selbstredend nicht allein durch Ergebnis und Verfassung der Muttergesellschaft, sondern ganz entscheidend durch die Situation des Gesamtkonzerns bestimmt wird. 62 Die

59 Zur hiervon abweichenden Beurteilung im GmbH-Recht s. BGHZ 149, 10, 16; BGHZ 151, 181, 186 ff.; Habersack (Fn. 39) Anh. § 318 Rn. 33 ff. mwN. 60 Hierfür Hüffer (Fn. 13) § 192 Rn. 20; Hirte (Fn. 27) S. 215. 61 Vgl. Hüffer (Fn. 13) § 193 Rn. 9; ferner die Angaben in F.A.Z. vom 27. 2. 2004 (Nr. 49), S. 18 zu den Programmen ausgewählter Unternehmen; s. aber auch LG München I AG 2001, 376, 377 (Börseneinführung). 62 Weshalb der nach § 15 WpHG erforderliche Emittentenbezug auch dann gegeben ist, wenn die fragliche Tatsache bei einem mit dem Emittenten verbundenen Konzernunterneh-

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Erwägung, ein an einem aktienkursbezogenen Optionsprogramm der Mutter teilnehmendes Vorstandsmitglied der Tochter „pushe“ den Mutterkurs dadurch, dass es – noch dazu unter Verschleierung gegenüber dem Aufsichtsrat und Abschlussprüfer seiner Gesellschaft – seine Verhaltenspflichten aus §§ 311 ff. AktG missachte und die von ihm geführte Tochter schädige, erscheint vor diesem Hintergrund schon im Ansatz wenig plausibel. So gesehen sollte die Teilnahme von Vorständen der Tochter an einem kursbezogenen Aktienoptionsprogramm der Mutter auch unter rechtspolitischen Erwägungen nicht kritischer betrachtet werden als kursbezogene Aktienoptionsprogramme im Allgemeinen. Anders zu beurteilen sind Aktienoptionsprogramme, die auf den Gewinn oder die Dividende des herrschenden Unternehmens abstellen, mithin auf Größen, die auch faktisch ausschließlich auf die Muttergesellschaft bezogen sind und deshalb in gewissem Umfang durch konzerninterne Maßnahmen beeinflusst werden können. Auch solche Programme sind zwar nach §§ 192 Abs. 2 Nr. 3, 311 ff. AktG hinzunehmen, indes kaum Ausdruck angemessener Corporate Governance.

VI. Ergebnis Nach allem ist die im Schrifttum befürwortete einschränkende Auslegung des § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG, wonach Vorstandsmitglieder abhängiger Gesellschaften an einem Aktienoptionsprogramm der Mutter nur beim Fehlen von Minderheitsaktionären, bei Bestehen eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrags oder bei Aufnahme tochterspezifischer Erfolgsziele teilnehmen dürfen, abzulehnen. Man mag über die Effektivität des Schutzsystems der §§ 311 ff. AktG wie im Übrigen über die rechtspolitische Beurteilung von stock options streiten. De lege lata hat es jedoch bei dem Wortlaut des § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG und dem rein verhaltensbezogenen Schutzkonzept der §§ 311 ff. AktG zu bewenden. 63 Zu empfehlen ist freilich ein am Aktienkurs der Mutter ausgerichtetes Erfolgsziel.

men eingetreten ist, s. statt aller Kümpel/Assmann in Assmann/Schneider WpHG , 3. Aufl., 2003, § 15 Rn. 44 mwN. 63 Dabei soll offen bleiben, ob in der Annahme, die Einbeziehung der Organwalter einer Tochter- AG in ein Aktienoptionsprogramm der Mutter sei unzulässig, angesichts des eindeutigen Wortlauts des § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG und der Entstehungsgeschichte der Norm eine unzulässige Auslegung contra legem liegt; näher zu diesem Verbot Canaris FS Bydlinski, 2002, S. 91 ff.

Nochmals: Rechtsfähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts und persönliches Verpflichtetsein ihrer Gesellschafter Walther Hadding

Inhaltsübersicht Seite

I. Zur Rechtsfähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts . . . . . 1. Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs . . . 2. Maßgeblichkeit des Beschlusses des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 18. 2. 2001 – II ZR 331/00 – . . . . . . . . . 3. Unbefriedigende Rechtsunsicherheit . . . . . . . . . . . . . . II. Persönliches Verpflichtetsein der Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verbindlichkeiten der rechtsfähigen (Außen-)Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Haftung“ der Gesellschafter einer GbR nach der neueren Rechtsprechung des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs . . 3. Kritische Begleitung der neueren Rechtsprechung des II. Zivilsenats zur „Haftung“ von Gesellschaftern einer GbR .

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Seit dem ersten Gespräch mit Thomas Raiser anfangs der sechziger Jahre in Marburg a. d. Lahn anläßlich der geplanten Gründung einer Bundesassistentenkonferenz spannt sich der Bogen wiederkehrender persönlicher Begegnungen unter anderem bis zu seiner Mitwirkung an der im Jahr 1999 erschienenen „Festgabe Zivilrechtslehrer 1934/1935“, in der Thomas Raiser 1 sich eindringlich dem Thema: „Unternehmen und juristische Person“ gewidmet hat. Vorausgegangen war sein Beitrag „Gesamthand und juristische Person im Licht des neuen Umwandlungsrechts“. 2 Es folgten die Ausführungen zu „Gesamthandgesellschaft und juristische Person. Eine Geschichte ohne Ende?“ 3 sowie „Der Begriff der juristischen Person“. 4 Im Ergebnis hat Thomas Raiser sich dahingehend geäußert, daß „auch alle Erscheinungsformen der Gesellschaft bürgerlichen Rechts, denen die Rechtsprechung die 1 2 3 4

In: Hadding (Hrsg.), Festgabe Zivilrechtslehrer 1934/1935, 1999, S. 489 ff. AcP 194 (1994), 495 ff. In: FS Zöllner, 1999, S. 469 ff. AcP 199 (1999), 104 ff.

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volle Rechtsfähigkeit zuerkennt, … nach dem inzwischen erreichten Stand der Rechtsentwicklung juristische Personen“ seien. 5 Angesichts der neueren Entwicklungen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Rechtsfähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) und zur „Haftung“ ihrer Gesellschafter steht zu hoffen, daß die folgenden Skizzierungen das stets wache Interesse des Jubilars gerade hinsichtlich der gesellschaftsrechtlichen Grundlagen finden. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich in jener Rechtsprechung einerseits (zur Rechtsfähigkeit der GbR) durchaus Differenzierungen, die bislang offenbar nicht in das allgemeine Bewußtsein der Fachöffentlichkeit gedrungen sind, andererseits (zur „Haftung“ der GbRGesellschafter) vergröbernde Konsequenzen, die des kritischen Hinweises bedürfen.

I. Zur Rechtsfähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts 1. Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Was als These zunächst vereinzelt in die rechtswissenschaftliche Diskussion eingebracht wurde, nämlich daß der Gesellschaft bürgerlichen Rechts als Grundmodell der Personalgesellschaften eigene Rechtsfähigkeit zukomme, 6 ist heutzutage für die Praxis zu einem maßgeblichen Ausgangspunkt der rechtlichen Beurteilung geworden. Der für Gesellschaftsrecht zuständige II . Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat sich dieser Auffassung, also der Rechtsfähigkeit der als Außengesellschaft vereinbarten GbR, gleichsam schrittweise genähert. Schon früh wurde zwischen Verbindlichkeiten der Gesellschaft, für die das Gesellschaftsvermögen als Zugriffsobjekt bereitsteht, und entsprechenden persönlichen Verpflichtungen der Gesellschafter, für die sie mit ihrem privaten Vermögen aufzukommen haben, deutlich unterschieden.7 Es wurde von der Verpflichtungsfähigkeit der GbR gesprochen, dies freilich weder erläutert noch vertieft. Später war zu entscheiden, ob eine GbR als solche Mitglied einer eingetragenen Genossenschaft

5 AcP 199 (1999), 104, 108. Inzwischen hat Thomas Raiser für die (beschränkte) Rechtsfähigkeit auch der Gemeinschaft von Wohnungseigentümern plädiert (ZWE 2001, 173, 178). 6 Vgl. Flume ZHR 136 (1972), 177 ff.; Reinhardt Gesellschaftsrecht, 1973, Rn. 37, 39, 44, 92; Hadding, in: Studienkomm. z. BGB , 1975, §§ 718–720 Anm. I; W. Schünemann Grundprobleme der Gesamthandsgesellschaft, 1975, S. 110 ff.; Henecke Das Sondervermögen der Gesamthand, 1976, S. 61 ff. 7 Vgl. BGHZ 72, 267, 271; BGHZ 74, 240, 241; BGHZ 79, 374, 377; BGH WM 1987, 689; BGH WM 1990, 1035, 1037; BGHZ 136, 254, 258 f; BGHZ 142, 315. Zur Literatur s. die Nachw. bei K. Schmidt NJW 2001, 993, 994 Fn. 11 und Dauner-Lieb DStR 2001, 356, 357 Fn. 4; außerdem Habersack JZ 1999, 46; Hennrichs/Kießling WM 1999, 877; Kindl NZG 1999, 517; Huep NZG 2000, 285; Wunderlich WM 2002, 271.

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(eG) sein kann. Hierzu wurde erstmals die folgende Formulierung geprägt:8 „Als Gesamthandsgemeinschaft ihrer Gesellschafter kann die (Außen-)Gesellschaft bürgerlichen Rechts nach heutiger Auffassung als Teilnehmer am Rechtsverkehr grundsätzlich, d. h. soweit nicht spezielle rechtliche Gesichtspunkte entgegenstehen, jede Rechtsposition einnehmen“. Aufgrund dieser Feststellung wurde angenommen, daß die GbR (als Außengesellschaft) selbst Mitglied einer eG sein kann. Es folgten bis in die Gegenwart Entscheidungen, in denen die Mitgliedsfähigkeit der (Außen-)GbR in einer AG ,9 in einer GmbH,10 in einer anderen GbR11 und zuletzt als Kommanditist in einer KG12 bejaht wurde. Der für Bankrecht zuständige XI . Zivilsenat des Bundesgerichtshofs knüpfte an die wiedergegebene, leicht nuancierte Formulierung an13 und sprach sich für die eigene Scheckfähigkeit der GbR aus. Schließlich kam es zu der viel diskutierten Entscheidung vom 29. 1. 2001 – II ZR 331/00 –14 über einen Fall, in dem eine bauwirtschaftliche Arbeitsgemeinschaft (ARGE) in der Gesellschaftsform einer zweigliedrigen GbR als Akzeptant eines Wechsels aufgetreten war. Der II . Zivilsenat des Bundesgerichtshofs beließ es nicht bei dem bisherigen Vorgehen in kleinen Schritten, indem etwa nun auch die Wechselfähigkeit der GbR anerkannt wurde, sondern vollführte sozusagen einen ins Allgemeine zielenden „Paukenschlag“.15 Die entsprechenden amtlichen Leitsätze des Urteils lauten: „Die (Außen-)Gesellschaft bürgerlichen Rechts besitzt Rechtsfähigkeit, soweit sie durch Teilnahme am Rechtsverkehr eigene Rechte und Pflichten begründet. In diesem Rahmen ist sie zugleich im Zivilprozeß aktiv und passiv parteifähig“. Den Ausgangspunkt bildet erneut die Feststellung,16 daß die GbR „als Gesamthandgemeinschaft ihrer Gesellschafter im Rechtsverkehr grundsätzlich, das heißt soweit nicht spezielle Gesichtspunkte entgegenstehen, jede Rechtsposition einnehmen“ könne. „Soweit sie in diesem Rahmen eigene Rechte und Pflichten begründet, ist sie 8 Vgl. BGHZ 116, 86, 88 = NJW 1992, 499 = WM 1992, 12 m. Anm. Hadding WuB II D. § 15 GenG 1.92. Vgl. schon zuvor Brandes (als Mitglied des II . Zivilsenats) WM 1989, 1357, 1359: Die Gesamthandgesellschaft werde „nicht als Sondervermögen der Gesellschafter, sondern selbst als Rechtsträger angesehen“; ders. WM 1990, 1221, 1224. 9 BGHZ 118, 83, 99 = NJW 1992, 2222 = WM 1992, 1225 m. Anm. Schöne WuB II A. § 186 AktG 1.93. 10 BGHZ 78, 311, 312 f. = NJW 1981, 682. 11 BGH NJW 1998, 376 = WM 1997, 2220 m. Anm. Fleischer WuB II J. § 705 BGB 3.98 = ZIP 1997, 2120. 12 BGH NJW 2001, 3121. 13 BGHZ 136, 254, 257 = NJW 1997, 2754 = WM 1997, 1666 m. Anm. Livonius WuB I D 3.–1.98. Die GbR könne „als Teilnehmerin am Rechtsverkehr grundsätzlich jede Rechtsposition einnehmen, es sei denn, es stünden spezifische Rechtsvorschriften entgegen“. 14 BGHZ 146, 341 ff. = NJW 2001, 1056 = WM 2001, 408 = ZIP 2001, 330. 15 Andere Kennzeichnungen des BGH-Urteils: „Durchbruch“ (Wiedemann), „Markstein“ (Ulmer), „Befreiungsakt“ (Westermann), „neues Fundament“ und „Befreiungsschlag“ (Dauner-Lieb, Peifer), „Erdrutsch“ (Prütting), „gordische Knoten durchgeschlagen“ (Baummann). 16 BGHZ 146, 341, 343 (Fn. 14).

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(ohne juristische Person zu sein) rechtsfähig (vgl. § 14 Abs. 2 BGB)“. Die Fundierung dieser höchstrichterlichen Stellungnahme und ihre vielfältige Tragweite hat eine Flut von Äußerungen hervorgerufen17 und ist auch vom Verfasser18 erörtert worden. 2. Maßgeblichkeit des Beschlusses des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 18. 2. 2001 – II ZR 331/00 – Die Besonderheit freilich, die mit dem in die amtliche Sammlung BGHZ aufgenommenen Urteil des II . Zivilsenats vom 29. 1. 2001 verbunden ist, liegt darin, daß es verfahrensrechtlich als höchstrichterliche Entscheidung gar nicht mehr fortbesteht! Es handelte sich nämlich, soweit die Klage gegen die bauwirtschaftliche ARGE als GbR (Beklagte zu 1) gerichtet war, um ein revisionsrichterliches Versäumnisurteil. Der weitere Ablauf des Verfahrens ist aus dem Beschluss des II . Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 18. 2. 2002 – II ZR 331/00 – als Kostenentscheidung gemäß § 91a ZPO19 zu entnehmen: „Gegen das Versäumnisurteil des Senats vom 29. 1. 2001 hat die Beklagte zu 1 Einspruch eingelegt. In der Begründung hat die Beklagte zu 1 erstmals darauf hingewiesen, daß sie seit dem 28. 8. 2000 nicht mehr existiert. An diesem Tag sei das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Beklagten zu 3 eröffnet worden. Nach dem Gesellschaftsvertrag habe dies zur Folge gehabt, daß die Beklagte zu 3 aus der Gesellschaft ausgeschieden und ihr Anteil ohne Übertragung auf die als Gesellschafterin allein übrig gebliebene Beklagte zu 2 übergegangen sei. Im Hinblick darauf haben die Parteien in der auf den Einspruch der Beklagten zu 1 gegen das Versäumnisurteil vom 29. 1. 2001 anberaumten mündlichen Verhandlung vor dem Senat den Rechtsstreit – soweit er sich gegen die Beklagte zu 1 richtet – in der Hauptsache für erledigt erklärt. Der Senat hat beschlossen: „Das Urteil des Senats vom 29. 1. 2001, das Urteil des OLG Nürnberg vom 15. 3. 2001 und das Vorbehaltsurteil des LG Ansbach vom 26. 11. 1999 werden im Kostenpunkt und hinsichtlich der die Beklagte zu 1 betreffenden Entscheidungen für wirkungslos erklärt“ (Hervorheb. v. Verf.). Es ist also sicherlich bemerkenswert und zugleich ein Kuriosum: Die so ausgiebig beachtete Entscheidung des II . Zivilsenats des Bundesgerichtshofs 17 Vgl. insbesondere Wiedemann JZ 2001, 65; Ulmer ZIP 2001, 585; Westermann NZG 2001, 289; K. Schmidt NJW 2001, 993; Habersack BB 2001, 477; Dauner-Lieb DStR 2001, 356; Derleder BB 2001, 2485; Ann JA 2001, 441; Gesmann-Nuissl WM 2001, 973; Timme/ Hülk JuS 2001, 536; Peifer NZG 2001, 296; Heil NZG 2001, 300; Bieder NZI 2001, 235. Kritisch namentlich Beuthin JZ 2003, 715 ff. 18 ZGR 2001, 712 ff. 19 BGH NJW 2002, 1207 = JZ 2002, 1106 m. krit. Anm. Stürner = ZIP 2002, 614 = DB 2002, 837 = BB 2002, 1015 = NZG 2002, 322. Die unmittelbaren Reaktionen auf den Beschluss vom 18. 2. 2002 sind im Vergleich zu der Fülle von Stellungnahmen zu BGHZ 146, 341 (vgl. Fn. 17, 18) nahezu verschwindend gering geblieben.

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vom 29. 1. 2001, mit der letztlich einschränkungslos die Rechtsfähigkeit und Parteifähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts festgestellt worden ist, „soweit sie durch Teilnahme am Rechtsverkehr eigene Rechte und Pflichten begründet“ (Außengesellschaft), erging gegen eine gar nicht mehr existente GbR und ist „für wirkungslos erklärt“. Nicht das in die amtliche Sammlung aufgenommene Urteil BGHZ 146, 341 ff. kann hiernach als höchstrichterliche Rechtsprechung den maßgeblichen Ausgangspunkt für die Praxis bilden, sondern allein der in demselben Rechtsstreit ergangene spätere Beschluß des II . Zivilsenats vom 18. 2. 2002 über die Kostentragung gemäß § 91a ZPO . Diesem Beschluß muß man daher die volle Aufmerksamkeit zuwenden, wenn es um die rechtliche Beratung der Praxis zur Frage der Rechtsfähigkeit und Parteifähigkeit einer GbR geht. Hierzu ergibt sich für den genau hinsehenden Blick eine Überraschung von erheblicher Tragweite: Zwar verweist der II . Zivilsenat 20 für die Begründung der Kostenentscheidung zu Lasten der Beklagten zu 1 (ARGE als GbR) „und damit der Beklagten zu 2 als ihrer Rechtsnachfolgerin“ zunächst „auf seine Ausführungen in dem in derselben Sache ergangenen Versäumnisurteil vom 29. 1. 2001, an denen er auch nach erneuter Überprüfung festhält“. Damit erscheint BGHZ 146, 341 ff. in den Beschluß vom 18. 2. 2002 gleichsam inkorporiert und mit vollem Inhalt „gerettet“. Man darf jedoch nicht vernachläßigen, was der II . Zivilsenat 21 zu seiner Ansicht ausführt, daß die Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes nach § 2 Abs. 1 RsprEinhG „nicht geboten“ sei. Im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 6. 7. 1989 – 6 AZR 771/87 –, 22 in der die Frage, ob eine GbR Vertragspartner eines Arbeitsvertrags und mithin Arbeitgeber sein kann, verneint worden ist lautet es: „Da der Senat … ausdrücklich daran festhält, daß spezielle Gesichtspunkte, das heißt besondere Rechtsvorschriften und die Eigenart des zu beurteilenden Rechtsverhältnisses, der Fähigkeit der GbR zur Einnahme bestimmter Rechtspositionen und damit auch ihrer Fähigkeit, selbst Vertragspartner zu sein, entgegenstehen können, ergäbe sich selbst dann keine Divergenz, wenn das BAG auch in Zukunft an seiner Auffassung festhielte“. Mit dieser Aussage kehrt der II . Zivilsenat des Bundesgerichtshofs im Wesentlichen zu der bis dahin geübten Rechtsprechung (seit BGHZ 116, 86, 88) zurück, nach der die GbR als Außengesellschaft „grundsätzlich, d. h. soweit nicht spezielle rechtliche Gesichtspunkte entgegenstehen, jede Rechtsposition einnehmen“ könne. Diese Formulierung wird zunächst mit der Nuance des XI . Zivilsenats ( BGHZ 136, 254, 257): Die GbR könne „grundsätzlich jede Rechtsposition einnehmen, es sei denn, es stünden spezifische Rechts20 21 22

BGH NJW 2002, 1207 r. Sp. (Fn. 19). BGH NJW 2002, 1207, 1208 l. Sp. (Fn. 19). NJW 1989, 3034, 3035.

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vorschriften entgegen“ gleichsam gemischt und sodann um die inhaltlich unklare, aber jedenfalls weitergehende Einschränkung einer etwa entgegenstehenden „Eigenart des zu beurteilenden Rechtsverhältnisses“ ergänzt. Dabei bleibt gänzlich offen, welches „Rechtsverhältnis“ aufgrund seiner „Eigenart“ der Rechtsfähigkeit/Parteifähigkeit im Zivilprozeß entgegenstehen könnte: das konkrete Gesellschaftsverhältnis, mithin das Innenverhältnis zwischen den Gesellschaftern, oder etwa das Außenverhältnis zu einem Partner, der als Dritter der GbR oder eben doch nur den Gesellschaftern (?) gegenübertritt. 3. Unbefriedigende Rechtsunsicherheit Als Fazit zum gegenwärtigen Stand der höchstrichterlichen Rechtsprechung in der Frage der Rechtsfähigkeit und Parteifähigkeit der GbR als Außengesellschaft läßt sich daher festhalten: Der vermeintliche „Durchbruch“ in BGHZ 146, 341 ff. ist durch den Beschluß des II . Zivilsenats vom 18. 2. 2002 – II ZR 331/00 – nicht unerheblich zurückgenommen. Die für die Praxis maßgebliche Aussage zur Rechtsfähigkeit der GbR geht dahin, „daß spezielle Gesichtspunkte, das heißt besondere Rechtsvorschriften und die Eigenart des zu beurteilenden Rechtsverhältnisses, der Fähigkeit, selbst Vertragspartner zu sein, entgegenstehen können“. Dies ist eine revisionsrichterliche „Tapetentür“, deren Rahmen gegenüber dem früheren sogar erweitert worden ist („Eigenart des zu beurteilenden Rechtsverhältnisses“). Mit den versteckten Einschränkungen der Rechtsfähigkeit/Parteifähigkeit der GbR als Außengesellschaft unter 2. b) aa) der Gründe des Beschlußes vom 18. 2. 2002 ist der Rechtssicherheit wenig gedient. Das wird schon an den Formulierungen deutlich, mit denen die Divergenz zu Entscheidungen nicht nur des BAG , 23 sondern auch des BSG , des BVerwG und des BFH hinweggeredet wird. 24 Noch erhöht wird die Rechtsunsicherheit, wenn die Frage der Gesellschafterhaftung „nunmehr in Konsequenz der Anerkennung der beschränkten Rechtsfähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts“ zu entscheiden sein soll ( BGHZ 146, 341, 358), also von dem Nichtbeschreiten oder Beschreiten der gekennzeichneten „Tapetentür“ abhängig gemacht wird.

23 24

Vgl. dazu kritisch Lessner/Klebeck ZIP 2002, 1385 ff. Vgl. insoweit zutreffend kritisch Stürner JZ 2002, 1108 ff.

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II. Persönliches Verpflichtetsein der Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts 1. Verbindlichkeiten der rechtsfähigen (Außen-)Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) Geht man zutreffend von eigener Rechtsträgerschaft der (Außen-)GbR als selbständigem Rechtssubjekt aus – kurz: Rechtsfähigkeit als Strukturelement auch dieser Gesellschaftsform, 25 dann ergibt sich folgerichtig die Frage, wie Verbindlichkeiten der Gesellschaft als solcher entstehen. Für den Bereich rechtsgeschäftlich begründeter Verbindlichkeiten beantwortet sich diese Frage dahin, daß der oder die geschäftsführungs- und vertretungsbefugten Gesellschafter durch Organhandeln in Gestalt der Abgabe und des Empfangs rechtsgeschäftlicher Erklärungen namens der GbR Gesellschaftsverbindlichkeiten schaffen. Dazu bedarf es keiner gesetzlichen Vorschrift, sondern nur einer entsprechenden Regelung im Gesellschaftsvertrag über die organschaftliche Vertretungsmacht bestimmter Gesellschafter. 26 Für die GbR ist es dabei kennzeichnend, daß die gesellschaftsvertraglich eingeräumte Geschäftsführungsbefugnis (vgl. § 710 BGB ) im Zweifel die entsprechende organschaftliche Vertretungsmacht nach sich zieht (§ 714 BGB ). Zu Lasten einer rechtsfähigen GbR können selbstverständlich auch kraft Gesetzes Verbindlichkeiten entstehen, wenn der entsprechende Tatbestand ihr zurechenbar erfüllt ist. Aufgrund eines Titels gegen die GbR, die unter eigenem Namen oder unter Nennung ihrer Gesellschafter wegen einer Verbindlichkeit der Gesellschaft verklagt worden ist, steht in der EinzelZwangsvollstreckung als Zugriffsobjekt das Gesellschaftsvermögen (Gesamthandvermögen) zur Verfügung (§ 736 ZPO ). 27 2. „Haftung“ der Gesellschafter einer GbR nach der neueren Rechtsprechung des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs Wie aber steht es mit dem persönlichen Verpflichtetsein der Gesellschafter einer GbR, also ihrer „Haftung“ mit dem privaten Vermögen hinsichtlich der Gesellschaftsverbindlichkeiten? Es war das heftig diskutierte Urteil vom 27. 9. 1999 – II ZR 371/98 –, 28 in dem der II . Zivilsenat des Bundesgerichts-

Vgl. dazu Hadding, in: Festgabe Zivilrechtslehrer 1934/1935 (Fn. 1), S. 147, 151 ff. Vgl. Soergel/Hadding, BGB , 12. Aufl. Bd. 5/1, 2004, § 714 Rn. 7. Mangels einer gesellschaftsvertraglichen Regelung sind alle Gesellschafter gesamtgeschäftsführungs- und entsprechend vertretungsbefugt (§§ 709 Abs. 1, 714 BGB ). 27 Vgl. namentlich Wertenbruch Gesellschaften und Gesellschaftsanteile in der Zwangsvollstreckung, 2000, passim; Hadding ZGR 2001, 712, 733 f. 28 BGHZ 142, 315, 318 ff = NJW 1999, 3483 = WM 1999, 2071 m. Anm. Hadding WuB II J. § 705 BGB 1.00. Vgl. dazu Altmeppen ZIP 1999, 1758; Goette DStR 1999, 1707; Dauner25 26

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hofs die Rechtsgrundlage des Einstehens von Gesellschaftern einer GbR mit ihrem privaten Vermögen für Verbindlichkeiten der Gesellschaft „umgestellt“ und eine grundsätzlich unbeschränkbare gesetzliche Haftung eines jeden einzelnen Gesellschafters angenommen hat. Diese Haftung – so wurde in dem Urteil vom 29. 1. 2001 – II ZR 331/00 – klargestellt 29 – ergebe sich „entsprechend §§ 128 f. HGB “ als eine akzessorische Einstandspflicht. Die früher „herrschend“ gewordene Rechtsauffassung 30 hatte hingegen an das Vertretungshandeln des geschäftsführenden Gesellschafters angeknüpft: Neben dem Handeln kraft organschaftlicher Vertretungsmacht für die GbR verpflichtet er zugleich sich selbst und kraft im Zweifel vorhandener gesellschaftsvertraglicher Vollmacht auch die übrigen Mitgesellschafter (vgl. § 714 BGB ). Dies wurde als „Doppelverpflichtung“ bezeichnet. Auch der II . Zivilsenat des Bundesgerichtshofs 31 hat sich die von § 714 BGB ausgehende rechtliche Sicht über mehr als zwei Jahrzehnte lang zu eigen gemacht. Warum kam es zu dem Umschwung? Immer häufiger hatte die Kautelarjurisprudenz die Gegebenheit ausgenutzt, daß die „Doppelverpflichtung“ von GbR und ihren Gesellschaftern auf dem Recht der Stellvertretung, dem Recht der Vollmacht, beruht. Das Vorhandensein einer Vollmacht und ihren Umfang hat man gestalterisch in der Hand. Demgemäß wurden „Haftungsbeschränkungen“ auf das Gesellschaftsvermögen dadurch konstruiert, daß man dem geschäftsführenden Gesellschafter nur ein Handeln als Organ für die GbR gestattete und ihm ausdrücklich keine oder nur eine im Umfang erheblich beschränkte Vollmacht erteilte, auch die übrigen Gesellschafter persönlich zu verpflichten. Außerdem erhielt der geschäftsführende Gesellschafter die verpflichtende gesellschaftsvertragliche Weisung, die genannte Beschränkung allein auf ein Organhandeln für die GbR den Geschäftspartnern der Gesellschaft kundzutun. Daraus entstand zunehmend – schon auf dem Briefbogen – die „GbRmbH“! Diese Entwicklung hat der Bundesgerichtshof 32 zunächst ausdrücklich zugelassen. Dann aber kam mit den genannten Urteilen vom 27. 9. 1999 – II ZR 371/98 – und vom 29. 1. 2001 – II ZR 331/00 – die dargelegte Wende, mit der die grundsätzlich unbeschränkbare, gesetzliche akzessorische Haftung der Gesellschafter (analog §§ 128 f. HGB) in das Recht der GbR eingeführt wurde. Der „Hydra“ einer um sich greiLieb DStR 1999, 1992; Henze BB 1999, 2260; Ulmer ZGR 2000, 339; Reiff NZG 2000, 281; U. Huber in: FS Lutter, 2000, S. 107, 114; Canaris ZGR 2004, 69, 87 ff. 29 BGHZ 146, 341, 358 (Fn. 14). 30 Vgl. insbesondere MünchKomm BGB /Ulmer, 3. Aufl. Bd. 5, 1997, § 714 Rn. 25 ff.; Soergel/Hadding, 11. Aufl. Bd. 5, 1985, § 714 Rn. 29; zuletzt Habersack JZ 1999, 46; Hennrichs/Kießling WM 1999, 877; Kindl NZG 1999, 517; Huep NZG 2000, 285; Wunderlich WM 2002, 271. 31 Von BGHZ 72, 267, 271 bis BGHZ 142, 315 (vgl. Fn. 7). 32 BGHZ 61, 59, 67; BGH NJW 1985, 618 = WM 1985, 56; BGH WM 1989, 377, 379 = NJW- RR 1989, 465; BGH WM 1990, 1035, 1037; BGH WM 1990, 1113, 1114; BGHZ 113, 216, 219 = WM 1991, 404.

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fenden Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen bei der GbR, für die als Gesellschaftsform keine Kapitalaufbringung und -erhaltung gesetzlich vorgesehen ist, 33 hat der II . Zivilsenat mit dem Wechsel von der „Doppelverpflichtung“ zur „gesetzlichen akzessorischen Haftung“ der Gesellschafter (analog §§ 128 f. HGB ) in der Tat „den Kopf abgeschlagen“. Denn dieser Umschwung impliziert die Analogie zu § 128 Satz 2 HGB . Aus § 128 Satz 2 HGB aber folgt, daß die gesetzliche akzessorische Haftung der Gesellschafter für Gesellschaftsverbindlichkeiten nur durch Vereinbarung mit dem Gläubiger der Gesellschaft ausgeschlossen oder beschränkt werden kann. Für die Praxis steht also gegenwärtig fest, daß die Gesellschafter einer rechtsfähigen (Außen-)GbR für Verbindlichkeiten der Gesellschaft kraft Gesetzes (analog §§ 128 f. HGB ) grundsätzlich unbeschränkt mit ihrem privaten Vermögen akzessorisch haften. Diese Linie der rechtlichen Beurteilung hat der II . Zivilsenat des Bundesgerichtshofs inzwischen dahin weiterverfolgt, daß die akzessorische Haftung auch einen eintretenden Gesellschafter für sogenannte Altschulden trifft (analog § 130 HGB) 34 und daß die Haftung der Gesellschafter auch unterschiedslos für gesetzlich entstandene Gesellschaftsschulden eingreift. 35 3. Kritische Begleitung der neueren Rechtsprechung des II. Zivilsenats zur „Haftung“ von Gesellschaftern einer GbR Angesichts des wiedergegebenen Stands der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur gesetzlichen akzessorischen Haftung von Gesellschaftern einer GbR für rechtsgeschäftlich oder gesetzlich begründete Verbindlichkeiten der Gesellschaft (entsprechend §§ 128–130 HGB ) ist es müßig, eine Rückkehr zur rechtlichen Beurteilung im Sinne der „Doppelverpflichtung“ von GbR und ihren Gesellschaftern bei rechtsgeschäftlich entstehenden Gesellschaftsschulden zu fordern 36 und weiterhin auf individuelle Haftungsgründe der Gesellschafter bei gesetzlichen Verbindlichkeiten abzustellen. 37 Denn

33 Dies ist das hauptsächliche Argument: BGHZ 142, 315, 322 f. (Fn. 28); ebenso BGHZ 154, 370, 373. 34 BGHZ 154, 370 = NJW 2003, 1803 m. Anm. Eberl-Borges, LMK 2003, 168 = WM 2003, 977 m. Anm. Wunderlich WuB II J. § 705 BGB 4.03 (zu 3.) = ZIP 2003, 899; dazu Westermann EWiR 2003, 513 = VersR 2003, 771 m. Anm. Reiff; krit. Boehme NZG 2003, 764. Anders noch BGHZ 74, 240, 242 f. (vgl. unten bei Fn. 48). 35 BGHZ 154, 88, 94 = NJW 2003, 1445, 1446 f. = WM 2003, 830, 831 f. m. Anm. Wunderlich WuB II J. § 705 BGB 4.03 (zu 2.) = VersR 2003, 650 m. Anm. Reiff = ZIP 2003, 664. 36 So z. B. Wunderlich WM 2002, 271 ff. Vgl. dazu Goette (Mitglied des II . Zivilsenats) DStR 2002, 688: „schwer nachvollziehbarer Zweifel“. 37 So in der Sache überzeugend Altmeppen NJW 2003, 1553 ff.; C. Schäfer ZIP 2003, 1225, 1227 ff.; ders. DStR 2003, 1078, 1083; Wössner ZIP 2003, 1235, 1238; Beuthien JZ 2003, 969,

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der II . Zivilsenat des Bundesgerichtshofs kann sich schon im Hinblick auf die gebotene Kontinuität seiner Rechtsprechung schwerlich vergleichsweise kurzfristig auf eine erneute Kehrtwende einlassen. Dennoch bleibt es die Aufgabe einer wohlverstandenen rechtswissenschaftlichen Begleitung der Rechtsprechung, auf systematische und methodische Schwächen und Bedenken gegenüber Begründungen hinzuweisen und darzulegen, in welcher Hinsicht und auf welchen rechtlichen Wegen sich für bestimmte Ergebnisse höhere Überzeugungskraft gewinnen läßt. 38 Im Folgenden sei hierzu auf fünf unterschiedliche Punkte eingegangen: a) Wer annahm, mit den Urteilen BGHZ 142, 315 und BGHZ 146, 341 sei durch die Analogie zu §§ 128 f. HGB eine durchgängig maßgebliche, einheitliche Rechtsgrundlage zur Haftung von sämtlichen Gesellschaftern einer (Außen-)GbR erreicht, mußte sich alsbald eines anderen belehren lassen. Denn es schlossen sich erste Schritte an zu „differenzierenden Haftungsfolgen bei der GbR“ – wie der II . Zivilsenat des Bundesgerichtshofs formuliert. Zu diesem Urteil vom 21. 1. 2002 – II ZR 2/00 – 39 sind, wenngleich im konkreten Fall nicht entscheidungserheblich, die folgenden amtlichen Leitsätze ergangen: 1. Aus Gründen des Vertrauensschutzes dürfen sich Anlagegesellschafter bereits existierender geschlossener Immobilienfonds, die als Gesellschaft bürgerlichen Rechts ausgestaltet sind, auch nach der durch die Entscheidungen BGHZ 142, 315 und BGHZ 146, 341 eingetretenen Änderung der Rechtsprechung des Senats für die davor abgeschlossenen Verträge weiterhin auf eine im Gesellschaftsvertrag vorgesehene Haftungsbeschränkung unter der nach der früheren Rechtsprechung maßgebenden Voraussetzung berufen, daß die Haftungsbeschränkung dem Vertragspartner mindestens erkennbar war. 2. Für nach der Änderung der Rechtsprechung abgeschlossene Verträge von geschlossenen Immobilienfonds in der Form der Gesellschaft bürgerlichen Rechts gilt als Ausnahme von den Grundsätzen der Senatsurteile BGHZ 142, 315 und BGHZ 146, 341, daß die persönliche Haftung der Anlagegesellschafter für rechtsgeschäftlich begründete Verbindlichkeiten des Immobilienfonds wegen der Eigenart derartiger Fonds als reine Kapitalanlagegesellschaften auch durch wirksam in den Vertrag einbezogene for972 f. m. Fn. 35: „interessengliedernd“; für die „Deliktshaftung“ ebenso Canaris ZGR 2004, 69, 109 ff. 38 Auch der von Canaris vorgetragene Generalangriff gegen die Übertragung des Regelungsmodells der §§ 125–130 HGB auf die GbR „als unzulässige Rechtsfortbildung contra legem“ (ZGR 2004, 69–125) steht unter dem Vorzeichen der „methodologischen Frage“, ob die Rechtsfortbildung zulässig ist und ob und wie sie sich „in das Gesamtsystem des geltenden Rechts“ einfügt (aaO., S. 70). 39 BGHZ 150, 1 = NJW 2002, 1642 = WM 2002, 958; dazu Reiff ZGR 2003, 550 m. Nachw.

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mularmäßige Vereinbarungen eingeschränkt oder ausgeschlossen werden kann, ohne daß darin grundsätzlich eine unangemessene Benachteiligung des Vertragspartners i.S. von § 307 BGB n.F. (§ 9 AGBG ) gesehen werden kann. 3. Künftige Wohnungseigentümer, die gemeinschaftlich eine Wohnungseigentumsanlage errichten („Bauherrengemeinschaften“) haften für die Herstellungskosten („Aufbauschulden“) auch weiterhin grundsätzlich nur anteilig nach den bisherigen Rechtsprechungsgrundsätzen, auch wenn sie im Verkehr als Außengesellschaften bürgerlichen Rechts auftreten. Es sind also schon gegenwärtig drei für die Praxis überaus wichtige Ausnahmen von der Haftungsregelung für Gesellschafter einer GbR zu beachten, wie sie grundsätzlich vom II . Zivilsenat des Bundesgerichtshof konzipiert worden ist: Bei geschlossenen Immobilienfonds in Gestalt einer GbR gilt zum einen keine Rückwirkung der neueren Rechtsprechung; zum anderen kann hier auch künftig ein Haftungsausschluß mit Gläubigern nicht nur individualvertraglich, sondern auch in AGB , also insbesondere formularmäßig, vereinbart werden. Ferner greift das neue Haftungskonzept analog §§ 128 f. HGB nicht bei Gemeinschaften von Wohnungseigentümern ein, die als GbR organisiert sind. Aus rechtssystematischem Blickwinkel spricht es sicherlich nicht für eine gefundene Problemlösung, wenn sie sogleich mit gewichtigen Ausnahmeregelungen versehen werden muß. Hinzu kommt, daß gewißlich weitere Ausnahmen anstehen. So ist zu fragen, wie es bei Emissionskonsortien oder Kreditkonsortien oder Sicherheitenpools mit einer sachlich gebotenen nur anteiligen Haftung der GbR-Gesellschafter steht. 40 Bei den vom II . Zivilsenat des Bundesgerichtshofs postulierten „Ausnahmen“ der analogen Anwendbarkeit der §§ 128 f. HGB auf Gesellschafter einer (Außen-)GbR geht es in der Sache um die Zulässigkeit von Haftungsbeschränkungen auf das Gesellschaftsvermögen durch rückwirkende Nichtanwendung von § 128 Satz 2 HGB oder künftige Abdingung von § 128 Satz 2 HGB in AGB . Außerdem sollen künftige Wohnungseigentümer für die Herstellungskosten einer gemeinschaftlich errichteten Wohnungseigentumsanlage, auch wenn die Bauherrengemeinschaft im Rechtsverkehr als AußenGbR auftritt, überhaupt nicht analog §§ 128 f. HGB , sondern „grundsätzlich nur anteilig“ haften. Aufgrund der Flexibilität, die dem Recht der Stellvertretung bei der Bestimmung des Umfangs von Vollmachten ohne weiteres eigen ist, ließen sich die genannten „Ausnahmen“ im Rahmen der zuvor auch vom Bundesgerichtshof vertretenen Rechtsansicht einer „Doppelverpflichtung“ zwanglos und systemimmanent erklären. Ob diese Eignung des 40 Vgl. Hadding WuB II J. § 705 BGB 4.02 (unter 2. b und c); Canaris ZGR 2004, 69, 103. Zu einer weiteren Ausnahme bei „rein natürlichen“ Gesellschaftern einer GbR mit ideeller Zwecksetzung vgl. Mülbert WM 2004, 905, 913 f.

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Rechts der Stellvertretung auch zu dem neuen „Grundsatz“ der Unbeschränkbarkeit der Haftung von GbR-Gesellschaftern führen kann, wird noch darzulegen sein. b) Ein weiterer rechtssystematischer Gesichtspunkt soll angesprochen werden: Es ist als ein Argument zugunsten der akzessorischen Haftung von GbR-Gesellschaftern analog §§ 128 f. HGB angeführt worden,41 dieses Konzept passe besser zu der vom II . Zivilsenat des Bundesgerichtshofs befürworteten Rechtsfähigkeit der GbR. Einer solchen Verknüpfung ist entschieden zu widersprechen. Die Rechtsfähigkeit als Strukturelement einer Gesellschaftsform hat mit der gesetzlichen Leitbildregelung dieser Gesellschaftsform hinsichtlich des Vorhandenseins und der Ausgestaltung einer persönlichen „Haftung“ der Gesellschafter überhaupt nichts zu tun.42 Ein Blick auf die Skala deutscher Gesellschaftsformen verdeutlicht dies: Es gibt Gesellschaften, die als juristische Personen rechtsfähig sind, das heißt kraft Eintragung in ein öffentliches Register oder durch Verwaltungsakt, bei denen die Gesellschafter für Gesellschaftsschulden nicht haften (AG , GmbH, eG, VVaG , eV) oder unbeschränkt haften (Komplementär einer KGaA). Es gibt Gesellschaften, die als Gesamthand kraft Gesetzes rechtsfähig sind (§§ 124 Abs. 1, 161 Abs. 2 HGB), bei denen die Gesellschafter für Gesellschaftsschulden unbeschränkt (OHG , Komplementär einer KG) oder beschränkt haften (Kommanditist einer KG). Bei der GbR ist es gerade die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang eine unbeschränkte oder auch beschränkte „Haftung“ der Gesellschafter für Gesellschaftsverbindlichkeiten gelten soll und wie sich das eine oder andere überzeugend begründen läßt. Aber zwischen der in jedem Fall zutreffend festgestellten Rechtsfähigkeit der GbR und der Entscheidung zur Ausgestaltung der „Haftung“ der Gesellschafter besteht kein sachlicher Zusammenhang. Die Begründung des Einstehenmüssens der Gesellschafter für rechtsgeschäftlich entstandene GbR-Verbindlichkeiten im Wege der „Doppelverpflichtung“ und nur ihre individuelle Haftung für gesetzliche Gesellschaftsschulden verträgt sich mit der Rechtsfähigkeit der GbR ebenso gut wie die Annahme einer gesetzlichen akzessorischen Gesellschafterhaftung mit den erwähnten Ausnahmen. c) Im übrigen ist auf Folgendes hinzuweisen: Die organschaftliche Vertretungsmacht für die GbR kann im Gesellschaftsvertrag unmittelbar auch hinsichtlich ihres Umfangs geregelt sein. Ein gesetzlich vorgesehener Umfang wie für die OHG / KG (§§ 126 Abs. 1; 161 Abs. 2 HGB) besteht bei der GbR nicht. Ebensowenig gilt bei der GbR die Unbeschränkbarkeit der organschaftlichen 41 BGHZ 154, 88, 95 (Fn. 35): Ohne die akzessorische Haftung „bliebe die Rechtssubjektivität der Gesellschaft bürgerlichen Rechts unvollkommen“. Ähnlich schon BGHZ 146, 341, 358 (Fn. 14): Die Einordnung der Gesellschafterhaftung sei „in Konsequenz der Anerkennung der beschränken Rechtsfähigkeit“ der GbR zu entscheiden. Insoweit zustimmend Canaris ZGR 2004, 69, 83 m. Nachw. 42 Vgl. Hadding (Fn. 25), S. 147, 172 f.

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Vertretungsmacht gegenüber Dritten (§§ 126 Abs. 2, 161 Abs. 2 HGB). Der Dritte muß deshalb, wenn er sichergehen will, das Vorhandensein und den Umfang von organschaftlicher Vertretungsmacht gegebenenfalls prüfen (Obliegenheit). Das ist schon wegen der unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten mit gesetzestypischer Abhängigkeit der organschaftlichen Vertretungsmacht von der Geschäftsführungsbefugnis (§§ 709, 710; 714 BGB) erforderlich. Eine nach der Rechtsprechung des II . Zivilsenats des Bundesgerichtshofs grundsätzlich nur individualvertraglich beschränkbare Haftung der Gesellschafter einer GbR (analog § 128 Satz 2 HGB) paßt systematisch nicht zu der Prüfungsobliegenheit Dritter hinsichtlich etwaiger gesellschaftsvertraglicher Beschränkungen der organschaftlichen Vertretungsmacht für die GbR, an deren Wirksamkeit wohl schwerlich „gerüttelt“ werden kann. d) In methodischer Hinsicht sei zunächst daran erinnert, daß die Akzessorietät der Gesellschafterhaftung nach §§ 128 f. HGB schon bei der OHG und der KG keine Selbstverständlichkeit ist, sondern als dort rechtlich zutreffende Sicht erst in den Jahren nach 1970 langsam Fuß gefaßt und zur „herrschenden Meinung“ geworden ist. 43 Bei dieser Entwicklung läßt sich schwerlich behaupten, die Akzessorietät der Gesellschafterhaftung sei dem Gesamthandprinzip immanent und der Gesetzgeber des BGB habe sie deshalb gleichsam mitübernommen. 44 In Wahrheit fehlt es mit Blick auf § 714 BGB jedenfalls zum persönlichen Verpflichtetsein der Gesellschafter bei rechtsgeschäftlich entstehenden Verbindlichkeiten der GbR an einer unbewußten Gesetzeslücke, die eine Analogie zu den §§ 128 f. HGB überhaupt erst rechtfertigen würde. Sogar K. Schmidt 45 als früher Vertreter einer akzessorischen Gesellschafterhaftung auch bei der GbR46 hat seinerzeit konstatiert, der „Siegeszug“ der auf § 714 BGB gestützten Lehre von der „Doppelverpflichtung“ beruhe darauf, daß „sie den Trend zur Verselbständigung der Gesamthand mit dem Gebot einer persönlichen Haftung versöhnt, ohne das Fehlen einer positivrechtlichen Haftungsnorm einräumen zu müssen“ (Hervorheb. v. Verf.). In der Tat entbehrt angesichts des unmittelbar eingreifenden § 714 BGB in dessen Anwendungsbereich eine analoge Anwendung der §§ 128 f. HGB der methodisch einwandfreien Begründung. 47 Früher hat der II . Zivilsenat des Bundesgerichtshofs 48 sachlich zutreffend ausgeführt: Vgl. die Nachw. bei Hadding ZGR 2001, 712, 737 m. Fn. 121–123. So aber Wertenbruch (Fn. 27) S. 180 f. 45 In: FS Fleck, 1988, S. 271, 284. 46 Und schon damals „Rechtsvirtuose“ (vgl. FAZ v. 13. 2. 2004, Nr. 37/S. 42). 47 Ebenso Zöllner in: FS Gernhuber, 1993, S. 563, 567: „freischwebend erfundene Akzessorietät ohne Rechtsgrundlage“; U. Huber in: FS Lutter, 2000, S. 107, 122: „Für den praktisch weitaus wichtigsten Fall, den Fall der vertraglichen Verbindlichkeiten, fehlt es für die Analogie einfach an einer Lücke im Gesetz“; Hommelhoff ZIP 1988, 8, 15; Habersack BB 1999, 61, 62; Heil NZG 2001, 300, 304. 48 BGHZ 74, 240, 242 f. = NJW 1979, 1821; ebenso noch BGH NJW 1998, 2904, 2905. 43 44

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„Obwohl eine so allgemeine („akzessorische“) Gesellschafterhaftung gewisse Vorteile haben würde, erscheint es doch weder möglich noch sachgerecht, das Haftungsrecht des gesamten Personengesellschaftsrechts in dieser Weise nach den Maßstäben des Handelsrechts zu vereinheitlichen. Legt man die §§ 705 ff. BGB nach allgemeinen Grundsätzen aus, so sprechen die überwiegenden Gründe dafür, daß dem Gesetz die Vorstellung von der rechtsgeschäftlichen Haftungsbegründung zugrunde liegt. Selbst wenn man aber eine Regelungslücke annehmen könnte, wäre bei ihrer Ausfüllung dieser rechtsgeschäftlichen Haftungsbegründung der Vorzug zu geben“. Der II . Zivilsenat weist sodann auf die „Vielgestaltigkeit der Erscheinungsformen“ der GbR hin, zu der „die unterschiedslose Strenge der handelsrechtlichen Haftungsbestimmungen wenig“ passe. „Beläßt man es dagegen bei den allgemeinen Grundsätzen des bürgerlichen Rechts, so sind diejenigen differenzierenden Haftungsfolgen zu erzielen, die diesem Bereich – wenn nötig auch unter Berücksichtigung des Gläubigerinteresses – jeweils adäquat sind“. Demgegenüber lautet es nunmehr in dem Urteil vom 7. 4. 2003 – II ZR 56/02 –, 49 in dem die analoge Anwendbarkeit des Haftungskonzepts der OHG bei der GbR auch auf § 130 HGB erstreckt worden ist: „Der Weg dahin war für die Rechtsprechung jedoch damals noch verschlossen, weil sie bis zu der grundlegenden Entscheidung BGHZ 146, 341 der so genannten Doppelverpflichtungslehre folgte“. Abgesehen davon, daß die Doppelverpflichtungslehre schon mit BGHZ 142, 315 verlassen wurde und die so oder so geartete Haftung der Gesellschafter nichts mit der Rechtsfähigkeit der GbR zu tun hat, kann eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der wiedergegebenen früheren Argumentation in dieser Aussage nicht gesehen werden. 50 Die methodische Kritik zur analogen Anwendbarkeit der §§ 128 f. HGB auf die Gesellschafter einer GbR mündete bislang in die These: 51 „Der II . Zivilsenat hätte also auch die bisher von ihm vertretene „Doppelverpflichtung“ als gesetzesnahen Ausgangspunkt (§ 714 BGB ) beibehalten können. Die „Doppelverpflichtung“ von GbR und ihren Gesellschaftern wäre dann nur dahingehend zu modifizieren, daß die nach allgemeinem Zivilrecht mögliche Beschränkung rechtsgeschäftlich erteilBGHZ 154, 370, 373 (Fn. 34). Ebenso kritisch Wössner ZIP 2003, 1235, 1239; Boehme NZG 2003, 764; Canaris ZGR 2004, 69, 114 ff.; zur Begründung auch Eberl-Borges LMK 2003, 168 f., wenngleich „im Ergebnis zu begrüßen“. Vgl. auch K. Schmidt NJW 2003, 1897, 1901: „Viel Federlesens 49 50

wird mit der strengen Haftung auch hier nicht gemacht“. Neuerdings enthält das Urteil des IX . Zivilsenats des BGH vom 22. 1. 2004 – IX ZR 65/01 – ( NJW 2004, 836 = WM 2004, 483) eine Sympathieerklärung für BGHZ 74, 240, 242 f.! 51 Hadding ZGR 2001, 712, 739.

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ter Vertretungsmacht ihrerseits personalgesellschaftsrechtlichen Grenzen unterliegt und eben nicht eine Haftungsbeschränkung der Gesellschafter der GbR herbeizuführen vermag, weil diese Gesellschaftsform – ebenso wie die OHG / KG – kein gesetzlich garantiertes Mindestgesellschaftsvermögen hat“. Das sei im Folgenden näher erläutert: Führt man sich das sachliche Anliegen der Entscheidungen BGHZ 142, 315 und BGHZ 146, 341 erneut vor Augen, so soll eine weitreichende Beschränkung oder gar der Ausschluß jeglicher persönlicher Haftung der Gesellschafter einer GbR für Gesellschaftsschulden vermieden werden, weil diese den Gläubigern nachteilige Gestaltung bei der Gesellschaftsform der GbR, für die eine Mindestkapitalaufbringung und -erhaltung gesetzlich nicht vorgesehen ist, ungerechtfertigt erscheint. Eine kautelarjuristisch herbeigeführte „GbRmbH“ soll hintangehalten werden. Teilt man diese Zielsetzung, so stellt sich bei methodischem Vorgehen eine naheliegende Frage: Wenn die unerwünschte Gestaltung eines Ausschlusses der Gesellschafterhaftung für GbR-Verbindlichkeiten auf der Grundlage des allgemeinen Rechts der Stellvertretung möglich ist (grundsätzlich „Doppelverpflichtung“ kraft Vollmachthandelns auch für die übrigen Gesellschafter gemäß § 714 BGB ), lässt sich diese rechtliche Konsequenz gesellschaftsrechtlich vermeiden? Diese Frage kann wie folgt beantwortet werden: Will man – wie nunmehr der II . Zivilsenat des BGH – das persönliche Verpflichtetsein der Gesellschafter in gleichem Umfang wie rechtsgeschäftlich entstandene Verbindlichkeiten der GbR sicherstellen und eine Haftungsbeschränkung zugunsten der Gesellschafter grundsätzlich nur bei individualvertraglicher Abrede mit dem Gläubiger anerkennen, so sollte die Argumentation dahin gehen, daß die nach allgemeinem Zivilrecht mögliche Beschränkung rechtsgeschäftlich erteilter Vertretungsmacht ihrerseits bei der GbR personalgesellschaftsrechtlichen Grenzen unterliegt. Es muß also nicht von der „Doppelverpflichtung“ von GbR und ihren Gesellschaftern zur „akzessorischen Haftung“ der Gesellschafter kraft Gesetzes (entsprechend §§ 128 f. HGB) gewechselt werden, um eine Haftungsbeschränkung (entsprechend § 128 Satz 2 HGB) zu vermeiden. Vielmehr ist der sachliche Grund, daß es bei der GbR als Gesellschaftsform – ebenso wie bei der OHG / KG – kein gesetzlich garantiertes Mindestgesellschaftsvermögen gibt, dahin zu gewichten, daß die Gesellschafter ihr persönliches Verpflichtetsein (im Wege der „Doppelverpflichtung“) grundsätzlich nicht durch eine Beschränkung der nach § 714 vermuteten gesellschaftsvertraglichen Vollmacht ausschließen können. Man braucht daher nur die in § 714 enthaltene Vermutung als grundsätzlich unwiderleglich zu betrachten und nur die Ausnahme einer individualvertraglichen Abrede mit dem Gläubiger der GbR über eine Haftungsbeschränkung zugunsten der Gesellschafter zuzulassen, um die

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Rechtsfolge von § 128 Satz 2 HGB herbeizuführen. Auch dies ergibt, daß es für eine Analogie zu §§ 128 f. HGB an einer planwidrigen Lücke fehlt. Das Recht der GbR hält insoweit als lex specialis zum allgemeinen Recht der Stellvertretung und ohne methodisch zweifelhafte Anleihe bei dem Recht der OHG / KG die Lösung zu einer grundsätzlich unbeschränkbaren Gesellschafterhaftung durch Auslegung des § 714 BGB selbst bereit. Die Zielerreichung ist daher auf einem Weg möglich, der nicht einen methodisch zweifelhaften „Bruch“ und Paradigmenwechsel mit sich bringt wie die Analogie zu §§ 128 f. HGB . e) Schließlich ist zur Reichweite der vom II . Zivilsenat des Bundesgerichtshofs angenommenen gesetzlichen akzessorischen Gesellschafterhaftung analog §§ 128–130 HGB auch bei der GbR darauf hinzuweisen, daß das unterschiedslose Einstehenmüssen der Gesellschafter für sämtliche gesetzlichen Verbindlichkeiten der Gesellschaft seinerseits Fragen aufwirft. Im Zusammenhang einer Schadenersatzpflicht der GbR (in casu nach § 826 BGB ) hat der Bundesgerichtshof 52 eine solche Haftung allgemein bejaht. Bei einer gegen die GbR gerichteten allgemeinen Leistungskondiktion oder Nichtleistungskondiktion (§ 812 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 oder Fall 2 BGB ) wird der Gesellschafter, wenn er entsprechend §§ 128 f. BGB haftet, in der Regel zu Wertersatz verpflichtet sein (analog § 818 Abs. 2 BGB ), weil eine gegenständliche Herausgabe für ihn mangels eigenen Zugriffs auf das Gesellschaftsvermögen nicht erfüllbar ist. Eine solche Gesellschafterhaftung mit dem privaten Vermögen widerspricht der den §§ 812 ff. BGB vorbehaltenen Aufgabe, eine ungerechtfertigte Bereicherung (nur) dort abzuschöpfen, wo sie (noch) besteht, das heißt hier im Gesellschaftsvermögen der GbR. Allenfalls im Gefolge eines fehlgeschlagenen Rechtsgeschäfts mag das geplante Verpflichtetsein auch der einzelnen Gesellschafter aufgrund der im Zweifel bestehenden gesellschaftsvertraglichen Vollmacht (§ 714 BGB ) einen Anlaß bilden, die Gesellschafter mit einer persönlichen Haftung für die Rückabwicklung zu belasten, und zwar als Gesamtschuldner (analog § 427 oder § 431 BGB ). Eine Haftung der Gesellschafter analog §§ 128 f. HGB für eine gegen die GbR gerichtete allgemeine Nichtleistungskondiktion erweist sich angesichts der Wertung in § 818 Abs. 3 BGB als unangemessen.

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BGHZ 154, 88, 94 (Fn. 35).

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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das reguläre Delisting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entscheidung über den Antrag auf Delisting . . . . . . . . . . . a) Die Entscheidung über das „going private“ . . . . . . . . . . . b) Stellungnahme und Schlussfolgerungen für das Erfordernis einer sachlichen Beschlussrechtfertigung und eines Vorstandsberichtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechte der Minderheitsaktionäre . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Besteht trotz kapitalmarktrechtlicher Abfindungsregelung Bedarf für einen gesellschaftsrechtlichen Minderheitenschutz? . . . . b) Wonach bemisst sich der volle Wert? . . . . . . . . . . . . . c) Wer kommt als Erstattungspflichtiger in Betracht? . . . . . . aa) Angebot der Aktiengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . (1) Erwerb nach § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG . . . . . . . . . (2) Erwerb analog § 71 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AktG, § 207 Satz 1 UmwG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Erfordernis der Rücklagenbildung für eigene Aktien . (4) Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Angebot des Mehrheitsaktionärs oder einer Mehrheit von Aktionären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Wie sieht das Pflichtangebot aus? . . . . . . . . . . . . . . . 3. Welche rechtlichen Maßnahmen stehen den Minderheitsaktionären zur Durchsetzung ihrer Rechte zur Verfügung? . . . . III. Teildelisting und kaltes Delisting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Teildelisting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kaltes Delisting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Das Urteil Macrtron des BGH 1 befasst sich mit dem sogenannten regulären Delisting, also dem Rückzug der Gesellschaft aus dem amtlichen Handel und dem geregelten Markt an allen Börsen. Das Gegensatzpaar bilden 1

BGH, Urt. v. 25. 11. 2002 – II ZR 133/01, AG 2003, 273.

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das Teildelisting und das kalte Delisting. Das Teildelisting wird gekennzeichnet durch den Rückzug von einem Teil der Börsenplätze, die Zulassung an mindestens einem Börsenplatz bleibt also erhalten. Das kalte Delisting wird durch die Vereinigung aller Anteile in einer Hand oder durch ihre Überleitung in eine börsenferne Gesellschaftsform erreicht. 2 Die nachfolgenden Erörterungen beschränken sich auf das reguläre Delisting, den Teilrückzug von der Börse und das kalte Delisting in der Form der Überleitung der Anteile in eine nicht börsennotierte Gesellschaft.

II. Das reguläre Delisting Das reguläre Delisting wirft eine Reihe von Fragen auf, die im Wesentlichen drei Problemkreisen zugeordnet werden können: x Wer ist für die Entscheidung über den Antrag zuständig und von welchen Voraussetzungen hängt sie ab? x Welche Rechte stehen den Minderheitsaktionären zu? x Welche rechtlichen Maßnahmen stehen den (Minderheits-)Aktionären zur Durchsetzung ihrer Rechte zur Verfügung? 1. Entscheidung über den Antrag auf Delisting a) Die Entscheidung über das „going private“ Der BGH misst der Entscheidung darüber, ob sich die Gesellschaft von der Börse zurückziehen soll, unternehmerischen Charakter zu. 3 Folgt man dieser Annahme, ist sie dem Bereich der Unternehmensleitung zuzuordnen, für die der Vorstand zuständig ist und für die er allein verantwortlich zeichnet. 4 Fraglich ist, an Hand welcher Kriterien man entscheidet, ob einer Maßnahme allein unternehmerischer Charakter zukommt oder ob sie einen die Grundlagen der Gesellschaft ändernden Inhalt hat. Von einem die Gesellschaftsgrundlagen ändernden Inhalt des Delisting ist das Berufungsgericht im Falle Macrotron ausgegangen. Es hat die Ansicht vertreten, x

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der Wegfall der Handelbarkeit der Anteile, die dem Aktionär eine jederzeitige Veräußerung der Aktien ermögliche und die durch den Freiverkehr nicht ausgeglichen werden könne, und der Wegfall der Verhaltenspflichten nach dem Börsen- sowie dem Wertpapierhandelsgesetz, insbesondere der Informationspflichten 5 und der 2 3 4 5

Vgl. Adolff/Tieves BB 2003, 797, 805. BGH, Urt. v. 25. 11. 2002 – II ZR 133/01, AG 2003, 273, 276, § 76 Abs. 1 AktG. §§ 40 f. BörsG.

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ad-hoc Publizität, 6 die den amtlichen oder geregelten Markt voraussetzten, tangiere die wirtschaftlichen Interessen der Aktionäre massiv, weil er ihrer ursprünglichen Investitionsentscheidung entgegenstehe. Das mache die Entscheidung zur Grundlagenentscheidung, die nur die Hauptversammlung treffen könne. 7 Im Grundsatz ist der Wertung des BGH zu folgen. Wonach entscheidet sich, ob eine Leitungsmaßnahme vorliegt? Das Gesetz enthält keine subsumtionsfähigen Kriterien für die Leitungsmaßnahmen. Es ist aber allgemein anerkannt, dass die originären unternehmerischen Führungsaufgaben typologisch unter Heranziehung der Erkenntnisse der Betriebswirtschaftslehre konkretisiert werden können. Unter diesem Aspekt werden neben der Unternehmensorganisation und -koordination, der Unternehmenskontrolle, den außergewöhnlichen und riskanten Maßnahmen und Geschäften sowie den personellen Angelegenheiten insbesondere die Unternehmensplanung 8 und die Gestaltung der Unternehmensstrukturierung 9 zu den unternehmerischen Entscheidungen gerechnet. Die Frage des going public oder des going private ist entscheidend für die Finanzpolitik und Finanzstruktur des Unternehmens, sie beeinflusst die Investitionspolitik und Investitionsstruktur der Gesellschaft, sie kann damit auch Auswirkungen auf Produktund Marktpolitik sowie auf Produktions- und Lieferprogramme und die davon abhängige Absatzstruktur haben. Das sind aber ausnahmslos Bereiche unternehmerischer Gestaltung. Dennoch haben die von dem Berufungsgericht für die HV – Zuständigkeit angeführten Umstände Gewicht. Allerdings erlangen sie keine Bedeutung unter den für Holzmüller maßgebenden Gesichtspunkten. Das hat der II . Zivilsenat in seiner Entscheidung zu verdeutlichen versucht: Das going private hat keinen Einfluss auf die innere Struktur der Gesellschaft. Ganz im Gegensatz zu Holzmüller: In diesem Fall gründete die Gesellschaft eine Tochtergesellschaft. Auf sie wurde das wesentliche Betriebsvermögen ausgegliedert. Die Muttergesellschaft betrieb insoweit nicht mehr unmittelbar das operative Geschäft, sondern hielt nur noch die Anteile an der Tochter. Das hatte Auswirkungen auf die Mitwirkungsrechte der Aktionäre, die mediatisiert wurden.10 Der II . Zivilsenat prüft die Frage der Zuständigkeit der HV weiter unter den Gesichtspunkten der Beeinträchtigung des Bestandes der Mitglied§ 15 WpHG OLG München, 14. 2. 2001, AG 2001 364, 365. 8 Dazu gehören Festlegung der Unternehmensziele und der mittel- und langfristigen Unternehmenspolitik wie Grundzüge der Investitions-, Finanz-, Produkt- und Marktpolitik. 9 Dazu sind zu rechnen Entscheidungen zum Investitions-, Produktions- und Lieferprogramm einschließlich Produktionsstätten sowie zur Finanz- und Absatzstruktur. 10 BGHZ 83, 129, 136 ff. – Holzmüller. 6 7

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schaftsrechte, ihrer Verwässerung und ihrer Auszehrung. Der Bestand der Mitgliedschaftsrechte wird – anders als beim squeeze out11 oder der auflösungsbedingten Übertragung12 – nicht berührt. In das Mitgliedschaftsrecht als Vermögensbeteiligung wird ebenso wenig eingegriffen wie sein Vermögenswert verwässert 13 oder ausgezehrt 14 wird. In einem Festschriftbeitrag habe ich die Zuständigkeit der HV für das Delisting nach der gegenwärtigen Rechtslage verneint. Dem liegt einmal die Abwägung der Vor- und Nachteile der Börsenzulassung und des Wegganges von der Börse für die Position der Aktionäre unter gesellschafts- und kapitalmarktrechtlichen Aspekten, zum anderen die Prüfung der Frage zugrunde, ob dem Börsenwert der Aktienanteile der Schutz des Art. 14 GG zukommt.15 Die Abwägung der Vor- und Nachteile des going public und des going private stellen sich wie folgt dar: x

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Dem Vorteil der höheren Fungibilität der Anteile bei Zulassung steht ein entsprechender Nachteil beim Delisting gegenüber. Erleichterung der Kapitalaufnahme, Ausschluss der Möglichkeit zur Beschränkung der Rücklagenbildung durch Vorstand und Aufsichtsrat in der Satzung sowie Abschaffung von statutarischen Höchststimmrechten stärken die Stellung der Gesellschaft und ihrer Verwaltung bei der börsennotierten Gesellschaft; beim Delisting entfallen diese Regelungen, so dass die Stellung der Minderheitsaktionäre gestärkt wird. Umgekehrt stärken die erhöhten Informations- und Publizitätspflichten bei der zugelassenen Gesellschaft die Position der Minderheit und schwächen sie beim Delisting. Mit der Zulassung öffnet sich die Gesellschaft einem breiten Anlegerpublikum und steht im Blickpunkt des Handels- und Marktgeschehens, wodurch sie erhöhten Gefahren ausgesetzt ist.16 Das kann für die Anlageaktionäre, wie der Fall Mannesmann/Vodafone gezeigt hat, von Vorteil sein; es kann sich aber auch nachteilig auswirken, wie die Fälle Wella/Proctor & Gamble bzw. Aventis/Sanofi-Synthélabo zu zeigen scheinen.

Als Ergebnis der Vor- und Nachteilsabwägung war festzustellen, dass eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Position der Minderheitsaktionäre im Sinne von Holzmüller nicht vorliegt. Das entscheidende Argument gegen einen grundgesetzlichen Schutz des Börsenwertes der Aktienanteile nach der Rechtsprechung des Bundesverfas§§ 327a ff. AktG. Vgl. dazu BVerfGE 14, 263, 276 f. – Feldmühle; BVerfG, Beschl. v. 23. 8. 2000 – 1 BvR 68/95 und 147/97, DB 2000 1905 – Moto Meter; BGHZ 76, 352; 103, 184 – Linotype. 13 Vgl. insgesamt BGHZ 71, 40 – Kali und Salz. 14 Vgl. dazu BGHZ 135, 374, 378 f. – Guano. 15 Henze, FS Ulmer, 2003, S. 211, 239 ff. 16 Z.B. der Übernahme nach WPüG . 11 12

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sungsgerichtes17 liegt nach dem Beitrag darin, dass der Börsenwert nach dieser Rechtsprechung lediglich ein Referenzkurs zur Bemessung des Verkehrswertes der Anteile ist, nicht aber zwingend mit diesem übereinstimmt.18 Infolgedessen, so lautet die weitere Schlussfolgerung, kann er auch nicht den verfassungsrechtlich garantierten Schutz des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG) genießen. Der II . Zivilsenat verfolgt in der Macrotron-Entscheidung einen anderen Weg,19 dessen Grundlagen schon in dem DAT /Altana-Beschluss 20 gesehen werden können. Er unterscheidet dort den an der Börse gebildeten Verkehrswert von dem nach § 287 Abs. 2 ZPO ermittelten Schätzwert. Er bringt den Verkehrswert der Aktie mit deren Verkehrsfähigkeit in Zusammenhang und spricht im gleichen Atemzug von „der daran zu messenden Entschädigung des Aktionärs“. Das beruht auf der Überlegung des Bundesverfassungsgerichts, 21 nach der das Aktieneigentum in finanzieller Hinsicht eine Sphäre individueller Freiheit ermögliche. Sodann heißt es in der Entscheidung wörtlich: „Dieser Freiraum fußt auf der besonders ausgeprägten Verkehrsfähigkeit von Aktien. Darin unterscheidet sich die Beteiligung an einer Aktiengesellschaft von anderen Unternehmensbeteiligungen. Vor allem trifft das auf Beteiligungen an börsennotierten Aktiengesellschaften zu, die es dem Gesellschafter, jedenfalls in Zeiten eines funktionierenden Kapitalmarktes, praktisch jederzeit erlauben, sein Kapital nach freiem Belieben zu investieren oder zu deinvestieren.“ In diesem Kontext muss man ferner berücksichtigen, dass – wie es das Bundesverfassungsgericht zum Ausdruck bringt – Minderheitsaktionäre nach dem Erfordernis des Art. 14 Abs. 1 GG wirtschaftlich „voll“ entschädigt werden müssen. Der BGH hat diese Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zum Anlass genommen, den Verkehrswert der börsennotierten Aktie und die jederzeitige Möglichkeit seiner Realisierung zu Eigenschaften des Aktieneigentums zu erheben. Unter dieser Voraussetzung ist die Verkehrsfähigkeit Bestandteil des Mitgliedschaftsverhältnisses und damit Bestandteil des Rechtsverhältnisses zwischen Aktiengesellschaft und Aktionär. Da das 17 Vgl. BVerfGE 14, 263, 276 f. – Feldmühle; 100, 289, 301 ff. – DAT/Altana; BVerfG, Beschl. v. 8. 9. 1999 – 1 BvR 301/89, ZIP 1999, 1804 – Hartmann & Braun; BVerfG, Beschl. v. 23. 8. 2000 – 1 BvR 68/95 und 147/97, ZIP 2000, 1670 – Moto Meter. 18 BVerfGE 100, 289, 301 ff. – DAT/Altana. 19 BGH, Urt. v. 25. 11. 2002 – II ZR 133/01, AG 2003, 273, 275. 20 BGH, Beschl. v. 12. 3. 2001 – II ZB 15/00, AG 2001, 417, 418 f. – DAT/Altana. 21 BVerfGE 100, 289, 301 ff = DB 1999, 1693, 1695.

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Aktieneigentum den verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz genießt, erstreckt sich nach Ansicht des II . Zivilsenates dieser Schutz auch auf seine Eigenschaften. 22 Dieser Eigentumsschutz wird – so die weitere Schlussfolgerung des Senates – dadurch beeinträchtigt, dass durch den Rückzug von der Börse dem Aktionär die Möglichkeit zur jederzeitigen Deinvestition genommen wird. Er wird mit dem vollen Wert seiner Aktie gleichsam „eingemauert“, kann also den vollen Wert nicht mehr realisieren. Dabei unterstellt der Senat, dass er dazu bei Beibehaltung der Börsenzulassung zu irgendeinem Zeitpunkt in der Lage wäre. Aufgrund dieser Beeinträchtigung, so folgert der Senat weiter, ist nicht der Vorstand, sondern die HV für die Entscheidung über das Delisting zuständig. b) Stellungnahme und Schlussfolgerungen für das Erfordernis einer sachlichen Beschlussrechtfertigung und eines Vorstandsberichtes Das Urteil des BGH ist kritisch zu werten. Gegen die Erhebung der Verkehrsfähigkeit zur Eigenschaft der Aktie und die Erstreckung des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes auf die jederzeitige Möglichkeit der Veräußerung des Anteils können sicherlich keine Einwendungen erhoben werden. Problematisch ist aber das Verständnis des Begriffes der Verkehrsfähigkeit. Im Grundsatz muss man differenzieren: Einmal ist zu unterscheiden zwischen den Personengesellschaftsanteilen sowie den vinkulierten Kapitalgesellschaftsanteilen, die nur mit Zustimmung der Gesellschafter bzw. Gesellschaften übertragen werden können. Ihnen mag man eine Verkehrsfähigkeit absprechen. Es bleiben die nicht vinkulierten Kapitalgesellschaftsanteile, die ohne Zustimmung der Gesellschaften veräußert werden können, deren Übertragung aber erschwert ist: Die Übertragung des GmbH-Anteils erfordert eine notarielle Beurkundung, 23 Namensaktien können wie Schuldrechtsforderungen oder durch Indossament übertragen werden. 24 Diesen Anteilen kann man eine Verkehrsfähigkeit nicht absprechen, mag die Übertragung auch nur unter Erschwerungen möglich sein. Sie ist aber nicht von der Zustimmung Dritter abhängig. Einer unbeschränkten Verkehrsfähigkeit unterliegt nur die Inhaberaktie. 25 Die Verdinglichung des mitgliedschaftlichen Vermögensrechtes in der Inhaberaktie rechtfertigt es sicherlich, die dadurch gewährleistete unbeschränkte Verkehrsfähigkeit dieses Rechtes als dessen Eigenschaft zu werten und diese Eigenschaft unter den Schutz des verfassungsmäßig geschützten Eigentums zu stellen. 22 23 24 25

BGH, Urt. v. 25. 11. 2002 – II ZR 133/01, AG 2003, 273, 275. § 15 Abs. 3 GmbHG . §§ 398, 413 BGB ; § 68 Abs. 1 AktG i. V. m. Art. 12, 13 und 16 WG . §§ 929 ff. BGB .

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Wodurch soll es aber gerechtfertigt sein, diesen Schnitt erst bei der börsennotierten Aktie zu vollziehen und die nicht börsennotierte Aktie unberücksichtigt zu lassen? Soll die Rechtfertigung darin gesehen werden, dass die Börsenzulassung einen Absatzmarkt garantiert, bei der fehlenden Zulassung – oder im Freiverkehr26 – der Vertragskontrahent erst gesucht – und gefunden – werden muss, um die Aktie absetzen zu können? In dieser Weise legt sich das Bundesverfassungsgericht auch nicht fest. Es spricht lediglich davon, dass sich die Beteiligung an einer Aktiengesellschaft von anderen Unternehmensbeteiligungen durch die besonders ausgeprägte Verkehrsfähigkeit unterscheide. Das treffe vor allem auf Beteiligungen an börsennotierten Aktiengesellschaften zu, deren Absatz in Zeiten eines funktionierenden Kapitalmarktes jederzeit gesichert sei. Kann man daraus unbesehen den Schluss ziehen, nur die Verkehrsfähigkeit der börsennotierten Aktie sei Eigenschaft des Eigentums und genieße den Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG ? Ein zweiter Umstand ist kritisch zu beurteilen: Der II . Zivilsenat schließt daraus, dass die – durch das Delisting beseitigte – Verkehrsfähigkeit Eigentumsschutz genießt, auf die Zuständigkeit der HV für die Einschränkung der Verkehrsfähigkeit. Folgt man dem Ansatz der Eigentumsbeeinträchtigung, ist das konsequent. An anderer Stelle des Urteils heißt es jedoch: „Die … über das Delisting zu treffende Entscheidung hat unternehmerischen Charakter. Da sie von der Hauptversammlung zu treffen ist, liegt es somit im Ermessen der Mehrheit der Aktionäre, ob die Maßnahme im Interesse der Gesellschaft zweckmäßig ist und geboten erscheint.“ Diese Formulierung wirft drei Fragen auf: x Entscheidet die Hauptversammlung auch über eine Geschäftsleitungsmaßnahme? x Aus welchem Grunde bedarf der Beschluss dann keiner sachlichen Rechtfertigung? x Weshalb muss kein Vorstandsbericht entsprechend § 186 Abs. 4 Satz 2 AktG erstattet werden? Das Initiativrecht, ob der Börse der Rücken gekehrt werden soll, steht dem Vorstand als Geschäftsleitungsmaßnahme zu. Er hat auch das Für und Wider dazu abzuwägen. Die HV entscheidet darüber, ob den Minderheitsaktionären die mit dem Delisting verbundene Einschränkung der Verkehrsfähigkeit ihrer Anteile insbesondere unter dem Aspekt zugemutet werden kann, dass sie mit der Durchführung der Maßnahme in aller Regel die Möglichkeit einbüßen, jemals den vollen Wert ihres Anteils zu liquidieren. Insoweit erlangt die Bereitschaft der Gesellschaft oder eines Dritten Bedeutung, den Aktionären, die ihre Anteile veräußern möchten, den vollen Wert ihrer Beteiligung zu erstatten. 26

§ 57 BörsG.

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Diese Trennung führt zwar letztlich nicht daran vorbei, dass die Berechtigung zur Antragstellung durch den Vorstand – sei es im Innen- oder Außenverhältnis – erst dann besteht, wenn ein positiver Beschluss der HV vorliegt. Sachlicher Wirksamkeitsvoraussetzungen für die Beschlussfassung bedarf es unter diesen Umständen aber nicht. Der Beschluss der HV , dem Vorhaben des Vorstandes zuzustimmen, ist zudem nicht anfechtbar. Dem Aktionär entsteht kein Nachteil, weil ihm ein Anspruch auf volle Entschädigung zugebilligt wird. Die Höhe ist im Spruchverfahren überprüfbar. Aus diesen Gründen bedarf es auch keines Vorstandsberichtes entsprechend § 186 Abs. 4 Satz 2 AktG. Vielmehr reicht die Information darüber aus, dass die Minderheitsaktionäre entsprechend § 124 Abs. 2 Satz 2 AktG über den Widerrufsantrag und seine Einzelheiten und die Höhe der Abfindung unterrichtet werden. Man könnte noch daran denken, dem Aktionär einen Anspruch auf Informationen zu gewähren, die ihn in die Lage versetzen, über seinen Verbleib in der Gesellschaft oder sein Ausscheiden aus ihr auf sachgemäßer Grundlage zu entscheiden. Dessen bedarf es jedoch nicht, weil die Konsequenzen einer Delisting – Entscheidung allgemein bekannt sind.

2. Rechte der Minderheitsaktionäre Der Senat billigt den Minderheitsaktionären einen Anspruch auf Erstattung des vollen Wertes ihrer Aktien zu. Dazu drängen sich sofort vier Fragen auf: Erlaubt die kapitalmarktrechtliche Abfindungsregelung einen zusätzlichen gesellschaftsrechtlichen Minderheitenschutz? x x x

Was bedeutet Erstattung des vollen Wertes? Wer kommt als Erstattungspflichtiger in Betracht? Wie sieht das „Pflichtangebot“ aus? a) Besteht trotz kapitalmarktrechtlicher Abfindungsregelung Bedarf für einen gesellschaftsrechtlichen Minderheitenschutz?

Es mag bereits zweifelhaft erscheinen, ob der Gesetzgeber die Regelung der Abfindung den Börsen überlassen darf (§ 38 Abs. 5 Satz 5 BörsO), ohne bestimmte Mindestvoraussetzungen vorzugeben, die eine Abfindung auf jeden Fall zu erfüllen hat. Dieser Verpflichtung genügt die Regelung „Der Widerruf darf nicht dem Schutz der Anlieger widersprechen“ (§ 38 Abs. 5 Satz 2 BörsO) nicht. Die Rechtsunsicherheit, die diese Regelung für die Anleger mit sich bringt, zeigen exemplarisch die Fälle, in denen Börsen den Widerruf bereits unter der Voraussetzung zulassen, dass den Anlegern nach Veröffentlichung der Widerrufsentscheidung sechs Monate zur Veräußerung

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der vom Widerruf betroffenen Aktien verbleiben. Die Unzulänglichkeit des mit einer solchen Regelung gewährten Schutzes ist unverkennbar. Es ist allgemein bekannt, dass unmittelbar nach bekannt werden des Delistingvorhabens ein Kursverfall der Aktien eintritt. Dem Anleger ist es unter diesen Umständen unmöglich, den Wert seines Investments zu realisieren. Ähnlich ist die in den meisten Börsenordnungen getroffene Regelung zu bewerten, dass dem Anleger ein Betrag zu erstatten ist, der in einem angemessenen Verhältnis zu dem höchsten Börsenpreis der letzten, vor der Veröffentlichung des Widerrufs liegenden sechs Monate steht. Auch damit wird eine volle Entschädigung des Anlegers nicht gewährleistet. Einmal ist nicht ersichtlich, wie die Bemessung eines Betrages vorgenommen werden soll, der in einem angemessenen Verhältnis zu einer Höchstnotierung steht. Zum Zweiten ist nicht ausgeschlossen, dass sich auch bei dieser Regelung der nach bekannt werden des Delistingvorhabens einsetzende Kursverfall, der ja offensichtlich in Relation zu einem vorher notierten Höchstkurs gesetzt wird, zum Nachteil des Anlegers auswirkt. Letztlich ist nicht ausgeschlossen, dass auch dieser Betrag niedriger ist als der Anteilswert, so dass eine volle Entschädigung nicht sichergestellt ist. Folgt man dem Ansatz des II . Zivilsenates, dass die Verkehrsfähigkeit der börsennotierten Aktie als deren Eigenschaft verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz genießt, ist es konsequent, beim Delisting einen aktienrechtlichen Minderheitenschutz zu gewähren. b) Wonach bemisst sich der volle Wert? Das Gesetz geht davon aus, dass sich der Wert des Anteils an einer Kapitalgesellschaft nach dem (inneren) Wert des Unternehmens bemisst. 27 Diese Bemessungswertrelation richtet sich nach den Maßstäben, die für das Recht der Personengesellschaften maßgebend sind. Sie vernachlässigen den Umstand, dass sich Unternehmens- und Anteilswerte vollkommen unterschiedlich entwickeln können, weil diese Werte nicht nur von den Verkaufs – bzw. Erwerbszielen, sondern auch von den Marktgegebenheiten abhängig sind. Sie vernachlässigen auch den Umstand, dass Aktien und ihr Wert aufgrund ihrer hohen Verkehrsfähigkeit ein von dem Unternehmen und seinem Wert unabhängiges Eigenleben entwickeln, das nicht nur von den Informationen über das Unternehmen, sondern auch von Angebot, Nachfrage, Liquiditätsströmen und vielen anderen Umständen abhängt. Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass der Kaufpreis eines Unternehmens in aller Regel nicht ermittelt werden kann, weil es an entsprechenden Transaktionen fehlt, 27 Vgl. u. a. §§ 117 und 317 – jeweils Abs. 1 Satz 2 AktG; § 304 As. 2 Satz 2 AktG – angemessenes Umrechnungsverhältnis; § 305 Abs. 3 Satz 1 AktG – Verschmelzungswertrelation; § 5 Abs. 1 Nr. 3 UmwG – Umtauschverhältnis.

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sondern dass der Unternehmenswert in der Regel im Wege der Schätzung nach §§ 287 Abs. 2 ZPO bzw. 738 Abs. 2 BGB ermittelt wird. Die damit verbundenen Unsicherheiten und Unwägbarkeiten haben das Bundesverfassungsgericht letztlich veranlasst, den vollen Entschädigungswert, der dem Verkehrswert entsprechen soll, nach dem Börsenwert der Aktie als Regelwert zu bemessen. 28 Legt man die Maßstäbe der DAT /Altana – Entscheidungen zugrunde, ist der Minderheitsaktionär mit dem Verkehrswert der Aktie abzufinden. Das ist grundsätzlich der Börsenwert als Mindestwert, wenn dieser Wert höher ist als der Schätzwert. Ist allerdings der Schätzwert höher, ist dieser Betrag als Abfindungsbetrag maßgebend. Auch hier müsste berücksichtigt werden, dass die Kursentwicklung nach Bekanntgabe des Delistingvorhabens außer Betracht bleibt. Als maßgeblich könnte nur der durchschnittliche Börsenkurs eines bestimmten Zeitraums vor der Bekanntgabe des Vorhabens angesehen werden. c) Wer kommt als Erstattungspflichtiger in Betracht? In der Aktiengesellschaft unterliegt das gesamte Gesellschaftsvermögen der gesellschaftlichen Zweckbindung. Den Aktionären darf nur der von der Hauptversammlung zur Ausschüttung freigegebene Bilanzgewinn ausgezahlt werden. Von der Bindung sind ferner die Beträge ausgenommen, die für den Erwerb eigener Aktien aufgewandt werden, soweit das Gesetz einen solchen Erwerb zulässt. 29 Der Grad der Bindung ist dabei unterschiedlich, je nach dem ob das Vermögen die Grundkapitalziffer deckt, 30 der gesetzlichen und der Kapitalrücklage zuzuordnen, 31 in Gewinnrücklagen gebunden ist oder für den Erwerb eigener Aktien verwendet werden soll. 32 Dem musste der BGH in der Macrotron – Entscheidung 33 Rechnung tragen. Dieses Urteil geht davon aus, dass den Minderheitsaktionären mit der Vorlage des Beschlussantrages ein Pflichtangebot durch die Gesellschaft oder den Mehrheitsaktionär unterbreitet werden muss. Das Angebot der Gesellschaft muss sich, wie der Senat beiläufig bemerkt, in den Grenzen der §§ 71 f. AktG bewegen. Dieser Teil der Entscheidungsgründe wirft verschiedene Fragen zur Vermögenserhaltung (einem erweiterten Kapitalerhaltungsgebot) im Aktienrecht auf.

28 Vgl. BVerfGE 100, 289, 301 ff – DAT/Altana; dem – nolens volens folgend – BGH, Beschl. v. 12. 3. 2001 – II ZB 15/00, AG 2001, 417. 29 Vgl. §§ 57, 58, 174 Abs. 2 Nr. 2, 71 ff. AktG. 30 Vgl. §§ 264 ff. AktG. 31 § 150 AktG. 32 § 71 Abs. 2 Satz 2 AktG, § 272 Abs. 4 HGB . 33 BGH, Urt. v. 25. 11. 2003 – II ZR 133/01, AG 2003, 273.

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aa) Angebot der Aktiengesellschaft Das Gesetz lässt den Erwerb eigener Aktien durch die Gesellschaft nur ausnahmsweise unter bestimmten, tatbestandlich eng eingegrenzten Voraussetzungen zu. (1) Erwerb nach § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG Nach Wortlaut und Inhalt der Regelung kommt für den Fall des Delisting nur der Erwerb aufgrund einer Ermächtigung der Hauptversammlung in Betracht, die höchstens für 18 Monate erteilt werden und einen Anteil am Grundkapital von 10 % nicht übersteigen darf. Zugleich muss sie den niedrigsten und höchsten Gegenwert festlegen. 34 Das Angebot der Gesellschaft muss sich an dem Gebot der Gleichbehandlung im Gesellschaftsrecht ausrichten.35 Das heißt im konkreten Fall, dass es an alle Aktionäre zu richten ist, die mit der Maßnahme des Delisting nicht einverstanden sind. Dabei kann es sich um eine verschwindend geringe, aber auch um eine größere Minderheit handeln. In letzterem Fall kann die Gesellschaft sehr rasch an die Grenzen der 10 % – Klausel stoßen. Das gilt umso mehr, als dieser auf das Grundkapital bezogene Anteil die Höchstsumme aus vier der in Betracht kommenden, in § 71 Abs. 1 Satz 1 AktG aufgeführten Erwerbstatbestände darstellt,36 wovon zwei gänzlich anderen Zwecken dienen, so dass die zur Verfolgung dieser Ziele erworbenen Anteile das Erwerbsvolumen für die Zwecke des Delisting einschränken.37 Die Erhöhung der Summe durch Anteile aus Schenkung oder Gesamtrechtsnachfolge, die nicht eingerechnet werden,38 wird man regelmäßig vernachlässigen können. Den Regelfall wird es zwar nicht darstellen, dass die Gesellschaft über Aktien verfügt, die sie gesetzwidrig39 erworben hat und binnen eines Jahres nach Erwerb veräußern muss.40 Ist das jedoch der Fall, ist die Gesellschaft nicht in der Lage, in Höhe der Besitzquote zusätzlich Aktien zu erwerben. Auch muss die Gesellschaft in diesen Fällen aufgrund der Unwirksamkeit des schuldrechtlichen Geschäftes41 der Geltendmachung von Rückforderungsansprüchen Rechnung tragen. Ferner ist der Besitz von zulässiger Weise erworbenen, von der 10 %igen Beschränkung nicht erfassten Aktien zu berücksichtigen,42 die innerhalb von drei Jahren vom Erwerbszeitpunkt ab zu veräußern sind, soweit sie die Marke von 10 % übersteigen. 34 35 36 37 38 39 40 41 42

§ 71 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 AktG. §§ 71 Abs. 1 Satz 3, 53a AktG. § 71 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1–3, 8, Abs. 2 AktG. § 71 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 AktG. § 71 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und 5, Abs. 2 Satz 1 AktG. Unter Verstoß gegen § 71 Abs. 1 und 2 AktG. § 7c Abs. 1 AktG. § 71 Abs. 4 Satz 2 AktG. § 7c Abs. 2 AktG.

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(2) Erwerb analog § 71 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AktG, § 207 Satz 1 UmwG Um der Gesellschaft für den Erwerb eigener Aktien mehr Spielraum zu verschaffen, sind im Schrifttum Überlegungen angestellt worden, 43 auf das Delisting den Rechtsgedanken aus den o. g. Vorschriften anzuwenden, die der Aktiengesellschaft den Aktienerwerb ermöglichen, um Gesellschafter, die nach der Umwandlung einer Gesellschaft ausscheiden möchten, entsprechend der gesetzlichen Regelung bar abfinden zu können. Zwar unterliegt auch diese Regelung der 10 %igen Erwerbsbeschränkung i.S.d. § 71 Abs. 2 Satz 1 AktG. Die Gesellschaft ist jedoch insoweit freier gestellt, als der Erwerb keiner Beschlussfassung der Hauptversammlung bedarf und die Nichtigkeitsfolge des § 71 Abs. 4 Satz 2 AktG nach § 207 Satz 1 Halbsatz 2 UmwG nicht eintritt, so dass die Gesellschaft die Aktien behalten darf und nicht mit Rückabwicklungsansprüchen belastet wird. Dieser Umstand hat allerdings auch zur Folge, dass insoweit die Vermögenserhaltung i.S.d. § 57 Abs. 1 AktG eingeschränkt wird. Das ist aber konsequent, weil die Aufrechterhaltung des Rückgewähranspruches aus § 62 Abs. 1 AktG in Widerspruch zu § 207 Satz 1 Halbsatz 2 UmwG stehen würde, der ja gerade das gegen § 71 Abs. 1 oder 2 AktG verstoßende Rechtsgeschäft als – ausnahmsweise – wirksam behandelt. Von Vorteil ist jedoch, dass der Erwerb nicht von der Volleinzahlung des Ausgabebetrages abhängig ist. 44 Nimmt man mit dem Schrifttum und dem BGH eine Lücke im Minderheitenschutz an, 45 wäre die Frage nach der Vergleichbarkeit der Tatbestände von Umwandlung und Delisting zu stellen. Bereits hier stellen sich Bedenken ein. Bei dem Delisting geht es um die tatsächliche Beschränkung der freien Veräußerlichkeit der Aktien. Bei der Umwandlung sind die Einschnitte gravierender. Wird eine GmbH in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, tritt der Gesellschafter aus dem Stadium der Kapitalerhaltung in das der Vermögenserhaltung mit wesentlich weiteren Bindungen. Aus der GmbH kann er – zumindest bei Vorliegen eines wichtigen Grundes – ausscheiden, 46 wobei die Liquidation des Anteilswertes im Hinblick auf den Kapitalerhaltungsgrundsatz bereits erhebliche Schwierigkeiten bereiten kann. 47 Soweit man dem Aktionär überhaupt das Recht zuerkennen kann, aus der Gesellschaft auszuscheiden, 48 ist das im Hinblick auf den Grundsatz 43 Adolff/Tieves BB 2003, 797, 802, 803 f.; Grupp, Börseneintritt und Börsenaustritt, 1995, S. 202; Vollmer/Grupp ZGR 1995, 459, 475; Pluskat WM 2003, 833, 835. 44 § 71 Abs. 2 Satz 3 AktG. 45 Ablehnend Krämer/Theiß AG 2003, 225, 235; Wirth/Arnold ZIP 2000, 111, 113; eine abschließende Regelung des § 38 Abs. 4 (§ 43 Abs. 4 a.F.) BörsG und eine Sperrung der Herausbildung spezifisch Anleger schützenden Aktienrechts mit guten Gründen verneinend Mülbert ZHR 165 (2001), 104, 116 f. 46 BGHZ 116, 359, 360. 47 Vgl. BGHZ 9, 157 – bestätigt durch BGH, Urt. v. 13. 1. 2003 – II ZR 227/00, DB 2003, 494. 48 Vgl. dazu Schindler, Das Austrittsrecht aus Kapitalgesellschaften, 1999, S. 17 ff.

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der Vermögensbindung und der Beschränkung des entgeltlichen Erwerbs eigener Aktien mit erheblich größeren Schwierigkeiten verbunden als bei der GmbH. Ferner sind die strukturellen Veränderungen – das zeigt sich insbesondere bei der Umwandlung einer Personengesellschaft in eine Aktiengesellschaft – so tief greifend, wie sie beim Delisting überhaupt nicht auftreten können. Selbst wenn man darüber noch hinwegsehen würde, stünde der Analogie letztlich der Ausnahmecharakter der Vorschrift entgegen. Das Gesetz beruht auf der Grundlage eines absoluten Erwerbsverbotes, von dem „nur“, wie es in § 71 Abs. 1 Satz 1 AktG heißt, die im Einzelnen aufgeführten Ausnahmen zugelassen werden. Ist die Ausnahme auf einen Fall beschränkt, der für die Stellung des Gesellschafters schwerer wiegende Veränderungen mit sich bringt als das beim Delisting der Fall ist, verbietet sich die Anwendung des Rechtsgedankens der Ausnahmevorschrift auf einen Sachverhalt, der geringere Auswirkungen auf die Rechtsstellung des Aktionärs hat. (3) Erfordernis der Rücklagenbildung für eigene Aktien Die Zulässigkeit des Erwerbs eigener Aktien macht das Gesetz ferner davon abhängig, dass die in § 272 Abs. 4 HGB vorgeschriebene Rücklage gebildet werden kann, ohne dass das Vermögen beeinträchtigt wird, das die Grundkapitalziffer oder eine nach Gesetz oder Satzung zu bildende Rücklage deckt, die nicht zu Zahlungen an die Aktionäre verwandt werden darf. 49 In die Rücklage ist ein Betrag einzustellen, der dem auf der Aktivseite anzusetzenden Betrag entspricht. 50 Ihre Auflösung ist nur bei Veräußerung, Einziehung oder Ansetzung der Aktien mit einem niedrigeren Wert i. S. d. § 253 Abs. 3 HGB zulässig. Das Aktiengesetz erhöht das durch die Grundkapitalziffer gebundene Vermögen durch die Schaffung einer gesetzlichen Rücklage, 51 in die jährlich 5 % des um einen Verlustvortrag aus dem Vorjahr geminderten Jahresüberschusses einzustellen sind. Das hat solange zu geschehen, bis gesetzliche und Kapitalrücklage 52 zusammen 10 % des Grundkapitals erreichen. Bestimmt die Satzung einen höheren Prozentsatz, ist dieser maßgebend. Der gesetzlich oder satzungsmäßig bestimmte Betrag darf nur zum Ausgleich eines Jahresfehlbetrages oder eines Verlustvortrages aus dem Vorjahr verwendet werden, soweit diese nicht durch einen Gewinnvortrag bzw. Jahresüberschuss oder andere Gewinnrücklagen ausgeglichen werden können53 Aber auch der diese festgelegte Summe übersteigende Betrag darf nur – soweit erforderlich – zur Abdeckung eines Jahresfehlbetrages oder Verlustvor49 50 51 52 53

§ 71 Abs. 2 Satz 2 AktG. § 272 Abs. 4 Satz 1 HGB . § 150 Abs. 1 und 2 AktG. § 272 Abs. 2 Nr. 1 – 3 HGB § 150 Abs. 3 Nr. 1 und 2 AktG.

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trages aus dem Vorjahr oder auch zu einer Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln verwandt werden. 54 Beschließt die Hauptversammlung nach § 58 Abs. 3 Satz 2 AktG aufgrund einer in der Satzung enthaltenen Ermächtigung, den Bilanzgewinn nicht in Gewinnrücklagen einzustellen, als Gewinn vorzutragen oder unter die Aktionäre zu verteilen, sondern zu einem anderen Zweck zu verwenden – in Betracht kommt nur eine Zuwendung an Dritte 55 –, stellt auch dies eine Rücklage i. S. d. § 71 Abs. 2 Satz 2 AktG dar. Aus vorhandenen Gewinnrücklagen kann die für eigene Anteile zu bildende Rücklage nur dann gebildet werden, wenn sie frei verfügbar sind. 56 Diese Voraussetzung ist dann nicht erfüllt, wenn die Gewinnrücklagen für die vorgenannten Ausgleichsmaßnahmen benötigt werden. (4) Schlussfolgerung Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass die Möglichkeit der Aktiengesellschaft, eigene Aktien zu erwerben, in hohem Maße eingeschränkt ist. Dieses Problem verschärft sich dadurch, dass die Verwaltung im Zeitpunkt des Hauptversammlungsbeschlusses über das Delisting keine Kenntnis darüber hat, in welchem Umfang die Minderheitsaktionäre von ihrem Recht auf Rückgabe der Aktien gegen Erstattung des Anteilswertes Gebrauch machen. Ginge man davon aus, dass allein die Aktiengesellschaft das Recht hat, den Aktionären ein Pflichtangebot zu unterbreiten, bestünde die Gefahr, dass die Durchführung manch eines Delisting-Beschlusses zum Scheitern verurteilt wäre. Liegt die Maßnahme aber im Interesse der Gesellschaft, weil sie ihre wirtschaftlichen Ziele zielstrebiger und erfolgreicher verfolgen kann, wenn sie den Gefahren, die eine Börsennotierung mit sich bringt, nicht mehr ausgesetzt ist, entspricht es auch dem wohlverstandenen Interesse der Aktionäre, dass die Gesellschaft den Weg des Delisting beschreitet. Der Mehrheitsaktionär – oder die Mehrheit der Aktionäre – kann unter diesen Umständen der Verwaltung den erforderlichen Rückhalt dafür geben, dass die Gesellschaft erfolgreich fortgeführt wird. Die Minderheitsaktionäre profitieren von diesem Fortbestand durch Erlangung höherer Erträge. Wer der Mehrheit dieses Vertrauen nicht entgegenbringt und mit seinem Investment anders verfahren möchte, dem muss die Möglichkeit gegeben werden, aus der Gesellschaft gegen Erstattung des Anteilswertes auszuscheiden.

§ 150 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 – 3 AktG. Vgl. Bayer in Münchner Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl., § 58 Rn. 91; Hüffer, Kommentar zum AktG., 5. Aufl., § 58 Rn. 25, 27; Henze in Großkommentar zum Aktiengesetz, 4. Aufl., § 58 Rn. 81, 96. 56 § 272 Abs. 4 Satz 3 AktG. 54 55

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bb) Angebot des Mehrheitsaktionärs oder einer Mehrheit von Aktionären Wie die vorstehenden Erörterungen gezeigt haben, kann der grundsätzlichen Unvereinbarkeit von Vermögenserhaltung (erweitertem Kapitalschutz) und Schutz der Vermögensposition der austrittsberechtigten Aktionäre durch Erstattung ihres Anteilswertes in den vom Aktiengesetz gesetzten Grenzen nur unzulänglich Rechnung getragen werden. Der Gesellschaft mag es gelingen, dem Dilemma aus eigener Kraft zu entgehen, wenn die Zahl der opponierenden Minderheitsaktionäre unter 10 % liegt und sie über genügend ungebundenes liquides Vermögen für den käuflichen Erwerb der Aktien verfügt. Liegt nur eine der beiden Voraussetzungen nicht vor, kann sie einen dennoch von der Hauptversammlung gefassten Delisting-Beschluss – wenn er überhaupt wirksam ist 57 – nicht umsetzen. Den Interessen der Gesellschaft, die in diesem Falle mit denjenigen der Aktionärsmehrheit übereinstimmt, und denjenigen der Minderheit kann man unter diesen Umständen nur mit Maßnahmen gerecht werden, die den erweiterten Kapitalschutz nicht tangieren. In dem Urteil des BGH ist das dadurch geschehen, dass neben das Pflichtangebot der Gesellschaft ein solches des Großaktionärs gestellt worden ist. Für eine derartige Lösung gibt es im Gesetz Vorbilder im Unternehmensvertragsrecht. 58 Die Lösung des BGH beruht somit auf einer Anwendung des Rechtsgedankens dieser Vorschriften, ohne dass der Mehrheitsaktionär Unternehmenseigenschaft i.S.d. § 16 ff. AktG aufweisen muss. Schwierigkeiten könnte dieses Modell dann begegnen, wenn sich die Mehrheit aus mehreren nur minderheitlich beteiligten Aktionären zusammensetzt. In einem derartigen Falle müsste von den die Mehrheit repräsentierenden Aktionären verlangt werden, dass sie sich zu einer Interessengemeinschaft (in Form einer BGB -Gesellschaft) zusammenschließen und gemeinsam das Pflichtangebot abgeben, soweit die Abwicklung nicht einverständlich einem der die Mehrheit repräsentierenden Aktionäre übertragen wird. d) Wie sieht das Pflichtangebot aus? Der Senat führt aus, den Minderheitsaktionären müsse mit dem Beschlussantrag ein Pflichtangebot der Gesellschaft oder des Großaktionärs über den Kauf ihrer Aktien vorgelegt werden. Ob darin eine Bedingungslö57 Vgl. BGHZ 144, 365 (GmbH): Der Beschluss über die Einziehung eines Geschäftsanteils ist nichtig, wenn bei der Beschlussfassung feststeht, dass die Erstattung des Anteilswertes ganz oder teilweise nur aus gebundenem Vermögen vorgenommen werden kann. 58 § 304 AktG für die Zahlung des variablen – nach umstrittener Ansicht auch des fixen – Ausgleichs; § 305 AktG für die Abfindung; §§ 320a und 320b AktG bei der Eingliederung; § 327a AktG beim squeeze-out.

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sung zu sehen ist, wie das im Schrifttum vertreten wird, 59 d. h. das Vorliegen des Angebotes Voraussetzung für das ordnungsgemäße Zustandekommen des Hauptversammlungsbeschlusses ist, oder ob es sich nur um eine Anspruchslösung i.S.d. §§ 29 und 207 UmwG handelt, hat der Senat nicht expressis verbis entschieden. Da im gegebenen Falle ein Angebot des Mehrheitsaktionärs vorlag, bestand auch keine Veranlassung, dazu eine Erklärung abzugeben. Analysiert man die Entscheidung des II . Zivilsenates, spricht manches dafür, den Regelungen der §§ 32 und 210 UmwG zu folgen und die Wirksamkeit des Beschlusses nicht von dem Vorliegen eines Angebotes abhängig zu machen. Ebenso wenig sollte die Anfechtung des Beschlusses zugelassen werden. Indirekt hat der Senat diese Tendenz dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er den Minderheitsaktionär wegen der Feststellung des Verkehrswertes in das Spruchverfahren verweist. Im Schrifttum ist ferner ausgeführt worden, auf das Angebot fänden die Vorschriften des WpÜG Anwendung. Teilweise wird es als öffentliches Angebot i.S.d. §§ 1 und 2 WpÜG , teilweise als Pflichtangebot i. S. d. § 35 WpÜG angesehen. Von einem derartigen Verständnis des Angebotes des Mehrheitsaktionärs ist der Senat nicht ausgegangen. Die strengen Anforderungen des WpÜG wird man schon deswegen nicht stellen können, weil das Angebot nicht die Voraussetzungen der §§ 3 ff. WpÜG – Angeb otsVO erfüllt, sondern auf einen Barerwerb beschränkt ist. Zudem springt der Mehrheitsaktionär lediglich aus den dargelegten Gründen für die AG ein, so dass die Zielrichtung eine ganz andere ist als sie dem WpÜG zugrunde liegt. 3. Welche rechtlichen Maßnahmen stehen den Minderheitsaktionären zur Durchsetzung ihrer Rechte zur Verfügung? Der Senat hat sich in den letzten Jahren bemüht, den Anwendungsbereich der Anfechtungsklage im Zusammenhang mit Ausgleichs- und Abfindungsansprüchen einzuschränken und diese Materie so weit wie möglich in das Spruchverfahren zu verlagern. 60 Diesem Grundsatz ist er auch im Verfahren Macrotron treu geblieben. Er musste hier jedoch auf die Rechtsanalogie zu den entsprechenden Verfahrensvorschriften für das Aktien – und Umwandlungsrecht zurückgreifen.61 Hintergrund für diesen Schritt war die Erwägung, dass die Aktionäre nur persönliche Ansprüche aus dem Mitgliedschaftsrecht verfolgen, nicht aber unternehmensrelevante Mitwirkungsrechte ausüben. Vgl. u. a. Adolff/Tieves BB 2003,797, 801. BGH, Urt. v. 18. 12. 2000 – II ZR 1/99, ZIP 2001, 199 – MEZ ; Urt. v. 29. 1. 2001 – II ZR 368/98, ZIP 2001, 412 – Aqua – Butzke; zu den Möglichkeiten der Einschränkung der Anfechtungsklage vgl. Henze ZIP 2002, 97, 101 ff.; ders. BB 2002 893, 897 ff. 61 § 306 AktG, §§ 305 ff UmwG; vgl. jetzt Art. 1 §§ 1 ff. des Gesetzes zur Neuordnung des gesellschaftsrechtlichen Spruchverfahrens vom 12. 06. 2003, BGBl . I, S. 838. 59 60

Voraussetzungen und Folgen des Delisting

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Die Nachteile, die den Gesellschaften mit Anfechtungsklagen zugefügt werden können, kann man darüber hinaus nur dann hinnehmen, wenn von dem Institut der Anfechtungsklage in verantwortungsvoller Weise Gebrauch gemacht wird. Nach den Erfahrungen der letzten 15 – 20 Jahre hat es in vielen Fällen bei den Anfechtungsklägern an dieser verantwortungsvollen Haltung gefehlt. In Fällen, in denen es lediglich um die Wahrnehmung der persönlichen (eigennützigen) Mitgliedschaftsrechte der Aktionäre geht, ist das Spruchverfahren am ehesten geeignet, den Interessen der Gesellschaft und der (Minderheits-)Aktionäre gerecht zu werden. 62 Den Gesellschaften bleiben Belastungen aus der Wiederholung von Hauptversammlungen oder Zeitverzögerungen in der Durchführung der Beschlüsse einschließlich der meist damit verbundenen Schäden erspart; den Gesellschaftern wird die Möglichkeit gewährt, ihre – vermeintlichen – Ansprüche unmittelbar geltend zu machen. Auf den Weg der Kassation des alten und der Herbeiführung eines neuen Beschlusses sind sie zur Durchsetzung ihrer Ansprüche nicht angewiesen. Die gerichtliche Überprüfung der Ansprüche im Spruchverfahren macht es auch überflüssig, eine sachliche Rechtfertigung des Delisting – Beschlusses zu fordern: Dem Aktionär verbleibt die Freiheit zu entscheiden, ob er sein Investment in der Gesellschaft belassen möchte oder nicht. Scheidet er aus, kann er die Höhe seines Anspruchs im Spruchverfahren gerichtlich überprüfen lassen. Aus diesen Gründen erweist sich auch die Erstattung eines Vorstandsberichtes entsprechend § 186 Abs. 4 Satz 2 AktG als überflüssig. Der Senat hält es m. E. zu Recht für ausreichend, wenn entsprechend § 124 Abs. 2 Satz 2 AktG die Einzelheiten mitgeteilt werden, die das Delisting nach Ansicht des Vorstandes erforderlich machen, und darüber hinaus das Abfindungsgebot der Gesellschaft oder des Mehrheitsaktionärs bekannt gegeben wird. Diese Bekanntgabe hat der Senat als Angebot verstanden, das die Aktionäre annehmen können.

III. Teildelisting und kaltes Delisting Die Fragen des Teildelisting und des kalten Delisting hat der Senat bislang nicht entschieden. Prognosen zur Entscheidung dieser Problembereiche sind schwer zu stellen. Man könnte – in Konsequenz zu der vorliegenden Entscheidung zum regulären Delisting – von folgendem ausgehen:

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Vgl. K. Schmidt NZG 2003, 601, 603: „Da setzt der Senat klar auf das richtige Pferd.“

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1. Teildelisting Der II . Zivilsenat sieht den Freihandel (§ 57 BörsG) beim Rückzug vom amtlichen und geregelten Markt nicht als gleichwertigen Ersatz an, durch den eine adäquate Verkehrsfähigkeit der Aktien aufrechterhalten werden könnte. Ob sich ein Börsenpreis bildet, ist nicht sicher; Abnehmer müssen gesucht und gefunden werden. Zwar wird das leichter sein als außerhalb des Freiverkehrs. Sicher wie im amtlichen oder geregelten Handel ist das nicht. Das Teildelisting beschränkt zwar den Absatzmarkt. Diese Beschränkung schließt jedoch den Absatz und damit die Verkehrsfähigkeit der Aktien grundsätzlich nicht aus. Eine erhebliche Beschränkung der Verkehrsfähigkeit mit starken Kursverlusten kann sich jedoch einstellen, wenn – der Fall ist theoretisch denkbar – das Delisting an einem großen – eventuell ausländischen – Börsenplatz durchgeführt, die Aktie jedoch an einer Provinzbörse im Inland weiter gehandelt wird. Andererseits kann man jedoch nicht sicher sein, ob das bei den heutigen kommunikativen Möglichkeiten des Handels und der Händler krasse Beschränkungen der Verkehrsfähigkeit mit entsprechenden Auswirkungen auf den Kurswert hat. 2. Kaltes Delisting Probleme entstehen beim kalten Delisting nur, wenn eine börsennotierte Aktiengesellschaft von einer nicht börsennotierten aufgenommen wird. Ist die aufnehmende Gesellschaft ein Rechtsträger anderer Rechtsform, findet § 29 UmwG Anwendung, nach dem eine Barabfindung zu zahlen ist. Das gleiche gilt für Rechtsträger gleicher Rechtsform, wenn die Anteile des übernehmenden Rechtsträgers Verfügungsbeschränkungen unterliegen. Werden die Minderheitsaktionäre „eingemauert“, so dass infolge Wegfalls der Verkehrsfähigkeit ihrer Aktien der tatsächliche Wert nicht mehr realisiert werden kann, ist eine Situation gegeben, die derjenigen vergleichbar ist, in der eine Verschmelzung auf einen Rechtsträger anderer Rechtsform erfolgt oder – bei Rechtsträgern gleicher Form – bei dem übernehmenden Rechtsträger die Anteile einer Verfügungsbeschränkung unterliegen. Die praktischen Auswirkungen sind gleich. Der Rechtsgedanke aus der Vorschrift könnte daher auf den Fall des kalten Delisting übertragen werden.

Das Leitungsermessen des Vorstands in der Aktiengesellschaft Uwe Hüffer

Inhaltsübersicht Seite

I. Grundposition und Untersuchungsprogramm . . . . . . II. Gegenständlich fixierte Grenzen der Leitungsbefugnis . . 1. Zum Stand der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine authentische Interpretation des § 76 Abs. 1 AktG durch § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG . . . . . . . . . . . . 3. Notwendigkeit einer Ermessensschranke . . . . . . . III. Ausübung des Leitungsermessens . . . . . . . . . . . . . 1. Aktienrechtliche Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . 2. Verwaltungsrechtliche Grundsätze . . . . . . . . . . . 3. Übertragung in den aktienrechtlichen Zusammenhang . IV. Ermessen und Pflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sorgfaltspflichten der Vorstandsmitglieder . . . . . . . 3. Sorgfaltsverstoß und fehlerhafter Umgang mit dem Leitungsermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Grundposition und Untersuchungsprogramm Der Vorstand der AG kann für seine Leitungstätigkeit ein unternehmerisches Ermessen in Anspruch nehmen. Das folgt aus § 76 Abs. 1 AktG, dem auch Ziff. 4.1.1 des Deutschen Corporate Governance Kodex weitgehend nachgebildet ist. Die Vorschrift betrifft die organschaftlichen Rechte und Pflichten des Vorstands in der Gesellschaft. Insoweit enthält sie eine Funktionsbestimmung, indem sie den Vorstand als Leitungsorgan einsetzt und auch eine Richtlinienbestimmung,1 indem sie den Ausgleich der in der Gesellschaft und ihrem Unternehmen zusammentreffenden Interessen der Aktionäre, der Arbeitnehmer und der Öffentlichkeit der sachgerechten Amts1 Für die Terminologie nehme ich Bezug auf Rittner FS Geßler 1971, S. 139 ff.; vgl. auch dens. AG 1973, 113 ff.

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führung des Vorstands überantwortet. Eine Richtlinienbestimmung ist darin gerade deshalb zu finden, weil es keine vorrangige Bindung an ein bestimmtes Interesse gibt, dem Vorstand also aufgegeben ist, alle jeweils betroffenen Interessen nach eigener Entscheidung angemessen zu berücksichtigen. Diese Basisaussagen entsprechen der herrschenden,2 wenn auch nicht unangefochtenen3 Auffassung. Gewonnen ist mit ihnen aber nur das Prinzip, dass der Vorstand für die Leitung der Gesellschaft einen unternehmerischen Ermessensspielraum in Anspruch nehmen kann. Der Weg vom Prinzip zur Rechtsanwendung bleibt mühsam und führt über drei Hauptstationen: Erstens fragt sich, welche Grenzen dem unternehmerischen Ermessen gezogen sind, insbesondere, ob den Grundsätzen über die fehlerfreie Ausübung von Ermessen gegenständliche Schranken vorgelagert sind, ob es also Maßnahmen oder Unterlassungen gibt, für die ein Ermessen überhaupt nicht in Anspruch genommen werden kann (II). Zweitens ist klärungsbedürftig, nach welchen rechtlichen Regeln sich die Ausübung des Leitungsermessens innerhalb seiner Grenzen zu vollziehen hat; dabei interessiert insbesondere, ob und inwieweit die vergleichsweise fortgeschrittene verwaltungsrechtliche Ermessenslehre fruchtbar gemacht werden kann (III). Ein wesentliches Thema stellt es schließlich drittens dar, wie sich die Ausübung des Leitungsermessens, vor allem die fehlerhafte Ermessensausübung, zum Sorgfaltsstandard des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG und namentlich zur Haftung der Vorstandsmitglieder wegen der zu vertretenden Verfehlung dieses Standards nach § 93 Abs. 2 AktG verhält (IV). Das mit diesen Stationen umschriebene Untersuchungsprogramm mag sich etwas abstrakt lesen, enthält aber das gedankliche Fundament für die Prüfung des gelegentlich erhobenen Vorwurfs, der Vorstand habe seine Organpflichten durch eine inhaltlich falsche Entscheidung verletzt. Dann fragt sich nämlich, ob für die aus der Entscheidung folgende Maßnahme oder Unterlassung überhaupt ein Ermessen in Anspruch genommen werden kann, wenn ja, ob es regelgerecht ausgeübt worden ist und, wenn letzteres zu verneinen sein sollte, ob der Ermessensfehler als solcher auch eine Pflichtverletzung darstellt. 2 Hüffer Aktiengesetz, 6. Aufl., 2004, § 76 Rn. 12 ff.; Hefermehl/Spindler in Münchner Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl., 2003, § 76 Rn. 52 ff.; Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, 3. Aufl. 2001, § 14 Rn. 12 ff.; K. Schmidt Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 28 II 1a (S. 805 f.); Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 2003, Rn. 240, 422; aus der Aufsatzliteratur namentlich Clemm FS Ritter, 1997, S. 675, 678 f.; Hopt ZGR 1993, 534, 536 (unter starker Betonung des prozeduralen Elements); s. ferner die Betonung unternehmerischen Ermessens für den Fall des Bezugsrechtsausschlusses in BGHZ 125, 239, 246 = NJW 1994, 1410 sowie die Anerkennung eines weiten unternehmerischen Handlungsspielraums in BGHZ 135, 244, 253 = NJW 1997, 1926; OLG Hamm AG 1995, 512, 514 re.Sp. 3 Teilweise abweichend vor allem Rittner FS Geßler, 1971, S. 139, 142, der die Schranken des unternehmerischen Ermessens nicht aus § 76 Abs. 1 AktG, sondern aus § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG herleiten will.

Das Leitungsermessen des Vorstands in der Aktiengesellschaft

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Der Beitrag berührt verschiedene Grundfragen, unter ihnen den Topos des Unternehmensinteresses oder Unternehmenswohls. Dass unternehmensbezogene Fragen von grundsätzlicher Bedeutung die besondere Aufmerksamkeit von Thomas Raiser finden, ist allseits bekannt und vielfältig belegbar.4 Der Verfasser hofft deshalb, wenn schon nicht allenthalben die Zustimmung, so doch das freundliche Interesse des Jubilars für seine Thesen zu gewinnen.

II. Gegenständlich fixierte Grenzen der Leitungsbefugnis 1. Zum Stand der Diskussion Nach ganz überwiegender Lehre sind der Leitungsbefugnis des Vorstands gegenständliche Grenzen gezogen, ohne dass über ihre Ableitung und ihren genauen Verlauf Einigkeit bestände (a und b). Daneben findet sich allerdings auch die Ansicht, dass nicht die Leitungsergebnisse, sondern nur das Leitungsverfahren rechtlicher Prüfung zugänglich sei (c). a) Nach einem Teil des Schrifttums sind der Leitungsbefugnis des Vorstands Grenzen gezogen, und zwar nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG. Folgt man dieser Ansicht, so darf der Vorstand nur die Maßnahmen ergreifen, die einem „ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiter“ erlaubt sind. Umgekehrt darf er nicht untätig bleiben, wenn der umschriebene Geschäftsleiter tätig werden würde. Dogmatisch handelt es sich bei dieser Ansicht nicht um den Versuch, § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG selbst als Regelung der Leitungsbefugnis zu interpretieren, was abzulehnen wäre, weil die Vorschrift die Pflichten der einzelnen Organmitglieder und nicht die Aufgaben des Gesamtorgans betrifft. Vielmehr wird die Haftungsvorschrift als authentische Interpretation der verantwortlichen Leitung im Sinne des § 76 Abs. 1 AktG verstanden. In diesem Sinne wird davon gesprochen, dass § 93 AktG die Kompetenzvorschrift des § 76 Abs. 1 AktG erläutere. 5 b) Nach einer anderen Ansicht sind der Leitungsbefugnis des Vorstands zwar ebenfalls Grenzen gezogen, doch sind sie nach diesem Konzept nicht aus einer Verknüpfung des § 76 Abs. 1 AktG mit § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG zu gewinnen, sondern aus den Ermessensschranken abzuleiten, die sich schon im Rahmen des isoliert gelesenen § 76 Abs. 1 AktG ergeben; in diesem Sinne spricht Ziff. 4.1.1 Satz 2 des Deutschen Corporate Governance Kodex von einer Bindung an das Unternehmensinteresse. Dabei ist mit dem Begriff der Ermessensschranke gemeint, dass für die ermessenstypische Abwägung 4 S. schon Raiser, Das Unternehmen als Organisation, 1969 (Habilitationsschrift); ferner die exemplarisch gebliebene Kontroverse zwischen Raiser FS Rob. Fischer, 1979, S. 561 ff., und Wiedemann ebda. S. 883 ff.; Raiser (Fn. 2) § 6 Rn. 8 ff., 12. 5 Rittner FS Geßler, 1971, S. 139, 153 f.; s. auch dens. AG 1973, 113, 120.

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verschiedener Belange von vornherein kein Raum ist. Es geht also um eine Grenze der Ermessensausübung und damit notwendig auch um eine Grenze der Leitungsbefugnis; denn was jedenfalls außerhalb des Ermessensspielraums liegt, kann keine zulässige Leitungsmaßnahme sein. Solche Schranken des Ermessens und der zulässigen Leitung liegen nach diesem gedanklichen Ansatz in Bestand und dauerhafter Rentabilität des von der Gesellschaft betriebenen Unternehmens. 6 Eigentlich möchte man es für eher selbstverständlich halten, dass der Vorstand verpflichtet ist, für die dauerhafte Rentabilität zu sorgen, ohne die das Unternehmen nicht bestehen kann. Gleichwohl gibt es auch abweichende Gedankengänge. c) Neben der an § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG anknüpfenden Meinung von Rittner 7 findet sich vor allem8 die Vorstellung, dass eine inhaltliche Verpflichtung des Vorstands namentlich auf die Rentabilität des von ihm geführten Unternehmens mangels hinreichender Bestimmtheit einer derartigen Vorgabe nicht als Gegenstand einer Rechtspflicht tauge. In diesem Sinne kennt das Schrifttum die Generalthese, dass jedwedes Unternehmensziel nicht „operational“ zu handhaben sei.9 Damit ist nicht gesagt, dass der Vorstand bindungslos tätig werden dürfe. Gemeint ist vielmehr, dass die Prüfung seiner unternehmensleitenden Tätigkeit eine Verfahrens- statt einer Ergebnisprüfung zu sein habe. In diesem Sinne wird auch von einer Formalprüfung der Ermessensausübung gesprochen, mit der ein Unterschied zur Sachprüfung der Leitungsergebnisse bezeichnet sein soll. 2. Keine authentische Interpretation des § 76 Abs. 1 AktG durch § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG a) Die gebotene Würdigung der skizzierten Meinungen muss sich zunächst mit dem Zusammenhang der §§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1 Satz 1 AktG auseinandersetzen. Die Frage, ob § 76 Abs. 1 AktG aus sich selbst heraus 6 Insgesamt h.M., vgl. OLG Hamm AG 1995, 512, 514 re.Sp.; Hüffer (Fn. 2) § 76 AktG Rn. 13; Kort in Großkommentar zum Aktiengesetz, 4. Aufl., 19. Lfg. 2003, § 76 Rn. 52; Mertens in Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl., Bd. 2, 1. Lfg. 1989, § 76 Rn. 17 und 22; Goette in FS 50 Jahre BGH , 2000, S. 123, 127; insbesondere zur Beschränkung der Leitungsbefugnis U. Huber in Albach/Sadowski (Hrsg.), Die Bedeutung gesellschaftlicher Veränderungen für die Willensbildung im Unternehmen (Schriften des Vereins für Socialpolitik, Neue Folge Bd. 88), 1975, S. 139, 150 f. 7 Soeben II 1 a. 8 Gegen eine rechtliche Bindung an das Unternehmenswohl Semler FS Raisch, 1995, S. 291, 298 unter Vergleich des deutschen und des österreichischen Rechts; wie die h.M. aber ders, Die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats, 2. Aufl. 1996, § 3 Rn. 49 ff.; ders FS Ulmer, 2003, S. 627, 635. 9 So die weithin verdienstvolle Untersuchung von Großmann, Unternehmensziele im Aktienrecht, 1980, S. 61 ff., 125, 163 ff.

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ausgelegt oder durch die Sorgfaltspflicht des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG inhaltlich bestimmt wird, hat eine auf den ersten Blick nicht erkennbare grundsätzliche Bedeutung; problematisch ist nämlich, ob die Gesellschaft – in üblicher Terminologie – an Bestand und Rentabilität ihres Unternehmens ein eigenes Interesse hat, das vom Vorstand wahrzunehmen ist oder ob der Vorstand nur oder zumindest vorrangig den Aktionärsinteressen verpflichtet ist, soweit auch Belange der Arbeitnehmer oder der Öffentlichkeit in Frage stehen. Das betriebswirtschaftlich orientierte Schrifttum behandelt das Thema unter Vergleich von Stakeholder- und Shareholderinteressen, wobei der Anglizismus nicht schadet, allerdings auch keinen Erkenntnisfortschritt verspricht. Hält man das erste für richtig, so muss man § 76 Abs. 1 AktG autonom auslegen. Sollte jedoch das zweite zutreffen, so ist es zumindest naheliegend, den Norminhalt durch § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG aufzufüllen. Die erste Ansicht stellt den Vorstand in einem Kernbereich seiner Leitungsaufgabe frei, soweit das Rentabilitätsinteresse und die Aktionärsinteressen ausnahmsweise nicht deckungsgleich sind. Die zweite Ansicht bindet ihn dagegen treuhand- oder auftragsähnlich im Konfliktfall an die Aktionärsinteressen. Deshalb liegt unter dieser Prämisse der Rückgriff auf § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG auch nahe. Die Vorschrift geht nämlich auf § 241 HGB a.F. zurück und entspricht noch der Vorstellung eines auftragsähnlichen Rechtsverhältnisses zwischen Vorstand und Aktionären, die bis 1937 unter Anwendung des § 27 Abs. 3 BGB für richtig gehalten wurde.10 b) Das mit Begriffen wie Unternehmens- oder Gesellschaftsinteresse eher belastete als geförderte Thema soll hier nur in gebotener Kürze aufgegriffen werden, und zwar mit der These, dass seit § 70 Abs. 1 AktG 1937 die erste Ansicht zutrifft. Richtig ist zwar, dass es ein eigenes Interesse der juristischen Person im Sinne eines empirisch-psychischen Sachverhalts nicht geben kann.11 Darum geht es aber auch nicht. Entscheidend ist vielmehr, ob § 70 Abs. 1 AktG 1937 bzw. § 76 Abs. 1 AktG 1965 dem Vorstand die Kompetenz zubilligen, im Konfliktsfall auch gegen Aktionärsinteressen zu entscheiden. So sind die Vorschriften gemeint, wie der Vergleich mit der bis 1937 bestehenden Gesetzeslage zeigt; in der Vorläufernorm des § 231 HGB a.F. stand nämlich bezeichnenderweise gar nichts zur Leitungsbefugnis des Vorstands. Vielmehr hieß es: 12 „Die Aktiengesellschaft wird durch den Vorstand gerichtlich und außergerichtlich vertreten. 10 Vgl. z. B. Staub/Pinner HGB , 12./13. Aufl., Bd. 2 1926, § 231 Anm. 7 b. Die ältere aktienrechtliche Lage hat also Ähnlichkeit mit dem principal-agent-Modell des anglo-amerikanischen Rechts. 11 Vgl. Zöllner, Die Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen Personenverbänden, 1963, S. 67 ff., 70 ff.; dens in Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, Einleitungsband, 1984, Einl. Rn. 104 ff., 129 ff. 12 Abdruck z. B. bei Staub/Pinner (Fn. 10).

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Der Vorstand kann aus einer oder aus mehreren Personen bestehen. Die Bestellung zum Mitgliede des Vorstandes ist jederzeit widerruflich, unbeschadet des Anspruchs auf die vertragsmäßige Vergütung.“ Die Vorstandsregelung entsprach also der Rechtslage, die heute noch für den GmbH-Geschäftsführer (§§ 35, 38 GmbHG) besteht, begründete also gerade keine eigenverantwortliche Leitungsbefugnis, sondern beruhte in der Tat auf dem Gedanken eines auftragsähnlichen Verhältnisses. Damit wird aber deutlich, dass es mit § 70 Abs. 1 AktG 1937 zu einem Konzeptionswechsel gekommen ist, nach dem der Vorstand die Belange des Gesellschaftsunternehmens in dem mit den Stichworten Bestand und Rentabilität gekennzeichneten Kernbereich auch gegen Aktionärsinteressen wahrnehmen darf und muss. Dem entspricht es, dass die Annahme eines auftragsähnlichen Verhältnisses zwischen Vorstand und Aktionären heute durchweg auf Ablehnung stößt.13 Entgegen der Ansicht von Zöllner ist diese Konzeption auch sachlich überzeugend, weil es „das“ Aktionärsinteresse ohnehin nicht gibt, sondern nur einen wechselnden Mehrheitswillen. Im Sinne der von Zöllner entwickelten Theorie erweist sich also die Kernkompetenz des Vorstands als eine weitere, vom Verfasser allerdings negierte (starre) Schranke der Stimmrechtsmacht der Aktionäre.14 Das entspricht auch der auf ein ausbalanciertes Machtverhältnis gerichteten Kompetenzordnung des Gesetzes. Seit dem Wegfall der einem Auftragnehmer ähnlichen Rechtsstellung des Vorstands gibt es auch keine Basis mehr für eine inhaltliche Auffüllung des § 76 Abs. 1 AktG durch § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG. Den namentlich von Rittner entwickelten Grundvorstellungen kann daher nicht gefolgt werden. 3. Notwendigkeit einer Ermessensschranke Das Leitungsermessen des Vorstands kann gerade deshalb nicht schrankenlos sein, weil er nicht wie ein Beauftragter mehr oder minder weisungsgebunden ist. Kernkompetenz und Ermessensschranke betreffen im Grunde dasselbe Thema. Es wird nur von konträren Seiten betrachtet: Soweit es um Bestand und Rentabilität des Gesellschaftsunternehmens geht, ist der Vorstand nicht an einen Mehrheitswillen der Aktionäre gebunden, aber deshalb nicht selbst in dem Sinne frei, dass er nach seinem Ermessen disponieren könnte. Vielmehr beginnt der Ermessensspielraum, in dem der Vorstand die Interessen der Aktionäre, der Arbeitnehmer und der Allgemeinheit ohne vorgegebene rechtliche Bindung zu gewichten und auszugleichen hat, erst dann, wenn Bestand und dauerhafte Rentabilität des Gesellschaftsunternehmens nicht in Frage stehen. 13 BGH NJW 1967, 1462, 1463 li.Sp.; LG Detmold AG 1959, 140 re.Sp.; Hüffer (Fn. 2) § 76 Rn. 10 mwN.; Kort (Fn. 6) § 76 Rn. 42. 14 Zöllner (Fn. 11) S. 97, 101 ff.

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Was dagegen im Schrifttum eher vereinzelt vorgebracht worden ist, vermag nicht zu überzeugen. Das gilt zunächst für die von Semler in anderem Zusammenhang zu Grunde gelegte These, es gebe nach § 76 Abs. 1 AktG anders als nach § 70 Abs. 1 öAktG keine Bindung an das „Unternehmenswohl“.15 Diese Bindung an das Unternehmenswohl ist in der Rechtsprechung und inzwischen auch in Ziff. 4.1.1 des Deutschen Corporate Governance Kodex gerade anerkannt16 und bringt auch eher eine rechtliche Selbstverständlichkeit zum Ausdruck. Letztlich nicht zu überzeugen vermag auch die These, dass die dauerhafte Rentabilität des Gesellschaftsunternehmens als abstrakt formuliertes Unternehmensziel nicht „operational“ zu handhaben sei, mangels Bestimmtheit und Bestimmbarkeit keine Ermessensschranke abgeben und deshalb auch die Leitungsbefugnis des Vorstands nicht gegenständlich begrenzen könne.17 An dieser Kritik ist richtig, dass bisher kaum versucht worden ist, einen Rechtsbegriff dauerhafter Rentabilität zu entwickeln, dass die damit verbundenen Schwierigkeiten erheblich sind und dass Ermessensspielräume ohne inhaltliche rechtliche Schranken jedenfalls im öffentlichen Recht nicht unbekannt, sondern als Gestaltungs- oder (verengend) Planungsermessen anerkannt sind und durch eine etablierte Abwägungslehre auch einer begrenzten rechtlichen Kontrolle zugänglich gemacht werden können. Gleichwohl überzeugt es nicht, sich im Rahmen des § 76 Abs. 1 AktG entgegen der herrschenden Meinung auf eine bloße Ermessenskontrolle zurückzuziehen, also nur den Abwägungsvorgang als Entscheidungsverfahren und nicht den Entscheidungsinhalt einer Prüfung zu unterziehen.18 Dagegen spricht nämlich, dass das Aktiengesetz der Leitungsbefugnis des Vorstands in anderen, aber vergleichbaren Zusammenhängen durchaus inhaltliche Grenzen zieht; dass die mit einer Ermessensschranke verbundenen Konkretisierungsprobleme nicht unlösbar sind; schließlich, dass es keine hinreichende Möglichkeit gibt, die für fehlerhaft gehaltene Ermessensausübung einer gerichtlichen Kontrolle zuzuführen. Zum ersten: Selbst der Vorstand einer abhängigen Gesellschaft (§ 17 AktG) bleibt nach § 311 AktG verpflichtet, den nachteiligen Charakter einer ihm abverlangten Maßnahme, die Ausgleichsfähigkeit des Nachteils und die Angemessenheit des Ausgleichs zu prüfen.19 Die in solchen Formulierungen

S. dazu oben Fn. 8. Vgl. zuletzt BGHZ 135, 244, 253 = NJW 1997, 1926; früher schon BGHZ 69, 334, 339 = NJW 1978, 104; der Sache nach auch BGHZ 125, 239, 246 f. = NJW 1994, 1410. 17 Oben II 1 c. 18 Kritisch dazu auch Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, 2. unveränderte Aufl. 1996, S. 140. 19 Vgl. z. B. OLG Hamm AG 1995, 512, 516 li.Sp.; Hüffer (Fn. 2) § 311 Rn. 48; Krieger in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrecht, Bd. 4: Aktiengesellschaft, 2. Aufl. 1999, § 69 15 16

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zum Ausdruck gelangende rechtliche Schranke des Vorstandshandelns ist genau die des § 76 Abs. 1 AktG. In diesem Sinne habe ich für sonstige Maßnahmen im Sinne des § 311 AktG formuliert: 20 „Danach begründetes Ermessen ist weit gespannt und kaum konkretisierbar. … Immerhin wird sich sagen lassen, dass Ermessensüberschreitung vorliegt und damit Nachteil festgestellt werden kann, wenn Maßnahme den Bestand oder die dauerhafte Rentabilität des Gesellschaftsunternehmens ernsthaft in Frage stellt (…) oder wenn sie unkalkulierbare oder für das Unternehmen erhebliche Risiken ohne entsprechende Chancen mit sich bringt (…).“. Weil der Vorstand der abhängigen Gesellschaft in dieser Weise rechtlich gebunden ist („Ermessensüberschreitung“), wäre es geradezu ungereimt, wenn er außerhalb von Abhängigkeitslagen nach bloßem Ermessen über seine Maßnahmen entscheiden dürfte. Zum zweiten: Konkretisierungsprobleme der mit Bestand und dauerhafter Rentabilität bezeichneten Ermessensschranke sind schon deshalb kein tauglicher Einwand, weil die Überlegungen zu § 311 AktG den Schluss auf diese Ermessensschranke unausweichlich machen. Weil sie rechtlich vorgegeben ist, muss sich die Rechtsanwendung mit dem jeweils möglichen Konkretisierungsgrad zufrieden geben. Im Übrigen werden die Schwierigkeiten deshalb überschätzt, weil es nicht erforderlich ist, Bestand und dauerhafte Rentabilität als positives Unternehmensziel brauchbar zu umschreiben. Für die allein maßgebliche Begrenzungsfunktion sind Schwierigkeiten zwar auch vorhanden, aber letztlich nicht größer als bei anderen unbestimmten Rechtsbegriffen. Insbesondere zur Rentabilität sind im Übrigen Präzisierungen möglich, auf die dieser Beitrag jedoch aus Raumgründen verzichten muss. Zum dritten: Anders als im Verwaltungsrecht (§§ 113 Abs. 5 Satz 2, 114 VwGO ) gibt es im Aktienrecht keine Möglichkeit der Aktionäre und nicht einmal des Aufsichtsrats, eine unter Abwägungsfehlern leidende Ermessensausübung einer gerichtlichen Kontrolle zuzuführen, die über eine Inzidentprüfung im Rahmen von Schadensersatzansprüchen (mit dem Zusatzproblem, ob die fehlerhafte Abwägung überhaupt eine haftungsbegründende Handlung darstellt) oder Abberufungsstreitigkeiten hinausginge. Gegen eine bloße Formalprüfung wird man deshalb auch einwenden müssen, dass damit der Rechtsschutz der Gesellschaft und der in ihr zusammengefassten Aktionäre in jedenfalls fragwürdiger Weise verkürzt würde. Nach allem muss es bei der herrschenden Meinung verbleiben, nach der Bestand und dauerhafte Rentabilität nicht erst Abwägungsmaximen, sonRn. 34; Hommelhoff, Gutachten G zum 59. DJT, 1992, S. G 48 mit Formulierungsvorschlag. 20 Hüffer (Fn. 2) § 311 Rn. 34.

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dern schon inhaltliche Schranken der Ermessensausübung und damit auch der Leitungsbefugnis darstellen.

III. Ausübung des Leitungsermessens 1. Aktienrechtliche Ausgangslage Auch wenn der Vorstand sein Leitungsermessen in Anspruch nehmen kann, weil die von ihm ergriffenen oder auch die von ihm unterlassenen Maßnahmen weder den Bestand noch die dauerhafte Rentabilität des Gesellschaftsunternehmens in Frage stellen, steht noch nicht fest, dass die Ermessensausübung fehlerfrei erfolgt ist. Vielmehr muss die Ausübung des Ermessens auch als solche rechtmäßig sein. Bei dieser Prüfung ergibt sich die Schwierigkeit, dass eine spezifisch aktienrechtliche Ermessenslehre bis heute nicht entwickelt ist. Über die Annahme eines im dargelegten Sinne eingeschränkten unternehmerischen Ermessensspielraums und über die Ausarbeitung der relevanten Interessen (gleichbedeutend: Unternehmensziele) einschließlich der negativen Aussage, dass der Vorstand nicht vorrangig einem Interesse verpflichtet ist, sind Rechtsprechung und Schrifttum jedenfalls nicht wesentlich hinausgekommen. Die Gründe für diesen defizitären Befund liegen auf der Rechtsfolgenseite: Eine Lehre vom Leitungsermessen des Vorstands und seiner Ausübung zu entwickeln, erscheint nicht als vordringlich, weil es keine Möglichkeit gibt, einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Vorstandsentscheidung oder gar nach dem Vorbild der Ermessensschrumpfung auf eine bestimmte Maßnahme des Vorstands durchzusetzen. Die in der Holzmüller-Entscheidung vom BGH grundsätzlich anerkannte Unterlassungsklage des Aktionärs21 geht von der Verletzung seiner absolut geschützten Mitgliedsrechte aus und darf deshalb nicht verallgemeinert werden. Daneben ließe sich nur an eine Organklage des Aufsichtsrats denken, der aber nicht das Wort geredet werden soll. Wenngleich danach eine direkte Durchsetzungsmöglichkeit nicht besteht, bleibt das weitgehende Fehlen einer aktienrechtlichen Ermessenslehre doch misslich. Im Entscheidungsverfahren bleibt der Vorstand nämlich auch dann ohne rechtliche Unterstützung, wenn wesentliche Belange ein abgewogenes Urteil erfordern. Auch wäre der Annahme, dass eine Ermessenslehre praktisch nichts hergäbe, nicht zu folgen. Vielmehr können Ermessensfehler jedenfalls unter dem Blickwinkel einer glücklosen Unternehmensführung Bedeutung erlangen, also bei der Entscheidung des Aufsichtsrats über die Wiederbestellung oder Abberufung, beim Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung (§ 84 Abs. 3 Satz 2 AktG) oder beim Entlastungsbe21

BGHZ 83, 122, 133 ff. = NJW 1982, 1703.

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schluss (§ 120 AktG). Ferner ist eine Ermessenslehre hilfreich, wenn es um die Feststellung pflichtgemäßen oder pflichtwidrigen Verhaltens von Vorstandsmitgliedern geht (§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG). Bei fehlerfreier Betätigung des Leitungsermessens ist nämlich von vornherein kein Raum für die Annahme einer Pflichtverletzung. Stellt sich dagegen ein Ermessensfehler heraus, so ist diese Annahme zwar noch nicht ausreichend gerechtfertigt, aber doch als Möglichkeit in Betracht zu ziehen (dazu IV ). Die danach benötigte, aber nur in Ansätzen vorhandene Ermessenslehre 22 könnte sich in Anlehnung an die entsprechenden verwaltungsrechtlichen Grundsätze entwickeln lassen; sie sind deshalb zunächst zusammenfassend darzustellen. 2. Verwaltungsrechtliche Grundsätze a) Stand der öffentlich-rechtlichen Doktrin ist zunächst, zwischen Verwaltungsermessen und Gestaltungsermessen zu unterscheiden. Verwaltungsermessen bezeichnet den Normalfall, nämlich das Rechtsfolgenermessen, das der gesetzesakzessorischen Verwaltung allein zusteht. Das früher auch für möglich gehaltene Ermessen auf der Tatbestandsseite mit dem Folgeproblem, zwischen Ermessensbegriff und unbestimmtem Rechtsbegriff abzugrenzen, kann als überwundene Kategorie angesehen werden; es handelt sich insoweit immer um unbestimmte Rechtsbegriffe.23 Die öffentlichrechtliche Entsprechung des Leitungsermessens nach § 76 Abs. 1 AktG liegt nicht hier, sondern im Gestaltungs- oder (verengend) Planungsermessen, das der Behörde dann zukommt, wenn sie in mehr oder minder eingeschränktem Umfang tätig werden darf, aber nicht muss.24 Auf das Gestaltungsermessen ist vergleichsweise abzuheben, weil der Vorstand nicht gesetzesakzessorisch tätig wird; vielmehr steht ihm auch frei, über die Voraussetzungen und damit über das Ob seiner Maßnahmen zu entscheiden. b) Die Ermessensentscheidung ist dadurch gekennzeichnet, dass nicht eine, sondern verschiedene Maßnahmen rechtmäßig und insoweit gleichwertig sind. Es gibt deshalb grundsätzlich keinen Anspruch auf eine bestimmte Maßnahme, sondern nur den Anspruch auf eine fehlerfreie Ermessensaus22 Hinzuweisen ist vor allem auf Hoerdemann, Bedeutung der verwaltungsrechtlichen Ermessenslehre für die richterliche Kontrolle von Beschlüssen des Aufsichtsrates der Aktiengesellschaft, Diss. Konstanz, 1999; Mutter Unternehmerische Entscheidungen und Haftung des Aufsichtsrats der Aktiengesellschaft, 1994, S. 199 ff.; Raiser NJW 1996, 552, 553; Roth, Unternehmerisches Ermessen und Haftung des Vorstands, 2001, S. 12 ff., 74 ff., 107 ff. 23 Vgl. Ossenbühl in Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1995, § 10 Rn. 10; Wolff/Bachof/Stober Verwaltungsrecht I, § 31 Rn. 31; Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4 Rn. 189 (Stand Januar 1985); genauer Ossenbühl, Freiheit, Verantwortung, Kompetenz (ausgewählte Abhandlungen, 1994), S. 499, 501 f. = DÖV 1968, 618 ff.; eingehende Darstellung bei Hoerdemann (Fn. 22) S. 59 ff. 24 Vgl. z. B. Ossenbühl (Fn. 23) § 10 Rn. 10; Wolff/Bachof/Stober (Fn. 23) § 31 Rn. 57 f.

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übung.25 Eine Ausnahme besteht nur in den Fällen der sogenannten Ermessensschrumpfung oder Ermessensreduzierung auf Null. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass die Behörde zwar auf Grund einer Ermessensnorm zu entscheiden hat, aber von verschiedenen denkbaren Maßnahmen aus Rechtsgründen, besonders wegen des Grundrechtsschutzes für bestimmte Rechte oder Rechtsgüter, nur eine Maßnahme als rechtmäßig übrigbleibt.26 Der praktische Unterschied zwischen einem Anspruch auf die Maßnahme selbst und einem Anspruch auf ein ermessensfehlerfreies Entscheidungsverfahren ist allerdings für das Verwaltungsrecht nicht so bedeutend, wie er nach den üblichen Lehrdarstellungen erscheinen könnte. Er liegt im Wesentlichen in den unterschiedlichen Formen des Verwaltungsrechtsschutzes. Während nämlich im Fall der Ermessensschrumpfung die Verpflichtungsklage zur Verfügung steht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO ), ist der Ermessensfehler im Übrigen durch Bescheidungsklage geltend zu machen (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO ). Die fehlerhafte Maßnahme hat also auch hier keinen Bestand; der Behörde verbleibt allerdings die Befugnis zu erneuter Ermessensausübung, weil die nur kontrollierende Rechtsanwendung die Auswahl zwischen mehreren rechtmäßigen Maßnahmen nicht treffen kann. c) Zur Frage, wann die Ausübung des Ermessens fehlerhaft ist, hat sich ungeachtet terminologischer Unterschiede eine im wesentlichen einheitliche Meinung herausgebildet, die zwischen den Grundtypen der Ermessensunterschreitung, Ermessensüberschreitung und des Ermessensfehlgebrauchs unterscheidet. 27 Speziell für das Gestaltungs- oder Planungsermessen werden die Anforderungen etwas genauer und sprachlich abweichend ausgedrückt. Verlangt wird nämlich nach der Aufnahme des relevanten Tatbestands zunächst, dass eine Abwägung überhaupt stattfindet (sonst: Abwägungsausfall) und dabei wesentliche Belange nicht außer Acht gelassen werden (sonst: Abwägungsdefizit). Abwägungsausfall und -defizit sind Erscheinungsformen der Ermessensunterschreitung. Die ergriffene Maßnahme muss auch sachlich geboten oder wenigstens gerechtfertigt sein (sonst: Abwägungs- oder Ermessensüberschreitung). Im Abwägungsprozess selbst darf die Bedeutung der relevanten Belange nicht verkannt worden sein (sonst: Abwägungsfehleinschätzung) und muss die Gewichtung angemessen im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vorgenommen werden (sonst: Abwägungsdisproportionalität). Abwägungsfehleinschätzung und -disproportionalität sind Varianten des Ermessensfehlgebrauchs. 28 Unstreitig, s. Ossenbühl (Fn. 23) § 10 Rn. 22; Wolff/Bachof/Stober (Fn. 23) § 31 Rn. 54. BVerwGE 11, 95, 97; BVerwGE 47, 280, 283; BVerwGE 84, 96, 92; Ossenbühl (Fn. 23) § 10 Rn. 22; Wolff/Bachof/Stober (Fn. 23) § 31 Rn. 55; ausführlich Hain/Schlette/Schmitz AöR 1997, 33 ff. 27 Vgl. Ossenbühl (Fn. 23) § 10 Rn. 15 ff.; Wolff/Bachof/Stober (Fn. 23) § 31 Rn. 45 ff. 28 Grundlegend Hoppe BauR 1970, 15, 17; ders DVBl . 1974, 641, 644; vgl. aus dem aktienrechtlichen Schrifttum Mutter (Fn. 22) S. 254 ff.; zusammenfassend Wolff/Bachof/Stober 25 26

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3. Übertragung in den aktienrechtlichen Zusammenhang a) Die Frage nach der Übertragbarkeit der skizzierten Abwägungslehre auf § 76 Abs. 1 AktG gliedert sich weiter auf in die Fragen nach der methodischen Statthaftigkeit eines derartigen Vorgehens und nach der Vergleichbarkeit der Verhältnisse, ohne die eine Übertragung nicht zu sachadäquaten Ergebnissen führen könnte. Im ersten Punkt können Bedenken nicht erhoben werden. Ganz ebenso wie zivilrechtliche Rechtsfiguren als inhaltsgleiches öffentliches Recht wiederkehren können, ist auch die umgekehrte Übertragung denkbar und im Aktienrecht nicht fernliegend, weil es hier wie dort um das Organhandeln im Rahmen von Großorganisationen geht. Auch der BGH hat verwaltungsrechtliche Anleihen verschiedentlich vorgenommen. 29 Mit mehr Berechtigung lässt sich nach der Vergleichbarkeit der Verhältnisse fragen. Sie wird teils bejaht, 30 aber auch verneint. 31 Teils wird zwar Vergleichbarkeit angenommen, aber aus einer Analyse des Gestaltungsermessens abgeleitet, dass sich aus dem öffentlichen Recht kein wesentlicher Erkenntnisbeitrag ergibt. 32 Beizutreten ist der bejahenden Ansicht, weil sie dem privaten Korporationsrecht den Zugang zu einer Ermessenslehre eröffnet, über die es nicht anderweitig verfügt, 33 ohne dass grundsätzliche Unterschiede in der Entscheidungsfindung oder in der rechtlichen Struktur der Organbeziehungen zu verzeichnen wären. Solche Unterschiede lassen sich etwa mit Subordination einerseits und Gleichberechtigung andererseits nicht aufzeigen. 34 Auch der Gedanke an eine regelmäßige Bindung des Gesellschaftsorgans an die Interessen der als Eigentümer gedachten Aktionäre, die ein unternehmerisches Ermessen nur als Ausnahme erlaube, 35 enthält jedenfalls für den Vorstand eher eine Wiederaufnahme der Auftragstheorie 36 als eine überzeugende Würdigung von Leitungsentscheidungen. Dabei mag es als bildhafte Umschreibung zwar richtig sein, dass die Aktionäre auf die Ausübung ihrer „Eigentumsrechte“ zu Gunsten der Unternehmensleitung verzichtet haben. Diese ist aber seit 1937 dem Interessenbündel von Kapital, Arbeit und Ge(Fn. 23) § 31 Rn. 62; Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann (Fn. 23) Art. 19 Abs. 4 Rn. 212 f.; beide mit Nachweisen zur Rechtsprechung. 29 Vgl. z. B. BGHZ 71, 40, 43 ff. = NJW 1978, 1316: Die dort vorgenommene Beschlusskontrolle entspricht der Verhältnismäßigkeitsprüfung; BGHZ 83, 122, 131 = NJW 1982, 1703: Ermessensreduktion. Vgl. auch OLG Düsseldorf AG 1995, 416, 418 ff.: Entscheidungsprärogative des Aufsichtsrats (die es allerdings nicht gibt). 30 Hoerdemann (Fn. 22) S. 91 ff., 103 ff., 190 ff. 31 Raiser NJW 1996, 552, 553 re.Sp.; Roth (Fn. 22) S. 13 f. 32 Mutter (Fn. 22) S. 249, 254 ff., 262 f. 33 Auch nicht durch Rezeption der business judgement rule, s. noch IV 3 c. 34 Roth (Fn. 22) S. 13, der dabei aber wohl eher an das Verwaltungsermessen denkt. 35 Raiser NJW 1996, 552, 553 re.Sp. zum Aufsichtsrat. 36 Zu dieser II 1 a und 2.

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meinwohl verpflichtet, 37 was sich auch auf der Ebene der Ermessensausübung nicht auf die Kapital- oder Aktionärsinteressen zurückschneiden lässt. Im Ergebnis läuft dieser Standpunkt darauf hinaus, die Unabhängigkeit des Vorstands auch von Aktionären zu stärken. Das ist in Publikumsgesellschaften wegen der Vielzahl und Unterschiedlichkeit der Aktionärsbelange notwendig und wird unter anderen tatsächlichen Bedingungen dadurch kompensiert, dass die Aktionäre über den Aufsichtsrat die Personalkompetenz ausüben können. Als eher problematisch könnte es erscheinen, ob Unternehmensleitung nach den für das Verwaltungshandeln entwickelten Grundsätzen überhaupt funktionieren kann oder ob überzogene Anforderungen letztlich zur Entscheidungsparalyse führen. Ungeachtet der teilweise anspruchsvollen Terminologie handelt es sich jedoch im Grunde um eher selbstverständliche Anforderungen, die es auch zulassen, bei der Konkretisierung nach der Gewichtigkeit der jeweiligen Entscheidung zu differenzieren. Jedenfalls weitreichende, unternehmerische Entscheidungen38 erfordernde Maßnahmen, über die der Vorstand als Organ zu beschließen pflegt, 39 können ohne Überforderung dem dargestellten Prüfraster unterworfen werden. b) Aus der Zulässigkeit der Übertragung folgt noch nicht, dass sie auch vollen Umfangs sinnvoll ist. Insoweit ist noch zwischen der Rechtsschutzproblematik und der Abwägungslehre zu unterscheiden. Überlegungen zum Rechtsschutz sind im aktienrechtlichen Zusammenhang nicht weiterführend, weil es, wie schon dargelegt, ohnehin keine Möglichkeit gibt, den Vorstand klageweise zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen. Damit erweist sich namentlich die sogenannte Ermessensschrumpfung als eine im Rahmen des § 76 Abs. 1 AktG überflüssige Figur. Für die in Betracht kommenden Rechtsfolgen des Aktiengesetzes (Schadensersatz, Abberufung usw.) genügt es, dass die Verfehlung der nach Sachlage einzig richtigen Entscheidung jedenfalls eine fehlerhafte Ermessensausübung darstellt (Sonderfall der Ermessensüberschreitung). Grundsätzlich übertragungsfähig ist dagegen die Abwägungslehre. Sie beruht im Kern nämlich nicht auf verwaltungsrechtlichen Eigenheiten, sondern entspricht der Sachstruktur von Ermessensentscheidungen, gibt also das dabei zu beachtende Verfahren und die typischen Fehler in verallgemeinerungsfähiger Weise wieder. Das jeweilige Vorstandsverhalten ist also nicht nur auf seine Vereinbarkeit mit Bestand und dauerhafter Rentabilität des Gesellschaftsunternehmens als Ermessenschranken, sondern auch auf die Einhaltung der aufgezeigten Grundsätze zur Betätigung des Ermessens zu prüfen. S. die unter II 1 umschriebene Grundposition. S. dazu Mutter (Fn. 22) S. 4 ff., 22 f. mwN. 39 Vgl. etwa § 3 Abs. 1 lit. b der Mustergeschäftsordnung bei Happ Aktienrecht, 2. Aufl. 2004, Muster 8.01. 37 38

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IV. Ermessen und Pflichtverletzung 1. Einführung Die Pflichtverletzung von Vorstandsmitgliedern ist nach ganz herrschender Auffassung allein in § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG umschrieben. Anders als für das Leitungsermessen des Vorstands als Organ wird insoweit also nicht auf § 76 Abs. 1 AktG zurückgegriffen. Maßgeblich ist nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG die Verfehlung des für Geschäftsleiter geltenden Sorgfaltsstandards. Weil darin zumindest auch ein Verschuldensmaßstab liegt, führt dieses Pflichtenverständnis zur Doppelfunktion der Vorschrift als Umschreibung des objektiven Pflichtenstandards und als Definition des Verschuldensmaßstabs.40 Der Beitrag belässt es bei der herrschenden Meinung, akzeptiert also auf der Ebene der Pflichtverletzung den Wechsel der Anknüpfungsnorm von § 76 Abs. 1 AktG zu § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG, obwohl unter dogmatischen Aspekten manches dafür spricht, nicht nur die Pflichten des Gesamtorgans, sondern auch diejenigen der einzelnen Organmitglieder aus § 76 Abs. 1 AktG zu entwickeln. 41 Diesen Gedanken nicht weiter zu verfolgen, rechtfertigt sich jedenfalls für den hier untersuchten Zusammenhang aus der praktischen Folgenlosigkeit einer bei § 76 Abs. 1 AktG ansetzenden gedanklichen Neuorientierung. Andere praktische Ergebnisse würden sich zumindest im Regelfall nicht einstellen, weil es bei den Pflichtverletzungen um Verhaltensunrecht geht und sich dieses in den Worten von Zöllner „nicht ohne Heranziehung von Sorgfaltsmaßstäben bestimmen lässt“. 42 Entscheidend ist in der Tat, die geeigneten Sorgfaltsmaßstäbe zu entwickeln. Damit wird auch deutlich, welche Aufgabe noch zu bewältigen ist: Es muss geklärt werden, wie sich die Pflichtverletzung als nicht tolerable Unsorgfältigkeit umschreiben lässt (§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG) und wie sich ein solcher Sorgfaltsverstoß zur unberechtigten Inanspruchnahme oder zur fehlerhaften Ausübung von Ermessen verhält. 2. Sorgfaltspflichten der Vorstandsmitglieder a) Über den allgemeinen Sorgfaltsmaßstab, den Vorstandsmitglieder bei ihrer Leitungstätigkeit zu beachten haben, kann es keine Meinungsverschiedenheiten geben. Ich habe dazu formuliert, maßgebend sei „wie ein pflichtbewusster selbständig tätiger Leiter eines Unternehmens der konkreten Art, der nicht mit eigenen Mitteln wirtschaftet, sondern ähnlich wie ein Treuhän-

Vgl. z. B. Hüffer (Fn. 2) § 93 Rn. 3 f. mwN. S. dazu Baumbach/Hueck/Zöllner GmbHG , 17. Aufl. 2000, § 43 Rn. 11 f.; Hüffer (Fn. 2) § 93 Rn. 3 f. 42 Baumbach/Hueck/Zöllner (Fn. 41) § 43 Rn. 17. 40 41

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der fremden Vermögensinteressen verpflichtet ist, zu handeln hat“.43 Diese Umschreibung halte ich auch weiterhin für richtig. Die eigentlichen Schwierigkeiten liegen allerdings weniger in der Formulierung des allgemeinen Standards als in seiner sachgerechten Anwendung. b) Schon im Rahmen von Basisüberlegungen, also ohne Bezug zu konkreten Einzelfällen, lassen sich zu den Sorgfaltspflichten, die bei der Unternehmensleitung zu beachten sind, erste Konkretisierungen vornehmen. Erstens: Weil als Vergleichsfigur der „Leiter eines Unternehmens der konkreten Art“ heranzuziehen ist, kommt es auf die Besonderheiten der jeweiligen Gesellschaft und ihres Unternehmens an. Zweitens muss sich der Vorstand schlüssig werden, welche Handlungsmöglichkeiten für ihn bestehen. Soweit sich mehrere Handlungsmöglichkeiten eröffnen, muss der Vorstand entscheiden, welcher Weg beschritten werden soll; dabei muss er seiner treuhandähnlichen Funktion Rechnung tragen, also den ihm überantworteten Fremdinteressen gerecht werden. Die Zweistufigkeit der Aufgabe hat besondere Bedeutung vor dem Hintergrund der ARAG /Garmenbeck-Entscheidung des BGH , die zwischen einem Erkenntnisbereich, der voller gerichtlicher Nachprüfung zugänglich ist, und einem Handlungsbereich mit mehreren Handlungsoptionen unterscheidet, und die Ermessensfrage auf letzteren beschränkt.44 Den Ausführungen des Urteils wird man zunächst für den Aufsichtsrat beizupflichten haben. Jeder andere im Sinne des Zitats ist aber auch der Vorstand, soweit seine Amtsführung im Einzelfall eine vorrangig kognitive Leistung erfordert, wie sie etwa in der Klärung einer Rechtsfrage oder in der Analyse eines wirtschaftlichen Zusammenhangs zu finden ist. Wenn dies bewältigt ist und danach mehrere Maßnahmen in Betracht kommen, besteht noch die eigentliche Entscheidungsaufgabe. Eher vorsorglich ist drittens und schließlich darauf hinzuweisen, dass Recht und Pflicht des Vorstands zur eigenverantwortlichen Leitung der Gesellschaft (§ 76 Abs. 1 AktG) und folgerichtig auch die Sorgfaltspflichten, die von den Vorstandsmitgliedern dabei zu beachten sind (§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG), auch nach Eintritt von Abhängigkeit (§§ 17, 311 ff. AktG) bestehen. Namentlich ist der Vorstand weder gehalten, einer nachteiligen Veranlassung zu folgen, noch ist er dazu berechtigt, es sei denn, dass ein Nachteilsausgleich im Sinne des § 311 AktG stattfindet. 45 3. Sorgfaltsverstoß und fehlerhafter Umgang mit dem Leitungsermessen a) Als Thema verbleibt das Verhältnis von Sorgfaltspflicht und Leitungsermessen. Dazu ist im Ausgangspunkt klar, dass die unberechtigte Inan43 44 45

Hüffer (Fn. 2) § 93 Rn. 4 mwN. BGHZ 135, 244, 254 = NJW 1997, 1926. OLG Hamm AG 1995, 512, 516 li.Sp.; Hüffer (Fn. 2) § 311 Rn. 48.

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spruchnahme von Ermessen oder seine fehlerhafte Ausübung noch nicht als solche Pflichtverletzungen der Vorstandsmitglieder im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG darstellen. Das eine oder das andere muss sich vielmehr auch als Sorgfaltsverstoß qualifizieren lassen. Die insoweit erforderlichen Überlegungen können präzisiert werden, wenn man das Problemfeld in drei Fragestellungen aufspaltet. Erstens: Wenn der Vorstand sein Leitungsermessen zu Recht in Anspruch nimmt 46 und auch richtig ausübt, 47 hat er alles richtig gemacht. Das schließt nicht aus, dass die vom Vorstand ergriffenen Maßnahmen oder das Unterlassen von Maßnahmen auf Kritik stoßen. Der Vorwurf pflichtwidrigen Handelns bleibt aber notwendig unberechtigt. Zweitens: Die unberechtigte Inanspruchnahme des Leitungsermessens oder seine fehlerhafte Ausübung können den für Geschäftsleiter geltenden objektiven Sorgfaltsstandard verfehlen und deshalb Pflichtverletzungen im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG sein. Auch diese Aussage darf noch auf allgemeine Zustimmung rechnen. Problematisch ist danach nur die dritte gedankliche Station. Dabei geht es um die Frage, ob die unberechtigte Inanspruchnahme oder die fehlerhafte Ausübung von Ermessen notwendig Pflichtverletzungen darstellen oder ob die beteiligten Vorstandsmitglieder trotz solcher Leitungsfehler sorgfaltsgemäß im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG gehandelt haben können. b) Für den dritten Fragenkomplex sind namentlich die Ausführungen heranzuziehen, mit denen der BGH in seinem ARAG /Garmenbeck-Urteil zu den Voraussetzungen Stellung genommen hat, unter denen Vorstandsmitglieder gegenüber der Gesellschaft schadensersatzpflichtig sein können. Diese Ausführungen zielen ins Zentrum der organschaftlichen Pflichten, weil eine Ersatzpflicht ohne Verstoß gegen § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG nicht denkbar ist. Allgemein bekannt geworden ist die Formel vom weiten Handlungsspielraum, ohne den eine unternehmerische Tätigkeit schlechterdings nicht denkbar sei. 48 Gleichermaßen wichtig sind jedoch auch die beiden anschließend formulierten Gedanken, dass nämlich jeder Unternehmensleiter auch bei verantwortungsbewusster Handlungsweise dem Risiko von Fehlbeurteilungen und Fehleinschätzungen ausgesetzt sei und dass eine Schadensersatzpflicht erst in Betracht komme, wenn die Grenzen verantwortlichen Unternehmerhandelns „deutlich überschritten sind, die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, in unverantwortlicher Weise überspannt worden ist oder das Verhalten des Vorstands aus anderen Gründen als pflichtwidrig gelten muss.“ 49 46 47 48 49

Oben II 3. Oben III . BGHZ 135, 244, 253 = NJW 1997, 1926. BGHZ 135, 244, 253 f. (Fn. 48).

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Der zitierte Text spricht im wesentlichen für sich und kann allenfalls im letzten Satzteil dahin ergänzt werden, dass das Verhalten des Vorstands aus anderen vergleichbar gewichtigen Gründen als pflichtwidrig zu gelten haben muss, wenn es für eine Haftungsbegründung in Frage kommen soll. Damit wird auch deutlich, welche Bedeutung die Entscheidung hat, soweit es um die Haftung der Vorstandsmitglieder geht: Selbst wenn ihnen Fehler unterlaufen, handeln sie damit nicht notwendig pflichtwidrig im Sinne des § 93 Abs. 1 und 2 AktG. Es muss sich vielmehr bei Fehlbeurteilungen und Fehleinschätzungen um eine deutliche Grenzüberschreitung oder bei Managementfehlern um eine unverantwortliche Risikoübernahme handeln. Diesen Urteilsaussagen stimmen die Regierungsbegründung zum KonTraG 50 und die ganz herrschende Lehre 51 zu, und zwar mit Recht, weil übertriebene Haftungsrisiken eher zur Entscheidungsparalyse und zu Vermeidungsstrategien als zur Verbesserung der Vorstandsarbeit führen. c) Die naheliegende Überlegung, ob sich das ARAG /Garmenbeck-Urteil in einen größeren Zusammenhang einordnen lässt und ob die schon aufgezeigten Grenzen unternehmerischer Entscheidungen und Handlungen weiter präzisiert werden können, hat Teile des Schrifttums dazu geführt, die Urteilsaussagen in einen Zusammenhang mit der US -amerikanischen business judgement rule zu bringen. In der Zusammenfassung durch Hopt besagt diese Regel, dass Vorstandsentscheidungen einer gerichtlichen Nachprüfung („duty of care“) nicht zugänglich sind, wenn einige Grundbedingungen ordnungsmäßiger Urteilsbildung erfüllt werden. Danach darf der Entscheidungsträger kein eigenes beachtliches Interesse am Entscheidungsergebnis haben, muss er sich vor seiner Urteilsbildung hinreichend informiert haben und wenigstens subjektiv im Interesse der Gesellschaft und ihres Unternehmens tätig geworden sein, und zwar derart, dass dieser gute Glaube auch objektiv nachvollziehbar erscheint.52 Es wird schon richtig sein, dass sich die genannten Gesichtspunkte auch in der Entscheidung des BGH finden.53 Nur sollte man der Versuchung widerstehen, das Urteil als Beleg für eine business judgement rule im deutschen Recht zu begreifen.54 Der II . Zivilsenat des BGH hat sich dazu nicht geäußert und sich insoweit wegen der gedanklichen Antithese zwischen dem Vorstand mit Handlungsspielraum und dem AufRegierungsbegründung, BT-Drucks. 13/9712 S. 21. Hefermehl/Spindler (Fn. 2) § 93 Rn. 24; Hopt in Großkommentar zum Aktiengesetz, 4. Aufl., 11. Lfg. 1999, § 93 Rn. 81 ff.; Hüffer (Fn. 2) § 93 Rn. 13a; sämtlich mwN.; s. auch Henze, Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Aktienrecht, 5. Aufl. 2002, Rn. 294 ff.; der Sache nach schon ganz ähnlich Wiedemann Gesellschaftsrecht, Bd. 1 1980, § 6 IV 1 b (S. 345). 52 Hopt (Fn. 51) § 93 Rn. 83 mwN. in Fn. 248; ausführlicher Merkt, US -amerikanisches Gesellschaftsrecht, 1991, Rn. 683 ff. 53 Vgl. statt vieler Hopt aaO. Rn. 83 aE; Kort (Fn. 6) § 76 Rn. 51. 54 S. dazu auch Henze NJW 1998, 3309, 3310 f.; Semler FS Ulmer, 2003, S. 627, 642. 50 51

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sichtsrat mit Überwachungsaufgabe möglicherweise nicht einmal vertiefte Gedanken gemacht. Das brauchte das Revisionsgericht auch nicht zu tun, weil es nicht einer amerikanischen Rechtsregel, sondern § 93 AktG verpflichtet ist. Danach gibt es aber keine Freistellung von gerichtlicher Überprüfung, sondern nur die Sorgfaltspflicht des ordentlichen Geschäftsleiters, deren Voraussetzungen auch teilweise anders formuliert werden. Den haftungsbegründenden Sachverhalt habe ich zunächst als „schlechthin unvertretbares Vorstandshandeln“ umschrieben. 55 Maßstab der Unvertretbarkeit ist indessen die Evidenz des Fehlers. Deshalb sollte die Unvertretbarkeit auch in diesem Sinne präzisiert werden. Entscheidend ist also neben der Existenz des Leitungsfehlers dessen Evidenz im Zeitpunkt der möglicherweise haftungsbegründenden Maßnahme oder Unterlassung. 56 Wer von der business judegement rule ausgeht, kann darin die materiellrechtliche Umformung der prozedural angelegten und deshalb nicht unverändert rezipierbaren US -amerikanischen Rechtsregeln finden.

V. Fazit Einleitend ist das gedankliche Fundament für die Prüfung einer Pflichtverletzung durch inhaltlich falsche Vorstandsentscheidungen in die drei Hauptstationen Ermessensschranken, Ermessensausübung und Verfehlung des geschuldeten Sorgfaltsstandards eingeteilt worden. Hierzu hat sich ergeben: Ermessensschranken folgen aus der Rechtspflicht des Vorstands, für Bestand und dauerhafte Rentabilität des Gesellschaftsunternehmens zu sorgen. Stehen Bestand oder Rentabilität nicht in Frage, so darf und muss der Vorstand sein Leitungsermessen ausüben. Für dessen fehlerfreie Ausübung kann an die verwaltungsrechtlichen Grundsätze angeknüpft werden, freilich nur, soweit sie sich auf das Gestaltungs- oder Planungsermessen beziehen; an dieser Stelle lädt die Studie auch ihren Adressaten zur Überprüfung möglicherweise abweichender Positionen ein. Zeigt sich ein Ermessensfehler – und nur dann –, gelangt man noch zum Sorgfaltsstandard als dritter Station. Hier zeigt sich, dass die fehlerhafte Inanspruchnahme oder Ausübung des Leitungsermessens nicht ohne weiteres, sondern nur dann haftungsbegründend sind, wenn der Fehler auch objektiv evident war oder sich für das betroffene Vorstandsmitglied anderweitig in vergleichbarer Weise aufdrängte. Das ist nicht die amerikanische business judgement rule, enthält aber ihre Umformung in den materiell-rechtlichen Zusammenhang des § 93 AktG.

Hüffer Aktiengesetz, 4. Aufl. 1999, § 93 Rn. 13a. Hüffer (Fn. 2) § 93 Rn. 13a; im Wesentlichen ebenso Hefermehl/Spindler (Fn. 2) § 93 Rn. 24. 55 56

Zur ökonomischen Theorie der juristischen Person – Die juristische Person im Gesellschaftsrecht im Lichte der Institutionenökonomik – Christian Kirchner Inhaltsübersicht Seite

I. Einführung: Problemaufriss, Problemstellung und Vorgehensweise . 1. Problemaufriss in vier Szenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Szenario 1892: GmbH als juristische Person . . . . . . . . . b) Szenario 1981: Staatsunternehmen in der Volksrepublik China als juristische Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Szenario 2001: Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts als rechtsfähige Personengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . d) Szenario 2003: „Anerkennung“ einer in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union als „juristische Person“ gegründeten Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat . . . . . . . . . 2. Aktualität des Konzepts der „juristischen Person“ im Lichte der vier Szenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Regelungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Überlegungen zu den einzelnen Szenarien . . . . . . . . . . . . III. Rechtswissenschaftliche Problemzugänge . . . . . . . . . . . . . . 1. Zwei mögliche Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bottom-up-Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Top-down-Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Komplementarität der Ansätze und unterschiedliche normative Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ökonomische Problemzugänge – Wahl des ökonomischen Ansatzes 1. Anforderungen an den zu verwendenden ökonomischen Ansatz 2. Der Ansatz der Neuen Institutionenökonomik im Vergleich zu herkömmlichen neoklassischen wohlfahrtstheoretischen Ansätzen . V. Allgemeine institutionenökonomische Überlegungen zur „juristischen Person“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Institutionenökonomische Antworten auf die drei Fragen zur „Anerkennung“ der „juristischen Person“ . . . . . . . . . . . . . .

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1. Frage 1: Abgrenzungsfrage . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine ökonomische Überlegungen . . . . . . b) Ökonomische Überlegungen zu den vier Szenarien 2. Frage 2: Normativbestimmungen . . . . . . . . . . . a) Allgemeine ökonomische Überlegungen . . . . . . aa) Unterfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Registerpublizität . . . . . . . . . . . . . . . cc) Mindestkapitalvorschriften . . . . . . . . . . dd) „Durchgriff“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ökonomische Überlegungen zu den vier Szenarien 3. Legitimationsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung: Problemaufriss, Problemstellung und Vorgehensweise 1. Problemaufriss in vier Szenarien a) Szenario 1892: GmbH als juristische Person Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland wurden Überlegungen angestellt, eine Gesellschaftsform für den Mittelstand zu schaffen, die kostengünstiger als die Aktiengesellschaft, aber vorteilhafter als die Personenhandelsgesellschaft sein sollte. Es ging auch um die Frage, ob diese neue Gesellschaft eine Personenhandelsgesellschaft ohne persönlich unbeschränkt haftende Gesellschafter sein sollte oder – wie die Aktiengesellschaft – eine juristische Person.1 Das Konzept der „juristischen Person“ hat sich, wie § 13 Abs. 1 GmbHG zeigt, durchgesetzt. 2 b) Szenario 1981: Staatsunternehmen in der Volksrepublik China als juristische Personen Im Jahre 1981 setzte mit der Öffnung der Volksrepublik China eine umfassende Reformbewegung in Richtung „sozialistische Marktwirtschaft“ ein. Anfangs heiß umstrittenes Problem war die Frage, ob Staatsunterneh-

1 Vgl. Raiser/Veil Recht der Kapitalgesellschaften, 3. Aufl., 2001, S. 393 f.; Zöllner JZ 1992, 381; umfassend zur Geschichte der GmbH: Schubert Das GmbH-Gesetz von 1892 – „eine Zierde unserer Reichsgesetzessammlung“, in: Lutter/Ulmer/Zöllner FS 100 Jahre GmbH-Gesetz, Köln, 1992, 1–47; Koberg Die Entstehung der GmbH in Deutschland und in Frankreich, 1992. 2 Vgl. für viele: K. Schmidt Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., 2002, S. 985.

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men als „juristische Personen“ rechtlich verselbständigt werden sollten. 3 Diese Frage ist mit dem Gesellschaftsgesetz von 1993 nunmehr endgültig im positiven Sinne entschieden. c) Szenario 2001: Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts als rechtsfähige Personengesellschaft In Rechtsprechung und Literatur war und ist die Frage umstritten, ob einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts unter bestimmten Umständen die Rechtsfähigkeit zuzugestehen ist, 4 ob sie gegebenenfalls darüber hinaus als „juristische Person“ anzuerkennen sei. 5 Mit der Entscheidung ARGE Weißes Roß 6 im Jahre 2001 und weiteren Folgeentscheidungen auf derselben Linie7 wird die Gesellschaft bürgerlichen Rechts nunmehr – zumindest von der Rechtsprechung – als „rechtsfähige Personengesellschaft“ eingeordnet, ohne dass damit auch der Schritt, sie als „juristische Person“ anzuerkennen – bisher – getan worden ist. d) Szenario 2003: „Anerkennung“ einer in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union als „juristische Person“ gegründeten Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat Die Entscheidungen Centros, Überseering und Inspire Art des Europäischen Gerichtshofes 8 haben eine neue Grundlage für die Freizügigkeit von Gesellschaften innerhalb der Europäischen Union gelegt. Ein bisher wenig beachtetet Nebeneffekt der Rechtsprechung liegt darin, dass damit der bisher national fixierte numerus clausus der Gesellschaftsformen aufgebrochen wird. So hat Deutschland Gesellschaftsformen von Unternehmen mit Sitz im Inland anzuerkennen, wenn diese nach dem Recht des Gründungsstaates zulässig sind. Voraussetzung ist, dass dieser Gründungsstaat Mitgliedsstaat 3 Vgl. Kirchner Das chinesische Zivil- und Wirtschaftsrecht als Faktor für die Integration der Volksrepublik China in das internationale Wirtschaftssystem, in: Schweizerisches Institut für Rechtsvergleichung/ CEDIDAC (Hrsg.), Chinesisches Wirtschaftsrecht, Internationale Tagung in Lausanne, 5. und 6. Dezember 1986, S. 89–107, insbes. S. 95–100. 4 Vgl. Hueck/Windbichler Gesellschaftsrecht, 20. Aufl., 2003, § 2 I 2 b (S. 23–25). 5 Bezüglich anderer Gesellschaftsformen, wie die OHG , die KG , die EWIV , die in Rechtsprechung und Literatur meist zu den „rechtsfähigen Personengesellschaften“ gezählt werden (vgl. Hueck/Windbichler (Fn. 4) S. 24) nehmen einige Autoren an, dass diese als „juristische Personen“ „anzuerkennen“ seien: so unter anderem Raiser AcP 194 (1994), 495; ders. AcP 199 (1999), 104; Timm NJW 1995, 3205; Ulmer AcP 198 (1998), 113, 119. 6 BGHZ 146, 341, dazu Hueck/Windbichler (Fn. 4) S. 25. 7 Vgl. etwa BGH NJW 2002, 1207. 8 EuGH vom 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97, Centros, Slg. 1999, I – 1459: EuGH vom 5. 11. 2002, Rs. C-208/00 – Überseering, Slg. 2002, I – 9919; EuGH vom 30. 9. 2003 – Rs. C 167/01 – Inspire Art, AG 2003, 680.

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der Europäischen Union ist. Sieht die betreffende Gesellschaftsform vor, dass die Gesellschaft „juristische Person“ ist, muss diese von der deutschen Rechtsordnung „anerkannt“ werden. 2. Aktualität des Konzepts der „juristischen Person“ im Lichte der vier Szenarien Die „Anerkennung“ der GmbH als „juristische Person“ sowie die Akzeptanz der „juristischen Person“ im neuen Wirtschaftsrecht der Volksrepublik China können als Beispiele erfolgreicher rechtlicher Innovation gewertet werden. Strittig sind die in den Szenarien 2001 und 2003 angesprochenen Probleme. 9 Die Problematik der „Juristischen Person“ ist auch nach einer etwa 200 Jahre langen – oft theoretisch – geführten Kontroverse 10 immer noch bzw. wieder aktuell. 3. Problemstellung Die rechtliche Ausgangsfrage, ob eine Rechtsordnung überhaupt bestimmte Sozialverbände und/oder Sondervermögen als „juristische Personen“ anerkennen sollte, ist heute im positiven Sinne beantwortet und deshalb nicht mehr zentral. Wenn es um die Anerkennung von Gesellschaften als „juristische Personen“ geht, kann das Problem der „Anerkennung“ von Sondervermögen als „juristische Personen“ hier ausgeklammert werden. Das Problem konzentriert sich dann auf drei Fragen in Bezug auf die „Anerkennung“ von Sozialverbänden als „juristische Personen“: (1) Die Frage der Abgrenzung, nämlich, für welche Sozialverbände eine „Anerkennung“ als „juristische Person“ vorgesehen werden soll und welchen Sozialverbänden sie vorenthalten werden soll (Abgrenzungsfrage). (2) Die Frage, unter welchen Bedingungen ein Sozialverband als „juristische Person“ anerkannt werden soll, welche Normativbestimmungen die Voraussetzungen für die Fähigkeit, als „juristische Person“ „anerkannt“ zu werden, regeln sollen (Frage der Normativbestimmungen).11 9 Zur Problematik der Gesellschaft bürgerlichen Rechts als „rechtsfähiger Personengesellschaft“ vgl. aus der Fülle der Literatur nur: Kübler Gesellschaftsrecht, 5. Aufl., 1998, S. 54; Hueck/Windbichler (Fn. 4) S. 23–25; K. Schmidt NJW 2001, 993 ff.; Ulmer ZIP 2001, 585–599, 585 ff.; Beuthien JZ 2003, 715, 715–717; Elsing BB 2003, 909–915; zur rechtlichen Problematik von Szenario 2003 vgl. insbes. Eidenmüller ZIP 2002, 2233–2245; Schanze/ Jüttner AG 2003, S. 1337–1345; Kirchner Zur Ökonomik des legislatorischen Wettbewerbs im europäischen Gesellschaftsrecht, in: FS Immenga 2004, 607–625. 10 Vgl. insbes. Flume Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Band, Zweiter Teil, Die juristische Person, 1983, S. 1–63; K. Schmidt (Fn. 2) S. 181 ff. 11 Zum System der Normativbestimmungen als zentralem Baustein für die „Anerkennung“ „juristischer Personen“: K. Schmidt (Fn. 2) S. 192–195; Raiser/Veil (Fn. 1) S. 5 f.

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(3) Die Frage, welche Instanz legitimiert sein soll, einen Sozialverband als „juristische Person“ „anerkennen“ zu können (Legitimationsfrage). Mit dieser Ausdifferenzierung der Problemstellung werden rechtswissenschaftliche und ökonomische Fragestellungen angesprochen. Hier soll es um den Beitrag der ökonomischen Theorie zur Beantwortung dieser Fragen gehen. 4. Vorgehensweise Um die drei Fragen aus ökonomischer Perspektive angehen zu können, soll in vier Schritten vorgegangen werden. Zuerst soll das Regelungsproblem, dann der spezifische rechtswissenschaftliche Problemzugang erörtert werden, bevor nach der für die ökonomische Herangehensweise passenden ökonomischen Methodik gefragt wird. Mit Hilfe dieser ökonomischen Methodik sollen dann die drei Fragen beantwortet werden, jeweils zuerst allgemein, dann bezogen auf die jeweils relevanten Szenarien.

II. Regelungsproblem 1. Allgemeine Überlegungen Allen vier Szenarien liegt ein gemeinsames Regelungsproblem zugrunde. „Anerkennung“ einer Gesellschaft als „juristische Person“ heißt, dass sie rechtlich in vergleichbarer Art und Weise handlungsfähig wie eine natürliche Person ist, dass sie Eigentümerin eines Gesellschaftsvermögens sein kann, das rechtlich getrennt ist vom sonstigen Vermögen ihrer Gesellschafter. Die „juristische Person“ wird dadurch zum Zuordnungsobjekt von Rechten und Pflichten, dass sie nach den in einer Rechtsordnung geltenden Regelungen als solche „anerkannt“ wird.12 Es wird eine klare und strikte Trennung von Verantwortungssphären und Vermögen vorgenommen. Gläubiger, die einen Anspruch gegen die „juristische Person“ besitzen, bedürfen eines weiteren rechtlichen Grundes, wenn sie auf das vom Gesellschaftsvermögen getrennte sonstige Vermögen der Gesellschafter zugreifen wollen. Für diejenigen, die sich der rechtlichen Konstruktion „juristische Person“ bedienen, bedeutet dies, dass sie unterschiedliche Handlungsbereiche ökonomisch und rechtlich trennen können. Für Dritte, die entweder auf Grund eines Rechtsgeschäftes (freiwillige Gläubiger) oder aus einem gesetzlichen Schutzverhältnis (unfreiwillige 12 Vgl. die Definition der juristischen Person von Thomas Raiser aus dem Jahre 1999 (AcP 199 (1999), 104–144, 108): danach ist die juristische Person „ein als Einheit erscheinendes soziales Gebilde, welches die Rechtsordnung als rechtsfähig anerkennt“.

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Gläubiger) Ansprüche gegen die „juristische Person“ haben, hat die Vermögenstrennung möglicherweise nachteilige Folgen. Für freiwillige Gläubiger kann das Problem auftauchen, dass sich nach dem Zeitpunkt des Abschlusses des Geschäfts, zu dem die Konditionen fixiert worden sind, sich die Vermögenssituation der „juristischen Person“ in einer für die Gläubiger nicht vorhersehbaren Weise verschlechtert. Die Konditionen erweisen sich dann im Nachhinein als „falsch“. Haben die Gesellschafter Einfluss auf eine solche Vermögensminderung, können sie nunmehr von den nicht mehr adäquaten Konditionen profitieren. Für unfreiwillige Gläubiger kann sich das Problem stellen, dass ihr Anspruch von vorneherein eine unzureichende Haftungsmasse der „juristischen Person“ gegenübersteht, ohne dass sie die Möglichkeit haben, daneben auf andere Vermögensmassen zuzugreifen. Sieht man das Regelungsmodell – entsprechend den hier angestellten, sachlich verkürzten – Überlegungen als eine Gegenüberstellung der Vorteile der „juristischen Person“ für ihre Mitglieder und der Nachteile für Dritte, so wird man sich zu fragen haben, welche Sozialverbände in den Genuss der „Anerkennung“ als „juristische Person“ kommen sollen und zu welchen Bedingungen dies geschehen soll (Fragen 1 und 2). Man wird aber auch die Frage zu beantworten haben, welches die richtige Instanz ist, diese beiden Fragen zu beantworten (Frage 3). 2. Überlegungen zu den einzelnen Szenarien Betrachtet man die vier Szenarien im Lichte des so entwickelten Regelungsproblems, konzentriert sich im Szenario 1 (1892) die Aufmerksamkeit auf die Frage der Normativbestimmungen (Frage 2), und zwar in Bezug auf die Mindestkapitalausstattung der GmbH. Im Szenario 2 (1981) standen klar die Vorteile der Vermögenstrennung im Vordergrund, ohne dass mögliche Schädigungen Dritter ins Blickfeld geraten sind. Die „Anerkennung“ der Gesellschaft bürgerlichen Rechts als „rechtsfähiger Personengesellschaft“ bzw. als „juristischer Person“ (Szenario 2001) betrifft den Grad der Handlungsfähigkeit einer solchen Gesellschaft im Rechts- und Geschäftsverkehr. Geht man darüber hinaus und erwägt, die Gesellschaft bürgerlichen Rechts als „juristische Person“ „anzuerkennen“, rückt die Frage des Schutzes von Drittinteressen in den Mittelpunkt. Bei der Anerkennung von Gesellschaften mit Sitz in Deutschland, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union als „juristische Personen“ gegründet worden sind (Szenario 4/2003), ist mit der Erweiterung des numerus clausus der Gesellschaftsformen letztlich zu entscheiden, wer über das Ob und Wie eines Schutzes von Drittinteressen entscheiden soll.

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III. Rechtswissenschaftliche Problemzugänge 1. Zwei mögliche Ausgangspunkte Rechtswissenschaftlich kann man sich den drei Fragen von unterschiedlichen Ausgangspunkten her nähern, nämlich entweder vom sachlich vorfindlichen Regelungssubstrat,13 oder von der rechtlichen Konstruktion her.14 Im Folgenden sind beide Ansätze kurz zu skizzieren. 2. Bottom-up-Ansatz Geht es um die „Anerkennung“ eines Sozialverbandes als „juristische Person“, kann man fragen, welche – rechtlichen oder vorrechtlichen – Strukturen ein solcher Sozialverband aufweist, ob bereits eine weitgehende Verselbständigung des Sozialverbandes im Verhältnis zu seinen Mitgliedern stattgefunden hat, und ob Verbandsstrukturen existieren, die unabhängig vom wechselnden Bestand der Mitglieder zur Verfügung stehen (körperschaftliche Organisationsstruktur). Man sieht sich das soziale Substrat an und vollzieht durch seine „Anerkennung“ als „juristische Person“ nur den letzten Schritt in einem Prozess der Verselbständigung dieses Sozialverbandes. Dahinter steht die normative Vorstellung, dass ein derart bereits vorrechtlich weitgehend verselbständigter Sozialverband ein Recht auf die „Anerkennung“ als „juristische Person“ habe. Eine solche Herangehensweise an das Problem hat den Vorteil, dass bereits Kriterien für die erste der hier gestellten Fragen, nämlich nach den Abgrenzungskriterien für anerkennungsfähige Sozialverbände, entwickelt werden. Für die zweite Frage, nämlich die nach den Normativbestimmungen, ist insofern eine Vorentscheidung gefallen, als es nach einer solchen Position nicht Sache der Willkür des Staates sein kann, unter welchen Bedingungen ein Sozialverband als „juristische Person“ „anzuerkennen“ ist. Nur solche Bedingungen erscheinen gerechtfertigt, die notwendig sind, um Drittinteressen zu schützen. Ein solcher Ansatz konstruiert rechtliche Regelungen von den im Rechtsverkehr handelnden Akteuren her, um dann nach den – passenden – Regelungen des staatlichen Rechts zu fragen. Es handelt sich um einen bottomup-Ansatz.15 13 Diesen Ausgangspunkt nehmen die Rechtswissenschaftler, die wie Gierke, vom soziologischen Sachverhalt die rechtliche Regelungsproblematik entwickeln; vgl. Flume (Fn. 10) S. 1–63, insbes. S. 16 ff. 14 Diesen Ausgangspunkt nehmen Rechtswissenschaftler, die wie Savigny, von der rechtlichen Konstruktion her die Einsatzfähigkeit und die Ausgestaltung des Instruments „juristische Person“ untersuchen: Flume (Fn. 10) S. 1–63, insbes. S. 16 ff. 15 Vgl. Kirchner Formen innerstaatlicher Interaktionsregeln für wirtschaftliche Prozesse, in: Korff u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Band 2, 1999, S. 127, 156–159.

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3. Top-down-Ansatz Eine andere Herangehensweise an das Problem – wiederum bezogen auf die „Anerkennung“ eines Sozialverbandes als „juristische Person“ – ist eine konstruktiv-funktionale: Es wird gefragt, mit Hilfe welcher rechtlichen Konstruktion oder Konstruktionen eine rechtliche Verselbständigung eines Sozialverbandes möglich ist. Entscheidend ist nicht, um was für einen Sozialverband es sich konkret handelt. Relevant ist das entwickelte rechtliche Regelungsmuster, dem zufolge dieser als „juristische Person“ „anerkannte“ Sozialverband als künstliche Rechtsperson – weitgehend – rechtlich analog zur natürlichen Person behandelt wird. Diese wird rechtlich handlungsfähig gemacht; es wird ihr ein Vermögen zugeordnet. Handlungen dieses Sozialverbandes werden dann nicht den für diesen handelnden natürlichen Personen zugerechnet, sondern dieser künstlichen Rechtsperson. Rechte und Pflichten werden nicht den Mitgliedern, sondern unmittelbar der künstlichen Rechtsperson zugeordnet. Es wird in der Sphäre des Rechts eine Person konstruiert, die ohne natürliche Person zu sein, Träger von Rechten und Pflichten sein kann, die zu Rechtshandlungen fähig ist. Interessant an dieser Konstruktion ist die Fokussierung auf die Rechtsfolgen: die „Anerkennung“ eines Sozialverbandes als „juristische Person“ wird von der Rechtsfolgenseite her konstruiert. Das Funktionale an diesem Ansatz liegt darin, dass entscheidend für die „Anerkennung“ des Sozialverbandes als „juristische Person“ und damit für die Abgrenzung anerkennungsfähiger Sozialverbände die Frage ist, welche Zwecksetzungen mittels der neuen rechtlichen Konstruktion erreicht werden können. Entscheidend ist damit die durch das staatliche Recht vorgegebene Zwecksetzung. Es handelt sich um einen top-down-Ansatz.16 Gemäß der vorgegebenen Zwecksetzung wird ein Bedarf an rechtlicher Verselbständigung von Sozialverbänden unterstellt, zugleich aber auch die Notwendigkeit, Drittinteressen zu schützen. Die rechtliche Konstruktion „juristische Person“ lässt sich hier als eine rechtswissenschaftliche Innovation begreifen. 4. Komplementarität der Ansätze und unterschiedliche normative Positionen Die beiden erörterten Ansätze nähern sich den relevanten Fragen – nach dem hier verwendeten Schema sind dies die Fragen 1 und 2 – von unterschiedlichen Seiten her und tragen je aus ihrer Sichtweise zur Beantwortung der Fragen bei. Es ist kein Zufall, dass die rechtspolitischen Positionen eines bottom-up-Ansatzes sich von denen eines top-down-Ansatzes unter16 Vgl. Kirchner Formen innerstaatlicher Interaktionsregeln für wirtschaftliche Prozesse (Fn. 15) S. 138–156.

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scheiden. Es ist hier nicht der Ort, in Fortsetzung der rechtswissenschaftlichen Diskussion die eine oder die andere normative Position zu kritisieren oder zu untermauern. Statt dessen soll versucht werden, – ergänzend zu dieser rechtswissenschaftlichen Erörterung – den ökonomischen Ansatz ins Spiel zu bringen.

IV. Ökonomische Problemzugänge – Wahl des ökonomischen Ansatzes 1. Anforderungen an den zu verwendenden ökonomischen Ansatz Ein ökonomischer Problemzugang zu Fragen der „juristischen Person“ setzt voraus, dass der verwendete ökonomische Ansatz drei Bedingungen erfüllt: (1) Ein solcher Ansatz muss in der Lage sein, die Organisation der Unternehmung und deren Auswirkungen auf externe Akteure zum Untersuchungsgegenstand zu machen. (2) Für eine positive Analyse müssen die Annahmen des Ansatzes so realitätsnah sein, dass prognosefähige Aussagen gemacht werden können. (3) Für eine normative Analyse müssen die normativen Kriterien so beschaffen sein, dass Gestaltungsvorschläge, die auf der Grundlage einer solchen Analyse gemacht werden, politische Akzeptanz finden können. 2. Der Ansatz der Neuen Institutionenökonomik im Vergleich zu herkömmlichen neoklassischen wohlfahrtstheoretischen Ansätzen Die Neue Institutionenökonomik17 untersucht die Entstehung, Veränderung und Wirkungsweise von „Institutionen“. Unter „Institutionen“ werden sanktionsbewehrte Regelungen und Regelungssysteme verstanden.18 Zu den für die Unternehmensorganisation relevanten Regelungen gehören auch rechtliche Regelungen. Als sanktionsbewehrte formale Regelungen fallen sie unter den Begriff der „Institution“ im Sinn der Neuen Institutionenökonomik. Dies gilt auch für Haftungsregelungen, die ins Spiel kommen können, wenn es gilt, den Schutz Dritter rechtlich zu gewährleisten. Bei der positiven Analyse weist die Neue Institutionenökonomik – im Vergleich zu neoklassischen Ansätzen19 – bezüglich der verwendeten Annah-

17 Richter/Furubotn Neue Institutionenökonomik, 3. Aufl., Tübingen 2003; Voigt Institutionenökonomik, 2002; Terberger Neo-institutionalistische Ansätze, 1994. 18 Vgl. Richter/Furubotn (Fn. 17) S. 7, 582. 19 Zur Kritik der Annahmen der neoklassischen Ökonomik insbes. Richter/Furubotn (Fn. 17) S. 1–16, 544; Voigt (Fn. 17), S. 26–31.

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men folgende Besonderheiten auf, die sich für die Erstellung prognosefähiger Aussagen als vorteilhaft erweisen. 20 – Annahme beschränkter (unvollkommener individueller) Rationalität – Annahme systematisch unvollständiger Information – Annahme positiver Transaktionskosten Im Rahmen der positiven Analyse untersucht die Neue Institutionenökonomik Phänomene wie Transaktionskosten, externe Effekte und ex-postOpportunismus. Bei der normativen Analyse setzt die Neue Institutionenökonomik nicht – wie die neoklassische Wohlfahrtsökonomik – auf die Maximierung der Gesamtwohlfahrt, sondern entwickelt in Fortführung vertragstheoretischer Ansätze 21 auf der Grundlage des normativen Individualismus 22 das Konstrukt des hypothetischen Konsenses. 23 Nach diesem Konzept wird gefragt, auf welche Lösung sich beschränkt rational handelnde, eigennutzorientierte Akteure unter dem Schleier des Nichtwissens (veil of ignorance) 24 einigen könnten (Zustimmungsfähigkeit).25

V. Allgemeine institutionenökonomische Überlegungen zur „juristischen Person“ Will man im Vorfeld zur Beantwortung der drei Fragen zur „Anerkennung“ der „juristischen Person“ aus ökonomischer Sicht dem Problem nachgehen, worin Vor- und Nachteile der Rechtskonstruktion „juristische Person“ liegen, erscheint es sinnvoll, aus institutionenökonomischer Sicht diese Fragestellung wie folgt zu präzisieren: Zuerst wäre zu klären, wie es um die Nachfrage nach einer Rechtskonstruktion „juristische Person“ bestellt ist und wie sich diese ökonomisch begründen lässt. Es wäre wenig sinnvoll, eine solche Rechtskonstruktion zu entwerfen, wenn kein Bedarf besteht. Im zweiten Schritt wäre dann der Frage nach möglichen negativen 20 Vgl. Richter/Furubotn (Fn. 17) S. 4, 45; K. Arrow Economics as It Is and as It Is Developing: A Very Rapid Survey, in: Albach, H., Rosenkranz, S. (Hrsg.), Intellectual Property Rights and Global Competition. Towards a New Synthesis, Berlin 1985, S. 28–32. 21 Insbes. Buchanan The Domain of Constitutional Economics, in: Constitutional Political Economy, 1990, S. 1–18; Homann Die Legitimation von Institutionen, in: Korff u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Band 2, 1999, S. 50–95, 65 ff.; Voigt (Fn. 17) S. 254–257. 22 Vgl. Voigt (Fn. 17) S. 255. 23 Vgl. Pies Normative Institutionenökonomik, 1993, S. 130–138; Homann (Fn. 21) S. 60–65; Kirchner Gemeinwohl aus institutionenökomischer Perspektive, in: Schuppert/ Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, 2002, S. 157–177, 167. 24 Vgl. Voigt (Fn. 17) S. 259. 25 Vgl. insbes. Homann/Suchanek Ökonomik, 2000, S. 204 f.; Voigt (Fn. 17) S. 254–257.

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externen Effekten bei der Verwendung einer solchen Konstruktion nachzugehen. Der erste Teil der Frage, der auf die Nachfrage nach der Konstruktion „juristische Person“ zielt, ließe sich unter Hinweis auf die Rechtsgeschichte recht schnell beantworten. Man könnte als Beispiele insbesondere die Geschichte der Aktiengesellschaft und die der GmbH in Deutschland heranziehen. 26 Die Nachfrage war gegeben; besonders im Falle der GmbH artikulierte sie sich vehement und deutlich. 27 Der zweite Teil der Frage, nämlich nach den ökonomischen Gründen einer solchen Nachfrage, zielt auf mögliche Kosteneinsparungen, die sich erzielen lassen, wenn von der Rechtskonstruktion „juristische Person“ Gebrauch gemacht wird. Solche Kosteneinsparungen können im Bereich der Organisationskosten der Unternehmung anfallen, aber auch bei Transaktionen zwischen der Unternehmung und Dritten. Um Kosteneinsparungen durch die Verwendung der Rechtskonstruktion der „juristischen Person“ feststellen zu können, ist ein Vergleich zweier Situationen erforderlich: Die erste ist dadurch gekennzeichnet, dass die Rechtsordnung die Konstruktion „juristische Person“ bereithält; bei der zweiten Situation ist dies nicht der Fall. Es wäre also nunmehr zu eruieren, welche Vorteile sich Gesellschafter von einer Gesellschaftsform erwarten, die als „juristische Person“ selbständig zum Zuordnungsobjekt von Rechten und Pflichten wird, und ob und zu welchen Kosten die Gesellschafter in der Lage wären, dieselben oder funktional äquivalente Effekte mittels anderer rechtlicher Konstruktionen zu realisieren, die ihnen die Rechtsordnung zur Verfügung stellt. Entscheidend für Gesellschafter als Nachfrager nach der Konstruktion „juristische Person“ ist die Möglichkeit, bestimmte Aktivitäten rechtlich vollumfänglich auf die rechtlich verselbständigte Gesellschaft zu verlagern. Dann treffen die Rechtsfolgen der Handlungen der Gesellschaft allein diese, nicht aber die hinter der „juristischen Person“ stehenden Gesellschafter. Diese „Sphärentrennung“ umfasst – wie oben bereits dargelegt – die Vermögenstrennung, geht aber über diese hinaus. Es kommt zu einer vollständigen Trennung der Aktivitäts- und Verantwortungsbereiche der Gesellschaft als „juristischer Person“ und ihrer Gesellschafter. Der ökonomische Vorteil einer solchen – bereits in Abschnitt II . 1. angesprochenen – Trennung liegt für die Gesellschafter darin, dass unterschiedliche Klassen von Aktivitäten jeweils getrennt durchgeführt werden können. Sie können getrennte Risikosphären schaffen. Dies schlägt sich in unterschiedliche Konditionen für Transaktionen in diesen unterschiedlichen Risikosphären nieder. Die Gesellschafter haben es in der Hand, diese 26 27

Zur Geschichte der AG : K. Schmidt (Fn. 2) S. 758–766; zur GmbH vgl. Nachw. in Fn. 1. Für viele: Schubert (Fn. 1) aaO.; Koberg (Fn. 1); K. Schmidt (Fn. 2) S. 986 f.

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Konditionen ihrerseits dadurch zu beeinflussen, dass sie die Gesellschaft entsprechend mit Kapital ausstatten und/oder externe Kreditsicherheiten bereitstellen. Allein die Tatsache, dass die Verwendung der Rechtskonstruktion „juristische Person“ es ermöglicht, für verschiedene Transaktionssphären unterschiedliche Konditionen in den dort anfallenden Verträgen zu realisieren, muss kein Beleg für Kosteneinsparungsmöglichkeiten sein. Um solche nachweisen zu können, müsste dargetan werden können, dass zur Ausdifferenzierung der Konditionen in den unterschiedlichen Transaktionssphären auch echte Kosteneinsparungspotentiale hinzukommen. Solche könnten sich aus sinkenden Überwachungskosten für Verträge, etwa Kreditverträge, ergeben. Weiß ein Gläubiger exakt, auf welches Vermögen er im Fall von Vertragsstörungen zugreifen kann und kann er zugleich sicher sein, dass er bei einem solchen Zugriff nicht mit der Konkurrenz anderer Gläubiger rechnen muss, reduzieren sich seine Überwachungskosten für den betreffenden Kreditvertrag. Der Effekt der Trennung zwischen der als „juristische Person“ verfassten Gesellschaft und deren Gesellschaftern liegt darin, dass die Gesellschaftsgläubiger beim Zugriff auf das Gesellschaftsvermögen – weitgehend – gegen konkurrierende Zugriffe seitens der Gesellschaftergläubiger gesichert werden. Umgekehrt sind die letzteren beim Zugriff auf das Gesellschaftervermögen gegen die Konkurrenz der Gesellschaftsgläubiger gesichert. Voraussetzung dafür ist, dass keine Regelungen existieren, denen zufolge die Gesellschaftsgläubiger auf Gesellschaftervermögen zugreifen können. In diesem Falle kommt es nicht nur zur Ausdifferenzierung der Konditionen für unterschiedliche Klassen von Transaktionen, die in separaten „juristischen Personen“ organisiert sind, sondern auch zur Reduktion von Überwachungskosten. Diese Kostensenkungen kommen beiden Vertragspartnern zugute. Beide können sie realisieren, wenn sich die Gesellschafter der Rechtskonstruktion „juristische Person“ bedienen können. Es fragt sich, ob sich solche Einsparungen auch erzielen ließen, wenn die Rechtsordnung für Gesellschaften nicht die Konstruktion „juristische Person“ zur Verfügung stellt. Die Gesellschafter einer Gesellschaft, die nicht „juristische Person“ ist, können mit den freiwilligen Gläubigern vereinbaren, dass diese nur Zugriff auf das Gesellschaftsvermögen haben, nicht aber auf das sonstige Vermögen der Gesellschafter. Sie können durch eine derartige Abrede erreichen, dass ihre Privatgläubiger nicht in Wettbewerb mit den Gesellschaftsgläubigern treten können. Entsprechend wäre mit den freiwilligen Privatgläubigern zu vereinbaren, dass diese nur Zugriff auf das jeweilige Gesellschaftervermögen haben. Solche Vereinbarungen wären ökonomisch nur dann ratsam, wenn die Höhe der so eingesparten Überwachungskosten die Höhe der für die Vereinbarungen anfallenden Transaktionskosten überschritte. Angesichts der Tatsache, dass Transaktionskosten nicht nur in Bezug auf Vereinbarungen

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mit freiwilligen Gläubigern anfielen, sondern auch Lösungen in Bezug auf die unfreiwilligen Gläubiger – etwa durch Versicherungskonstruktionen – zu realisieren wären, erscheint es völlig unrealistisch, dass sich solche Problemlösungen aus Sicht der Gesellschafter und ihrer Transaktionspartner ökonomisch auszahlten. Eine effektive Vermögenstrennung zwischen Gesellschaftsvermögen und Gesellschaftervermögen ohne Verwendung der Rechtskonstruktion „juristische Person“ erweist sich als unrealistisch. Scheiden solche Problemlösungen unter Verzicht auf die Verwendung der Rechtskonstruktion „juristische Person“ aber aus, so erweist sich die „juristische Person“ als ein aus ökonomischer Sicht grundsätzlich positiv zu beurteilendes Konstrukt. Zu klären wäre aber, ob aus ökonomischer Sicht Schutzvorkehrungen bei der Abgrenzung des Kreises der Sozialverbände, die als „juristische Person“ „anzuerkennen“ wären, geraten erscheinen. In Bezug auf Frage (2) wäre zudem zu prüfen, ob aus ökonomischer Sicht bestimmte Normativbestimmungen geboten erscheinen, um den Schutz von Drittinteressen zu gewährleisten.

VI. Institutionenökonomische Antworten auf die drei Fragen zur „Anerkennung“ der „juristischen Person“ 1. Frage 1: Abgrenzungsfrage a) Allgemeine ökonomische Überlegungen Während in der rechtswissenschaftlichen Diskussion bei der Frage, welche Sozialverbände überhaupt für eine „Anerkennung“ als „juristische Person“ in Betracht kommen, auf die Struktur der betreffenden Sozialverbände abgestellt wird und zudem gefragt wird, ob diese nach außen in Erscheinung treten, 28 stellt sich das Problem aus ökonomischer Sicht wie folgt: Die „Anerkennung“ einer Gesellschaft – also eines Sozialverbandes – als „juristische Person“ erscheint ökonomisch nur dann sinnvoll, wenn die im Vorabschnitt erörterten Vorteile erzielt werden können. Bei einer reinen Innengesellschaft ist das nicht der Fall. Also erscheint es müßig, hier die Frage ihrer „Anerkennung“ als „juristische Person“ überhaupt zu erörtern. Fehlt es bei einer Gesellschaft an einer so genannten körperschaftlichen Organisation, der zufolge eine stabile Organisationsstruktur mit Kompetenzverteilung zwischen Gesellschaftern und Organen der Gesellschaft existiert, können die Gesellschafter dennoch ein Interesse an einer klaren Trennung der Sphäre der Ge28 Zur Unterscheidung von Innen- und Außengesellschaft bei der Gesellschaft bürgerlichen Rechts: K. Schmidt (Fn. 2) S. 1697; zur rechtlichen Verselbständigung der Außengesellschaft: ders. (Fn. 2) S. 1721.

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sellschaft von ihrer jeweiligen Privatsphäre haben. Wird eine solche dadurch ermöglicht, dass die Gesellschaft als „juristische Person“ anerkannt werden kann, werden die Gesellschafter zu entscheiden haben, ob körperschaftliche Strukturen aus ihrer Sicht vorteilhaft sind. Das Organisationsproblem des Sozialverbandes ist aus ökonomischer Sicht also nicht dem Anerkennungsproblem vorgeschaltet, wie dies in der rechtswissenschaftlichen Diskussion angenommen wird, sondern stellt sich als Folgeproblem nach einer „Anerkennung“ der Gesellschaft als „juristische Person“. b) Ökonomische Überlegungen zu den vier Szenarien Die Frage, ob ein Sozialverband von seinen Organisationsvoraussetzungen für eine „Anerkennung“ als „juristische Person“ in Betracht kommt, spielte im Szenario 1892 keine Rolle. Es stand den betreffenden Unternehmen ja die Aktiengesellschaft als Gesellschaftsform zur Verfügung, die lediglich aus Gründen zu hoher Transaktionskosten keine realistische Wahl darstellte. Im Szenario 1981 war das Problem der Organisationsstruktur der Staatsunternehmen als Voraussetzung für ihre „Anerkennung“ als „juristische Person“ deshalb nicht relevant, weil die in Frage kommenden Staatsunternehmen allesamt über körperschaftliche Organisationsstrukturen verfügten. Die Frage in Szenario 3 (2001), ob die Gesellschaft bürgerlichen Rechts von ihrer Organisationsstruktur her die erforderlichen Voraussetzungen für die „Anerkennung“ als „juristische Person“ erfüllt, ist bisher als solche unbeantwortet. Der Bundesgerichtshof 29 hat aber mit Teilen der Literatur30 die Voraussetzungen für die „Anerkennung“ der Gesellschaft bürgerlichen Rechts als „rechtsfähige Personengesellschaft“ als gegeben angesehen und festgestellt, dass eine Außengesellschaft vorliegen müsse. Diese rechtliche Argumentation liegt auf der Linie der im Vorabschnitt entwickelten ökonomischen Position. Bei der Frage, ob eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts von ihrer Organisationsstruktur als „juristische Person“ als „anerkennungsfähig“ angesehen wird, geht es noch nicht um die gebotenen Normativbestimmungen. Erst auf der Ebene der Normativbestimmungen wird aber die Unterscheidung zwischen der „rechtsfähigen Personengesellschaft“ und der „juristischen Person“ relevant. Also lässt sich in Bezug auf Frage (1) für das Szenario 2001 festhalten, dass die in der rechtswissenschaftlichen Diskussion entwickelten Lösungsansätze nicht im Widerspruch zu den ökonomischen Überlegungen stehen. 29

BGHZ 146, 341.

Vgl. insbes. K. Schmidt (Fn. 2) S. 1720–1722 mit umfänglichen Literaturnachweisen auf S. 1689. 30

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2. Frage 2: Normativbestimmungen a) Allgemeine ökonomische Überlegungen aa) Unterfragen Die „Anerkennung“ einer Gesellschaft als „juristische Person“ führt möglicherweise zur Erhöhung von Transaktionskosten für Dritte und/oder hat negative externe Effekte zur Folge, soweit nämlich Dritte mit Kosten belastet werden, die sie nicht auf Grund einer freiwilligen Vereinbarung zu tragen übernommen haben. Dann stellt sich die – ökonomische – Frage, an welche Voraussetzungen im Sinne zwingender Normativbestimmungen eine solche „Anerkennung“ geknüpft werden sollte. Dies ist eine normative Fragestellung, denn es geht darum, eine zustimmungsfähige rechtliche Gestaltung vorzuschlagen. Drei Unterfragen sind zu unterscheiden, (1) die Frage nach zwingenden Regelungen der Registerpublizität, (2) die Frage nach verbindlichen Mindestkapitalvorschriften, und (3) die Frage, ob unter gewissen Voraussetzungen einer existierenden „juristischen Person“ die „Anerkennung“ zu versagen ist, so dass Gläubiger neben dem Zugriff auf das Gesellschaftsvermögen Zugriff auf die Gesellschaftervermögen erhalten sollen („Durchgriff“). bb) Registerpublizität Soll die „juristische Person“ als selbständige Handlungseinheit im Rechtsverkehr auftreten können, fehlt ihr aber – wie dies bei natürlichen Personen der Fall ist – die physische Existenz, erwachsen für Dritte dadurch Transaktionskosten, dass sie Informationen einzuholen und zu verarbeiten haben, welche die Existenz und möglicherweise weitere Attribute der Gesellschaft betreffen. Man könnte jede Gesellschaft, die als „juristische Person“ „anerkannt“ wird, verpflichten, ihre Existenz – und gegebenenfalls weitere Informationen – jedem, mit dem sie in rechtsgeschäftlichen Kontakt tritt, bekannt zu machen. Das wäre mit erheblichen Transaktionskosten verbunden, die kaum abschätzbar wären, wenn nämlich alle Akteure zu informieren wären, mit denen die Gesellschaft potentiell rechtlich in Kontakt kommt (also auch die unfreiwilligen Gläubiger). Aus diesen Gründen bietet sich die Registerpublizität als transaktionskostensenkendes Instrument an. Dieses hat den Vorteil, dass es die für den Rechts- und Geschäftsverkehr relevanten Informationen vergleichsweise kostengünstig zur Verfügung stellen kann. Zudem lässt sich an die Registerpublizität nach der Maßgabe, welche Registerangaben zwingend vorgeschrieben werden, ein weiteres transaktionskostensenkendes Instrument anknüpfen, der Schutz des guten Glaubens.

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cc) Mindestkapitalvorschriften Während die Registerpublizität von rechtswissenschaftlicher wie von ökonomischer Seite gleichermaßen als zwingende Voraussetzung im Sinne der Normativbestimmungen für die „Anerkennung“ einer Gesellschaft als „juristische Person“ angesehen wird, ist ein solcher Gleichklang der Positionen bei der Frage, ob die „Anerkennung“ als „juristische Person“ an zwingende Regelungen in Bezug auf ein Mindestkapital der als „juristische Person“ „anzuerkennenden“ Gesellschaft gebunden werden sollte, wohl nicht zu erwarten. Aus rechtswissenschaftlicher Perspektive werden Normativbestimmungen in Bezug auf eine Mindestkapitalausstattung als Voraussetzung für die „Anerkennung“ einer Gesellschaft als „juristische Person“ insbesondere für die GmbH betont. 31 Diese Position beruht auf dem Gedanken, dass dadurch ein gewisser Schutz der freiwilligen, insbesondere aber auch der unfreiwilligen Gläubiger sichergestellt sei. Dieser Gedanke enthält implizit zwei Hypothesen, nämlich (1) dass sich mittels rechtlicher Regelungen zur Mindestkapitalausstattung ein wirksamer Gläubigerschutz gewährleisten lasse, und (2) dass nicht andere – möglicherweise kostengünstigere – Lösungsmöglichkeiten für das Problem zur Verfügung stehen. Beide Hypothesen betreffen ökonomische Aussagen. Aus diesem Grunde könnte man überprüfen, ob diese Aussagen zutreffen oder nicht. Ohne eine solche Prüfung hier im Einzelnen vorzunehmen, sind aus ökonomischer Sicht erhebliche Zweifel anzumelden, ob die Hypothesen zutreffen. Es ist aber auch zu fragen, ob das rechtliche Instrumentarium (zwingende Regelungen zur Mindestkapitalausstattung) aus ökonomischer Sicht überhaupt am richtigen Punkt angreift. Aus ökonomischer Sicht geht es um ein Problem negativer externer Effekte. Ein solches ist dann gegeben, wenn es den Gesellschaftern rechtlich gestattet ist, nach Abschluss des Vertrages zwischen der Gesellschaft und Dritten, der Gesellschaft durch Vermögensverschiebungen Kapital zu entziehen, so dass Dritte, die bei ihren Kreditkonditionen von der vorteilhafteren Kapitalausstattung ausgegangen waren, sich nunmehr mit einer Situation konfrontiert sehen, dass die ausgehandelten Kreditkonditionen das Risiko nicht mehr adäquat widerspiegeln. Ein solcher nachträglicher Eingriff in existierende Vertragsbeziehungen zur Mehrung des eigenen Vorteils bei Inkaufnahme der Schädigung des Vertragspartners, wird in der institutionenökonomischen Theorie als Fall des ex-post-Opportunismus bezeichnet. 32 Muss ein Vertragspartner mit der Möglichkeit eines solchen ex-postopportunistischen Verhaltens rechnen, führt dies zu einer Erhöhung der Transaktionskosten. Ist es möglich, einen solchen ex-post-Opportunismus 31 32

Für viele: Kübler (Fn. 9) S. 226, 227–231. Vgl. Furubotn/Richter (Fn. 17) S. 100 ff.

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zu Kosten zu vermeiden, die unter den eingesparten Transaktionskosten liegen, so empfehlen sich derartige Vorkehrungen aus ökonomischer Sicht. Dieses Regelungsproblem taucht auf, wenn es ex post zu Vermögensverschiebungen zwischen der Gesellschaft und den Gesellschaftern kommt. Solche Vermögensverschiebungen zu verhindern, ist nicht Sache zwingender Mindestkapitalvorschriften, sondern möglicherweise gesellschaftsrechtlicher Kapitalerhaltungsregelungen oder insolvenzrechtlicher Anfechtungsregeln. Mindestkapitalregelungen können demnach auch nicht eingesetzt werden, um solche – ökonomisch negativ zu beurteilenden – negativen externen Effekte zu verhindern. Ihr Effekt ist ein anderer: Stellen sie sicher, dass eine „juristische Person“ zum Zeitpunkt ihrer „Anerkennung“, also rechtlich zum Zeitpunkt ihrer Registereintragung, über ein Mindestanfangsvermögen verfügt, so können freiwillige Gläubiger möglicherweise davon ausgehen, dass sich dieses günstig auf die Erwartung einer vertragsmäßigen Erfüllung der Verpflichtungen seitens des Schuldners auswirkt. Dann würde sich dies in den Kreditkonditionen niederschlagen. Man kann die These aufstellen, dass bei entsprechend besserer Kapitalausstattung sich die Kreditkonditionen für den Schuldner – also die Gesellschaft – verbessern. Eine fehlende oder eine sehr geringe Kapitalausstattung würde entsprechend zu für die Gesellschaft ungünstigeren Kreditkonditionen führen. Folgt man diesem Denkansatz, haben Mindestkapitalvorschriften keine „gläubigerschützende“ Wirkung. Sie schränken aber die Gestaltungsfreiheit bei der Gründung der Gesellschaft ein und haben damit potentielle transaktionskostensteigernde Wirkung, weil nicht die Kapitalstrukturen gewählt werden können, die aus Sicht der Transaktionspartner die vorteilhafteren sind. Lässt sich nunmehr aus ökonomischer Sicht die These aufstellen, dass in Bezug auf freiwillige Gläubiger den transaktionkostensteigernden Wirkungen von Mindestkapitalvorschriften keine positiven Effekte in Bezug auf einen dadurch bewirkten „Gläubigerschutz“ gegenüberstehen, bleibt immerhin zu klären, ob solche Vorschriften sich ökonomisch positiv in Bezug auf die Position unfreiwilliger Gläubiger auswirken. Bei unfreiwilligen Gläubigern stellen sich in Bezug auf den ökonomischen Nutzen von Mindestkapitalvorschriften zwei Fragen: (1) Sollen dann, wenn sich ihre Ansprüche gegen eine als „juristische Person“ verfasste Gesellschaft richten, Vorkehrungen getroffen werden, dass ein existierender Rechtsanspruch ökonomisch werthaltig ist [während dies bei Ansprüchen gegen natürliche Personen nicht angestrebt wird]? (2) Können für das Problem, die ökonomische Werthaltigkeit von Ansprüchen unfreiwilliger Gläubiger zu sichern, Problemlösungen entwickelt werden, die aus ökonomischer Sicht solchen der Kombination aus zivilrechtlicher Haftung und Gewährleistung ausreichender Haftungsmassen überlegen sind? Die erste Frage betrifft die ökonomische Funktionsfähigkeit eines Steuerungsmodells, das – besonders bei Umweltschäden und Schäden aus Pro-

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duktfehlern – mit dem Instrument der zivilrechtlichen Haftung arbeitet. Die Funktionsfähigkeit dieses Steuerungsmodells wird immer dann negativ beeinträchtigt, wenn rechtlich existierende Ansprüche ökonomisch nicht werthaltig sind, egal ob sie gegen juristische oder natürliche Personen gerichtet sind. Es fragte sich dann, warum Ansprüche gegen „juristische Personen“ im Vergleich zu Ansprüchen gegen natürliche Personen, zu privilegieren seien. Immerhin ließe sich die These aufstellen, dass die Gefahr der mangelnden Werthaltigkeit solcher Ansprüche im Fall von „juristischen Personen“ deshalb größer ist, weil „juristische Personen“ mit geringer Kapitalausstattung gezielt in Bereichen erhöhten Risikos eingesetzt werden können, um auf diese Art und Weise die Kosten dieses Risikos externalisieren zu können. Es handelte sich dann wieder um Problem externer Effekte. Die Existenz eines solchen Problems ist nicht in Abrede zu stellen. Dann wäre die zweite Frage zu beantworten, also zu prüfen, ob es aus ökonomischer Sicht vorzugswürdige Instrumente gibt, um dieses spezifische Problem externer Effekte zu lösen. In Betracht kommen insbesondere Zwangsversicherungslösungen für bestimmte Arten von Risiken, wie sie bei Schäden aus Verkehrsunfällen bekannt sind. Solche Instrumente haben gegenüber dem Kombinationsmodell aus zivilrechtlicher Haftung und Sicherung der ökonomischen Werthaltigkeit dieser Ansprüche den Vorteil, dass sie die spezifische Risikosituation ökonomisch genauer abbilden können. Diese schlägt sich in den entsprechenden Versicherungsprämien nieder, die dann in die Kostenrechnung derjenigen Akteure eingehen, die das Risiko zu verantworten haben. Auf die Art und Weise können die erörterten externen Effekte eliminiert werden. Das Kombinationsmodell hätte den Nachteil, dass die Wahrscheinlichkeit, genau die risikoadäquate Mindestkapitalausstattung zu treffen, sehr gering ist, zumal auf eine und dieselbe „juristische Person“ ja unterschiedliche Haftungsansprüche zukommen können. Liegt die Mindestkapitalausstattung aber ökonomisch zu niedrig, wird die Funktionsfähigkeit des Steuerungsmodells beeinträchtigt. Liegt sie zu hoch, führt dies zu vermeidbaren Transaktionskosten. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass weder in Bezug auf Transaktionen mit freiwilligen Gläubigern noch in Bezug auf die Haftung gegenüber unfreiwilligen Gläubigern Normativbestimmungen zur Mindestkapitalausstattung ökonomisch zu rechtfertigen sind. dd) „Durchgriff“ Zur Frage, unter welchen Bedingungen eine Gesellschaft als „juristische Person“ „anerkannt“ werden soll, gehört auch die Unterfrage, unter welchen Bedingungen einer Gesellschaft diese „Anerkennung“ zu entziehen ist. In der rechtswissenschaftlichen Diskussion wird diese Unterfrage unter

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dem – terminologisch schiefen – Begriff der „Durchgriffshaftung“ erörtert. 33 Aus ökonomischer Sicht ist anzumerken, dass dann, wenn man es denn „freiwilligen“ Gläubigern der Gesellschaft gestattet, auf das Privatvermögen der Gesellschafter zuzugreifen, diese einen zuvor nicht zu erwartenden ökonomischen Vorteil erzielen, weil ihre Forderung nun besser abgesichert ist, als sich dies in den Konditionen des unterliegenden Vertrages niedergeschlagen hat. Auf der anderen Seite wird in die Position der Gläubiger der Gesellschafter eingegriffen, die diese nicht vorhersehen konnten, also auch nicht in die entsprechenden Vertragskonditionen haben einbeziehen können. Ohne hier auf die umfangreiche ökonomische Diskussion zur „Durchgriffshaftung“34 im Einzelnen eingehen zu können, seien die wichtigsten Ergebnisse dieser Diskussion kurz festgehalten. Instrumente der deliktsrechtlichen Haftung und der insolvenzrechtlichen Anfechtung sind aus ökonomischer Sicht gegenüber einem Instrument der „Durchgriffshaftung“ vorzuziehen, da sie zum einen die Vorteile der „juristischen Person“, nämlich die Trennung der Aktivitätssphären, nicht zerstören, und da sie zum anderen ex-post-Umverteilungen zwischen Privat- und Gesellschaftsgläubigern vermeiden. Für „unfreiwillige“ Gläubiger gilt auch hier, dass Versicherungslösungen sich ökonomisch Haftungslösungen gegenüber als überlegen erweisen. b) Ökonomische Überlegungen zu den vier Szenarien Die Frage, zu welchen Bedingungen eine Gesellschaft als „juristische Person“ so „anerkannt“ werden, hat im Szenario 1892 eine Rolle gespielt und ist heute insbesondere im Szenario 2001 relevant. Ging es bei der GmbH 1892 noch um eine Nachbildung der Kapitalausstattungsregelungen der Aktiengesellschaft bei gleichzeitiger Anpassung der Beträge an die wirtschaftlichen Gegebenheiten mittlerer und kleinerer Unternehmen, 35 so stellt sich im Szenario 2001 ein sehr viel grundlegenderes Problem, ob nämlich im Extremfall eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts als „juristische Person“ am Rechts- und Geschäftsverkehr soll teilnehmen dürfen, die über kein gesetzlich fixiertes Mindestkapital verfügt. Für die Rechtsprechung 36 war diese Frage deshalb nicht zu beantworten gewesen, weil die Gesellschaft bürgerlichen Rechts als „rechtsfähige Personengesellschaft“ qualifiziert worden war, nicht aber als „juristische Person“, so dass von der gesamthänderischen Haftung der Gesellschafter unbeschadet der Rechtspersönlichkeit der GeVgl. die Nachw. in Fn. 11. Zur ökonomischen Diskussion der Durchgriffshaftung: Easterbrook/Fischel University of Chicago Law Review 1985, 89–117; Eidenmüller JZ 2001, 1041, 1045 ff.; Fleischer ZGR 2001, 1, 1 ff.; Hansmann/Kraakman Yale Law Journal 2000, 387 ff.; Roth ZGR 1986, 371 ff. 35 Vgl. Schubert (Fn. 1) S. 27. 36 BGH – ARGE Weißes Roß; Nachw. in Fn. 6. 33 34

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sellschaft ausgegangen werden konnte. Geht man einen Schritt weiter und erwägt die „Anerkennung“ der Gesellschaft bürgerlichen Rechts als „juristische Person“, so tauchen das Problem der mangelnden Registerpublizität und das der mangelnden Mindestkapitalausstattung in aller Schärfe auf. Wie aus den Ausführungen in Abschnitt VI . 2. a) bb) deutlich geworden ist, erscheint die Registerpublizität als unabdingbare Voraussetzung für die „Anerkennung“ der Gesellschaft bürgerlichen Rechts als „juristische Person“. Bezüglich der Mindestkapitalausstattung kann man im Lichte der Diskussion in Abschnitt VI . 2. a) cc) auf eine solche im Fall der Gesellschaft bürgerlichen Rechts verzichten. Aus diesem Grunde ist hier nicht die Frage zu erörtern, ob die Haftungsbeschränkung eine von der „Anerkennung“ einer Gesellschaft als „juristische Person“ unabhängige Frage sei mit der Folge, dass man sich eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts vorstellen könnte, die zwar „juristische Person“ ist, bei der aber den Gesellschaftsgläubigern – analog zu § 128 HGB – auch die Gesellschaftervermögen haften. Geht man den Schritt, eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts – bei gegebener Registerpublizität – ohne Mindestkapital und bei gleichzeitiger Haftungsbegrenzung gegenüber den Gesellschaftsgläubigern als „juristische Person“ „anzuerkennen“, so wäre das im Lichte der ökonomischen Erörterungen konsequent. Dann wäre es aber inkonsistent, ein solches Haftungsregime in dem Augenblick zu ändern und die unbeschränkte und unbeschränkbare Haftung der Gesellschafter für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft einzuführen, wenn die Gesellschaft in ihrer gewerblichen Tätigkeit die Grenze des § 1 Abs. 2 HGB überschreitet und damit zur Offenen Handelsgesellschaft wird, für die dann § 128 HGB zur Anwendung kommt. 3. Legitimationsfrage In der rechtswissenschaftlichen Diskussion wurde es bisher als ganz selbstverständlich angesehen, dass nur die betreffende staatliche Rechtsordnung legitimiert sei, darüber zu entscheiden, welche Gesellschaften als „juristische Personen“ anzuerkennen wären (Stichwort: numerus clausus der Gesellschaftsformen37). Erst in den letzten Jahren ist dies durch die Entscheidungskette des Europäischen Gerichtshofes von der Centros- bis zur Inspire Art-Entscheidung 38 in Frage gestellt worden. Aus ökonomischer Sicht stellt sich das Regelungsproblem wie folgt dar: Diejenige Instanz, die eine Gesellschaft als „juristische Person“ „anerkennen“ kann oder nicht und damit über das Verhältnis von zwingendem zu dispositivem Recht auf Seiten der Gesellschafter, aber auch über einen rechtlichen Schutz betroffener Drittinteressen entscheidet, beeinflusst (1) wirtschaftliche Gestaltungsspiel37 38

Zum numerus clausus der Rechtsformen vgl. K. Schmidt (Fn. 2) S. 96–98. Nachw. oben in Fn. 8.

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räume (nämlich die Rechtsformenwahl), (2) Transaktionskosten (nämlich durch die Steuerung des numerus clausus der Gesellschaftsrechtsformen) und (3) externe Effekte (nämlich über den Schutz von Drittinteressen). Es ist kaum einsichtig, warum ein einzelner staatlicher Gesetzgeber als Monopolist – nämlich durch Ausschaltung alternativer Angebote anderer staatlicher Gesetzgeber – in Bezug auf diese drei ökonomischen Probleme die Lösungen entwickeln sollte, die von den Beteiligten als zustimmungsfähig betrachtet werden. Das Argument, der numerus clausus der Gesellschaftsrechtsformen sei erforderlich, um Transaktionskosten zu sparen, ist dann kaum noch überzeugend, wenn dieser zwar für den staatlichen Gesetzgeber gilt, nicht aber für die judikative Rechtsfortbildung. Damit stellt sich die Frage, ob aus ökonomischer Sicht nicht dem Bereich privatautonomer Schaffung und Gestaltung von Gesellschaftsformen ein viel größeres Gewicht als bisher einzuräumen wäre (Stichwort: Deregulierung des Gesellschaftsrechts). Ein Instrument, um die Wahlmöglichkeiten der Akteure in Bezug auf Gesellschaftsformen zu erweitern, ohne schon den Schritt der völligen Freigabe in Richtung privatautonome Gestaltung zu gehen, ist der legislatorische Wettbewerb. 39 Dann sind aber die Einwände aus ökonomischer Sicht zu beachten, dass nämlich möglicherweise das Problem externer Effekte ungelöst bleibe, so dass am Ende die gefundenen Lösungen ökonomisch nicht zu befürworten wären. Dem ist entgegenzuhalten, dass – wie in den Vorabschnitten dargelegt – die Probleme externer Effekte nicht sinnvoll mit Mitteln des Gesellschaftsrechts gelöst werden sollten, also auch nicht angeknüpft an die Wahl der Gesellschaftsform, sondern mit Mitteln des Delikts- und des Insolvenzrechts. Ist man bereit, den Paradigmenwechsel in Bezug auf die Lösung des Problems externer Effekte durch Deliktsrecht und Insolvenzrecht statt durch Gesellschaftsrecht zu akzeptieren, kann die Frage, welche Instanz legitimiert sein soll, eine Gesellschaft als „juristische Person“ „anzuerkennen“, sehr wohl dem legislatorischen Wettbewerb innerhalb der Europäischen Union überlassen werden. Es sind dann die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die entscheiden, welche Gesellschaftsformen sie rechtlich als „juristische Personen“ ausgestalten. Eine nach dem Recht eines Mitgliedstaates rechtmäßig gegründete Gesellschaft, die nach dem Recht des Gründungsstaates „juristische Person“ ist, ist dann auch als solche „anzuerkennen“, wenn sie ihren Sitz in ein anderes Mitgliedsland der Europäischen Union verlagert. Die Anerkennungsfrage wird damit auf die Ebene des europäischen Gemeinschaftsrechts verlagert, dass es den Mitgliedstaaten nicht erlaubt, einer in einem anderen Mitgliedsland gegründeten und dort als „juristische Person“ anerkannten Gesellschaft die Rechtsfähigkeit abzusprechen. 39 Vgl. Kirchner Zur Ökonomik des legislatorischen Wettbewerbs im europäischen Gesellschaftsrecht (Fn. 9).

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Aus ökonomischer Sicht ist dies so lange akzeptabel, wie die Mindestvoraussetzungen in Bezug auf die Bedingungen, zu denen eine Gesellschaft als „juristische Person“ anerkannt wird, eingehalten werden. Diese bestehen in der Registerpublizität.

VII. Fazit und Ausblick Die hier angestellten ökonomischen Überlegungen zu Fragen der „Anerkennung“ einer Gesellschaft als „juristische Person“ lassen viele Facetten der entsprechenden rechtswissenschaftlichen Diskussion im neuen Lichte erscheinen. Sie belegen, dass ein sozialwissenschaftlicher Problemzugang – und die Ökonomik im institutionenökonomischen Ansatz versteht sich als „Sozialwissenschaft“ – fruchtbar gemacht werden kann, um offene Fragen der „juristischen Person“ zu klären. Dies ist eine Herangehensweise, die von Thomas Raiser immer wieder mit aller Deutlichkeit herausgearbeitet und gefordert worden ist.

Die Außenhaftung des Vorstands bei der Abgabe von Erklärungen nach § 161 AktG Michael Kort Inhaltsübersicht Seite

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Deliktische Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. einem Schutzgesetz . . . a) DCGK als Schutzgesetz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) § 161 AktG als Schutzgesetz? . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Straftatbestände des StGB als Schutzgesetze? . . . . . . . . . d) § 331 Nr. 1 und 2 HGB als Schutzgesetz? . . . . . . . . . . . e) § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG als Schutzgesetz? . . . . . . . . . . f) § 15 WpHG oder §§ 37 b und c WpHG als Schutzgesetze? . . g) §§ 38 Abs. 1 Nr. 4, 39 Abs. 1 Nr. 1 und 2, 20 a WpHG als Schutzgesetze? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Haftung nach § 826 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Außenhaftung der Vorstandsmitglieder aus (allgemeiner) Vertrauenshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Haftung aus Inanspruchnahme besonderen persönlichen Vertrauens . 2. Keine vertragliche Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Haftung der Vorstandsmitglieder wegen der Verfolgung eigener wirtschaftlicher Interessen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Haftung aus allgemeiner Prospekthaftung? . . . . . . . . . . . . 5. Anwendbarkeit der allgemeinen Prospekthaftung außerhalb des „grauen Kapitalmarkts“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Haftung aus allgemeiner kapitalmarktrechtlicher Vertrauenshaftung? IV. Keine spezialgesetzliche Prospekthaftung . . . . . . . . . . . . . . . V. Außenhaftung nach den Bestimmungen des Wertpapierhandelsgesetzes . VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Mit dem Gesetz zur weiteren Reform des Aktien- und Bilanzrechts, zu Transparenz und Publizität (TransPuG) wurde 2002 § 161 AktG geschaffen.

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Danach müssen Vorstand und Aufsichtsrat börsennotierter AG jährlich erklären, dass den Verhaltensregeln der Kodex-Kommission zur Unternehmensleitung und -überwachung entsprochen wurde und wird und welche Verhaltensregeln nicht angewandt wurden oder werden (Entsprechens- oder Compliance-Erklärung).1 Mit § 161 AktG soll börsennotierten AG unter anderem ermöglicht werden, einen auf die unternehmensindividuellen Verhältnisse zugeschnittenen eigenen „Code of Best Practice“ zu entwickeln und dem Kapitalmarkt, der selbst die Gleichwertigkeit mit den Regeln des Kodex beurteilen soll, gegenüber offen zu legen. Zwar bestehen angesichts der Bezugnahme in § 161 AktG auf ein nicht gesetzliches oder gesetzesähnliches Regelwerk (den Deutschen Corporate Governance Kodex) verfassungsrechtliche Bedenken. 2 Vereinzelt wird sogar der Deutsche Corporate Governance Kodex als schlicht verfassungswidrig und nichtig angesehen. 3 Jedoch ist dem nicht zu folgen. Im Ergebnis handelt es sich bei den Regelungen des Deutschen Corporate Governance Kodex um verfassungsrechtlich letztlich zulässiges Soft Law (dazu unten). Die in § 161 AktG enthaltene „Compliance“-Regelung ist im Grundsatz zu begrüßen. Sie entspricht dem von der Regierungskommission Corporate Governance 2001 vorgeschlagenen Grundsatz des „Comply or Explain“ den man allerdings besser als Grundsatz des „Comply or Disclose“ bezeichnen sollte, da eine Erklärung für die Abweichung von den Empfehlungen („SollVorschriften“) und den Anregungen („Kann“- oder „Sollte“-Bestimmungen) des vom deutschen Corporate Governance Kodex erforderlich ist, sondern lediglich Angaben über die Einhaltung oder Nichteinhaltung dieser Empfehlungen und Anregungen. 4 Der deutsche Corporate Governance Kodex ist kein starres, auf lange Zeit festgeschriebenes Regelwerk, sondern ein „work in progress“. Bei einer zukünftigen Bearbeitung des Kodex sollte deutlicher zwischen einer bloßen Wiedergabe der gesetzlichen Anforderungen einerseits und den Anregungen und Empfehlungen andererseits unterschieden werden. 5 Probleme bereitet ferner die verfahrensrechtliche Durchsetzung der Corporate Governance-Regeln 6 sowie die Frage, wie die Compliance im Sinne von § 161 AktG geprüft werden soll und in welchem Umfang eine Ab-

1 Dazu Lutter ZHR 166 [2002], S. 523; Peltzer NZG 2002, 593, 594 ff.; Schüppen ZIP 2002, 1269. 2 Dazu Kort in Großkommentar zum Aktiengesetz, 4. Aufl., 2003, vor § 76 Rn. 40. 3 Seidel ZIP 2004, 285, 294. 4 Hueck/Windbichler Gesellschaftsrecht, 20. Aufl., 2003, § 20 Rn. 12. 5 Großkomm AktG-Kort (Fn.2), Vorb. § 76 Rn. 46. 6 Dazu näher Erhardt/Nowak AG 2002, 336.

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weichungserklärung abzugeben ist. 7 Ferner ist nicht auszuschließen, dass der deutsche Corporate Governance Kodex wegen seiner faktischen Verbindlichkeit trotz Abweichungsmöglichkeit nach § 161 AktG zu einer Regelungsverfestigung führt und das mit ihm angestrebte Ziel der Flexibilisierung aktienrechtlicher Regelungen gerade nicht erreicht werden kann. 8 Erklärungen des Vorstands nach § 161 AktG werfen – ebenso wie Erklärungen des Aufsichtsrats nach § 161 AktG 9 – Haftungsfragen auf. Hierbei geht es nicht nur um eine mögliche Innenhaftung von Vorstandsmitgliedern gegenüber der AG nach § 93 AktG,10 sondern auch um eine mögliche Haftung von Organmitgliedern des Vorstands gegenüber Dritten, insbesondere gegenüber Aktionären oder Anlegern. Die Bedeutung der Außenhaftung von Vorstandsmitgliedern (und Aufsichtsratsmitgliedern) im Zusammenhang mit der Abgabe von Entsprechenserklärungen nach § 161 AktG wird dabei – auch mit entsprechender Öffentlichkeitswirkung in der Tagespresse – kontrovers beurteilt.11

II. Deliktische Haftung Die Frage, ob eine Außenhaftung von Vorstandsmitgliedern bei der Abgabe von Erklärungen nach § 161 AktG in Betracht kommt, ist im Aktiengesetz nicht geregelt und beurteilt sich daher nach allgemeinen Kriterien. In Betracht kommen zunächst eine deliktische Haftung wegen Verletzung eines absolut geschützten Rechts im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB , eine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. einem Schutzgesetz sowie einer Haftung nach § 826 BGB . 1. Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB Da das Vermögen nicht absolutes Recht ist, kommt allenfalls eine deliktische Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB wegen eines Eingriffs in die Mitgliedschaft des Aktionärs in Frage. Wie schon das Reichsgericht festgestellt hat, 7 Dazu Pluta in: IDW (Hrsg.) Reformbedarf der Deutschen Corporate Governance im globalen Wettbewerb, WpG-Sonderheft 2001, S. 114, 115. 8 Schwark in Hommelhoff/Lutter/Schmidt/Schön/Ulmer (Hrsg.), Corporate Governance, ZHR-Beiheft 71, 2002, S. 75, 83 f. 9 Dazu grundlegend Bertrams, Die Haftung des Aufsichtsrats im Zusammenhang mit dem Deutschen Corporate Governance Kodex und § 161 AktG, 2004, passim. 10 Dazu Berg/Stöcker WM 2002, 1569, 1575; Ettinger/Grützediek AG 2003, 363; Kiethe NZG 2003, 559, 562 ff.; Buchta/van Kann DStR 2003, 1665, 1668. 11 Einerseits Baums FAZ vom 23. 2. 2002, S. 17 („haftungsrechtliche Bedeutungslosigkeit“), andererseits Lutter FAZ vom 22. 2. 2002, S. 20 („unglaubliche Haftungsrisiken“).

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ist die Mitgliedschaft in der Körperschaft nach § 823 Abs. 1 BGB geschütztes absolutes Recht.12 Auch der BGH hat im Holzmüller-Urteil 13 die Mitgliedschaft in der AG als absolutes Recht angesehen. Das entspricht heute ganz einhelliger Auffassung.14 In Betracht käme lediglich eine Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB gegenüber den Aktionären, da die Mitgliedschaft an die Stellung als Aktionär gebunden ist und die Stellung von Anlegern als vormitgliedschaftliche Position nicht mit der mitgliedschaftlichen Stellung von Aktionären verglichen werden kann,15 jedenfalls aber nicht deliktsrechtlich nach § 823 Abs. 1 BGB geschützt ist. Ein Schutz potentieller Anleger nach § 823 Abs. 1 BGB kommt somit ohnehin nicht in Betracht. Jedoch scheidet auch gegenüber Aktionären eine deliktische Haftung von Vorstandsmitgliedern nach § 823 Abs. 1 BGB bei der Abgabe von Erklärungen nach § 161 AktG im Allgemeinen aus, da § 823 Abs. 1 BGB lediglich den rechtlichen Bestand des Mitgliedschaftsrechts sowie den Kernbestand der damit verbundenen Rechte schützt, nicht aber die Mitgliedschaft vor wirtschaftlicher Entwertung schützt.16 Eine deliktische Haftung von Vorstandsmitgliedern nach § 823 Abs. 1 BGB kann auch nicht unter dem Gesichtspunkt bejaht werden, dass durch die fehlerhafte Abgabe einer Entsprechenserklärung nach § 161 AktG in den gesetzlich umschriebenen Bestand von Mitgliedschaftsrechten bzw. bei entsprechenden satzungsmäßiger Festlegung des Umfangs der Mitgliedschaftsrechte in satzungsrechtlich geschützte Bereiche des Mitgliedschaftsrechts eingegriffen werde.17 Dagegen spricht, dass die Abgabe der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG nicht dem Erhalt eines Kernbereichs von Mitgliedschaftsrechten des Aktionärs dient, sondern der Vertrauensbildung aller Anleger 18 und damit einen kapitalmarktrechtlichen Zweck verfolgt. Daher ist die mit § 161 AktG verbundene Information der bereits Anteile haltenden Anleger ein bloßer Reflex der Information des Gesamtmarktes, nicht aber Substrat ihres Mitgliedschaftsrechts. Durch eine fehlende oder falsche Entsprechenserklärung wird nicht spürbar in die Mitgliedschaft als absolutes Recht eingegriffen.19 Das gilt selbst dann, wenn sich die Entsprechenserklärung nach § 161 AktG auf solche Teile des Deutschen Corporate Governance Kodex be12 13

RGZ 100, 274, 278 (zur GmbH); RGZ 158, 248, 255. BGHZ 83, 122, 133 ff.

14 S. statt vieler Habersack, Die Mitgliedschaft – subjektives und „sonstiges“ Recht?, 1996, S. 117 ff. 15 dazu Kort ZHR 164 [2000], 444. 16 Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, 3. Aufl., 2001, § 12 Rn. 5. 17 Berg/Stöcker WM 2002, 1569, 1578. 18 S. BegrREgE TransPuG, BT-Drucks. 14/8769, S. 21; auch Abrams ZBB 2003, 41, 45. 19 Ettinger/Grützediek AG 2003, 353, 358.

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zieht, welche die mitgliedschaftliche Stellung des Aktionärs betreffen, wie etwa die Regelung des Kodex zur Einladung zur Hauptversammlung, zur Information der Aktionäre, zu Minderheitsrechten sowie zur Einberufung einer außerordentlichen Hauptversammlung im Falle eines Übernahmeangebots. Die Nichtbefolgung solcher Empfehlungen des Kodex betrifft jedoch alle (inländischen) Aktionäre in derselben Weise und kann daher nicht als Eingriff in Mitgliedschaftsrechte einzelner Aktionäre angesehen werden. 20 Es ist nicht auszuschließen, dass der Deutsche Corporate Governance Kodex in Zukunft stärker Regelungen enthalten wird, die die Stellung der Hauptversammlung und die Stellung einzelner Aktionäre betreffen. Werden aufgrund entsprechender Empfehlungen oder Anregungen im Kodex Rechte in der Satzung begründet, die die mitgliedschaftliche Stellung des Aktionärs betreffen, so kann es zwar sein, dass Handlungen von Vorstandsmitgliedern, die in die solchermaßen festgelegte mitgliedschaftliche Position der Aktionäre eingreifen, eine Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB begründen. Eine (u. U. falsche oder unvollständige) Entsprechenserklärung im Hinblick auf Bestimmungen des Kodex, die sich auf die mitgliedschaftliche Position des Aktionärs beziehen, ist aber bloße Wissenserklärung und daher nicht als Eingriff in den Kernbestand der Mitgliedschaft anzusehen. Sie kann deshalb nicht eine deliktischen Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB auslösen. Zusammenfassend ergibt sich somit als Zwischenergebnis, dass eine deliktische Haftung von Vorstandsmitgliedern gemäß § 823 Abs. 1 BGB bei der Abgabe der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG nicht in Betracht kommt. 2. Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. einem Schutzgesetz Eine deliktische Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. einem Schutzgesetz setzt eine Schutzgesetzverletzung voraus. Der Schutzgesetzbegriff ist weit. Hierunter ist jede Rechtsnorm zu verstehen, die den Einzelnen gegen die Verletzung eines Rechtsguts zu schützen bezweckt. 21 a) DCGK als Schutzgesetz? Der Deutsche Corporate Governance Kodex, auf den sich die Entsprechenserklärung nach § 161 AktG bezieht, kann nicht seinerseits als Schutz-

20 21

Ulmer ZHR 166 [2002], 150, 168. Semler in Münchner Kommentar zum AktG, 2. Aufl., 2003, § 161 Rn. 207.

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gesetz angesehen werden. 22 Nach dem Selbstverständnis der Mitglieder der Kodex-Kommission beruht er auf einem „Akt der Selbstorganisation“. Es handelt sich bei dem Kodex letztlich um Soft Law, 23 dem allerdings wegen der in § 161 AktG enthaltenen, rechtlich zwingenden Pflicht zur Abgabe einer Entsprechenserklärung gerade im Hinblick auf die haftungsrechtlichen Konsequenzen Rechtsverbindlichkeit zukommt. 24 Der Kodex enthält unter anderem in fragwürdiger Weise die bloße Wiedergabe gesetzlicher Anforderungen. 25 Verstöße gegen diese gesetzlichen Anforderungen können, soweit den entsprechenden gesetzlichen Verpflichtungen Schutzgesetzcharakter zukommt, ihrerseits nach § 823 Abs. 2 BGB relevant sein. 26 Den Kodexregeln selbst fehlt es hingegen an einer für ein Schutzgesetz erforderlichen rechtlichen Verbindlichkeit. 27 Sowohl von den Empfehlungen als auch von den Anregungen des Kodex kann ohne Begründung abgewichen werden. Weder die Abweichung als solche noch die (richtige oder falsche) Erklärung über die Abweichung nach § 161 AktG können daher eine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB auslösen. Der Kodex und seine einzelnen Bestandteile sind nicht als Schutzgesetz anzusehen. b) § 161 AktG als Schutzgesetz? Schwieriger zu beurteilen ist die Frage, ob die in § 161 AktG enthaltene Verpflichtung zur Abgabe einer Entsprechenserklärung ihrerseits als Schutzgesetz angesehen werden kann. Voraussetzung hierfür ist zum einen, dass sich die Norm an einen bestimmbaren Personenkreis wendet. Schon diesbezüglich bestehen erhebliche Zweifel. Der Kodex richtet sich ausweislich seiner Präambel an alle in- und ausländischen Anleger und damit an einen sehr heterogen zusammengesetzten Personenkreis, der kaum abgrenzbar ist. Sofern man aber eine ausreichende Abgrenzbarkeit des Personenkreises unterstellen wollte, ist zum anderen zu prüfen, ob § 161 AktG den Schutz des einzelnen Anlegers bezweckt oder zumindest mit bezweckt. 28 Zweck der Entsprechenserklärung ist eine Information des Kapitalmarkts, die der Stärkung des deutschen Kapitalmarkts durch Förderung des Vertrauens insbesondere ausländischer Investoren dient. 29 Ein darüber 22 Hopt in: Hommelhoff/Lutter/Schmidt/Schön/Ulmer (Hrsg.), Corporate Governance, ZHR-Beiheft 71, 2002, S. 27, 52. 23 Lutter ZGR 200, 1, 18; Hommelhoff ZGR 2001, 238, 246; a. A. Schulze-Osterloh ZIP 2001, 1433, 1436. 24 Großkomm AktG-Kort (Fn.2) Vorb. § 76 Rn. 40; Borges ZGR 2003, 508, 524 ff. 25 Kritisch dazu Hüffer AktG, 6. Aufl., 2004, § 76 Rn. 15c. 26 MünchKommAktG-Semler (Fn.21) § 161 Rn. 209. 27 Ulmer ZHR 166 [2002], 150, 168. 28 MünchKommAktG-Semler (Fn.21) § 161 Rn. 210. 29 BegrRegE TransPuG, BT-Drucks. 14/8769, S. 21.

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hinaus reichender Schutz des Vermögens der Anleger ist nicht ersichtlich. Ein individueller Vermögensschutz der Anleger ist allenfalls Reflex der Information des Kapitalmarkts. 30 Es ist angesichts der generellen Untauglichkeit von § 161 AktG als Schutzgesetz auch nicht zwischen dem vergangenheitsbezogenen Teil der Entsprechenserklärung (mit möglichem Schutzgesetzcharakter) und dem zukunftsbezogenen Teil (kein Schutzgesetzcharakter, da bloße Absichtserklärung) zu differenzieren. 31 Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass auch § 161 AktG keinen Schutzgesetzcharakter i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB hat. 32 c) Straftatbestände des StGB als Schutzgesetze? Eine Haftung des Vorstandsmitglieds aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB im Zusammenhang mit § 161 AktG ist zwar theoretisch denkbar, jedoch dürfte es in aller Regel an den objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmalen fehlen. Wird die Entsprechenserklärung unter Verstoß gegen § 161 AktG überhaupt nicht abgegeben, so findet keine Täuschung und damit auch keine Irrtumserregung statt. In anderen Fällen, z. B. bei einer vergangenheitsbezogenen falschen Entsprechenserklärung oder beim Unterlassen der Berichtigung einer unrichtig gewordenen Entsprechenserklärung, können zwar die Elemente der Täuschung und der Irrtumserregung vorliegen, jedoch fehlt es regelmäßig an der Absicht des Vorstandsmitglieds, sich oder einem Dritten einen rechtwidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen. 33 Auch fehlt es häufig bereits an der Verwirklichung des objektiven Tatbestandsmerkmals eines unmittelbar verursachten Vermögensschadens. 34 Auch eine Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 264 a StGB scheidet regelmäßig aus. § 264 a StGB hat zwar Schutzgesetzcharakter.35 Der Tatbestand des Kapitalanlagebetrugs setzt jedoch voraus, dass jemand im Zusammenhang mit bestimmten Wertpapiergeschäften in Prospekten oder Darstellungen oder Übersichten über den Vermögensstand hinsichtlich der für die Entscheidung über das Geschäft wesentlichen Umstände gegenüber einem größeren Kreis von Personen unrichtige vorteilhafte Angaben macht oder nachteilige Tatsachen verschweigt. Die Entsprechenserklärung ist aber – wie noch in Zusammenhang mit der Prospekthaftung unten ausgeMünchKommAktG-Semler (Fn.21) § 161 Rn. 210. In diese Richtung aber gehend Holzborn/Foelsch, NJW 2003, 932, 936. 32 Berg/Stöcker WM 2002, 1569, 1578 f.; Schüppen ZIP 2002, 1269, 1272; Seibt AG 2002, 249, 256; Borges ZGR 2003, 508, 529. 33 Semler/Schaal in Münchner Kommentar zum AktG, 2. Aufl., 2003, § 161 Rn. 214. 34 Kiethe NZG 2003, 559, 566. 35 BGH ZIP 2004, 1593, 1596; ZIP 2004, 1599, 1602. Borges ZGR 2003, 508, 530. 30 31

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führt wird – nicht als Prospekt anzusehen. Sie ist aber auch nicht Darstellung oder Übersicht i.S.v. § 264 a Abs. 1 StGB . 36 Außerdem erfüllt das Verhalten eines gegen § 161 AktG verstoßenden Vorstandsmitglieds in aller Regel auch nicht die weiteren Voraussetzungen des Kapitalanlagebetrugs. Die Nichtabgabe der Entsprechenserklärung ist nicht mit dem Verschweigen nachteiliger Tatsachen gleich zu setzten. Auch bei einer falschen oder fehlerhaften Entsprechenserklärung liegen im Allgemeinen keine unrichtigen vorteilhaften Angaben vor, die sich auf die für ein Geschäft wesentlichen Umstände beziehen. 37 Eine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 264a StGB ist allenfalls – und damit eher theoretisch – denkbar, wenn die Entsprechenserklärung oder eine Angabe über sie ausnahmsweise in einen Prospekt im Sinne des § 264 a StGB aufgenommen wird. 38 Prospekt im Sinne dieser Norm ist ein Schriftstück, das zum Zwecke der Information oder Werbung die für die Beurteilung der Kapitalanlage erheblichen Angaben enthält oder zumindest den Eindruck eines solchen Inhalts erweckt. 39 Auch eine Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. dem Straftatbestand des Kreditbetrugs (§ 265 a StGB ) scheidet im Allgemeinen aus. Zwar ist § 265 a StGB Schutznorm i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB . Jedoch fehlt es regelmäßig an der Erfüllung des objektiven Tatbestands, denn die Entsprechenserklärung wird in aller Regel nicht im Zusammenhang mit einem Antrag auf Gewährung, Belassung, oder Veränderung der Bedingungen eines Kredits abgegeben oder nicht abgegeben. Etwas anderes kann allerdings dann gelten, wenn ein Kreditinstitut eine Kreditgewährung von der Abgabe einer Entsprechenserklärung nach § 161 AktG abhängig macht. 40 d) § 331 Nr. 1 und 2 HGB als Schutzgesetz? § 331 HGB enthält Straftatbestände. Ein Vorstandsmitglied macht sich strafbar, wenn es die Verhältnisse der AG in der Eröffnungsbilanz, im Jahresabschluss, im Lagebericht oder im Zwischenabschluss unrichtig wiedergibt oder verschleiert oder die Verhältnisse des Konzern im Konzernabschluss, im Konzernlagebericht oder im Konzernzwischenabschluss unrichtig wiedergibt oder verschleiert. Nach allgemeiner Auffassung in der

MünchKommAktG-Semler/Schaal (Fn.33) § 161 Rn. 215. MünchKommAktG-Semler/Schaal (Fn.33) § 161 Rn. 215. 38 Ettinger/Grützediek AG 2003, 353, 360. 39 Cramer in Schönke/Schröder, Kommentar zum StGB , 26. Aufl., 2001, § 254a Rn. 18; Tiedemann in Leipziger Kommentar zum StGB /, 11. Aufl., 1997, § 264a Rn. 35. 40 MünchKommAktG-Semler/Schaal (Fn.33) § 161 Rn. 216. 36 37

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handelsbilanzrechtlichen Literatur41 sowie nach einer Entscheidung des LG Bonn 42 handelt es sich bei § 331 AktG um ein Schutzgesetz. Nach § 285 Nr. 16 HGB und § 314 Abs. 1 Nr. 8 HGB muss im Jahresabschluss bzw. im Konzernabschluss angegeben werden, dass die Entsprechenserklärung nach § 161 AktG „abgegeben und den Aktionären zugänglich gemacht worden ist“. Der Wortlaut und die Entstehungsgeschichte dieser Normen zeigen, dass der Inhalt der Erklärung nicht zum Gegenstand des Anhangs zu machen ist. Eine deliktische Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB kommt daher nur dann in Betracht, wenn im Jahresabschluss bzw. im Konzernabschluss unzutreffend ausgeführt wird, dass die Erklärung abgegeben wird. Auf den Inhalt der Entsprechenserklärung kommt es hingegen nicht an, wenn im Anhang zum Jahresabschluss bzw. zum Konzernabschluss lediglich angegeben wird, dass die Entsprechenserklärung abgegeben worden ist. Wird der Inhalt der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG „überobligatorisch“ in der Anhang zum Jahres- bzw. Konzernabschluss nach §§ 285, 314 HGB aufgenommen, so fragt sich, ob in dem Fall, dass die Entsprechenserklärung nach § 161 AktG ihrerseits fehlerhaft ist, eine deliktische Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 331 HGB in Betracht kommt. Gegen die Annahme, eine solche Haftung existiere generell bei der freiwilligen Aufnahme des Inhalts der Entsprechenserklärung in den Anhang zum Jahres- bzw. Konzernabschluss, bestehen verfassungsrechtliche Bedenken. Der Straftatbestand des § 331 HGB ist sehr weit gefasst. Eine Bestrafung kommt schon dann in Betracht, wenn die „Verhältnisse“ der AG bzw. des Konzerns unrichtig wiedergegeben oder verschleiert werden. Im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG ist eine restriktive Auslegung von § 331 HGB geboten. Hierbei ist auf die Publikations- und damit Informationsfunktion des Anhangs zum Jahres- bzw. zum Konzernabschluss abzustellen. Von § 331 HGB werden nur solche Informationen umfasst, die zur Beurteilung der wirtschaftlichen Lage und des Erscheinungsbilds der AG bzw. des Konzern von Bedeutung sind. 43 Wird der Inhalt der Entsprechenserklärung „freiwillig“ in den Anhang zum Jahresabschluss bzw. zum Konzernabschluss aufgenommen, so ist ein inhaltlicher Verstoß gegen § 161 AktG, insbesondere eine unzutreffende Entsprechenserklärung, nur ausnahmsweise gleichzeitig als unrichtige Wiedergabe oder Verschleierung der Verhältnisse der Gesellschaft oder des Konzerns i.S.v. § 331 HGB 41 Dannecker in Staub Kommentar zum HGB , 4. Aufl., 2002, § 331 Rn. 1; Quedenfeld in Münchner Kommentar zum HGB , 2001, § 331 Rn. 2; Merkt in Hopt, Kommentar zum HGB , 31. Aufl., 2003, § 331 Rn. 1. 42 LG Bonn, AG 2001, 486. 43 Staub HGB -Dannecker (Fn. 41) § 331 Rn. 37; MünchKomm HGB -Quedenfeld (Fn. 41) HGB § 331 Rn. 40.

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zu werten. Für die meisten Verstöße gegen Empfehlungen und Anregungen des Kodex dürfte das nicht der Fall sein. Eine diesbezügliche Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 331 HGB ist jedoch nicht ganz generell auszuschließen. e) § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG als Schutzgesetz? Nach § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG kann ein Mitglied des Vorstands bestraft werden, wenn es die Verhältnisse der AG einschließlich ihrer Beziehung zu verbundenen Unternehmen in Darstellungen oder Übersichten über den Vermögensstand, in Verträgen oder Auskünften in der Hauptversammlung unrichtig wiedergibt oder verschleiert. § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG ist gegenüber § 331 Nr. 1 HGB subsidiär. 44 Die Norm schützt die AG , aktuelle und potentielle Gläubiger und sonstige Vertragspartner der AG , ihre Aktionäre sowie ihre Arbeitnehmer. Sie ist insofern als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB anzusehen. 45 So hat in jüngerer Zeit das EM . TV -Strafurteil des LG München I 46 den Weg einer verstärkten Anwendung von § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG über § 823 Abs. 2 BGB gewiesen. 47 Der in § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG enthaltene Begriff der „Verhältnisse der Gesellschaft“ ist weiter als der in § 331 HGB verwendete Begriff zu verstehen. Er umfasst alle wirtschaftlichen, sozialen und politischen Umstände, die als Beurteilungsfaktoren für die Einschätzung der Lage, der Funktion, des Erscheinungsbilds oder der Entwicklung der Gesellschaft erheblich sein können.48 Angesichts der Weite des Tatbestands bestehen gegen § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf Art. 102 Abs. 3 GG . 49 Außerdem setzt § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG – ebenso wie § 331 Nr. 1 und 2 HGB – auf subjektiver Seite Vorsatz voraus, wobei allerdings bedingter Vorsatz genügt. Ausreichend ist, dass der Täter aufgrund konkreter Anhaltspunkte die Gefahr erkennt, dass die entsprechenden Erklärungen unrichtig oder unvollständig sind und die Erklärungen dennoch abgibt. Eine Täuschungsabsicht ist nicht erforderlich. 50 Theoretisch kommt zwar eine Haftung von Vorstandsmitgliedern nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG in Betracht. § 400 Abs. 1

44

Otto in Großkommentar zum AktG, 4. Aufl., 1997, § 400 Rn. 94; Ettinger/Grützediek

AG 2003, 353, 359. 45 BGH ZIP 2004, 1593, 1596; ZIP 2004, 1599, 1601; BGHZ 105, 121, 125; BGHZ 149, 10, 20 f; Großkomm AktG-Otto (Fn. 44) § 400 Rn. 4 Leisch ZIP 2004, 1573, 1579. 46 LG München I NJW 2003, 2328. 47 Fleischer NJW 2003, 2584, 2585 f.; Kiethe DStR 2003, 1982. 48 49 50

Großkomm AktG-Otto (Fn. 44) § 400 Rn. 28. Großkomm AktG-Otto (Fn. 44) § 400 Rn. 29. Großkomm AktG-Otto (Fn. 44) § 400 Rn. 48.

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Nr. 1 AktG hat jedoch in der Praxis geringe Bedeutung. 51 Eine deliktische Haftung im Zusammenhang mit der Abgabe der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG wird aber auch deshalb allenfalls in Ausnahmefällen in Betracht kommen, 52 weil § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG als Tatmittel Darstellungen oder Übersichten über den Vermögensstand sowie Vorträge oder Auskünfte in der Hauptversammlung betrifft. Der Gesetzgeber verlangt damit, soweit nicht Vorträge oder Auskünfte „in der Hauptversammlung“ betroffen sind, eine Darstellung oder Übersicht „über den Vermögensstand“. Das ist mehr als eine lediglich Fragen des Vermögensstands berührende Darstellung oder Übersicht. 53 Zwar wird vorgeschlagen, dass auch die unrichtige Wiedergabe zusätzlich in Darstellungen und Übersichten enthaltener Informationen über kulturelle, soziale oder politische Verhältnisse der AG den Tatbestand des § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG erfüllen kann. Jedoch darf angesichts der fragwürdigen Verfassungsmäßigkeit von § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG der Begriff der „Darstellungen oder Übersichten über den Vermögensstand“ nicht zu weit verstanden werden.54 Er erfasst daher nicht die Information über Vorgänge, die nur mittelbar für die AG wirtschaftlich relevant sein können.55 Die Veröffentlichung der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG auf der Website der AG ist jedenfalls nicht von § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG erfasst.56 Die Abgabe einer Entsprechenserklärung nach § 161 AktG dürfte daher allenfalls insofern in Zusammenhang mit § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG relevant sein, als sie zum Gegenstand von Vorträgen oder Auskünften in der Hauptversammlung gemacht wird. Ist das nicht der Fall, scheidet eine deliktische Haftung von Vorstandsmitgliedern nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG ohnehin aus. f) § 15 WpHG a. F. oder §§ 37b und c WpHG als Schutzgesetze? Teilweise findet sich die Auffassung, Handlungen von Vorstandsmitgliedern im Zusammenhang von § 161 AktG seien als kursrelevante Tatsachen im Sinne von § 15 WpHG a.F. anzusehen. 57 Theoretisch denkbar ist in Zusammenhang mit der Abgabe einer Entsprechenserklärung auch eine Haftung nach §§ 37b oder c WpHG . 58 Allerdings wird es für eine Haftung nach

Reichert/Weller ZRP 2002, 49, 53 f. Borges ZGR 2003, 508, 530. 53 Großkomm AktG-Otto (Fn. 44) § 400 Rn. 34. 54 BGH ZIP 2004, 1593, 1596; Thümmel Der Betrieb 2001, 2331, 2332. 55 Ettinger/Grützediek AG 2003, 353, 360. 56 Ettinger/Grützediek AG 2003, 353, 360. 57 Claussen/Bröcker Der Betrieb 2002, 1199, 1204; Lutter, FS Druey, 2002, S. 463, 467; Ulmer ZHR 166 [2002], S. 150, 169 f. 58 Borges ZGR 2003, 508, 533. 51

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§§ 15, 37b und c WpHG bei Erklärungen nach § 161 AktG zumeist an der Erfüllung der konkreten Merkmale dieser kapitalmarktrechtlichen Normen fehlen. Selbst wenn aber ausnahmsweise eine Haftung nach diesen Normen in Betracht kommt, besteht zur Zeit (2004) kapitalmarktrechtlich lediglich eine Haftung der Gesellschaft (des Emittenten), nicht aber (auch) eine Haftung von dessen Organmitgliedern. Geplant ist allerdings eine solche Haftung der Organmitglieder nach dem Kapitalmarkt-Informationshaftungsgesetz.58a Eine Außenhaftung der Vorstandsmitglieder wegen eines Verstoßes gegen §§ 15, 37 b und c WpHG in Zusammenhang mit der Abgabe einer Entsprechenserklärung nach § 161 AktG käme bislang nur dann in Betracht, wenn es sich bei den kapitalmarktrechtlichen Normen der §§ 37 b und c WpHG um Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 AktG handeln würde. Weder § 15 WpHG a. F. noch §§ 37 b und c WpHG, die eine Haftung für unterlassene oder fehlerhafte Ad-hoc-Mitteilungen vorsehen, haben aber Schutzgesetzcharakter im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB . 59 Schon wegen § 15 Abs. 6 WpHG a.F. scheidet ein Schutzgesetzcharakter dieser Normen aus. 60 Diese Normen sollen das allgemeine Vertrauen in den Kapitalmarkt schützen, nicht aber darüber hinaus für einen Schutz des individuellen Anlegers Sorge tragen. g) §§ 38 Abs. 1 Nr. 4, 39 Abs. 1 Nr. 1 und 2, 20 a WpHG als Schutzgesetze? § 20 a WpHG ist Nachfolgenorm zu § 88 BörsG a.F.61 und enthält das Verbot der Kursmanipulation. Diese nach §§ 38 Abs. 1 Nr. 4, 39 Abs. 1 Nr. 1 und 2 WpHG straf- bzw. bußgeldbewehrte Norm ist kein Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB . Sowohl der BGH 62 als auch das BVerfG63 haben zu Recht den Schutzgesetzcharakter von § 88 BörsG a. F. verneint. Weder § 88 BörsG noch § 20 a WpHG als dessen Nachfolgenorm dienen dem Schutz des Einzelnen.64 Für die gegenteilige Auffassung des LG Augsburg als erster Instanz in Sachen Infomatec,65 dass § 88 BörsG a.F. auch dazu dient, das Vermö-

Dazu ZIP 30/2004 Seite A 57. BVerfG ZIP 2002, 1986, 1987 f.; OLG München ZIP 2002, 1989, 1994; LG München ZIP 2001, 1814, 1815; Reichert/Wellers ZRP 2002, 49, 53, Rieckers BB 2002, 1213, 1215; a. A. Grundmann in Ebenroth/Boujong/Joost (Hrsg), Handelsgesetzbuch, 2001, BankR, Rn. VI 119. 60 Krause ZGR 2002, 799, 808 ff.; Thümmel DB 2001, 2331, 2332; Rützel AG 2003, 69, 72. 61 Dazu im einzelnen Möller WM 2002, 309, 311 ff. 62 BGH ZIP 2004, 1593 und 1599. 63 BVerfG NZG 2003, 77, 78. 64 Horn in: FS für Ulmer, 2003, S. 817, 823; Rützel AG 2003, 69, 71; Meier-Reimer/Webering WM 2002, 1857, 1864; Groß WM 2002, 477, 484; Barnert WM 2002, 1473, 1477; Ettinger/Grützediek AG 2003, 353, 359; a. A. Möllers/Leisch BKR 2001, 78, 82 f.; offengelassen bei Wagner WM 2003, 1158, 1167. 65 LG Augsburg, DB 2001, 2336. 58a 59

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gen des einzelnen Kapitalanlegers vor möglichen Schäden durch unredliche Kursbeeinflussung zu schützen, sprach weder der Wortlaut noch die Entstehungsgeschichte dieser Norm.66 Dasselbe gilt für die Nachfolgenorm § 20 a WpHG .67 Zwar hat der BGH in den Urteilen vom 19. 7. 2004 in Sachen „Informatec“ 67a eine Haftung von Organmitgliedern wegen falscher Ad-hocMitteilungen bejaht, diese jedoch nur auf § 826 BGB gestützt. Schon mangels Schutzgesetzcharakters scheidet eine Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit §§ 38 Abs. 1 Nr. 4, 39 Abs. 1 Nr. 1 und 2, 20 a WpHG bei der Abgabe einer Entsprechenserklärung aus. Abgesehen davon erfüllt die Abgabe einer Entsprechenserklärung nach § 161 AktG aber auch nicht die Tatbestandsmerkmale dieser wertpapierrechtlichen Normen. h) Zwischenergebnis Die Suche nach deliktsrechtlich relevanten Schutzgesetzten im Zusammenhang mit der Entsprechenserklärung fällt somit überwiegend negativ aus. Eine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB kommt nur ganz selten in Frage. 3. Haftung nach § 826 BGB Denkbar ist, dass die Vorstandsmitglieder bei der Abgabe einer Entsprechenserklärung nach § 161 AktG einer deliktischen Haftung gemäß § 826 BGB unterliegen. 67b Wie auch die Rechtsprechung zur Haftung von GmbHGeschäftsführern 68 zeigt, ist eine Haftung von Organmitgliedern nach § 826 BGB durchaus möglich. Jedoch darf eine Haftung von Vorstandsmitgliedern nach § 826 BGB nicht vorschnell bejaht werden, sondern verlangt selten vorliegende Voraussetzungen. 69 Das Vorstandsmitglied muss mit Schädigungsvorsatz handeln, das heißt die Art und die Richtung der Schadensfolgen voraussehen und zumindest billigend in Kauf nehmen. 70 Daran wird es in aller Regel fehlen. Eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung durch Vorstandsmitglieder bei der Abgabe einer Entsprechenserklärung nach § 161 AktG ist daher zwar Thümmel DB 2001, 2331, 2332 f.; Riekers BB 2002, 1213, 1215. Groß WM 2002, 477, 484; Austmann in: RWS-Forum Gesellschaftsrecht 2003, 2004, S. 407, 438. a.A. wohl Leisch ZIP 2004, 1573, 1578 f. 67a II ZR 217/03, 218/03 und 402/02, ZIP 2004, 1593 und 1599. 67b Zu § 826 BGB (in Zusammenhang mit Kapitalmarktinformationen) s. die Revisionsentscheidungen des BGH in Sachen „Infomatec“, Urteile vom 19. 7. 2004 (Fn. 67a), Leisch ZIP 2004, 1573 sowie zurückhaltend Ekkenga ZIP 2004, 781, 783 f. 68 BGH GmbHR 1994, 464; OLG Celle GmbHR 1994, 467; OLG Zweibrücken WM 1992, 1604, 1608. 69 Dazu im einzelnen Hopt in Großkommentar zum AktG, 4. Aufl., 1999, § 93 Rn. 500. 70 Ettinger/Grützediek AG 2003, 353, 360. 66 67

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nicht völlig abwegig, so etwa bei eigensüchtigem Handeln von Vorstandsmitgliedern, scheidet aber im Allgemeinen aus.

III. Außenhaftung der Vorstandsmitglieder aus (allgemeiner) Vertrauenshaftung 1. Haftung aus Inanspruchnahme besonderen persönlichen Vertrauens Vor Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes kam in seltenen Fällen eine Außenhaftung von Vorstandsmitgliedern bei Pflichtverletzungen aus culpa in contrahendo gegenüber Dritten in Betracht. 71 Sie setzte die Inanspruchnahme besonderen persönlichen Vertrauens voraus, da anderenfalls lediglich eine Haftung der AG selbst aus Vertrag oder aus cic in Betracht kam. So lehnte das KG Berlin in einer noch zum alten Recht ergangenen Entscheidung aus dem Jahr 200172 eine Eigenhaftung von Vorstandsmitgliedern aus cic für falsche Prospektangaben ab. § 311 Abs. 2 BGB statuiert nunmehr ausdrücklich, dass ein Schuldverhältnis im Sinne von § 241 Abs. 2 BGB auch durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen, die Anbahnung eines Vertrags oder ähnliche geschäftliche Kontakte entstehen kann. Hierbei handelt es sich nach den Vorstellungen des Gesetzgebers des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes um eine gesetzliche Normierung der bisherigen cic-Haftung. 73 § 311 Abs. 3 BGB sieht vor, dass ein Schuldverhältnis auch zu Personen entstehen kann, die nicht selbst Vertragspartei werden sollen. Ein solches Schuldverhältnis entstehe „insbesondere“, wenn der Dritte in besonderem Maße Vertrauen für sich in Anspruch nimmt und dadurch die Vertragsverhandlungen oder den Vertragsschluss erheblich beeinflusst. Das Verhältnis von § 311 Abs. 2 zu § 311 Abs. 3 BGB ist strittig. Die Haftung aus §§ 311 Abs. 3, 241 Abs. 2, 280 Abs. 1 BGB lässt sich mit guten Gründen nicht als cic-Haftung, bei der die vertragliche Haftung lediglich vorverlegt wird, sondern als eigenständige Sachwalter- und Prospekthaftung ansehen.74 Mit ihr kommt es zu einer Erweiterung des Schuldnerkreises. Die Sachwalter- und Prospekthaftung im Sinne von § 311 Abs. 3 BGB setzt sich nicht nur über die rechtliche Ausgestaltung der Beziehungen unter den Vertragsbeteiligten hinweg, sondern es fehlt ihr auch das für die cic-Haftung typische Moment der Zufälligkeit und der daraus resultierenden Unbilligkeit der Nichthaftung. Diese Sachwalter- und Prospekthaftung trägt in ihrer WirDazu im Allgemeinen Großkomm AktG-Hopt (Fn. 69) § 93 Rn. 495 ff. KG Berlin, AG 2003, 324. 73 BT-Drucks. 14/6040, S. 162. 74 Dazu im Einzelnen Masch, Die Dritthaftung von Banken bei fehlerhaften Eigenauskünften, 2004, 2. Teil, D. 71

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kungsweise durchaus Züge einer den Rechtsformenmissbrauch verhindernden Durchgriffshaftung. Mit der Erweiterung des Kreises der Haftenden über die potentiellen Vertragspartner hinaus und den Verzicht auf das Zufälligkeitskriterium bestehen wesentliche Unterschiede zur Haftung aus cic. Daher ist bei einer Haftung nach §§ 311 Abs. 3, 241 Abs. 2, 280 Abs. 1 BGB besonderer Wert auf das Vorliegen einer persönlichen Inanspruchnahme besonderen Vertrauens zu legen. Eine solche Inanspruchnahme besonderen persönlichen Vertrauens darf nicht leichtfertig angenommen werden. Da sich die Entsprechenserklärung nach § 161 AktG – wie oben ausgeführt – an den Kapitalmarkt und nicht an einzelne Personen richtet, kann durch die Abgabe einer Entsprechenserklärung nach § 161 AktG eine persönliche Inanspruchnahme besonderen Vertrauens nicht erfolgen. Der einschlägige Vertrauenstatbestand wird durch die Entsprechenserklärung gerade nicht geschaffen. 75 Ein Schadensersatzanspruch – etwa von Anlegern – nach § 280 Abs. 1 BGB i.V.m. § 311 Abs. 3 BGB bei der Abgabe einer unvollständigen oder falschen Entsprechenserklärung scheidet daher aus. Für eine Haftung nach §§ 311 Abs. 3, 241 Abs. 2, 280 Abs. 1 BGB reicht die Abgabe der mehr oder weniger abstakten, auf eine generelle Aussage zur Corporate Governance der AG herauslaufende Abgabe der Entsprechenserklärung nicht aus. Hinzukommen müsste vielmehr, dass das Vorstandsmitglied, etwa durch besondere Gespräche mit einzelnen Anlegern, ein gesteigertes Vertrauen in Anspruch nimmt. 76 2. Keine vertragliche Haftung Erst recht bestehen keine vertraglichen (rechtsgeschäftlichen) Bindungen zwischen Vorstandsmitglied und Dritten. Die entsprechende Erklärung als solche begründet keinerlei vertragliche Beziehungen. Allerdings ist es dem einzelnen Vorstandsmitglied nicht verwehrt, durch ausdrückliche, über das Gesetz (§ 161 AktG) hinausgehende Verpflichtung in rechtsgeschäftlich bindender Weise einzugehen. 77 3. Haftung der Vorstandsmitglieder wegen der Verfolgung eigener wirtschaftlicher Interessen? In § 311 Abs. 3 Satz 2 BGB wird eine Haftung Dritter wegen der Verfolgung eigener wirtschaftlicher Interessen nicht gesondert angesprochen. Nach älterer Rechtsprechung handelte es sich im Rahmen der cic-Haftung 75 Dazu MünchKommAktG-Semler (Fn. 21) § 161 AktG Rn. 230; Austmann in: RWS Forum Gesellschaftsrecht 2003, 2004, S. 407, 439. 76 Ettinger/Grützediek AG 2003, 353, 357. 77 MünchKommAktG-Semler (Fn.21) § 161 Rn. 227.

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um eine eigenständige Kategorie neben der Inanspruchnahme besonderen persönlichen Vertrauens. Jedoch ist die Rechtsprechung schon vor Inkrafttreten des Schuldrechtmodernisierungsgesetzes zunehmend zurückhaltender mit der Annahme dieser Kategorie geworden. 78 Angesichts ihrer Nichtaufnahme in § 311 Abs. 3 Satz 2 BGB spricht manches dafür, sie heute als eigenständige Kategorie neben der persönlichen Inanspruchnahme besonderen Vertrauens gar nicht mehr zuzulassen. 79 Es ist daher äußerst fraglich, ob nach der Schulrechtsmodernisierung die in die frühere, allgemeine cic-Haftung eingebettete Haftung wegen Verfolgung eigener wirtschaftlicher Interessen überhaupt noch als eigenständige Kategorie fortbesteht. Bejaht man das trotz dieser Bedenken, so ist jedenfalls Voraussetzung, dass der Dritte (hier: das Vorstandsmitglied) gleichsam „in eigener Sache“ tätig wird. Ein lediglich mittelbares Interesse reicht für eine Haftung keinesfalls aus. Das Interesse der Vorstandsmitglieder an ihrer Vergütung, auch an einer erfolgsabhängigen Vergütung oder an einer Vergütung in Aktienoption, genügt als solches nicht, um eine Haftung bei der Abgabe unvollständiger oder falscher Entsprechenserklärungen aus dem Gesichtspunkt der Verfolgung eigener wirtschaftlicher Interessen zu begründen. 80 4. Haftung aus allgemeiner Prospekthaftung? In der Literatur wird ferner erwogen, bei schuldhaften Verstößen von Vorstandsmitgliedern gegen Verpflichtungen aus § 161 AktG unmittelbar oder zumindest entsprechend die Grundsätze über die (allgemeine) Prospekthaftung anzuwenden. 81 Bei der Prospekthaftung handelt es sich letztlich um eine besondere Art der Auskunftshaftung. 82 Bei ihr ist zwischen der Prospekthaftung aus der Inanspruchnahme besonderen persönlichen Vertrauens (Prospekthaftung im weiteren Sinn; dazu schon oben), der allgemeinen zivilrechtlichen Prospekthaftung (Prospekthaftung im engeren Sinn) und spezialgesetzlichen Formen der Prospekthaftung zu unterscheiden. Allerdings sind sowohl die verwendete Terminologie als auch die Abgrenzung der verschiedenen Formen der Prospekthaftung im Einzelnen umstritten. 83 78 79 80

BGH WM 1985, 385; BGH WM 1988, 1888; BGH NJW 1990, 389. Hopt HGB , 31. Aufl., 2003, vor § 48 Rn. 11. Ähnlich für vergleichbare Konstellationen BGH WM 1989, 1923; BGHZ 126, 181,

183 ff. 81 Lutter, FS Druey, 2002, S. 463, 474 ff.; Ulmer ZHR 166 [2002], 150, 169; a. A. Ihrig/ Wagner Betriebs-Berater 2002, 789, 792; Schüppen ZIP 2002, 1269, 1273; Seibert BetriebsBerater 2002, 581, 584. 82 Kort in Ebenroth/Boujong/Joost (Hrsg), HGB , 2001, § 347 Rn. 91. 83 A. Meyer WM 2003, 1301, 1302 ff.

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Bei der allgemeinen zivilrechtlichen Prospekthaftung handelt es sich um eine vertragsähnliche Haftung sui generis als besondere Form der Vertrauenshaftung. Sie verlangt das Vorliegen eines Prospekts. Die Entsprechenserklärung i.S.v. § 161 AktG ist jedoch mit einem Prospekt im Sinne der Prospekthaftung nicht vergleichbar. 84 Für den zivilrechtlichen Prospektbegriff ist auf den in § 264 a StGB verwendeten strafrechtlichen Prospektbegriff zurückzugreifen. 85 Ein Prospekt im Sinne der Prospekthaftung enthält Tatsachenangaben über die betreffende Anlage. Ein Prospekt ist eine marktbezogene Erklärung, welche die zur Beurteilung einer Anlage relevanten Daten enthält oder dies zumindest vorgibt. 86 Er beschreibt die rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Anlageobjekts sowie dessen Verbindungen zu anderen Unternehmen. Ferner erläutert er Renditeerwartungen und schildert Chancen und Risiken der Anlage. 87 Im Prospekt sind unter anderem auch Umstände anzugeben, die sich auf die Anlegerentscheidung negativ auswirken können, bei denen also wahrscheinlich ist, dass sie den vom Anleger verfolgten Zweck gefährden. Der Anleger muss sich aufgrund des Prospektinhalts ein vollständiges und richtiges Bild der für seine Anlageentscheidung maßgeblichen Umstände machen können. 88 Die Entsprechenserklärung dient weder direkt noch indirekt als Basis für eine konkrete Anlegerentscheidung, sondern schildert in erster Linie das Verhalten der Vorstandsmitglieder und der Aufsichtsratsmitglieder in Bezug auf gesetzliche Anforderungen, Empfehlungen und Anregungen, die Gegenstand des Deutschen Corporate Governance Kodex sind. Wirtschaftlich und finanziell relevante Einzeldaten, wie sie ein Prospekt typischerweise enthält, enthält die Entsprechenserklärung gerade nicht. Hinzu kommt, dass die in die Zukunft weisenden Teile der Entsprechenserklärung in einer zukünftigen Entsprechenserklärung abänderbar sind. Mithin besteht – anders als beim Prospekt – kein schutzwürdiges Vertrauen in die nachhaltige Unabänderlichkeit der Entsprechenserklärung. 89 Angesichts der völlig unterschiedlichen Funktionen von Prospekten und von Entsprechenserklärungen können die Grundsätze über die Prospekthaftung auch nicht analog für die Haftung von Vorstandsmitgliedern aus Entsprechenserklärungen herangezogen werden. Auch ist nicht zu erwarten, dass die Rechtsprechung die Grundsätze der allgemeinen Prospekthaftung auf die Abgabe der Entsprechenserklärung 84 Borges ZGR 2003, 508, 531; MünchKommAktG-Semler (Fn.21) § 161 Rn. 223; Seibert Betriebs-Berater 2002, 581, 584. 85 Rützel AG 2003, 69, 71. 86 Ettinger/Grützediek AG 2003, 353, 357; Kiethe ZIP 2000, 216, 219. 87 88 89

MünchKommAktG-Semler (Fn.21) § 161 Rn. 223. Ebenroth/Boujong/Joost HGB -Kort (Fn. 82) § 347 Rn. 94. MünchKommAktG-Semler (Fn.21) § 161 Rn. 223.

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nach § 161 AktG ausdehnen wird. Die Rechtsprechung geht vielmehr von einem ziemlich engen Prospektbegriff aus. So wurden Ad-hoc-Mitteilungen, 90 Zwischenberichte gemäß § 40 BörsG sowie Angaben im Jahresabschluss bislang nicht als prospekthaftungstaugliche Informationen angesehen. 91 Eine gesetzliche Regelung der Außenhaftung von Organmitgliedern für fehlerhafte Kapitalmarktinformation fehlt. Sie ist allerdings im Kapitalmarkt-Informationshaftungsgesetz geplant. 91a Damit will der Gesetzgeber Vorschlägen der Regierungskommission Corporate Governance92 sowie der Abteilung E (Wirtschaftsrecht) des 64. Deutschen Juristentages 200293 offenbar folgen, die Außenhaftung für fehlerhafte Kapitalmarktinformation, die vor allem den Emittenten trifft (§§ 37b und c WpHG), auf (dessen) Organmitglieder (oder sonstige Personen) auszudehnen. 94 Auch der Maßnahmenkatalog der Bundesregierung vom 25. 2. 2003 (sog. Zehn-PunkteProgramm) 95 hatte bereits eine solche persönliche Haftung von Organmitgliedern für Falschinformationen des Kapitalmarkts vorgesehen. 96 Mit dem bisherigen Fehlen einer gesetzlichen Regelung der Außenhaftung von Organmitgliedern für fehlerhafte Kapitalmarktinformation lässt sich keine ungeschriebene allgemeine Prospekthaftung von Vorstandsmitgliedern begründen. 97 Zwar ist es richtig, dass die Entsprechenserklärung neben einer allgemeinen Anlegerinformationsfunktion auch die Funktion hat, „gute Unternehmensführung“ zu fördern, die ihrerseits mit Kursaufschlägen honoriert werden mag. In diesem Sinne mag das enttäuschte Vertrauen in die Richtigkeit der mit der Entsprechenserklärung erfolgenden Information über die Corporate Governance-Struktur der betroffenen AG zu einer Anlegerschädigung führen können. 98 Zu beachten ist jedoch, dass nicht jedes Vertrauen haftungsrechtlich geschützt ist. Die Entsprechenserklärung ist nicht Werbemittel für die einzelne AG , sondern wurde aus gesamtwirtschaftlichen Überlegungen in das deutOLG München, ZIP 2002, 1727, 1728 mit Anm. Tilp. Dazu im einzelnen Groß WM 2002, 477, 480; Ettinger/Grützediek AG 2003, 353, 358. 91a Dazu ZIP 30/2004 Seite A 57. 92 Baums (Hrsg.), Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, 2001, Rn. 186. 93 Beschluss Nr. 1.11., abgedruckt in: DB 2002, 2037; zustimmend Holzborn/Foelsch NJW 2003, 932, 937, 940; Weitnauer DB 2003, 1719, 1722. 94 Kritisch zu einer solchen Ausdehnung Kiethe DStR 2003, 1982. 95 Abgedruckt in Wistra 4/2003, S. V ff. 96 Kritisch Kiethe DStR 2003, 1982,1986 ff. 97 In diese Richtung gehend aber Hopt in Hommelhoff/Lutter/Schmidt/Schön/Ulmer (Hrsg.), Corporate Governance, ZHR-Beiheft 71, 2002, S. 27, 56; Ulmer ZHR 166 [2002], 150, 168. 98 Hopt in Hommelhoff/Lutter/Schmidt/Schön/Ulmer (Hrsg.), Corporate Governance, ZHR-Beiheft 71, 2002, S. 27, 56 f.; Ulmer ZHR 166 [2002], 150, 168 f. 90 91

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sche Aktienrecht eingeführt. 99 Außerdem wird die Entsprechenserklärung in Erfüllung der gesetzlichen Verpflichtung gemäß § 161 AktG abgegeben, nicht aber als (freiwilliges) Marketinginstrument wie Vertriebsangaben oder andere zur Absatzförderung erstellte Veröffentlichungen.100 Die Situation bei der Abgabe einer Entsprechenserklärung ist daher ganz anders als die Marketing- oder Verkaufssituation bei einer Prospekterstellung.101 Der unmittelbare Zusammenhang zwischen der Veröffentlichung der Entsprechenserklärung und der Veräußerung von Aktien fehlt.102 Eine Beziehung zwischen der jährlich abzugebenden Entsprechenserklärung und evtl. bestehenden Emissionsabsichten in der AG besteht nicht. Etwas anderes mag lediglich dann gelten, wenn die Entsprechenserklärung über ihren vom Gesetz vorgesehenen Inhalt hinaus prospektähnlich ausgestaltet ist. Das wird bei börsennotierten AG , auf die allein sich § 161 AktG bezieht, jedoch nur ganz ausnahmsweise der Fall sein. Gegen eine umfassende Haftung der Vorstandsmitglieder in Zusammenhang mit der Abgabe einer Entsprechenserklärung nach § 161 AktG aus allgemeiner Prospekthaftung bestehen ganz generell Bedenken, weil sie auf eine allgemeine Informationshaftung gegenüber jedermann hinausliefe, die von den Rechtsprechungsgrundsätzen zur allgemeinen Prospekthaftung, die eine Sonderbeziehung wie insbesondere die Emissionssituation voraussetzen, nicht gedeckt ist.103 Die allgemeinen Bedenken gegen eine Haftung von Vorstandsmitgliedern aus allgemeiner Prospekthaftung lassen sich nicht durch den Hinweis zerstreuen, es hänge oft nur vom Zufall ab, ob eine Haftung der AG oder ihrer Organmitglieder bestehe.104 Auch lässt sich eine Haftung der Organmitglieder aus allgemeiner Prospekthaftung oder aus allgemeiner Kapitalmarkthaftung nicht mit dem Argument begründen, eine rechtliche Irrelevanz der Entsprechenserklärung sei „gewiss nicht gewollt“.105 Eine Innenhaftung der Vorstandsmitglieder nach § 93 AktG kann bei Verstößen gegen § 161 AktG sehr wohl bestehen, nicht hingegen eine (zusätzliche) Außenhaftung. 99 Bertrams Die Haftung des Aufsichtsrats im Zusammenhang mit dem Deutschen Corporate Governance Kodex und § 161 AktG, 2004, 4. Kapitel A. II . 5. 100 Groß WM 2002, 477, 479. 101 Abram ZBB 2003, 477, 480; Berg/Stöcker WM 202, 1569, 1581; Ettinger/Grützediek AG 2003, 353; a. A. Hirte, Das Transparenz- und Publizitätsgesetz – Einführende Gesamtdarstellung, 2003, 1. Kapitel Rn. 45. 102 Abram ZBB 2003, 41, 44; Groß WM 2002, 477, 479, a. A. Lutter, FS Druey, 2002, S. 463, 475. 103 Horn, FS Ulmer, 2003, S. 817, 825 f.; Borges ZGR 2003, 508, 531 f.; für eine allgemeine kapitalmarktrechtliche Informationshaftung Möllers in Horn/Krämer (Hrsg.), RWS -Forum 22, Bankrecht 2002, 2003, 271. 104 So aber Hirte Das Transparenz- und Publizitätsgesetz – Einführende Gesamtdarstellung, 2003, 1. Kapitel Rn. 45. 105 So aber Lutter, FS Druey, 2002, S. 463, 468.

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5. Anwendbarkeit der allgemeinen Prospekthaftung außerhalb des „grauen Kapitalmarkts“? Die allgemeine Prospekthaftung ist ohnehin auf den sogenannten „grauen Kapitalmarkt“ beschränkt.106 So führt der BGH aus, dass die allgemeinen Grundsätze der Prospekthaftung bei Emissionen von Aktien allenfalls beim Vertrieb außerhalb der geregelten Märkte anwendbar seien.107 Eine Anwendung der allgemeinen Prospekthaftung scheidet damit im gesamten Anwendungsbereich der börsenrechtlich gesetzlich geregelten Haftung aus.108 Diese Haftungsprivilegierung ist gerechtfertigt, weil sich mit dem Auftreten am organisierten Markt die Legitimität des Handelns dadurch erhöht, dass sich die Marktteilnehmer den dort gängigen Verfahrensabläufen unterwerfen. Da die Entsprechenserklärung nach § 161 AktG lediglich von den Verwaltungsmitgliedern börsennotierter AG abgegeben wird, wären unvollständige oder falsche Entsprechenserklärungen demnach ohnehin nicht nach der allgemeinen Prospekthaftung, sondern ausschließlich nach den spezialgesetzlichen, börsenrechtlichen Haftungsnormen zu beurteilen.109 6. Haftung aus allgemeiner kapitalmarktrechtlicher Vertrauenshaftung? Erst recht geht es nicht an, die einzelnen Vorstandsmitglieder wegen eines Verstoßes gegen § 161 AktG aus der Inanspruchnahme von Marktvertrauen im Sinne einer allgemeinen kapitalmarktrechtlichen Vertrauenshaftung haften zu lassen. Eine Haftung aus Marktvertrauen setzt – wie jede andere Form von Sachwalterhaftung auch – die Inanspruchnahme von besonderen persönlichen Vertrauen voraus.110 An einer solchen Inanspruchnahme besonderen persönlichen Vertrauens fehlt es aber, wie oben bereits in anderem Zusammenhang ausgeführt wurde. Ein Haftungsgrund einer allgemeinen kapitalmarktrechtlichen Vertrauenshaftung besteht daher nicht.111

106 Zu geplanten gesetzlichen Neuregelungen auf dem Gebiet des „grauen Kapitalmarkts“ Kuthe ZIP 2004, 883 sowie Moritz/Grimm Betriebs-Berater 2004, 1352. 107 BGHZ 123, 106, 109. 108 Barnert WM 2002, 1473, 1482; Kiethe BB 1999, 2253, 2255; derselbe NZG 1999, 858, 861; Kort AG 1999, 9, 19. 109 Bachmann WM 2002, 2137, 2140; Berg/Stöcker WM 2002, 1569, 1581; Ettinger/Grützediek AG 2003, 353, 358. 110 Masch Die Dritthaftung von Banken bei fehlerhaften Eigenauskünften, 2004, 2. Teil, D. II . 1c cc. 111 Allgemein kritisch zu einer weit reichenden Vertrauenshaftung Masch Die Dritthaftung von Banken bei fehlerhaften Eigenauskünften 2004, 2. Teil, D. III .

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IV. Keine spezialgesetzliche Prospekthaftung Eine Außenhaftung von Vorstandsmitgliedern aus spezialgesetzlicher Prospekthaftung, namentlich aus §§ 44 ff., 55 BörsG, § 20 KAGG , § 12 AuslInvestmG und § 13 VerkprospG, kommt nicht in Betracht, da die in diesen besonderen Gesetzen in den Haftungstatbeständen angesprochenen Prospekte und Berichte im Einzelnen aufgeführt sind und die Entsprechenserklärung nicht darunter fällt.112 Eine Haftung nach diesen besonderen Gesetzen käme allenfalls dann in Betracht, wenn die Entsprechenserklärung freiwillig zum Bestandteil der in den einschlägigen Gesetzesnormen genannten Unterlagen gemacht würde. Eine andere Beurteilung ergibt sich auf nicht aufgrund der neuen EU -Prospektrichtlinie, da diese Richtlinie Fragen der Prospekthaftung ausklammert und der Regelung der Mitgliedsstaaten überlässt.113

V. Außenhaftung nach den Bestimmungen des Wertpapierhandelsgesetzes Im Zusammenhang mit der Abgabe einer unvollständigen oder falschen Entsprechenserklärung oder sonstigen Verstößen gegen § 161 AktG mag es sein, dass damit zugleich eine erforderliche Ad-hoc-Mitteilung unterbleibt. In einem solchen Fall können die besonderen Vorschriften des Wertpapierhandelsgesetzes (§§ 15, 37 b und c WpHG) in Betracht kommen, die ihrerseits keine Außenhaftung der Organmitglieder begründen, sondern lediglich eine Haftung der Gesellschaft statuieren.114 Allerdings wird das Kapitalmarkt-Informationshaftungsgesetz 114a eine gesetzliche Außenhaftung von Organmitgliedern für fehlerhafte Ad-hoc-Mitteilungen vorsehen, nicht aber eine allgemeine Außenhaftung für die Abgabe von EntsprechensErklärungen nach § 161 AktG.

VI. Zusammenfassung Zusammenfassend ist festzuhalten, dass eine Außenhaftung von Vorstandsmitgliedern bei einem Verstoß gegen § 161 AktG nur ganz ausnahmsweise in Betracht kommt.

Berg/Stöcker WM 2002, 1569, 1582. Kunold/Schlitt Betriebs-Berater 2004, 501, 511. 114 MünchKommAktG-Semler (Fn.21) § 16 Rn. 232. 114a Dazu ZIP 30/2004 Seite A 57. 112 113

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Informationsbeschaffungspflichten des Aufsichtsrats Bruno Kropff

Inhaltsverzeichnis Seite

I. Neue Akzente im Organhaftungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anwendungsbereich der Haftungsregel beim Aufsichtsrat . . . . . . 1. Sinn und Zweck der Haftungserleichterung . . . . . . . . . . . . 2. In der Regel keine Haftungserleichterung für vergangenheitsbezogene Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Keine Anwendung auf die beratende Tätigkeit des Aufsichtsrats . III. Recht und Pflicht des Aufsichtsrats zur Beschaffung angemessener Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aktive Informationspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur „Angemessenheit“ der Informationsgrundlage . . . . . . . . 3. Abstufung nach dem Maß der Verantwortung . . . . . . . . . . . a) Alleinentscheidungen des Aufsichtsrats . . . . . . . . . . . . b) Teilhabe an unternehmerischen Entscheidungen des Vorstands . c) Teilhabe an unternehmerischen Entscheidungen der Hauptversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Wege und Grenzen der Informationsbeschaffung . . . . . . . . . . . 1. Die Information durch den Vorstand . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kein Informationsmonopol des Vorstands . . . . . . . . . . . . . 3. Vorstandsunabhängige Informationsmöglichkeiten . . . . . . . . a) Unternehmensinterne Dokumentation . . . . . . . . . . . . . b) Abschlussprüfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sachverständige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Angestellte der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Organisatorische Vorkehrungen zur Sicherung angemessener Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zusammensetzung des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse . . b) Geschäftsordnung von Aufsichtsrat und Vorstand . . . . . . . c) Ausschussbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Informationsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

226 228 228 229 230 231 231 232 233 233 234 236 237 237 238 239 239 240 241 242 243 243 243 244 244 245

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I. Neue Akzente im Organhaftungsrecht Mit dem kürzlich veröffentlichten 1 Referentenentwurf (RefE) eines Gesetzes „zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts ( UMAG )“ wollen die Referenten nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG den folgenden Satz einfügen: „Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung ohne grobe Fahrlässigkeit annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln.“ Das soll auf Grund der unveränderten Verweisung in § 116 Satz 1 AktG auch für den Aufsichtsrat gelten. Die vorgeschlagene Vorschrift soll nach der Begründung klarstellen, „dass eine Erfolgshaftung der Organmitglieder gegenüber der Gesellschaft ausscheidet, dass also für Fehler im Rahmen des unternehmerischen Ermessens nicht gehaftet wird („business judgement rule“)“. Nun ist freilich im geltenden Recht noch niemand ernstlich auf den Gedanken gekommen, dass ein pflichtmäßig handelnder Vorstand oder Aufsichtsrat für den unternehmerischen Erfolg hafte. 2 Auch hat das damalige Reichsgericht schon vor nahezu 100 Jahren entschieden, dass „in der unrichtigen Beurteilung der wahrscheinlichen Folgen einer geschäftlichen Maßnahme noch keine Fahrlässigkeit“ liegt, 3 und von daher führt eine gerade Rechtsprechungslinie zu der ARAG -Entscheidung 4 des Bundesgerichtshofs. Wozu also dieses kodifizieren, geht es nur – wiederum – um die modische Übernahme amerikanischer Rechtsgrundsätze, hier (von Teilen) der „business judgement rule“? 5 1

ZB Sonderbeilage zu NZG Heft 4/2004.

Bereits die amtl. Begr. des Aktiengesetzes 1937 hat eine Erfolgshaftung abgelehnt. RG JW 1911, 223; in diesem Sinne zum Aktienrecht des HGB Staub, HGB , 14 Aufl. § 241 Rn. 1; zum Aktiengesetz von 1937 Schlegelberger/Quassowski AktG, 3. Aufl. § 84 Rn. 4; Weipert in Großkommentar AktG, 1939, § 284 Rn. 15; ferner aus der Rechtsprechung RGZ 129, 172, 275 und (für die Genossenschaft) RG DR 39/2164; auch BGHZ 71, 40, 49; 125, 239, 248 ff. 4 BGHZ 135, 244, 253 ff. Auf diese viel- und insgesamt positiv diskutierte Entscheidung, zB Hüffer, AktG 5. Aufl., 2002, § 93 Rn. 13 a; Hefermehl/Spindler in Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl. des Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, Aktiengesetz (MünchKomm.) § 93 Rn. 24 jew. mwN., beruft sich auch die Begr. des RefE (aaO. Fn. 1). 5 Bei ihr handelt es sich um einen durch die US -Rechtsprechung entwickelten, nicht kodifizierten Grundsatz, nach dem ein Geschäftsleiter bei einer unternehmerischen Entscheidung nicht der gerichtlichen Prüfung an dem normalerweise für ihn geltenden duty of care-standard ausgesetzt ist, wenn er 1. kein eigenes relevantes Interesse an der Entscheidung hat, 2. sie aufgrund angemessener Information getroffen hat und 3. nachvollziehbar im besten Interesse des Unternehmens zu handeln geglaubt hat (wegen der nur in Nuancen abweichenden Formulierungen in der US -Rechtsprechung wird auf die Monographien von Merkt, US -amerikanisches Gesellschaftsrecht, 1991 Rn. 673, 682 ff.; Paefgen, Unternehmerische Entscheidungen und Rechtsbindung der Organe in der AG , 2002 S. 151 ff.; Mutter, 2 3

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Ganz so wird man es nicht sehen können. Denn die Rechtsregel des RefE hebt immerhin mit Recht einen Gesichtspunkt hervor, der speziell für den Aufsichtsrat bisher nicht genügend Beachtung gefunden hat, nämlich dass der Ermessenspielraum bei unternehmerischen Entscheidungen nur dann haftungserleichternd wirkt, wenn die Entscheidung auf der Grundlage angemessener Information getroffen wurde. 6 In welcher Richtung die Haftung erleichtert sein sollte – durch geringere Anforderungen an die Sorgfaltspflicht; 7 durch Umkehrung der Beweislast für pflichtmäßiges Verhalten, 8 oder durch Gewährung einer Ermessensprärogative, die der richterlichen Überprüfung entzogen ist 9 – kann für das Folgende offen bleiben. Ob und in welcher Form dieses Erfordernis der angemessenen Information Gesetz wird, ist bei Abschluss dieses Beitrags offen. Doch wird eine gesetzliche Regelung – wenn sie denn kommt – nicht auf dieses Erfordernis verzichten können. Und wenn es zu keiner Kodifikation kommt, bleiben – was sicher nicht unvernünftig wäre – das Erfordernis angemessener InforUnternehmerische Entscheidung und Haftung des Aufsichtsrats der Aktiengesellschaft, 1994 S. 207 f. und Abeltshauser, Leitungshaftung und Kapitalgesellschaft, 1998 S. 60 ff. verwiesen, die jeweils auch auf die Frage einer Übernahme in das deutsche Recht eingehen). 6 Es ist allerdings zweifelhaft, ob dieser bereits aus dem geltenden Recht abzuleitende Gesichtspunkt wie überhaupt die business judgement rule eine Kodifizierung rechtfertigen (für Kodifizierung der von Baums hrsg. Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, 2001 unter Rn. 70 mit dem RefE entsprechender Begründung). Die drei haftungsbefreienden Elemente der business judgement rule sind aber schon jetzt aus § 93 AktG abzuleiten (Kort in Großkommentar Aktiengesetz, 4. Aufl. 2003, § 76 Rn. 51; MünchKommAktG-Hefermehl/Spindler (Fn. 4). § 93 Rn. 33: Linnerz NZG 2004, 307, 311 f.) oder lassen sich doch im deutschen Recht „auch de lege lata sehr wohl zur Geltung bringen“ (Hopt in Großkommentar AktG, 4. Aufl., 1999, § 93 Rn. 83). Die Probleme der Übernahme einer solchen Regel aus einem anderen Haftungs- und Prozesssystem und Verwerfungen in ihrem Verhältnis zu anderen aktienrechtlichen Haftungsvorschriften (§§ 117, 309, 317 AktG; Haftung aus Treupflichtverletzung; ferner Haftung des Abschlussprüfers nach § 323 HGB) sprechen dafür, die dogmatische Fortentwicklung des geltenden Haftungsrechts unter Berücksichtigung ausländischer Rechtsregeln weiterhin Rechtsprechung und Schrifttum zu überlassen. 7 So der RefE. Nach ihm soll die Haftungserleichterung sogar eingreifen, wenn die angemessene Information grob fahrlässig verfehlt wurde. Das wird hoffentlich nicht Gesetz, Kinzl AG 2004 R 3; Thümmel DB 2004, 471, 472 mit Neuformulierung; anders allerdings Seibert/Schütz ZIP 2004, 252, 254. Die Gründe einer Haftungserleichterung für unternehmerische Entscheidungen – nachstehend unter I,1 – lassen sich in der Regel nicht auf die Beschaffung der angemessenen Information übertragen. Auf die business judgement rule kann sich die Herabstufung auf grobe Fahrlässigkeit nicht berufen, Paefgen (Fn. 5) S. 181. 8 So Lutter GmbHR 2000, 301, 308; Hopt, FS Mestmäcker, 1996 S. 909, 919 ff. und Großkomm.-Hopt (Fn. 6) § 93 Rn. 83; Mutter (Fn. 5) S. 207, 215 ff. 9 In diesem prozeduralen Sinne wird die business judgement rule in den USA verstanden, Großkomm.-Hopt (Fn. 6) § 93 Rn. 83: der Geschäftsleiter ist „nicht der gerichtlichen Prüfung an dem normalerweise für ihn geltenden duty of care-standard ausgesetzt“; ähnlich Paefgen (Fn. 5) S. 573. Heermann AG 1998, 201, 205 sieht eine „ungewöhnliche Verbindung von tatsächlicher Vermutung, Beweislastregelung und materiellem Sorgfaltsmaßstab“.

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mation und seine haftungsrechtliche Bedeutung weiterhin Rechtsprechung und Schrifttum überlassen. Die business judgement rule ist in einem Rechtssystem entstanden, das unseren Aufsichtsrat nicht kennt. Bei den Überlegungen zu ihrer Übernahme steht der Vorstand im Vordergrund. Die Begrenzung auf unternehmerische Entscheidungen und das Erfordernis angemessener Information werfen aber gerade beim Aufsichtsrat besondere Fragen auf, denen auch ohne Bezugnahme auf gesetzgeberische Vorschläge nachzugehen ist. Sie mögen Thomas Raiser interessieren, der in einem Aufsatz im Vorfeld der ARAG -Entscheidung die Notwendigkeit betont hat, die Grenzen des unternehmerischen Ermessens zu erkennen und die Pflichtenbindung der Organmitglieder herauszustellen.10 Der BGH hat in der späteren Entscheidung auf diese Ausführungen zustimmend hingewiesen.11

II. Anwendungsbereich der Haftungsregel beim Aufsichtsrat 1. Sinn und Zweck der Haftungserleichterung Der Aufsichtsrat hat die Geschäftsführung zu überwachen. Er trifft im Rahmen der Überwachung vielfältige Entscheidungen, zB, ob er einen Vorstandsbericht über die Absicherung von Währungsrisiken anfordert,12 ob der Bericht des Abschlussprüfers nur den Mitgliedern eines Ausschusses ausgehändigt werden soll,13oder ob er vier oder fünf Sitzungen im Jahr abhält.14 Neben diesen Überwachungsentscheidungen hat der Aufsichtsrat aber auch Entscheidungen zu treffen, durch die er – wie es der BGH 15 im Anschluss an Thomas Raiser 16 formuliert hat – die unternehmerische Tätigkeit des Vorstands im Sinne einer präventiven Kontrolle begleitend mitgestaltet. Die ARAG -Entscheidung nennt als Beispiele die Bestellung des Vorstands und die Zustimmung zu Geschäftsführungsmaßnahmen.17 Die Einbeziehung der Vorstandsbestellung zeigt, dass es nicht darum geht, den Aufsichtsrat in den Fällen des Zusammenwirkens beider Organe billigerweise nicht schärfer haften zu lassen als den Vorstand. Vielmehr ist die Abgrenzung nach dem Sinn und Zweck der Haftungserleichterung geboten. 10 11 12 13 14 15 16 17

Raiser NJW 1996,552, 553. BGHZ 135, 244, 255 f. ARAG. Vergl. § 90 Abs. 3 Satz 1 AktG. Vergl. § 170 Abs. 3 Satz 1 AktG. Vergl. § 110 Abs. 3 AktG. BGHZ 135, 244, 254, 255. NJW 1996, 552, 553. BGHZ 135, 244, 254, 255.

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Um die Gründe und die daraus folgenden Grenzen haben sich mehrere Autoren18 mit weitgehend übereinstimmenden Ergebnissen bemüht. Danach soll die Haftungserleichterung für Entscheidungen gelten, die in einer Situation unvermeidbarer Ungewissheit getroffen werden und daher in besonderem Maße die Gefahr einer Fehlbeurteilung mit sich bringen. Eine solche Situation ist jedenfalls bei in die Zukunft wirkenden Entscheidungen mit erheblichen Auswirkungen auf die künftige Lage des Unternehmens gegeben. Mit ihnen ist zwangsläufig das Risiko von Entwicklungen zu Lasten des angestrebten Ergebnisses verbunden, die auch bei größter Sorgfalt nicht sicher vorherzusagen sind.19 Die Haftungserleichterung entspricht bei solchen Entscheidungen auch der Billigkeit. Denn es handelt sich typisch um komplexe Entscheidungen, die zudem unter Zeitdruck getroffen werden müssen, weil verpasste Gelegenheiten nicht wiederkehren. Daher soll „der Mut zum unternehmerischen Risiko“20 nicht durch die Sorge behindert werden, es könne bereits aus der Tatsache des Fehlschlags ein zur Haftung führender Sorgfaltsverstoß hergeleitet werden. Insofern ist nachvollziehbar, dass der RefE21 den vorgeschlagenen § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG im Zusammenhang mit seiner Absicht sieht, die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen Verwaltungsmitglieder zu erleichtern. Schließlich soll der Richter nicht gezwungen sein, Ermessensentscheidungen des in der Regel doch sachkundigeren Vorstands zu überprüfen. 2. In der Regel keine Haftungserleichterung für vergangenheitsbezogene Entscheidungen Dieser Sinn und Zweck schließt nach der Rechtsprechung. 22 Entscheidungen im Überwachungsbereich jedenfalls im Prinzip aus. Die Grenzen zu Überwachungsentscheidungen sind jedoch unscharf. Typisch handelt es sich bei ihnen um vergangenheitsbezogene Entscheidungen, die rückschauend und in Kenntnis des Ablaufs getroffen, meistens ohne übermäßigen Zeitdruck und in schwierigen Fällen mit der Möglichkeit, sachverständige Hilfe heranzuziehen. Allerdings hat der Aufsichtsrat häufig komplexe Entscheidungen zu treffen, die einerseits Gegenstände der zu überwachenden Vergangenheit betreffen, andererseits aber Wirkungen in die Zukunft haben und insoweit un-

18 Eine ausführliche Definition bringt Mutter (Fn. 5) S. 20, 23 ff., dem Heermann AG 1998, 201, 203 folgt; s. auch Thümmel AG 2004, 83, 86 ff.; Paefgen (Fn.) S. 151 ff. 19 Treffend bereits RG JW 1911, 223: „Mit Sicherheit lassen sich diese Folgen überhaupt nicht vorhersehen und im geschäftlichen Leben muss manches sogar mit dem Bewusstsein unternommen werden, dass es vielleicht auch nachteilig ausschlagen könne“. 20 Begr. RefE aaO. – Fn. 1 – S. 10. 21 Begr. aaO. – Fn. 1 – S. 10. 22 BGHZ 135, 244, 254, 255 ARAG.

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ter Unsicherheit zu treffen sind. 23 Beispiele sind die Abberufung eines Vorstandsmitglieds aus in der Vergangenheit liegenden Gründen, wenn sie die stets mit künftigen Risiken belastete Ergänzung des Vorstands nötig macht 24 oder die Feststellung des Jahresabschlusses. 25 Soweit Entscheidungen im Überwachungsbereich mit unter Ungewissheit stehenden Folgen in der Zukunft getroffen werden, ist für diesen – aber nur für diesen – Aspekt der Entscheidung die Haftungserleichterung zuzubilligen. 26 3. Keine Anwendung auf die beratende Tätigkeit des Aufsichtsrats Der Aufsichtsrat hat, obwohl im Gesetz nicht ausdrücklich erwähnt, auch die Aufgabe, den Vorstand zu beraten. 27 Ob diese Aufgabe bereits als Teil der Überwachungstätigkeit 28 nicht der Haftungsregel für unternehmerische Entscheidungen unterliegt, kann dahinstehen. Jedenfalls findet die Haftungsregel nach ihrem Sinn und Zweck keine Anwendung. Zwar handelt der Aufsichtsrat auch bei seiner Beratung oft „unter Ungewissheit“, weil zB. die Aussichten eines neuen Produktes schwer vorauszusagen sind. Er ist aber nicht verpflichtet, sich zu jeder vom Vorstand geplanten Einzelmaßnahme zu äußern. Erteilt er einen Rat, kann er Gründe und Gegengründe des Vorhabens abwägen und dabei zu seiner Absicherung ggf. auch die zeitbedingten Grenzen seiner Erkenntnisse darlegen. Im Zwang und damit auch in der Verantwortung, entscheiden zu müssen, steht er nicht. Die Verantwortung bleibt beim Vorstand, es sei denn, das Geschäft ist zustimmungspflichtig. 29 23 Das hat der BGH in der ARAG-Entscheidung ( BGHZ 135, 244, 255, 256. ff.) auch für den dort grundsätzlich dem Überwachungsbereich zugeordneten Fall der Geltendmachung eines Ersatzanspruchs gesehen und insoweit ein Entscheidungsermessen zugebilligt, „dem eigentlich das Attribut unternehmerisch hätte hinzugefügt werden können“, Heermann AG 1998, 201, 203. 24 Nachstehend unter II , 3a). 25 Zu den unternehmerischen Aspekten nachstehend unter II , 3 b) bb). 26 Die Unterscheidung zwischen unternehmerischen Entscheidungen und Überwachungsentscheidungen unterstellt daher eine tatsächlich nicht gegebene Trennschärfe, die auch durch den hier bevorzugten Begriff der vergangenheitsbezogenen Entscheidung nicht wirklich erreicht wird; doch kann sie für diesen Beitrag aus Vereinfachungsgründen übernommen werden. Ganz gegen die Unterscheidung Paefgen (Fn. 5) S. 149: Unterscheidung zwischen unternehmerischer Präventivkontrolle und strickt rechtsgebundener ex-postKontrolle macht keinen Sinn. 27 BGHZ 114, 127, 130; Johannes Semler in Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl. 2004,. § 111 Rn. 246 ff. und in Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, 2. Aufl. 1996; Rn. 249 ff.; Hüffer, AktG (Fn. 4) § 111 AktG Rn. 5; Hoffmann-Becking in MünchHdbGesR, 2. Aufl. 1999, AG , § 29 Rn. 32 jew. mwN. 28 Unsicher in der Zuordnung BGHZ 114, 127, 129 f. Das Urteil nennt die Beratung „das vorrangige Mittel der in die Zukunft gerichteten Kontrolle des Vorstands“. 29 Dazu nachstehend II , 3b).

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Allerdings kann der Vorstand den Aufsichtsrat auch außerhalb des Bereichs der zustimmungspflichtigen Geschäfte um die Zustimmung zu einem Vorhaben bitten. Bei Zustimmung oder Ablehnung hat der Aufsichtsrat dann den unternehmerischen Ermessensspielraum. Von einer Entscheidung des Aufsichtsrats kann nur bei einem Beschluss des Aufsichtsrats gesprochen werden. Beschlüsse des Aufsichtsrats müssen ausdrücklich gefasst werden. 30 In der Entgegennahme und Beratung des Vorstandsberichts über eine beabsichtigte Maßnahme liegt noch kein Beschluss. Die bloße Kenntnisnahme ist, auch wenn sie protokolliert wird, schon im Hinblick auf das Erfordernis ausdrücklicher Beschlussfassung nicht als konkludente Zustimmung zu deuten. Oft wird nur bei genauer Protokollierung erkennbar sein, ob ein Rat des Aufsichtsrats oder eine Entscheidung vorliegt.

III. Recht und Pflicht des Aufsichtsrats zur Beschaffung angemessener Information 1. Aktive Informationspflicht Wenn eine am Wohl der Gesellschaft orientierte, aber fehlgeschlagene Entscheidung nur bei ausreichender Informationsgrundlage haftungsfrei ist, so bestätigt dies die Verpflichtung des Entscheidungsträgers, sich die erforderlichen Informationen aktiv zu beschaffen. Denn Handeln ohne die erforderliche Information wird damit zu einer für die Gesellschaft nachteiligen Pflichtverletzung. Das ist für den Vorstand unstreitig. 31 Für den Aufsichtsrat kann nichts anderes gelten 32 Nur bei ausreichender Information entspricht er bei Ermessensentscheidungen wirklich seiner Verpflichtung, Nachteile von der Gesellschaft fernzuhalten. Wohlgemeinte, aber mangels ausreichender Information falsche Entscheidungen sind potentiell ebenso nachteilig wie andere Pflichtverstöße. Insofern soll nach dem RefE die Verweisung in § 116 AktG zutreffend auch das für den Vorstand formulierte Erfordernis einer angemessenen Informationsgrundlage umfassen. Sollte diese Verweisung Gesetz werden, würde sie eine im Prinzip gleichartige Verantwortlichkeit jedes der beiden Organe verdeutlichen, sich aktiv um

30 Für viele: MünchKommAktG-Johannes Semler (Fn. 27) § 108 Rn. 22 f.; Hüffer, AktG (Fn. 4) § 108 AktG Rn. 4 jew. m. Rechtsprechungsnachweisen. 31 Für viele: Großkomm.-Hopt (Fn. 6) § 93 Rn. 84. 32 Der DeutscheCorporate Governance Kodex ( DCGK ) erklärt mit Recht die ausreichende Informationsversorgung des Aufsichtsrats zur gemeinsamen Aufgabe von Vorstand und Aufsichtsrat, Ziff. 3.4.

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eine ausreichende informelle Grundlage für seine unternehmerischen Entscheidungen zu bemühen. 33 Die Verpflichtung, aktiv an einer angemessenen Informationsgrundlage des Aufsichtsrats mitzuwirken, trifft jedes Aufsichtsratsmitglied. Das Gesetz hat in den vergangenen Jahren die Rechte der einzelnen Mitglieder verstärkt, zB durch das Individualrecht auf Verlangen eines Vorstandsberichts an den Aufsichtsrat 34 und durch das grundsätzliche Recht jedes Mitglieds, den Prüfungsbericht des Abschlussprüfers nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern übermittelt zu erhalten. 35 Diese Tendenz zu mehr Individualrechten betont aber gleichzeitig die Individualpflichten, denn die Rechte sind im Interesse besserer Aufgabenerfüllung verstärkt worden. Jedes Aufsichtsratsmitglied ist für eine angemessenen Informationsbasis des Aufsichtsrats mitverantwortlich. Es hat dabei auch sein persönliches Wissen zB als Mitglied der Konzernleitung in die Informationsbeschaffung einzubringen. 2. Zur „Angemessenheit“ der Informationsgrundlage Den Ausdruck „angemessen“ bzw. „angemessenes Verhältnis“ gebraucht das Aktiengesetz auch bei den Vorstands- und Aufsichtsratsbezügen36 und die aktuelle Diskussion über die Höhe dieser Bezüge zeigt, wie schwer er auch dort zu konkretisieren ist. Im Grundsatz werden als „angemessen“ zu verstehen sein alle Informationen über die Auswirkungen einer Entscheidung auf die Lage der Gesellschaft, die ein sorgfältiger Unternehmer in der zur Verfügung stehenden Zeit sammelt, bevor er die Entscheidung trifft. In erster Linie wird dabei auf die Bedeutung der Entscheidung abzustellen sein. Dabei geht es nicht nur um die künftige Finanz-, Vermögens- und Ertragslage des Unternehmens, sondern auch um die „stakeholder“, namentlich Arbeitnehmer, Zulieferer und Öffentlichkeit. Je erheblicher die Auswirkungen sind, desto gründlicher und umfassender müssen die zugrundeliegenden Informationen sein. Nicht unberücksichtigt bleiben kann auch der mit der Informationsbeschaffung verbundene Aufwand. Er muss in einem vertretbaren Verhältnis zur Bedeutung des Vorhabens und dem potentiellen Wert der zusätzlich zu erlangenden Kenntnisse stehen. Beim Aufsichtsrat sind aber auch seine Struktur und Arbeitsweise zu berücksichtigen. Das Vorstandsrecht gilt für den Aufsichtsrat nur „sinnge33 Auch in den USA haben sich die – mit den Aufsichtsratsmitgliedern vergleichbaren – non executive directors im Rahmen der business judgement rule aktiv um ausreichende Information zu bemühen, Urteile bei Paefgen (Fn. 5) S. 155 und Abeltshauser (Fn. 5) S. 82. 34 § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG idF des TransPuG v. 2002. 35 § 170 Abs. 3 AktG 36 § 87 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, § 113 Abs. 1 Satz 3 AktG.

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mäß“. 37 Zwar haben das Gesetz und der Deutsche Corporate Governance Kodex ( DCGK ) in den letzten Jahren die Anforderungen an den Aufsichtsrat erheblich gesteigert und seine Arbeit intensiviert. Geblieben sind aber grundsätzliche Beschränkungen, die sich daraus ergeben, dass der Aufsichtsrat nur einige Male im Jahr zusammentritt, schon deshalb den Problemen des Unternehmens ferner steht, und dass seine Mitglieder anders als die des Vorstands nicht hauptamtlich tätig sind. Die Verpflichtung, sich eine angemessene Informationsbasis zu verschaffen, ist daher beim Aufsichtrat unter Berücksichtigung seiner Struktur und Arbeitsweise auszudeuten. 3. Abstufung nach dem Maß der Verantwortung Ein weiterer für die „Angemessenheit“ der Informationsgrundlage wesentlicher Gesichtspunkt ist das Ausmaß der Verantwortung des Aufsichtsrats. a) Alleinentscheidungen des Aufsichtsrats Die Verantwortung und demgemäss Informationspflicht des Aufsichtsrats ist naturgemäß am größten, wo er allein entscheidet. Unternehmerische Entscheidungen, die der Aufsichtsrat allein und daher in ungeteilter Verantwortung trifft, sind zB die Auswahl und Bestellung von Vorstandsmitgliedern. Man kann sogar sagen, dass die künftige Entwicklung der Gesellschaft weitgehend von der richtigen Vorstandsbesetzung abhängt. Wie aber der Bewerber um ein Vorstandsamt „einschlagen“ wird, ist nur begrenzt vorhersehbar. Zu den Risiken der Zukunft gehören z. B. Fragen der künftigen Zusammenarbeit im Vorstand, der Durchsetzungskraft des Bewerbers in der für ihn neuen Umgebung und seiner Fähigkeit, dem Geschäft der Gesellschaft die gewünschten Impulse zu geben. Die Berufung eines Vorstandsmitglieds und noch mehr die eines Vorstandsvorsitzenden ist daher eine eminent unternehmerische Aufgabe. Sie erfordert, dass sich der Aufsichtsrat umfassend über die in Betracht kommenden Führungskräfte informiert. Allein die unternehmerische Verantwortung trägt der Aufsichtsrat auch bei der Abberufung eines Vorstandsmitglieds38 und bei unternehmerischen Entscheidungen im Rahmen der ihm obliegenden Vertretung der Gesellschaft gegenüber dem Vorstand zB bei der Einführung eines neuen Vergütungssystems. Auch bei der Geltendmachung von Ersatzansprüchen können unternehmerische Aspekte zu berücksichtigen sein. 39 § 116 Satz 1 AktG. Ermessensentscheidung auch nach BGHZ 135, 244, 254, 255 ARAG und Thümmel AG 2004, 83, 86 ff.; anders wohl Mutter (Fn. 5) S. 78: Teil und Ausdruck der dem Aufsichtsrat obliegenden Überwachungsaufgabe. 39 BGHZ 135, 244, 255 ARAG billigt dem Aufsichtsrat bei der Geltendmachung von Ersatzansprüchen nur ausnahmsweise einen Ermessenspielraum zu, umschreibt aber die Aus37 38

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Autonom scheint der Aufsichtsrat auch die Entscheidungen nach § 32 MitBestG, § 15 MitbestErgG zu treffen. Es handelt sich jedenfalls teilweise – soweit es um die Auflösung, Verschmelzung oder Umwandlung des anderen Unternehmens, den Abschluss von Unternehmensverträgen mit ihm oder um die Übertragung seines Vermögens geht – um unternehmerische Entscheidungen. Rechtlich trifft sie der Aufsichtsrat; der Beschluss der Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat ist für den Vorstand verbindlich. 40 Doch besteht hier eine deutliche Mitverantwortung des Vorstands, der den Anteilseignervertretern im Aufsichtsrat entsprechende Vorschläge unterbreiten muss. 41 Entsprechend der Handhabung in der Praxis ist die Verantwortlichkeit und damit Informationspflicht des Aufsichtsrats ähnlich wie bei den zustimmungspflichtigen Geschäften 42 zu sehen. Zur Klarstellung: Seiner Alleinverantwortung entsprechend muss sich der Aufsichtsrat selbstverständlich auch angemessen informieren bei den (nichtunternehmerischen) Überwachungsentscheidungen, die er autonom trifft. Hierher gehören in der Regel etwa die Entscheidungen über die Vorstandsbezüge und Vorstandsabfindungen, aber auch die Beauftragung des Abschlussprüfers. 43 Da es sich aber um nichtunternehmerische Entscheidungen handelt, unterliegen sie auch bei angemessener Informationsbasis grundsätzlich der richterlichen Nachprüfung. b) Teilhabe an unternehmerischen Entscheidungen des Vorstands Auf einer zweiten Verantwortungsstufe stehen die Entscheidungen, die der Aufsichtsrat im Zusammenwirken mit dem Vorstand trifft. aa) Ein Hauptfall sind die Geschäfte, die der Zustimmung des Aufsichtsrats bedürfen. 44 Soweit dem Vorstand für das zustimmungspflichtige Geschäft ein Ermessenspielraum zusteht – Beispiele sind etwa der Erwerb nahmefälle zu eng. Das Urteil berücksichtigt nicht, dass der Schadensersatzprozess gegen ein amtierendes und nach Einschätzung des Aufsichtsrats fähiges Vorstandsmitglied zwangsläufig zur Trennung von diesem Vorstandsmitglied führen muss, denn wenn sich Vorstandsmitglied und Gesellschaft (vertreten durch den Aufsichtsrat) als Prozessgegner gegenüberstehen, ist ein gedeihliches Zusammenwirken ausgeschlossen. Die Entscheidung über die Abberufung eines Vorstandsmitglieds ist aber auch nach dem ARAG-Urteil (aaO. S. 255) in der Regel eine unternehmerische Entscheidung, weil die in der Zukunft liegenden Vorteile und Risiken einer Neubesetzung schwer abzuschätzen sind. 40 Für Viele: Raiser, Mitbestimmungsgesetz, 2. Aufl. § 32 Rn. 21. 41 Näher Kropff in Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 2. Aufl. 2004 (Hrsg. Semler/v. Schenk), (ArbHdb AR ), § 8 Rn. 304 ff. 42 Nachstehend unter b) 43 § 111 Abs. 2 Satz 3 AktG 44 Vergl. § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG. Allerdings können auch nichtunternehmerische Entscheidungen an die Zustimmung gebunden werden, zB der Abschluss von Prozessvergleichen.

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einer Beteiligung, Großinvestitionen oder sehr deutlich die Unternehmensplanung 45 – gilt das gleiche auch für den Aufsichtsrat. Er entscheidet unternehmerisch, auch wenn er die Zustimmung versagt. Bei den Anforderungen an eine angemessene Information wird aber zu berücksichtigen sein, dass das Für und Wider bereits im Vorstand eingehend geprüft sein muss. Kann der Aufsichtsrat hiervon ausgehen, senkt das die Anforderungen. Das heißt nicht, dass die Gründe des Vorstands unbesehen zu übernehmen sind. Gerade bei Beteiligungserwerben trübt Machtstreben gelegentlich den Vorstandsblick. Kann aber der Aufsichtsrat im Einzelfall gestützt auf frühere Erfahrungen von einer intensiven Prüfung durch den Vorstand ausgehen und erscheinen ihm die vorgetragenen und diskutierten Gründe belegt und plausibel, wird er sich in der Regel als angemessen informiert ansehen können. bb) In diesen Bereich gehört auch die Mitwirkung des Aufsichtsrats bei der Feststellung des Jahresabschlusses. 46 Allerdings ist der Jahresabschluss ein vergangenheitsbezogenes Rechenwerk, das der Aufsichtsrat zunächst in Ausübung seiner Überwachungsfunktion prüft. 47 Er kontrolliert, ob das Zahlenwerk Gesetz und Satzung entspricht und welche Schlüsse es auf den Erfolg der Geschäftsführung zulässt. Insoweit besteht kein Ermessensspielraum. Anders liegt es bei zwei weiteren Prüfungsthemen. 48 Der Aufsichtsrat prüft, ob der Vorstand bei der Aufstellung des Abschlusses von den bilanzpolitischen Spielräumen, die das Bilanzrecht namentlich durch Wahlrechte eröffnet, den im Interesse der Gesellschaft liegenden Gebrauch gemacht hat. Bilanzpolitische Entscheidungen wirken vielfältig in die Zukunft. Sie beeinflussen beim Jahresabschluss die Ausschüttungsmöglichkeiten und damit die Selbstfinanzierung der Gesellschaft, die Bewertungsspielräume in künftigen Abschlüssen und haben u. U. auch steuerliche Folgen. Beim Konzernabschluss geht es um die Darstellung des Konzerns in der Öffentlichkeit. Hat der Aufsichtsrat gegen die vom Vorstand vorgesehene Bilanzpolitik Bedenken, muss er sie mit ihm erörtern und auf Änderungen dringen, äußerstenfalls durch die Ankündigung, den Abschluss anderenfalls nicht billigen zu können. Entsprechendes gilt für die in der Feststellung des Jahresabschlusses liegende Entscheidung über die Bildung von Rücklagen im Rahmen des § 58 Abs. 2 und 2a AktG sowie über die Auflösung von Rücklagen. 45 Mutter S. 130. Zur Unternehmensplanung als zustimmungspflichtigem Geschäft Kropff in ArbHdb AR (Fn. 41) § 8 Rn. 28 ff. mwN. 46 § 172 Satz 1 AktG 47 § 171 AktG 48 Näher Kropff in Münchner Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl. 2003, § 171 Rn. 28 bis 37; § 172 Rn. 13 – 15.

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Auch bei diesen unternehmerischen Entscheidungen kann der Aufsichtsrat von einer informierten Vorentscheidung des Vorstands ausgehen. Doch sind die Abschlussunterlagen zugleich Rechenschaftslegung des Vorstands. Das verpflichtet den Aufsichtsrat zu eigenständiger Prüfung, die ihm das Gesetz in § 171 Abs. 1 AktG ausdrücklich aufgibt. Namentlich ist bei prüfungspflichtigen Gesellschaften jedes Aufsichtsratsmitglied verpflichtet, den Prüfungsbericht des Abschlussprüfers durchzuarbeiten und die Teilnahme des Abschlussprüfers an der Bilanzsitzung 49 zur Absicherung seiner Informationsbasis zu nutzen. 50 cc) Schließlich entscheidet der Aufsichtsrat im Rahmen von Satzung und Geschäftsordnung auch über strukturelle Fragen der Unternehmensführung in der Regel im Zusammenwirken mit dem Vorstand. Als unternehmerische Entscheidung ist namentlich die über die Geschäftsverteilung im Vorstand anzusehen. Allerdings kann einerseits nach dem Gesetz der Vorstand auch selbst über seine Geschäftsordnung und Geschäftsverteilung entscheiden, während andererseits der Aufsichtsrat diese Entscheidungen auch ohne Mitwirkung des Vorstands treffen kann.51 Doch ist ein Zusammenwirken von Vorstand und Aufsichtsrat absolut geboten und in der Praxis üblich, zumal Zusammensetzung des Vorstands und Geschäftsverteilung eng zusammenhängen. Über ihre Auswirkungen muss sich der Aufsichtsrat im Zusammenwirken mit dem Vorstand, aber u. U. auch mit einem Unternehmensberater52 informieren. c) Teilhabe an unternehmerischen Entscheidungen der Hauptversammlung Wesentliche unternehmerische Entscheidungen fallen formell in die Zuständigkeit der Hauptversammlung. Beispiele sind die Entscheidungen über den Gegenstand des Unternehmens, Kapitalmaßnahmen einschließlich des Rückkaufs von Aktien, der Abschluss von Unternehmensverträgen sowie Verschmelzung und Umwandlung. Auch die sog. Holzmüller-Entscheidungen der Hauptversammlung53 und die in der Rechtsprechung entwickelte Hauptversammlungskompetenz bei Delisting 54 gehören hierher. Schließlich kann der Vorstand Fragen der Geschäftsführung der Hauptversammlung zur Entscheidung vorlegen. 55 § 171 Abs. 1 Satz 2. Näher MünchKommAktG-Kropff (Fn. 48) § 170 Rn. 95; § 171 Rn. 100 ff. 51 Im Einzelnen § 77 AktG und die Kommentierungen, z. B. MünchKommAktG-Hefermehl/Spindler (Fn. 4) § 77 Rn. 25 ff.; Hüffer, AktG (Fn. 4) § 77 Rn. 19 ff. 52 Nachstehend unter IV ,3 c. 53 Kubis in Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl. 2004, § 119 Rn. 31 ff.; Hüffer, AktG (Fn. 4) § 119 Rn. 16 ff. 54 BGH vom 25. 11. 2002, NJW 2003, 1032 = AG 2003, 273 Macroton. 55 § 119 Abs. 2 AktG. 49 50

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In diesen Fällen haben Vorstand und Aufsichtsrat der Hauptversammlung einen Beschlussvorschlag zu machen. 56 Diese Vorschläge sind eine verantwortliche unternehmerische (Vor-)Entscheidung. Denn in aller Regel folgt die Hauptversammlung den Vorschlägen der Verwaltung, zumal die Kreditinstitute bei der formalisierten Einholung von Aktionärsweisungen durchweg nur auf die Verwaltungsvorschläge Bezug nehmen. Der Aufsichtsrats schließt sich bei seinem Vorschlag in der Regel dem des Vorstands an. Er kann dabei ähnlich wie bei zustimmungspflichtigen Geschäften von einer informierten Entscheidung des Vorstands ausgehen. Doch gelten bei der Frage, ob der Aufsichtsrat selbst angemessen informiert ist, je nach der Aktionärsstruktur besondere Aspekte. Besteht ein Großaktionär oder eine Konzernmutter, kann der Aufsichtsrat in der Regel davon ausgehen, dass dieser die für seine Hauptversammlungsentscheidung maßgebenden Gesichtspunkte auch selbst übersieht. Entsprechend geringer ist die Verantwortung des Aufsichtsrats für seinen Vorschlag. Andererseits muss sich der Aufsichtsrat gerade bei einer solchen Aktionärsstruktur seiner Verpflichtung bewusst sein, auch die Interessen einer Minderheit und der stakeholder zu wahren. Die angemessene Information erfordert, dass er sich speziell über die Auswirkungen auf diese Interessen unterrichtet.

IV. Wege und Grenzen der Informationsbeschaffung Bei der Frage, ob die Informationsbasis des Aufsichtsrats für die konkrete Entscheidung angemessen ist, müssen schließlich die Grenzen seiner Möglichkeiten zur Beschaffung von Informationen berücksichtigt werden. Die Möglichkeiten des Aufsichtsrat sind nicht so groß wie die des Vorstands. Sie sind aber doch größer als bisher gemeinhin genutzt. Zum Beleg soll hier auf das dem Aufsichtsrat zur Verfügung stehende Instrumentarium ohne vertiefende Darstellung hingewiesen werden. Zu fragen ist, ob einige im Schrifttum für die vorstandsunabhängige Information des Aufsichtsrats erörterte Beschränkungen im Lichte einer an die business judgement rule angelehnten Haftungsregel noch Bestand haben können. 1. Die Information durch den Vorstand Soweit es nicht um den Vorstand selbst geht, kann und soll der Aufsichtsrat die angemessene Information in erster Linie durch den Vorstand erhalten. Allgemeine Informationen geben ihm die Vorstandsberichte nach § 90 AktG, daneben etwa trotz Blickrichtung auf die Öffentlichkeit der Lagebe56 § 124 Abs. 3 AktG. Vorschläge für die Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern und Prüfern macht nur der Aufsichtsrat.

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richt des Vorstands, 57 Quartalsberichte und seine Berichte vor Umstrukturierungsmaßnahmen an die Hauptversammlung. 58 Vor konkreten Entscheidungen kann der Aufsichtsrat eine schlüssig begründete, in der Regel schriftliche Vorlage des Vorstands erwarten. „Angemessene Information“ erfordert, dass der Aufsichtsrat aktiv prüft, ob ihm ausreicht, was der Vorstand von sich aus berichtet. Genügt die Information nicht als angemessene Entscheidungsgrundlage so kann und muss er weitere Berichte und Auskünfte verlangen. 59 Der Gesetzgeber hat das Recht und die Pflicht jedes Aufsichtsratsmitglieds, eine weitere Berichterstattung an den Aufsichtsrat zu verlangen, kürzlich durch das Transparenz- und Publizitätsgesetz (TransPuG) gestärkt; nach diesem Gesetz braucht das Verlangen nicht mehr, wie bis dahin erforderlich, durch ein anderes Mitglied unterstützt zu werden. 2. Kein Informationsmonopol des Vorstands Aus den Berichtspflichten des Vorstands insbesondere nach § 90 wird teilweise ein „Informationsmonopol“ des Vorstands hergeleitet. 60 Ausnahmen sollen nur möglich sein bei dringendem Verdacht auf gröbliche Pflichtverletzung und nur, wenn keine Abhilfe über den (restlichen) Vorstand zu erlangen ist. 61 Hier ist aber deutlich zu unterscheiden zwischen der Frage, ob sich der Aufsichtsrat unabhängig vom Vorstand informieren darf, und der Frage, welche Formen und Grenzen er dabei im Interesse der Gesellschaft einhalten muss. Ein Informationsmonopol des Vorstands besteht nicht. Wenn eine unternehmerische Entscheidung des Aufsichtsrats wegen fehlender angemessener Information pflichtwidrig wäre, so muss dem Aufsichtsrat das Recht zustehen, sich die ihm erforderlich erscheinende Information auch von anderen Stellen als dem Vorstand einzuholen. Er darf dies auch, wenn ihm die Berichterstattung des Vorstands einschließlich ergänzender Auskünfte nicht ausreicht oder wenn er zur Absicherung der erhaltenen Informationen die Meinung eines Dritten einholen will. Denn anderenfalls wäre ihm eine pflichtmäßige Ermessensausübung versagt. Im Übrigen sprechen auch die § 289 HGB ZB nach § 293 a AktG. 59 § 90 Abs. 3 AktG 60 Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 4. Aufl. 2002 Rn. 69; v. Godin/ Wilhemi § 90 AktG Anm. 9. 61 MünchKommAktG-Hefermehl/Spindler (Fn. 4) § 90 Rn. 36; ähnlich Hüffer, AktG (Fn. 4) § 90 Rn. 11 und Mertens in Kölner Kommentar zum Aktiengesetz 2. Aufl. 1996 (Kölner Komm.) § 90 Rn. 44; Hoffmann-Becking in MünchHdbdGesR (Fn. 27) Rn. 24; nach Dreher, FS Ulmer, 2003, 87, 89 ist dies die herrschende Ansicht. Dagegen eingehend Roth, AG 2004, 1 ,8 ff.; ferner das in Fn. 83 genannte Schrifttum. 57 58

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vorstandsunabhängigen gesetzlichen Rechte des Aufsichtsrats auf Einsicht in die Bücher und Schriften der Gesellschaft62 und auf Bestellung eigener Sachverständiger63 sowie die Tendenz der neueren Gesetzgebung zur Verstärkung der vorstandsunabhängigen Informationsrechte zB durch die zwingend vorgeschriebene Teilnahme des Abschlussprüfers an der Bilanzsitzung des Aufsichtsrats64 und die Zuständigkeit des Aufsichtsrats zur Beauftragung des Abschlussprüfers65 gegen ein Informationsmonopol des Vorstands. Der Aufsichtsrat hat aber bei der Ausübung seines Rechts auf vorstandsunabhängige Information das Interesse der Gesellschaft zu wahren. Er muss berücksichtigen, dass die Einholung von Informationen „über den Kopf des Vorstands hinweg“ im Unternehmen bekannt werden und die Autorität des Vorstands beeinträchtigen kann. Das gilt namentlich bei der im Folgenden behandelten Heranziehung von Angestellten des Unternehmens, aber auch – wenngleich in geringerem Umfang – bei der Berufung externer Sachverständiger. Allerdings ist bei der Bewertung von Nachteilen für die Autorität des Vorstands zu berücksichtigen, dass Gesetzgebung und Unternehmenskultur heute in Anlehnung an ausländische Gesellschaftsrechte zu mehr Transparenz tendieren und man sich stärker bewusst ist, dass die Gegenkontrolle gesellschaftsrechtlicher Machtausübung nicht unbedingt auf Misstrauen deutet. Immerhin sollte der Aufsichtsrat von seinem Recht auf vorstandsunabhängige Information nur in einer die Autorität des Vorstands möglichst schonenden Form Gebrauch machen. Er sollte zB einen von ihm gewünschten Sachverständigen möglichst nicht unmittelbar, sondern über den Vorstand beauftragen. 3. Vorstandsunabhängige Informationsmöglichkeiten a) Unternehmensinterne Dokumentation Das Gesetz selbst verweist auf zusätzliche Informationsquellen. Dazu gehört von alters her das Recht auf Einsicht in die Bücher und Schriften, 66 das – mag es auch altfränkisch formuliert sein – doch den Zugriff des Aufsichtsrats auf die gesamte unternehmensinterne Dokumentation einschließlich der Datenverarbeitung verdeutlicht. Allerdings wird ein solcher Zugriff vorwiegend im Rahmen der Überwachungstätigkeit in Betracht kommen. Mertens 67 will dem Aufsichtsrat diesen Zugriff nur aus besonderem und konkretem Anlass zugestehen. Das Recht dürfe „nicht zu einer generellen 62 63 64 65 66 67

§ 111 Abs. 2 Satz 1 AktG. § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG § 171 Abs. 1 Satz 2 AktG. § 111 Abs. 2 Satz 3 AktG § 111 Abs. 2 Satz 1 AktG. In Kölner Komm. (Fn. 61) § 111 Rn. 42 m. eingehender Begr.

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Befugnis zum Zugriff auf die dem Vorstand oder der Unternehmensrevision zufließenden Daten ausgebaut“ werden. Dass „der Vorstand die dem Aufsichtsrat zufließenden Informationen filtert und steuert“ sei „keinesfalls nur negativ“ zu bewerten. An den Gründen von Mertens ist richtig, dass der Vorstand schon zur sachgerechten Wahrnehmung seiner Informationspflichten gegenüber dem Aufsichtsrat wissen sollte, worüber sich der Aufsichtsrat anderweitig informiert. Dazu bedarf es aber der von Mertens postulierten Beschränkung nicht. Normalerweise wird der Aufsichtsrat dieses Recht ohnehin nur in Abstimmung mit dem Vorstand, äußerstenfalls immerhin in Kenntnis einzelner Vorstandsmitglieder ausüben können. Ausschlaggebend ist das Recht und die Pflicht des Aufsichtsrats, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten angemessen zu informieren. Ist dazu die Einsicht oder Prüfung nach § 111 Abs. 2 Satz 1 sachgerecht, kann das Recht ausgeübt werden, beschränkt nur durch die vorstehenden Gesichtspunkte der Verpflichtung des Aufsichtsrats auf das Wohl der Gesellschaft. 68 In der Praxis wird der Aufsichtsrat mit einer Einsicht „vor Ort“ allerdings nur einzelne Mitglieder oder einen Sachverständigen beauftragen können. Es bestehen aber keine Bedenken dagegen, dass sich ein Prüfungsausschuss zB die Berichte der internen Revision vorlegen lässt 69 und Prüfungsschwerpunkte festlegt. 70 b) Abschlussprüfer Der Gesetzgeber hat jüngst für prüfungspflichtige Gesellschaften die Bedeutung der Abschlussprüfung für den Aufsichtsrat durch mehrere Rechtsänderungen unterstrichen. Der Prüfungsbericht ist jetzt grundsätzlich jedem Aufsichtsratsmitglied nicht nur zur Kenntnis zu geben, sondern zur Durcharbeitung in den eigenen vier Wänden zu übermitteln.71 Das Gesetz lässt es zwar zu, die Übermittelung auf die Mitglieder eines Ausschusses zu beschränken. Doch wird der Aufsichtsrat diese Beschränkung mit Rücksicht auf die Informationspflicht jedes Mitglieds nur in begründeten Ausnahmefällen beschließen dürfen. Der Aufsichtsrat erteilt jetzt den Prüfungsauftrag72 und kann dabei Schwerpunkte bilden. Der Prüfungsbericht ist ihm jetzt unmittelbar vorzulegen.73 Bei prüfungspflichtigen Gesellschaften hat der Ab68 Mit eing. Begr. Roth AG 2004, 1, 7 f.; ferner MünchKommAktG-Johannes Semler (Fn. 27) § 111 Rn. 295 ff. 69 Bericht der RegKomm. Corporate Governance Rn. 58. 70 Nach dem Corporate Governance-Bericht im Kurzbericht der Siemens AG für 2003 (S. 22) berichtet die unternehmensinterne Bilanzrevision regelmässig an den Prüfungsausschuss, der Umfang und Schwerpunkte der Revision festlegt. 71 § 170 Abs. 3 Satz 2 AktG. 72 § 111 Abs. 2 Satz 3 AktG. 73 § 321 Abs. 5 Satz 2 HGB .

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schlussprüfer jetzt zwingend an der Bilanzsitzung des Aufsichtsrats oder des zuständigen Ausschusses teilzunehmen.74 Das verbessert nicht nur die Informationsmöglichkeiten des Aufsichtsrats über die Abschlussunterlagen. Vielmehr hat der Aufsichtsrat auch Gelegenheit, vom Abschlussprüfer Auskünfte zum Abschluss einzuholen und seine Beurteilung der künftigen Entwicklung der Vermögens- und Ertragslage zu erfragen. Er kann ihn auch auf Fragen der Geschäftsführung oder der Geschäftspolitik ansprechen.75 Als „angemessen informiert“ kann sich der Aufsichtsrat nur ansehen, wenn er den Prüfungsbericht intensiv auswertet und die Teilnahme des Abschlussprüfers an der Bilanzsitzung zu Auskünften nutzt. Die Auskünfte eines mit den Verhältnissen der Gesellschaft vertrauten unabhängigen Dritten können ihm nicht nur bei den Abschlussunterlagen, sondern auch für künftige unternehmerische Entscheidungen nützlich sein. Im Hinblick auf die Informationspflicht aller Aufsichtsratsmitglieder sollte die Teilnahme nicht auf einen Ausschuss beschränkt, sondern für Ausschuss und Plenum vorgesehen werden. Bei Beschränkung auf einen Ausschuss können Mitglieder, die dem Ausschuss nicht angehören, eine Berichterstattung des Ausschussvorsitzenden im Plenum verlangen. 76 c) Sachverständige Das Gesetz sieht ihre Beauftragung nur für „bestimmte Aufgaben“ vor. In der Praxis geht es vor allem um die Beauftragung des Abschlussprüfers mit zusätzlichen Prüfungsaufgaben77 und die Einschaltung von Personalberatern bei der Berufung neuer Vorstandsmitglieder. Doch kann der Aufsichtsrat auch vor Entscheidungen über zustimmungspflichtige Geschäftsführungsmaßnahmen wie Fragen der Unternehmensorganisation oder Investitionen den sachverständigen Rat zB eines Unternehmensberaters einholen. Außerhalb der Vorstandspersonalien ist allerdings die Beauftragung eines Sachverständigen „über den Kopf des Vorstands“ hinweg für dessen Autorität nicht unproblematisch. Daher ist von ihr nur zurückhaltend Gebrauch zu machen. Doch besteht kein Subsidiaritätsprinzip in dem Sinne, dass ein Sachverständiger nur als „ultima ratio“ oder nur beauftragt werden dürfe, wenn die Aufgabe im Aufsichtsrat selbst nicht erfüllt werden kann. 78 Der Aufsichtsrat wird aber nach Möglichkeit den Sachverständigen nicht unmittelbar beauftragen, sondern den Vorstand darum bitten.

§ 171 Abs. 1 Satz 3 AktG. Näher MünchKommAktG-Kropff (Fn. 48) § 71 Rn. 131 ff., 133 mwN. 76 Näher MünchKommAktG-Kropff (Fn. 48) § 171 Rn. 108 f. 77 ZB Prüfung der Reisekostenabrechnungen des Vorstands. 78 Kölner Komm-Mertens.(Fn. 61) § 111 Rn. 51; dagegen Kropff in Hdb. AR (Fn. 41) § 8 Rn. 136 ff., 145. 74

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d) Angestellte der Gesellschaft Der Aufsichtsrat kann auch die Angestellten der Gesellschaft als Informationsquelle heranziehen, indem er sie zB zu einer Sitzung beizieht. Wer im Grundsatz ein „Informationsmonopol“ des Vorstands bejaht,; 79 muss hier allerdings besondere Bedenken haben. Denn neben der Autorität des Vorstands soll hier sein „Direktionsrecht“ in Gefahr sein. 80 Eine Bestellung des Angestellten als „Sachverständiger“81 soll im Hinblick auf die ihm fehlende Objektivität und Unabhängigkeit nicht möglich sein. 82 Diese Bedenken haben Teile des Schrifttums schon früher nicht überzeugt. 83 Sie können keinen Bestand haben angesichts einer Rechtsregel, die dem Aufsichtsrat nur bei angemessener Information einen haftungsfreien Ermessenspielraum zugesteht. Die Heranziehung eines vermutlich informierten Angestellten ist zulässig und geboten, wenn begründete Zweifel an den Auskünften eines Vorstandsmitglieds bestehen, die auch durch die anderen Vorstandsmitglieder nicht zu beheben sind. Aber auch wenn der Aufsichtsrat den Eindruck hat, bei Anwesenheit eines Angestellten Rückfragen besser oder schneller klären zu können, steht dieser Weg offen. Dem Direktionsrecht des Vorstands muss dadurch Rechnung getragen werden, dass die Sitzungsteilnahme des Angestellten in einer mit dem Vorstand abgestimmten Informationsordnung vorgesehen wird oder dass der Sitzungsleiter sie im Einzelfall mit dem Vorstand abstimmt. Der Vorstand wird sich begründeten Wünschen des Aufsichtsrats in der Regel nicht entziehen. Im Konfliktfall muss der Aufsichtsrat den Angestellten aber auch ohne Abstimmung mit dem Vorstand hören können, wenn nur auf diese Weise eine angemessene Information sicher gestellt werden kann. Wenn dies im Interesse einer offenen Äußerung geboten erscheint, kann der Mitarbeiter auch in Abwesenheit des Vorstands gehört werden. In den USA wird empfohlen, dass das audit committee den Leiter der Revision periodisch in Abwesenheit der Geschäftsleiter hört. 84

Dazu vorstehend unter 2. So das in Fn. 61 angegebene Schrifttum. Auch Roth, prinzipiell gegen ein Informationsmonopol des Vorstands, hält in diesem Falle eine Vereinbarung mit dem Vorstand bzw. dessen Zustimmung für nötig, AG 2004, 1, 9, 12. 81 Nach § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG. 82 Dreher in FS Ulmer, 2003 S. 87, 95 f. 83 Langenbucher/Blaum DB 1994, 2197, 2205; Forster AG 1995, 1, 6; Lukarsch, Marktorientierte Überwachung der Unternehmensplanung durch den Aufsichtsrat, 1998 S. 11; Kropff NZG 2003, 346, 348 f. 84 American Law Institute, Principles of Corporate Governance, Analysis and Recommandations 1994 § 3 A 03: „The committee should meet periodically with the senior auditing executive outside the presence of management.“ 79

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Praktisch wird die Sitzungsteilnahme von Angestellten vor allem beim Leiter der Innenrevision. 85 Bei Gesellschaften, die nicht der Abschlussprüfung unterliegen, sollte der für die Bilanz verantwortlichen Angestellte zur Sitzung des Bilanzausschusses oder des Aufsichtsrats über den Jahresabschluss hinzugezogen werden. 4. Organisatorische Vorkehrungen zur Sicherung angemessener Information a) Zusammensetzung des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse Der Aufsichtsrat muss bei seinen Vorschlägen für die Wahl neuer Aufsichtsratsmitglieder darauf achten, dass dem Aufsichtsrat jederzeit Mitglieder angehören, die über die zur ordnungsmäßigen Wahrnehmung der Aufgaben erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und fachlichen Erfahrungen verfügen. 86 Das liegt nicht nur im Interesse möglichst ergiebiger aufsichtsratsinterner Information. Wesentlicher ist, dass dem Vorstand die richtigen Fragen gestellt werden können. Besonders wichtig ist die fachliche Eignung bei der Zusammensetzung der Ausschüsse und insbesondere eines Prüfungsausschusses. 87 In Anlehnung an die in den USA für die audit committees geltenden Regelungen wird auch bei uns gefordert, dass dem Prüfungsausschuss mindestens ein Mitglied mit Kenntnissen und Erfahrung im Finanzwesen und Bilanzrecht angehört. 88 b) Geschäftsordnung von Aufsichtsrat und Vorstand Der Aufsichtsrat kann und soll sich eine Geschäftsordnung geben. 89 Ihm steht auch die Prärogative beim Erlass einer Geschäftsordnung für den Vorstand zu. 90 Er kann durch diese Instrumente, Zeitpunkt und Ausmaß der Informationen bestimmen, die vom Vorstand als „Bringschuld“ zu geben 85 ZB sieht § 5 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Prüfungsausschusses des Aufsichtsrats der Siemens AG die Erörterung des Revisionsberichts in Anwesenheit des Leiters der Bilanzrevision vor. 86 Ziff. 5.4.1 DCGK 87 In diesem Sinne empfiehlt Ziff. 5. 3. 1. des DCGK die Bildung „fachlich qualifizierter“ Ausschüsse. 88 Nach dem Bericht des Arbeitskreises „Abschlussprüfung und Corporate Governance“, Hrsg. Lutter/Baetge, 2003, S. 5 sollen die Mitglieder des Prüfungsausschusses „über entsprechenden Sachverstand verfügen“. Der Aufsichtsrat soll „in seinem Bericht darstellen, über welche Sachkenntnis hinsichtlich der Aufgaben des Prüfungsausschusses seine Mitglieder verfügen. 89 Die entsprechende Empfehlung des DCGK (Fn. xx) in Ziff. 5.1.3 unterliegt der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG. 90 § 77 Abs. 2 Satz 1 AktG.

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sind. Zwei Punkte sind hier besonders wichtig: erstens ein Katalog der zustimmungspflichtigen Geschäfte, den das Gesetz neuerdings zur Pflicht macht. 91 Zwar erhöht die Aufnahme bestimmter Arten von unternehmerischen Entscheidungen in diesen Katalog die Verantwortung des Aufsichtsrats; doch gibt andererseits das Erfordernis seiner Zustimmung Handhaben, auf eine ausführliche Information zu dringen. Zweitens sollte die Geschäftsordnung des Vorstands die Einzelheiten der Unternehmensplanung (Zeithorizonte und Elemente der Budgetplanung, der mittelfristigen Unternehmensplanung und der langfristigen Strategieplanung) festlegen und ihre Behandlung im Aufsichtsrat regeln. c) Ausschussbildung Von nahezu entscheidender Bedeutung für die Information des Aufsichtsrats ist die Bildung von Ausschüssen. 92 Ein aus 15 oder 21 Personen bestehender Aufsichtsrat kann die entscheidungserheblichen Fragen in der Regel schon aus zeitlichen Gründen nicht ausreichend diskutieren. In einem Ausschuss kann der im Aufsichtsrat vorhandene Sachverstand gebündelt und die Diskussion intensiviert werden. Die Ergebnisse sind dem Plenum zu berichten. Zahl und Zusammensetzung der Ausschüsse richten sich nach den spezifischen Gegebenheiten des Unternehmens. Namentlich können die Vorstandspersonalien schon aus Gründen der Vertraulichkeit sachgerecht nur in einem Ausschuss – Präsidium, Personalausschuss oder Arbeitsausschuss – erörtert werden. Für die Durcharbeitung der Abschlussunterlagen ist ein Bilanz- oder Prüfungsausschuss nahezu unverzichtbar. 93 Bei mitbestimmten Unternehmen spricht die Gefahr des „Bänkedenkens“ für die mindestens vorbereitende Erörterung weiterer Fragen in einem Ausschuss. d) Informationsordnung Forderungen vor allem aus der Betriebswirtschaftslehre entsprechend empfiehlt der DCGK , 94 dass der Aufsichtsrat die Informations- und Berichtspflichten des Vorstands näher festlegt; die Empfehlung unterliegt der Entsprechenserklärung. 95 Zweckmäßig geschieht dies durch eine „Informationsordnung“. Der Aufsichtsrat legt sich durch Erarbeitung einer solchen Informationsordnung Rechenschaft darüber ab, wo sein Informationsbedarf § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG. Ziff. 5.3.1 DCGK fordert zur Bildung „fachlich qualifizierter Ausschüsse“ auf. 93 Der DCGK empfiehlt in Ziff. 3.2 die Bildung eines Prüfungsausschusses; die Empfehlung wird von der Entsprechenserklärung (§ 161 AktG) erfasst. 94 Ziff. 3.4 S. 4. 95 § 161 AktG. 91

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liegt, vielleicht auch besser befriedigt werden sollte. Die generellen Vorgaben einer solchen Ordnung sind auch für gut und zeitnahe berichtende Vorständen ein Merkposten. Sie können zB das Ausmaß der Berichterstattung über Tochtergesellschaften konkretisieren, den unerlässlichen Soll/Ist-Vergleich der Planungsdaten regeln sowie Zeit und Einzelheiten einer „follow up“-Kontrolle von Beteiligungserwerben verdeutlichen. Dem Aufsichtsrat wird damit auch der Nachweis erleichtert, dass er seiner Pflicht zur aktiven Beschaffung angemessener Informationen gerecht geworden ist. „Angemessen meint allerdings auch: kein Übermaß“. Sonst besteht die Gefahr, dass die Aufsichtsratsmitglieder „durch zu viel Papier erschlagen“ werden. Auch eine Informationsordnung ist vernünftigerweise mit dem Vorstand abzustimmen. Hat dieser etwa unter Gesichtspunkten der Arbeitsbelastung oder der Sinnhaftigkeit Einwendungen, muss der Aufsichtsrat sehr sorgfältig prüfen, ob die Information zu seiner angemessenen Unterrichtung nötig ist, Ist dies der Fall, kann und muss er die Informationsordnung einseitig festsetzen. 96

V. Zusammenfassung Im Anschluss an die in der US -Rechtsprechung entwickelte „business judgement rule“ wird auch bei uns erörtert, dass ein haftungsfreier Ermessenspielraum für unternehmerische Entscheidungen nur bestehen kann, wenn diese Entscheidungen auf einer angemessenen Informationsgrundlage getroffen werden. Damit wird für den Aufsichtsrat, und zwar für jedes Aufsichtsratsmitglied die Pflicht verdeutlicht, sich vor solchen Entscheidungen aktiv um eine angemessene Informationsgrundlage zu bemühen. Die Angemessenheit der Informationsgrundlage ist unter Berücksichtigung der Struktur und Arbeitsweise des Aufsichtsrats, seiner Verantwortung für die zu treffende Entscheidung und seiner Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung zu beurteilen. Obwohl sich der Aufsichtsrat in deutlich erster Linie auf informative Berichte und Auskünfte des Vorstands stützen muss, kann er zur Absicherung einer haftungsbefreienden Informationsgrundlage auch auf vorstandsunabhängige Informationsquellen zugreifen.

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MünchKommAktG-Semler (Fn. 27) § 111 Rn. 275.

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Mitbestimmungsfeindlicher Missbrauch der Societas Europaea? Friedrich Kübler

Inhaltsübersicht Seite

I. II. III. IV. V.

Zielkonflikte in der Regelung der Societas Europaea . . . . . . . . . Gestaltungsmöglichkeiten nach der Verordnung . . . . . . . . . . . Einschränkungen durch die Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . Auslegungsprobleme: Was ist mitbestimmungsfeindlicher Missbrauch? Flexibilität als Chance der Mitbestimmung . . . . . . . . . . . . . .

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I. Zielkonflikte in der Regelung der Societas Europaea Die Mitbestimmung zählt zu den bevorzugten Forschungs- und Publikationsbereichen des Jubilars, dem dieser Beitrag gewidmet ist.1 Sie bewegt sich zwar langsam, aber unübersehbar in das Rampenlicht der rechtspolitischen Diskussion zurück. 2 Dazu tragen die Verordnung 3 und die Richtlinie 4 bei, die die EU am 8. Oktober 2001 verabschiedet hat und die am 8. Oktober 2004 in Kraft treten bzw. in das Recht der Mitgliedstaaten umgesetzt sein müssen. Sie betreffen die Europäische AG oder Societas Europaea (im Folgenden: SE ), deren Bedeutung sich nicht darin erschöpfen wird, das Arsenal der verfügbaren Rechtsformen der Unternehmensorganisation um einen 1 Raiser, Das Unternehmen als Organisation (1969); ders. Kommentar zum Mitbestimmungsgesetz, 3. Aufl., 1998; ders., Bewährung des Mitbestimmungsgesetzes nach 20 Jahren, FS Kübler, 1997, S. 477 ff.; ders., Wirkungen des Mitbestimmungsgesetzes, in: Hof/ Lübbe-Wolf, Wirkungsforschung zum Recht I, 1999, S. 107 ff.; ders., Unternehmerische Mitbestimmung auf dem Prüfstand, FS Buxbaum, 2000, S. 415 ff. 2 Vgl. außer den in Fn. 1 genannten neueren Beiträgen etwa Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen, 1998; Kübler, FS Döser, 1998, S. 237 ff.; Sadovski/ Junker/ Lindenthal ZGR 2001, 110 ff.; Ulmer ZH R 166 (2002), S. 271 ff.; sowie die Beiträge von Henssler und Ulmer in Baums/ Ulmer (Hrsg.) Arbeitnehmermitbestimmung in den Mitgliedstaaten der EU , ZH R-Sonderheft 72 (2004), S. 133 ff. und 159 ff. 3 Verordnung ( EG ) des Rats Nr. 2157/2001 vom 8. 10. 2001, AmtsBl EG L 294/1 vom 10. 11. 2001. 4 Richtlinie 2001/86/ EG des Rats vom 8. 10. 2001, AmtsBl EG L 294/22 vom 10. 11. 2001.

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weiteren in sich geschlossenen Gestaltungstypus zu bereichern. Mit ihr tritt vielmehr eine Figur auf die Bühne des Unternehmensrechts, deren Facettenreichtum und Ambivalenz signifikant von den traditionellen Regelungsmustern des Gesellschaftsrechts abweicht; und das zeigt sich in besonderer Weise am Umgang mit dem Institut der Mitbestimmung in den Organen der Gesellschaft. Bemerkenswert ist zunächst die Aufteilung der Materie in eine Verordnung und eine Richtlinie. Sie ergab sich aus der Einsicht, dass sich das ursprüngliche Konzept einer umfassenden und abschließenden Kodifikation nach dem Vorbild der nationalstaatlichen Aktiengesetze politisch nicht realisieren ließ. 5 Sie lässt eine einigermaßen ungewöhnliche Diskrepanz von Rechtsform und Regelungsziel erkennen. Verordnungen entsprechen den herkömmlichen Gesetzen; sie setzen in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht und bedürfen deshalb keiner legislatorischen Transformation oder Ergänzung durch die mitgliedstaatliche Gesetzgebung. Richtlinien sind Instrumente der Harmonisierung des Rechts in komplexen Regelungsfeldern; sie geben lediglich das zu erreichende Ziel vor und überlassen die Konkretisierung der unabdingbaren Umsetzung durch das Gesetzgebungsverfahren der Mitgliedstaaten. Das heißt.: Verordnungen schaffen Recht, das nicht nur für die Mitgliedstaaten, sondern auch für deren Bürger unmittelbar verbindlich ist und damit ein vergleichsweise rigides Normengefüge vorgibt. Im Gegensatz dazu belassen die Richtlinien der legislatorischen Transformation Spielräume der inhaltlichen Ausgestaltung und Anpassung an die existierenden Systeme, die ein höheres Maß an Flexibilität und Variabilität gewährleisten. Mit dieser generellen und funktionsbedingten Institutionalisierung kontrastiert die konkrete Zielrichtung der hier erörterten Regelungen. Die „Verordnung über das Statut der Europäischen Gesellschaft“ (im Folgenden: SE -VO ) bezweckt die Verwirklichung des Binnenmarktes; deshalb soll es den überregional operierenden Unternehmen ermöglicht und erleichtert werden, „die Neuordnung ihrer Tätigkeiten auf Gemeinschaftsebene“ zu planen und zu betreiben. 6 Die SE -VO ist mithin auf Bewegung, auf Anpassung, auf Wandel und damit auch auf faktische Harmonisierung angelegt; dieser telos prägt die Grundzüge ihrer Regelung. Die „Richtlinie zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer“ (im folgenden: SE - RL ) bezweckt, „dass die Gründung einer SE nicht zur Beseitigung oder zur Einschränkung der Gepflogenheiten 5 Zur bewegten Gesetzgebungsgeschichte vgl. insbes. Blanquet ZGR 2002, 20, 21 ff.; Heinze ZGR 2002, 66 ff.; Mävers, Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Europäischen Aktiengesellschaft, 2000, 87 ff.; Theisen/Wenz in: Theisen/Wenz (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft, 2002 1, 27 ff.; Kleinsorge RdA 2002, 343 ff.; Reichert/Brandes ZGR 2003, 767, 769 ff. 6 So Erwägungsgrund (1) der SE -VO .

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der Arbeitnehmerbeteiligung führt, die in den an der Gründung der SE beteiligten Gesellschaften herrschen“; 7 die „Sicherung erworbener Rechte der Arbeitnehmer über ihre Beteiligung an Unternehmensentscheidungen ist fundamentaler Grundsatz und erklärtes Ziel dieser Richtlinie“; ihre rechtlich gesicherten Mitwirkungsbefugnisse sollen durch die Überführung des Unternehmens in eine SE nicht gemindert werden; das wird als „VorherNachher-Prinzip“ bezeichnet. 8 Diese Zweckprojektion, die die Vorschriften der SE - RL bestimmt, will Beharrung: die bestehenden Strukturen sollen nicht verändert, sondern beibehalten und auf Dauer gestellt werden. Mit anderen Worten: SE -VO und SE - RL sind auf divergierende Ziele angelegt, 9 die mit der Aufgabe ihrer Harmonisierung konfrontieren. Dazu ist zunächst zu klären, welche Gestaltungsmöglichkeiten die SE -VO eröffnet (dazu II .). Im nächsten Schritt ist zu untersuchen, inwieweit diese Freiheit durch die SE - RL eingeschränkt wird (dazu III .). Daraus ergeben sich konkrete Auslegungsfragen, die unter IV. zu erörtern sind. Die – gewiss vorläufigen – Ergebnisse sind abschließend zusammenzufassen (dazu V.).

II. Gestaltungsmöglichkeiten nach der Verordnung Die SE -VO erweitert den numerus clausus der Rechtsformen, auf die die gewerbliche Praxis zum Zwecke der Organisation ihrer Betätigung zurückgreifen kann. Damit ist ihre Bedeutung indessen nicht erschöpft; sie eröffnet in mehrfacher Weise neue Spielräume, deren Nutzung das überlieferte System des Kapitalgesellschaftsrechts signifikant verändern könnte. Für den hier erörterten Fragenbereich ist vor allem auf drei Aspekte hinzuweisen: 1. Es ist längst evident und wohl auch unstreitig, dass die VO nicht einen Typus der SE , sondern eine Vielzahl von Rechtsformen generiert.10 Sie gibt einen Rahmen vor, der durch die schon bestehenden Aktiengesetze der Mitgliedstaaten und durch die Rechtsvorschriften ausgefüllt wird, die die Mitgliedstaaten zur weiteren Ausgestaltung der SE schaffen dürfen und schaffen werden.11 Die Zahl der unterschiedlichen Regelungen wird mithin der der Mitgliedstaaten entsprechen. Damit sind die Wahlmöglichkeiten indessen nicht erschöpft, weil jede nationale Regelung sowohl

Erwägungsgrund (3) der SE - RL . Erwägungsgrund (18) der SE - RL ; dazu Köstler in: Theisen/Wenz Fn. 5 301, 314. 9 Dazu vor allem Reichert/Brandes ZGR 2003, 767, 768: „Gestaltungsfreiheit“ und „Bestandsschutz“ sind „schwer harmonisierbare Eckpunkte“ der Neuregelung. 10 Hommelhoff AG 2001, 279, 285; Hopt EuZW 2002, 1; Lutter BB 2002, 1, 2; Thoma/Leuering NJW 2002, 1449, 1550. 11 Zum derzeitigen Stand der Vorbereitung vgl. die Länderberichte in Baums/Lahn, Die Europäische Aktiengesellschaft – Umsetzungsfragen und Perspektiven (2004). 7 8

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das dualistische wie das monistische Organisationsmodell anzubieten hat.12 2. Aber auch anderen Akteuren eröffnen sich Handlungsspielräume, deren Ausübung die Struktur eines Unternehmens beeinflussen kann. Das ergibt sich aus der vielstufigen Hierarchie von Normen, die das Gefüge einer spezifischen SE bestimmen.13 Den höchsten Rang nehmen die zwingenden Vorschriften der Verordnung ein. Dann folgen die Satzungsbestimmungen, die auf einer expliziten Ermächtigung der Verordnung beruhen und deshalb den unternehmensrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten vorgehen; und zwar auch dann, wenn diese zwingend angeordnet sind.14 Auf der nächsten Stufe finden sich die dispositiven Bestimmungen der SE -VO, die der Satzung, aber wiederum nicht den Rechtsakten der Mitgliedstaaten weichen.15Dann sind die zwingenden Vorschriften anzuwenden, zu deren Erlass die Mitgliedstaaten ermächtigt werden. So kann Deutschland gemäß Art. 43 Abs. 4 der Verordnung konkretisierende Regelungen für die monistische Ausgestaltung der SE schaffen.16 Diese Vorschriften gehen dem zwingenden Aktien- und Mitbestimmungsrecht der Mitgliedstaaten vor. Die nächsten Stufen werden durch die SE - RL bestimmt. Sie sieht zunächst eine Vereinbarung vor, durch die die Mitwirkung der Arbeitnehmer verbindlich festgelegt wird. Wenn es zu dieser Vereinbarung nicht kommt, dann greift die im Anhang der Richtlinie vorgesehene Auffanglösung. Das ist unter III . im Detail zu erörtern. Dann folgen die zwingenden gesetzlichen Vorschriften des mitgliedschaftlichen Gesellschafts- und Unternehmensrechts. Sie kommen überall dort zum Zuge, wo die Verordnung keine eigenen Bestimmungen vorsieht, wo die besonderen Vorschriften, zu denen die Verordnung die Mitgliedstaaten ermächtigt, nicht greifen, und wo die Vereinbarungs- und Satzungsbestimmungen, die die Verordnung erlaubt, ebenfalls nicht zum Zuge kommen. Die sich anschließende Ebene wird durch die Satzung bestimmt; und an unterster Stelle findet sich das dispositive Aktienrecht der Mitgliedstaaten, das durch die Satzung verdrängt werden kann. Dieses Arrangement ist nicht zuletzt deshalb interessant, weil es sich wechselseitig bedingende und beeinflussende Spielräume eröffnet. Die Aktionäre können sich für den Mitgliedstaat entscheiden, dessen die Ver12 Das ergibt sich aus Art. 38 lit. b) SE -VO ; dazu Hommelhoff AG 2001, 1, 6; Schwarz ZIP 2001, 1847, 1854; Bungert/Beier EWS 2002, 1, 3. 13 Sie ist in Art. 9 SE -VO nicht abschließend geregelt; dazu näher Wagner NZG 2002, 985, 986; Theisen/Wenz, in Theisen/Wenz Fn. 5, 47 ff.; Kübler ZHR 167 (2003) 222, 224 f. mwN. 14 Dazu Raiser, FS Semler, 1993, S. 277, 282. 15 Beispiele finden sich in Art. 46 Abs. 2, 50 Abs. 1 und 2, 55 Abs. 1, 56 Abs. 1 und eingeschränkt auch in Art. 40 Abs. 1 Satz 1 und 43 Abs. 3 Satz 1. 16 Dazu Teichmann BB 2004, 53 ff.

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ordnung implementierenden Gesetze und dessen sonstiges Recht der SE die besten Entfaltungsmöglichkeiten bieten. Das kann auf die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten zurückwirken: für sie kann es interessant und lohnend werden, den europäischen Unternehmen rechtliche Randbedingungen anzubieten, die die Wahl ihres Rechts besonders attraktiv machen.17 3. Eine weitere strategische Option wird den Unternehmen durch Art. 66 SE -VO eingeräumt: diese Bestimmung erlaubt es, eine SE – frühestens zwei Jahre nach ihrer Eintragung – in eine dem Recht ihres Sitzstaates unterliegende AG umzuwandeln.18 Das ist von besonderer Bedeutung dort, wo es um die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Organen der Gesellschaft geht. Wenn sich eine deutsche AG mit ihrer im Vereinigten Königreich angesiedelten Tochter zu einer SE nach britischem Recht verschmilzt, wird es ihr kaum möglich sein, die Belastung durch das Mitbestimmungsregime spürbar zu verringern.19 Sie kann aber zwei Jahre später die Umwandlung in eine public limited company (plc) beschließen und sich dadurch möglicherweise der Unternehmensmitbestimmung nach deutschem Muster vollständig und definitiv entziehen, da eine britische plc der Anwendung des deutschen Mitbestimmungsrechts nicht unterliegt20.

III. Einschränkungen durch die Richtlinie Die SE - RL enthält eine in mehrfacher Hinsicht komplizierte Regelung. Ihr Kernstück sieht ein „Verhandlungsverfahren“ 21 vor, das auf den Abschluss einer „Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE “ 22 gerichtet ist. Das ist ein interessanter Ansatz; er eröffnet grundsätzlich die Chance, sich von den überdimensionierten Aufsichtsräten23 und den starren Sitzverteilungen des deutschen Mitbestimmungsrechts wenigstens schrittweise zu entfernen. Insoweit entspricht die Richtlinie dem auf erhöhte Mobilität und Flexibilität zielenden Regelungsprogramm der Verordnung. Es konfligiert freilich mit dem auf die Zementierung des status quo angelegten „Vorher-Nachher-Prinzip“,24 das die Chancen einer diesen Namen verdienenden Vereinbarungslösung erheblich minimiert; dafür ist auf drei Aspekte hinzuweisen: Dazu näher Kübler (Fn. 13), S. 229 ff. Dazu Schwarz ZIP 2001, 1847, 1858. 19 Dazu näher III . 20 Raiser Mitbestimmungsgesetz, 3. Aufl., 1998, § 1 Rn. 13 ff.; Henssler, FS Ulmer, 2003, S. 193, 199. 21 Teil II , Art. 4 bis 7. 22 Art. 3 (1). 23 Dazu Kübler, FS Zöllner, 1999, S. 321, 327 f. mwN. 24 Vgl. oben zu Fn. 8. 17 18

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1. Zunächst geht es um die Repräsentanten, die dazu berufen sind, die Mitbestimmungsvereinbarung auszuhandeln. Für die Arbeitnehmer ist gem. Art. 3 SE - RL ein „besonderes Verhandlungsgremium“ zu bilden. Die Regelung seiner Zusammensetzung ist kompliziert, weil sie gewährleisten soll, dass die Arbeitnehmer aus den unterschiedlichen Mitgliedstaaten, den beteiligten Unternehmen und den betroffenen Betrieben soweit wie möglich vertreten sind. 25 Wesentlich problematischer ist die Gegenseite. Für sie agiert gemäß Art. 4 Abs. 1 SE - RL das „jeweils zuständige Organ der beteiligten Gesellschaften“. Das sind die Leitungsorgane, 26 im Falle einer deutschen AG der Vorstand. Er wird vom mitbestimmten Aufsichtsrat berufen, in dem nicht nur die Anteilseigner, sondern auch die Arbeitnehmer vertreten sind; und er ist auf das „Unternehmensinteresse“ verpflichtet, das die Belange der Beschäftigten einschließt. 27 Sie sind mithin auf beiden Seiten repräsentiert; das verleiht der Vereinbarung einen Hauch von Insichgeschäft. Gravierender ist freilich, dass die Vorstände mit der Vereinbarung die Zusammensetzung des Gremiums festlegen, das über ihre (erneute) Berufung und ihre Anstellungsbedingungen zu entscheiden hat; auch in dieser Hinsicht lassen sich Interessenkonflikte nicht völlig von der Hand weisen. 2. Noch fragwürdiger sind die Regeln, die die SE - RL für das Entscheidungsverfahren in dem besonderen Verhandlungsgremium festlegt. Art. 3 Abs. 4 SE - RL verlangt für die Beschlussfassung grundsätzlich die absolute Mehrheit der Stimmen in den Gremien und zudem, dass diese Mehrheit die absolute Mehrheit der Arbeitnehmer vertritt. Für den Fall, dass die Vereinbarung irgendwelche Mitbestimmungsrechte verkürzt, bedarf der Beschluss der – wiederum doppelten – Zweidrittelmehrheit. Hier wird zudem nach Entstehungsgründen differenziert. Wo die SE als Holding- oder als Tochtergesellschaft gegründet wird, kommt dieses Mehrheitserfordernis zum Zuge, wenn mindestens 50 % der Arbeitnehmer von der Minderung der Mitwirkungsbefugnisse betroffen sind; im Falle der „mitbestimmungsrechtlich problematischeren Gründungsform“28 der Verschmelzung sinkt diese Schwelle auf 25 %. Zweidrittelmehrheiten sind gemäß Art. 4 Abs. 6 zudem erforderlich, wenn das Gremium auf Verhandlungen verzichten oder diese abbrechen möchte. 29 Für die „mitbestimmungsrechtlich problematischste Form der Umwandlung“30 ist ein derartiger Beschluss unzulässig, „wenn in der umzuwandelnden GesellDazu näher Kleinsorge RdA 2002, 343, 348 f. Kleinsorge S. 348. 27 Raiser (Fn. 20) § 25 Rn. 112. 28 Kleinsorge S. 349. 29 Dieser Beschluss hat zur Folge, dass die Bestimmungen des Anhangs nicht zum Zuge kommen; dazu unten 3. 30 Kleinsorge aaO. 25 26

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schaft Mitbestimmung besteht“. 31 Zudem ist vorgeschrieben, dass die vor der Umwandlung bestehenden Mitbestimmungsrechte auch nach ihrem Vollzug in vollem Umfang gewährleistet sein müssen. Hier darf die Verhandlung nur die Bewahrung oder Ausweitung der Mitbestimmung anstreben. Aber auch für die Erfordernisse qualifizierter Mehrheiten trifft es zu, dass sie die Verhandlungsspielräume einengen. 32 3. Am problematischsten ist freilich die verschämt in den Anhang verwiesene „Auffangregelung“, die gemäß Art. 7 Abs. 2 SE - RL insbesondere dann zum Zuge kommt, wenn mitbestimmte Unternehmen an der Gründung der SE beteiligt sind und wenn die Verhandlungen zwischen dem besonderen Verhandlungsgremium und den beteiligten Gesellschaften scheitern. Das betrifft insbesondere den Teil 3 der Auffangregelung, der die Mitgliedstaaten zu einer Regelung verpflichtet, die der SE das am weitesten gehende Mitbestimmungsregime der an der Gründung beteiligten Unternehmen oktroyiert. 33 Zu dieser Regelung ist – insoweit – zu Recht festgestellt worden, dass sie die Sorgen der deutschen Arbeitnehmer, die SE könne die Flucht aus der Mitbestimmung ermöglichen, ausräumen sollte. 34 Dadurch wird freilich zugleich die Verhandlungs- und Einigungsbereitschaft der Arbeitnehmerseite gelähmt: warum sollte sie sich auf Kompromisse einlassen, wenn sie ohne Vereinbarung das Maximum des für sie Erreichbaren erhält? Und damit tritt zugleich der innere Widerspruch der Richtlinie zutage: die Verhandlungslösung ist mit dem „Vorher-Nachher-Prinzip“ letztlich nicht vereinbar und wird diesem im Konfliktfall zum Opfer gebracht. Das Modell ist nicht nur auf die Bewahrung, sondern auf die Expansion der Mitbestimmung angelegt, weil die weniger oder gar nicht mitbestimmten Gesellschaften dem am weitesten reichenden Mitbestimmungsregime unterworfen werden. Das wird vielfach nicht erwünscht sein; deshalb sind die Befürchtungen, diese Regelung werde deutsche Gesellschaften von der anstehenden Reorganisation der europäischen Unternehmenslandschaft weitgehend ausschließen, nicht von der Hand zu weisen. 35

Art. 4 Abs. 6. Heinze ZGR 2002, 66, 82. 33 Anhang Teil 3b stellt auf die Zahl der Mitglieder des Verwaltungs- oder Aufsichtsgremiums ab, die „sich nach dem höchsten maßgeblichen Anteil in den beteiligten Gesellschaften vor der Eintragung der SE bemisst“; dazu näher Reichert/Brandes (Fn. 9) S. 784. 34 Henssler (Fn. 20) S. 199. Ähnlich, wenn auch zurückhaltender Kleinsorge, S. 350 FN 90: es sei „zu berücksichtigen, dass die Arbeitnehmerseite vor dem Hintergrund der Auffangregelung eine gute Verhandlungsposition hat“. 35 Hopt EuZW 2002, 1; Hirte NZG 2002, 1, 6; Reichert/Brandes S. 780; Heinze (Fn. 5) S. 83. 31

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IV. Auslegungsprobleme: Was ist mitbestimmungsfeindlicher Missbrauch? Gibt es einen Ausweg? Diese Frage führt zu Art. 66 SE -VO zurück. 36 Eine deutsche AG kann sich den Folgen der geschilderten Mechanik dadurch entziehen, dass sie mit einer Tochter in London oder einer – unter Umständen sehr kleinen – britischen Gesellschaft zu einer SE mit Sitz in Großbritannien fusioniert und diese SE nach zwei Jahren in eine mitbestimmungsfreie Kapitalgesellschaft nach englischem Recht umwandelt. Dann aber stellt sich eine weitere Frage: 37 könnte es sich um einen „Verfahrensmissbrauch“ gem. Art. 11 SE - RL handeln, den die Mitgliedstaaten durch „geeignete Maßnahmen“ zu verhindern haben? 38 Diese Bestimmung ist – soweit ersichtlich – bislang kaum erörtert worden39; ihre Einschätzung und Einordnung wirft grundlegende Fragen auf. 1. In dem erwähnten Beispielsfall werden den deutschen Arbeitnehmern ihre Mitbestimmungsrechte dadurch entzogen, dass die britische SE in eine andere – und mitbestimmungsfreie – Kapitalgesellschaft britischen Rechts umgewandelt wird. Dies ist ein Vorgang, der der Kontrolle durch das deutsche Recht entzogen ist. „Geeignete Maßnahmen“, die diese Transaktion verhindern könnten, müssten also von der britischen Gesetzgebung getroffen werden. Es ist nicht anzunehmen, dass das Vereinigte Königreich ein besonderes Interesse hat, derartige Fälle überhaupt zu regeln. Vor allem aber ist völlig unklar, wie eine solche Regelung aussehen könnte. Sollte jeder mitbestimmten SE britischen Rechts diese Form der Umwandlung untersagt werden? Das wäre mit Art. 66 SE -VO schwerlich vereinbar und liefe zudem auf eine Diskriminierung all der Gesellschaften hinaus, die irgendeinem Regime der Mitbestimmung in den Gesellschaftsorganen unterliegen. Deshalb müsste auf die besonderen Umstände des Einzelfalls abgestellt werden. Aber welche sollten dies sein? Die Motive der Akteure sind meist sehr unterschiedlich; und sie lassen sich erforderlichenfalls kaschieren. Nur der Effekt ist immer derselbe. 2. Eine deutsche Regelung könnte nur bei dem Verschmelzungsvorgang ansetzen, der die deutsche AG in eine britische SE überführt. Er schafft Vgl. oben II . 3. Auf sie hat Herr Regierungsdirektor Kleinsorge vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit in der Diskussion des Frankfurter Symposiums „Die Europäische Aktiengesellschaft – Umsetzungsfragen und Perspektiven“ am 6. und 7. November 2003 hingewiesen. 38 Art. 11 verpflichtet die Mitgliedstaaten zu „geeignete(n) Maßnahmen, um verhindern, dass eine SE dazu missbraucht wird, Beteiligungsrechte zu entziehen oder vorzuenthalten“. 39 Bloße Erwähnung bei Herfs-Röttgen NZA 2001, 424, 428; Heinze (Fn. 5) S. 87 hält die Bestimmung für „kaum erklärbar“, da die Richtlinie die Mitbestimmung hinreichend schütze. 36 37

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zwar die Voraussetzung für den späteren Wegfall der Mitbestimmung, kann aber auch aus diesem Grunde nicht untersagt oder behindert werden, da dies mit Wortlaut und Zweck der Verordnung nicht vereinbar wäre: derartige Transaktionen sollen gerade ermöglicht werden. Deshalb müsste einengend auf weitere Umstände hingewiesen werden, die etwa den Verdacht begründen, die Fusion werde nur deshalb betrieben, um sich später der Mitbestimmung zu entziehen. Der Nachweis einer derartigen Absicht dürfte freilich nur sehr schwer zu führen sein, da sich eine Verschmelzung im Regelfall auf mehrere Zielprojektionen stützen lässt. 3. Noch mehr Gewicht ist normativen Gründen beizumessen. Modifizieren wir den Ausgangsfall: der Vorstand der deutschen AG bietet dem besonderen Verhandlungsgremium der Arbeitnehmer an, eine spätere Umwandlung der SE in eine limited company dadurch zu erschweren, dass die dafür erforderliche Hauptversammlungsmehrheit erheblich angehoben wird; wo Belegschaftsaktien begeben worden sind, könnte dies den Beschäftigten eine Vetoposition verschaffen. Dazu müsste das Gremium einer Verhandlungslösung zustimmen, die die Zahl der Arbeitnehmervertreter auf ein Drittel oder ein Viertel reduziert. 40 Nehmen wir weiter an, dass die Einigung scheitert, weil das Ergebnis der Verhandlungen vom besonderen Verhandlungsgremium nur mit einfacher und nicht mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit gebilligt wird. Sollten für diesen Fall Regelungen geschaffen werden, die es ermöglichen, entweder die Verschmelzung oder die spätere Umwandlung zu verhindern? Das hätte faktisch die missliche Folge, dass der Vorstand der deutschen AG auf das geschilderte Angebot verzichten würde, um die Verschmelzung und die spätere Umwandlung nicht zu gefährden. Das wäre zugleich eine Beschränkung des Verhandlungsspielraums, die aus normativen Gründen sehr problematisch erscheint. Geht man allein von der SE - RL aus, dann ist die Verhandlungsposition zwischen den Beteiligten sehr unausgewogen: angesichts der Mechanik der Auffangregelung vor allem gemäß Teil 3 des Anhangs haben die Arbeitnehmervertreter wenig Grund, sich auf Angebote der beteiligten Gesellschaften einzulassen; diese Ausgangslage gefährdet und entwertet das der Richtlinie zugrundeliegende Konzept, zu einer Verhandlungslösung zu kommen. Dieses Ungleichgewicht wird – wenigstens teilweise – korrigiert und kompensiert durch die Möglichkeiten, die Art. 66 SE -VO den Gesellschaften eröffnet. Schon aus diesem Grunde geht es nicht an, die Verhandlungsposition der Gesellschaften im Wege der Umsetzung von Art. 11 SE - RL wieder zu beschneiden. Verordnung und Richtlinie müssen im Zusammenhang verstanden und ausgelegt werden. Soweit die Regelungen einander widersprechen, sind die 40 Und vielleicht auch in anderer Weise von dem deutschen Modell abweicht, etwa durch eine Klausel, die die Wählbarkeit auf die Beschäftigten des Unternehmens beschränkt.

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Kollisionen durch Herstellung praktischer Konkordanz zu lösen. 41 Dabei ist der Telos beider Texte zu beachten. Die Verordnung soll den Unternehmen grenzüberschreitende Operations- und Reorganisationsstrategien erleichtern und dadurch den Binnenmarkt fördern. 42 Die Richtlinie soll die Mitwirkung der Arbeitnehmer schützen. Der einer Verhandlungslösung eingeräumte Vorrang beruht auf der realistischen Annahme, dass sie sich langfristig eher durch Vereinbarung, durch Konsens der Beteiligten, als durch den einseitigen Oktroy eines starren und den meisten Mitgliedstaaten fremden Mitbestimmungsregimes bewahren lässt. Eine Auslegung von Verordnung und Richtlinie, die die Verhandlungsparität zwischen den Beteiligten wenigstens einigermaßen herstellt und damit erst Vereinbarungen ermöglicht, dient offenbar beiden Zielen, das heißt denen der Verordnung und denen der Richtlinie. 4. Auf dieser Basis lässt sich die Funktion und die Reichweite des „VorherNachher-Prinzips“43 präzisieren. Über die Mechanik der Auffangregelung beschränkt es – wie gezeigt – zunächst den Spielraum der Verhandlungen und damit die Chancen ihres Erfolgs. Aus der methodisch gebotenen dogmatischen Verknüpfung von Verordnung und Richtlinie ergibt sich jedoch, dass das „Vorher-Nachher-Prinzip“ seinerseits durch die Möglichkeiten eingeschränkt wird, die Art. 66 SE -VO eröffnet. Es wird damit keineswegs bedeutungslos: die in dieser Vorschrift auferlegte Wartefrist von zwei Jahren und die mit der Umwandlung einer SE in eine nationale AG verbundenen Kosten stärken die Position der Arbeitnehmer im Prozess der Verhandlungen mit den beteiligten Unternehmen. Damit rundet sich das Bild einer durch Richtlinie und Verordnung determinierten Verhandlungssituation, die für beide Seiten Anreize bietet, nicht vorschnell auf eine Vereinbarungslösung zu verzichten. 5. Es bleibt die Frage, was denn unter einem „Missbrauch“ im Sinne von Art. 11 SE - RL zu verstehen ist. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu der vom Modell des Mitbestimmungsgesetzes abweichenden Besetzung von Aufsichtsratsausschüssen betont die Satzungsautonomie; diese endet erst dort, so Sinn und Zweck des Mitbestimmungsgesetzes unterlaufen und die Arbeitnehmer ohne erheblichen sachlichen Grund von der Mitarbeit etwa im Personalausschuss ausgeschlossen werden; das ist „missbräuchliche Diskriminierung“ der Arbeitnehmer. 44 Dieses Verständnis des nationalen hat freilich keine Bedeutung für die Auslegung des ihm übergeordneten europäischen Rechts. Wichtiger ist die Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit im Gesellschaftsrecht. Sie ist 41 Dazu – für das Verfassungsrecht – näher Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl., 1993, Rn. 317 ff. 42 Vgl. oben zu Fn. 6. 43 Vgl. oben zu Fn. 7 und 8. 44 BGHZ 122, 342, 358; ähnlich schon BGHZ 83, 144, 149.

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einschlägig, weil SE -VO und SE - RL diese Freiheit legislatorisch konkretisieren. Das Gericht entnimmt Art. 43 EG -Vertrag die Befugnis zur unternehmerischen Betätigung in jeder Rechtsform, die ein anderer Mitgliedstaat für diesen Zweck vorsieht. 45 Das bedeutet, dass sich deutsche Unternehmen etwa in Großbritannien inkorporieren und sich in Deutschland in der Form einer grundsätzlich mitbestimmungsfreien Kapitalgesellschaft britischen Rechts betätigen können. Die dadurch eröffnete Freiheit kann aber eingeschränkt werden, wo sie missbräuchlich ausgeübt wird. Der EuGH gestattet den Mitgliedstaaten Maßnahmen zu ergreifen, „die verhindern sollen, dass sich einige seiner Staatsangehörigen unter Missbrauch der durch den EG -Vertrag geschaffenen Möglichkeiten der Anwendung des nationalen Rechts entziehen; die missbräuchliche oder betrügerische Berufung auf das Gemeinschaftsrecht ist nicht gestattet“. 46 Ein solcher Missbrauch liegt aber nicht schon dann vor, wenn „ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der eine Gesellschaft gründen möchte, diese in dem Mitgliedstaat errichtet, dessen gesellschaftsrechtliche Vorschriften ihm die größte Freiheit lassen“. 47 Dem Gemeinschaftsbürger ist es vielmehr gestattet, sich den strengeren Kapitalisierungsvorschriften seines Heimatstaates durch die Inkorporierung in einem anderen Mitgliedstaat zu entziehen. 48 Mit guten Gründen wird überwiegend angenommen, dass diese Grundsätze nicht nur für den Gläubigerschutz, sondern auch für das Mitbestimmungsrecht gelten. 49 In ihnen manifestiert sich der Vorrang der Grundfreiheiten des EG -Vertrags gegenüber den unterschiedlichen policies der Mitgliedstaaten. Dieser Vorrang gilt auch gegenüber dem sekundären Gemeinschaftsrecht. Deshalb kann die Ausübung der durch die SE -VO eröffneten Gestaltungsräume nicht per se als Missbrauch im Sinne von Art. 11 der SE - RL qualifiziert werden. Auch aus diesem Grund ist anzunehmen, dass der Anwendungsbereich dieser Bestimmung sehr begrenzt bleiben wird.

V. Flexibilität als Chance der Mitbestimmung Es ist bislang keineswegs erwiesen, dass sich die Idee der Mitwirkung der Arbeitnehmer in den Organen der gewerblich operierenden Gesellschaften generell überlebt hat. Wesentlich kritischer ist das ungemein starre Regime 45 EuGH vom 9. 3. 1999, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I – 1459 = EuZW 1999, 216 ff. (Centros); EuGH vom 30. 9. 2003, Rs. C-67/01, NJW 2003, 3331 (Inspire Art). 46 So das Centros-Urteil (Fn. 44) Rn. 24. 47 A.a.O. Rn. 27. 48 So etwa das Inspire Art-Urteil (Fn. 45) Rn. 98. 49 Windbichler/Bachmann, FS Bezzenberger, 2000, S. 799 ff.; Schiessl ZHR 167 (2003), 235, 239 ff.; und eingehend Sandrock ZvglRWis 102 (2003), 447, 486 ff.

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zu beurteilen, mit dem das deutsche Aktien- und Mitbestimmungsrecht die Unternehmensorganisation überzogen und zementiert hat. 50 Deshalb sollte die Öffnung, die die SE zu bewirken vermag, nicht so sehr als Bedrohung, sondern als Chance wahrgenommen werden, auf dem vorstehend erörterten Wege der Verhandlungen und Vereinbarungen zu institutionellen Arrangements zu gelangen, die den spezifischen Bedingungen und Bedürfnissen sowohl der Gesellschaften und ihren Aktionären wie der Beschäftigten Rechnung tragen. Dahinter steht die hier nicht zu beantwortende Frage, ob die deutsche Gesetzgebung nicht gut beraten wäre, das etablierte Regime auch für die Unternehmen zu lockern, die nicht in der Lage oder (noch) nicht willens sind, von den durch die SE eröffneten Möglichkeiten Gebrauch zu machen.

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Vgl.: die Nachweise in Fn. 2.

Mitbestimmung und Schadensabwehr Marcus Lutter und Karlheinz Quack

Inhaltsübersicht Seite

I. II. III. IV. V.

Was war geschehen? . . . . . . . Arbeitsrechtliche Betrachtung . . . Gesellschaftsrechtliche Betrachtung Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . Summa und Ausblick . . . . . . .

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Thomas Raiser hat sich ein ganzes wissenschaftliches Leben lang mit Unternehmensverfassung 1 und Mitbestimmung2 befasst – von vielen anderen Fragen abgesehen; und sein Kommentar zum MitbestG von 1976 3 zeugt mit seinen vier Auflagen vom Einfluss seines Autors auf die Lösung und Beantwortung dieser Fragen. Die Autoren dieser Zeilen freuen sich daher, mit Thomas Raiser über den wohl „lautesten“ Fall der qualifizierten Mitbestimmung in den fünfundzwanzig4 oder gar fünfzig Jahren 5 ihrer Existenz diskutieren zu können: den Fall Bsirske.

I. Was war geschehen? 1. Frank Bsirske war und ist nicht nur Vorsitzender der Gewerkschaft Ver.di, sondern auch von seiner Gewerkschaft vorgeschlagenes Mitglied des Aufsichtsrats der Lufthansa AG und dessen stellvertretender Vorsitzender. Im Dezember 2002 stand die Gewerkschaft Ver.di in schwierigen Tarifverhandlungen mit den Arbeitgebern der öffentlichen Hand. Um deren Widerstand zu schmälern oder gar zu brechen, beantragte die zuständige Tarifkommission bei der Bundesstreikleitung der genannten GewerkRaiser, Das Unternehmen als Organisation, 1969. Raiser, Grundgesetz und paritätische Mitbestimmung, 1975. 3 Raiser, Mitbestimmungsgesetz, 4. Aufl., 2002. 4 Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer vom 4. Mai 1976 ( BGBl 1976, 1153). 5 Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie vom 21. Mai 1951 ( BGBl 1951, 347). 1 2

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schaft einen Warnstreik bei Beschäftigten der Flughäfen Frankfurt am Main und München für wenige Stunden am frühen Vormittag des 17. 12. 2002. Herr Bsirske war zu dieser Zeit weder Mitglied der Tarifkommission von Ver.di noch gehörte er der Bundesstreikleitung an. Von dem geplanten Warnstreik hat er aber gewusst und sich ihm nicht widersetzt, obwohl der Vorstand der Lufthansa Herrn Bsirske noch am 16. 12. 2002 in einem offenen Brief dringend um Aufgabe der Streikpläne an einem der buchungsstärksten Tage des Jahres 2002 gebeten hatte. Im Gegenteil: er hat in Interviews die Arbeitnehmer der Flughäfen für Teilnahme an dem Warnstreik aufgerufen. 5a Die Lufthansa selbst war am Tarifkonflikt nicht beteiligt. Dennoch war der Warnstreik gerade auf ihre Drehkreuze Frankfurt am Main und München konzentriert. Der Streik hatte nahezu chaotische Folgen: 252 Flüge mussten gestrichen werden, weitere 75 Flüge konnten nur mit erheblicher Verspätung starten; gut 10 000 Geschäfts- und Urlaubsreisende waren an dem besonders verkehrsreichen Vor-Weihnachtswochenende von dem Streik betroffen. Der der Lufthansa entstandene Schaden beläuft sich auf mindestens e 10 Mio. Die nachfolgende Jahreshauptversammlung der Lufthansa am 18. 06. 2003 hat Herrn Bsirske deswegen die Entlastung verweigert. 2. An dem Warnstreik auf den Flughäfen Frankfurt am Main und München haben sich vor allem die Beschäftigten der Flughafen-Feuerwehren beteiligt. Sie sind (oder gelten als) Arbeitnehmer der betreffenden Flughäfen. Die Fraport AG , Betreiberin des Flughafens Frankfurt am Main, war seinerzeit aufgrund ihrer Mitgliedschaft zum hessischen Arbeitgeberverband des öffentlichen Dienstes in die Tarifauseinandersetzung mit Ver.di involviert. Der Flughafen München ist zwar keinem Arbeitgeberverband angeschlossen, wendet aber, wie die Fraport AG , den Bundesmanteltarifvertrag für gemeindliche Arbeiter (BMT) und den BAT in der jeweils gültigen Fassung aufgrund Inbezugnahme in den Arbeitsverträgen auf die bestehenden Arbeitsverhältnisse an. „Zuständige Gewerkschaft“ für beide Flughäfen ist demnach Ver.di. Am Flughafen Frankfurt am Main haben ausschließlich Mitarbeiter der Flughafen-Feuerwehr, am Flughafen München haben neben Mitarbeitern der Flughafen-Feuerwehr auch Mitarbeiter der Bodenverkehrsdienste (insgesamt waren es ca. 460 Mitarbeiter) gestreikt. Wegen der bestehenden Sicherheitsbestimmungen konnte der Flugverkehr trotz betrieblicher Notstandsvereinbarungen nicht aufrechterhalten werden. 5a 5 Hanau/Wackertarth, Unternehmensmitbestimmung und Koalitionsfreiheit, 2004, S. 70; Bender/Vater, DStR 2003, 1807, 1808.

Mitbestimmung und Schadensabwehr

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3. Aktionäre der Lufthansa AG haben den Vorstand der Gesellschaft während der Hauptversammlung 2003 aufgefordert, Herrn Bsirske auf Ersatz des der Lufthansa erwachsenen Schadens in Anspruch zu nehmen. Wäre Herr Bsirske ersatzpflichtig, müsste der Vorstand dieser Aufforderung nachkommen. 6

II. Arbeitsrechtliche Betrachtung 1. Für jedermann und für alle Berufe ist das Recht gewährleistet, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, Art. 9 Abs. 3 GG . Den Schutz des Grundgesetzes genießt damit auch der Arbeitskampf und der Streik. 7 Mit Hilfe des Streiks sollen Tarifforderungen durchgesetzt oder sonstige Verbesserungen der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen erreicht werden. Arbeitskämpfe sind (nur) zur Durchsetzung von Tarifforderungen zulässig 8 und sie sind – nach dem Ende der Friedenspflicht – das letzte Mittel, um einen Tarifabschluss zu erreichen. Das Recht, Arbeitskampfmittel einzusetzen, wenn das Streikziel mit anderen Mitteln nicht zu erreichen ist, folgt unmittelbar aus Art. 9 Abs. 3 GG , nicht aber, wie manche meinen, bedarf es eines Umweges über Art. 2 Abs. 1 GG . 9 In seiner jüngeren Rechtsprechung geht das Bundesverfassungsgericht dabei davon aus, dass sich der Grundrechtsschutz auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen erstreckt. Es schützt die Koalitionen in ihrem Bestand und ihre Organisation, das Verfahren ihrer Willensbildung und die Führung ihrer Geschäfte. Anders als früher ist der Schutz nicht mehr nur auf einen Kernbereich koalitionsmäßiger Betätigung beschränkt, sondern er erstreckt sich auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen 10 2. Allerdings geht auch das Bundesverfassungsgericht nicht davon aus, dass das Grundrecht schrankenlos gewährt werde, im Einzelfall müssen sowohl die Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung und das Gewicht der etwa entgegenstehenden Rechtsgüter abgewogen werden.11 Das Arbeitskampfrecht genießt also grundgesetzlichen Schutz, und deswegen müssen Arbeitskämpfe grundsätzlich hingenommen werden, und dies auch dann, wenn das von einem Arbeitskampf betroffene Unternehmen arbeitskampfbedingte Schädigungen erleidet. 6

BGHZ 135, 244.

Scholz in Maunz/Dürig, Kommentar zum GG , Stand Februar 2003, Art. 9 Rn. 313 ff. Vgl. nur BAG 05. 03. 1985 – 1 AZR 468/83 – AP Nr. 85 zu Art. 9 GG . 9 Siehe dazu Scholz, aaO., Rn. 315. 10 Vgl. dazu BVerfGE 100, 214 und davor BVerfGE 93, 352. 11 BVerfGE 100, 214. 7 8

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3. Der Arbeitgeber hat das Betriebs- und Wirtschaftsrisiko zu tragen. Er ist also verpflichtet, die Arbeitsentgelte auch dann zu zahlen, wenn er die Belegschaft, ohne dass er dies zu vertreten hätte, aus betriebstechnischen Gründen nicht beschäftigen kann (Betriebsrisiko) oder wenn die Fortsetzung des Betriebes wegen Auftrags- oder Absatzmangels wirtschaftlich sinnlos wird (Wirtschaftsrisiko).12 Von diesem allgemeinen Betriebs- und Wirtschaftsrisiko ist freilich das besondere Risiko zu unterscheiden, welches Arbeitskämpfe mit sich bringen (Arbeitskampfrisiko). Auch dieses Risiko trifft den Arbeitgeber, er hat es zu tragen. Es unterscheidet sich – vom Lohn und Gehalt der Streikenden abgesehen – im Grundsatz weder vom Betriebsnoch vom Wirtschaftsrisiko. Deswegen kann der Arbeitgeber die ihm entstehenden (oder entstandenen) arbeitskampfbedingten Schäden nicht auf den streikenden Tarifpartner überwälzen, sofern dieser die Voraussetzungen eines legitimen Streiks erfüllt. Gilt dies für den „normalen“ Erzwingungsstreik, so gilt dies auch für den „Warnstreik“. Als sogenannte verhandlungsbegleitende Maßnahme darf er, auch ohne dass zuvor das Scheitern der Verhandlungen zwischen den Tarifvertragsparteien ausdrücklich erklärt worden wäre, begonnen werden. In dem Warnstreik liegt nämlich – konkludent – die Erklärung, die Arbeitnehmerseite betrachte die Verhandlungen als gescheitert. Und das reicht aus, um einen Warnstreik rechtmäßig zu machen.13 Sind Warnstreiks rechtlich nicht anders zu behandeln als „normale“ Erzwingungsstreiks, sind sie – liegen die sonstigen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen des Streiks vor – dann rechtens, wenn die Arbeitskampfmaßnahme den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit14 nicht verletzt. Der Streik darf also nicht auf die Vernichtung der Existenz der Gegenseite abzielen (Missbrauchsverbot), und die kampfführenden Parteien dürfen nicht objektiv zweckwidrig und rücksichtslos von den ihnen zu Gebote stehenden Kampfmitteln Gebrauch machen,15 und es müssen auch während eines Arbeitskampfes solche Arbeiten ausgeführt werden, die erforderlich sind, um die Anlagen und Betriebsmittel so zu erhalten, dass nach Beendigung des Arbeitskampfes die Arbeit fortgesetzt werden kann, und solche Arbeiten müssen erledigt werden, die die Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Diensten und Gütern sicherstellen. Wird schließlich auch das Ultima Ratio-Prinzip beachtet, ist auch der Warnstreik (der regelmäßig punktuell geführt wird) jedenfalls insoweit Siehe dazu BAG 22. 12. 1980, DB 1981, 321. Vgl. BAG 21. 06. 1988 – AP Nr. 108 zu Art 9. GG Arbeitskampf, aber auch die aufgegebene Rechtsprechung zu den vorangegangenen Arbeitskampfurteilen vom 17. 12. 1976 – AP Nr. 51 zu Art. 9 GG – und 12. 09. 1984 – AP Nr. 81 zu Art. 9 GG –. 14 Vgl. BAG 21. 04. 1971 – AP Nr. 43 zu Art. 9 GG –. 15 Vgl. BAG 30. 03. 1982 – AP Nr. 74 zu Art. 9 GG – und wegen weiterer Einzelheiten unten zu II .1. 12 13

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rechtmäßig, als er sich gegen eine Tarifvertragspartei richtet, auf die die Kampfmaßnahme unmittelbar zielt. 4. Ein Streik (auch ein Warnstreik) wirkt nicht nur gegen die unmittelbar Kampfbetroffenen, sondern auch gegen solche Dritte, die, ohne selbst Partei des Tarifkonfliktes zu sein, von der Kampfmaßnahme betroffen sind. Denn das drittbetroffene Unternehmen bleibt verpflichtet, seine Arbeitnehmer zu entlohnen, kann also nicht die Zahlung der Arbeitsentgelte verweigern, trägt also das Wirtschaftsrisiko auch zu dieser Situation.16 Der legitime Streik, auch der sogenannte Warnstreik, ist grundgesetzlich geschützt. Auch die von einem Streik nur mittelbar betroffenen Unternehmen haben keinen Anspruch darauf, ihn mit dem Ziel der Verhinderung zu beeinflussen. Auch dies folgt aus Art. 9 Abs. 3 GG .

III. Gesellschaftsrechtliche Betrachtung 1. a) Aufsichtsräte einer Aktiengesellschaft stehen zu dieser in keinem Vertragsverhältnis, sondern in einem rein korporativen Rechtsverhältnis, einem privaten Amtsverhältnis.17 Aufgrund dieses privaten Amtsverhältnisses sind sie nicht nur zu sorgfältiger Erfüllung ihrer Aufgaben als Aufsichtsratsmitglieder verpflichtet (§§ 116, 93 Abs. 1 AktG), sondern auch zu Treue und Loyalität gegenüber „ihrer“ Gesellschaft.18 Das bedeutet, dass sie Schäden von der Gesellschaft abzuwenden und in jeder Beziehung deren Interessen zu fördern haben; sie sind zur Wahrung der Interessen ihrer Gesellschaft (hier: Lufthansa), also auf das sogenannte Unternehmensinteresse verpflichtet.19 b) Aufsichtsräte sind – anders als Vorstandsmitglieder – nicht mit ihrer ganzen Zeit und Kraft für die Gesellschaft tätig, sondern üben ein Nebenamt Vgl. BAG 22. 12. 1980, DB 1981, 321. Vgl. Semler in Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl., § 101 Rn. 137, 155 ff.; Hüffer, Kommentar zum AktG, 5. Aufl., § 101 Rn. 2; Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 4. Aufl., Rn. 712; Hoffmann-Becking in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 4 – Aktiengesellschaft, 2. Aufl., § 33 Rn. 10; Henn, Handbuch des Aktienrechts, 7. Aufl., Rn. 672. 18 Unstreitig, vgl. Hüffer, aaO., § 116 Rn. 4; Lutter/Hommelhoff, Kommentar zum GmbHG , § 52 Rn. 44; Fleck, FS Heinsius, 1991, S. 89, 90; ausf.: Mertens in Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl., § 116 Rn. 22 ff.; MünchKommAktG-Semler (Fn. 17), aaO., § 116 Rn. 169 ff.; Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, 3. Aufl., § 15 Rn. 121 ff. 19 Unstreitig, vgl. etwa BVerfGE 50, 290, 374; BGHZ 36, 296, 306, 310 und BGH NJW 1979, 1823, 1826; Hüffer, aaO., § 116 Rn. 5; Kölner Komm.-Mertens (Fn. 18), aaO., Vorb. § 95 Rn. 9 ff.; Hoffmann/Preu, Der Aufsichtsrat, 5. Aufl., Rn. 108, 108.1; Lutter/Krieger, aaO., Rn. 765; MünchKommAktG-Semler (Fn. 17), aaO., § 116 Rn. 174; Schiedermair/Kolb in Beck’sches Handbuch der AG , 2004, § 7 Rn. 245; Raiser, aaO. 16 17

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aus. 20 Das Gesetz zeigt das deutlich mit § 110 Abs. 3 AktG, wonach der Aufsichtsrat von Lufthansa (nur) vier Mal pro Jahr zusammentreten muß. Auch wenn die Aufgaben des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder seit dem KonTraG und dem TransPuG deutlich gestiegen sind, 21 bleibt das Aufsichtsratsamt doch weiterhin ein Nebenamt. Das bedeutet, dass die meisten Aufsichtsräte ihre berufliche Haupttätigkeit in anderen Funktionen erfüllen. Für die Vertreter der Arbeitnehmer liegt das auf der Hand, es gilt aber auch für die Vertreter der Anteilseigner. Und das bedeutet weiter, dass sie – erneut anders als Vorstandsmitglieder – wegen dieser anderen Tätigkeiten häufig in Interessenkonflikte zwischen ihrer Haupt- und ihrer Nebentätigkeit geraten können. 22 Für die Lösung dieser Konflikte gilt nicht der Satz, dass die Interessen der Gesellschaft stets Vorrang haben müssten. Andererseits hat der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 21. 12. 1979 (Schaffgotsch) 23 mit klaren Worten deutlich gemacht, dass die Gesellschaft durch eigenes Handeln ihrer Aufsichtsratsmitglieder oder durch deren Einflussnahme auf andere Personen jedenfalls nicht geschädigt werden darf. 24 Anders gewendet: der Konflikt muss nicht unbedingt immer zum Vorteil der Gesellschaft gelöst werden 25 darf aber auf keinen Fall zu ihrem Schaden führen. 26 c) Alle Mitglieder eines Aufsichtsrats haben gleiche Rechte und gleiche Pflichten. Auch das hat der Bundesgerichtshof wiederholt und nachdrücklich betont. 27 Insbesondere gibt es keine Sonderrechte oder Sonderpflichten für Aufsichtsräte der Anteilseigner oder solche der Arbeitnehmer: alle Aufsichtsräte sind in ganz der gleichen Weise auf das Wohl ihrer Gesellschaft, zu Treue und Loyalität ihr gegenüber und zur Vermeidung jeder Schädigung 20 Vgl. Fleck, aaO.; Marsch-Barner in Semler/v. Schenck (Hrsg.), Arbeitshandbuch für Aufsichtsräte, 2004, § 12 Rn. 82; Potthoff/Trescher/Theisen, Das Aufsichtsratsmitglied, 6. Aufl., Rn. 790. 21 Vgl. dazu Lutter ZIP 2003, 417. 22 Geradezu prototypisch gilt das für Aufsichtsräte, die leitende Funktionen in einer Bank ausüben; vgl. dazu Lutter, Bankenvertreter im Aufsichtsrat, ZHR 145 (1981), S. 224 ff.; ders., Interessenkonflikte durch Bankenvertreter im Aufsichtsrat, Recht der Wirtschaft (Österreich) 1987, 314 ff.; vgl. auch Marsch-Barner, aaO., § 12 Rn. 83. Das Gesetz akzeptiert diese Gefahr und sorgt jedenfalls für Transparenz (§§ 124 Abs. 3 Satz 2 AktG, 285 Nr. 10 und 340a Abs. 4 Nr. 1 HGB). 23 NJW 1980, 1629 mit Anm. Ulmer NJW 1980, 1903 ff. 24 Vgl. dazu vor allem Ulmer, aaO. 25 Beispiel: Vertragsverhandlungen mit einer dritten Gesellschaft, in der das Aufsichtsratsmitglied leitende Funktionen ausübt; eingehend dazu Fleck, aaO. 26 Vgl. noch einmal BGH NJW 1980, 1629. 27 BGHZ 64, 325, 330 (Bayer); 83, 106, 120 (Siemens); 83, 144, 147 (Dynamit Nobel); 83, 151, 154 (Bilfinger + Berger); 99, 211, 216; ausführlich. zum ganzen etwa MünchHdb AG Hoffmann-Becking (Fn. 17), aaO., § 33 Rn. 1 ff.

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ihrer Gesellschaft verpflichtet. Das ist auch die ganz und gar einhellige Meinung in der Literatur. 28 d) Für Unternehmen mit mehr als 2000 Arbeitnehmer – wie die Lufthansa – schreibt das Gesetz in § 7 Abs. 2 MitbestG vor, dass sich unter den Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer eine bestimmte Zahl „Vertreter von Gewerkschaften“ befinden müssen. Ein solcher „Vertreter von Gewerkschaften“ ist Herr Bsirske. Auch diese „Vertreter von Gewerkschaften“ sind Aufsichtsratsmitglieder wie alle anderen auch, mit gleichen Rechten und Pflichten wie diese und mithin ebenfalls ihrer Gesellschaft zu Treue, Loyalität und Schadensabwehr verpflichtet. Auch das ist unstreitig. 29 2. Die bisherigen Überlegungen waren von den allgemeinen Rechten und Pflichten von Aufsichtsratsmitgliedern geprägt, insbesondere von ihren Verhaltenspflichten in „normalen“ Interessenkonflikten. Nunmehr ist den Besonderheiten von Pflichtenlagen nachzugehen, die sich aus Arbeitskämpfen ergeben, an denen Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat einer Gesellschaft und insbesondere Vertreter von Gewerkschaften beteiligt sind. Hier ist zu bedenken, dass nicht die Zufälle des Lebens den Konflikt der Interessen geschaffen haben, sondern das Gesetz selbst. 30 Denn der Arbeitskampf ist ein legitimes Mittel zur Durchsetzung von Forderungen der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften. 31 Das Mittel eines solchen Arbeitskampfes – der Streik oder Warnstreik – aber soll gerade durch Schädigung der Gegenseite – der betreffenden Gesellschaft als Arbeitgeber – diese zur Annahme der Forderungen der Arbeitnehmer veranlassen. Streik also schädigt bewusst das betroffene Unternehmen; und das steht in diametralem Gegensatz zur soeben dargestellten und allgemein akzeptierten Pflicht aller Aufsichtsratsmitglieder zur Schadensabwehr. Würde diese Pflicht unverändert weiter gelten, so wäre die Organisation und Teilnahme der Arbeitnehmervertreter an einem Streik gegen die betreffende Gesellschaft diesen schlicht verboten. Die Mitbestimmung durch Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat wäre so ein Schutzschild gegen Arbeitskämpfe.

28 Vgl. Raiser Mitbestimmungsgesetz, 4. Aufl., § 25 Rn. 119 f.; Hanau/Ulmer, Kommentar zum MitBestG, § 25 Rn. 76 ff., 79; Lutter/Krieger, aaO., Rn. 691; je mit allen Nachweisen. 29 Vgl.; Raiser, aaO., § 25 Rn. 140, 118 ff.; ders., Recht der Kapitalgesellschaften, 3. Aufl., § 15 Rn. 129; Hanau/Ulmer, aaO., § 25 Rn. 97 f. 30 Vgl. Lutter, Rolle und Recht – Überlegungen zur Einwirkung von Rollenkonflikten auf die Rechtsordnung, FS Coing, 1982, Bd. I, S. 565 ff.; Raiser, Mitbestimmungsgesetz, 4. Aufl., § 25 Rn. 118. 31 Vgl. dazu oben sub. II .

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Nun kann man kaum annehmen, dass der Gesetzgeber des MitbestG eine solche Folge seines Gesetzes wollte. Und daher hat die Literatur die verschiedensten Versuche unternommen, diese Normenkollision anders als in einem strikten Verbot zu lösen. 32 3. Herr Bsirske war zum Zeitpunkt des Warnstreiks (16. Dezember 2002) Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di, nicht aber Mitglied der Streikleitung seiner Gewerkschaft, war also am Streikbeschluss persönlich nicht beteiligt, hat diesen aber offen mitgetragen und insbesondere keinen Versuch unternommen, ihn abzuwenden. Als „normales“ Aufsichtsratsmitglied von Lufthansa hätte er mithin gegen seine Pflicht zur Schadensabwehr und Schadensverhinderung verstoßen. Tatsächlich hat der Gesetzgeber in Kenntnis der Tatsache, dass es Aufgabe von Gewerkschaften und ihrer Vertreter ist, Tarifverträge abzuschließen und zu diesem Zweck notfalls auch Streiks zu organisieren 33 bewusst und betont Vertreter solcher Gewerkschaften in die Aufsichtsräte berufen, die gerade im betreffenden Unternehmen vertreten sind und daher für Streiks gegen dieses Unternehmen geradezu prädestiniert sind. Sieht man das, so erkennt man auch, dass das Schädigungsverbot für diesen Fall und für die betreffenden Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat des betreffenden Unternehmens nicht gelten kann. 4. Rechtswidrige Streiks oder Verstöße gegen die dem Aufsichtsratsmitglied obliegende Verschwiegenheitspflicht brauchen hier nicht erörtert zu werden. Problematisch aber und heftig umstritten ist dagegen die Frage der Verantwortlichkeit von Aufsichtsratsmitgliedern bei der Teilnahme an einem rechtmäßigen (legitimen) Streik. Üblicherweise wird dabei zwischen der passiven und der aktiven Teilnahme an dem Streik unterschieden, ohne dass sich freilich das Schrifttum mit der hier interessierenden Frage auseinandersetzt, welche Pflichten das Aufsichtsratsmitglied treffen, wenn der Streik sich nicht gegen „sein“ Unternehmen richtet, sondern das Unternehmen drittbetroffen ist. Unter passiver Streikteilnahme wird allgemein die Teilnahme an dem Streik durch bloße Arbeitsniederlegung verstanden. Diese Form der Beteiligung an einem Streik durch Arbeitnehmervertreter wird von der herr-

32 Beispielhaft seien genannt Raiser, aaO., § 25 Rn. 140 ff. und Marsch-Barner, aaO., § 12 Rn. 79 ff. 33 Vgl. Art. 9 III GG , § 2 I TVG ; Naendrup in Gemeinschaftskommentar zum Mitbestimmungsgesetz, § 25 Rn. 212 ff., 216; zur Gewährleistung des Arbeitskampfes durch Art. 9 III GG : BVerfGE 84, 212, 226; zur Druckausübungsfähigkeit als Voraussetzung für den Gewerkschaftsbegriff vgl. BVerfGE 58, 233, 249; Oetker in Wiedemann (Hrsg.), Kommentar zum Tarifvertragsgesetz, 6. Aufl., § 2 Rn. 306 ff.

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schenden Meinung als zulässig erachtet. 34 Mit der heute herrschenden Meinung ist davon auszugehen, dass die im Mitbestimmungsgesetz zwingend vorgesehene Wahl von Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsrat ausschließt, diesen jegliche, auch passive, Teilnahme an einem Streik gegen das eigene Unternehmen zu untersagen. Denn der Gesetzgeber hat schließlich bewusst das Risiko eines Interessenkonflikts bei einem Streik in Kauf genommen, und diese gesetzgeberische Entscheidung ist zu respektieren. Die Meinungen zur Zulässigkeit aktiver Streikteilnahme gehen dagegen weit auseinander; aktiv wirkt z. B. an einem Streik mit, wer sich als Streikposten betätigt, Streikaufrufe verteilt oder für einen Streik agitiert. Ein Teil des Schrifttums hält jegliche über die passive Teilnahme an einem Streik hinausgehende Beteiligung eines Arbeitnehmervertreters für unzulässig. 35 Der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht des Arbeitnehmervertreters gebühre der Vorrang insoweit, als das Aufsichtsratsmitglied im Falle des Arbeitskampfes nicht aktiv gegen das Unternehmen auftreten dürfe. Ihm stünde kein Rechtfertigungsgrund für ein Handeln zum Nachteil des Unternehmens zur Seite. Dem Interessenkonflikt werde vielmehr hinreichend Rechnung getragen, wenn dem Arbeitnehmervertreter gestattet werde, passiv an dem Streik teilzunehmen. Das arbeitsrechtliche Schrifttum meint dagegen, dass auch die aktive Beteiligung an einem rechtmäßigen Streik (in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit) zulässig sein müsse. 36 Ein genereller Vorrang, so die Vertreter dieser Meinung, des Gesellschaftsrechts vor dem Mitbestimmungsrecht lasse sich nicht postulieren. Das folge schon daraus, dass die gesellschaftsrechtlichen Vorschriften und die damit verbundenen Grundsätze nur dann Anwendung fänden, soweit sich nicht aus den Vorschriften des Mitbestimmungsgesetzes etwas anderes ergebe (§§ 6, 25 MitbestG). Der Meinungsstreit im Schrifttum dauert an. Er braucht hier nicht entschieden zu werden, weil das Handeln des Aufsichtsratsmitgliedes Bsirske sich einerseits nicht unmittelbar gegen „sein“, sondern gegen ein drittes Unternehmen gerichtet hat, das nicht Partei des Tarifkonfliktes ist; andererseits hat sich Herr Bsirske zwar dem Streik von Mitarbeitern der Flughäfen Frankfurt am Main und München nicht widersetzt, sondern ihn zwar verbal 34 Aus der gesellschaftsrechtlichen Literatur dazu etwa Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 4. Aufl. 2002, § 10 Rn. 778; Kölner Komm.-Mertens (Fn. 18), Anhang zu § 177 B § 25 MitbestG Rn. 13, aber auch Edenfeld/Neufang AG 1999, 49, 51 f.; aus der arbeitsrechtlichen Literatur Raiser MitbestG § 25 Rn. 141 und Hanau ZGR 1977, 397, 405. 35 So aus der gesellschaftsrechtlichen Literatur Lutter/Krieger, aaO., § 10 Rn. 778; Kölner Komm.-Mertens (Fn. 18), aaO., Rn. 13 und aus dem arbeitsrechtlichen Schrifttum Kraft in Großkommentar zum BetrVG , 6. Aufl. 1998, § 76 BetrVG 1952 Rn. 135. 36 Aus der gesellschaftsrechtlichen Literatur Möller NZG 2003, 697, 699 und aus der arbeitsrechtlichen statt aller Raiser, aaO. Rn. 142 ff. sowie Hanau/Wackertarth, aaO. (Oben Fn. 5a), S. 75 ff. je mit allen Nachw.; die Entscheidung des OLG München in DB 1954, 995 dürfte überholt sein.

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unterstützt, im übrigen geschehen lassen und ihn nicht durch eigene Aktivitäten befördert, so dass er allenfalls an dem Streik gegen die unmittelbar betroffenen Unternehmen passiv teilgenommen, mithin die ihn in seiner Eigenschaft als Mitglied des Aufsichtsrats der Lufthansa treffenden Pflichten nicht verletzt hat. 5. Da sich Herr Bsirske nicht aktiv in den Warnstreik eingeschaltet hat, wäre sein Verhalten, wäre es denn gegen die Lufthansa direkt gerichtet gewesen, auch nicht pflichtwidrig gewesen. Nun hat sich der Streik vom 16. Dezember 2002 aber nicht gegen die Lufthansa gerichtet, sondern unmittelbar u. a. gegen die Flughafen-Gesellschaften Frankfurt und München. Diesen gegenüber hat Herr Bsirske keine Pflichten zur Schadensabwehr, konnte diese Pflicht also auch nicht verletzen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Zwar haben Arbeitnehmer der Flughäfen Frankfurt und München gestreikt. Und diese Arbeitnehmer waren in ihren Arbeitsverhältnissen vom Tarifkonflikt mit der öffentlichen Hand direkt betroffen, da ihre Arbeitsverhältnisse dem BAT und dem BMTG unterfielen. Aber „eigentlich“ betroffen waren die Fluggesellschaften und hier ganz besonders die Lufthansa. Und das war auch bekannt und gewollt; denn es wurden bewußt und gewollt die wenigen Arbeitnehmer zum Streik aufgerufen, die für die Flughäfen (beteiligt am Tarifkonflikt) und die Fluggesellschaften (nicht beteiligt am Tarifkonflikt) maximale Folgen (Stillstand aller Flugbewegungen) auslösen würden. Man könnte nun sagen: Wenn schon das Verhalten von Herrn Bsirske beim direkten Streik gegen die Lufthansa korrekt gewesen wäre, so doch erst recht hier, wo sich der Konflikt gegen Dritte richtete. Aber das wäre zu schnell geschlossen. Denn – abgesehen von den direkt bestreikten Flughäfen – war die Schädigung der Lufthansa von allen und auch von Herrn Bsirske wenn nicht gewollt, so doch in Kenntnis der zu erwartenden Folgen bewußt in Kauf genommen worden. Fraglich ist also, ob Herr Bsirske verpflichtet gewesen wäre, diesen Schaden von der ganz und gar am Konflikt unbeteiligten Lufthansa abzuwenden, indem er verpflichtet war, Einfluß auf seine Gremien zu nehmen mit dem Ziel, andere Arbeitnehmer den Warnstreik durchführen zu lassen. Streiks schaden nicht nur den direkt beteiligten Unternehmen, sondern auch den davon mittelbar Betroffenen. Ein Streik gegen Stahlhersteller führt nach relativ kurzer Zeit zum Stillstand auch der Autoproduktion, ein Streik gegen Papierhersteller zum Ausfall von Zeitungen etc. Das ist legitim 37 und hinzunehmen, selbst wenn der Schaden der mittelbar Betroffenen (hier 37 Sog. Streiks mit Fernwirkung, vgl. Kissel, Arbeitskampfrecht, 2002, § 49 Rn. 8 ff.; sowie oben II , 2.

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Lufthansa) größer ist, als derjenige der unmittelbar Beteiligten (hier also der Flughäfen).

IV. Verhältnismäßigkeit Zu fragen bleibt damit letztlich, ob sich diese Betrachtung ändert unter Aspekten der Verhältnismäßigkeit. Hier haben ganz wenige Arbeitnehmer wenige Stunden gestreikt und damit einen erheblichen Schaden bei den unmittelbar bestreikten Flughäfen, einen sehr hohen Schaden bei der unbeteiligten Lufthansa und einen immensen Schaden bei weit über 10 000 ganz unbeteiligten Reisenden angerichtet. Hätte also Herr Bsirske wegen des zu erwartenden hohen Schadens bei der Lufthansa Einfluss zur Abwehr des Streikes nehmen müssen? Verhältnismäßigkeit ist ein allgemeines Rechtsprinzip. Es bestimmt im Europarecht die Grenze erlaubter Behinderungen der Freiheiten 38 und ist nach Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts 39 im deutschen Arbeitsrecht unstreitig Rechtmäßigkeitsvoraussetzung eines jeden Streiks. Als zentralen Grundsatz für die Durchführung von Arbeitskämpfen hat der Große Senat des Bundesarbeitsgerichtes wie schon an anderer Stelle ausgeführt, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besonders betont. Es muss jeweils geprüft werden, ob ein Arbeitskampf, ein einzelnes Arbeitskampfmittel und die Intensität seines Einsatzes im konkreten Arbeitskampf geeignet, erforderlich und proportional bzw. angemessen ist. 40 Eine Konkretisierung dieses Grundsatzes erweist sich jedoch als schwierig. Durch streng formulierte Rechtmäßigkeitsvorgaben könnte nämlich das Druckpotential von Arbeitskämpfen verloren gehen. Überdies wären die Gerichte gezwungen, im Hinblick auf die gewählten Mittel, die Tarifziele zu bewerten und zu gewichten. Eine Tarifzensur ist aber im Hinblick auf die durch Art. 9 GG gewährleistete Tarifautonomie auch in dieser mittelbaren und nur kampfbezogenen Form unzulässig. 41 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kann also nur die äußersten Grenzen gesetzmäßigen Handelns bestimmen, nicht aber darf er einen Streik unzumutbar erschweren. Er darf etwa nicht auf eine Existenzvernichtung der Gegenseite abzielen. 42 Der Streik darf also nicht missbraucht werden, und das 38 Vgl. zuletzt EuGH ZIP 2003, 1885, 1892, Ziff. 133 – Inspire Art und EuGH, Slg. 1982, S. 3961 Rn. 12 – Rau; EuGH , Slg. 1991, Slg. I-4007, Rn. 15 Gouda. 39 Seit BAGE 23, 292, 306 ff. – gebilligt durch BVerfGE 84, 212 ff. 40 Vgl. dazu BAG 21. 04. 1971 – AP Nr. 43 zu Art. 9 GG . 41 Vgl. BVerfG 26. 06. 1991 – AP Nr. 117 zu Art. 9 GG – Arbeitskampf und schon BAG 10. 06. 1980 – AP Nr. 64 zu Art. 9 GG . 42 Vgl. oben zu II .2.

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Streikrecht darf nicht objektiv zweckwidrig und rücksichtslos ausgenutzt werden. Diese Grundsätze sind hier eingehalten worden.

V. Summa und Ausblick 1. Der Vorstand der Lufthansa AG hat seinen Aktionären in der Hauptversammlung 2004 also mitteilen müssen, dass sich Herr Bsirske de lege lata nicht pflichtwidrig verhalten und mithin auch nicht schadensersatzpflichtig gemacht hat. Es war für den Vorstand nicht einfach, den Aktionären zu erläutern, dass nach geltendem deutschen Recht ihre eigenen Aufsichtsratsmitglieder berechtigt sind, ihre Gesellschaft jedenfalls passiv zu schädigen. Und das alles kraft zwingenden Rechts. 2. Die hier dargestellte Rechtslage gilt für gut 400 deutsche Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien, 43 darunter alle DAX – 30-Gesellschaften und praktisch alle M-DAX-Gesellschaften. Und diese Rechtslage ist Teil der deutschen Corporate Governance. Die Aussage dazu lautet in diesem Kontext: Nicht nur Arbeitnehmer der Gesellschaft selbst, sondern auch zwei bis drei Vertreter der im Unternehmen vertretenen Gewerkschaften sind in Deutschland paritätisch mit Anteilseigner-Vertretern im Aufsichtsrat der großen Börsengesellschaften vertreten; und diese Arbeitnehmer und Gewerkschafter dürfen auch gegen ihr eigenes Unternehmen unmittelbar und mittelbar streiken. Schon die erste Aussage wird international nur mit Verwunderung zur Kenntnis genommen und ist, wie die Arbeiten an der Europäischen Aktiengesellschaft 44 und der internationalen Fusion 45 und Sitzverlegung 46 gezeigt haben, nicht konsensfähig. Der zweite Aspekt – das Streikrecht dieser Aufsichtsräte – aber wird unser Ansehen bei internationalen Investoren und dem Ansehen unserer Corporate Governance in Deutschland überhaupt deutlich schaden. National und mit gut geschlossenen Grenzen kann man sich solche Widersprüche und Sonderheiten vielleicht leisten und vielleicht befrieden. 47 International gilt das nicht. Hier stehen die deutschen Unter43 Mitbestimmung 4/2002, S. 75; inkl. GmbH und Genossenschaft sind es heute 750 gegenüber ursprünglich (1976) rund 450 Unternehmen. 44 Heinze, ZGR 2002, 66; Lutter, BB 2002, 1; Lutter, Die Europäische Aktiengesellschaft, 1976; Lutter, Europäisches Unternehmensrecht, 4. Aufl., 1996, S. 68. 45 Lutter, Die Europäische Aktiengesellschaft, 1976, S. 327 ff.; Maul/Teichmann/Wenz BB 2003, 2633; Lutter, Europäisches Unternehmensrecht, 4. Aufl., 1996, S. 71 ff. 46 Lutter, Europäisches Unternehmensrecht, 4. Aufl., 1996, S. 41 f.; 10. Bonner Europasymposion, Grenzüberschreitende Sitzverlegung in der EU , 1998, Teil 1 und 2. 47 Raiser, Mitbestimmungsgesetz, 4. Aufl. 2002, § 25 MitbestG, Rn. 140 ff. und Lutter, Rolle und Recht, FS Coing, 1982, Bd. I, S. 565 ff.

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nehmen in offenem Wettbewerb nicht nur hinsichtlich ihrer Produkte und Leistungen, sondern auch wegen ihrer Finanzierung am Kapitalmarkt. Dort stehen den großen internationalen Investoren alle Alternativen offen. Warum sollten sie da ein Unternehmen wählen, dessen stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender gegen das eigene Unternehmen streiken darf und die von ihm geleitete Organisation den Streik organisiert? Diese jedenfalls heute und 30 Jahre nach der Verabschiedung des MitbestG hochproblematische Lösung bedarf um unserer internationalen Wettbewerbsfähigkeit willen dringend der Anpassung. 48

48 So zutr. Hlmer, ZHR 166 (2002), 271 ff.; dieser Aspekt wird von Hanau/Wackertarth, aaO. (Oben Fn. 5a) leider nicht thematisiert.

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„Altfälle“ im Recht der Pflichtangebote Peter O. Mülbert

Inhaltsübersicht Seite

I. Einleitung und Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Meinungsstand und Untersuchungsgang . . . . . . . . . . . . . . III. Kontrolle und Kontrollerlangung als Schlüsselbegriffe des § 35 WpÜG 1. Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der einheitliche Kontrollbegriff der §§ 29 ff., 35 ff. WpÜG . . b) Der formale Kontrollbegriff der §§ 29 ff., 35 ff. WpÜG . . . . 2. Kontrollerlangung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Stellenwert der materiellen Kontrolle im WpÜG . . . . . . . . 1. Die Regelung des Übernahmeangebots . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Regelung des Pflichtangebots . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausnahmsweise Nichtberücksichtigung von Stimmrechten . . b) Befreiung von der Veröffentlichungs- und der Angebotspflicht auch bei materieller Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . c) Befreiung von der Veröffentlichungs- und der Angebotspflicht wegen fehlender materieller Kontrolle . . . . . . . . . . . . d) Das Hinzutreten der materiellen zur formalen Kontrolle . . . V. Die Behandlung von Altfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tatbestandliche Ausklammerung der Altfälle aus dem zeitlichpersonalen Anwendungsbereich des WpÜG . . . . . . . . . . . 2. Hinzutreten der materiellen Kontrolle bei Altfällen . . . . . . . VI. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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283 284 287

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I. Einleitung und Problemaufriss § 35 WpÜG verpflichtet denjenigen, der die Kontrolle an einer börsennotierten Aktien(ziel)gesellschaft erlangt, diese Tatsache unverzüglich zu veröffentlichen und den Aktionären in den folgenden vier Wochen ein Pflichtangebot zu unterbreiten, sofern nicht die Kontrollerlangung auf Grund eines Übernahmeanbots eintrat. Kontrolle wird durch das Halten von mindestens 30 % der Stimmrechte an einer Zielgesellschaft vermittelt (§ 29 Abs. 2 WpÜG ). Bestand eine die Kontrolle begründende Beteiligung bereits bei Inkrafttreten des WpÜG am 1. Januar 2002, spricht man für gewöhnlich von einem Altfall. Ein solcher bleibt auch dann erhalten, wenn die Kontroll-

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beteiligung nachträglich im Wege der Universalsukzession, etwa kraft Erbschaft oder übertragender Verschmelzung, auf einen Rechtsnachfolger übergeht.1 Eine ausdrückliche (Übergangs-)Regelung für Altfälle fehlt. § 68 Abs. 3 Satz 1 WpÜG bestimmt lediglich, dass derjenige dem Pflichtenprogramm des § 35 WpÜG unterliegt, der die Kontrolle nach dem 1. Januar 2002 aufgrund eines Angebots erlangt, das vor diesem Datum veröffentlicht wurde. Im Übrigen sah der Gesetzgeber die „Altfälle“ von § 35 WpÜG schon deswegen nicht berührt, weil „[b]ei Inkrafttreten des Gesetzes bestehende kontrollierende Beteiligungen … keine Veröffentlichungspflicht nach Absatz 1 und keine Verpflichtung zur Abgabe eines Angebots nach Absatz 2 aus[lösen], da hier die Kontrolle nicht erlangt wird, sondern bereits besteht“. 2 Mit diesem amtlich begründenden Hinweis ist die Altfallproblematik freilich nicht erschöpft. „Altfälle“ können, ohne dass dies bislang Beachtung gefunden hätte, auch heute noch jederzeit neu entstehen. Dies gilt jedenfalls dann, 3 wenn eine Gesellschaft erstmals an die Börse geht und die Konzernobergesellschaft oder ein herrschender Privataktionär mindestens 30 % der Stimmrechtsanteile zurückbehält. In Einzelfällen kann eine Gesellschaft sogar mit zwei unabhängigen, d. h. nicht qua Stimmrechtszurechnung gemäß § 30 WpÜG verbundenen Kontrollaktionären ins Börsenleben treten, da das Mindestvolumen für einen erstmaligen Börsengang nach § 9 BörsZulV lediglich 25 % der Aktien einer Gattung beträgt und unter bestimmten Voraussetzungen sogar noch darunter liegen darf. Dass der bzw. die kontrollierenden Altaktionäre nach dem erfolgten Börsengang nicht zu einem Pflichtangebot nach § 35 WpÜG verpflichtet sein können, liegt auf der Hand. Es wäre nachgerade absurd, wenn der Altaktionär ein Pflichtangebot unterbreiten müsste, obwohl er die an der Börse eingeführten Aktien hierfür überhaupt erst aus seinem Bestand zur Verfügung gestellt hat. Eine abweichende Behandlung ist aber auch dann nicht veranlasst, wenn diese Ak1 Ekkenga/Schulz in: Ehricke/Ekkenga/Oechsler WpÜG , 2003, § 35 Rn. 2; Schlitt, in: Münchener Kommentar zur AktG, Bd. 9/1, 2. Aufl., 2004, § 35 WpÜG Rn. 151. Für den Gesamtrechtsnachfolger besteht also auch ohne einen Nichtzurechnungsbescheid der BaFin nach § 36 WpÜG keine Angebotspflicht. Das gilt selbst dann, wenn er zuvor schon Aktien der Zielgesellschaft hielt. 2 Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von öffentlichen Angeboten zum Erwerb von Wertpapieren und von Unternehmensübernahmen, BTDrucks. 14/7034 v. 5. 10. 2001, S. 59. 3 Eine Art „Altfall“ kann auch daraus resultieren, dass das BaFin einen Kontrollerwerber nach § 37 WpÜG von der Angebotspflicht befreit und – gegebenenfalls ermessenswidrig – von der Beifügung von Nebenbestimmungen oder Auflagen absieht, die die Wirkung der Befreiung für die Zukunft entsprechend eingrenzen (dazu s. IV. 2. d. (3)). Demgegenüber dürfte sich die Wirkung eines von der BaFin gemäß § 36 WpÜG antragsgemäß erlassenen Nichtberücksichtigungsbescheids darauf beschränken, dass die freigestellten Stimmrechte für die Berechnung der Kontrollerlangung außer Ansatz bleiben ( IV. 2. a.).

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tien von dritter Seite stammen. Denn sie werden vom Anlagepublikum in Kenntnis vom Bestehen einer Kontrollbeteiligung und der Person des Kontrollinhabers erworben. Im Normtext des § 35 Abs. 1 WpÜG lässt sich die Einschränkung bezüglich „neuer Altfälle“ daran festmachen, dass der Kontrollinhaber die Beteiligung vor der Unterstellung unter den personalen Anwendungsbereich des WpÜG erlangt hat. Die für„alte“ und „neue“ Altfälle gleichermaßen geltende Einschränkung des § 35 WpÜG hat nach dem Wortlaut der Norm zur Folge, dass eine nachträgliche, d. h. im Anwendungsbereich des WpÜG sich ergebende Intensivierung der von der kontrollierenden Altbeteiligung vermittelnden Einwirkungsmöglichkeiten pflichtangebotsrechtlich irrelevant ist. Anders gewendet muss der Kontrollinhaber auch dann kein Pflichtangebot unterbreiten, wenn sich der beteiligungsvermittelte Einfluss quantitativ oder gar qualitativ (Stichwort Hauptversammlungsmehrheit) erhöht. Als nachträgliche Veränderung im Vordergrund steht, dass der Kontrollinhaber weitere Anteile erwirbt, die ihm je nach Höhe der ursprünglichen Kontrollbeteiligung gegebenenfalls sogar überhaupt erst die Hauptversammlungsmehrheit und damit die materielle Kontrolle der Zielgesellschaft verschaffen. Im Einzelfall kann der Kontrollinhaber die Anteile sogar gerade von demjenigen Aktionär hinzuerwerben, der bislang eine noch höhere Kontrollbeteiligung hielt (s. § 9 Satz 2 Nr. 1 WpÜG -Angeb otsVO ). Einzubeziehen sind aber auch Fälle der passiven Stärkung seines Einflusspotentials, etwa wenn die Gesellschaft eigene Aktien zurückerwirbt oder wenn er aufgrund sinkender Präsenzquoten nunmehr die gesicherte Hauptversammlungsmehrheit hält. Aktuelle Entwicklungen geben Anlass, die pflichtangebotsrechtlichen Handlungsspielräume des Inhabers einer kontrollierenden Altbeteiligung über den Gesetzeswortlaut hinausgehend zu analysieren. Zum einen zeichnet sich eine Belebung des in den Jahren 2002 und 2003 praktisch zusammengebrochenen IPO -Marktes ab, und einige der zu erwartenden Börsengänge dürften mit der Generierung „neuer Altfälle“ einhergehen. Zum anderen stieg die Tchibo AG unlängst zum einzigen Kontrollaktionär der Beiersdorff AG auf, indem sie einen erheblichen Teil des bis dahin von der Allianz AG gehaltenen größeren Aktienpakets erwarb, ohne dabei zugleich ein Pflichtangebot nach § 35 WpÜG vorzulegen. 4 Die Frage, inwieweit dies der lex lata entspricht, mag zukünftig noch im einen oder anderen Altfall von Interesse werden.

4 Zu weiteren problematischen Rechtsfragen dieses Vorgangs – acting in concert (§ 30 Abs. 2 WpÜG ) beim lediglich abgestimmten Erwerb, Einbindung der Finanzmittel der Zielgesellschaft mittels abgesprochenem Rückkauf eigener Aktien – s. Mülbert Börsenzeitung v. 24. 10. 2003, Nr. 205, S. 10.

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II. Meinungsstand und Untersuchungsgang § 35 WpÜG trifft keine besondere Regelung für den Fall, dass der Inhaber einer Kontrollbeteiligung nachträglich weitere Anteile erwirbt. Das gilt auch für den Hinzuerwerb auf der Basis eines „Altfalles“. Dieses Schweigen des Gesetzes lässt sich aber jedenfalls für Altfälle nicht als eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers gegen jede diesbezügliche Rechtsfortbildung in Anspruch nehmen. 5 Zwar verwarf der Finanzausschuss einen Ergänzungsantrag, der auf die Erfassung von Übergangsfällen zielte. Gesetzestechnisch ging der Antrag jedoch dahin, den Kontrollinhaber zur Vorlage eines (neuen) Pflichtangebots für den Fall zu verpflichten, dass er innerhalb eines Kalenderjahres weitere zwei Prozent der Stimmrechtsanteile hinzuerwirbt. Dass der Finanzausschuss gegen diese multiple Zwei-Prozent-Lösung mit dem Hinweis auf eine andernfalls zu befürchtende Verkomplizierung und Bürokratisierung des WpÜG votierte, 6 lässt sich nicht in eine Absage an jede materiellen Gerechtigkeitsgedanken verpflichtete Rechtsfortbildung umdeuten. Vor diesem Hintergrund nimmt das Schrifttum praktisch durchweg an, dass der Inhaber einer Kontrollbeteiligung im Grundsatz weitere Aktien der Zielgesellschaft nach Inkrafttreten des WpÜG hinzuerwerben kann, ohne durch diese Aufstockung seiner Beteiligung den Verpflichtungen aus § 35 WpÜG zu unterfallen. 7 Meinungsunterschiede ergeben sich aber, soweit der Altfall bei hypothetischer Betrachtung den Befreiungsvoraussetzungen des § 37 WpÜG i.V.m. § 9 Satz 2 Nr. 1, 2 WpÜG -Angeb otsVO genügt hätte und sich dies nach Inkrafttreten des Gesetzes ändert. Die jeweiligen Extreme des Meinungsspektrums nehmen ohne weiteres an, dass die Altfallprivilegierung auch insoweit uneingeschränkt zum Tragen komme8 bzw., genau gegenteilig, dass beim nachträglichen Wegfall der Befreiungsvoraussetzungen

5 A.A., aber zu undifferenziert, Zschocke DB 2002, 79, 84; Ehricke in: Ehricke/Ekkenga/ Oechsler (Fn. 1) § 68 Rn. 5. Neben den zugänglichen Dokumenten zum Verfahren im Finanzausschuss liegen Sachverhaltsdarstellung und Schlussfolgerungen von Geibel/Süßmann BKR 2002, 52, 62. 6 S. Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses zum dem Gesetzentwurf der Bundesregierung u. a., BT-Drucks. 14/7477 v. 14. 11. 2001, S. 51. 7 Z.B. Meyer in: Geibel/Süßmann WpÜG , 2002, § 35 Rn. 42; Steinmeyer/Häger WpÜG 2002, § 35 Rn. 39; Kopp/von Dryander in: Apfelbacher/Barthelmess/Buhl/Dryander German Takeover Law, 2002, S. 319 f. Rn. 8; v. Bülow in: Hirte/v. Bülow (Hrsg.), Kölner Kommentar zum WpÜG , 2002, § 35 Rn. 99; KölnKomm/Schäfer ebenda, § 68 Rn. 15; Ehricke in: Ehricke/Ekkenga/Oechsler (Fn. 1) § 68 Rn. 5; MünchKommAktG/Schlitt (Fn. 1) § 35 WpÜG Rn. 150; Ekkenga/Hofschroer DStR 2002, 768, 777; Zschocke DB 2002, 79, 84. 8 Hommelhoff/Witt in: Haarmann/Riehmer/Schüppen (Hrsg.), Öffentliche Übernahmeangebote, 2002, § 35 Rn. 22 i.V.m. § 37 Rn. 17 Fn. 12; KölnKomm/v. Bülow (Fn. 7) § 35 Rn. 99; Habersack ZHR 166 (2002), 619, 623 f.

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die Veröffentlichungs- und Angebotspflicht entstehe. 9 Zurückhaltendere Stimmen weisen darauf hin, dass der Anlegerschutz als ratio des § 35 WpÜG in diesen Fällen zwar die Veröffentlichung gemäß Abs. 1 und die Abgabe eines Pflichtangebots gemäß Abs. 2 erfordere, doch sei diese Norminterpretation mit dem auf die Kontrolldefinition des § 29 Abs. 2 WpÜG Bezug nehmenden Gesetzeswortlaut nicht zu vereinbaren und das Erfordernis eines Pflichtangebots daher nicht zu begründen.10 Andere lassen ganz offen, ob eine Verpflichtung analog § 35 WpÜG bestehen könne, merken aber immerhin an, dass der Altaktionär bei Verneinung der Angebotspflicht einen höheren Preis als jeder andere Erwerber zahlen könne, da jene durchweg der Angebotspflicht unterlägen.11 Insgesamt ist ein Unbehagen in Teilen des Schrifttums jedenfalls für den Fall unübersehbar, dass der Inhaber einer formalen Kontrollposition nach Inkrafttreten des WpÜG zusätzlich auch die materielle Kontrolle erlangt, etwa als Folge sinkender Hauptversammlungspräsenzen oder weil ein bislang einen höheren Stimmrechtsanteil innehabender Aktionär seine Kontrollposition abbaut oder ganz auflöst. Andererseits mahnt die Entstehungsgeschichte des WpÜG zur Vorsicht gegenüber der Annahme, dass diese nachträglichen Geschehnisse eine Veröffentlichungs- und Angebotspflicht des kontrollierenden Aktionärs gemäß § 35 Wp ÜG (analog?) nach sich ziehen müssen. Ein diffuses Unbehagen, gegebenenfalls ergänzt um die pauschale Berufung auf die Ziele des WpÜG , würde als Begründung hierfür jedenfalls manifest zu kurz greifen. Denn der Gesetzgeber entschied sich eindeutig dafür, Altfälle von der Angebotspflicht des § 35 WpÜG auszunehmen, auch wenn er den Umfang dieser Altfallprivilegierung nicht bis in alle Einzelheiten hinein festschrieb. Angesichts dieser gegenläufigen Aspekte sind im Folgenden vorab die Grundlagen für eine Untersuchung der Altfallproblematik aufzubereiten. Hierfür ist zunächst der pflichtenbegründende Kerntatbestand des § 35 Abs. 1, 2 WpÜG – die Erlangung der (formalen) Kontrolle – auszuleuchten ( III .) und sodann der Stellenwert der materiellen Kontrolle im Recht der Pflichtangebote herauszuarbeiten ( IV.). Erst nach dieser Grundlegung wird der Umfang der vom Gesetz(geber) gewollten Altfallprivilegierung im Einzelnen auszumessen sein (V.). 9 S. Steinmeyer/Häger (Fn. 7) § 35 Rn. 40, die unter – für sich genommen zutreffendem – Hinweis auf den Charakter des § 37 WpÜG als Ermessensentscheidung zusätzlich verlangen, dass eine Ermessensreduzierung auf Null eingetreten ist (ebenda Fn. 49). Beim Wort genommen würde dies zu dem sinnwidrigen Ergebnis führen, dass der Kontrollinhaber stets dann ein Pflichtangebot abgeben müsste, wenn er bei Verwirklichung des gesamten Vorgangs nach Inkrafttreten des WpÜG sogar einen Anspruch darauf hätte, nach § 37 WpÜG von der Verpflichtung zur Abgabe eines Pflichtangebots befreit zu werden. 10 Meyer in: Geibel/Süßmann (Fn. 7) § 35 Rn. 42. 11 Diregger/Winner WM 2002, 1583, 1585 f.

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III. Kontrolle und Kontrollerlangung als Schlüsselbegriffe des § 35 WpÜG Die Veröffentlichungs- und die Angebotspflicht ist in § 35 WpÜG an zwei zentrale Tatbestandsvoraussetzungen geknüpft: Kontrolle und (Kontroll-) Erlangung. 1. Kontrolle a) Der einheitliche Kontrollbegriff der §§ 29 ff., 35 ff. WpÜG Der Begriff der Kontrolle in § 35 WpÜG wird nach allgemeiner Ansicht durch die Definition des § 29 Abs. 2 WpÜG vorgegeben, wonach „Kontrolle … das Halten von mindestens 30 Prozent der Stimmrechte an der Zielgesellschaft“ ist. Diese Begriffsbestimmung steht zwar an der Spitze der Vorschriften des Abschnitts 4 des WpÜG , der die auf den Erwerb der Kontrolle abzielenden freiwilligen Übernahmeangebote regelt. Doch folgt die Maßgeblichkeit dieser Definition aus Wortlaut und Systematik des WpÜG : § 39 WpÜG unterwirft Pflichtangebote den Bestimmungen der Abschnitte 3 und 4, ohne § 29 WpÜG unter den hiervon ausgenommenen Vorschriften aufzuführen; § 35 Abs. 1 Satz 3 WpÜG setzt die Anwendung der in Abschnitt 4 enthaltenen Zurechnungsvorschriften (§ 30 WpÜG ) ausdrücklich voraus; § 35 Abs. 3 WpÜG schließlich nimmt denjenigen von der Veröffentlichungs- und der Angebotspflicht der Abs. 1 und 2 aus, der die Kontrolle über die Zielgesellschaft aufgrund eines Übernahmeangebots erlangt hat, also eines definitionsgemäß auf den Erwerb der Kontrolle i.S.d. § 29 Abs. 2 WpÜG gerichteten freiwilligen Erwerbsangebots. Zugrunde liegt dieser Verknüpfung die Absicht des Gesetzgebers, ein Pflichtangebot für den Fall entbehrlich zu machen, dass die Kontrollerlangung i.S.d. Pflichtangebotsregeln aufgrund eines freiwilligen Übernahmeangebots erfolgt ist.12 Das setzt zum einen voraus, dass die (Mindest)-Konditionen eines Übernahmeangebots denjenigen eines (hypothetischen) Pflichtangebots zu entsprechen haben,13 und bedingt zum anderen die vorliegend interessierende Konsequenz, dass die §§ 35 ff. WpÜG und die §§ 29 ff. WpÜG einen identischen Kontrollbegriff zugrunde legen. b) Der formale Kontrollbegriff der §§ 29 ff., 35 ff. WpÜG Die Definition der Kontrolle in § 29 Abs. 2 WpÜG stellt allein auf das quantitative Kriterium eines Stimmrechtsanteils von 30 % ab, der nach den 12 13

RegBeg E-WpÜG (Fn. 2) S. 30, 60. RegBeg E-WpÜG (Fn. 2) S. 30, 60.

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Vorgaben der Regierungsbegründung auf der Basis der absoluten Zahl der Stimmrechte in der Zielgesellschaft zu berechnen ist, also auch unter Einbeziehung der vom Ruhen des Stimmrechts (z. B. §§ 71b, 328 Abs. 1 AktG, § 28 WpHG) betroffenen Stammaktien.14 Allerdings ist eine Stimmrechtsbeteiligung von 30 % weder stets hinreichend, um qua Hauptversammlungsmehrheit bestimmenden Einfluss (= materielle Kontrolle) auf die Willensbildung der Hauptversammlung und, dadurch vermittelt, auf diejenige von Aufsichtsrat und Vorstand ausüben zu können, noch ist eine Beteiligung in dieser Höhe stets notwendige Voraussetzung für die Ausübung eines kontrollierenden Einflusses. Mit der Festlegung einer starren Kontrollschwelle entschied sich der Gesetzgeber des WpÜG also dafür, die Regelung der §§ 29 ff., 35 ff. WpÜG konzeptionell auf einem formalen und nicht auf einem materiellen Kontrollbegriff zu gründen. Für diese Entscheidung zugunsten eines formalen Kontrollbegriffs in Form eines starren Prozentsatzes waren mehrere Beweggründe unterschiedlicher Qualität maßgebend: Neben der Orientierung an entsprechenden Regelungen in anderen europäischen Ländern trage sie auch der durchschnittlichen Aktionärspräsenz in den Hauptversammlungen deutscher Aktiengesellschaften und der Tatsache Rechnung, dass eine Stimmrechtsbeteiligung von 30 % in den meisten Fällen eine Hauptversammlungsmehrheit begründe; andererseits solle die Möglichkeit des Erwerbs gesellschaftsrechtlicher Minderheitsbeteiligungen – gemeint ist wohl: einer Sperrminorität – nicht völlig verschlossen werden.15 Ergänzend biete die Wahl eines festen, von der jeweiligen Hauptversammlungspräsenz unabhängigen Schwellenwerts den Vorteil klarer, für den Markt erkennbarer Vorgaben sowie einer erleichterten Ermittlung der Beteiligungsverhältnisse.16 Insgesamt war die Wahl der 30 %-Schwelle also neben dem Bemühen um den europäischen Regelungsgleichklang maßgeblich durch die gesetzgeberische Vorstellung motiviert, dass bei Innehabung der am Maßstab des § 29 Abs. 2 WpÜG bemessenen formalen Kontrolle typischerweise zugleich auch die materielle Kontrolle gegeben ist.

14 RegBeg E-WpÜG (Fn. 2) S. 53; ebenso die wohl h.M. im Schrifttum; z. B. KölnKomm/v. Bülow (Fn. 7) § 29 Rn. 129; MünchKommAktG/Schlitt (Fn. 1) § 35 WpÜG Rn. 89; Adolff/Meister/Randell/Stephan Public Company Takeovers in Germany, 2002, S. 118 i.V.m. S. 93, 238; Riehmer in: Haarmann/Riehmer/Schüppen (Fn. 8) § 29 Rn. 38; Süßmann in: Geibel/Süßmann (Fn. 7) § 29 Rn. 29 f; Lohrmann/von Dryander in: Apfelbacher/Barthelmess/Buhl/Dryander (Fn. 7) S. 246 Rn. 9; Ekkenga/Hofschroer DStR 2002, 768, 773; a.A. für die von den Ausübungsschranken der §§ 71b, 328 Abs. 1 AktG betroffenen Stimmrechte Fleischer/Körber BB 2001, 2589, 2593 f.; Fleischer/Kalss Das neue Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz, 2002, S. 113 f.; Steinmeyer/Häger (Fn. 7) § 29 Rn. 40; Harbarth ZIP 2002, 321, 326 f. 15 RegBeg E-WpÜG (Fn. 2) S. 30. 16 RegBeg E-WpÜG (Fn. 2) S. 82.

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2. Kontrollerlangung Für das Tatbestandselement „Erlangung“ (der formalen Kontrolle) i.S.d. § 35 Abs. 1 WpÜG wird im Anschluss an die Regierungsbegründung praktisch durchweg ein denkbar weites Verständnis dieses Merkmals verfochten.17 Diese weite Auslegung ist gesetzlich schon dadurch vorgezeichnet, dass die Kontrolle nicht nur mittels des Erwerbs der Inhaberschaft an den Stimmrechten erlangt werden kann, sondern auch dadurch, dass seitens eines Dritten erworbene Stimmrechte unter den Voraussetzungen des § 30 (i.V.m. § 39) WpÜG zugerechnet werden. In der Konsequenz führen gegebenenfalls auch solche Vorgänge zur Erlangung der Kontrolle, die der Kontrollerwerber – anders als etwa im Falle der Vererbung (Stichwort Ausschlagung) – durch eigenes Tun überhaupt nicht vermeiden kann, es sei denn, mittels Veräußerung der von ihm gehaltenen Aktien. So kann etwa, um nur ein Beispiel anzuführen, der Inhaber stimmrechtsloser Vorzugsaktien bei entsprechender Streuung der Stamm- und Vorzugsaktien deswegen die Kontrolle erlangen, weil das Stimmrecht aus den Vorzugsaktien wegen fehlender Bezahlung des Vorzugs auflebt (§ 140 Abs. 2 AktG),18 und gegenläufig kann ein Inhaber von Stammaktien dadurch zum Kontrollinhaber avancieren, dass die Gesellschaft den rückständigen Vorzugsbetrag nachzahlt und damit das Stimmrecht aus den Vorzugsaktien zum neuerlichen Ruhen bringt. In Sachverhalten wie diesen tritt die eigentümliche Bedeutung des Merkmals „Erlangung“ i.S.d. § 35 WpÜG deutlich zu Tage. Damit verbinden sich nicht etwa, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte, inhaltliche Mindestanforderungen an den Erwerbstatbestand, etwa das Erfordernis eines intentionalen Verhaltens des Kontrollinhabers oder eines ihm im weitesten Sinne zurechenbaren Erwerbs. Vielmehr erfordert dieses Tatbestandselement den Vergleich zweier Stimmrechtsbeteiligungsszenarien: Kontrolle ist erlangt (bzw. verloren), wenn die Berechnung des Stimmrechtsanteils für das eine Szenario einen Anteil von weniger als 30 % und für das andere Szenario einen Anteil von mindestens 30 % ergibt. Kürzer gesagt bemisst sich die „Erlangung“ der Kontrolle anhand des Vergleichs der jeweiligen Stimmrechtsbeteiligungsstrukturen zu zwei verschiedenen Zeitpunkten.

17 S. RegBeg E-WpÜG (Fn. 2) S. 59: unerheblich ist, auf welche Weise die Kontrolle erlangt wurde. Dem folgend etwa MünchKommAktG/Schlitt (Fn. 1) § 35 WpÜG Rn. 68; Hommelhoff/Witt in: Haarmann/Riehmer/Schüppen (Fn. 8) § 35 Rn. 17; Meyer in: Geibel/ Süßmann (Fn. 7) § 35 Rn. 26: ausführlicher Ekkenga/Schulz in: Ehricke/Ekkenga/Oechsler (Fn. 1) § 35 Rn. 14 ff.; Fleischer/Kalss (Fn. 14) S. 135 ff.; Fleischer/Körber BB 2001, 2589, 2593–2595. 18 KölnKomm/v. Bülow (Fn. 7) § 29 Rn. 83; Ekkenga/Schulz in: Ehricke/Ekkenga/Oechsler (Fn. 1) § 35 Rn. 22; Riehmer in: Haarmann/Riehmer/Schüppen (Fn. 8) § 29 Rn. 40; Fleischer/Kalss (Fn. 14) S. 112, 113; wohl auch Süßmann in: Geibel/Süßmann (Fn. 7) § 29 Rn. 24.

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IV. Der Stellenwert der materiellen Kontrolle im WpÜG Eine starre Kontrollschwelle wie diejenige des § 29 Abs. 2 WpÜG eröffnet die Möglichkeit, dass der Anwendungsbereich der Übernahme- und Pflichtangebotsregeln im Einzelfall den vom Gesetz verfolgten Regelungszwecken nur unvollkommen gerecht wird. Das gilt zuvörderst für den Fall, dass die materielle Kontrolle bereits mit weniger als 30 % der Stimmrechte ausgeübt werden kann.19 Mit der regelungstechnischen Alternative eines materiellen Kontrollbegriffs hätte der Gesetzgeber diese in Teilen des Schrifttums kritisch beleuchteten Divergenzen 20 zwar ganz vermeiden können. Jedoch hat er sich, wie soeben bereits angesprochen, 21 bei § 29 Abs. 2 WpÜG bewusst für die Regelungsalternative einer formalen Kontrollschwelle entschieden und diesen von den konkreten Umständen des Einzelfalles abstrahierenden Regelungsansatz mit der Maßgabe noch zusätzlich intensiviert, dass die Berechnung auf der Basis der absoluten Zahl der Stimmrechte in der Zielgesellschaft zu erfolgen hat, d. h. auch unter Berücksichtigung der Stammaktien mit ruhendem Stimmrecht. 22 Gleichwohl bleibt angesichts der §§ 36, 37 WpÜG die Frage, ob der Gesetzgeber diese Entscheidung zugunsten eines rein formalen Kontrollbegriffs konsequent durchgehalten hat. Anders gewendet knüpft sich an diese Regelungen die Frage, ob das WpÜG der materiellen Kontrolle, d. h. der Hauptversammlungskontrolle (s. § 9 Satz 2 Nr. 1, 2 WpÜG Angeb otsVO ), 23 einen eigenen Stellenwert zumisst oder ob der materielle Kontrollbegriff im Rahmen der Regelung des Übernahme- oder/und des Pflichtangebots völlig hinter die numerisch formalisierte Kontrollschwelle zurücktritt.

Für weitere Beispiele s. unten bei Fn. 40. Zur Abweichung gegenüber dem aktienrechtlichen Abhängigkeitsbegriff s. Mülbert ZIP 2001, 1221, 1225 ff.; zust. Diregger/Winner WM 2002, 1583, 1585; Habersack ZHR 166 (2002), 619, 623 f. 21 Unter III . 1. b. 22 S. oben bei Fn. 14. 23 Hauptversammlungskontrolle erfordert zumindest die tatsächliche Mehrheit in der Hauptversammlung (§ 9 Satz 2 Nr. 2 WpÜG -Angeb otsVO ) sowie ergänzend, dass kein anderer über einen höheren Stimmrechtsanteil verfügt (§ 9 Satz 2 Nr. 1 WpÜG -AngebotsVO). Im zweiten Fall vermittelt die niedrigere Beteiligung allerdings nur dann die tatsächliche Hauptversammlungsmehrheit, wenn der Inhaber der höheren Beteiligung auf der Hauptversammlung nur mit einem Teil seiner Aktien bzw. überhaupt nicht vertreten ist. Angesichts dieser Zusammenhänge ist die Reihenfolge der Befreiungstatbestände in § 9 Satz 2 Nr. 1, 2 WpÜG -Angeb otsVO mit pragmatischen und nicht mit systematisch-ordnenden Erwägungen zu erklären. 19

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1. Die Regelung des Übernahmeangebots Die in den §§ 29 ff. WpÜG vorgenommene Regelung der Übernahmeangebote bietet keinerlei Ansatzpunkte für die Berücksichtigung der tatsächlichen Kontrolle. Das gilt sowohl für den Fall der tatsächlichen Kontrolle unterhalb des 30 %-Stimmrechtsanteils als auch für den gegenläufigen Fall, dass ein mittels eines öffentlichen Angebots erworbener Stimmrechtsanteil von mehr als 30 % noch keine tatsächliche Kontrolle ermöglicht. Weder erlauben die §§ 29 ff. WpÜG die ausnahmsweise Nichtzurechnung von Stimmrechten an den Bieter noch eröffnen sie die Möglichkeit, dass dieser sich in Ausnahmefällen auf ein Teilangebot beschränken darf. Selbst für den Fall, dass ein anderer Aktionär bereits einen Stimmrechtsanteil von über 30 % hält und der Bieter lediglich eine dahinter zurückbleibende Kontrollposition erwerben möchte, muss er ein Vollübernahmeangebot abgeben und darf sich nicht auf ein entsprechend zugeschnittenes Teilangebot beschränken (s. § 32 WpÜG ). 2. Die Regelung des Pflichtangebots Die Regelung des Pflichtangebots unterscheidet sich demgegenüber in zweierlei Hinsicht signifikant von derjenigen des Übernahmeangebots. a) Ausnahmsweise Nichtberücksichtigung von Stimmrechten Eine erste Abweichung gegenüber der Regelung des Übernahmeangebots enthält § 36 WpÜG . Danach hat die BaFin für bestimmte Formen des Aktienerwerbs durch rechtsgestaltenden Verwaltungsakt zuzulassen, dass die Stimmrechte aus diesen Aktien bei der Berechnung des Stimmrechtsanteils i.S.d. § 35 WpÜG unberücksichtigt bleiben. Diese Regelung bedeutet bei näherer Analyse jedoch keine Durchbrechung des formalen zugunsten eines materiellen Kontrollbegriffs. Vielmehr geht es darum, die am Spezialfall des öffentlichen Übernahmeangebots orientierte Kontrollschwelle des § 29 Abs. 2 WpÜG den für Pflichtangebote relevanten Besonderheiten anzupassen. Das ergibt sich aus folgendem: Die in § 36 WpÜG enumerativ aufgeführten Erwerbstatbestände sind durchweg solche, bei denen der Aktienerwerb nicht im Wege eines öffentlichen Übernahmeangebots erfolgt. Indem diese Vorgänge bei der Berechnung des Stimmrechtsanteils ausgeklammert werden dürfen, bewertet das Gesetz die Interessen des Erwerbers dieser Stimmrechte an der Nichtabgabe eines Pflichtangebots höher als die Interessen der Aktionäre, die andernfalls in den Genuss eines Angebots kämen. Unabhängig vom zugrunde gelegten – formalen oder materiellen – Kontrollbegriff gibt die Eigenart des Erwerbsvorgangs nach der Vorstellung des Gesetzgebers Anlass, die Innehabung einer zum Pflichtangebot verpflichtenden Kontrollposition zu verneinen.

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Gesetzgebungstechnisch ließe sich diese Wertung bei einer separaten Regelung des Übernahme- und des Pflichtangebots durch eine entsprechende tatbestandliche Eingrenzungen des das Pflichtangebot auslösenden Kontrolltatbestands umsetzen. Demgegenüber bedingt die Regelungskonzeption des WpÜG eine abweichende Lösung. Die in § 35 Abs. 3 WpÜG vorgenommene funktionale Verknüpfung von Übernahme- und Pflichtangebot erfordert, wie dargelegt, 24 notwendig einen einheitlichen Kontrollbegriff für die beiden Angebotsformen. Soll zudem die Regelung des Pflichtangebots für alle Formen des – öffentlichen und privaten – Kontrollerwerbs einen einheitlichen Kontrollbegriff vorsehen und soll sie zugleich gewisse Binnendifferenzierungen je nach konkretem Erwerbsvorgang leisten, bleibt allein die Anordnung, dass im Einzelfall bestimmte Stimmrechte bei der Ermittlung des Stimmrechtsanteils nicht einzubeziehen sind. § 36 WpÜG ist letztlich nur eine Variante dieser Regelungstechnik, indem das Gesetz einen auf Antrag ergehenden gebundenen Nichtberücksichtigungsbescheid der BaFin für den Fall vorschreibt, dass bestimmte Erwerbstatbestände vorliegen. b) Befreiung von der Veröffentlichungs- und der Angebotspflicht auch bei materieller Kontrolle Der in § 36 WpÜG zum Ausdruck kommende Rechtsgedanke erfährt in § 37 Abs. 1 WpÜG eine Fortschreibung – mit allerdings ganz andersartiger Regelungstechnik –, soweit die BaFin den Bieter von der Veröffentlichungsund der Angebotspflicht mit Rücksicht auf die „Art der Erlangung“, die „mit der Erlangung der Kontrolle beabsichtigte Zielsetzung“ und die „nach Erlangung der Kontrolle erfolgendes Unterschreiten der Kontrollschwelle“ ermessensgebunden befreien kann. Der denkbar enge Sachzusammenhang zwischen diesen Befreiungstatbeständen und dem Regelungsanliegen des § 36 WpÜG wird besonders deutlich, soweit die näheren Konkretisierungen dieser Befreiungsmöglichkeiten in § 9 WpÜG -Angeb otsVO explizit an die Tatbestände des § 36 WpÜG anschließen und diese für nahe verwandte Sachverhalte fortschreiben (s. § 9 Satz 1 Nr. 1, 2 WpÜG -Angeb otsVO ). c) Befreiung von der Veröffentlichungs- und der Angebotspflicht wegen fehlender materieller Kontrolle Demgegenüber ist der Gesichtspunkt der materiellen Kontrolle im Rahmen des § 37 WpÜG von Bedeutung, soweit die BaFin eine ermessensgebundene Befreiung von der Veröffentlichungs- und der Angebotspflicht mit Rücksicht auf die „Beteiligungsverhältnisse an der Zielgesellschaft“ und die „tatsächliche Möglichkeit zur Ausübung der Kontrolle“ aussprechen kann. 24

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Besonders deutlich tritt dies in der näheren Normkonkretisierung durch § 9 Satz 2 Nr. 1 bzw. Nr. 2 WpÜG -Angeb otsVO zu Tage, wonach die höhere Stimmrechtsbeteiligung eines Dritten an der Gesellschaft oder die in den Verhältnissen der letzten drei ordentlichen Hauptversammlungen begründete Erwartung, dass der Kontrollinhaber in der nächsten Hauptversammlung der Gesellschaft nicht mehr als 50 % der Stimmrechte innehaben wird, jeweils eine Befreiungsmöglichkeit begründen. Mit umgekehrter Wirkrichtung unterstreichen diese Regelungen zugleich, dass das Gesetz auch für das Pflichtangebot vom formalen Kontrollbegriff in Gestalt einer auf die Gesamtzahl der abstrakt stimmberechtigten Aktien bezogenen Kontrollschwelle ausgeht. Angesichts dieser bewussten Regelungsintention steht der vereinzelte Vorschlag, den Kontrolltatbestand des § 29 Abs. 2 WpÜG mit Blick auf die Anwendung der Pflichtangebotsvorschriften für den Fall teleologisch zu reduzieren, dass ein Dritter eine noch höhere Kontrollbeteiligung hält, 25 im offenkundigen Widerspruch zur klaren gesetzgeberischen Regelungsintention. 26 d) Das Hinzutreten der materiellen zur formalen Kontrolle Die Fortschreibung der soeben diskutierten Konstellation, nämlich das spätere Hinzutreten der materiellen zur bereits bestehenden formalen Kontrolle, ist demgegenüber im Rahmen der §§ 35 ff. WpÜG grundsätzlich ohne Bedeutung. (1) In der Sache resultiert diese grundsätzliche Irrelevanz der materiellen Kontrolle aus der regelungstechnischen Gesamtkonzeption der §§ 35 ff. WpÜG : Erstens kann die Veröffentlichungs- und die Angebotspflicht überhaupt nur unter den Voraussetzungen des § 35 WpÜG begründet sein, zweitens legt § 35 WpÜG für alle Fälle der pflichtenbegründenden Kontrollerlangung einen einheitlichen Maßstab zugrunde, und drittens stellt § 35 WpÜG für den maßgeblichen Kontrolltatbestand allein auf eine numerische Kontrollschwelle und damit einen formalen Kontrollbegriff ab. Das Zusammenwirken dieser drei Regelungselemente hat zwangsläufig zur Folge, dass die Erlangung der materiellen Kontrolle im Rahmen der §§ 35 ff. WpÜG keinen relevanten pflichtenbegründenden Tatbestand darstellen kann. (2) Allenfalls auf indirektem Wege vermag die nachträgliche Erlangung (auch) der materiellen Kontrolle zur Veröffentlichungs- und Angebotspflicht des § 35 WpÜG führen. Einfallstor hierfür ist die Ausgestaltung der Befreiungsentscheidung in § 37 WpÜG als einer Ermessensentscheidung. Oechsler NZG 2001, 817, 825. Zur durchgängigen Ablehnung dieses Vorschlags im Schrifttum s. nur Thoma NZG 2002, 105, 111; Letzel BKR 2002, 293, 300; Ekkenga/Hofschroer DStR 2002, 768, 772; Ekkenga/Schulz in: Ehricke/Ekkenga/Oechsler (Fn. 1) § 35 Rn. 14. 25 26

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Dies eröffnet der BaFin gemäß § 36 Abs. 2 VwVfG nämlich die Möglichkeit, die Befreiungsentscheidung mit Nebenbedingungen, etwa einer Befristung oder einer auflösenden Bedingung, oder mit Auflagen zu versehen. Daran anknüpfend führt die Regierungsbegründung für den Befreiungstatbestand des § 9 Satz 2 Nr. 1 WpÜG -Angeb otsVO – Fall des höheren Stimmrechtsanteils eines Dritten – aus, dass sich das ursprüngliche Fehlen tatsächlicher Kontrolle im Zeitablauf ändern könne und dass die Möglichkeit der Beifügung von Nebenbedingungen oder Auflagen es der BaFin erlaube, eine für den jeweiligen Einzelfall angemessene Regelung zu treffen und Umgehungen der gesetzlichen Verpflichtungen zu begegnen27 Ganz gleichsinnig findet sich zum Befreiungstatbestand des § 9 Satz 2 Nr. 2 WpÜG -Angeb otsVO – Fall der fehlenden Stimmrechtsmehrheit auf den letzten drei ordentlichen Hauptversammlungen – der Hinweis, dass die BaFin bei ihrer Entscheidung über die Befreiung von den Pflichten des § 35 WpÜG auch die voraussichtliche Entwicklung der künftigen Hauptversammlungspräsenz zu berücksichtigen habe und dass sie angesichts der Ungewissheit solcher Prognoseentscheidungen insbesondere die Befristung einer etwaigen Befreiung zu prüfen habe.28 Beide Passagen bringen unmissverständlich zum Ausdruck, dass eine auf den Tatbestand des § 9 Satz 2 Nr. 1 oder Nr. 2 WpÜG -Angeb otsVO gestützte Befreiung von den Pflichten aus § 35 WpÜG nur solange in Betracht kommt, als der Inhaber der formellen Kontrolle nicht zugleich auch die materielle Kontrolle erlangt, und dass die BaFin diese Restriktion der Befreiungsentscheidung mittels Beifügung entsprechend zugeschnittener Nebenbedingungen oder Auflagen herzustellen hat. 29 Praktisch gesehen scheint in diesen Fällen also (erst) das Hinzutreten der materiellen Kontrolle die Veröffentlichungs- und die Angebotspflicht zu begründen. 30 RegBeg E-WpÜG (Fn. 2) S. 82. RegBeg E-WpÜG (Fn. 2) S. 82. 29 Schon im Ausgangspunkt unzutreffend daher Harbarth ZIP 2002, 321, 324 r. Sp., der die Geltung der Befreiungsentscheidung exakt auf den der BaFin im Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Sachverhalt beschränkt, indem er annimmt, dass trotz des Vorliegens einer Befreiung bereits der Hinzuerwerb einer einzelnen Stimme (und nicht erst der Erwerb einer signifikanten Tranche) eine erstmals entstehende Angebotspflicht begründet. Demgegenüber will der Gesetzgeber mit den im Text genannten Überlegungen die Befreiungswirkung auf Sachverhalte beziehen, die das Tatbestandmerkmal „Erlangung der Kontrolle (i.S.d. § 29 Abs. 2 WpÜG)“ erfüllen, so dass nicht einmal der nachträgliche Hinzuerwerb eines signifikanten Aktienpakets zur – ohnehin nur in besonders gelagerten Fällen anzunehmenden (s. nur Kopp/ Ramsauer VwVfG, 8. Aufl., 2003, § 48 Rn. 34) – Gegenstandslosigkeit der von der BaFin erlassenen Befreiungsentscheidung führen kann. Wie hier jedenfalls i.E. MünchKommAktG/ Schlitt (Fn. 1) § 37 WpÜG Rn. 71; KölnKomm/Versteegen (Fn. 7) § 37 Rn. 75; Meyer in: Geibel/Süßmann (Fn. 7) § 37 Rn. 54; Habersack ZHR 166 (2002), 619, 623 f.; a.A. Steinmeyer/Häger (Fn. 7) § 37 Rn. 47: keine Geltung bei wesentlicher (?) Änderung des Sachverhalts. 30 S. auch Diregger/Winner WM 2002, 1583, 1585: mit der Befreiung unter Beifügung einer entsprechenden Nebenbedingung wird materielle Kontrollbegriff praktisch nachgeschoben. 27 28

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(3) Rechtstechnisch gesehen kommt allerdings ein ganz anderer Regelungsmechanismus zum Tragen: Die Befreiungsentscheidung der BaFin bewirkt nach der Konzeption des WpÜG keinen endgültigen Dispens von der Veröffentlichungs- und der Angebotspflicht, sondern lediglich deren temporäre Außerkraftsetzung für den Geltungszeitraum dieser Entscheidung. Mit dem Ende dieser Befreiung greifen die Pflichten aus § 35 WpÜG unter den dort genannten Voraussetzungen, also beim Bestehen formaler Kontrolle i.S.d. § 29 Abs. 2 WpÜG , wieder durch, und zwar ganz unabhängig von dem das Ende der Befreiung herbeiführenden Umstand (Fristablauf, Bedingungseintritt bzw. -ausfall, Widerruf nach § 49 Abs. 2 VwVfG etc.). 31 Anders gewendet handelt es sich bei der Regelung des § 37 WpÜG i.V.m. § 9 WpÜG -Angeb otsVO nicht darum, dass die Veröffentlichungs- und die Angebotspflicht durch das Hinzutreten der materiellen Kontrolle ausgelöst würden. Vielmehr erlaubt diese Regelung lediglich die temporäre Außerkraftsetzung dieser Pflichten für den Zeitraum fehlender tatsächlicher Kontrolle. Diese Zusammenhänge werden nicht dadurch in Frage gestellt, dass einzelne Stimmen im Schrifttum einer Befreiungsentscheidung der BaFin nach § 37 WpÜG die Wirkung zumessen, dass die Pflichten aus § 35 WpÜG mit dem Ende der Befreiungswirkung neuerlich 32 bzw. sogar erstmals in diesem Moment entstehen. 33 Beide Positionen gehen daran vorbei, dass die Pflichten aus § 35 WpÜG mit Ablauf der Befreiung schon deswegen nicht neu(erlich) entstehen können, weil es in diesem Zeitpunkt am Tatbestandsmerkmal der erstmaligen „Erlangung“ der Kontrolle fehlt. Erlangt i.S.d. § 35 WpÜG wurde die Kontrollposition nämlich schon zuvor, und zwar sogar notwendigerweise, weil eben die Kontrollerlangung überhaupt erst die Voraussetzung für eine daran anknüpfende Befreiungsentscheidung der BaFin nach § 37 WpÜG schafft. Dieses Bestehen formaler Kontrolle bleibt auch von einer positiven Befreiungsentscheidung ganz unberührt. Diese wirkt 31 In den Kategorien des Verwaltungsrechts handelt es sich bei der in § 37 WpÜG vorgesehenen Befreiungsentscheidung um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (s. nur Stelkens/Stelkens in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 6. Aufl., 2001, § 35 Rn. 149 ff.; Henneke in: Knack, VwVfG, 8. Aufl., 2004, § 35 Rn. 95). Ob diese bei einer nachträglichen Veränderung der Sachlage als rechtswidriger VA nach § 48 VwVfG zurückzunehmen oder als rechtmäßiger VA zu widerrufen sind, bestimmt sich unter Geltung des VwVfG nach dem Erlasszeitpunkt. S. Stelkens/Stelkens ebenda, § 44 Rn. 22, 25; Knack/Meyer ebenda, vor § 43 Rn. 47, 50 ff.; ferner auch Kopp/Ramsauer (Fn. 29) § 48 Rn. 33 f. 32 Steinmeyer/Häger (Fn. 7) § 35 Rn. 9; wohl auch Cahn ZHR 167 (2003), 262, 295, wonach die Pflichten aus § 35 WpÜG mit Zustellung des gerichtlichen Beschlusses über die Aufhebung der Befreiungsentscheidung entstehen. 33 Vgl. Harbarth ZIP 2002, 321, 324 r. Sp. mit seinen Überlegungen dazu, ob beim nachträglichen Erwerb von Stimmrechten während (!) des Vorliegens einer Befreiung bereits der Hinzuerwerb einer einzelnen Stimme oder erst derjenige einer signifikanten Tranche die erstmalige Angebotspflicht begründet (anders freilich S. 331 r. Sp.: Pflichten aus § 35 Abs. 1 Satz 1 WpÜG leben wieder auf).

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anders als die Nichtberücksichtigungsentscheidung nach § 36 WpÜG nämlich nicht auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 35 WpÜG ein, sondern suspendiert allein die dort angeordnete Rechtsfolge. 34 (4) Die eingangs dieses Gliederungspunkts vor (1) getroffene Feststellung von der grundsätzlichen Irrelevanz der Erlangung materieller Kontrolle für das Pflichtangebot lässt sich nach Vorstehendem nunmehr noch etwas präziser fassen: Auch beim Vorliegen einer Befreiung gemäß § 37 WpÜG knüpft die spätere Entstehung der Veröffentlichungs- und der Angebotspflicht nicht daran an, dass der Inhaber der formalen Kontrolle nachträglich auch noch die materielle Kontrolle erlangt. Maßgeblich ist vielmehr der Gesichtspunkt, dass ab diesem Moment bzw., genauer, ab dem Zeitpunkt, in dem die Befreiung durch die BaFin abläuft, die Suspendierung der Veröffentlichungs- und der Angebotspflicht endet. Im Rahmen der §§ 35 ff. WpÜG spielt letztlich also allein das Fehlen tatsächlicher Kontrolle eine Rolle, nicht deren späteres Hinzutreten. (5) Dieser Befund, darauf sei noch ergänzend hingewiesen, steht nicht etwa im Widerspruch zum Regelungsziel des WpÜG , die Rechtsposition der Aktionäre bei einem Wechsel in der Person des kontrollierenden Aktionärs zu verbessern. Er entspricht vielmehr ganz und gar der die Regelungskonzeption der §§ 29 ff., 35 ff. WpÜG bestimmenden Leitvorstellung des Gesetzgebers, dass die Innehabung der formalen Kontrolle angesichts der in § 29 Abs. 2 WpÜG gewählten Kontrollschwelle regelmäßig zugleich die Möglichkeit impliziert, tatsächliche Kontrolle auszuüben. Denn bei diesem Ausgangspunkt kann zwar das Fehlen der tatsächlichen Kontrolle als Anknüpfungspunkt für etwaige Ausnahmen von der Pflichtangebotsregel dienen, nicht aber ist es regelungstechnisch denkbar, dass erst das spätere Hinzutreten der materiellen Kontrolle die Veröffentlichungs- und die Angebotspflicht des Inhabers der formalen Kontrolle positiv begründet.

V. Die Behandlung von Altfällen 1. Tatbestandliche Ausklammerung der Altfälle aus dem zeitlich-personalen Anwendungsbereich des WpÜG Ausgangspunkt für die Behandlung von Altfällen muss die bereits erwähnte Äußerung der Regierungsbegründung sein, wonach der Kontrollinhaber mangels Erlangung der Kontrolle keiner Veröffentlichungs- und Angebotspflicht unterliegt, wenn er schon bei Inkrafttreten des WpÜG über einen 30 %igen Stimmrechtsanteil und damit über die formale Kontrolle ver34 I.E. wie hier auch MünchKommAktG/Schlitt (Fn. 1) § 37 WpÜG Rn. 59; KölnKomm/Versteegen (Fn. 7) § 37 Rn. 75.

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fügte. 35 Der Vergleich der verschiedenen, ab Inkrafttreten des WpÜG sich ergebenden Stimmrechtsbeteiligungslagen, so lässt sich diese Aussage im Lichte der hiesigen Präzisierungen zum Tatbestandsmerkmal „Erlangung“ reformulieren, 36 ergibt in diesen Fällen keine relevante Veränderung i.S. einer erstmaligen Überschreitung der Kontrollschwelle des § 29 Abs. 2 WpÜG . Wendet man die von der Regierungsbegründung angenommene Altfallprivilegierung ins Regelungstechnische, handelt es sich darum, dass der Erwerbstatbestand des § 35 WpÜG vollumfänglich im zeitlich-personalen Anwendungsbereich des WpÜG verwirklicht sein muss. Diese Eingrenzung ist bereits im Normtext selbst angelegt. Das Wort „erlangt“ impliziert für den Erwerbstatbestand im Gegensatz zu Formulierungsalternativen wie „erlangt hat“ oder gar „hält“ einen eindeutigen Gegenwartsbezug. Ganz im Einklang damit ist auch die Übergangsvorschrift des § 68 WpÜG angelegt. Sie stellt insoweit zwar keine unmittelbar anwendbaren Regeln bereit. Jedoch korrespondiert die von der Regierungsbegründung angenommene Begrenzung der relevanten Erwerbsvorgänge in der Sache exakt mit der Regelung des § 68 Abs. 3 Satz 1 WpÜG , wonach ein Bieter dann dem Pflichtenprogramm des § 35 Abs. 1, 2 WpÜG unterliegt, wenn er die Kontrolle aufgrund eines vor dem 1. Januar 2002 veröffentlichten Erwerbsangebots erst nach dem 1. Januar 2002 erlangt. Diese Bestimmung besagt bei sachgerechter Auslegung ihrer einleitenden Wendung „Wer nach dem 1. Januar die Kontrolle … erlangt“ i.S. einer Kontrollerlangung nach dem Ablauf des 31. Dezember 200137 nämlich nichts anderes, als dass die Pflichten aus § 35 Abs. 1, 2 WpÜG nur dann bestehen, wenn die formale Kontrolle (erst) unter Geltung des WpÜG erlangt wird, nicht jedoch – so der unabweisbare Gegenschluss – bei Erlangung der Kontrolle schon vor Inkrafttreten des Gesetzes. Das in den §§ 35 Abs. 1, 68 Abs. 3 Satz 1 WpÜG niedergelegte Erfordernis, dass sich der Tatbestand der Kontrollerlangung i.S.d. § 35 WpÜG im zeitlich-personalen Anwendungsbereich des WpÜG verwirklicht, erscheint für „alte“ Altfälle im Übrigen auch verfassungsrechtlich geboten oder gar unumgänglich. 38 Kämen die Pflichten aus § 35 WpÜG auch im Falle einer Kontrollerlangung vor Inkrafttreten des WpÜG zum Tragen, würde es sich bei dieser Regelung nämlich um einen klaren Fall der echten Rückwirkung eines Private belastenden Gesetzes handeln. S. oben bei Fn. 2. S. oben III . 2. 37 S. aber auch Süßmann in: Geibel/Süßmann (Fn. 7) § 68 Rn. 5 ff., der infolge seines engen Festhaltens am Normtext für den 1. Januar 2002 eine ungewollte Regelungslücke konstatieren muss, die er sodann in analoger Anwendung des § 68 Abs. 3 WpÜG schließen möchte. 38 So zu Recht etwa Altmeppen ZIP 2001, 1073, 181. 35 36

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Ergänzend sei noch angemerkt, dass die Altfallprivilegierung selbstverständlich – und erst recht – einem Kontrollinhaber zugute kommt, der bei erstmaliger Einbeziehung in den zeitlich-personalen Anwendungsbereich des WpÜG lediglich die formale und nicht zugleich auch die tatsächliche Kontrolle innehatte, etwa weil die Voraussetzungen der Befreiungstatbestände gemäß § 9 Satz 2 Nr. 1 bzw. Nr. 2 WpÜG -Angeb otsVO vorlagen. Dagegen lässt sich auch nicht einwenden, dass der Inhaber der bloß formalen Kontrolle nach Inkrafttreten des WpÜG einen Befreiungsantrag gemäß § 37 WpÜG i.V.m. § 9 Satz 2 Nr. 1, 2 WpÜG -Angeb otsVO stellen und sich damit jedenfalls im Ergebnis der Veröffentlichungs- und der Angebotspflicht entziehen könne, wogegen der zugleich über die tatsächliche Kontrolle gebietende Kontrollinhaber dieser Möglichkeit entbehre und daher eines anderweitigen Befreiungsmechanismus bedürfe. Denn dieser Lösungsansatz würde den Inhaber der bloß formalen Kontrolle in der Sache letztlich so stellen, als hätte er seine Kontrollposition erst nach Inkrafttreten des WpÜG erlangt. Zudem stünde die Befreiung im Ermessen der BaFin, könnte von dieser mit Nebenbestimmungen und Auflagen versehen und unter den Voraussetzungen des § 49 Abs. 2 VwVfG sogar widerrufen werden. Insgesamt würde für die Altfälle der Inhaber der bloß formalen Kontrolle also deutlich schlechter gestellt als der zugleich über die materielle Kontrolle gebietende Kontrollinhaber, ein den Regelungsprinzipien des WpÜG klar zuwiderlaufendes Resultat. 2. Hinzutreten der materiellen Kontrolle bei Altfällen Erlangt in einem Altfall der Kontrollinhaber nachträglich, d. h. im Anwendungsbereich des WpÜG , auch die materielle Kontrolle – etwa durch den Hinzuerwerb weiterer Stimmrechte am Markt bzw. ein öffentliches Teilangebot oder durch private Transaktionen, durch den Hinzuerwerb weiterer Aktien vom bisherigen Inhaber der tatsächlichen Kontrolle oder dadurch, dass dieser einen Teil oder sogar die Gesamtheit seiner Aktien breiter streut – begründet (auch) dieser Umstand keine Pflichten nach § 35 Abs. 1, 2 WpÜG . Das folgt in Fortführung der bisherigen Überlegungen wiederum zunächst daraus, dass es in diesen Fällen an der für § 35 WpÜG maßgeblichen Erlangung der formalen Kontrolle im zeitlich-personalen Anwendungsbereich des WpÜG fehlt. Zum andern konnte bereits festgestellt werden, 39 dass allein der Umstand, dass die materielle zur bestehenden formalen Kontrolle hinzukommt, mit Blick auf den das Pflichtangebot auslösenden Kontrolltatbestand irrelevant ist, und diese Wertung kommt auch dann zum Tragen, wenn die formale Kontrolle als Altfall bereits bestand, ehe die Kontrollbeteiligung in den Anwendungsbereich des WpÜG geriet. 39

Oben unter IV. 2. d.

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Demgegenüber vermag der allgemein gehaltene Hinweis auf den Anlegerschutz als der ratio des WpÜG zu keinem anderen Ergebnis führen. Kraft der bewussten Entscheidung des Gesetzgebers basiert der von den Pflichtangebotsregeln zu leistende Anlegerschutz bzw., in diesem Zusammenhang vorzugswürdig, Aktionärsschutz nicht auf einem materiellen Kontrollbegriff. Vielmehr gründet er in einem durch die Freistellungs- bzw. Befreiungstatbestände der §§ 36, 37 WpÜG lediglich in Randbereichen modifizierten formalen Kontrollbegriff. Mit dieser Fundierung nahm der Gesetzgeber gewisse Schutzdefizite gegenüber einem strikt auf den materiellen Kontrollbegriff hin geordneten Pflichtangebotsrecht in Kauf. Das betrifft nicht allein den bereits erwähnten Fall, dass die materielle Kontrolle schon mit weniger als 30 % der Stimmrechte ausgeübt werden kann. Hierher gehört weiter, dass die formale Kontrolle mittels eines pflichtangebotsneutralen Erwerbs nach § 36 Nr. 1 WpÜG erlangt wurde und der Kontrollinhaber mit weiteren Zuerwerben nunmehr die materielle Kontrolle erlangt, 40 dass der nicht über ein Vetorecht verfügende „Juniorpartner“ eines Stimmrechtskonsortiums ein Aktienpaket von einem Poolmitglied oder einem Dritten mit der Folge hinzuerwirbt, dass er aufgrund der Ausgestaltung des Poolvertrags nunmehr über die Stimmenmehrheit disponieren kann, oder dass bei einer vermögensverwaltenden Personengesellschaft oder einem Gemeinschaftsunternehmen in Form einer Personengesellschaft nur noch ein Gesellschafter verbleibt. Diese verbleibenden Divergenzen in der jeweiligen Feinabstimmung hat der Gesetzgeber durchaus gesehen, gleichwohl aber an seiner Regelungskonzeption festgehalten. Daher müssen vorgebliche Detailkorrekturen des WpÜG mit dem Ziel eines verbesserten Aktionärsschutzes jedenfalls insoweit unterbleiben, als sie der gesetzlichen Grundkonzeption zuwiderlaufen. Dieser Aspekt erheischt gerade auch im vorliegenden Zusammenhang Beachtung. Erlangt der vom Pflichtangebotserfordernis durch eine Entscheidung der BaFin gemäß § 37 Abs. 1 WpÜG befreite Kontrollaktionär nachträglich auch die materielle Kontrolle, leben seine Verpflichtungen aus § 35 Abs. 1, 2 WpÜG , wie oben näher dargelegt, 41 nicht aufgrund dieses Umstandes wieder auf, sondern erst mit Ablauf der befreienden Wirkung des Verwaltungsakts. Solange dieser fortwirkt und nicht infolge einer entsprechenden Nebenbedingung endet oder von der BaFin nach § 49 VwVfG widerrufen wird, bleibt es bei der Suspendierung der Pflichten aus § 35 Abs. 1, 2 WpÜG . 42 Übertragen auf die vorliegende Altfallproblematik liegt das funktionale Äquivalent zur individuellen Befreiungsentscheidung der BaFin in 40 Anderes gilt nur, wenn schon die Summe des nicht gemäß § 36 WpÜG freigestellten Altbestands an Stimmrechten und des Hinzuerwerbs zur Erlangung der Kontrolle führt. 41 Unter IV. 2. d. (3). 42 Zutreffend MünchKommAktG/Schlitt (Fn. 1) § 35 WpÜG Rn. 71a. E, 73.

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der vom Wortlaut dieser Norm („Erlangung“) vermittelten generellen Privilegierung aller Altfälle. Diese vom Gesetz vermittelte Privilegierungswirkung ist – zwar nicht denknotwendig, wohl aber aufgrund der konkret vom Gesetzgeber getroffenen Regelung – zeitlich unbefristet. Es hieße daher die Regelungskonzeption der §§ 35 ff. WpÜG geradezu auf den Kopf zu stellen, wollte man trotz dieser funktionalen Parallele zwischen der vom Gesetz vorgenommenen per se-Befreiung und der vom BaFin im Einzelfall ausgesprochenen Befreiung annehmen, dass bei Altfällen die Verpflichtungen aus § 35 Abs. 1, 2 WpÜG auch durch das nachträgliche Hinzutreten der tatsächlichen Kontrolle begründet werden.

VI. Ergebnisse Um einen Altfall im Recht der Pflichtangebote handelt es sich, wenn eine Kontrollbeteiligung bereits bei Inkrafttreten des WpÜG am 1. Januar 2002 bestand oder wenn eine Gesellschaft nach diesem Zeitpunkt mit einem oder mehreren kontrollierenden Altaktionären erstmals an die Börse geht. In diesen Altfällen besteht keine Pflicht des oder der kontrollierenden Aktionäre zur Vorlage eines Pflichtangebots. Das resultiert daraus, dass die Erlangung der Kontrolle i.S.d. § 35 Abs. 1, 2 WpüG jeweils außerhalb des zeitlich-personalen Anwendungsbereichs des WpÜG eintritt. Bei einem Altfall entstehen die Pflichten aus § 35 Abs. 1, 2 WpÜG für den Kontrollinhaber auch nicht dann, wenn er zusätzlich auch die materielle Kontrolle (Stichwort Hauptversammlungsmehrheit) der Zielgesellschaft erlangt. Dieses Ergebnis gilt gleichermaßen für sämtliche Gestaltungsvarianten einer nachträglichen Erlangung auch der materiellen Kontrolle, also sowohl für den Stimmrechtserwerb vom bislang größten Aktionär oder von Dritten als auch für den Fall, dass der bislang über das größte Aktienpaket verfügende Aktionär seine Position entsprechend reduziert.

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Innenbereichsrelevante Zustimmungsvorbehalte stiller Gesellschafter im GmbH- und Aktienrecht 0 Hans- Joachim Priester* Inhaltsübersicht Seite

I. Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Atypische stille Beteiligungsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsposition typischer stiller Gesellschafter . . . . . . . . . 2. Atypische Mitwirkungsrechte des Stillen . . . . . . . . . . . . III. Kapitalgesellschaftsrechtliche Grenzen von Zustimmungsvorbehalten 1. Satzungsänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Organbesetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bestimmte Geschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Wirkungen zulässiger Zustimmungsvorbehalte . . . . . . . . . . 1. Keine innerkorporativen Befugnisse . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schuldrechtliche Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schadensersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kündigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ermächtigung durch die Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mehrheit und Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Außenwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Abhilfe durch Unternehmensverträge? . . . . . . . . . . . . . . . VII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Thema Die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen von Verträgen, in denen sich eine Kapitalgesellschaft, also eine Aktiengesellschaft oder eine GmbH, Dritten gegenüber zu Maßnahmen verpflichtet, die in den Entscheidungsbereich der Gesellschafter gehören, ist noch wenig erörtert.1 *0 Frau Notarassessorin Dr. Nicola Fenner, Hamburg, danke ich für tatkräftige Unterstützung. 1 Gewichtige Ausnahmen machen der Aufsatz von Fleck ZGR 1988, 104 ff. und die Monographie von Herfs, Einwirkung Dritter auf den Willensbildungsprozess der GmbH, 1994,

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Hans-Joachim Priester

Ihren weiteren Kontext bildet das Verhältnis von Satzungsrecht und schuldrechtlichen Vereinbarungen. Betroffen sind hier einmal die satzungsüberlagernden bzw. satzungsergänzenden Nebenordnungen. Bei ihnen handelt es sich um Vereinbarungen einzelner oder auch aller Gesellschafter untereinander.2 Angesprochen sind ferner Verträge zwischen Gesellschaftern und Dritten, nicht zuletzt hinsichtlich einer Stimmbindung der Gesellschafter.3 Hier soll es um Verträge der Gesellschaft mit Dritten gehen. Solche innenbereichsrelevanten Verträge sind in den letzten Jahren vor allem in Gestalt von stillen Beteiligungen an sog. Start-Up-Gesellschaften durch Venture Capital-Geber praktisch relevant geworden. 4 Diese wollten ihr finanzielles Engagement dadurch absichern, dass sie sich bei Hingabe der stillen Einlagen vertragsmäßig Mitwirkungs-, insbesondere Zustimmungsrechte zu bestimmten innergesellschaftlichen Maßnahmen ausbedungen haben. Ein schöner Beispielsfall hat dem Bayerischen Obersten Landesgericht zur Entscheidung vorgelegen: 5 Die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) hatte mit einer GmbH einen Rahmenvertrag geschlossen, wonach sie dieser ein nachrangiges Darlehen gewährte und ihr dafür bestimmte Rechte zustehen sollten. Jedwede Änderung im Kreis der Gesellschafter oder der Satzung der GmbH bedurfte der vorherigen Zustimmung der KfW. Gleiches galt für die Bestellung und Abberufung der Geschäftsführer. Außerdem war ein Katalog zustimmungsbedürftiger Geschäfte festgelegt. Zulässigkeit und gesellschaftsrechtliche Grenzen derartiger Zustimmungsvorbehalte im Rahmen atypisch stiller Beteiligungsverträge sind das nachfolgend zu behandelnde Thema. Dabei soll die GmbH im Vordergrund stehen, die Aktiengesellschaft aber nicht ausgeblendet bleiben. Drei Fragen stellen sich: Erstens, ob und in welchem Umfang Zustimmungsvorbehalte Dritter kapitalgesellschaftsrechtlich zulässig sind, zweitens, welche Bindungen solche Abreden entfalten können sowie drittens, ob die Geschäftsführer bzw. Vorstandsmitglieder bei ihrer Vereinbarung durch einen Gesellschafterbeschluss legitimiert sein müssen und ob diesem eine Außenwirkung zukommt.

jeweils für die GmbH und der Aufsatz von Bachmann/Veil ZIP 1999, 348 ff. für die Aktiengesellschaft. 2 Dazu etwa: Baumann/Reiss ZGR 1989, 157 ff.; Hoffmann-Becking ZGR 1994, 442 ff.; Noack, Gesellschaftervereinbarung bei Kapitalgesellschaften, 1994; M. Winter, Satzung und schuldrechtliche Gesellschaftervereinbarungen in: Henze/Timm/H. P. Westermann (Hrsg.), Gesellschaftsrecht 1995, RWS -Forum 8, 1996, S. 131 ff. 3 Zur Problematik der Stimmbindung von Gesellschaftern gegenüber Dritten vgl. für das GmbH-Recht die Nachweise bei Karsten Schmidt in Scholz, Kommentar zum GmbH-Gesetz, 9. Aufl., 2002, § 47 Rn. 42; zur AG Hüffer Aktiengesetz, 6. Aufl., 2004, § 133 Rn. 27. 4 Zu derartigen Beteiligungsverträgen Weitnauer NZG 2001, 1065 ff: Zetzsche NZG 2002, 942 ff.; Maidl/Kreifels, NZG 2003, 1091 ff. 5 BayObLG DB 2003, 1270 = GmbHR 2003, 534 m. Anm. Weigl.

Innenbereichsrelevante Zustimmungsvorbehalte stiller Gesellschafter

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Wenn diese Überlegungen Thomas Raiser gewidmet werden, so geschieht das im Hinblick auf sein starkes Interesse an Kapitalgesellschaften, denen er nicht nur zahlreiche Einzeluntersuchungen, 6 sondern vor allem auch eine eindrucksvolle Kommentierung 7 und ein bedeutendes Buch gewidmet hat. 8

II. Atypische stille Beteiligungsverträge 1. Rechtsposition typischer stiller Gesellschafter Nach dem gesetzlichen Grundmuster des § 230 HGB stellt sich die stille Gesellschaft als ein qualifiziertes Kreditverhältnis dar.9 Der Stille hat seine Einlage in das Vermögen des Geschäftsinhabers zu leisten. Dafür steht ihm zwingend ein Anteil an dessen Gewinn zu. Eine bloße Verzinsung genügt nicht, eine feste Gewinngarantie ist dagegen unschädlich.10 Seine Verlustbeteiligung kann abbedungen werden (§ 231 Abs. 2 HGB) und wird nach gesetzlicher Regel durch den Betrag der Einlage begrenzt (§ 232 Abs. 2 Satz 1 HGB). Die Kontrollrechte des stillen Gesellschafters gegenüber dem Geschäftsinhaber sind dürftig. Er kann die abschriftliche Mitteilung des Jahresabschlusses verlangen und dessen Richtigkeit unter Einsicht der Bücher und Papiere prüfen (§ 233 Abs. 1 HGB). Wie beim Kommanditisten, der sich in der gleichen Lage befindet (§ 166 Abs. 1 HGB ), wird freilich auch für den stillen Gesellschafter zu Gunsten einer Ausdehnung der Kontrollrechte plädiert.11 Verständlich ist deshalb, dass hier in praxi vertragliche Verbesserungen im Interesse des Stillen vielfach verlangt und durchgesetzt werden. An der Geschäftstätigkeit des Inhabers ist der stille Gesellschafter nicht beteiligt. Anders als beim Kommanditisten (§ 164 HGB) stehen ihm selbst bei außergewöhnlichen Geschäften Zustimmungsrechte nicht zu.12 Allerdings wird angenommen, dass wesentliche Änderungen des Handelsgeschäfts durch dessen Inhaber der Zustimmung des stillen Gesellschafters bedürfen.13 6 Etwa: Weisungen an Aufsichtratsmitglieder?, ZGR 1978, 391 ff.; Klagebefugnis einzelner Aufsichtratsmitglieder, ZGR 1989, 44 f.; Organklagen zwischen Aufsichtsrat und Vorstand, AG 1989, 185 ff. 7 Nämlich der §§ 13, 14, 47 Anh., 52 in Hachenburg, Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Großkommentar, 8. Aufl., 1989 ff. 8 Thomas Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, 3. Aufl., 2001. 9 Karsten Schmidt Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 62 I 2a), II 2b), S. 1838, 1846. 10 Karsten Schmidt (Fn. 9), § 62 II 1e), S. 1844 f. 11 Kühn in Münchner Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 2, 2. Aufl., 2004, § 81 StG Rn. 2. 12 Karsten Schmidt (Fn. 9), § 62 IV 2, S. 1856. 13 BGHZ 127, 176, 179 f.; ebenso schon BGH BB 1963, 1277; Baumbach/Hopt, HGB , 31. Aufl., 2003, § 230 Rn. 15.

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2. Atypische Mitwirkungsrechte des Stillen Die „atypische“ stille Gesellschaft ist im Gesetz nicht vorgesehen. Der Begriff hat besondere Bedeutung im Steuerrecht. Dort bezeichnet er den mitunternehmerisch Beteiligten, der Einkünfte aus Gewerbebetrieb i. S. v. § 15 EStG bezieht, statt wie der typischen Stille solche aus Kapitalvermögen gemäß § 20 EStG .14 Der Begriff ist dem Gesellschaftsrecht aber keineswegs fremd. Auch hier geht es um Konstruktionen, die das stille Gesellschaftsverhältnis von der qualifizierten Kreditgewährung weg bis hin zur „virtuellen“ Kommanditgesellschaft 15 entwickeln. Dabei spielt für das Steuerrecht die Beteiligung des Stillen am Vermögen des Geschäftsinhabers eine zentrale Rolle. Da die stille Gesellschaft eine reine Innengesellschaft darstellt, handelt es sich solchenfalls freilich nicht um eine dingliche Teilhabe, wohl aber um eine rechnerische. Eine derartige Gestaltung hat Treuhandelemente auf Seiten des Geschäftsinhabers.16 Wirtschaftlich bekommt der Stille die Stellung eines Kommanditisten. Auch hinsichtlich seiner Verwaltungsrechte wird die Position des stillen Gesellschafters oftmals vertraglich gestärkt.17 Ihm werden Zustimmungs- oder Widerspruchsrechte in Bezug auf Geschäftsführungsmaßnahmen des Inhabers eingeräumt, ebenso Weisungsrechte. Möglich ist auch seine Beteiligung an dessen regulärer Geschäftsführung, wobei er dann mit einer entsprechenden Vertretungsbefugnis, etwa einer Prokura, ausgerüstet werden muss.18 In der Praxis der hier schwerpunktmäßig interessierenden atypisch stillen Gesellschaftsverträge mit Wagnis-Kapitalgebern haben die Einflussmöglichkeiten des Stillen auf das rechtliche und wirtschaftliche Geschehen beim Geschäftsinhaber einen deutlichen Stellenwert. Wie das bereits geschilderte Rechtsprechungsbeispiel 19 zeigt, wird insbesondere vorgesehen, dass die Beteiligungsgesellschaft zu bestimmten Geschäftsführungsmaßnahmen der Einwilligung des Stillen bedarf. Zu nennen sind etwa eine Verpachtung des Unternehmens, eine Betriebsveräußerung, aber auch Investitionen ab einer bestimmten Höhe. Darüber hinaus lässt sich der Stille einen Zustimmungsvorbehalt bei Bestellung und Abberufung der Geschäftsführungsorgane einräumen. Schließlich werden auch Strukturänderungen erfasst. Das gilt für Satzungsänderungen, vor allem für die Änderung des UnternehmensgegenDazu L. Schmidt, EStG , 23. Aufl., 2004, § 15 Rn. 340 ff. Dazu Karsten Schmidt, FS Bezzenberger, 2000, S. 401, 405 ff. 16 Karsten Schmidt, (Fn. 9), § 62 2 IIc )aa), S. 1847. 17 Etwa: Karsten Schmidt in Münchner Kommentar zum HGB , 2002, § 230 Rn. 77 ff.; Uwe H. Schneider/Reusch DB 1989, 713, 714; BGH NJW 1992, 2696, 2697 hält die Mitwirkungsrechte des Geldgebers für ein Unterscheidungskriterium der atypischen von der typischen stillen Gesellschaft. 18 Vgl. BGH BB 1961, 583; Röhricht/v. Westphalen/v. Gerkan, HGB , 2. Aufl., 2001, § 230 Rn. 69. 19 Oben Fn. 5. 14 15

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standes, aber auch für Änderungen der Rechtsform oder den Abschluss von Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen.

III. Kapitalgesellschaftsrechtliche Grenzen von Zustimmungsvorbehalten Nach dem Recht der Stillen Gesellschaft sind solche Zustimmungsvorbehalte gestattet. 20 Die Frage ihrer Zulässigkeit ist hier jedoch aus der Sicht der Beteiligungsgesellschaft und der ihr durch das Kapitalgesellschaftsrecht gezogenen Grenzen zu stellen. Dabei ist nach dem Gegenstand des Zustimmungsvorbehalts zu differenzieren. 1. Satzungsänderung Häufiger Gegenstand von Zustimmungsvorbehalten sind Satzungsänderungen der verpflichteten Gesellschaft. Das Spektrum reicht dabei von Regelungen, die schlechthin jede Satzungsänderung von der Zustimmung des Dritten abhängig machen, bis zu Regelungen, die – allein – die Änderung des Unternehmensgegenstandes dem Zustimmungsvorbehalt unterwerfen. Hier ergibt sich eine Kollision mit dem Prinzip der Satzungsautonomie. Danach sind allein die Gesellschafter zur Gestaltung der Satzung als Grundgesetz der Gesellschaft berufen. Entscheidungen über Grundlagen- oder Strukturänderungen fallen zwingend in ihre ausschließliche Zuständigkeit.21 Die Beschlussfassung lässt sich daher im Grundsatz nicht an Zustimmungserfordernisse Dritter binden, und zwar weder seitens anderer Gesellschaftsorgane noch seitens Außenstehender.22 Insoweit unterliegt die Beschneidung der eigenen Kompetenz nicht der Dispositionsbefugnis der Gesellschafterversammlung.23 Ein genereller Zustimmungsvorbehalt, der jedwede Satzungsänderung der Zustimmung des Dritten unterstellt, ist daher mit der Satzungshoheit der Gesellschafter nicht zu vereinbaren. Dies gilt sowohl für die GmbH24 als auch für die Aktiengesellschaft. 25 20 Vgl. MünchHdb GesR-Kühn (Fn. 11) § 80 StG, Rn. 8 mwN.; MünchKomm HGB -Karsten Schmidt (Fn. 17) § 230 Rn. 137; Zutt in Großkommentar zum HGB , 4. Aufl., 1990, § 230 Rn. 30; Blaurock, Handbuch der Stillen Gesellschaft, 6. Aufl., 2003, § 12 Rn. 12.9 ff., S. 222 ff. 21 Wiedemann in Großkommentar zum Aktiengesetz, 4. Aufl., 1995, § 179 Rn. 135. 22 HM . vgl. nur: Raiser Kapitalgesellschaften, (Fn. 8), § 16 Rn. 73; vor kurzem erst wieder Ulmer, FS Wiedemann, 2002, 1297, 1316 f. 23 Anders Beuthien/Gätsch ZHR 156 (1992), S. 459, 473. 24 HM ., vgl. nur: Zöllner in Baumbach/Hueck GmbH-Gesetz, 17. Aufl., 2000, § 53 Rn. 43; Ulmer in Hachenburg, Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Großkommentar, 8. Aufl., 1991, § 53 Rn. 84. 25 Allg. Ans.; Hüffer (Fn. 3) § 179 Rn. 23; GroßkommAktG-Wiedemann (Fn. 21) § 179 Rn. 135.

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Will ein Dritter derart Einfluss nehmen, mag er Gesellschafter werden und sich ein Sonderrecht auf Zustimmung einräumen lassen. So etwas ist nicht nur bei der GmbH, 26 sondern auch bei der Aktiengesellschaft möglich. 27 Anders zu beurteilen ist jedoch ein Zustimmungsvorbehalt zur Änderung des Unternehmensgegenstands. Vom Verbot einer Bindung gegenüber Dritten in Bezug auf Satzungsänderungen sind nämlich Ausnahmen zu machen. Das gilt einmal dann, wenn der Dritte wirtschaftlich Gesellschafter ist. Insoweit sind Treugeber und Sicherungsgeber betroffen. 28In diesen Kreis wird man selbst den atypischen stillen Gesellschafter zwar nicht rechnen können. Ihm kommt aber zugute, dass nicht nur bestimmte Dritte, sondern auch bestimmte Bindungsfälle ausgenommen sind. So wird eine Drittbindung hinsichtlich einer konkret umrissenen Satzungsänderung, insbesondere einer bestimmten Kapitalerhöhung zugelassen. 29 Der Zustimmungsvorbehalt zur Änderung des Unternehmensgegenstandes geht über eine solche konkrete Maßnahme zwar insofern hinaus, als er zu einem wirtschaftlichen Immobilismus bei der Gesellschaft führen kann. Dem Stillen kommt aber zugute, dass sein Mitspracherecht bei Änderung oder Aufgabe des Unternehmensgegenstandes der stillen Gesellschaft immanent ist. 30 Zustimmungsvorbehalte im Hinblick auf eine Änderung des Unternehmensgegenstandes erweisen sich damit für die GmbH wie für die AG als kapitalgesellschaftsrechtlich zulässiger Inhalt eines stillen Gesellschaftsvertrages. 2. Organbesetzung Nicht selten beziehen sich Zustimmungsvorbehalte auch auf die Bestellung oder Abberufung des Geschäftsführungsorgans. Die Zulässigkeit solcher Klauseln im Vertrag über eine atypisch stille Beteiligung ist davon abhängig, ob es sich bei der beteiligten Gesellschaft um eine GmbH oder um eine Aktiengesellschaft handelt. Bei der GmbH gilt § 46 Nr. 5 GmbHG , wonach die Gesellschafter für die Bestellung der Geschäftsführer und deren Abberufung zuständig sind. Die Satzung kann aber etwas anderes bestimmen, also etwa diese Befugnis dem Aufsichtsrat zuweisen. Ob sich auch die Bestellung durch Dritte vorsehen lässt, ist streitig. Man wird eine solche Möglichkeit bejahen können, wenn die Dritten entsprechend eingebunden sind und ihre Kompetenz durch SatPriester in Scholz, Kommentar zum GmbH-Gesetz, 9. Aufl., 2002, § 53 Rn. 63. Hüffer AktG (Fn. 3), 179 Rn. 23. 28 Dazu Priester, FS Werner, 1984, S. 657, 672 f. 29 Vgl. Fleck ZGR 1988, 104, 113; aA. für die AG GroßkommAktG-Wiedemann (Fn. 21) § 179 Rn. 135. 30 BGH AG 2003, 625, 627 unter Berufung auf BGHZ 127, 176, 180. 26 27

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zungsänderung wieder beseitigt werden kann. 31Festzuhalten ist darüber hinaus, dass auch die Gegenansicht von einer – allerdings nur schuldrechtlich wirksamen – Verlagerungsmöglichkeit auf außenstehende Entscheidungsträger ausgeht. 32 Jedenfalls unterliegt die Befugnis zur Organbesetzung im Grundsatz der Dispositionsbefugnis der Gesellschafter und scheitert – im Gegensatz zum Aktienrecht – nicht an einer zwingenden gesetzlichen Kompetenzzuweisung. Vor diesem Hintergrund erscheinen – weniger weit gehende – Zustimmungsvorbehalte in stillen Gesellschaftsverträgen mit einer GmbH zulässig. Anders sieht es im Aktienrecht aus. Hier steht Zusagen der Gesellschaft gegenüber Dritten, Mitglieder des Geschäftsleitungsorgans zu bestellen oder abzuberufen, die Vorschrift des § 84 AktG entgegen, wonach der Aufsichtsrat den Vorstand bestellt und abberuft. Er ist in dieser seiner Entscheidung souverän. Bindungen wären wegen Verstoßes gegen § 134 BGB nichtig. 33 Es unterliegt nicht der Dispositionsbefugnis der Gesellschaft, hiervon abweichende Regelungen zu treffen (§ 23 Abs. 5 AktG). Gleiches gilt für entsprechende Zustimmungserfordernisse. Ein Zustimmungsvorbehalt des Dritten bei der Bestellung oder Abberufung des Vorstands der Aktiengesellschaft kann damit kein zulässiger Abredegegenstand sein. 3. Bestimmte Geschäfte Die ebenfalls häufig anzutreffenden Zustimmungsvorbehalte zu bestimmten Geschäften können sich etwa auf den Abschluss bedeutsamer Verträge, auf die Eingehung besonderer Verpflichtungen oder die Beteiligung an anderen Unternehmen beziehen. Für ihre Zulässigkeit ist wiederum zwischen der GmbH und der Aktiengesellschaft als verpflichteter Gesellschaft zu differenzieren. Ebenso wie im Falle der Organbesetzung treten hier deutliche Unterschiede zwischen beiden Rechtsformen zutage: Bei der GmbH gibt es das Weisungsrecht der Gesellschafter gegenüber den Geschäftsführern (§ 37 GmbHG). In der Aktiengesellschaft gilt dagegen der Grundsatz der Geschäftsleitungsautonomie des Vorstandes (§ 76 AktG). Die Geschäftsführung der GmbH ist im Grundsatz Weisungen unterworfen. 34 Es gibt keine Geschäftsleitungsautonomie. Allerdings steht dieses Weisungsrecht und das aus ihm folgende Recht zur Statuierung von Zustim31 Lutter/Hommelhoff, GmbH-Gesetz. Kommentar, 16. Aufl., 2004, § 46 Rn. 11 mwN. Zur Begründung (organschaftlicher) Rechte Dritter im Gesellschaftsvertrag einer GmbH eingehend Hammen, WM 1994, 765 ff. 32 Scholz GmbHG -Karsten Schmidt (Fn. 3) § 46 Rn. 72. 33 Hüffer AktG (Fn. 3) § 84 Rn. 5. 34 Ob ein weisungsfreier Bereich der Geschäftsführung anzuerkennen ist (dazu Uwe H. Schneider in Scholz, Kommentar zum GmbH-Gesetz, 9. Aufl., 2000, § 37 Rn. 36 ff.), braucht hier nicht erörtert zu werden.

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mungsvorbehalten35 den Gesellschaftern zu. Diese können es jedoch aufgrund satzungsrechtlicher Regelung anderen Organen, z. B. einen Beirat, übertragen. Ebenso wie die Befugnis zur Geschäftsführerbestellung und anders als die generelle Satzungsänderungskompetenz unterliegt diese Befugnis zur Erteilung von Weisungen der Disposition der Gesellschafter. Sie können daher aus ihrem Weisungsrecht folgende Zustimmungsvorbehalte bezogen auf bestimmte Geschäfte durch Vereinbarung auch Dritten einräumen. Für die Aktiengesellschaft zeigt sich wiederum ein anderes Bild. Sie ist durch eine Trennung der Funktionen von Kapitalgebern und Geschäftsführung gekennzeichnet. Die Anteilseigner legen in Gestalt des Unternehmensgegenstandes den Rahmen fest, innerhalb dessen die Geschäftsführung mit dem eingesetzten Kapital grundsätzlich frei wirtschaften kann. 36 Zum Ausgleich bietet das Aktiengesetz durch den Beherrschungsvertrag des § 291 Abs. 1 AktG ein spezielles Instrument zur Ausübung von Leitungsmacht an. Außerhalb eines solchen Vertrages ist im Aktienrecht dagegen kein Raum für bestimmende Einflussnahme auf die Unternehmensleitung. 37 Einem Zustimmungsvorbehalt zugunsten des Dritten bei einzelnen Geschäften steht damit § 23 Abs. 5 AktG entgegen. Solche Vorbehalte bilden also keinen zulässigen Abredegegenstand stiller Gesellschaftsverträge mit einer Aktiengesellschaft. 38

IV. Wirkungen zulässiger Zustimmungsvorbehalte 1. Keine innerkorporativen Befugnisse Denkbar wäre, derartigen Zustimmungsvorbehalten die Rechtswirkung beizumessen, direkte Mitwirkungsbefugnisse des Dritten zu begründen. 39 Die betreffende Maßnahme wäre dann bei einem Fehlen der Zustimmung nicht wirksam. Das rechtliche Können der Gesellschaft bzw. der Gesellschafter wäre mit unmittelbarer, „dinglicher“ Wirkung begrenzt. Gegen eine solche innerkorporative Wirkung der Zustimmungsvorbehalte spricht jedoch, dass derartige Rechte wegen ihres satzungsverdrängenden bzw. -überlagernden Charakters in der Satzung festgelegt sein müssten. Die Rechtsordnung hat solche satzungsüberlagenden Abreden zwar in Gestalt der Unternehmensverträge anerkannt. Für diese gibt es aber im Aktienrecht klare gesetzliche Vorgaben in Gestalt der §§ 291 ff. AktG und für die GmbH in Anlehnung daran von der Rechtssprechung entwickelte Re35 36 37 38 39

Lutter/Hommelhoff, (Fn. 31), § 37 Rn. 16. Bachmann/Veil ZIP 1999, 348, 350. Altmeppen in Münchner Kommentar Aktiengesetz, 2. Aufl., 2000, § 308 Rn. 6. Bachmann/Veil ZIP 1999, 348, 350 f. So wohl Fleck ZGR 1988, 104, 115 f.

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geln. 40 Außerhalb solcher Verträge sind innerkorporativ wirkende Eingriffe nicht gedeckt. Ob man für einmalige Einwirkungen nach dem Vorbilde der sog. „punktuellen“ Satzungsdurchbrechung 41 eine Ausnahme zulassen will, 42 kann offenbleiben, denn bei den hier interessierenden Abreden in atypischen stillen Beteiligungsverträgen erschöpfen sich die Zustimmungsvorbehalte nicht in einer einmaligen Maßnahme. Sie ergreifen vielmehr für die Dauer des Vertrages alle entsprechenden Vorgänge. Damit stellt sich das Problem der Zulässigkeit einer Aufnahme von Rechten Dritter in die Satzung einer GmbH. Sie ist umstritten 43 und wird mit gewichtigen Gründen abgelehnt. 44 Das kann hier allerdings dahingestellt bleiben, denn der Stille will seine Rechte ja gerade nicht in die Satzung aufgenommen wissen. Wollte man eine korporative Binnenwirkung ohne Handelsregistereintragung zulassen, ergäbe sich zudem das Problem der Erkennbarkeit derartiger Zustimmungsvorbehalte für Dritte. Wie soll etwa der Registerrichter bei einer Änderung des Unternehmensgegenstands beurteilen können, ob die Satzungsänderung der Zustimmung eines Dritten bedarf und infolge deren Fehlens unwirksam ist. Rechtssicherheit und Publizitätserfordernisse stehen einer Binnenwirkung daher ebenfalls entgegen. Gleiches gilt im Ergebnis, soweit es sich bei der verpflichteten Gesellschaft um eine Aktiengesellschaft handelt. Bei ihr scheitert die Binnenwirkung freilich bereits an § 23 Abs. 5 AktG. 2. Schuldrechtliche Bindung a) Grundsatz Eine andere Frage ist dagegen, ob solchen Zustimmungsvorbehalten eine Bindungswirkung im Verhältnis zum stillen Gesellschafter dergestalt attribuiert werden kann, dass ihre Nichtbeachtung durch die verpflichtete Gesellschaft schuldrechtliche Sanktionen gegen diese auslöst. Zustimmungsvorbehalten käme dann eine lediglich schuldrechtliche Wirkung im Sinne einer Begrenzung des rechtlichen Dürfens zu.

Insbesondere BGHZ 105,324, 330 ff., – Supermarkt; BGH BB 1992, 662 – Siemens. Dazu BGHZ 123, 17, 19. 42 In diese Richtung Fleck ZGR 1988, 104, 126 f. 43 Vgl. Lutter/Hommelhoff, (Fn. 31), 2000, § 3 Rn. 53 mwN. 44 Ulmer, FS Werner, 1984, S. 911 ff.; ders., FS Wiedemann, 2002, S. 1297 ff.; Scholz GmbHG -Karsten Schmidt (Fn. 3) § 45 Rn. 15; monographisch Bürkle, Rechte Dritter in der Satzung der GmbH, 1991. 40 41

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In dieser Richtung hat sich das Kammergericht in einem Urteil vom 17. 01. 2002 45 geäußert. Es ging um eine Regelung, wonach die teilweise oder vollständige Einstellung, Veräußerung oder Verpachtung des Hypothekenbankgeschäfts einer verpflichteten Aktiengesellschaft von der Einwilligung des an ihr still Beteiligten abhängen sollte. Das KG hat diese Abrede gebilligt, ihr jedoch einen lediglich schuldrechtlichen Charakter zugesprochen. Das folge zum einen aus der Rechtsnatur des stillen Gesellschaftsvertrags, der grundsätzlich nur schuldrechtlich wirke. Es ergebe sich zum anderen aus dem zwingenden Charakter der aktienrechtlichen Kompetenzordnung, über die die Gesellschaft und ihre Mitglieder nicht disponieren könnten. Eine solche bloß schuldrechtliche Wirkung der Zustimmungsvorbehalte erscheint zutreffend. Sie bringt die Satzungsautonomie sowie zwingende Organisations- und Kompetenzvorgaben einerseits mit den Interessen des Dritten andererseits zu einem angemessenen Ausgleich. Zugleich vermeidet sie die nicht hinnehmbaren Rechtsfolgen einer Binnenwirkung, ohne den Dritten schutzlos zu stellen. Seine Rechte werden mittels der durch die Verletzung der schuldrechtlichen Verpflichtung ausgelösten Sanktionen gewahrt. Festzuhalten ist allerdings, dass nur gesellschaftsrechtlich zulässige Zustimmungsvorbehalte eine schuldrechtliche Wirksamkeit entfalten und Sanktionen auslösen können. Für die hier als unzulässig herausgearbeiteten Vorbehalte wie etwa generell für Satzungsänderungen vorgesehene gilt das nicht. Solche Vorbehalte sind sanktionslos. Ob das zu einer Unwirksamkeit der gesamten Vereinbarung führt, ist jeweils im Einzelfall nach § 139 BGB zu beurteilen. Da dem Grundsatz der geltungserhaltenden Reduktion im Gesellschaftsrecht eine verstärkte Bedeutung zukommt, 46 muss dem unzulässigen Zustimmungsvorbehalt nicht in jedem Fall vollständig die Wirksamkeit versagt werden. Er kann tatbestandlich geltungserhaltend auf den noch zulässigen Anwendungsbereich reduziert werden. Auch dies ist indes eine Frage des konkreten Einzelfalls. b) Schadensersatz Erteilen die stillen Gesellschafter ihre Zustimmung nicht, können Schadensersatzansprüche gegeben sein. 47 Diese gehen allerdings nicht gemäß § 249 BGB auf Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands, sondern berechtigen die Vertragspartner nur gemäß § 251 BGB finanziell so gestellt zu werden, wie sie stünden, wenn die Strukturveränderung nicht vorgenomKG ZIP 2002, 890, 892. Vgl. Karsten Schmidt, (Fn. 9), § 5 I 4 d), S. 93, für die Auslegung von Gesellschaftsverträgen. 47 Wie hier Wiedemann, (Fn 21), § 179 Rn. 8; anders Bachmann/Veil ZIP 1999, 348, 350; die solche Ansprüche ablehnen; zurückhaltend auch Hefermehl/Bungeroth in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, Aktiengesetz, 1989, § 179 Rn. 137. 45 46

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men worden wäre. 48 Anderenfalls wäre die Gesellschaft nämlich zur Rückgängigmachung der unter Nichtbeachtung des Zustimmungserfordernisses erfolgten Maßnahme, also etwa der Änderung des Unternehmensgegenstands, verpflichtet. Das aber wäre nichts anderes als eine mittelbare Binnenwirkung über den Umweg der Schadensersatzverpflichtung. Natürlich kann auch und gerade eine Schadensersatzverpflichtung in Gestalt finanzieller Entschädigung ein nicht unerhebliches Zwangspotential entfalten. Gleichwohl wird man einen solchen mittelbaren Zwang nicht einer innerkorporativen Mitwirkung bzw. Satzungsdurchbrechung gleichstellen können. Denn es besteht zunächst ein nicht zu vernachlässigender Unterschied, ob eine Gesellschaft bzw. die Gesellschafter ihr rechtliches Können oder nur ihr Dürfen beschränken. In letzterem Fall bleibt den Gesellschaftern immer noch die Wahl, von ihren Rechten und Kompetenzen Gebrauch zu machen, und sei es um den Preis des Schadensersatzes. Im ersteren Fall wäre dies nicht mehr möglich. Zum anderen ist es gerade auch ein Ziel von Sanktionsnormen, namentlich von Schadensersatzverpflichtungen, durch ihre möglicherweise spürbare Wirkung den Partner zur Vertragstreue anzuhalten und Abschreckungswirkung zu erzeugen. c) Kündigungsrecht Als denkbare Sanktion neben der Schadensersatzverpflichtung erscheint ferner ein Recht des Dritten zur – auch fristlosen – Kündigung des stillen Beteiligungsvertrags, wenn er sein Einverständnis mit einer zustimmungspflichtigen Maßnahmen nicht erklären will. 49 Durch das Recht zu fristlosen Kündigung wird der Dritte in die Lage versetzt, seine Interessen zu wahren und ein finanzielles Engagement zu beenden, bei dem seine wirtschaftlichen bzw. unternehmenspolitischen Vorstellungen von der verpflichteten Gesellschaft nicht (mehr) geteilt werden. Zwar kann auch der damit verbundene Kapitalabfluss die Gesellschaft empfindlich treffen. Insoweit wird ein mittelbarer Zwang ausgeübt. Dieses Risiko erscheint indes kalkulierbar und zumutbar. Es ist ebensowenig wie die Schadensersatzverpflichtung einer Binnenwirkung gleichzustellen.

48 49

So mit Recht KG (Fn. 45). Bachmann/Veil ZIP 1999, 348, 350.

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V. Ermächtigung durch die Gesellschafter 1. Erfordernis Voraussetzung für die schuldrechtliche Wirksamkeit – zulässiger – sanktionsbewehrter innenbereichsrelevanter Abreden ist indessen ein hinreichend legitimierender Beschluss der Gesellschafter. Sie müssen die Geschäftsführungsorgane zur vertraglichen Einräumung des Zustimmungsvorbehalts – regelmäßig im Rahmen des stillen Beteiligungsvertrags – ermächtigt haben. Da Satzungsänderungen sowie – bei der GmbH – die Organbesetzung und die Zustimmung zu bestimmten Geschäftsführungsangelegenheiten in die Zuständigkeit der Gesellschafter fallen, können Beschränkungen dieser Kompetenz in Gestalt von Zustimmungsvorbehalten nur durch dieses Organ vorgenommen werden. Die Vereinbarung, durch die dem Dritten ein schuldrechtlicher Zustimmungsvorbehalt eingeräumt wird, bedarf daher eines Ermächtigungsbeschlusses der Gesellschafterversammlung bzw. der Hauptversammlung. 2. Mehrheit und Form Die Wahrung der Satzungsautonomie und der gesetzlich statuierten Kompetenz der Gesellschafter gebietet, dass der Rechtsakt, durch den sie ihre Befugnisse einschränken, ebenfalls erhöhten Anforderungen gerecht wird. Damit sind die Weichen für die erforderliche Mehrheit gestellt: Der Ermächtigungsbeschluss bedarf der satzungsändernden Mehrheit. 50 Obgleich die Zustimmungsvorbehalte nur schuldrechtliche Wirkung entfalten, beschneiden sie das rechtliche Dürfen im Verhältnis zum Dritten. Dieser Schritt hat besonderes Gewicht. Die Gesellschaft darf nicht erst bei der Entscheidung über die Änderung des Unternehmensgegenstands oder die Geschäftsführerbestellung vor die Alternative gestellt werden, die Zustimmung des Dritten einzuholen oder darauf zu verzichten bzw. – bei Zustimmungsverweigerung – die geplante Maßnahme gleichwohl durchzuführen. Darüber hinaus lassen sich auch Gesichtspunkte des Minderheitenschutzes ins Feld führen. Hält man sich die sanktionsbewehrten schuldrechtlichen Verpflichtungen und deren mögliche Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Gesellschafter vor Augen, muss die Ermächtigung zur Eingehung derartiger Verpflichtungen auf eine hinreichend breite Legitimationsbasis gestellt werden. Insoweit lässt sich die gesetzgeberische Wertung in § 293 Abs. 1 AktG heranziehen, die für den Zustimmungsbeschluss der 50

Ebenso Fleck ZGR 1988, 104, 114, 124 f.

Innenbereichsrelevante Zustimmungsvorbehalte stiller Gesellschafter

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Hauptversammlung zu einem Unternehmensvertrag mindestens eine 3 / 4 -Mehrheit des vertretenen Grundkapitals verlangt. Nicht generell erforderlich erscheint hingegen die notarielle Beurkundung. 51 Die Gesellschafter und die Gesellschaft dürften durch das Erfordernis der qualifizierten Mehrheit des Ermächtigungsbeschlusses hinreichend geschützt sein. Anderes gilt für die Einräumung eines Zustimmungsvorbehalts in Bezug auf die Änderung des Unternehmensgegenstandes. Ermächtigungen zur Satzungsänderung bedürfen der Beurkundung. 52 Der Verpflichtungsvertrag selbst bedarf sowohl bei der GmbH als auch bei der Aktiengesellschaft nur der einfachen Schriftform. 53 3. Außenwirkung Zu klären ist noch, ob dem Ermächtigungsbeschluss Außenwirkungen in der Weise beizulegen ist, dass die Wirksamkeit des stillen Gesellschaftsvertrages von seinem ordnungsmäßigen Ergehen abhängt. Für das Aktienrecht lässt sich diese Frage rasch beantworten: Hier ist heute anerkannt, dass die stille Gesellschaft einen Teilgewinnabführungsvertrag i. S. v. § 293 AktG darstellt. 54 Das bedeutet: Ihre Wirksamkeit setzt voraus, dass die Hauptversammlung dem Vertrag zustimmt (§ 293 Abs. 1 AktG) und er in das Handelsregister eingetragen wird (§ 294 Abs. 2 AktG). Ob entsprechendes für einen stillen Gesellschaftsvertrag mit einer GmbH gilt, ist streitig. Die überwiegende und zutreffend erscheinende Ansicht verneint die Anwendbarkeit der Unternehmensvertragsregeln. 55 Das muss hier aber nicht näher untersucht werden. Auch wenn man sich dieser Ansicht anschließt, ist die Sache damit nämlich noch nicht abgehandelt. Für die Beurteilung im GmbH-Recht kommt es darauf an, ob sich die grundsätzlich unbeschränkte Vertretungsmacht der Geschäftsführer (§ 37 AA . Fleck ZGR 1988, 104, 127 für Weisungsrechte. Fleck ZGR 1988, 104, 114; Herfs (Fn. 1), S. 244 f.; Scholz GmbHG -Priester (Fn. 26) § 53 Rn. 37; aA. Hachenburg GmbHG -Ulmer (Fn. 24) § 53 Rn. 37. 53 Vgl. für die GmbH Fleck ZGR 1988, 104, 115; Hachenburg GmbHG -Ulmer (Fn. 24), 51

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§ 53 Rn. 37. 54 Zuletzt BGH AG 2003, 625, 626 f.; KG ZIP 2002, 890, 891; OLG Celle AG 2000, 280; OLG Celle AG 1996, 370; OLG Düsseldorf AG 1996, 473; Koppensteiner in Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl., 1987, § 292 Rn. 52; Karsten Schmidt ZGR 1984, 295, 299 ff. 55 MünchKomm HGB -Karsten Schmidt (Fn. 17) § 230 Rn. 114, Bezzenberger/Keul in Münchner Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 2, 2. Aufl., 2004, § 76 StG Rn. 76; Scholz GmbHG -Priester (Fn. 26) § 53 Rn. 164, Uwe H. Schneider/Reusch, DB 1989, 713, 714 f; Blaurock, in: FS Großfeld, S. 90 ff.: Schmidt-Ott GmbHR 2002, 784 ff.; aA. Weigl DS tR 1999, 1572 f.; ders. GmbHR 2002, 778 ff.; differenzierend K. Mertens AG 2000, 33 ff.; aA. bei Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses zum stillen Gesellschafter Emmerich in Scholz, Kommentar zum GmbH-Gesetz, 9. Aufl., 2000, Anh. Konzernrecht, Rn. 217; Hachenburg GmbHG -Ulmer (Fn. 24) § 53 Rn. 160.

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Abs. 2 GmbHG) auch auf solche Maßnahmen erstreckt, für die die Gesellschafter ausschließlich zuständig sind. Das ist zu verneinen. Damit können sie jedenfalls im Bereich der Satzungsänderung keine wirksamen Verpflichtungen eingehen. 56 Diese Einschränkung muss aber die sonstigen hier thematisierten Zustimmungsvorbehalte hinsichtlich der Organbestellung und bestimmter Geschäfte ebenfalls einbeziehen. 57 Auch insoweit ist der Gesellschafterschutz vorrangig gegenüber einem etwaigen Verkehrsschutz, 58 zumal dieser wegen Betroffensein allein des stillen Gesellschafters gering zu veranschlagen ist.

VI. Abhilfe durch Unternehmensverträge? Wie sich im Vorstehenden gezeigt hat, sind Zustimmungsvorbehalte zu Gunsten stiller Gesellschafter im GmbH-Recht weitgehend zulässig. Im Aktienrecht stoßen sie dagegen auf enge Grenzen. Es verwundert nicht, wenn für diesen Bereich darüber nachgedacht wurde, ob durch Unternehmensverträge Abhilfe geschaffen werden kann. Was zunächst das Instrument des Gewinnabführungsvertrages angeht, besteht Einigkeit, dass ein solcher weder Geschäftsführungsrechte noch Zustimmungsvorbehalte abdeckt. 59 Er beschränkt sich auf Gewinnbezugsrechte. Verwaltungsrechte gegenüber der abhängigen Gesellschaft gewährt er nicht. Als denkbarer Vertragstyp zur Erfassung atypisch stiller Beteiligungsverträge mit Zustimmungsrechten des Stillen ist der Betriebsüberlassungsvertrag (§ 292 Abs.1 Nr. 3 AktG) ins Gespräch gebracht worden. Seien einem stillen Gesellschafter Mitwirkungsbefugnisse eingeräumt, werde die Aktiengesellschaft nicht mehr autonom unternehmerisch tätig. Die stille Gesellschaft bilde solchenfalls einen vom Willen der Aktiengesellschaft zu unterscheidenden unternehmerischen Willen und sei deshalb selbstständiges Unternehmen. Sie betreibe das Handelsgewerbe der Aktiengesellschaft, so dass ihr der Betrieb des Unternehmens der Aktiengesellschaft überlassen sei. 60 Dieser Auffassung ist zu widersprechen. Die Gesellschaft bleibt auch bei atypischer Gestaltung eine Innengesellschaft. Die Unternehmensträgerschaft geht nicht auf sie über, sondern bleibt bei der Aktiengesellschaft. 61 Es bleibt der Beherrschungsvertrag als mögliches Instrument. Er gewährt 56 Hachenburg GmbHG -Ulmer (Fn. 24) § 53 Rn. 37 f.; Scholz GmbHG -Priester (Fn. 26) § 53 Rn. 35. 57 Ebenso Herfs, (Fn. 1), S. 241. 58 Lutter/Hommelhoff, (Fn. 31), § 35 Rn. 10, § 53 Rn. 19; Fleck, ZGR 1988, 104, 108. 59 Vgl. nur Hüffer AktG (Fn. 3), § 291 Rn. 27. 60 Schulze-Osterloh ZGR 1974, 427, 453 ff. 61 Bachmann/Veil ZIP 1999, 348, 352 f. im Anschluss an die hM.

Innenbereichsrelevante Zustimmungsvorbehalte stiller Gesellschafter

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dem herrschenden Unternehmen ein Weisungsrecht gegenüber dem abhängigen (§ 308 AktG). Hier ist allerdings sogleich deutlich einzuschränken. Das Weisungsrecht besteht nämlich nur in Bezug auf die Leitung der Gesellschaft durch den Vorstand und damit nur auf solche Geschäfte und Maßnahmen, die in die Zuständigkeit des Vorstands fallen. Gegenüber dem Aufsichtsrat oder der Hauptversammlung gibt es kein Weisungsrecht. 62 Unter dem Blickwinkel des Aufsichtsrates entfällt also eine Weisungsbefugnis in Bezug auf dessen Kompetenz zur Bestellung und Abberufung des Vorstandes. Im Zuständigkeitsbereich der Hauptversammlung sind Strukturänderungen (Kapitalveränderungen, Umwandlungen) ebenso weisungsfrei wie die Maßnahmen, die nach der sog. Holzmüller-Rechtsprechung 63 der Zustimmung der Hauptversammlung bedürfen. Es verbleiben damit Geschäftsführungsmaßnahmen des Vorstandes als alleiniger Anwendungsbereich eines Beherrschungsvertrages. Für die hier zu behandelnde Fallkonstellation ergibt sich nun allerdings das Problem, dass die Einwirkungsmöglichkeiten des stillen Gesellschafters nicht zu einem Weisungsrecht ausgestaltet sind, sondern sich auf einen Zustimmungsvorbehalt beschränken. Es fragt sich, ob so etwas zulässiger Gegenstand eines Beherrschungsvertrages sein kann. Das Gesetz geht von einem Weisungsrecht hinsichtlich aller Leitungsmaßnahmen des vertraglich gebundenen Unternehmens aus. 64 Damit ist aber noch nicht entschieden, ob eine vertragliche Einschränkung in Betracht kommt. Die Rechtssprechung hat für den Beherrschungsvertrag inhaltliche Gestaltungsfreiheit gewährt, die allein durch zwingende Normen des Aktiengesetzes begrenzt sei. 65 Auf dieser Grundlage wird man mit der wohl herrschenden Meinung 66 auch Teil-Beherrschungsverträge zulassen können. Möglich ist also, die Weisungsbefugnis auf bestimmte Teile der Leitungsfunktion zu beschränken. Damit ist über eine Beschränkung des Beherrschungsvertrages auf Zustimmungsvorbehalte jedoch noch nicht befunden. Gegen ihre Zulässigkeit hat man geltend gemacht, ein Beherrschungsvertrag müsse die Möglichkeit einräumen, die Leitung der Gesellschaft „aktiv“, d. h. in „eigener Initiative“

MünchKommAktG-Altmeppen (Fn. 37) § 308 Rn. 84 f. mwN. BGHZ 83, 122; jetzt wieder – wenngleich tatbestandlich erkennbar einschränkend – BGH ZIP 2004, 993 – „Gelatine“. 64 Kölner Komm AktG-Koppensteiner (Fn. 54) § 291 Rn. 30, 65 BGHZ 122, 211, 217 – SSI ; dazu Priester EWiR , 1993, 529. 66 Krieger in Münchner Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 4, 2. Aufl., 1999, § 70 Rn. 5; MünchKommAktG-Altmeppen (Fn. 37) § 291 Rn. 88 ff.; Hüffer AktG (Fn. 3) § 291 Rn. 15, Raiser, Kapitalgesellschaften, (Fn. 8), § 54 Rn. 37; Bachmann/Veil ZIP 1999, 348, 353 f.; Emmerich/Sonnenschein/Habersack, Konzernrecht, 7. Aufl., 2001, § 11 II 2b; aA. Koppensteiner (Fn. 54), § 291 Rn. 32 ff. 62 63

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zu beeinflussen. 67 Ein Vertrag, der dem anderen Vertragsteil nur das Recht gebe, Maßnahmen der Geschäftsführung zu verhindern, könne deshalb nicht als Beherrschungsvertrag angesehen werden. Dem ist entgegengehalten worden, es komme darauf an, ob die Einwirkungsmöglichkeit mit der Weisungsbefugnis vergleichbar sei. Abzustellen sei darauf, ob durch die Vetorechte bewirkt werde, dass der stille Gesellschafter in zentralen unternehmerischen Fragen eine so gewichtige Stellung erhalte, dass er seine Interessen durchsetzen könne. Maßstab sei, ob eine Willenslenkung dergestalt stattfinde, dass Entscheidungen über Geschäftsvorhaben und ihre Umsetzung bei der vertraglich gebundenen Aktiengesellschaft unternehmerisch beeinflusst werden könnten. 68 Man sollte jedoch nicht darauf abstellen, ob Zustimmungsvorbehalte eine „kleine“ Weisungsbefugnis gewähren oder nicht. Zulässiger Gegenstand eines Beherrschungsvertrages erscheint vielmehr auch die bloße Vereinbarung von Zustimmungsvorbehalten. 69 Beherrschungsverträge legitimieren Eingriffe des herrschenden Unternehmens. Einen Eingriff in die Leitungsbefugnis stellt aber auch der Zustimmungsvorbehalt dar: Wird die Zustimmung nicht erteilt, hat die Maßnahme zu unterbleiben. Dienen die Beherrschungsverträge aber dem Schutz des abhängigen Unternehmens und seiner Anteilseigner, muss dieser auch bei bloßen Blokademöglichkeiten in Gestalt von Zustimmungsvorbehalten eingreifen. Eine ganz andere Frage ist natürlich, inwieweit die Praxis von solchen kupierten Beherrschungsverträgen Gebrauch machen wird. Auch Teilbeherrschungsverträge unterliegen nämlich den vollen Sanktionen der § 302 ff. AktG, lösen also eine Pflicht zur Verlustübernahme sowie zur Gewährung von Ausgleichs- und Abfindungsleistungen aus. 70 Herrschende Unternehmen werden aber wohl nur ausnahmsweise bereit sein, für eingeschränkte Befugnisse uneingeschränkte Belastungen auf sich zu nehmen.

VII. Zusammenfassung Hinsichtlich der kapitalgesellschaftsrechtlichen Zulässigkeit innenbereichsrelevanter Zustimmungsvorbehalte in stillen Gesellschaftsverträgen zeigt sich eine deutliche Zäsur zwischen dem GmbH- und dem Aktienrecht. Bei der GmbH sind nicht nur Zustimmungsvorbehalte gegenüber einer Änderung des Unternehmensgegenstandes zulässig, sondern auch solche, die sich auf die Geschäftsführerbestellung und auf die Vornahme bestimmter 67 Kölner Komm AktG-Koppensteiner (Fn. 54) § 308 Rn. 14; ähnlich Hüffer (Fn. 3), § 308 Rn. 10. 68 Bachmann/Veil ZIP 1999, 348, 354. 69 Ebenso MünchKommAktG-Altmeppen (Fn. 37) § 308 Rn. 12 f. 70 Vgl. MünchKommAktG-Altmeppen (Fn. 37) § 291 Rn. 92.

Innenbereichsrelevante Zustimmungsvorbehalte stiller Gesellschafter

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Geschäfte beziehen. Das ist Ausfluss der weitgehenden Satzungsautonomie bei der GmbH. Solche Abreden haben freilich keine innerkorporativen Befugnisse zur Folge, sondern entfalten Wirkungen nur auf der schuldrechtlichen Sekundärebene des Schadensersatzes und der Kündigung. Außerdem bedürfen sie einer Legitimation durch Gesellschafterbeschluss mit mindestens dreiviertel Mehrheit, dessen Fehlen den Vertrag unwirksam macht. Im Aktienrecht sind solche Zustimmungsvorbehalte dagegen wegen der dort herrschenden Satzungsstrenge mit Ausnahme eines Vorbehalts zu Gunsten der Änderung des Unternehmensgegenstandes unzulässig. Zustimmungsvorbehalte gegenüber Geschäftsleitungsmaßnahmen lassen sich über einen Beherrschungsvertrag installieren, was aber wegen der damit verbundenen Belastungen des berechtigten Unternehmens kaum praktisch werden dürfte.

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Die begrenzte Ausfallhaftung nach §§ 24, 31 Abs. 3 GmbHG im System des GmbH-Haftungsrechts – Neuerliches Plädoyer für ein systemstimmiges Haftungsmodell – Karsten Schmidt Inhaltsübersicht Seite

I. Zum Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wiederkehr eines Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zu den Sachverhalten der Urteile vom 25. 2. 2002 und vom 22. 9. 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ein Ende der Diskussion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zum Streitstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die problematischen Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stand der Meinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Pro und Contra Haftungsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Erschöpflichkeit rechtspolitischer Argumente . . . . . . . . 2. Die summenmäßige Haftungsbeschränkung als Ergebnis einer Ausbalancierung von Einsatz und Risiko in der GmbH . . . . . 3. Zum Wert der historischen Argumentation . . . . . . . . . . . . 4. Haftungsbeschränkung als geltendes Recht . . . . . . . . . . . . IV. Zur Methode der Haftungsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . 1. Die auf die Stammeinlage des Einlageschuldners begrenzte Haftung nach § 24 GmbHG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Übertragung dieses Konzepts auf § 31 Abs. 3 GmbHG? . . . . . 3. Die Haftung bis zur Höhe des Stammkapitals: eine Scheinlösung V. Die summenmäßig beschränkte Haftung im Stimmigkeitstest . . . . 1. Die Stammeinlage des Primärschuldners als Haftungsgrenze . . . 2. Übertragung des Haftungskonzepts auf Analogiefälle der §§ 30 f. GmbHG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. § 24 GmbHG bei der Unterbilanzhaftung: ein Argument gegen die Haftungsbeschränkung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Unbeschränkte Verschuldenshaftung bei Eingriffen der Gesellschafter in das Gesellschaftsvermögen . . . . . . . . . . . VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wertungsstimmigkeit im GmbH-Recht . . . . . . . . . . . . . . 2. Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Zum Thema 1. Wiederkehr eines Problems Festschriften haben mit Dezennien zu tun. In diesem Sinn mag ein Thema, zu dem der Verfasser bereits in Zehnjahresabständen publiziert hat, in eine Festschrift passen. Und wenn es ein kapitalgesellschaftsrechtliches Thema ist, dann passt es auch in die Festschrift für Thomas Raiser, in dessen „Kapitalgesellschaftsrecht“ naturgemäß auch von der Ausfallhaftung der GmbH-Gesellschafter nach §§ 24 und 31 Abs. 3 GmbHG die Rede ist. Nach Raiser ist diese Haftung im Fall des § 24 GmbHG der Höhe nach unbeschränkt,1 im Fall des § 31 Abs. 3 GmbHG auf die Höhe des Stammkapitals beschränkt. 2 Das letztere entspricht der herrschenden, jüngst vom Bundesgerichtshof in einem Urteil vom 22. 9. 2003 bestätigten Auffassung. 3 Aber unstreitig ist die Frage bis heute nicht. Der Verfasser dieses Beitrags hatte ohne äußeren Anstoß, aus rein rechtssystematischem Interesse, vor 20 Jahren eine andere Position herausgearbeitet 4 und diese vor zehn Jahren vor dem Hintergrund einer sich konsolidierenden Rechtsprechung bekräftigt. 5 Die These ging dahin, dass die Mitgesellschafter sowohl im Fall des § 24 GmbHG als auch im Fall des § 31 Abs. 3 GmbHG für jeden Ausfall nur bis zur Höhe der Stammeinlage des Primärschuldners haften. Das im Nachgang zum Urteil BGHZ 150, 61 vom 25. 2. 2002 6 ergangene Urteil BGH NJW 2003, 3629 vom 22. 9. 2003 7 und die zu diesen Urteilen erschienenen Stellungnahmen geben Gelegenheit, die Positionen nochmals zu reflektieren, die bisher angestellten Überlegungen zu ergänzen und die unterschiedlichen Lösungsansätze einer Bewährungsprobe zu unterziehen. 2. Zu den Sachverhalten der Urteile vom 25. 2. 2002 und vom 22. 9. 2003 a) Dem Urteil vom 25. 2. 2002 lag vereinfacht folgender Fall zugrunde: Alleingesellschafter der GmbH mit einem Stammkapital von 100 000 DM Raiser Kapitalgesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2001, § 28 Rn. 26. Ebd., § 37 Rn. 35. 3 BGH NJW 2003, 3629 = DStR 2003, 2128 m. Anm. Goette = GmbHR 2003, 1420 m. Anm. Blöse = WuB II C. § 31 GmbHG 1.04 m. Anm. Jungmann. 4 Karsten Schmidt BB 1985, 154 ff.; Anlass war die Notwendigkeit, ein Konzept für die Erstauflage des Lehrbuchs „Gesellschaftsrecht“ zu entwickeln. 5 Karsten Schmidt BB 1995, 529 ff.; Ausgangspunkt war die Verschärfung der Rechtsprechung zu § 31 Abs. 1 GmbHG . 6 BGHZ 150, 61 = NJW 2002, 1803 = BB 2002, 1012 m. Anm. Henze = GmbHR 2002, 549 m. Anm. Bender = EWiR 2002, 679 (Blöse); dazu Altmeppen ZIP 2002, 961; Burgard NZG 2002, 606; Cahn ZGR 2003, 298. 7 BGH NJW 2003, 3629 = DStR 2003, 2128 m. Anm. Goette = GmbHR 2003, 1420 m. Anm. Blöse = WuB II C. § 31 GmbHG 1.04 m. Anm. Jungmann; dazu ders. DStR 2004, 688 ff. 1 2

Die begrenzte Ausfallhaftung

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war ursprünglich G gewesen. G hatte zunächst einen Geschäftsanteil von 20 000 DM an Y übertragen sowie einen Geschäftsanteil von 60 000 DM auf Z als Treuhänder des Beklagten zu 2. Nachträglich verpfändeten Y (20 000 DM ) und G (20 000 DM ) ihre Geschäftsanteile an die Beklagte zu 1 und erteilten ihr Stimmrechtsvollmacht. Im Zusammenhang mit einem großenteils von G vorfinanzierten Bauvorhaben wurden zu Lasten der Gesellschaft noch Verbindlichkeiten in Höhe von 1,84 Mio. DM beglichen, bevor die GmbH zusammenbrach. Der Insolvenzverwalter verlangte Zahlung dieses von G nicht zu erlangenden Betrags von den beiden Beklagten. Das OLG hatte ihm nur 40 000 DM bzw. 60 000 DM gegen die beiden Beklagten zugesprochen. Die Revision des Insolvenzverwalters war erfolglos. Die Leitsätze des BGH lauten, soweit sie hier von Interesse sind: 8 „1. Die Ausfallhaftung des § 31 Abs. 3 GmbHG erfasst nicht den gesamten durch Eigenkapital nicht gedeckten Fehlbetrag, sondern ist auf den Betrag der Stammkapitalziffer beschränkt. 2. Die Ausfallhaftung aus dem Gesichtspunkt des existenzvernichtenden Eingriffs ( BGH Urt. v. 17. September 2001 – II ZR 178/99, ZIP 2001, 1874, 1876) trifft auch diejenigen Mitgesellschafter, die, ohne selber etwas empfangen zu haben, durch ihr Einverständnis mit dem Vermögensabzug an der Existenzvernichtung der Gesellschaft mitgewirkt haben.“ b) Im zweiten Fall war der Beklagte Geschäftsführer und gemeinsam mit vier Mitgesellschaftern paritätisch, also mit je 70 000 DM , Gesellschafter einer GmbH mit 350 000 DM Stammkapital. Wegen verbotener Ausschüttungen wurde er von der Insolvenzverwalterin dieser GmbH aufgrund von § 31 Abs. 1 GmbHG als Zahlungsempfänger auf Rückzahlung von 393 650 DM und außerdem auf Feststellung verklagt, dass er im Fall der Uneinbringlichkeit der entsprechenden Rückforderungszahlungen gegen die anderen Gesellschafter gemäß § 31 Abs. 3 GmbHG verpflichtet sei, 25 % des jeweiligen Ausfalls, höchstens jedoch 87 500 DM für jeden Ausfall in die Insolvenzmasse zu zahlen. Die Klage hatte, auch mit dem hier interessierenden Feststellungsantrag, in allen Instanzen Erfolg. Das BGH -Urteil vom 22. 9. 2003 trägt folgende Leitsätze: 9 „1. Die Erstattung von gemäß § 30 GmbHG verbotenen Auszahlungen ist i.S.v. § 31 Abs. 2, § 31 Abs. 3 GmbHG zur Gläubigerbefriedigung erforderlich, wenn und soweit die GmbH nach den Grundsätzen einer Überschuldungsbilanz (bei Ansatz von Liquidationswerten) überschuldet ist, wobei 8 BGHZ 150, 61 = NJW 2002, 1803 = BB 2002, 1012 m. Anm. Henze = GmbHR 2002, 549 m. Anm. Bender = EWiR 2002, 679 (Blöse); dazu Altmeppen ZIP 2002, 961; Burgard NZG 2002, 606; Cahn ZGR 2003, 298. 9 BGH NJW 2003, 3629.

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auch Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten (§ 249 Abs. 1 HGB) zu berücksichtigen sind. 2. Bei der – auf den Betrag der Stammkapitalziffer begrenzten – Ausfallhaftung eines GmbH-Gesellschafters gemäß § 31 GmbHG ist dessen eigener Anteil am Stammkapital nicht abzuziehen (Ergänzung zu BGH v. 25. 2. 2002 – II ZR 196/00, BGHZ 150, 61).“ 3. Ein Ende der Diskussion? Die Urteile haben eine jahrzehntelange Diskussion über den Umfang der Ausfallhaftung für die Praxis zu einem vorläufigen Abschluss gebracht, insbesondere das Ob der Haftungsbeschränkung mit Recht bestätigt (dazu unter III 4). Ob es das letzte Wort in der Frage der unbeschränkten oder beschränkten Mitgesellschafterhaftung bei der GmbH bleiben wird, ist aber schon deshalb zweifelhaft, weil es entgegen dem ersten Anschein immer noch Fragen offen lässt (dazu unter IV 3). Hinzu kommt, dass das Verhältnis zwischen der Haftungssituation der Mitgesellschafter bei § 31 und bei § 24 GmbHG – wie schon die Hinweise auf Thomas Raisers Standardwerk zum Kapitalgesellschaftsrecht eingangs dieses Beitrags zeigen – noch immer nicht ausdiskutiert ist (dazu unter V). Weiter ist im jüngsten Schrifttum eine Zunahme der für eine unbeschränkte Haftung streitenden Stimmen zu erkennen (dazu unter III 1, 2). Und schließlich wird es der Jubilar dem Verfasser nachsehen, wenn dieser neuerlich für sein ganz andersartiges, von den sonst vertretenen Auffassungen scheinbar ganz weit entferntes Konzept der Haftungsbegrenzung zu werben sucht (dazu unter V 1).

II. Zum Streitstand 1. Die problematischen Fälle a) Das Problem ist seit Jahrzehnten bekannt: Da bringt ein GmbH-Gesellschafter als Sacheinlage ein Unternehmen ein, das durch Überschuldung10 oder durch seine Belastung mit ökologischen Altlasten 11 im Gesellschaftsvermögen einen negativen Wert darstellt, und ist außerstande, die nach § 9 GmbHG bestehende Differenzhaftungsschuld zu erfüllen. Es kann als gesi10 Fall des § 75 AO bzw. des § 25 HGB (nach Auffassung des Verf. auch ohne Firmenfortführung); nach a.M. Fall des § 28 HGB , gleichfalls ohne Erfordernis der Firmenfortführung; vgl. in diesem Sinne z. B. Staub/Hüffer, Kommentar zum HGB , 4. Aufl. 1995, § 25 Rn. 93, § 28 Rn. 30. 11 Zur Haftung des Unternehmenserwerbers für Altlasten vgl. Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, 2. Aufl. 1998, Teil VII Rn. 390 ff.

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chert gelten, dass ein solcher Sachverhalt unabsehbare Differenzhaftungsansprüche gegen den Sacheinleger nach sich ziehen kann,12 womit sich die Frage stellt: Ist dann der Mitgesellschafter (bzw. sind die Mitgesellschafter) aufgrund von § 24 GmbHG über die Stammeinlage des ausgefallenen Einlageschuldners hinaus zum Ausgleich der gesamten Unterdeckung verpflichtet? Oder umgekehrt: Ein GmbH-Gesellschafter erhält in mehrfacher Höhe seiner Stammeinlage oder sogar des Stammkapitals verbotene Auszahlungen aus dem Vermögen der GmbH und ist zu der nach § 31 Abs. 1 GmbHG geschuldeten Rückzahlung außerstande (im BGH -Fall vom 25. 2. 2002 ging es um mehr als das Achtzehnfache des Stammkapitals!). Müssen die Mitgesellschafter (bzw. der Mitgesellschafter) hierfür nach § 31 Abs. 3 GmbHG in voller Höhe einstehen? Und, falls man diese Frage verneint: In welcher Höhe stehen sie für den Ausfall ein? Dies ist die hier zu diskutierende, mehrfach vor den Bundesgerichtshof gelangte Rechtsfrage.13 b) Der Wortlaut des Gesetzes legt zunächst eine unbeschränkte Einstandspflicht der Mitgesellschafter nahe. § 24 GmbHG spricht von dem durch Nichtleistung der Stammeinlage entstehenden Fehlbetrag, und wie sich aus § 9 GmbHG ergibt, tritt auch der nach dieser Bestimmung zu zahlende Fehlbetrag als „Einlage“ an die Stelle der wertmäßig nicht gedeckten Sacheinlage.14 Auch nach § 31 Abs. 3 GmbHG haften die Mitgesellschafter für den nach § 31 Abs. 1 GmbHG vom zahlungsunfähigen Empfänger „zu erstattenden Betrag“. Aus beiden Vorschriften ergibt sich zwar, dass die Ausfallhaftung der Mitgesellschafter – selbstverständlich! – auf den vom Einlageschuldner (§ 24 GmbHG) bzw. vom Empfänger der verbotenen Leistung (§ 31 Abs. 3 GmbHG) geschuldeten Betrag begrenzt ist, aber von irgendeiner weiteren summenmäßigen Begrenzung ist da nicht die Rede. Die Argumentationslast liegt damit zweifelsfrei bei den für eine Haftungsbegrenzung streitenden Stimmen.15 2. Stand der Meinungen a) Über den Umfang der Haftung nach § 24 GmbHG werden bekanntlich drei Meinungen vertreten:

12 Vgl. nur Lutter/Hommelhoff, GmbH-Gesetz, 15. Aufl. 2000, § 9 Rn. 3; a.M. offenbar Grunewald, FS Lutter, 2000, S. 413, 416. 13 Vgl. nur BGHZ 60, 324, 331; BGH NJW 1990, 1730, 1732; BGHZ 150, 61, 64; BGH NJW 2003, 3629, 3632. 14 Zum Einlagencharakter der Differenzhaftung vgl. Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG , 17. Aufl. 2000, § 9 Rn. 5. 15 Altmeppen ZIP 2002, 961, 963; vgl. bereits Karsten Schmidt BB 1995, 529, 531; daran hat sich durch die hier diskutierte Rechtsprechung und die nunmehr h.M. nur faktisch, nicht aber argumentativ etwas geändert; a.M. Jungmann DStR 2004, 688.

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Die Haftung sei unbeschränkt.16 Die Haftung beschränke sich auf die Höhe des Stammkapitals.17 Die Haftung sei begrenzt durch die Stammeinlage des ausfallenden Inferenten (so der Verfasser des vorliegenden Beitrags).18

b) Ähnlich lassen sich die Auffassungen zu § 31 Abs. 3 GmbHG systematisieren: x Gegen jede summenmäßige Haftungsbeschränkung spricht sich eine namhafte Minderheit im Schrifttum aus.19 x Nach der nun auch vom BGH dezidiert vertretenen, schon zuvor in der Literatur herrschenden Auffassung ist dagegen die Haftung auf die Höhe des Stammkapitals beschränkt. 20 x Demgegenüber tritt der Verfasser dieses Beitrags für eine Beschränkung der Haftung auf die satzungsmäßige Stammeinlage des Empfängers ein, also desjenigen Gesellschafters, dessen Beitrag zur Wiederherstellung haftenden Gesellschaftsvermögens ausgefallen ist. 21 c) Lutter und Hommelhoff hatten die im Bereich des § 31 GmbHG herrschende Auffassung um ein Detail modifiziert: Der auf die Ausfallhaftung in Anspruch Genommene könne die eigene Einlage von der Höhe des Stamm16 So Raiser Kap-GesR § 28 Rn. 26; Gummert in Priester/Mayer (Hrsg.) in Münchner Handbuch des Gesellschaftsrechts III , 2. Aufl., 2003, § 50 Rn. 157; Lutter/Hommelhoff § 24 Rn. 5; Michalski/Ebbing GmbHG , 2002, § 24 Rn. 62; Rowedder/Schmidt-Leithoff/Pentz, Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, 3. Aufl. 2002, § 24 Rn. 24; Wilhelm FS Flume, Bd. II , 1978, S. 337, 361 f.; Gätsch BB 1999, 701, 703; wohl auch Roth/ Altmeppen GmbHG , 4. Aufl. 2003, § 24 Rn. 18 (aber mit widersprüchlichem Hinweis auf § 11). 17 Hachenburg/Müller, Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, 8. Aufl. 1992, § 24 Rn. 22. 18 Karsten Schmidt Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 1128 f.; ders. BB 1985, 154, 155; ders. BB 1995, 529, 531 f.; Kallmeyer in GmbH-Hdb., Stand 2003, Rn. I 341; Scholz/Emmerich, Kommentar zum GmbH-Gesetz, 9. Aufl., 2000, § 24 Rn. 3a; wohl auch Grunewald FS Lutter, 2000, 413, 416. 19 Kleffner, Die Erhaltung des Stammkapitals und Haftung nach §§ 30, 31 GmbHG , 1993, S. 177; Wilhelm, FS Flume II , 1978, S. 337, 361 ff.; Fabritius ZHR 144 (1980), 628, 635 f.; Immenga WuB II C. § 31 GmbHG 1.90; Wissmann EWiR 1992, 788; Gätsch BB 1999, 701; Jungmann DStR 2004, 688. 20 BGHZ 150, 61; BGH NJW 2003, 3629 = DStR 2003, 2128 m. Anm. Goette = Gmb HR 2003, 1420 m. Anm. Blöse = WuB II C. § 31 GmbHG 1.04 m. Anm. Jungmann; Baumbach/ Hueck GmbHG -Fastrich (Fn. 14) § 31 Rn. 17; Hachenburg/Goerdeler/Müller (Fn. 17) § 31 Rn. 54; Lutter/Hommelhoff § 31 Rn. 21; Michalski/Heidinger § 31 Rn. 66; Roth/Altmeppen § 31 Rn. 17; Rowedder/Schmidt-Leithoff/Pentz (Fn. 16) § 31 Rn. 38; Ulmer, FS 100 Jahre GmbH-Gesetz, 1992, S. 363, 371 ff.; Joost, GmbHR 1983, 285, 298; Burgard NZG 2002, 606; Paul ZinsO 2003, 454. 21 Karsten Schmidt Gesellschaftsrecht, S. 1142 ff.; zuerst ders. BB 1985, 154, 157; sodann ders. BB 1995, 529, 531 f.; zust. Mayer/Vollrath in Münchner Handbuch des Gesellschaftsrechts III (Fn. 16) § 51 Rn. 71; Scholz/Westermann (Fn. 18) § 31 Rn. 30; Bitter WuB II C. § 13 GmbHG 2.02; Geißler GmbHR 2003, 394, 399.

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kapitals abziehen. 22 Der Bundesgerichtshof sieht hierfür nach den Gründen des Urteils vom 22. 9. 2003 23 „keinen Anlass“. 24 Das ist konsequent, denn nicht das Gesamtrisiko, sondern die Haftung für den Ausfall des Empfängers soll ja nach der herrschenden Auffassung auf die Höhe des Stammkapitals begrenzt sein. Die Auffassung von Lutter und Hommelhoff will also nicht in das Prokrustesbett der herrschenden Auffassung passen. Und doch ist sie interessant. Aus ihr spricht das unartikulierte Gefühl, wer etwa zu einem satzungsmäßigen Stammkapital von 100 000 schon 90 000 beigetragen habe, solle doch nicht ebenso haften wie wenn er nur 10 000 als eigene Einlage beigesteuert hätte. Darauf wird zurückzukommen sein (unter IV 3 c und V 1). d) Bemerkenswert ist, dass die einander so erkennbar gleichenden Grundpositionen bei § 24 GmbHG und bei § 31 Abs. 3 GmbHG im Konzert der Literaturstimmen keineswegs einheitlich besetzt sind. Das zeigt schon die Stimme des Jubilars, der bei § 24 GmbHG für eine unbeschränkte, 25 bei § 31 Abs. 3 GmbHG für eine summenmäßig beschränkte Haftung plädiert. 26 Auch unter den für eine Haftungsbeschränkung streitenden Stimmen fallen krasse Divergenzen auf, erkennbar schon daran, dass eine Beschränkung auf die Stammeinlage des ausfallenden Gesellschafters im Fall des § 24 GmbHG weithin akzeptiert, 27 im Fall des § 31 Abs. 3 GmbHG dagegen nach wie vor eine Außenseiteransicht ist, 28 zu deren Übernahme aus § 24 GmbHG der II . Zivilsenat in seinem Urteil vom 22. 9. 2003 „wegen des gegenüber § 24 GmbHG ungleich höheren Fehlbetrags keinen Anlass“ sieht. 29 Diese vermeintliche Divergenz zwischen § 24 GmbHG und § 31 Abs. 3 GmbHG bedarf neuerlicher Reflexion. 3. Die eigene Ansicht a) Es kann hier nicht darum gehen, die eigene Ansicht, wie längst an anderer Stelle geschehen, nochmals ab ovo neu zu begründen. 30 Da sie sich offenkundig der Einsicht des Betrachters am schwersten erschließt, soll sie aber doch leitsatzartig zusammengefasst werden. Es ergibt sich dann Folgendes: Lutter/Hommelhoff § 31 Rn. 21. Fn. 7. 24 Entscheidungsgründe unter II a. 25 Vgl. Fn. 1. 26 Vgl. Fn. 2. 27 Vgl. Fn. 18. 28 Vgl. Fn. 21. 29 BGH NJW 2003, 3629, Entscheidungsgründe unter II 2a; vgl. auch Rowedder/SchmidtLeithoff/Pentz (Fn.16) § 31 Rn. 38. 30 Ausführlich die bei Fn. 18 und 21 wiedergegebenen Fundstellen. 22 23

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§ 24 GmbHG und der daran angelehnte § 31 Abs. 3 GmbHG funktionieren wie eine revolvierende gesetzliche Ausfallbürgschaft aller Gesellschafter für alle Gesellschafter: revolvierend, weil nicht nur für Ausfälle von Primärhaftungsschuldnern, sondern auch für Ausfälle von Ausfallhaftungsschuldnern pro rata gehaftet wird, womit die gesamte Haftungslawine im ungünstigsten Fall den einzig solventen Gesellschafter trifft. Die Gesellschaft bleibt auch in Fällen der Ausfallhaftung eine „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“. Das Haftungsrisiko jedes GmbH-Gesellschafters, zusammengesetzt aus dem eigenen Primärrisiko und dem auf die Mitgesellschafter bezogenen Ausfallrisiko, kann sich nach § 24 GmbHG bzw. § 31 Abs. 3 GmbHG über die eigene Stammeinlage hinaus nur bis zur Summe aller Stammeinlagen, also höchstens bis zur Höhe des Stammkapitals summieren. Bezogen auf § 24 GmbHG und § 31 Abs. 3 GmbHG hat dies zur Folge, dass für jeden ausfallenden Gesellschafter alle anderen bis zur Höhe seiner Stammeinlage geradestehen müssen. Nur für Unterdeckungen bei dem eigenen Geschäftsanteil – also für die Differenz einer eigenen Sacheinlage gegenüber der Stammeinlage (§ 9 GmbHG) bzw. für eigene nach § 30 Abs. 1 GmbHG verbotene Empfänge (§ 31 Abs. 1 GmbHG) – haftet der Gesellschafter unbeschränkt. Dieses Kapitalsicherungskonzept des GmbH-Gesetzes wird begleitet von andersartigen (von den Stammeinlagen unabhängigen) Haftungsrisiken der Gesellschafter (Gründerhaftung, Existenzvernichtungshaftung).

b) Die neuerliche Prüfung dieser Auffassung und ihre Einbettung in das Haftungssystem des GmbH-Rechts – damit aber auch eine kritische Prüfung der vom BGH eingenommenen Position – ist Gegenstand dieses Beitrags.

III. Pro und Contra Haftungsbeschränkung 1. Zur Erschöpflichkeit rechtspolitischer Argumente a) Für die Haftungsbeschränkung wird i. d. R. ins Feld geführt, mithaftende Gesellschafter müssten vor unkalkulierbaren Risiken geschützt werden. 31 Dieses aus dem Rechtsgefühl erwachsene Argument wird einerseits mit Recht als unzureichend kritisiert, 32 von anderer Seite allerdings auch als al31 BGHZ 60, 324, 331; 150, 61, 64; Raiser Kap-GesR § 37 Rn. 35; Priester, FS 100 Jahre GmbHG , 1992, S. 159, 184. 32 Rowedder/Schmidt-Leithoff/Pentz (Fn.16) § 24 Rn. 24; Grunewald, FS Lutter, 2000, S. 413, 416; Gätsch BB 1999, 701, 703; Jungmann DStR 2004, 688, 693 f.; Burgard NZG 2002,

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lein tragfähig angesehen. 33 Richtig ist, dass jede Argumentation mit der Gefahr „unkalkulierbarer Risiken“, soll sie sich nicht dem Einwand einer petitio principii aussetzen, von der Richtigkeit der Prämisse abhängt, dass ein Schutz gegen solche „Unkalkulierbarkeit“ geltendem Recht entspricht. 34 Das Unkalkulierbarkeitsargument zeigt sehr rasch die charakteristische Schwäche jeder rein rechtspolitischen Vorteils-Nachteils-Abwägung. Ihm wird seit langem entgegengehalten, die summenmäßige Haftungsbeschränkung schwäche den Gläubigerschutz, und die Risikonähe der Mitgesellschafter sei nun einmal größer als die der Gläubiger. 35 Das haben nun auch die Gesetzverfasser gesehen und aus genau diesem Grund den Mitgesellschaftern die dem Kapitalgesellschaftsrecht sonst fremde Ausfallshaftung für fremde Kapitaldeckungsschuld aufgebürdet. 36 Ob diese Haftung unbeschränkt oder beschränkt ist, ergibt sich aus der Erwägung aber gerade nicht. 37 Die Frage ist und bleibt eben: Gibt es Anhaltspunkte für eine diesbezügliche gesetzgeberische Entscheidung? b) Die argumentative Pattsituation wird nicht minder deutlich, wenn man die für eine unbeschränkte Ausfallhaftung ins Feld geführten Argumente betrachtet. So ist jüngst geltend gemacht worden, die Gesellschafter seien nun einmal näher an der Quelle des Haftungsausfalls als die Gläubiger, 38 die summenmäßig unbeschränkte Ausfallhaftung für die Seriosität der GmbHForm schwer zu entbehren 39 und im Übrigen als bloß subsidiäre pro-rataHaftung „nicht zu drastisch“. 40 Richtig ist daran nur, dass der Gesetzgeber die „Strenge“ des § 31 Abs. 3 GmbHG wie auch des § 24 GmbHG mit der Überlegung begründet hat, dass bei einer personalistisch konzipierten Kapitalgesellschaft jeder Gesellschafter durch Haftungsdruck angehalten werden solle, „persönlich auf solche (haftungsvermeidende) Geschäftsführung … hinzuwirken“.41 Wie diese Strategie des Gesetzgebers zu der seinerzeit dezidierten Ablehnung auch nur eines Informationsrechts der Gesellschafter42 passen mochte und ob sie selbst heute eine von Wollen, Wissen und Wachsamkeit der Gesellschafter unabhängige Einstandspflicht zu tragen vermag,43

Cahn ZGR 2003, 298, 303. Vgl. insoweit den Einwand von Rowedder/Schmidt-Leithoff/Pentz (Fn.16) § 24 Rn. 24. 35 Vgl. nur Immenga WuB II C. § 31 GmbHG 1.90; Jungmann DStR 2004, 688, 694 f. 36 Entwurf eines Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung nebst Begründung und Anlagen, 1891, S. 81; ähnlich auch ebd., S. 40. 37 Ähnlich offenbar Priester, FS 100 Jahre GmbH-Gesetz, 1992, S. 159, 183 f. 38 Jungmann DS tR 2004, 688, 694 f. 39 Ebd., S. 695. 40 Ebd., S. 695. 41 Vgl. Fn. 36. 42 Entwurf (Fn. 36), S. 98. 43 Ablehnend Joost GmbHR 1983, 285, 288 f.; Reemann ZIP 1990, 1309, 1312. 33 34

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sei hier dahingestellt. 44 Sicher ist jedenfalls, dass eine solche Ausfallhaftung – unbeschränkt oder beschränkt – als Ausnahme von der auf die eigene Stammeinlage begrenzten Haftungszusage jedes Gesellschafters allemal im Sinne der Gesetzesbegründung „streng“, 45 das Motiv des Gesetzgebers also für das Problem der Unbeschränktheit ohne Aussagekraft ist. 46 Die ungewöhnliche Schärfe auch nur der beschränkten Ausfallhaftung lässt sich beispielhaft anhand des Urteils BGHZ 132, 190 demonstrieren, wo es um die Ausfallhaftung eines mit 10 000 DM beteiligten Treuhandgesellschafters in Höhe von 1,99 Mio. DM ging. 47 Sicher ist auch, dass mit der naturgemäß selten zum Zuge kommenden Ausfallhaftung für das Renommee der GmbH als Rechtsform nicht das Geringste zu gewinnen ist, mag diese Haftung nun beschränkt oder unbeschränkt sein (man braucht sich ja nur die Frage vorzulegen, wie viele Fälle von Insolvenz und von Masselosigkeit durch eine unbeschränkte Ausfallhaftung nach §§ 24 und 31 Abs. 3 GmbHG behoben werden könnten und ob sich irgendein Gläubiger darauf einrichten würde). Sicher ist weiter, dass die relative Seltenheit der gesetzlichen Ausfallsituationen, insbesondere des Voll-Ausfalls mehrerer Mitgesellschafter, kein Recht dazu gibt, die Haftung – und gar die unbeschränkte! – als „nicht zu drastisch“ herunterzuspielen. 48 Der dem Urteil vom 25. 2. 2002 zugrunde liegende Sachverhalt (Haftung auf das Achtzehnfache des Stammkapitals als Konsequenz der Kreditsicherheit am Geschäftsanteil?) dürfte als Illustration genügen (vgl. oben unter I 2a). Vollends geht es nicht an, die unbeschränkte Ausfallhaftung als Seriositätssignal zu heroisieren, solange ihre Unentbehrlichkeit für den Rechtsverkehr, sie aber zu banalisieren, sobald ihre Zumutbarkeit für die haftenden Mitgesellschafter in Frage steht. Schließlich taugt auch die in der Mehrpersonengesellschaft nur pro rata und nicht gesamtschuldnerisch eingreifende Haftung nicht als Grund für beschwichtigende Argumente.49 Abgesehen davon nämlich, dass dieses Argument bei der Zweipersonengesellschaft versagt, unterscheidet sich das gesetzliche Teilhaftungsmodell der Mitgesellschafter mit wechselseitiger Ausfallhaftung von einer gesamtschuldnerischen Ausfallhaftung aller Mitgesellschafter50 ausschließlich 44 Neben der Sache liegt jedenfalls der Versuch Reemanns ( ZIP 1990, 1309, 1315), den § 31 Abs. 3 GmbHG , weil „de lege lata unbegrenzbar“ (S. 1311), in eine Verschuldenshaftung „umzudeuten“; vgl. dazu Ulmer, FS 100 Jahre GmbH-Gesetz, 1992, S. 363, 370; Karsten Schmidt BB 1995, 539, 530. 45 Im Fall des LG Mönchengladbach ZIP 1986, 306 betrug schon die summenmäßig beschränkte Ausfallhaftung 1,8 Mio. DM . 46 Vgl. Fn. 36. 47 Eingeklagt waren 10 000 DM auf die Einlage des Treuhandgesellschafters und 200 000 DM aus § 24 GmbHG ; die restlichen 1,79 Mio. DM waren Gegenstand einer negativen Feststellungs-Widerklage. 48 Vgl. Fn. 40. 49 So aber Jungmann DStR 2004, 688, 695. 50 Sie war vorgesehen in § 32 Abs. 1 RefEGmbHG 1969 und RefEGmbHG 1971/73.

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durch den Abwicklungsmodus. Dieser besteht darin, dass das Gesetz es den nur pro rata haftenden Mitgesellschaftern bei einer Mehrpersonengesellschaft den Innenausgleich abnimmt und die Verteilung ebenso wie die Umlage weiterer Haftungsausfälle unter den Mitgesellschaftern der GmbH als Gläubigerin aufbürdet.51 Im Ergebnis ist das Ausfallhaftungsrisiko jedes individuellen Mitgesellschafters nach dem Haftungsmodell der §§ 24 und 31 Abs. 3 GmbHG nicht anders, als es bei einer Gesamtschuld wäre:52 Zwar muss kein Gesellschafter auf das Ganze in Vorlage treten, denn der Ausfall wird auf alle Mitgesellschafter umgelegt, dies aber nur, solange diese solvent sind. Dieser Gesichtspunkt kann also zur Argumentation nichts beitragen c) Aus der Pattsituation hilft auch die mehrfach vorgetragene Überlegung nicht heraus, es gehe bei unserer Frage um eine Abwägung zwischen Gesellschafterinteressen und Gläubigerinteressen. 53 Diese Feststellung ist so richtig, wie Binsenwahrheiten nun einmal richtig sind. Solche Reduktion einer schwierigen Frage auf eine Banalität kann zwar im wissenschaftlichen Diskurs durchaus von Nutzen sein, wo es gilt, Einfaches unter einer Schicht komplizierter Argumente bloßzulegen. 54 Von einer solchen Notwendigkeit kann indes bei unserer Frage nicht die Rede sein. Wir wissen: Der GmbHGesetzgeber stand im Jahr 1892 vor der Entscheidung, eine Ausfallhaftung einzuführen, und er konnte sie summenmäßig beschränkt oder unbeschränkt ausgestalten. Wir wissen auch, dass er sie eingeführt hat. Mehr aber wissen wir vorerst nicht. 2. Die summenmäßige Haftungsbeschränkung als Ergebnis einer Ausbalancierung von Einsatz und Risiko in der GmbH a) Das Urteil BGHZ 150, 61, 65 vom 25. 2. 2002 hat für die Notwendigkeit einer Haftungsbeschränkung auch auf die „Haftungsstruktur in der GmbH“ und auf die „gesetzgeberische Konzeption“ hingewiesen. Aus dieser, so wurde entgegengehalten, lasse sich nun eine Haftungsbeschränkung aber gerade nicht entnehmen.55 Auch könne man einer unbeschränkten Ausfallhaftung nicht mit gesetzessystematischen Erwägungen entgegentreten.56 Dieser Einwand basiert auf einer Fehleinschätzung des Arguments, das eben nichts 51 Vgl. zum Verhältnis von Innenhaftung auch im Zusammenhang mit der Vorgesellschaft Karsten Schmidt Gesellschaftsrecht, S. 1023: Nur das „Regresskarussell“ dreht sich anders; ausführlich ders. ZIP 1996, 353, 357, 599. 52 Vgl. ebd. 53 Vgl. nur Gätsch BB 1999, 701, 704; Cahn ZGR 2003, 298, 307; Paul ZinsO, 2003, 454, 457; Jungmann DS tR 2004, 688, 694. 54 Vgl. zum argumentativen Kunstgriff der „Reduktion auf eine Banalität“ Schmiedel Deliktsobligationen nach deutschem Kartellrecht, Bd. I, 1974, S. 102. 55 Altmeppen ZIP 2002, 961, 962. 56 Cahn ZGR 2003, 298, 303.

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mit gesetzessystematischen Erwägungen zu tun hat, sondern schlicht und einfach mit der unausgesprochenen Anerkennung eines haftungsrechtlichen Grundsatzes, der da lautet: „Jeder Gesellschafter einer GmbH kann das Ausmaß seiner Haftungsrisiken aus der Satzung ablesen. Darüber hinaus gibt es ohne Zutun der Gesellschafter keine gesetzlichen Kapitalsicherungsrisiken.“ Ob ein solcher Grundsatz existiert, ist keine gesetzessystematische Frage und wird auch vom BGH nicht als eine solche verstanden. Ob es ihn gibt, ist auf andere Weise zu erschließen. b) Niemand wird diesen Grundsatz mit akademischer Akkuratesse in der Gesetzesbegründung ausformuliert vermuten. Der Sache nach ist er aber doch belegbar. Die Schöpfer des GmbH-Gesetzes bezeichneten diese als eine „Gesellschaft, deren Mitglieder mit der Einzahlung ihrer Einlage von jeder weiteren Verbindlichkeit frei werden“.57 Die Ausfallhaftung für Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung nach §§ 24 und 31 Abs. 3 GmbHG wurde zum Ausgleich einer gegenüber dem Aktiengesetz schwächeren Kapitalsicherung eingeführt:58 als Haftung dafür, „dass das im Gesellschaftsvertrage bestimmte Stammkapital vollständig zur Einzahlung gelangt und dass auch nicht später eine Verminderung desselben durch unberechtigte Auszahlungen an die Gesellschafter stattfindet“.59 Die §§ 24 und 31 Abs. 3 GmbHG sprechen also von nichts anderem als von einer Vergemeinschaftung des Risikos, dass „das im Gesellschaftsvertrage bestimmte Stammkapital“ eingezahlt und dass diese im Gesellschaftsvertrag fixierte Summe nicht nachträglich „vermindert“ wird. Das so definierte Risiko erscheint als summenmäßig beschränkt und als aus dem Gesellschaftsvertrag ablesbar. c) Schon bei früherer Gelegenheit begründet und wohl auch heute nicht bestritten ist, dass der Gedanke an eine Unbegrenztheit – d. h. an eine nicht aus der Satzung ablesbare Ausdehnung – des Ausfallhaftungsrisikos außerhalb der Vorstellung des historischen Gesetzgebers lag. 60 aa)Das gilt zunächst für § 24 GmbHG . Einen GmbH- Gesellschafter, der „weniger als nichts“ einbringt und sich deshalb einer seine Stammeinlage überschreitenden Einlageschuld ausgesetzt sieht, konnten sich unsere Gesetzesverfasser noch nicht vorstellen. Spätestens seit der Aufnahme von § 9 GmbHG in das Gesetz durch die Novelle von 1980 – richtigerweise aber schon aufgrund der vorausgegangenen Rechtsprechung des Bundesge-

57 Entwurf eines Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung nebst Begründung und Anlagen, 1891, S. 34. 58 Dazu auch Priester FS 100 Jahre GmbH-Gesetz, 1992, S. 159, 182 f. 59 Entwurf eines Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung nebst Begründung und Anlagen, 1891, S. 40. 60 Karsten Schmidt BB 1985, 154, 157.

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richtshofs 61 – ergibt sich nun aus der Differenzhaftung des Sacheinlegers unter den Voraussetzungen des § 25 HGB 62 sowie des § 75 AO oder im Fall ökologischer Altlasten 63 die Ausgangsproblematik dieses Beitrags: Haften die Mitgesellschafter, wenn sich der Sacheinleger mit der Einbringung eines überschuldeten Unternehmens verausgabt hat, auf die volle, die Stammeinlage des Sacheinlegers vielleicht mehrfach übersteigende Unterdeckung? bb)Nichts anderes gilt für § 31 Abs. 3 GmbHG . 64 Die Gesetzesverfasser betrachteten das Stammkapital noch als einen gegenständlich zu sehenden Kapitalstock, der „vermindert“ werden, im schlimmsten Fall sogar ganz verschwinden könne und hiergegen durch Ausschüttungsverbote gesichert werden müsse. 65 Dass sich die Gesetzesverfasser des 19. Jahrhunderts das Stammkapital gegenständlich vorgestellt haben, ist gesichertes Wissen. Das ADHGB hatte die Kapitalerhaltungsregeln noch dahin formuliert, dass „die Einlagen“ (Art. 197 für die KGaA) bzw. „der eingezahlte Betrag“ nicht zurückgefordert werden könnten (Art. 216 Abs. 2 für die AG ). Ursprünglich hatte das ADHGB sogar für den Fall des heutigen § 92 Abs. 1 AktG die aus heutiger Sicht unsinnige Formel gewählt, „dass sich das Grundkapital um die Hälfte vermindert hat“ (Art. 240), bis dann im Jahr 1884 eine modernere Fassung gewählt wurde: „Verlust in Höhe der Hälfte des Grundkapitals“. Das GmbH-Gesetz drückt auch diesen Tatbestand heute noch in den altertümlichen Worten aus, „dass die Hälfte des Stammkapitals verloren ist“ (§ 49 Abs. 3 GmbHG). Auch durch verbotene Auszahlungen konnte bei solcher Betrachtung vermeintlich nur die Substanz des gesetzlich gesicherten Haftungsstocks haftungsschädlich geschmälert werden, mehr aber nicht. Hundert Jahre lang war selbst noch die Rechtsprechung in diesem gegenständlichen Verständnis des Stammkapitals befangen. 66 Das Grundlagenurteil BGHZ 60, 324 hatte noch ein Konzept zugrunde gelegt, nach dem § 31 GmbHG einschließlich seines Abs. 3 unmittelbar nur für Auszahlungen aus „vorhandenem Stammkapital“ gelten sollte, während für Auszahlungen aus überschuldetem Gesellschaftsvermögen nur der Zahlungsempfänger haften sollte, und zwar analog (!) § 31 Abs. 1 und 2 GmbHG . Bei solcher Sichtweise endete die Haftung der Mitgesellschafter per definitionem an der 61 Vgl. BGHZ 64, 52; 68, 191; Raiser in Das neue GmbH-Recht in der Diskussion, 1981, S. 21, 34. 62 Nach a.M. genügen die Voraussetzungen des analog anzuwendenden § 28 HGB , vgl. Fn. 10. 63 Zur Erwerberhaftung für Altlasten vgl. Fn. 11. 64 So auch BGHZ 150, 61, 65 f. 65 Entwurf eines Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung nebst Begründung und Anlagen, 1891, S. 79, 82. 66 Kritik damals bei Joost GmbHR 1983, 286 ff.; ders. ZHR 148 (1984), 27 f.; Karsten Schmidt BB 1985, 154, 157.

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Schwelle der Überschuldung (unrichtig verstanden als Totalverbrauch des Stammkapitals). Erst als der Bundesgerichtshof im Jahr 1990 – endlich! – die direkte Anwendung des § 31 GmbHG auf jede eine Unterbilanz bewirkende oder verschärfende Ausschüttung anerkannte, 67 war unser Problem unausweichlich. Es blieb bis zum Urteil vom 22. 9. 2003 in mehreren Entscheidungen unentschieden. 68 d) Wir dürfen hiernach davon ausgehen, dass der GmbH-Gesetzgeber die §§ 24 und 31 Abs. 3 GmbHG in das Gesetz aufgenommen hat, ohne auf die Möglichkeit einer unbeschränkten Haftung vorbereitet zu sein. Erst die bessere Einsicht in die Mechanismen der Kapitalaufbringung und -erhaltung hat die Voraussetzungen für eine unbeschränkte Ausfallhaftung der Mitgesellschafter überhaupt denkbar gemacht. 3. Zum Wert der historischen Argumentation Der historische Befund, dass nämlich eine unbeschränkte Ausfallhaftung bei der Schaffung der GmbH nicht in Rede stand, scheint heute anerkannt. Verschiedentlich wird aber der Wert der hierauf gestützten Argumentation bestritten.69 Ihr Schönheitsfehler ist zuzugeben: Aus ihr ergibt sich nur, dass dem Gesetzgeber eine unbeschränkte Ausfallhaftung aus § 24 GmbHG bzw. § 31 Abs. 3 GmbHG nicht in den Sinn kommen konnte, mehr nicht! Jüngst wurde deshalb eingewendet, die für eine Haftungsbeschränkung vorgetragene historische Argumentation nehme für sich in Anspruch, den hypothetischen Willen der Gesetzesverfasser zu kennen.70 Diese Kritik trifft aber nicht den Kern. Es wird ja nicht eine Auslegungsmethode postuliert, wonach der Gesetzesinhalt, wenn sich die von den Gesetzesverfassern zugrunde gelegten Prämissen ändern, dem hypothetischen Gesetzgeberwillen folgt. Die Frage ist vielmehr: Folgt eine an haftungsrechtliche Grundtatbestände – hier: an die Primärhaftung eines Gesellschafters auf (Wieder-) Herstellung von haftendem Gesellschaftsvermögen – anknüpfende Haftungsnorm blind – selbst unter Durchbrechung des Haftungssystems – den sich bei diesen Grundtatbeständen unvorhersehbarerweise einstellenden Verschärfungen? a) Teilweise wird eine solche Dynamik der Haftungstatbestände schlicht als gegeben genommen. Über § 24 GmbHG ist etwa zu lesen, spätestens mit der Einführung des § 9 GmbHG im Jahr 1980 habe sich der Gedanke erledigt, dass der Ausfall eines Gesellschafters seine Stammeinlage nicht über67 Vgl. BGH NJW 1990, 1730 = EWiR 1990, 481 (Joost) = WuB II C. § 31 GmbHG 1.90 (Immenga). 68 Vgl. ebd.; BGHZ 150, 61, 63 ff. 69 Vgl. nur Cahn ZGR 2003, 298, 300; Gätsch BB 1999, 701, 705; Jungmann DStR 2004, 688, 694 f.; s. auch bereits Reemann ZIP 1999, 1309, 1310, 1312. 70 Jungmann DStR 2004, 688, 694.

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steigen könne. 71 Und über § 31 GmbHG : 72 Die Rechtsprechung habe sich durch ein möglicherweise unzutreffendes Verständnis der Gesetzesverfasser von den Funktionen des Stammkapitals nicht gehindert gesehen, den § 30 sowie § 31 Abs. 1 und 2 GmbHG auf Zuwendungen aus einem überschuldeten Unternehmen anzuwenden. 73 Dann aber sei auch kein Grund ersichtlich, diesen Vorstellungen des Gesetzgebers im Rahmen des § 31 Abs. 3 GmbHG größeres Gewicht zu verleihen. Diese Stimmen nehmen den Grund des Problems für die Rechtfertigung seiner Lösung: die vor 1900 noch nicht in Betracht gezogene Verschärfung der Primärhaftung von Einlageschuldnern und Ausschüttungsempfängern. Sie machen damit denselben methodischen Fehler wie umgekehrt diejenigen, die aus der Unabsehbarkeit der Primärhaftung unmittelbar folgern, „unkalkulierbar“ dürfe die Ausfallhaftung nicht sein: petitio principii hier – petitio principii da! b) Unrichtig wäre es auch, die Bestimmungen – wie etwa die §§ 134, 823 Abs. 2 BGB – nach der Methode der dynamischen Verweisungen auszulegen. 74 Die §§ 24 und 31 Abs. 3 GmbHG sind eben nicht als Verweisungen auf einen erst zu bestimmenden und zu konkretisierenden Kreis von Bezugsnormen konzipiert, sondern sie knüpfen an vermeintliche Konstanten an: an den Ausfall von satzungsmäßig begrenzten Ansprüchen der Gesellschaft auf die Einzahlung oder Wiedereinzahlung von satzungsmäßigen Stammeinlagen. 4. Haftungsbeschränkung als geltendes Recht a) Wenn sich die herrschende Auffassung mit ihrer Argumentation aus der „Haftungsstruktur“ der GmbH und aus dem Schutz der Gesellschafter gegen „unkalkulierbare Risiken“ ihres Plädoyers für die Haftungsbeschränkung doch sicher sein kann, dann hängt das mit dem ausbalancierten Risikosystem in der GmbH zusammen: 75 mit der grundsätzlichen Ablehnung jeder über das eigene Einlageversprechen jedes Gesellschafters hinausgehenden Haftung, mit dem Ausnahmecharakter der in §§ 24, 31 Abs. 3 GmbHG enthaltenen, vom Willen der Gesellschafter unabhängigen wechselseitigen Leistungsgarantie und mit deren Ergänzung durch summenmäßig unbeschränkte richterrechtliche Feinsteuerung. Als ergänzende richterrechtliche Rechtsinstitute sind zu nennen: Reemann ZIP 1990, 1309, 1311. Cahn ZGR 2003, 298, 300; ähnlich Immenga WuB II C. § 31 GmbHG 1.90. 73 Cahn weist hier hin auf BGHZ 60, 324, 331; BGH NJW 1990, 1730. 74 Vgl. zur Auslegungsmethode und zum Akzessorietätsproblem bei § 823 Abs. 2 BGB exemplarisch Wagner in Münchner Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 4. Aufl., 2004, § 823 Rn. 321. 75 Vgl. nur Roth/Altmeppen § 31 Rn. 22. 71

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die Unterbilanzhaftung bei der GmbH-Gründung (unten V 3) und die Verschuldenshaftung für rechtswidrige Veranlassung unzulässiger Entnahmen (unten V 4).

b) Vor diesem Hintergrund kann, ja muss die nur vom Haftungsausfall eines Primärschuldners abhängige gesetzliche Ausfallhaftung summenmäßig begrenzt sein. Die Haftung ist zwar eine gesetzliche, aber sie findet doch ihre Legitimation in der Zugehörigkeit des Gesellschafters zu einer Gesellschaft, für deren satzungsmäßig bestimmtes Garantiekapital alle Gesellschafter geradestehen. Die Annahme, wer auch nur als Minderheitsgesellschafter einer GmbH beitrete oder eine ererbte Beteiligung fortführe, müsse allein deshalb unbegrenzt für Ausfälle anderer Gesellschafter etwa mit versprochenen Leistungen auf erhöhtes Stammkapital oder mit verbotenen Entnahmen geradestehen, wird von der herrschenden Auffassung zutreffend als mit dem geltenden GmbH-Recht unvereinbar angesehen. Damit ist es am Ende doch die so gescholtene76 systematische Schau, die nur eine beschränkte Ausfallhaftung als mit dem Gesetz verträglich erscheinen lässt.

IV. Zur Methode der Haftungsbeschränkung 1. Die auf die Stammeinlage des Einlageschuldners begrenzte Haftung nach § 24 GmbHG a) Bereits bei früherer Gelegenheit wurde ausgeführt, dass und warum sich das Gesamtrisiko jedes Gründers im Fall des § 24 GmbHG nach dem Willen der Gesetzesverfasser auf die Summe aller Stammeinlagen beschränkt, wobei für jeden Ausfall nur bis zur Höhe der jeweils versprochenen Stammeinlage gehaftet wird. 77 Die Maßgeblichkeit der auf den kaduzierten Geschäftsanteil entfallenden Stammeinlage hat den Vorzug unmittelbarer Plausibilität. Die Ausfallhaftung beruht – nicht anders als die Primärschuld jedes Gesellschafters in Höhe der eigenen Einlage – auf dem satzungsmäßigen Einlageversprechen aller, das durch die gesetzliche Ausfallhaftung um eine wechselseitige Garantie, begrenzt auf den Ausfall des jeweiligen Mitgesellschafters mit der von ihm versprochenen Einlage, ergänzt wird. Nicht von ungefähr hat dieses Haftungsbeschränkungsmodell im Fall des § 24 GmbHG weithin Zustimmung gefunden78 und wird sogar – wenn auch schwerlich zu Recht – sogar als die herrschende Ansicht bezeichnet. 79

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Vgl. Fn. 56. Karsten Schmidt BB 1985, 154, 154 f.; ders. 1995, 529, 532. Vgl. Fn. 18. Rowedder/Schmidt-Leithoff/Pentz (Fn.16) § 24 Rn. 24.

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b) Die hier – und im Fall des § 24 GmbHG von einer nennenswerten Anzahl von Stimmen – vertretene Begrenzung der Ausfallhaftung auf die nominelle Einlageschuld wird nicht selten als eine unangemessene Schonung der Mitgesellschafter angesehen.80 Richtig ist, dass etwa bei einer 25 000 e-GmbH mit fünf Gesellschaftern nicht viel herauskommt. Aber genau dies ist – auch mit Blick auf die Gläubiger! – angemessen, weil die Eintragung einer GmbH mit geringem Stammkapital auch nur eine geringe Ausfallgarantie dokumentiert. Auf das plastische Gegenbeispiel BGHZ 132, 390 (Ausfallhaftungsrisiko in Höhe von 1,99 Mio. für einen 10 000- DM -Treuhandgesellschafter) wurde schon unter III 1 b hingewiesen. Wer sich an einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung beteiligt, muss in eigener Sache für die Deckung der eigenen Stammeinlage, im Wege der Ausfallhaftung im schlimmsten Fall bis zur Höhe der Stammeinlagen aller anderen Gesellschafter, geradestehen. Nach der herrschenden – hier nicht zu diskutierenden – Auffassung gilt dies auch im Fall der Kapitalerhöhung, und zwar sogar für den gegen die Erhöhung stimmenden Minderheitsgesellschafter, wenn er nicht unverzüglich seinen Austritt aus der Gesellschaft erklärt. 81 Dass gerade in Kapitalerhöhungsfällen durchaus ernsthafte Ausfallrisiken nach § 24 GmbHG auf die Gesellschafter zukommen können, zeigt ein vielzitierter Fall des LG Mönchengladbach. 82 Da ging es um eine Kapitalerhöhungssumme von nicht weniger als 1,85 Mio. DM , womit auch die summenmäßig beschränkte Haftung durchaus die ihr von den Gesetzesverfassern nachgesagte „Strenge“ zeigt. Vor dieser unabweisbaren Konsequenz des Gesetzes bewahrt ihn die hier vertretene Auffassung nicht, wohl aber vor einer darüber hinausgehenden Haftung, wenn sich etwa bei einer Sachkapitalerhöhung der Zeichner – vielleicht selbst eine GmbH – mit der Einbringung eines unerkannt überschuldeten oder mit ökologischen Altlasten vorbelasteten Unternehmens vollständig verausgabt hat. 2. Übertragung dieses Konzepts auf § 31 Abs. 3 GmbHG? a) Was § 31 Abs. 3 GmbHG anlangt, so resultiert die hier vertretene Auffassung aus einer spiegelbildlichen Übertragung des für § 24 GmbH geltenden, auf die jeweilige Stammeinlage eines ausfallenden Gesellschafters bezogenen Haftungskonzepts von der Kapitalaufbringung auf die Kapitalerhaltung:83 Die Ausfallhaftung jedes Mitgesellschafters für die potenziellen Wieder-EinzahVgl. Cahn ZGR 2001, 298, 307. LG Mönchengladbach ZIP 1986, 306; Baumbach/Hueck GmbHG -Fastrich (Fn. 14) § 24 Rn. 5; Roth/Altmeppen GmbHG § 24 Rn. 16; Rowedder/Schmidt-Leithoff/Pentz (Fn.16) § 24 Rn. 31; Scholz/Priester (Fn. 18) § 55 Rn. 17, 22; die Meinungsstände referierend Scholz/Emmerich (Fn. 18) § 24 Rn. 16. 82 LG Mönchengladbach ZIP 1986, 306. 83 Das war neu an dem in BB 1985, 154 und 1995, 529 vorgestellten Konzept. 80 81

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lungspflichten jedes anderen ist, ganz wie bei der Kapitalaufbringungshaftung, beschränkt auf die Höhe des Geschäftsanteils des Primärschuldners, 84 im Ergebnis also doppelt begrenzt: begrenzt durch die Höhe der Primärhaftung des Empfängers einer verbotenen Ausschüttung (§ 31 Abs. 1 GmbHG) und begrenzt durch die satzungsmäßige Stammeinlage dieses Gesellschafters. Wie bei der Kapitalaufbringung (§ 24 GmbHG) summiert sich damit das aus der Zeichnung einer GmbH-Beteiligung resultierende, von irgendwelchen weiteren Dispositionen nicht abhängige Gesamtrisiko jedes Gesellschafters bis zur Höhe des satzungsmäßigen Stammkapitals, wenn nämlich sämtliche Mitgesellschafter mit ihrer Einlageschuld (§ 24 GmbHG) oder mit Rückzahlungsverbindlichkeiten ausfallen (§ 31 Abs. 3 GmbHG) bzw. wenn der einzige Mitgesellschafter mit dieser Schuld ausfällt. Im Gegensatz zu § 24 GmbHG findet sich diese Auffassung im Zusammenhang mit § 31 GmbHG nur vereinzelt. 85 b) Grundlage dieser Auffassung ist die Parallelität der in den §§ 24 und 31 Abs. 3 GmbHG enthaltenen Bestimmungen über die Ausfallhaftung. Diese Parallelität ist nicht nur systematisch im Gesetz angelegt. Sie ist auch von den Gesetzesverfassern unmissverständlich gewollt. 86 Diese haben den unmittelbaren Zusammenhang der beiden „analogen Haftungsnormen“ in der Gesetzesbegründung mehrfach betont, 87 und dieser Zusammenhang ist von der insofern bis heute noch herrschenden Auffassung anerkannt, 88 übrigens entgegen aufgetretenen Missverständnissen 89 im Kern auch vom Bundesgerichtshof. Vorgetragen wird zwar – und ohne weiteres einzuräumen ist auch –, dass sich hieraus für § 31 Abs. 3 GmbHG keine „zwingenden Schlüsse“ ziehen lassen. 90 Aber die Symmetrie der Kapitalaufbringungs- und Erhaltungshaftung im GmbH-Recht, vom Bundesgerichtshof wiederholt in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen zum Tragen gebracht, 91 hat angesichts des gewollten Zusammenhangs der §§ 24 und 31 Abs. 3 GmbHG für deren Auslegung doch das Gewicht besonderer Plausibilität. c) Genau dies wird vom II . Zivilsenat allerdings mit den Worten bestritten, für eine Beschränkung der Ausfallhaftung nach § 31 Abs. 3 GmbHG auf die Vgl. Fn. 21. Vgl. Fn. 18, 21. 86 Entwurf eines Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung nebst Begründung und Anlagen, 1891, S. 82. 87 Ebd., S. 34, 40, 82. 88 Vgl. nur Kallmeyer in GmbH-Hdb. (Fn. 17) Rn. I 362 ff. 89 Vgl. Blöse GmbHR 2003, 1426: Der BGH stehe auf dem Standpunkt, „dass eine Parallelität zu § 24 GmbH … gar nicht bestehe“. 90 Cahn ZGR 2003, 298, 307. 91 Vgl. nur BGHZ 118, 107, 110 ff.; 144, 336, 341; BGH NJW 2001, 3781, 3782. 84 85

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Stammeinlage des Empfängers bestehe „wegen des gegenüber § 24 GmbHG ungleich höheren Fehlbetrags in den von § 31 Abs. 3 GmbHG miterfassten Überschuldungsfällen … kein Anlass“. 92 Mit diesem Argument ließe sich nun freilich gegen jede – auch gegen die vom II . Senat befürwortete – Haftungsbeschränkung zu Felde ziehen. 93 Gemeint ist wohl, was von anderer Seite so formuliert wird: Es sei – anders als bei der Aufbringung der satzungsmäßigen Stammeinlagen – kein überzeugender Grund dafür ersichtlich, den Schutz der Gesellschaftsgläubiger vor verbotswidrigen Minderungen des Gesellschaftsvermögens in Abhängigkeit von der Höhe des Geschäftsanteils des Empfängers auszugestalten. 94 Aber auch so führt das Argument des Bundesgerichtshofs nicht weiter. Mit demselben Recht, mit dem man „wegen des gegenüber § 24 GmbHG (übrigens keineswegs notwendig!) ungleich höheren Fehlbetrags in den von § 31 Abs. 3 GmbHG miterfassten Überschuldungsfällen“ die Haftungsbeschränkung im Bereich des § 31 GmbHG ablehnen könnte, lässt sich eben auch sagen: Sie ist bei der Haftung nach § 31 Abs. 3 GmbHG nicht andersartig, nur eben viel wichtiger als im Rahmen des § 24 GmbHG , weil für die ganze Dauer der Zugehörigkeit zur Gesellschaft schlechterdings unentbehrlich. d) Gegen die hier vertretene Auffassung ist mehrfach vorgetragen worden, sie führe zu Zufallsergebnissen: Die Höhe des von den Mitgesellschaftern zu tragenden Ausfalls dürfe doch nicht von der Höhe des Geschäftsanteils des Empfängers abhängen. 95 Das hört sich plausibel an, plausibel im Rahmen eines Vergleichs zwischen verschiedenen Ausschüttungsempfängern: Warum soll die Ausfallhaftung des C ihrer Höhe nach davon abhängen, ob entgegen § 30 GmbHG die ausgeschüttete Million dem Großgesellschafter A oder dem Kleingesellschafter B zugeflossen ist? Aber wir brauchen uns ja nur zwei beteiligungsidentische Gesellschaften mit verschiedenem Stammkapital vorstellen, um der herrschenden Auffassung eine ähnliche Absurdität entgegenzuhalten: Warum soll die Mithaftung des C ihrer Höhe nach davon abhängen, ob A die Million durch einen Griff in die Kasse der großen X-GmbH oder der kleinen Y-GmbH erlangt hat? Aus reiner Gläubigerperspektive scheint die eine Lösung so willkürlich wie die andere. Aus Gesellschaftersicht aber zeigt sich: Ob A oder B entnommen hat, macht einen Unterschied, weil der Gesellschafter C die Gläubiger darauf verweisen kann, dass einmal die Einlage des A und einmal die des B, für die er ggf. auch haf92 Vgl. BGH NJW 2003, 3629, Entscheidungsgründe unter II 2 a; ebenso Lutter/Hommelhoff § 31 Rn. 21: „Im Verhältnis zum Empfänger stehen die Mitgesellschafter … näher als die Gesellschaftsgläubiger; ihnen darf das Ausfallrisiko oberhalb der Empfängereinlage nicht zugeschoben werden.“ 93 Konsequent Jungmann DStR 2004, 688. 94 Cahn ZGR 2003, 298, 307. 95 Ulmer, FS 100 Jahre GmbH-Gesetz , S. 363, 372; Jungmann DStR 2004, 688, 694; ders. WuB II C. § 31 GmbHG 1.04.

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ten würde, gedeckt geblieben ist. Und im zweiten Fall kann er darauf verweisen, dass das satzungsmäßig zu deckende Stammkapital einmal hoch, einmal niedrig angesetzt und entsprechend im Handelsregister eingetragen ist. Im magischen Dreieck zwischen Gläubiger, Gesellschaft und Gesellschafter erscheint dies als ein durchaus berechtigtes Differenzierungskriterium. 3. Die Haftung bis zur Höhe des Stammkapitals: eine Scheinlösung a) Die für § 31 Abs. 3 GmbHG unbedingt herrschende, für § 24 GmbHG gleichfalls vertretene, 96 dort aber wenig bedeutsame Auffassung begrenzt die Ausfallhaftung auf die Höhe des Stammkapitals. 97 Offenbar drängt sich diese Haftungsgrenze dem Rechtsgefühl irgendwie auf, weil sie aus der Satzung ablesbar und damit als Baustein begrenzten Gläubigerschutzes objektivierbar ist. Dass sie die richtige Grenze für jeden einzelnen Haftungsausfall ist, ergibt sich daraus freilich noch nicht. Im Gegenteil: Die Beschränkung auf die Höhe des Stammkapitals erscheint bei näherem Hinsehen arbiträr. Wäre nicht etwa das Stammkapital, multipliziert mit der Zahl der eventuell ausfallenden Mitgesellschafter auch eine irgendwie angemessene Höchstsumme? Und wenn die Gesellschaft mit Eigenkapitalersatz operiert, wollen wir dann nicht gleich dessen Volumen hinzurechnen? Oder umgekehrt: Warum soll es nach einer Kapitalerhöhung auf das erhöhte Gesamt-Stammkapital ankommen, wenn doch das Ausgangskapital vollständig eingezahlt und nicht ausgeschüttet (wenn auch vielleicht durch Verluste verbraucht) war? Fragen über Fragen, sie alle verräterische Signale für die willkürliche Wahl der von der herrschenden Auffassung akzeptierten Haftungsbegrenzung! b) Die herrschende Auffassung verrät bisher nicht, ob die auf die Höhe des Stammkapitals beschränkte Ausfallhaftung bei Simultanausschüttungen oder bei Sukzessivausschüttungen an mehrere Gesellschafter mehrfach oder nur insgesamt einmal anfallen kann. 98 Die Problematik ist bereits aus der Zeit der älteren, noch der gegenständlichen Betrachtungsweise folgenden Rechtsprechung bekannt. 99 Das Urteil BGHZ 150, 61 vom 25. 2. 2002 ist ihr dadurch ausgewichen, dass es eine Folge von Scheckzahlungen als eine und dieselbe Ausschüttung angesehen hat.100 Die diesbezügliche Selbstzufriedenheit der herrschenden Auffassung verwundert gerade vor dem Hintergrund

Fn. 17. Fn. 20. 98 Cahn ZGR 2003, 298, 307. 99 Vgl. Joost GmbHR 1983, 285, 290; Karsten Schmidt BB 1985, 154, 157. 100 Dazu Cahn ZGR 2003, 298, 306. 96 97

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des BGH -Urteils vom 22. 9. 2003.101 Hier war an jeden der fünf Gesellschafter mehr als die Summe des Stammkapitals von 350 000 DM ausgeschüttet worden. Der Klagantrag zielte auf die Feststellung, dass der Beklagte für den Fall der Uneinbringlichkeit der Rückzahlungsforderungen aus § 31 Abs. 1 GmbHG gegen Mitgesellschafter gemäß § 31 Abs. 3 GmbHG verpflichtet sei, 25 % des jeweils nicht zu erlangenden Betrags, „höchstens jedoch pro Ausfall 87 500 DM“ zu zahlen. Diese Summe von 350 000 : 4 = 87 500 beruhte nun offenbar nicht darauf, dass das Gesamtrisiko jedes Gesellschafters auf 4 × 87 500 = 350 000 = Stammkapital begrenzt gewesen wäre, sondern sie erklärte sich unverkennbar daraus, dass für jeden eventuellen Ausfall vier als solvent gedachte Mitgesellschafter anteilig auf maximal 350 000 haften sollten. Im Fall der Insolvenz aller Mitgesellschafter hätte sich die Gesamthaftung des letztverbleibenden Gesellschafters nach diesem Konzept demnach wohl auf viermal 350 000 = 1.4 Mio. summiert. Aber unzweideutig geklärt wird das nicht. Ebenso wenig erfährt man, ob sich die Haftungshöchstsumme bei wiederholten Ausschüttungen an denselben Gesellschafter vervielfältigen kann. Hätte etwa der Mehrheitsgesellschafter und Geschäftsführer in einer Zweipersonengesellschaft in mehreren Geschäftsjahren unerlaubte Entnahmen über der Höhe des Stammkapitals getätigt, so müsste die Ausfallhaftung wohl gleichfalls ein Mehrfaches des Stammkapitals betragen, und des Mitgesellschafters einziger Schutz gegen eine sukzessive Vervielfältigung der vermeintlichen Haftungsgrenze bliebe die Verjährung.102 Nicht verraten wird auch, wie zu verfahren ist, wenn der Empfänger einer verbotenen Zahlung noch die Einlage schuldet. Zählt dann das Stammkapital doppelt für die Haftung nach § 24 GmbHG und nach § 31 GmbHG? c) In diesem Zusammenhang lohnt sich der schon angekündigte Blick auf den von Lutter und Hommelhoff unternommenen, jetzt aber vom BGH beiseite geräumten Versuch einer Detailkorrektur an der herrschenden Auffassung: 103 Die hinter diesem Korrekturversuch stehende Frage lautet: Warum soll nicht ein Mitgesellschafter, wenn sich die Ausfallhaftung auf die Höhe des Stammkapitals beschränkt, die von ihm selbst geleistete Einlage als Beitrag zum Stammkapital von seinem Haftungsbeitrag in Abzug bringen können? Während das Rechtsgefühl dieser Überlegung spontan beipflichten möchte, meint der II . Zivilsenat im Urteil vom 22. 9. 2003, zu einer solchen Haftungsbeschränkung bestehe „kein Anlass“. Richtig ist, dass diese Korrektur nicht in das geschilderte, von Lutter und Hommelhoff akzeptierte Haftungskonzept der herrschenden Ansicht und auf dieser Basis Vgl. Fn. 7. Vgl. zur Verjährungseinrede gegenüber der Ausfallhaftung Roth/Altmeppen § 31 Rn. 30 ff. 103 Lutter/Hommelhoff GmbHG § 31 Rn. 21. 101

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auch nicht zum Gesetz passt. Dieses geht bei § 31 Abs. 3 GmbHG wie bei § 24 GmbHG von einem bestimmten Ausfallbetrag aus, der von allen Mitgesellschaftern nach dem Verhältnis ihrer Geschäftsanteile gedeckt werden muss. Für individuelle Abzüge von diesen Haftungsbeträgen ist kein Raum. Die von Lutter und Hommelhoff angestellte durchaus vernünftige Überlegung taugt deshalb nicht für die von ihnen vorgeschlagene Korrektur der herrschenden Auffassung, wohl aber als Beleg für deren grundsätzliche Fragwürdigkeit: als negativ verlaufender Falsifikationstest!

V. Die summenmäßig beschränkte Haftung im Stimmigkeitstest 1. Die Stammeinlage des Primärschuldners als Haftungsgrenze a) Folgt man der hier vertretenen Lösung, so fügt sich das von Lutter und Hommelhoff verfolgte Gerechtigkeitsanliegen bruchlos in das Konzept der Ausfallhaftung ein: Das satzungsmäßige Versprechen jedes Gesellschafters geht auf die Leistung der eigenen Stammeinlage und auf deren Nicht-Abzug im Fall einer Unterbilanz. Das gesetzlich vorgegebene Gesamtrisiko des Gesellschafters einer GmbH (die in der Rechtsformbezeichnung sogenannte „beschränkte Haftung“) besteht im Verlust dieser eigenen Einlage und addiert sich im Verein mit der ergänzenden Ausfallhaftung nach §§ 24 und 31 Abs. 3 GmbHG zu einem Gesamtrisiko in Höhe des Stammkapitals. Jeder Gesellschafter muss für jeden bis zur Höhe seiner satzungsmäßigen Stammeinlage geradestehen. Und umgekehrt kommt auf jeden beim Ausfall aller Mitgesellschafter im schlimmsten Fall eine Ausfallhaftung in Höhe aller anderen Stammeinlagen zu. Die eigene Stammeinlage braucht der Gesellschafter nach diesem Haftungskonzept nicht – so der von Lutter und Hommelhoff gewollte Effekt – von der eigenen Ausfallhaftung abzuziehen, sondern die eigene Stammeinlage ist überhaupt nicht Bestandteil der Ausfallhaftung. Am einfachsten ist dieses Konzept in der Zweipersonengesellschaft zu erkennen, bei der jeder für verbotswidrige Auszahlungen an sich selbst unbeschränkt geradestehen muss (§ 31 Abs. 1 GmbHG), für Auszahlungen an seinen Mitgesellschafter in Höhe von dessen Stammeinlage (§ 31 Abs. 3 GmbHG), ohne dass es noch eines Abzugs seiner eigenen Stammeinlage bedarf.104

104 Auch die Auszahlung an einen Dritten ist, sofern causa societatis erfolgt, als Zahlung an den Gesellschafter anzusehen ( BGHZ 60, 324, 330); neben der Sache deshalb der Einwand, die hier vertretene Auffassung sei bei Drittleistungen wehrlos (so Michalski/Heidinger § 31 Rn. 65).

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b) Es ist verständlich, wenn Kritiker der hier vertretenen Auffassung Defizite an Gläubigerschutz nachsagen,105 aber mit demselben Recht kann ihnen ein dem GmbH-Recht fremder Haftungsterror nachgesagt werden, denn weder die unbeschränkte Ausfallhaftung noch die Gefahr einer Mehrfachhaftung in Höhe des Stammkapitals ist mit dem GmbH-Konzept des Gesetzes in Deckung zu bringen. Auch dem auf den ersten Blick so plausiblen Einwand, die hier vertretene Auffassung führe zu Zufallsergebnissen, wenn einmal der Mehrheitsgesellschafter, einmal der Minderheitsgesellschafter mit der Kasse davonläuft,106 wurde bereits entgegengetreten. Es macht einen Unterschied, ob die für einen Ausfall haftenden Mitgesellschafter die Gläubiger auf die gedeckt gebliebenen Stammeinlagen verweisen können oder nicht. c) Für eine Vervielfältigung der Haftungsgrenze durch Simultan- oder Sukzessivausschüttungen ist nach der hier vertretenen Lösung kein Raum. Wird, wie im Ausgangsfall des BGH , gleichzeitig an alle Gesellschafter ausgeschüttet, so versteht sich von selbst, dass jeder Gesellschafter nach § 31 Abs. 1 Gmb HG für den eigenen Empfang unbeschränkt haftet und dass nach § 31 Abs. 3 GmbHG für jeden Ausfall gehaftet wird. Aber für jeden ausfallenden Gesellschafter wird die Haftungssumme nur einmal ausgeschöpft. Das würde selbst in dem – eher theoretischen – Fall gelten, dass für denselben jetzt insolventen Gesellschafter teils aus § 24 GmbH gehaftet wird (weil er über die Teileinlage nach § 7 Abs. 2 GmbHG hinaus seine Resteinlage nicht geleistet hatte) und außerdem aus § 31 Abs. 3 GmbHG (weil ihm verbotswidrige Ausschüttungen zugeflossen sind). Für jede Stammeinlage wird nur einmal gehaftet: durch den Gesellschafter selbst bis zur Höhe der Unterdeckung, hilfsweise durch seine Mitgesellschafter bis zur Höhe seiner satzungsmäßigen Stammeinlage. 2. Übertragung des Haftungskonzepts auf Analogiefälle der §§ 30 f. GmbHG a) Auch auf die analog § 31 Abs. 1 GmbHG begründete Rückzahlungspflicht im Fall einer Rückgewähr eigenkapitalersetzender Gesellschafterdarlehen hat der Bundesgerichtshof § 31 Abs. 3 GmbHG mit Recht angewandt.107 In der Literatur 108 wird dies vereinzelt kritisiert, aber die 105 Vgl. Gätsch BB 1999, 701, 704; Jungmann DStR 2004, 688, 694 f.; vgl. auch Cahn ZGR 2003, 298, 307. 106 Fn. 95. 107 BGH NJW 1990, 1730 = EWiR 1990, 481 (Joost) = WuB II C. § 31 GmbHG 1.90 (Immenga); h.M.; vgl. statt vieler Michalski/Heidinger §§ 32 a, b Rn. 272 f.; Rowedder/SchmidtLeithoff/Pentz (Fn. 16) § 32 a Rn. 219; Lutter/Hommelhoff GmbHG §§ 32a, b. Rn. 83. 108 Oppenhoff, FS Stiefel, 1987, S. 551 ff.; s. auch Fastrich, FS Zöllner, 1998, S. 143, 157 f.

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Anwendung der Bestimmung passt durchaus in das Konzept der Ausfallhaftung. Mitgesellschafter müssen für die unerlaubte Auskehr aus dem gebundenen Gesellschaftsvermögen unabhängig davon einstehen, ob diese Auszahlung offen „auf die Einlage“ oder als verdeckte Ausschüttung oder als Rückführung eines analog § 30 GmbHG gesperrten Gesellschafterdarlehens oder schließlich – so in dem grundlegenden BGH -Urteil von 1990 – als Befreiung von einer eigenkapitalersetzenden Gesellschaftersicherheit erfolgt ist. Der Bundesgerichtshof hat seinerzeit – und ein Jahr später nochmals 109 – ausdrücklich offen gelassen, ob diese Ausfallhaftung summenmäßig beschränkt ist. Seit dem Urteil vom 22. 9. 2003 würde er wohl auch hier der herrschenden Auffassung folgen, die die Ausfallhaftung im Eigenkapitalersatzrecht gleichfalls auf die Höhe des Stammkapitals beschränkt.110 Bedenkt man die Möglichkeit simultan oder sukzessiv erfolgender Rückführungen mehrerer Gesellschafterdarlehen, so ist dies nur ein geringer Schutz der an den Vorgängen nicht beteiligten Gesellschafter gegen exorbitante Gesamthaftungsrisiken. Nach der hier vertretenen Auffassung ist das Ergebnis ein vollständig anderes.111 Die Mitgesellschafter haften auch für den Ausfall einer analog § 31 GmbHG begründeten Rückzahlungspflicht eines kredit- oder sicherungsgebenden Gesellschafters nur bis zur Höhe seiner Stammeinlage. Und sie haften überhaupt nicht mehr, soweit ihre Einstandspflicht bereits nach § 24 GmbHG oder in direkter Anwendung des § 31 Abs. 3 GmbHG oder schließlich analog § 31 Abs. 3 GmbHG für sonstigen Eigenkapitalersatz bereits ausgeschöpft ist. Für eine – sich gar mehrfach wiederholende – Haftung des an dem Vorgang unbeteiligten Gesellschafters bis zur Höhe des Stammkapitals ist ebenso wenig Raum wie für seine unbeschränkte Ausfallhaftung. b) Auch im Recht der GmbH & Co. KG hilft die Haftungsbeschränkung. Bekanntlich unterliegen unter methodisch im einzelnen zweifelhaften Voraussetzungen 112 die Gesellschafter einer GmbH & Co. KG – auch der sog. Nur-Kommanditist 113 – bei Ausschüttungen aus dem KG -Vermögen einer sinngemäßen Anwendung der §§ 30, 31 GmbHG .114 Es sprechen gute BGH EWiR 1992, 787 (Wissmann). So namentlich v. Gerkan/Hommelhoff, Handbuch des Kapitalersatzrechts, 2. Aufl. 2002, Rn. 3.123 ff., 126; Hachenburg/Ulmer (Fn. 17) §§ 32a, b Rn. 173; Lutter/Hommelhoff §§ 32a, b Rn. 106; Michalski/Heidinger §§ 32a, b Rn. 273, Roth/Altmeppen § 32a Rn. 115 i. V. m. § 31 Rn. 17. 111 Karsten Schmidt Gesellschaftsrecht, S. 1168; ausführlich ders. DB 1992, 1917 f.; s. auch Scholz/Karsten Schmidt (Fn. 18) §§ 32a, b Rn. 83. 112 Dazu Karsten Schmidt Gesellschaftsrecht, S. 1656 f.; ders. in Münchner Kommentar zum HGB , 2002, §§ 171/172 Rn. 100. 113 BGHZ 110, 342; BGH NJW 1995, 1960. 114 Grundlegend BGHZ 60, 324, 329 f.; 69, 274. 109 110

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Gründe dafür, § 31 Abs. 3 GmbHG in diesen Fällen nur auf GmbH-Gesellschafter anzuwenden,115 und schlechthin zwingende Gründe sprechen dafür, auch hier die Garantiehaftung von Mitgesellschaftern weder unbeschränkt zum Zuge kommen zu lassen noch sie für jede Ausschüttung auf das gesamte Stammkapital oder gar Kommanditkapital auszudehnen, vielmehr sollte die Einstandspflicht auch bei der GmbH & Co. auf die Stammeinlage des Empfängers beschränkt sein. Will man – eine, soweit ersichtlich, noch vor uns liegende Aufgabe – über eine analoge Anwendung des § 31 Abs. 3 GmbHG auch auf die Ausschüttung an einen Nur-Kommanditisten nachdenken, so wäre diese – zur Zeit fern liegende – Analogie jedenfalls auf die vertragsmäßige Kommanditeinlage des Empfängers zu beschränken. 3. § 24 GmbHG bei der Unterbilanzhaftung: ein Argument gegen die Haftungsbeschränkung? a) Keine nennenswerte Diskussion gibt es anscheinend bisher über eine summenmäßige Höchstgrenze der Mithaftung der Gesellschafter analog § 24 GmbHG für Ausfälle im Rahmen der gründungsrechtlichen Unterbilanzhaftung. Bekanntlich verhält es sich bei der GmbH-Gründung nach dem Stand der Praxis ja so, dass die Gründer eine am Eintragungsstichtag bestehende Unterbilanz nach dem Verhältnis ihrer Geschäftsanteile, aber mit einer dem § 24 GmbHG entsprechenden Ausfallhaftung, ausgleichen müssen.116 Von einer Beschränkung dieser Ausfallhaftung auf die Höhe des Stammkapitals oder gar auf die Stammeinlage des Empfängers ist hier naturgemäß nicht die Rede, womit sich die Frage aufzudrängen scheint: Kommt nicht dies einer Bankrotterklärung der summenmäßigen Haftungsbeschränkung gleich?117 Doch läge diese Konsequenz neben der Sache. Die sog. Vorgesellschaft lebt unter einem Regime der unbeschränkten, nicht der nach § 13 Abs. 2 GmbHG beschränkten Haftung. Die seit 1981 anerkannte Unterbilanzhaftung118 ist, wie seit der verspäteten Anerkennung der Gründerhaftung durch das BGH Urteil von 1997119 allgemeinkundig sein dürfte, nichts als das Resultat einer im Gründungsstadium entstandenen, dieses aber überdauernden unbeschränkten Haftung der Gesellschaftsgründer für Verbindlichkeiten der Vor-GmbH.120 Die Beschränkung der Gesellschafterhaftung auf übernommene StammeinlaSo wohl Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG , 9. Aufl. 2003, § 11 Rn. 38. BGHZ 80, 129, 141; Raiser Kap-GesR § 26 Rn. 111; Baumbach/Hueck/Fastrich (Fn. 14) § 11 Rn. 56, Lutter/Hommelhoff § 11 Rn. 22; Scholz/Karsten Schmidt (Fn. 18) § 11 Rn. 128. 117 So offenbar Michalski/Ebbing § 24 Rn. 62. 118 BGHZ 80, 129. 119 BGHZ 134, 333. 120 Vgl. Karsten Schmidt Gesellschaftsrecht, S. 1021 ff.; Scholz/Karsten Schmidt (Fn. 18) § 11 Rn. 124. 115 116

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gen nach § 13 Abs. 2 GmbHG gilt nicht für die Vorgesellschaft.121 Folgt man der Auffassung des Bundesgerichtshofs, so setzt diese unbeschränkte Gründerhaftung, soweit sie aus Rechtsgeschäften resultiert, sogar eine Zustimmung der Gesellschafter zum Geschäftsbeginn vor der Eintragung voraus.122 Thomas Raiser123 und der Verfasser124 folgen dieser Einschränkung zwar nicht, aber das ändert nichts daran, dass sich die unbeschränkte Gründerhaftung außerhalb der §§ 13 Abs. 2, 24 und 31 Abs. 3 GmbHG abspielt. Die vollständige Andersartigkeit des gründungsrechtlichen Haftungsmodells wird vollends deutlich, wenn man die Gründerhaftung – was inzwischen entgegen dem theoretischen Ansatz des BGH die praktische Regel zu sein scheint125 – als unbeschränkte gesamtschuldnerische Außenhaftung ansieht, die erst im Fall einer Insolvenzverfahrenseröffnung126 oder im Zeitpunkt der Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister zu einer proratarischen Innenhaftung mutiert.127 Es verhält sich dann nicht anders als im Fall einer Haftungsabwicklung unter unbeschränkt haftenden Gesellschaftern nach § 735 BGB : Die gesamtschuldnerische Außenhaftung mit Innenausgleich verwandelt sich in eine teilschuldnerische Innenhaftung mit Ausfallgarantie, die selbstverständlich das Volumen der unbeschränkten Haftung komplett abgedeckt wird und weit über die übernommenen Einlagen hinaus gehen kann. Die Anwendung des § 24 GmbHG auf die Unterbilanzhaftung und die damit verbundene Überschreitung der Stammkapitalziffer steht also weder im Widerspruch zu der herrschenden noch zu der hier vertretenen Ansicht über die summenmäßige Haftungsbeschränkung. b) Immerhin sei auf ein Abstimmungsproblem hingewiesen: Eine Unterbilanz i. S. der vorgesellschaftsrechtlichen Haftungsrechtsprechung kann auch durch die Uneinbringlichkeit ausstehender Einlagen entstehen. Geht es an, die Mitgesellschafter für diesen Teil der Unterbilanz haften zu lassen? Die herrschende Meinung wird dies aus den dargestellten Gründen gelassen bejahen und darauf hinweisen, dass die gründungsrechtliche Haftung nun einmal eigenen Regeln folgt. Wertungsmäßig überzeugen mag das nicht. Jedenfalls beiläufig sei deshalb darauf hingewiesen, dass eine Beschränkung der gründungsrechtlichen Unterbilanzhaftung auf operative Verluste als Fortschreibung der unbeschränkten Gesellschafterhaftung nicht nur in dieser

121 122

BGHZ 134, 333, 336. BGHZ 80, 129, 139.

Raiser Kap-GesR § 26 Rn. 122. Karsten Schmidt Gesellschaftsrecht, S. 1020; ders. GmbHR 1987, 77, 84; Scholz/Karsten Schmidt (Fn. 18) § 11 Rn. 82; s. auch Gummert in MünchHdbGesR III (Fn. 16) § 16 Rn. 95. 125 Vgl. BGH NJW 2003, 429. 126 § 93 InsO in analoger Anwendung. 127 So Karsten Schmidt Gesellschaftsrecht, S. 1025. 123 124

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Hinsicht besser in das Konzept passen würde.128 Die Haftung der Mitgesellschafter für bloße Einlagenausfälle wäre dann auch im Gründungsstadium ganz auf § 24 GmbHG beschränkt, doch ist zu wiederholen, dass auch die in diesem Detail abweichende herrschende Auffassung mit der Beschränkung der Ausfallhaftung durchaus harmoniert. 4. Unbeschränkte Verschuldenshaftung bei Eingriffen der Gesellschafter in das Gesellschaftsvermögen a) Die summenmäßige Haftungsbeschränkung in den Fällen des § 31 Abs. 3 GmbHG ist auf die Mitgesellschafter des Empfängers beschränkt, denen die

Entgegennahme der verbotenen Ausschüttung weder unmittelbar noch mittelbar zuzurechnen ist.129 Sie schließt, wie schon früher bemerkt wurde,130 eine unbeschränkte Verschuldenshaftung von Gesellschaftern wegen sog. existenzvernichtenden Eingriffs nicht aus.131 Eine solche Haftung trifft nach dem Urteil BGHZ 150, 61 auch diejenigen Mitgesellschafter, die, ohne selbst etwas empfangen zu haben, durch ihr Einverständnis mit dem Vermögensabzug an einer Existenzvernichtung mitgewirkt haben. Diese Linie der Rechtsprechung ist eine geläuterte Fortschreibung des in seiner grundlegenden Bedeutung aus heutiger Sicht meist unterschätzten Urteils BGHZ 93, 146. Der II . Senat hatte seinerzeit entschieden: „Der GmbH-Gesellschafter, der die Geschäftsführung durch zustimmende Mitwirkung an einem Gesellschafterausschluss zu Auszahlungen aus dem zur Erhaltung des Stammkapitals erforderlichen oder bereits überschuldeten Gesellschaftsvermögen veranlasst hat, ist der Gesellschaft auch zum Ersatz für diejenigen Zahlungen verpflichtet, die an Mitgesellschafter geflossen sind.“ Die Gesellschafter hatten sog. Kick-Back-Beträge in Höhe des zehnfachen Stammkapitals aus dem Vermögen der GmbH für eigene Rechnung entnommen und hierdurch die Gesellschaft zugrunde gerichtet. Das Urteil hat seinerzeit ein Rätselraten darüber ausgelöst, ob der II . Senat nun den Nicht-Empfänger einer verbotenen Auszahlung zum Normadressaten des § 31 Abs. 1 GmbHG gemacht habe.132 In diesem Sinn wird sie bis heute im Gedächtnis der Rechtsfortbildung bewahrt und nunmehr auch vom Senat als Verstoß

128

Vgl. für eine solche Beschränkung Karsten Schmidt Gesellschaftsrecht, S. 1030; ders.

ZHR 156 (1992), 93, 107 ff.; zust. Gummert in MünchHdbGesR III (Fn. 16) § 16 Rn. 95 ff.; abl. Lieb, FS Zöllner I, 1998, S. 347 f. 129 Vgl. BGHZ 150, 61, 67; bloßes „Profitieren“ von einer Zahlung schadet entgegen einer missverständlichen Formulierung bei BGHZ 150, 61, 65 noch nicht; dazu ausführlich Cahn ZGR 2003, 298, 308 ff. 130 Karsten Schmidt BB 1995, 529, 531. 131 So besonders auch Roth/Altmeppen GmbHG § 31 Rn. 17, 20 ff. 132 Vgl. Ulmer ZGR 1985, 600 ff.

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Karsten Schmidt

gegen die abschließende Geltung des § 31 GmbHG diskreditiert.133 Aber die in BGHZ 93, 146 etablierte Mitgesellschafterhaftung hatte einen ganz und gar anderen Charakter: Dieses Urteil handelte von einer Verschuldenshaftung 134 und legte den Grund für eine lange entbehrte Haftung der mitwirkenden Gesellschafter für rechtswidrige Eingriffe in das Gesellschaftsvermögen.135 Umso mehr verwunderte zunächst das als „Klarstellung gegenüber BGHZ 93, 146“ bezeichnete Urteil BGHZ 142, 92, wonach Mitgesellschafter „auch bei Mitwirkung an der (zu Lasten des Stammkapitals gehenden) Transaktion – vom Fall einer Existenzgefährdung der GmbH abgesehen – regelmäßig nur unter den Voraussetzungen der §§ 31 Abs. 3, 43 GmbHG “ haften.136 In der Rechtswissenschaft ist dieses Urteil teils mit Entrüstung aufgenommen worden,137 teils hat man aus ihm gefolgert, die summenmäßig unbegrenzte Verschuldenshaftung der Mitgesellschafter sei passé.138 Aus heutiger Perspektive erscheint die vermeintlich so abrupte Abwendung des II . Zivilsenats vom Urteil BGHZ 93, 146 in einem anderen Licht: 139 Nicht die Grundlage dieses Urteils, sondern nur sein überzogener Haftungsmaßstab ist überwunden. Eine die Gläubiger schützende, deshalb auch den Alleingesellschafter bzw. die einverständlich handelnden Gesellschafter einer Mehrpersonengesellschaft treffende Haftung greift nicht schon bei schuldhafter Mitwirkung an Verstößen gegen § 30 GmbHG ein, sondern nur bei existenzgefährdenden Eingriffen, dann allerdings auch, wenn die Existenzgefährdung in verbotenen Zuwendungen an Gesellschafter liegt. Man mag diese Differenzierung im Ergebnis gutheißen oder für korrekturbedürftig halten.140 Erkannt werden muss jedenfalls, dass es sich eben doch um die geläuterte Fortsetzung des schon in BGHZ 93, 146 angelegten – damals nur überzogen streng formulierten – Konzepts handelt: um eine Verschuldenshaftung, die in ihrer Grundlage und ihren Folgen mit der verschuldensunabhängigen Mitgesellschafterhaftung nach § 31 Abs. 3 GmbHG nichts zu tun hat. Sie tritt, sofern ihre Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, neben die gesetzliche Ausfallhaftung und ist nicht, wie diese, summenmäßig beschränkt.

Vgl. nur BGHZ 142, 92, 96; s. auch BGHZ 150, 61, 66 f. Vgl. BGHZ 93, 146, 150: „unter den Voraussetzungen des § 276 Abs. 1 BGB “. 135 Karsten Schmidt Gesellschaftsrecht, S. 519, 1036, 1144 f., vgl. auch schon die Würdigung in den Vorauflagen. 136 Dazu Goette DStR 1999, 1368 f.; Schneider WuB II C. § 31 GmbHG 1.99. 137 Vgl. Altmeppen ZIP 1999, 1354 f.; Noack JZ 1999, 1174; Wilhelm DB 1999, 2349 ff. 138 Vgl. nur Baumbach/Hueck GmbHG -Fastrich (Fn. 14) § 31 Rn. 22; Lutter/Hommelhoff § 31 Rn. 22; Klaus Müller GmbHR 1999, 923, 924 f.; Bender GmbHR 2002, 553. 139 Grundlegend Röhricht, FS 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, S. 83 ff. 140 Kritik z. B. bei Burgard NZG 2002, 606, 607; Cahn ZGR 2003, 298, 313: Veranlassung aus betriebsfremden Gründen genügt. 133 134

Die begrenzte Ausfallhaftung

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VI. Zusammenfassung 1. Wertungsstimmigkeit im GmbH-Recht Die hier neuerlich vertretene Lösung versteht sich als das Resultat eines Stimmigkeitstests. Die Ausfallhaftungsnormen der §§ 24 und 31 Abs. 3 GmbHG werden in unmittelbarem Zusammenhang miteinander sowie mit der nach § 13 Abs. 2 GmbHG beschränkten GmbH- Gesellschafterhaftung gesehen. Wertungsstimmig ist auch das Verhältnis dieser Haftung zur gründungsrechtlichen Unterbilanzhaftung und zu der nicht summenmäßig beschränkten sog. Existenzvernichtungshaftung der GmbH- Gesellschafter. 2. Thesen a) Auch nach der neuesten Rechtsprechung und der durch sie ausgelösten Diskussion wird an der These festgehalten, dass Mitgesellschafter für jeden Ausfall einer Einlage bzw. einer Rückerstattungspflicht nach §§ 24, 31 Abs. 3 GmbHG nur bis zur Höhe der Stammeinlage des ausfallenden Gesellschafters haften (Zusammenfassung oben unter II 3). b) Die Lösung der nun auch vom BGH akzeptierten herrschenden Meinung (Ausfallhaftung bis zur Höhe des Stammkapitals) kann weder in ihren Grundlagen noch in ihren Rechtsfolgen überzeugen. Richtig ist an ihr nur die Ablehnung einer unbeschränkten Ausfallhaftung. c) Ein in der Literatur vorgeschlagener Abzug der vom haftenden Mitgesellschafter selbst erbrachten Einlage vom Haftungshöchstbetrag ist weder möglich noch erforderlich. Ist die Ausfallhaftung auf den Geschäftsanteil des Primärschuldners beschränkt, so bleibt der eigene Geschäftsanteil des Mitgesellschafters bei der Ausfallhaftung von vornherein außer Betracht. d) Die summenmäßige Begrenzung betrifft nur die Ausfallhaftung für die sich aus der Aufbringung und Erhaltung des Satzungskapitals ergebende Primärhaftung eines Gesellschafters. Sie gilt nicht für die gleichfalls von § 24 GmbHG erfasste Unterbilanzhaftung aus dem Gründungsstadium und nicht für die Verschuldenshaftung der Gesellschafter wegen sog. existenzvernichtenden Eingriffs. e) Die hier vertretene Auffassung kann sich auch bei der analogen Anwendung der §§ 30 f. GmbHG im Bereich der GmbH & Co. KG und des Eigenkapitalersatzes bewähren.

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Der Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens im Konzern – Ein Beitrag zum Konzernverfassungsrecht – Uwe H. Schneider

Inhaltsübersicht Seite

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens in der Rechtswirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Zusammensetzung des Aufsichtsrats des abhängigen Unternehmens im Konzern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beschränkte Anrechnung der Mandate . . . . . . . . . . . . . 2. „Natürliches Organisationsgefälle“ . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unabhängige Aufsichtsratsmitglieder im Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats des abhängigen Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zustimmungsvorbehalte bei konzernleitenden Maßnahmen . . . . 1. Die verweigerte Zustimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Zustimmungshierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Maßstab der Überwachung durch den Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Stimmverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Im Aufsichtsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. In der Hauptversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Pflichtverletzung von Organmitgliedern und die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine Konzernorganhaftungsklage . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung Welche Aufgaben hat der Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens im Konzern? Unterscheiden sie sich rechtlich oder faktisch von den Aufgaben des Aufsichtsrats des konzernfreien Unternehmens? Oder erhält der Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens rechtlich neue Aufgaben, wird er

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Uwe H. Schneider

faktisch zum Konzernleitungsorgan – oder, auch das ist zu erwägen, verliert er seine Funktion, wird er sinnentleert? Genauer: Wie kann der Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens seiner Überwachungsaufgabe gerecht werden, wenn die Konzernleitung durch das herrschende Unternehmen ausgeübt wird? Und was sind die Maßstäbe für die Überwachung? Die Rechtmäßigkeit, die Ordnungsmäßigkeit, die Zweckmäßigkeit und die Wirtschaftlichkeit aus der Sicht des abhängigen Unternehmens oder hat der Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens das Konzerninteresse in den Blick zu nehmen? Und macht es Sinn, Maßnahmen, die durch das herrschende Unternehmen veranlasst wurden, der Zustimmung des Aufsichtsrats des abhängigen Unternehmens zu unterwerfen? Endlich: Können die Gesellschafter des herrschenden Unternehmens Ansprüche gegen die Organmitglieder des abhängigen Unternehmens geltend machen? Und wie erfolgt angesichts schwerer Interessenkollision die Entlastung der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats des abhängigen Unternehmens, wenn die Mitglieder des Vorstands des herrschenden Unternehmens, die über die Entlastung in der Gesellschafterversammlung der Tochtergesellschaft entscheiden, selbst ihre Pflichten zur Konzernüberwachung verletzt haben? Das Gesetz lässt diese Fragen weitgehend unbeantwortet. Es handelt vom Aufsichtsrat der konzernfreien Gesellschaft. Nur vereinzelt werden verstreut über das Aktiengesetz Einzelfragen, die den Aufsichtsrat des herrschenden Unternehmens und noch beschränkter, die den Aufsichtsrat der abhängigen Gesellschaft betreffen, aufgegriffen. Nur in sehr begrenztem Umfang können diese gesetzlichen Lücken durch entsprechende Regeln in den Satzungen und in den Geschäftsordnungen für den Vorstand und den Aufsichtsrat verfüllt werden. Der folgende Beitrag versucht die gestellten Fragen zu beantworten. Er ist Teil einer Untersuchung zum Aufsichtsrat im Konzern. Angeknüpft wird an bereits vorgelegte Überlegungen zum Aufsichtsrat des herrschenden Unternehmens im Konzern.1 Ausgangspunkt ist die Lage im faktischen Konzern. Auf die Besonderheiten im Vertragskonzern wird nur vereinzelt hingewiesen. 2

1 Uwe H. Schneider FS Hadding, 2004, S. 621 ff.; s. auch Uwe H. Schneider in Scholz, Kommentar zum GmbH-Gesetz, 9. Aufl., § 52 Rn. 110 ff. 2 S. dazu etwa Turner DB 1991, 583.

Der Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens im Konzern

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II. Der Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens in der Rechtswirklichkeit In der Rechtswirklichkeit 3 haben sich ganz unabhängig von den rechtlichen Vorgaben unterschiedliche Erscheinungsformen des Aufsichtsrats des abhängigen Unternehmens herausgebildet. Bei einer ersten Gruppe hat man den Eindruck, es handele sich um eine Pflichtveranstaltung, die ohne vertieftes Bewusstsein für die besonderen Aufgaben und die damit verbundenen Pflichten der Aufsichtsratsmitglieder abläuft. Die Vorgaben durch die Konzernleitung werden hingenommen und deren Umsetzung nicht ernsthaft überwacht. Eine zweite Gruppe bilden in der Praxis die Aufsichtsräte abhängiger Unternehmen, die wie ein Aufsichtsrat einer konzernfreien Gesellschaft agieren. Die Vorgaben durch die Konzernleitung werden nicht zur Kenntnis genommen, wohl aber werden der Vorstand oder die Geschäftsführer intensiv kontrolliert, ihre Geschäftsstrategie hinterfragt, das Tagesgeschäft untersucht, Entwicklungsprojekte der IT unter die Lupe genommen und Kostensenkungsprogramme auf ihre Realisierungschance geprüft. Und ganz im Gegensatz zu den beiden zuvor beschriebenen Gruppen besteht eine dritte Gruppe von Aufsichtsräten abhängiger Unternehmen, die sich als dezentrales Konzernleitungsorgan 4 verstehen. Sie sind typischerweise mit Vorstandsmitgliedern des herrschenden Unternehmens besetzt, sie bestimmen faktisch die Grundzüge der Konzernstrategie bezogen auf das abhängige Konzernunternehmen und verwirklichen ein vertieftes BeteiligungsControlling. Man mag weitere Erscheinungsformen herausarbeiten können. Eines ist sicher, die Rechtswirklichkeit ist ganz verschiedenartig.

III. Die Zusammensetzung des Aufsichtsrats des abhängigen Unternehmens im Konzern Wie schon dargestellt, fehlt es weitgehend an besonderen Vorschriften, die die Bestellung und Zusammensetzung des Aufsichtsrats abhängiger Unternehmen regeln. Drei Vorschriften haben aber besondere Bedeutung, nämlich § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1–3 AktG.

3 S. dazu auch Rowedder in FS Duden, 1977, S. 501, 508: „Die Aktienrechtswirklichkeit sieht also in Bezug auf die Besetzung eines Aufsichtsrats nicht so trist aus, wie oft vermutet wird“. Lutter in FS Beusch, 1993, S. 509. 4 S. auch Martens ZHR 159 (1995), 567, 587: „Seine wesentliche Funktion besteht aus der Sicht der Konzernholding in der Ausübung konzernrechtlicher Leitungsmacht.“

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1. Beschränkte Anrechnung der Mandate § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AktG handelt von der Höchstzahl zulässiger Mandate. Nach der Grundregel kann Mitglied des Aufsichtsrats nicht sein, wer bereits in zehn Handelsgesellschaften, die gesetzlich einen Aufsichtsrat zu bilden haben, Aufsichtsratsmitglied ist. Nach § 100 Abs. 2 Satz 2 AktG sind aber auf diese Höchstzahl bis zu fünf Aufsichtsratssitze nicht anzurechnen, die ein gesetzlicher Vertreter des herrschenden Unternehmens eines Konzerns in zum Konzern gehörenden Handelsgesellschaften, die gesetzlich einen Aufsichtsrat zu bilden haben, innehat („Konzernprivileg“). Damit berücksichtigt das Gesetz, dass die Konzernüberwachung ohnehin zu den Aufgaben der gesetzlichen Vertreter des herrschenden Unternehmens gehört. Ja, man könnte fragen, ob nicht alle konzerninternen Mandate unberücksichtigt bleiben sollten. 2. „Natürliches Organisationsgefälle“ Sehr viel bedeutsamer sind die Fälle möglicher Interessenkonflikte aufgrund von Doppelmandaten, wobei nur unzulänglich gesetzlich geregelt ist, wie diese zu behandeln sind. Vier Fälle sind zu unterscheiden: – Kann ein Aufsichtsratsmitglied des herrschenden Unternehmens Mitglied des geschäftsführenden Organs eines hiervon abhängigen Unternehmens sein? – Kann Mitglied des Aufsichtsrats sein, wer gesetzlicher Vertreter einer anderen Kapitalgesellschaft ist, deren Aufsichtsrat ein Vorstandsmitglied der Gesellschaft angehört? – Kann ein Aufsichtsratsmitglied zugleich Mitglied im Aufsichtsrat des herrschenden Unternehmens und eines abhängigen Unternehmens sein? – Kann ein Vorstandsmitglied oder ein Geschäftsführer des herrschenden Unternehmens Mitglied des Aufsichtsrats oder gesetzlicher Vertreter eines abhängigen Unternehmens sein? Die beiden ersten Fälle ordnet § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 AktG. Die beiden zuletzt genannten Fälle sind gesetzlich nicht geregelt. a) Nach § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AktG kann Mitglied des Aufsichtsrats nicht sein, wer gesetzlicher Vertreter eines von der Gesellschaft abhängigen Unternehmens ist. Zur Begründung heißt es im Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags über den Entwurf eines AktG 1965: „Eine solche Mitgliedschaft im Aufsichtsrat widerspricht dem natürlichen Organisationsgefälle im Konzern“.5 Damit verlängert sich eine Regel, die in einfa5

Bei Kropff, Aktiengesetz, 1965, S. 136.

Der Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens im Konzern

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cher Form bei der konzernfreien Gesellschaft gilt: Niemand kann zugleich Mitglied des Aufsichtsrats und des Vorstands sein, § 105 Abs. 1 AktG. Fortentwickelt heißt dies im Konzern: Wer seinerseits als gesetzliches Organ der Tochtergesellschaft vom gesetzlichen Organ des herrschenden Unternehmens aufgrund dessen Pflicht zur Konzernüberwachung und aufgrund seines Einflusses auf die Bestellung faktisch abhängig ist, ist nicht geeignet, das gesetzliche Organ des herrschenden Unternehmens zu überwachen. 6 Ob allerdings der Grundsatz der Funktionstrennung im konzernfreien Unternehmen und entsprechend im Konzern auch bei der GmbH mit fakultativem Aufsichtsrat gilt, ist streitig. Folgt man der an anderer Stelle vertretenen Ansicht, 7 so ist § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AktG bei der GmbH mit fakultativem Aufsichtsrat nicht zwingend. b) Nach § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AktG kann Mitglied des Aufsichtsrats nicht sein, wer gesetzlicher Vertreter einer anderen Kapitalgesellschaft ist, deren Aufsichtsrat ein Vorstandsmitglied der Gesellschaft angehört. Davon soll hier nicht weiter gehandelt werden. c) Ob Aufsichtsratsmitglied des herrschenden Unternehmens zugleich Aufsichtsratsmitglied bei einem abhängigen Unternehmen im Konzern sein kann, könnte aus der Sicht des abhängigen Unternehmens nicht nur zweifelhaft sein, wenn beide Unternehmen im selben Geschäftsbereich tätig sind, sondern selbst, wenn dies nicht der Fall ist; 8 denn angesichts der möglichen Konflikte zwischen den Interessen der Muttergesellschaft und den Interessen des abhängigen Konzernunternehmens bestehen berechtigte Zweifel, ob das Aufsichtsratsmitglied seine Rolle beim abhängigen Unternehmen pflichtgemäß wahrnehmen kann. Dazu gehört – worauf noch einzugehen ist –, auch zu überwachen, dass etwa bei der abhängigen Aktiengesellschaft Nachteile aufgrund veranlasster Maßnahmen nach § 311 AktG ausgeglichen werden. Geht man jedoch davon aus, dass die Konzerngründung (Konzernbildung) rechtlich wirksam zustandegekommen ist, so entfällt nicht nur das Wettbewerbsverbot. Es ist entsprechend auch davon auszugehen, dass sich das Gesetz mit dem allgemeinen Interessenkonflikt abfindet. d) Streitig ist schließlich, ob gesetzliche Vertreter des herrschenden Unternehmens zugleich Vorstandsmitglied, Geschäftsführer oder Mitglied des Aufsichtsrats eines abhängigen Unternehmens sein können9 und welche Mertens in Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl., § 100 Rn. 19. Str.; s. dazu Scholz GmbHG -Uwe H. Schneider (Fn. 1) § 52 Rn. 160; Kölner Komm AktG-Mertens (Fn. 6) § 100 Rn. 22 jeweils mwN. 8 Für Zulässigkeit: Hüffer Aktiengesetz, 5. Aufl., § 100 Rn. 5; Martens ZHR 159 (1995), 567, 588: keine durchgreifenden Bedenken; Jacobs in FS Brandner, 1996, S. 73 (für Beirat einer abhängigen GmbH). 9 Für die AG als abhängiges Unternehmen: OLG Köln WM 1993, 644, 649: Doppelmandate im Konzern sind zulässig; Hüffer AktG (Fn. 8) § 100 Rn. 5; Lutter/Krieger, Rechte und 6 7

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Rechtsfolgen dies gegebenenfalls hat. Der schlichte Hinweis, dies entspreche dem „natürlichen Organisationsgefälle“,10 dürfte gewiss nicht ausreichen. Teilweise wird die Ansicht vertreten, zwar sei eine Doppelbesetzung zulässig, der Doppelvorstand sei aber bei Entscheidungen über konzernleitenden Einflussnahmen einem gesetzlichen Stimmverbot unterworfen, wenn die verlangte Maßnahme dem Interesse der Tochtergesellschaft widerspreche und für sie nachteilig sei.11 Und weitreichend ist die Ansicht, solche Mehrfachfunktionen im Konzern verlangten die analoge Anwendung der §§ 302, 322 AktG, also die Verpflichtung zum Verlustausgleich.12 Für die an dieser Stelle zu untersuchende Doppelmitgliedschaft dürfte sich deren Zulässigkeit aus der Zulässigkeit der Konzernierung und daher dem wirksamen Zustandekommen der Konzerngründung ergeben. Wenig problematisch sollte dies vor allem für das abhängige Konzernunternehmen in der Rechtsform der GmbH sein. Deren Konzernierung verlangt einen Beschluss der Gesellschafterversammlung.13 Bei der Aktiengesellschaft ist demgegenüber streitig, ob die Konzernierung einen Beschluss der Hauptversammlung verlangt. Unterstellt man dies, entgegen freilich der herrschenden Ansicht, so liegt auch in diesem Fall in dem Beschluss der Hauptversammlung die damit verbundene Zulässigkeit von Mehrfachmandaten, um die Konzernleitung durchzusetzen. Geht man demgegenüber davon aus, dass die Konzernierung keinen Beschluss der Hauptversammlung verlangt und nachteilige Maßnahmen unzulässig sind, so hat man angesichts der Interessenkonflikte Schwierigkeiten, die Zulässigkeit von Mehrfachmandaten zu begründen. 3. Unabhängige Aufsichtsratsmitglieder im Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens? Um den Nachteilsausgleich bei einer abhängigen Aktiengesellschaft bzw. den Anspruch auf Schadensersatz bei einer abhängigen GmbH sicherzustellen, wurde jüngst in der Diskussion über die Revision 2004 der OECD Principles Pflichten des Aufsichtsrats, 4. Aufl., 2002, S. 62; Hoffmann-Becking ZHR 150 (1986), 570; Säcker ZHR 151 (1987), 59; Semler in FS Stiefel, 1987, S. 719; Lindermann AG 1987, 225; Dreher in FS Lorenz, 1994, S. 175; für die GmbH als abhängiges Unternehmen: Scholz GmbHG -Uwe H. Schneider (Fn. 1) § 52 Rn. 122 ff. 10 Semler in Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 2004, § 100 Rn. 36; ebenso Potthoff/Trescher/Theisen, Das Aufsichtsratsmitglied, 6. Aufl., 2003, S. 137; ausführlich aber Semler in FS Stiefel, 1987, S. 757. 11 Hoffmann-Becking ZHR 150 (1986), 570, 582; Semler in: FS Stiefel 1987, S. 757; a.A. Kölner Komm AktG-Mertens (Fn. 6) § 108 Rn. 45. 12 So Säcker ZHR 151 (1987), 59 ff. 13 Zur Konzerngründung („Konzernbildungskontrolle“) auf der Ebene der abhängigen GmbH anstelle anderer: Emmerich in Scholz, Kommentar zum GmbH-Gesetz, 9. Aufl., Bd. I Anh. Konzernrecht, Rn. 48 ff. mwN.

Der Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens im Konzern

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of Corporate Governance die folgende Regel14 vorgeschlagen: „Boards should consider assigning a sufficient number of non-executive board members capable of exercising independent judgement to tasks where there is a potential for conflict of interest. Examples of such key responsibilities are ensuring the integrity of financial and non-financial reporting, the review of related party transactions, nomination of board members and key executives, and board remuneration.“ Gedacht war daran, dass dem Board des abhängigen Unternehmens „unabhängige“ Personen angehören, die die Angemessenheit von konzernleitenden Maßnahmen prüfen, abwehren bzw. – falls gegeben – die Ansprüche auf Nachteilsausgleich oder Schadensersatz durchsetzen. Solche Überlegungen gab es auch zum deutschen Recht, und zwar de lege lata15 und de lege ferenda.16 Auf den ersten Blick klingt dies überzeugend. Zweifelhaft ist indessen, ob sich unter diesen Umständen noch die Konzernleitung durchsetzen lässt. Entsprechende Bedenken bestehen gegen den inzwischen von der EU-Komission vorgelegten Vorschlag einer Empfehlung über die Stellung der (unabhängigen) Aufsichtsratsmitglieder. Nach Art. 3 soll der Aufsichtsrat eine angemessene Zahl „unabhängiger“ Mitglieder haben. Die letzte Entscheidung darüber, ob ein Mitglied als „unabhängig“ gilt, liegt nach Art. 13 Abs. 2 zwar beim Aufsichtsrat. Zweifelhaft ist es aber, ob dies auch für den Mehrheitsgesellschafter, dessen Organmitglieder und dessen Mitarbeiter gilt. Wenn zugleich die Vertreter der Arbeitnehmer, die bei dem Unternehmen tätig sind, als „nicht unabhängig“ angesehen werden, bilden sie unter Umständen mit den „unabhängigen“ Mitgliedern der Anteilseigner die Mehrheit. Wie soll sich da die Konzernleitung durchsetzen?

IV. Die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats des abhängigen Unternehmens Zu den zentralen Aufgaben des Aufsichtsrats gehören neben der Bestellung der Vorstandsmitglieder die Überwachung der Geschäftsführung. Dies umfasst die nachträgliche Überwachung, nämlich die Kontrolle der abgeschlossenen Sachverhalte der Geschäftsführung und die begleitende und vorausschauende Überwachung. Gemeint ist damit die Beratung als „das vorrangige Mittel der in die Zukunft gerichteten Kontrolle des Vorstands“.17 14 15

OECD Principles of Corporate Governance, 2004, Principle V.E.1. OLG Hamm AG 1987, 38 = ZIP 1986, 1554 („Banning“); dagegen Martens ZHR 159

(1995), 567, 587: „Bannig daneben und … wohl nur als Scherz, Satiere oder Ironie, aber ohne tiefere Bedeutung zu verstehen“; Decher, Personelle Verpflechtungen im Aktienkonzern, 1990, S. 98 ff.; Streyl, Zur konzernrechtlichen Problematik von Vorstands-Doppelmandaten, 1992, S. 104 ff. 16 Hommelhoff in FS Fleck, 1988, S. 125, 139. 17 BGHZ 114, 127, 130; BGHZ 126, 340, 344; vgl. ferner BGHZ 124, 111, 128.

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Wenn aber die Konzernleitung durch das herrschende Unternehmen ausgeübt wird, verliert damit nicht der Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens seine Funktion? Das ist mitnichten so: Der Vorstand des herrschenden Unternehmens als Konzernleitungsorgan kann bei rechtlicher Betrachtung nicht am Vorstand oder den Geschäftsführern der abhängigen Gesellschaft vorbei die Unternehmensleitung des abhängigen Unternehmens bestimmen. Seine Vorgaben richten sich vielmehr an den Vorstand bzw. die Geschäftsführer des abhängigen Unternehmens, die sie zur eigenen Entscheidung im Rahmen ihres unternehmerischen Ermessens aufnehmen und umsetzen. Und diese Verknüpfung zwischen faktischer Konzernleitung und rechtlich fortbestehender Verantwortlichkeit des Vorstands des abhängigen Unternehmens hat Folgen für die Aufsichtsratstätigkeit.18 – Aus der Sicht des herrschenden Unternehmens obliegen dessen Vorstand bzw. den Geschäftsführern nicht nur die Konzernleitung, sondern auch im Zusammenwirken mit dem Aufsichtsrat des herrschenden Unternehmens die umfassende Konzernüberwachung. Maßstab ist das Interesse des herrschenden Unternehmens. – Aus der Sicht des beherrschten Unternehmens verschieben sich demgegenüber die Aufgaben des Aufsichtsrats. Auf der einen Seite verändert sich seine Überwachungstätigkeit, auf der anderen Seite treten besondere konzernspezifische Aufgaben hinzu. Dabei wird der Aufsichtsrat des herrschenden Unternehmens aber von seiner konzernweiten Überwachungsaufgabe nicht dadurch entlastet, dass er einen funktionsfähigen und effektiv arbeitenden Tochter-Aufsichtsrat eingerichtet hat.19 Dagegen stehen die unterschiedlichen Aufgaben der jeweiligen Aufsichtsräte. Vorweg: Richtig ist zwar, dass das herrschende Unternehmen und seine Organe die Konzernleitung ausüben. Das bedeutet aber nicht, dass sich die Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrats des abhängigen Unternehmens auf das herrschende Unternehmen und dessen Organe20 erstreckt. Der Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens hat auch nicht den Vorstand des herrschenden Unternehmens zu beraten; denn im faktischen Konzern ändert sich nichts daran, dass die originäre Zuständigkeit zur Unternehmensleitung beim Vorstand des abhängigen Unternehmens verbleibt. Er kann nur Vorgaben des Konzernvorstands aufnehmen, er wird dies auch „faktisch“ tun und er wird seine an der Konzernleitung ausgerichteten Entscheidungen umsetzen. Zum Ganzen: Löbbe, Unternehmenskontrolle im Konzern, 2003. So aber Hommelhoff ZGR 1996, 144, 154: „vernetzte Aufsichtsratsüberwachung im Konzern“; dagegen aber auch: Löbbe, Unternehmenskontrolle im Konzern, 2003, S. 244, 389 ff. 20 Ebenso Kleindiek in Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance, 2003, S. 571, 596. 18 19

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Daraus ergibt sich für die Aufsichtsratstätigkeit das Folgende: – Zunächst hat der Aufsichtsrat wie beim konzernfreien Unternehmen die Aufgabe, den Vorstand bzw. die Geschäftsführer bei der Entscheidung über die Geschäftspolitik 21 und deren Umsetzung zu überwachen. – Konzernleitende Maßnahmen sind von der Überwachung durch den Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens nicht ausgenommen. 22 Das Gegenteil ist der Fall. Weil der Vorstand des abhängigen Unternehmens typischerweise den konzernleitenden Vorgaben folgt, hat der Aufsichtsrat alle Maßnahmen, die das herrschende Unternehmen veranlasst, seiner besonderen Kontrolle zu unterwerfen. 23 Denn gerade bei konzernleitenden Vorgaben besteht die konkrete Gefahr, dass die Interessen des abhängigen Unternehmens nicht gewahrt, sondern dem Unternehmensinteresse des herrschenden Unternehmens untergeordnet werden. Geht man hiervon aus, so wird der Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens zum „Hüter der Interessen des abhängigen Unternehmens“. 24 Ob die Aufsichtsratsmitglieder sich dieser Aufgabe allerdings bewusst sind und sie erfüllen, ist zumindest dann fraglich, wenn sie zugleich Gesellschafter oder Organmitglieder des herrschenden Unternehmens sind. Gelegentlich wird daher die Ansicht vertreten, der Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens habe keine praktische Bedeutung. 25 Den normativen Erwartungen wird dies aber nicht gerecht. 26 Bei der Kontrolle reicht es nicht, dass der Aufsichtsrat sich über entsprechende Maßnahmen nachträglich berichten lässt, sondern er muss auf eine laufende Information schon vor der Umsetzung bestehen. 27 Zu würdigen ist dabei nicht nur, ob sich die veranlassten 21 Bei der GmbH werden die Grundzüge der Unternehmenspolitik nicht durch den Geschäftsführer, sondern durch die Gesellschafter festgelegt. Die Geschäftsführer selbst sind zur Entscheidung über die künftige Geschäftspolitik nur zuständig, wenn die Gesellschafter ihnen die Entscheidung hierüber zuweisen. Die Einzelheiten sind streitig; anstelle vieler: BGH GmbHR 1991, 197; Hommelhoff ZGR 1978, 124; ders. ZIP 1983, 385; zum Streitstand: Scholz GmbHG -Uwe H. Schneider (Fn. 1) § 37 Rn. 10. 22 Ebenso Löbbe, Unternehmenskontrolle im Konzern, 2003, S. 396. 23 Schwark in FS Ulmer, 2003, S. 605, 625; zuvor schon ähnlich Hommelhoff ZGR 1996, 144, 153. 24 Schwark in FS Ulmer 2003, S. 605, 625. 25 Löbbe, Unternehmenskontrolle im Konzern, 2003, S. 391: „strukturell bedingte Abhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder der Untergesellschaft vom herrschenden Unternehmen“; Martens ZHR 159 (1995), 587; s. ferner Scheffler DB 1994, 793, 799: Gesetzgeber hat Interessenkollision „in gewissem Umfang“ akzeptiert. 26 S. auch OECD Principles of Corporate Governance, 2004, Principle V.E, Annotations, Rn. 2: „A dominant shareholder has considerable powers to appoint the board and the management. However, in this case, the board still has a fiduciary responsibility to the company and to all shareholders including minority sharesholders.“ 27 Ebenso Semler, Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 1996, S. 274.

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Maßnahmen bilanziell nachteilig oder sich bei der GmbH zum Schaden der GmbH auswirken. Zu werten ist auch, ob der Gesellschaftszweck noch im Rahmen des unternehmerischen Ermessens verfolgt wird; denn die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft darf durch die Konzernleitung, etwa durch den Abzug von Produktfeldern oder die Einstellung der Forschung, nicht beeinträchtigt werden. In die Würdigung einzubeziehen ist insoweit nicht nur die Geschäftspolitik, soweit sie durch das herrschende Unternehmen einheitlich „angeregt“ wird. Zu werten sind auch sonstige Einzelmaßnahmen, wie etwa der Wechsel der Bankverbindungen, die Entscheidung über neue IT-Projekte oder die Einstellung von Arbeitnehmern, die zuvor beim herrschenden Unternehmen beschäftigt waren. Richtig ist zwar in diesem Zusammenhang, dass der Aufsichtsrat nicht jede einzelne Maßnahme des Vorstands oder der Geschäftsführer zu würdigen hat. 28 Bei entdeckten Missständen bedarf es jedoch vertiefter Nachforschungen. 29 Und das Entsprechende muss gelten, wenn aufgrund von Interessenkonflikten, wie sie im Konzern typisch sind, „Missstände“ zu befürchten sind. Ergibt die Prüfung, dass konzernleitende Maßnahmen zu Nachteilen oder Ansprüchen auf Schadensersatz geführt haben, so hat der Aufsichtsrat auf die Durchsetzung der Ansprüche zu bestehen. 30 – Und endlich ist der Aufsichtsrat nicht nur verpflichtet, den Jahresabschluss, den Lagebericht und den Vorschlag für die Verwendung des Bilanzgewinns zu prüfen, § 171 AktG. Hinzu kommt konzernspezifisch die Pflicht zur Prüfung des Abhängigkeitsberichts. In diesem Zusammenhang hat der Aufsichtsrat den Abhängigkeitsbericht darauf durchzugehen, ob nachteilige Maßnahmen veranlasst und ob entsprechende Nachteile ausgeglichen wurden. Haben die Mitglieder des Vorstands unterlassen, nachteilige Rechtsgeschäfte oder nachteilige Maßnahmen im Abhängigkeitsbericht aufzuführen oder anzugeben, dass die Gesellschaft benachteiligt wurde, und dass der Nachteil nicht ausgeglichen wurde, so haften sie persönlich, §§ 93, 318 Abs. 1 Satz 1 AktG. Und dieser Schadensersatzanspruch ist durch den Aufsichtsrat durchzusetzen. 31 Das Ergebnis der Prüfung hat der Aufsichtsrat in seinem Bericht an die Hauptversammlung aufzunehmen, § 314 Abs. 2 Satz 1 und 2 AktG.

Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 4. Aufl., 2002, S. 33 ff. BGH WM 1979, 1425, 1427 ( KG ); Hüffer ZGR 1981, 348; Meyer DStR 1997, 1894. 30 Semler, Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, 2. Aufl., Rn. 462; LutterKrieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 4. Aufl., 2002, S. 62. 31 BGHZ 135, 244 ( ARAG ); sowie dazu Lutter-Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 4. Aufl., 2002, 170; Hüffer AktG (Fn.9) § 111 Rn. 4a; Henze NJW 1998, 3309; Boujong DZWiR 1997, 322; Dreher JZ 1997, 1074; Horn ZIP 1997, 1129; Thümmel DB 1999, 885; Kau BB 2000, 1045. 28 29

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V. Zustimmungsvorbehalte bei konzernleitenden Maßnahmen Zur Durchsetzung der begleitenden vorausschauenden Überwachung können nicht nur die Satzung oder eine Geschäftsordnung für den Vorstand oder die Geschäftsführer, sondern auch der Aufsichtsrat selbst, ad hoc durch Beschluss mit einfacher Mehrheit festlegen, dass bestimmte Arten von Geschäften nur mit seiner Zustimmung vorgenommen werden dürfen, § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG. 1. Die verweigerte Zustimmung Das gilt auch bei Konzernunternehmen: – Beim herrschenden Unternehmen können auch Vorgänge bei Tochtergesellschaften dem Zustimmungsvorbehalt unterworfen werden. 32 – Und ebenso können beim abhängigen Unternehmen auch Maßnahmen, die vom herrschenden Unternehmen veranlasst werden, dem Zustimmungsvorbehalt unterworfen werden. 33 Das macht auch Sinn. Der Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens hat nicht nur im Rahmen der nachträglichen Überwachung auf einen Nachteilsausgleich oder den Ersatz des Schadens hinzuwirken, sondern er kann, ja gegebenenfalls muss er bereits im Wege der vorausschauenden Überwachung alle oder einzelne konzernleitende Maßnahmen von seiner Zustimmung abhängig machen. In Betracht kommen hierbei die Zahlung von Konzernumlagen, konzerninterne Rechtsgeschäfte, vor allem die Umgestaltung der Produktpalette und die Verlagerung der Forschung aus dem abhängigen Unternehmen. Verweigert der Aufsichtsrat seine Zustimmung, so kann der Vorstand zwar verlangen, dass die Hauptversammlung über die Zustimmung beschließt. Der Beschluss, durch den die Hauptversammlung zustimmt, bedarf aber einer Mehrheit, die mindestens drei Viertel der abgegebenen Stimmen umfasst, § 111 Abs. 4 Satz 4 AktG. Verfügt das herrschende Unternehmen aber nicht über eine solche Mehrheit, so muss es mit einer Ablehnung rechnen. Die Möglichkeit des Zustimmungsvorbehalts kann damit zu einer scharfen Waffe in der Hand der Minderheit oder der Arbeitnehmervertreter werden, um den Einfluss des herrschenden Unternehmens abzuwehren; denn antragsberechtigt, um die Zustimmung des Aufsichtsrats einzufordern, ist jedes Aufsichtsratsmitglied. Ist ein entsprechender Antrag gestellt, so muss 32 Kölner Komm AktG-Mertens (Fn. 6) § 111 Rn. 77; Hüffer AktG (Fn. 9) § 111 Rn. 21; Potthoff/Trescher/Theisen, Das Aufsichtsratsmitglied, 6. Aufl., Rn. 562; Lutter in FS R. Fischer, 1979, S. 419; Götz ZGR 1990, 633; Hoffmann-Becking ZHR 159 (1959), 325, 339; Lenz AG 1997, 448, 452; differenzierend: M. Schmidt in FS Imhoff, 1998, S. 67, 71. 33 Lenz AG 1997, 454.

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der Aufsichtsrat abstimmen. Gelingt es dabei der Minderheit die notwendige Anzahl von Aufsichtsratsmitgliedern auf ihre Seite zu bringen, um einen Mehrheitsbeschluss zu fassen, so können hierdurch konzernleitende Vorgaben „gekippt“ werden. Alles lebensfremde und leere Theorie, weil der Aufsichtsrat des abhängigen Konzernunternehmens auf Anteilseigenerseite mit Vertretern des herrschenden Unternehmens besetzt ist? Das kann so sein. Es gibt aber auch Fälle, in denen etwa im Vorfeld ein Aufsichtsratsvorsitzender mit den Arbeitnehmervertretern oder bei Kommunalunternehmen der Aufsichtsratsvorsitzende mit bestimmten Vertretern einer Partei zusammenwirkt, um eine konzernleitende Maßnahme zu verhindern. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass der Aufsichtsrat zwar in der Regel nach pflichtgemäßem Ermessen Maßnahmen seinem Zustimmungsvorbehalt unterwerfen oder dies unterlassen kann. In einer Entscheidung vom 15. 11. 1993 hat der II . Zivilsenat des Bundesgerichtshofs 34 aber zutreffend ausgeführt, dass sich dieses Ermessen zu einer Pflicht verdichten kann, wenn eine gesetzwidrige Maßnahme der Geschäftsführung nur noch durch eine solche Anordnung verhindert werden kann. Für unzweckmäßige oder unwirtschaftliche Maßnahmen muss das Entsprechende gelten, wenn bei der AG die Gefahr besteht, dass ein Nachteilsausgleich nicht geleistet wird. Erkennt daher der Aufsichtsrat, dass Maßnahmen der Konzernleitung rechtswidrig sind, oder dass unzweckmäßige oder unwirtschaftliche konzernleitende Maßnahmen drohen, so hat er die Maßnahme seiner Zustimmung zu unterwerfen, und sie zu verweigern. Und damit entstehen die obengenannten Folgen, die dem Vorstand des abhängigen Unternehmens in eine schwierige Lage bringen können. 2. Die Zustimmungshierarchie Haben die Satzung oder eine Geschäftsordnung festgelegt, dass bestimmte Arten von Geschäften nur mit Zustimmung des Aufsichtsrats vorgenommen werden dürfen, so folgt durch Auslegung, dass dieser Zustimmungsvorbehalt in der Regel auch für entsprechende Geschäfte bei den abhängigen Konzernunternehmen gilt. Exemplarisch ist die Aufnahme eines Darlehens bestimmter Größenordnung. Ist hierfür ein Zustimmungsvorbehalt vorgesehen, so gilt er im Zweifel auch, wenn das Darlehen durch eine Tochtergesellschaft aufgenommen wird. Im Einzelnen bedarf es freilich einer Würdigung der Maßnahme aus der Sicht der Muttergesellschaft. So dürfte für die Bestellung eines Prokuristen bei einer Tochtergesellschaft keine konzernweite Erstreckung des Vorbehalts anzunehmen sein. Darüber hinaus können bestimmte Maßnahmen, wie etwa Kapitalerhöhungen oder 34

BGHZ 124, 111, 127.

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der Abschluss von Unternehmensverträgen durch Tochtergesellschaften der Zustimmung durch den Aufsichtsrat des herrschenden Unternehmens unterworfen werden. Gegebenenfalls bedarf es entsprechender Zustimmungsvorbehalte bei den Tochtergesellschaften. Sieht wie dargestellt die Satzung oder eine Geschäftsordnung bei der Muttergesellschaft vor, dass die Aufnahme von Darlehen ab einer bestimmten Größenordnung der Zustimmung des Aufsichtsrats bedarf, unabhängig davon, durch welches Konzernunternehmen die Aufnahme erfolgt, so ist es naheliegend, dass ein entsprechender Zustimmungsvorbehalt auch bei den abhängigen Konzernunternehmen vorgesehen wird.

VI. Maßstab der Überwachung durch den Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens Der Aufsichtsrat hat im Rahmen seines gesetzlichen Aufgabenkreises „die Interessen der Gesellschaft“ in eigener Verantwortung sachgemäß wahrzunehmen.35 Das gilt sowohl für den Vorstand bzw. die Geschäftsführer und den Aufsichtsrat des herrschenden Unternehmens, als auch für den Vorstand bzw. die Geschäftsführer und den Aufsichtsrat des beherrschten Konzernunternehmens. Allerdings unterscheiden sich die zu beachtenden Interessen. Maßstab für das Handeln der Organe sind die Interessen des beherrschten Konzernunternehmens und seiner Aktionäre.36 Hieran hat der Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens sowohl die Geschäftsführung durch den Vorstand bzw. die Geschäftsführer des eigenen Unternehmens, als auch die konzernleitenden Maßnahmen zu messen. Ihre Aufgabe ist es nicht, Gruppeninteressen, also etwa das Interesse des Mehrheitsgesellschafters, des herrschenden Unternehmens oder des „Konzerns“ zu fördern. Aus der Sicht des abhängigen Unternehmens ist daher zu bestimmen, ob die Konzernleitung und deren Umsetzung den Maßstäben der Rechtmäßigkeit, der Ordnungsmäßigkeit, der Zweckmäßigkeit und der Wirtschaftlichkeit entspricht. Das bedeutet bei Doppelmandaten, dass Organmitglieder jeweils auf ihre Rolle zu achten haben, abhängig davon, in welchem Organ sie im Einzelfall tätig sind. Und das bedeutet auch, dass ein Aufsichtsratsmitglied nicht deshalb seiner Haftung entgeht, weil etwa eine der Zustimmung des Aufsichts35 36

BGHZ 135, 244, 252. S. auch OECD Principles of Corporate Governance, 2004, Rn. 106: „The board is not

only accountable to company and its shareholders but also has a duty to act in their best interests“; s. ferner Mülbert, Börsen-Zeitung vom 18. 2. 2004: „Seit dem Jahr 1998 hat das Aktienrecht aber entscheidende Veränderungen erfahren, so dass sich die Vorstände bei ihrer Unternehmenspolitik heute auch an den Marktwertmaximierungsinteressen von Anlegeraktionären orientieren dürfen. …“. Zu den Auswirkungen für das Risiko der Untreue im GmbH-Konzern: Ransiek in FS Kohlmann, 2003, S. 207.

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rats des beherrschten Konzernunternehmens unterworfene Maßnahme den Interessen des herrschenden Unternehmens entspricht.

VII. Stimmverbote 1. Im Aufsichtsrat Aufsichtsratsmitglieder, auch wenn sie durch das herrschende Unternehmen durch Beschluss der Hauptversammlung bestellt wurden, vertreten nicht das herrschende Unternehmen, sondern sind Organmitglied aus eigenem Recht. Gleichwohl steht zu befürchten, dass sie nicht die Interessen des beherrschten Konzernunternehmens wahrnehmen, sondern sich im Konflikt zur Seite des herrschenden Unternehmens neigen. Das gilt besonders, wenn das Aufsichtsratsmitglied zugleich Organmitglied des herrschenden Unternehmens ist. Besteht in solchen Fällen, zumal bei einer Doppelmitgliedschaft, ein Stimmverbot? Bedeutung hat diese Frage, was naheliegend ist, nur bei Abstimmungen, etwa wenn eine Maßnahme dem Zustimmungsvorbehalt unterliegt. Für solche Fälle ist weder im Aktienrecht noch im GmbH-Recht besonders geregelt, unter welchen Voraussetzungen Aufsichtsratsmitglieder einem Stimmverbot unterliegen. Nach herrschender Ansicht gilt § 34 BGB entsprechend. 37 Im Übrigen ist nach dem Grad der Interessenkollision zu unterscheiden. Interessenkollisionen sind geradezu typisch für den Aufsichtsrat. Einfache Interessenkollisionen führen daher auch nicht zu einem Stimmverbot. Und in diese Fallgruppe gehören Aufsichtsratsmitglieder, die mit den Stimmen des herrschenden Unternehmens bestellt wurden. Dies gilt selbst dann, wenn sie dem herrschenden Unternehmen nahestehen, also es sich etwa um einen leitenden Angestellten oder ein Vorstandsmitglied handelt, das nicht mehr im Amt ist. Die Rechtsordnung erwartet, dass solche Personen sich ihrer besonderen Verantwortung gegenüber dem abhängigen Unternehmen bewusst sind. Anders ist die Lage, wenn das Mitglied des Aufsichtsrats des beherrschten Unternehmens zugleich gesetzlicher Vertreter des herrschenden Unternehmens ist und über eine konzernleitende Maßnahme abgestimmt wird. 38 Weil in solchen Fällen in Frage steht, ob die Maßnahme für die Tochtergesellschaft nachteilig ist, ist das Aufsichtsrats- bzw.Vorstandsmitglied in einem schweren Interessenkonflikt. Die Lage ist nicht sehr viel anders als in den Fällen, in denen etwa über ein Rechtsgeschäft abgestimmt wird, an dem das Hüffer AktG (Fn. 9) § 108 Rn. 9; Ulmer NJW 1982, 2288, 2289. Hoffmann-Becking ZHR 150 (1986), 570, 582; Semler in FS Stiefel, 1987, S. 757; Kölner Komm AktG-Mertens (Fn. 6) § 108 Rn. 45. 37 38

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Aufsichtsratsmitglied persönlich beteiligt ist. Das sind die typischen Fälle des nachhaltigen Interessenwiderstreits. Und dies führt zu einem Stimmrechtsausschluss. 2. In der Hauptversammlung Die Frage nach einem Stimmrechtsausschluss stellt sich auch in der Hauptversammlung, wenn über die Entlastung eines Aufsichtsratsmitglieds abgestimmt wird, das zugleich gesetzlicher Vertreter des herrschenden Unternehmens ist. Nach § 136 Abs. 1 Satz 1 AktG kann niemand für sich oder für einen anderen das Stimmrecht ausüben, wenn darüber Beschluss gefasst wird, ob er zu entlasten oder von einer Verbindlichkeit zu befreien ist oder ob die Gesellschaft gegen ihn einen Anspruch geltend machen soll. Das bedeutet, dass ein Vorstandsmitglied nicht als Vertreter des herrschenden Unternehmens in der Hauptversammlung des abhängigen Konzernunternehmens über seine Entlastung als Aufsichtsratsmitglied dieser Gesellschaft abstimmen kann und darf. Das Landgericht Köln hat darüber hinaus in einer Entscheidung vom 17. 12. 199739 entschieden, dass das Stimmrecht des Mehrheitsgesellschafters im Rahmen des Beschlusses über die Entlastung der Aufsichtsratsmitglieder auch nicht ausgeübt werden kann, wenn zwischen der Mehrheit der Vorstandsmitglieder beider Gesellschaften Personalunion besteht. Das Stimmverbot folge aus dem Grundsatz, dass niemand Richter in eigener Sache sein könne. Bei einer Aktiengesellschaft, an der keine Minderheitsaktionäre beteiligt sind, würde dies bei voller Identität der Organmitglieder bedeuten, dass eine Entlastung des Vorstands des abhängigen Konzernunternehmens nicht möglich ist. Und dasselbe würde für den Aufsichtsrat gelten. Ob darüber hinaus ein weitergehender Stimmrechtsausschluss zu befürworten sei, wenn das vom Stimmverbot betroffene Vorstandsmitglied nur einer von mehreren gesetzlichen Vertretern der juristischen Person ist, ließ das Landgericht Köln in der genannten Entscheidung dahingestellt. 40 Ein solch weitgehender Stimmrechtsausschluss macht Sinn; denn wenn es zu den zentralen Aufgaben des Aufsichtsrats eines abhängigen Konzernunternehmens gehört, auch konzernleitende Maßnahmen auf ihre Angemessenheit zu überprüfen, so kann es nicht über seine Entlastung abstimmen. Und das muss auch für Vertreter des herrschenden Unternehmens gelten; denn sie sind von dessen Vorstand abhängig.

39 40

LG Köln DB , 1998, 614. Dafür: Zöllner in Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, 1. Aufl. 1970, § 136 Rn. 47.

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VIII. Pflichtverletzung von Organmitgliedern und die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen 1. Die Ausgangslage Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen ihre Vorstandsmitglieder wegen schuldhafter Pflichtverletzung werden vom Aufsichtsrat oder von der Hauptversammlung geltend gemacht. Der Aufsichtsrat ist dabei in der Regel zur Geltendmachung der Ansprüche verpflichtet. Er hat kein unternehmerisches Ermessen. 41 Schadensersatzansprüche gegen Aufsichtsratsmitglieder wegen schuldhafter Pflichtverletzung werden vom Vorstand 42 oder von der Hauptversammlung geltend gemacht. Insoweit hat die höchstrichterliche Rechtsprechung bislang nicht entschieden, ob der Vorstand zur Geltendmachung dieser Ansprüche verpflichtet ist. In der Lehre wird dies teilweise bejaht. 43 Allzu große praktische Bedeutung hat die Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern bisher nicht. 44 Das dürfte sich in Zukunft mit der Änderung von § 147 f. AktG durch das Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts ändern. 2. Keine Konzernorganhaftungsklage Was bedeutet dies im Konzern? – Es dürfte herrschender Ansicht entsprechen, dass die Aktionäre des herrschenden Unternehmens nicht befugt sind, unmittelbar Ansprüche gegen die Organmitglieder abhängiger Unternehmen geltend zu machen. 45 Und es dürfte herrschender Ansicht entsprechen, dass auch der Aufsichtsrat des herrschenden Unternehmens nicht befugt ist, unmittelbar Ansprüche gegen den Vorstand oder die Geschäftsführer abhängiger Unternehmen geltend zu machen. – Ferner ist davon auszugehen, dass der Aufsichtsrat abhängiger Unternehmen nicht befugt ist, unmittelbar gegen das herrschende Unternehmen und seine Organmitglieder mit der Begründung vorzugehen, das herrschende Unternehmen und seine Organmitglieder hätten die Konzernleitung fehlerhaft ausgeübt.

41

BGHZ 135, 244 (ARAG).

Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 4. Aufl., 2002, S. 322. Lutter/Krieger (Fn. 42) aaO. 44 S. aber etwa BGHZ 69, 207, 214; BGH NJW 1978, 425; BGH WM 1979, 1425; BGH NJW 1980, 1629; BGH WM 1983, 957; OLG Düsseldorf AG 1984, 273; LG Stuttgart DB 1999, 2462; LG Bielefeld WM 1999, 2457. 45 S. dazu aber für das amerikanische Recht: Buxbaum/Uwe H. Schneider ZGR 1982, 199 ff. 42 43

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In all diesen Fällen soll es vielmehr bei der einzelgesellschaftlichen Betrachtung verbleiben. Ansprüche gegen Organmitglieder des abhängigen Unternehmens können hiernach nur durch dessen zuständigen Organe geltend gemacht werden. Wenn man hieran festhält, so hat dies bei Holdingstrukturen weitreichende Folgen: – Die Investoren sind nur an der Holding beteiligt. Die Holding ist aber nicht unmittelbar unternehmerisch tätig. Deren Organe beschränken sich auf die Konzernleitung und auf die Konzernüberwachung. Der Vorwurf fehlerhafter Konzernleitung oder fehlerhafter Konzernüberwachung, der in vielen Fällen nicht unbegründet sein mag, hat aber praktisch keine Bedeutung. – Weil aber die unternehmerische Tätigkeit über die Tochtergesellschaften erfolgt, besteht zwar für deren Organmitglieder das abstrakte Risiko wegen fehlerhafter Unternehmensleitung in Anspruch genommen zu werden. Auch diese Haftung hat aber in der Praxis nur begrenzte Bedeutung; denn die Aktionäre der Holding können die Ansprüche nicht geltend machen und die zuständigen Organe des abhängigen Unternehmens setzen die Ansprüche nicht durch. Im Rahmen der Zuständigkeiten zur Geltendmachung entsprechender Ansprüche besteht nämlich ein schwerer Interessenkonflikt. Offenkundig wird er bei der Entlastung der Organmitglieder des abhängigen Unternehmens. Die Entlastung erfolgt durch Beschluss in der Gesellschafterversammlung des abhängigen Unternehmens. Dort werden die Stimmrechte durch die Organmitglieder des herrschenden Unternehmens ausgeübt. Diese Organmitglieder müssen aber ihrerseits mit dem Vorwurf fehlerhafter Konzernleitung oder fehlerhafter Konzernüberwachung rechnen, wenn sie den Organmitgliedern des abhängigen Unternehmens eine fehlerhafte Unternehmensleitung vorwerfen. Folgt man der bisherigen Ansicht, so zeigt sich im Blick auf die Organhaftung die Attraktivität von Holdingstrukturen – jedenfalls aus der Sicht der Organmitglieder. Die Haftung wird mediatisiert, und das ist je nach Sichtweise umso „problematischer“ oder „attraktiver“ je größer das Risiko der Organhaftung wird: Und deshalb wird über die Konzernorganhaftungsklage im deutschen Recht an anderer Stelle noch vertieft nachgedacht werden müssen.

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Verdeckte Sacheinlage und Kapitalrücklage Joachim Schulze- Osterloh

Inhaltsübersicht Seite

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verdeckte Sacheinlage und Kapitalrücklage bei der GmbH . . . . . . 1. Aufgeld nach § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB . . . . . . . . . . . . . . 2. Zuzahlungen für die Gewährung eines Vorzugs nach § 272 Abs. 2 Nr. 3 HGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Andere Zuzahlungen nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB . . . . . . . 4. Nachschußkapital nach § 42 Abs. 2 Satz 3 GmbHG . . . . . . . III. Verdeckte Sacheinlage und Kapitalrücklage bei der AG . . . . . . . . 1. Aufgeld nach § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB . . . . . . . . . . . . . . 2. Zuzahlungen für die Gewährung eines Vorzugs nach § 272 Abs. 2 Nr. 3 HGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Andere Zuzahlungen nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB . . . . . . . 4. Abgrenzung Aufgeld/andere Zuzahlung . . . . . . . . . . . . . . a) Zusätzliche Kapitalaufbringung anläßlich der Gründung . . . . b) Zusätzliche Kapitalaufbringung anläßlich einer Kapitalerhöhung IV. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung In seinem Lehrbuch des Kapitalgesellschaftsrechts setzt sich Thomas Raiser eindringlich für einen Schutz vor Umgehungen der Kapitalaufbringungspflicht durch die Verdeckung von Sachgründungen ein.1 Er spricht einem solchen Kapitalschutz eine erwünschte „präventive und erzieherische Wirkung“ zu. Dieser Kapitalschutz wird üblicherweise auf das Grund- oder Stammkapital bezogen. Ungeklärt ist, ob und inwieweit die Regeln über verdeckte Sacheinlagen auch anzuwenden sind, soweit es sich um andere Bestandteile des der Gesellschaft von ihren Gesellschaftern zugeführten Eigenkapitals handelt. Es geht um die Frage, ob Kapitalaufbringungen in Gestalt eines Aufgeldes nach § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB , als Zuzahlungen gegen Gewährung eines Vorzugs nach § 272 Abs. 2 Nr. 3 HGB oder als andere 1

Thomas Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, 3. Aufl., 2001, § 26 Rn. 77.

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Zuzahlungen nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB ebenfalls dem Kapitalaufbringungsschutz im Zusammenhang mit der Übertragung von Vermögensgegenständen an die Gesellschaft unterliegen. Rechtsprechung dazu gibt es – soweit ersichtlich – nicht. Hinzuweisen ist nur auf ein Urteil des OLG Köln, 2 in dem als Voraussetzung für die Annahme einer verdeckten Sachgründung der Umstand bezeichnet wird, daß für das Geschäft mit dem Gesellschafter das Stammkapital der Gesellschaft verwendet wird. Daraus kann man schließen, daß eine verdeckte Sachgründung nicht vorliegt, wenn der Kaufpreis nicht aus dem zur Deckung des Stammkapitals erforderlichen Vermögens erbracht werden muß. Im Schrifttum finden sich dazu allenfalls Andeutungen, und zwar im Zusammenhang mit der Frage, ob die Regeln über verdeckte Sacheinlagen auch anzuwenden sind, wenn der Gesellschafter nach einer Bargründung oder einer Barkapitalerhöhung einen Vermögensgegenstand an die Gesellschaft veräußert und die Kaufpreisforderung einige Zeit stundet, sogenannte „Einbuchung gegen Forderung“. 3 Dieses Verfahren wird für die GmbH aus dem Anwendungsbereich der Regeln über verdeckte Sacheinlagen teilweise unter der Voraussetzung herausgenommen, daß für die spätere Tilgung der Kaufpreisforderung Gesellschaftsvermögen außerhalb des Stammkapitals verwendet wird. 4 Allerdings kann das nicht – wie vorgeschlagen 5 – dadurch gesichert werden, daß das Stammkapital auf ein besonderes Konto eingezahlt wird. 6 Ob das Stammkapital im Zeitpunkt der Zahlung an den Gesellschafter noch vorhanden ist, ergibt sich ausschließlich aus einer nach den Regeln der §§ 238 ff., 264 ff. HGB errichteten Bilanz. Gegenständlich kann das aufgebrachte Stammkapital nicht vor Verlusten bewahrt werden. Immerhin wird bei dieser Argumentation erkennbar, daß Vermögen, das nicht zur Deckung des Stammkapitals aufgebracht wird, im Zusammenhang mit der Übertragung von Vermögensgegenständen an die Gesellschaft möglicherweise geringeren Einschränkungen unterliegt als das Grund- oder Stammkapital selbst. Hieran zeigt sich, daß offenbar die Nähe der als Kapitalrücklage aufgebrachten Mittel zum Grund- oder Stammkapital Bedeutung dafür hat, wie Geschäfte über den Erwerb von Vermögensgegenständen durch die Gesell22 U 116/98 v.2. 2. 1999, GmbHR 1999, 663, 664. Bejahend: v. Gerkan GmbHR 1992, 433, 435 f.; wohl auch Dieter Mayer NJW 1990, 2593, 2599 l.Sp. Verneinend: Priester in Scholz, Kommentar zum GmbH-Gesetz, II . Band, 9. Aufl., 2002, § 56 Rn. 32; Priester ZIP 1991, 345, 353; ders. in FS 200 Jahre Rheinisches Notariat, 1998, 335, 337; Wohlschlegel DB 1995, 2053. 4 Dieter Mayer NJW 1990, 2593, 2599 l.Sp.; Wohlschlegel DB 1995, 2053. Diese Voraussetzung ausdrücklich ablehnend Priester in FS 200 Jahre Rheinisches Notariat, 1998, 335, 348. 5 Wohlschlegel DB 1995, 2053. 6 Unter dem Gesichtspunkt der Kapitalaufbringung zur endgültigen freien Verfügung Scholz GmbHG -Priester (Fn. 3) § 56 Rn. 32 Fn. 70; Priester ZIP 1991, 345. 351; ders. in FS 200 Jahre Rheinisches Notariat, 1998, 335, 342. 2 3

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schaft von ihrem Gesellschafter im Hinblick auf die Kapitalaufbringung zu beurteilen sind. Demgemäß ist für die folgende Untersuchung zwischen der Aktiengesellschaft und der Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu unterscheiden. Bei der Aktiengesellschaft sichert § 36a Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 AktG die Aufbringung des Aufgeldes bei der Gründung und wegen der Verweisung auf diese Vorschrift in § 188 Abs. 2 Satz 1 AktG auch bei der Kapitalerhöhung. Ferner unterliegen die Kapitalrücklagen nach § 272 Abs. 2 Nrn. 1 und 3 HGB gemäß § 150 Abs. 2 bis 4 AktG einer gewissen Bindung, auch können die Vorschriften über die Sachübernahmen in § 27 Abs. 1 Satz 1 AktG und über die Nachgründung in § 52 AktG zu weiteren Einschränkungen führen. Solche Regeln bestehen für die Gesellschaft mit beschränkter Haftung nicht. Es gibt auch keinen Anlaß, wie von Jan Wilhelm7 vorgeschlagen, die verstärkte Kapitalbindung der Aktiengesellschaft auf die Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu übertragen. 8 Die einzige Sonderbestimmung für die GmbH betrifft nach §§ 30 Abs. 2, 42 Abs. 2 GmbHG das Nachschußkapital, worauf gesondert einzugehen ist. Aus diesem Grunde empfiehlt es sich, mit dieser Gesellschaftsform zu beginnen und anschließend gegebenenfalls Abweichungen für die Aktiengesellschaft zu formulieren. Im Vordergrund stehen dabei die Regelungen, die sich auf die Kapitalaufbringung beziehen; denn nur diese sollen mit Hilfe der Grundsätze über verdeckte Sacheinlagen vor Umgehungen geschützt werden. Auf Bestimmungen, die der Kapitalerhaltung dienen, ist daher nur zur Abrundung des Bildes am Rande einzugehen.

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FS Flume, Band II , 1978, 337, 348 ff.

Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbH-Gesetz, 17. Aufl., 2000, § 3 Rn. 3; Goerdeler/Welf Müller in Hachenburg, Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Großkommentar, I. Band, 8. Aufl., 1992, § 30 Rn. 15; Rowedder/Schmidt-Leithoff/Pentz GmbHG , 4. Aufl., 2002, § 30 Rn. 7;Westermann in Scholz, Kommentar zum GmbH-Gesetz, I. Band, 9. Aufl., 2000, § 30 Rn. 5 f.; Raiser (Fn. 1) § 37 Rn. 6; unentschieden Michalski/Heidinger GmbHG , I. Band, 2002, § 30 Rn. 2 f. 8

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II. Verdeckte Sacheinlage und Kapitalrücklage bei der GmbH 1. Aufgeld nach § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB Sowohl bei der Gründung 9 als auch bei der Kapitalerhöhung10 kann, obwohl es an einer gesetzlichen Regelung fehlt, die Zahlung eines Aufgeldes vereinbart werden. Hierdurch wird eine gesellschaftsrechtliche Nebenleistungspflicht begründet, deren Gegenstand nicht der Kapitalbindung der §§ 30, 31 GmbHG unterliegt.11 Die Eintragung der Gesellschaft 12 oder der Kapitalerhöhung13 hängt von der Aufbringung des Aufgeldes nicht ab. Auch das Verbot des § 19 Abs. 2 Gmb HG , die Gesellschafter von der Einlagepflicht zu befreien, gilt nicht für die Verpflichtung, ein Aufgeld zu zahlen.14 Wird die Pflicht, ein Aufgeld zu zahlen, durch eine Sacheinlage erbracht, gilt § 9c Abs. 1 Satz 2 GmbHG nicht.15 Demgemäß prüft das Registergericht insoweit nicht die Werthaltigkeit der Sacheinlage.16 Gegen diese Feststellung werden mehrere Einwendungen erhoben:

9 Baumbach/Hueck GmbHG -Hueck/Fastrich (Fn. 8) § 5 Rn. 9; Ulmer in Hachenburg, Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, I. Band, 8. Aufl., 1992, § 5 Rn. 153; Michalski/Zeidler GmbHG , I. Band, 2002, § 5 Rn. 48; Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG , 4. Aufl. 2002, § 5 Rn. 15; Winter in Scholz, Kommentar zum GmbH-Gesetz, I. Band, 9. Aufl., 2000, § 5 Rn. 23; Heinrich in Münchener Handbuch des Gellschaftsrechts, Band 3, 2. Aufl., 2003, § 19 Rn. 49. 10 Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbH-Gesetz, 18. Aufl., 2000, § 55 Rn. 8; Ulmer in Hachenburg, Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, III . Band, 8. Aufl., 1997, § 55 Rn. 20; Rowedder/Schmidt-Leithoff/Zimmermann GmbHG , 4. Aufl., 2002, § 55 Rn. 16; Scholz GmbHG -Priester (Fn. 3) § 55 Rn. 27. 11 Hachenburg GmbHG -Ulmer (Fn. 9) § 5 Rn. 155. 12 Baumbach/Hueck GmbHG -Hueck/Fastrich (Fn. 8) § 7 Rn. 4 a.E.; Hachenburg GmbHG -Ulmer (Fn. 9) § 7 Rn. 23; Michalski/Heyder GmbHG , I. Band, 2002, § 7 GmbHG Rn. 20; Rowedder/Schmidt-Leithoff (Fn. 9) § 7 Rn. 21; Scholz GmbHG -Winter (Fn. 9) § 7 Rn. 19. 13 Hachenburg Gmb HG -Ulmer (Fn. 10) § 56a Rn. 4; Michalski/Hermanns GmbHG , II . Band, 2002, § 57a Rn. 12; Rowedder/Schmidt-Leithoff/Zimmermann (Fn. 10) § 56 Rn. 20; Scholz GmbHG -Priester (Fn. 3) § 56a Rn. 3. 14 Baumbach/Hueck GmbHG -Hueck/Fastrich (Fn. 8) § 19 Rn. 3; Hachenburg GmbHG Ulmer (Fn. 3) § 19 Rn. 35; Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG , 16. Aufl., 2004, § 19 Rn. 3; Rowedder/Schmidt-Leithoff/Pentz (Fn. 8) § 19 Rn. 34; Uwe H. Schneider in Scholz, Kommentar zum GmbHG , I. Band, 9. Aufl., 2000, § 19 Rn. 32; Priester FS Lutter, 2000, 617, 633. 15 Baumbach/Hueck GmbHG -Hueck/Fastrich (Fn. 8) § 9c Rn. 5; Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbH-Gesetz, 17. Aufl., 2000, § 42 Rn. 168; Lutter/Hommelhoff GmbHG-Lutter/Bayer (Fn. 14) § 9c Rn. 18; Welf Müller WPg 1980, 369, 373. Für den Fall der Kapitalerhöhung Scholz GmbHG -Priester (Fn. 3) § 57a Rn. 14. Sinngemäß ebenso LG Augsburg 3 HKT 3651/95 v. 8. 1. 1996, GmbHR 1996, 216, 217. – A.M., jedoch ohne Begründung Geßler BB 1980, 1385, 1387. 16 Scholz GmbHG -Winter (Fn. 9) § 9c Rn. 32; Priester FS Lutter, 2000, 617, 634.

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Ulmer 17 meint, daß bei einer Deckung des Stammkapitals und des Aufgelds durch eine einheitliche Sacheinlage der Verkehr annehme, daß der Wert der Sacheinlage auch den Betrag des Aufgeldes umfasse. Diese Annahme ist plausibel, nur trägt sie nicht weit; denn der Verkehr ist in seinen Erwartungen hinsichtlich der Aufbringung des Aufgeldes nicht geschützt.18 Weiterhin wenden Spiegelberger/Walz 19 ein, daß die Gesellschaft die Kapitalrücklage sogleich nach der Eintragung der Gesellschaft auflösen und den Betrag an die Gesellschafter ausschütten könne. Daher sei die tatsächliche Kapitalaufbringung ohne eine Prüfung des Wertes der Sacheinlage nicht gewährleistet. An diesem Argument ist richtig, daß die Kapitalrücklage jederzeit aufgelöst werden kann. 20 Ob sie aber ein ausreichendes Ausschüttungspotential bietet, wird durch den der Ausschüttung zugrundeliegenden Jahresabschluß festgestellt. 21 Im Falle einer der Abschlußprüfung unterliegenden Gesellschaft ist es also Sache des Abschlußprüfers, die Werthaltigkeit der Kapitalrücklage durch Ermittlung des Wertes der Sacheinlage zu prüfen. 22 Auch bei späteren Zuzahlungen der Gesellschafter in das Gesellschaftsvermögen kann die nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB gebildete Kapitalrücklage in gleicher Weise zu Ausschüttungen benutzt werden. Es besteht kein Bedürfnis, für die aus dem Aufgeld gebildete Kapitalrücklage strengere Voraussetzungen aufzustellen. Somit besteht für das Aufgeld keine Kontrolle der Kapitalaufbringung. Das schließt es aus, die Regeln anzuwenden, die eine Umgehung der Kapitalaufbringungsregeln verhindern sollen. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, daß dem Aufgeld auch im übrigen keine gläubigerschützende Funktion zukommt. 23 Es ist nach § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB in die Kapitalrücklage einzustellen. Die Gesellschaft kann diese Kapitalrücklage vorbehaltlich abweichender Regelung im Gesellschaftsvertrag jederzeit ohne Beschränkungen auflösen. 24 Sofern der Gesellschaftsvertrag keine andere Regelung trifft, ist dafür die Gesellschafterversammlung zuständig. 25 Das kann üblicherweise anläßlich der Feststellung des Jahresab17 Hachenburg GmbHG -Ulmer (Fn. 9) § 9c Rn. 33; ihm folgend Gienow FS Semler, 1993, 165, 174; ebenso auch Kurz MittBayNot 1996, 172, 174. 18 Priester FS Lutter 2000, 617, 634. 19 Spiegelberger/Walz GmbHR 1998, 761, 765. 20 Dazu sogleich unten. 21 Das verkennt Kurz MittBayNot 1996, 172, 174. 22 Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbH-Gesetz, 17. Aufl., 2000, § 42 Rn. 168. 23 Priester FS Lutter, 2000, 617, 633. 24 Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, Teilband 5, 6. Aufl., 1997, § 272 HGB Rn. 79; Baumbach/Hueck GmbHG -Schulze-Osterloh (Fn. 22) § 42 Rn. 168; Förschle/Hoffmann, Beck’scher Bilanz-Kommentar, 5. Aufl., 2003, § 272 HGB Rn. 73; Hüttemann in Staub Handelsgesetzbuch, III /1. Band, 4. Aufl., 2002, § 272 Rn. 26; Farr HdJ III /2 (Oktober 1992), Rn. 31, 35. 25 Baumbach/Hueck GmbHG -Schulze-Osterloh (Fn. 22) § 42 Rn. 167.

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schlusses geschehen. 26 Möglich erscheint aber auch ein gesonderter Beschluss, den die Geschäftsführer bei der Aufstellung des Jahresabschlusses berücksichtigen müssen. Der aufgelöste Betrag erhöht den Bilanzgewinn oder mindert den Bilanzverlust. 27 Auf diese Weise vergrößert sich das Ausschüttungspotential zugunsten der Gesellschafter. Daraus ergibt sich, daß im Hinblick auf die Sicherung der Kapitalaufbringung kein Anlaß besteht, auf das Aufgeld die Grundsätze anzuwenden, die im Falle einer verdeckten Sacheinlage gelten. Auch wenn die Gesellschaft vereinbarungsgemäß den Betrag des Aufgeldes aus einer Gründung oder aus einer Kapitalerhöhung verwendet, um von dem Gesellschafter einen Vermögensgegenstand zu erwerben, hat der Gesellschafter seine Verpflichtung, das Aufgeld zu erbringen, erfüllt. Die Kapitalrücklage ist in einem solchen Fall auch nicht aufzulösen, da sie nicht den Einlagegegenstand, sondern den Wert der Einlage repräsentiert. Allerdings unterliegt das Geschäft einer Angemessenheitskontrolle. Ist die Leistung der Gesellschaft höher als der Wert des vom Gesellschafter erworbenen Gegenstandes, so findet in Höhe der Differenz eine Ausschüttung aus dem Gesellschaftsvermögen statt. Diese ist im Jahresabschluß auszuweisen. 28 Ob die Ausschüttung zulässig ist, bestimmt sich nach den dafür geltenden Regeln, 29 nicht aber nach den Regeln über die Kapitalaufbringung. 2. Zuzahlungen für die Gewährung eines Vorzugs nach § 272 Abs. 2 Nr. 3 HGB Obwohl eine gesetzliche Regelung fehlt, können Geschäftsanteile der GmbH als Vorzugsgeschäftsanteile ausgestaltet sein. 30 Der Vorzug kann in einem erhöhten Gewinnanteil, 31 einem höheren Anteil am Liquidationserlös 32 oder einem erhöhten Stimmrecht bestehen; möglich ist auch die Einräumung von Geschäftsführungs- und Kontrollbefugnissen. 33 Zuzahlungen,

Baumbach/Hueck GmbHG -Schulze-Osterloh (Fn. 22) § 42 Rn. 167. Baumbach/Hueck GmbHG -Schulze-Osterloh (Fn. 22) § 42 Rn. 178. 28 Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, Teilband 1, 6. Aufl., 1995, § 255 HGB Rn. 72; Baumbach/Hueck GmbHG -Schulze-Osterloh (Fn. 22) § 42 Rn. 282; Kleindiek in Staub Handelsgesetzbuch, III /1. Band, 4. Aufl., 2002, § 255 Rn. 14; Winnefeld, Bilanz-Handbuch, 3. Aufl., 2002, E Rn. 518 ff; Schulze-Osterloh StuW 1994, 131, 135. – A.M. Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 24) § 264 HGB Rn. 125; Förschle/Taetzner Beck’scher Bilanz-Kommentar, 5. Aufl., 2003, § 278 HGB Rn. 111. 29 Dazu Schulze-Osterloh FS Stimpel, 1985, 487 ff. 30 HachenburgGmbHG -Ulmer (Fn. 9) § 5 Rn. 162; Rowedder/Schmidt-Leithoff (Fn. 9) § 3 GmbHG Rn. 50; wohl auch Lutter/Hommelhoff GmbHG-Lutter/Bayer (Fn. 14) § 14 Rn. 31. 31 Hachenburg GmbHG -Ulmer (Fn. 9) § 5 Rn. 160, 167. 32 Hachenburg GmbHG -Ulmer (Fn. 9) § 5 Rn. 168. 33 Hachenburg GmbHG -Ulmer (Fn. 9) § 5 Rn. 160, 170. 26 27

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die ein Gesellschafter für die Gewährung eines solchen Vorzugs leistet, sind nach § 272 Abs. 2 Nr. 3 HGB in die Kapitalrücklage einzustellen. 34 Diese Kapitalrücklage unterliegt denselben Regeln wie die auf einem Aufgeld beruhende Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB . 35 Gleichermaßen gibt es keine Kontrolle der Leistung der Zuzahlung, im übrigen kann die Kapitalrücklage jederzeit in Bilanzgewinn umgewandelt und so an die Gesellschafter ausgeschüttet werden. Wird eine solche Zuzahlung für den Erwerb eines Vermögensgegenstandes von einem Gesellschafter verwendet, sind demgemäß die Regeln über verdeckte Sacheinlagen gleichfalls nicht anzuwenden. 3. Andere Zuzahlungen nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB Andere Zuzahlungen der Gesellschafter in das Gesellschaftsvermögen sind Zuwendungen an die Gesellschaft, ohne daß es sich um die Aufbringung des Stammkapitals, um Zahlung eines Aufgeldes oder um Zuzahlungen zur Erlangung eines Vorzugsgeschäftsanteils handelt.36 Ihr Ausweis als Kapitalrücklage verhindert, daß die andere Zuzahlung unzutreffenderweise als Ertrag ausgewiesen wird. Die Zuzahlung bewirkt keinen Ertrag, weil die der Gesellschaft erbrachte Leistung nicht auf ihrer Geschäftstätigkeit beruht, sondern auf ihrem Verhältnis zu ihren Gesellschaftern. Dieses Verfahren dient daher der zutreffenden Darstellung der Ertragslage der Gesellschaft.37 Für diese Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB gelten hinsichtlich der Sicherung ihrer Aufbringung und ihres Erhalts dieselben Regeln wie für die Kapitalrücklagen nach § 272 Abs. 2 Nrn. 1 und 3 HGB . Es gibt auch hier keine Kontrolle der Aufbringung, zumal da sie mit dem Gründungsvorgang oder einer Kapitalerhöhung nicht verbunden sein muß. Im übrigen kann sie jederzeit zugunsten des Bilanzgewinns aufgelöst und dann ausgeschüttet werden. Demzufolge besteht auch hier kein Anlaß, die Regeln über verdeckte Sacheinlagen anzuwenden, wenn die Gesellschaft aus der Zuzahlung den Kaufpreis für einen ihr von dem Gesellschafter übertragenen Vermögensgegenstand aufbringt. 4. Nachschußkapital nach § 42 Abs. 2 Satz 3 GmbHG Das Nachschußkapital ist nach § 42 Abs. 2 Satz 3 GmbHG als Kapitalrücklage auszuweisen, wenn die Einziehung von Nachschüssen beschlossen 34 Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 24) § 272 HGB Rn. 131; Staub HGB -Hüttemann (Fn. 24) § 272 Rn. 39. 35 Baumbach/Hueck GmbHG -Schulze-Osterloh (Fn. 22) § 42 Rn. 169. 36 Auffangfunktion: Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 24) § 272 Rn. 134; Farr HdJ III /2 (Oktober 1992), Rn. 26. 37 Schulze-Osterloh FS Claussen, 1997, 769, 776 ff.

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worden ist, den Gesellschaftern ferner nicht das Recht zusteht, sich nach § 27 GmbHG von der Nachschußpflicht zu befreien, und soweit mit der Zahlung gerechnet werden kann. Diese Kapitalrücklage ist der Gegenposten zu dem auf der Aktivseite auszuweisenden Betrag der eingeforderten Nachschüsse. Sie ist gesondert auszuweisen 38 und daher von der für andere Zuzahlungen nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB gebildeten Kapitalrücklage zu unterscheiden, 39 und zwar auch dann, wenn der Nachschußbetrag eingezahlt ist, da die Verwendung der Rücklage besonderen Regeln unterliegt. 40 Hinsichtlich der Aufbringung des Nachschußkapitals besteht keine gerichtliche Kontrolle. Für eine der Abschlußprüfung unterliegende Gesellschaft ergibt sich allerdings insofern eine Prüfung, als der Abschlußprüfer die Werthaltigkeit der eingeforderten Nachschüsse zu kontrollieren hat. Einschränkungen unterliegt das Nachschußkapital nur hinsichtlich seiner Verwendung. Es darf nur aufgelöst werden, um einen Verlust zu decken oder um im Rahmen einer Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln nach §§ 58c ff. GmbHG in Stammkapital umgewandelt zu werden. 41 Darüber hinaus kann das Nachschußkapital nach Maßgabe des § 30 Abs. 2 GmbHG an die Gesellschafter zurückgezahlt werden. Dafür ist Voraussetzung, daß das Kapital nicht benötigt wird, um einen Verlust am Stammkapital zu decken, und daß eine Frist von drei Monaten verstrichen ist, nachdem der Rückzahlungsbeschluß in den Gesellschaftsblättern veröffentlicht worden ist. Besteht hiernach keine Aufbringungskontrolle, ist kein Anlaß erkennbar, die Regeln über verdeckte Sacheinlagen anzuwenden, die Mängel der Kapitalaufbringung verhindern sollen. Die Grenzen, die für die Verwendung des Nachschußkapitals gegeben sind, sollen die Rückzahlung an die Gesellschafter während des Bestehens einer Unterbilanz und vor Ablauf der DreiMonats-Frist des § 30 Abs. 2 GmbHG verhindern. Erwirbt die Gesellschaft nach Aufbringung des Nachschußkapitals von einem Gesellschafter einen Vermögensgegenstand, so wird das Nachschußkapital nur dann angegriffen, wenn der für den Gegenstand vereinbarte Preis den Zeitwert überschreitet. In diesem Fall liegt aber bereits nach allgemeinen Regeln eine verdeckte Aus38 Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, Teilband 4, 6. Aufl., 1997, § 42 GmbHG Rn. 22; Baumbach/Hueck GmbHG -Schulze-Osterloh (Fn. 22) § 42 Rn. 166; Rowedder/Schmidt-Leithoff/Tiedchen GmbHG , 4. Aufl., 2002, § 42 Rn. 10. 39 Farr HdJ III /2 (Oktober 1992), Rn. 29. – A.M. Raiser (Fn. 1) § 28 Rn. 34. 40 Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 38) § 42 GmbHG Rn. 25; Baumbach/Hueck GmbHG Schulze-Osterloh (Fn. 22) § 42 Rn. 171; BeckBil-Komm-Förschle/Hoffmann (Fn. 24) § 272 HGB Rn. 77; Rowedder/Schmidt-Leithoff/Tiedchen (Fn. 38) § 42 GmbHG Rn. 11. – A.M. (Umgliederung auf Posten nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB) Küting/Kessler/Hayn in Küting/ Weber (Hrsg.), Handbuch der Rechnungslegung. Einzelabschluss, 5. Aufl., § 272 HGB Rn. 129 (4. Lfg., Juli 2003); Lutter/Hommelhoff GmbHG -Kleindiek (Fn. 14) § 42 Rn. 34. 41 Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 38) § 42 G mbHG Rn. 26; Baumbach/Hueck GmbHG Schulze-Osterloh (Fn. 22) § 42 Rn. 171; Rowedder/Schmidt-Leithoff/Tiedchen (Fn. 38) § 42 GmbHG Rn. 11.

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schüttung aus dem Gesellschaftsvermögen an den Gesellschafter vor, die im Jahresabschluß entsprechend auszuweisen ist. 42 Das ist jedoch kein Aspekt der verdeckten Sacheinlage, bei der es nur um die Kapitalaufbringung, nicht aber um die Kapitalerhaltung geht.

III. Verdeckte Sacheinlage und Kapitalrücklage bei der AG 1. Aufgeld nach § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB Anders als für die GmbH ist für die Gründung und für die Kapitalerhöhung bei der AG die Erbringung eines Aufgeldes geregelt. Nach § 9 Abs. 2 AktG dürfen Aktien für einen höheren Betrag als den Nennbetrag oder als den auf die einzelne Stückaktie entfallenden anteiligen Betrag des Grundkapitals ausgegeben werden. Die Differenz ist das Aufgeld. 43 Dieses Aufgeld ist nach § 36a Abs. 1 AktG bei Gründung der AG als Voraussetzung für die Eintragung der Gesellschaft in voller Höhe zu erbringen. Im Falle einer Sacheinlage muß nach § 36a Abs. 2 Satz 3 AktG deren Wert auch den Betrag des Aufgeldes decken. Nach verbreiteter Ansicht 44 soll sich allerdings die Gründungsprüfung entsprechend dem Wortlaut des § 34 Abs. 1 Nr. 2 AktG bei der Bewertung der Sacheinlagen nur auf die Deckung des geringsten Ausgabebetrags der dafür zu gewährenden Aktien i.S.d. § 9 Abs. 1 AktG erstrecken, nicht dagegen auf die Aufbringung des Aufgeldes nach § 9 Abs. 2 AktG. Dabei wird jedoch die materiellrechtliche Bedeutung der auch das Aufgeld einbeziehenden Einlagepflicht nach § 36a Abs. 2 Satz 3 AktG verkannt. 45 Die Gründungsprüfung umfaßt also auch die Deckung des Aufgeldes. Ist das Aufgeld nicht in dieser Weise erbracht, hat das Registergericht die Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister abzulehnen. 46 Wird die Gesellschaft eingetragen, obwohl die Einlage neben dem Mindestbetrag des Nennbetrags das Aufgeld nicht deckt, schuldet der Einleger den Diffe-

Fn. 28. Brändel in Großkommentar zum Aktiengesetz, 2. Lfg., 4. Aufl., 1992, § 9 Rn. 31; Heider in Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, Band 1, 2. Aufl., 2000, § 9 Rn. 35; Hüffer Aktiengesetz, 6. Aufl., 2004, § 9 Rn. 8; Kraft in Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, Band 1, 2. Aufl., 1988, § 9 Rn. 24. 44 Hans-Peter Müller FS Heinsius, 1991, 591, 594; für den Fall der Kapitalerhöhung: Hefermehl/Bungeroth in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff Aktiengesetz, Band IV , 1989, 1993, 1994, § 183 Rn. 92; Lutter in Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, Band 5/1, § 183 Rn. 52. 45 Priester FS Lutter, 2000, 617, 623; i.E. ebenso (für Kapitalerhöhung) Wiedemann in Großkommentar zum Aktiengesetz, 5. Lfg., 4. Aufl., 1995, § 183 Rn. 82. 46 Für Sacheinlagen: Röhricht in Großkommentar zum Aktiengesetz, 7. Lfg., 4. Aufl., 1997, § 27 Rn. 100. 42 43

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renzbetrag in Geld. 47 Das Aufgeld unterliegt somit in vollem Umfang dem Schutz der realen Kapitalaufbringung. 48 Hieraus ergibt sich für ein Geschäft, mit dem die Gesellschaft aus den Mitteln des Aufgeldes einen Vermögensgegenstand von dem Gesellschafter erwirbt, daß die Regeln über verdeckte Sacheinlagen in vollem Umfang anzuwenden sind. Das bedeutet: Ist anläßlich der Festsetzung des Aufgeldes vereinbart worden, daß an die Stelle des zunächst bar aufzubringende Aufgeldes der vom Gesellschafter zu liefernde Vermögensgegenstand treten soll, 49 ist die Bareinlage auf das Aufgeld nicht wirksam erbracht worden, weil sie nicht endgültig zur freien Verfügung des Vorstands i.S.d. § 36 Abs. 2 Satz 1 AktG stand. 50 Diese Umgehungsabrede kann sich u. a. aus einem engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang zwischen der Festsetzung des Aufgeldes und dem Erwerbsgeschäft ergeben. 51 In einem solchen Fall bleibt der Aktionär nach § 27 Abs. 3 Satz 3 AktG zur Zahlung des Aufgeldes als Teil des Ausgabebetrages verpflichtet. 52 Dieses Ergebnis ist unabhängig davon, daß das Aufgeld nach § 150 AktG in die gesetzliche Rücklage einzustellen ist und damit den sich hieraus ergebenden Verwendungsbeschränkungen unterliegt. Diese Kapitalerhaltungsfunktion des Aufgeldes wird durch den Erwerb eines Vermögensgegenstandes von einem Aktionär mit den Mitteln des Aufgeldes nicht tangiert. Sollte 47 Pentz in Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, Band 1, 2. Aufl., 2000, § 27 Rn. 44; Großkomm AktG-Röhricht (Fn. 46) § 27 Rn. 105; Hoffmann-Becking Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts Band 4, 2. Aufl., 1999, § 4 Rn. 30 mit Fn. 45 auch für Sachkapitalerhöhung; Priester FS Lutter, 2000, 617, 622; für Sachkapitalerhöhung Geßler/ Hefermehl AktG-Hefermehl/Bungeroth (Fn. 44) § 183 Rn. 106 f; Krieger in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 4, 2. Aufl., 1999, § 56 Rn. 46. – A.M. (nur rechtsgeschäftliche Wertdeckungszusage) für den Fall der Kapitalerhöhung Hüffer AktG (Fn. 43) § 183 Rn. 21; Kölner Komm AktG-Lutter (Fn. 44) § 183 Rn. 66. 48 Lutter in Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, Band 1, 2. Aufl., 1988, § 54 Rn. 12 a.E.; Priester FS Lutter, 2000, 617, 619. 49 Allgemein für verdeckte Sacheinlage, ohne Erwähnung des Aufgeldes: Umgehungsabrede im Sinne von BGH II ZR 89/95 v. 4. 3. 1996, BGHZ 132, 133, 139. Zustimmend für AG MünchKommAktG-Pentz (Fn. 47) § 27 Rn. 94; Großkomm AktG -Röhricht (Fn. 46) § 27 Rn. 199. 50 Allgemein für verdeckte Sacheinlage, ohne Erwähnung des Aufgeldes: für GmbH BGH II ZR 104/90 v. 18. 2. 1991, BGHZ 113, 335, 345; zustimmend für AG MünchKommAktG-Pentz (Fn. 47) § 27 Rn. 98; Großkomm AktG-Röhricht (Fn. 46) § 27 Rn. 193; § 36 Rn. 77; ähnlich Kölner Komm AktG-Lutter (Fn. 48) § 66 Rn. 31, 43. Im Ergebnis ebenso, aber unter Betonung des Umgehungstatbestandes (für GmbH) Hommelhoff/Kleindiek ZIP 1987, 477, 487. 51 Allgemein für verdeckte Sacheinlage, ohne Erwähnung des Aufgeldes: für GmbH: BGH II ZR 60/93 v. 21. 2. 1994, BGHZ 125, 141, 143 f.; zustimmend für AG Hüffer AktG (Fn. 43) § 27 Rn. 15 i.V.m. 14; MünchKommAktG-Pentz (Fn. 47) § 27 Rn. 96; Großkomm AktG -Röhricht (Fn. 46) § 27 Rn. 203. 52 A.M. (Beschränkung auf Differenzhaftung für verdeckte Sacheinlage, ohne Erwähnung des Aufgeldes) Grunewald FS Rowedder, 1994, 111, 114 ff.

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der Kaufpreis höher sein als der Wert des Gegenstandes, greifen allerdings die Regeln über verdeckte Ausschüttungen ein mit der Folge, daß ein Rückforderungsanspruch der Gesellschaft nach § 62 AktG besteht. Darüber hinaus ist die Ausschüttung im Jahresabschluß auszuweisen. 53 Im übrigen kann es sich bei dem Erwerb von Vermögensgegenständen von einem Gesellschafter auch um eine Sachübernahme i.S.d. § 27 Abs. 1 Satz 1 AktG oder um den Fall einer Nachgründung i.S.d. § 52 AktG handeln. Hierauf ist in diesem Zusammenhang nicht näher einzugehen. 2. Zuzahlungen für die Gewährung eines Vorzugs nach § 272 Abs. 2 Nr. 3 HGB Ähnlich wie bei der GmbH können den Aktionären Vorzugsrechte eingeräumt werden. Das ergibt sich aus § 11 Satz 1 AktG, wonach die Aktien verschiedene Rechte, insbesondere bei der Gewinnverteilung und bei der Verteilung des Liquidationserlöses, gewähren können. Vorstellbar ist auch die Einräumung eines Entsendungsrechts nach § 101 Abs. 2 AktG. 54 Ein weiteres Vorzugsrecht kommt auch in der Weise in Betracht, daß im Falle einer Kapitalherabsetzung einzelne Aktionäre von der Herabsetzung des Nennbetrages oder von der Zusammenlegung der Aktien nach § 222 Abs. 4 AktG ausgenommen werden. 55 Unzulässig ist es aber nach § 12 Abs. 2 AktG, ein erhöhtes Stimmrecht zu schaffen. Soweit hiernach Vorzugsrechte zulässigerweise eingeräumt werden, können sie – im Rahmen des Gleichbehandlungsgrundsatzes des § 53a AktG – von einer Zuzahlung der begünstigten Aktionäre abhängig gemacht werden. 56 Im Hinblick auf das Nachschußverbot des § 54 AktG muß eine solche Vereinbarung freiwillig sein; sie darf auch nicht mit wirtschaftlichem Zwang verbunden werden. 57 Solche Vorzugsgewährungen gegen Zuzahlungen setzen wegen des Gleichbehandlungsgebots des § 53a AktG voraus, daß der Wert des Vorzugs von dem Wert der Zuzahlung gedeckt ist,58 wobei erhebliche Bewertungsprobleme auftreten.59 Sie haben daher große praktische Bedeutung nicht erlangt.60

Fn. 28. Großkomm AktG-Brändel (Fn. 43) § 11 Rn. 8. 55 Geßler/Hefermehl AktG-Hefermehl/Bungeroth (Fn. 44) Vor § 182 Rn. 16; Großkomm AktG-Wiedemann (Fn. 45) § 182 Rn. 102. 56 Großkomm AktG-Wiedemann (Fn. 45) § 182 Rn. 102, 103. 57 Henze in Großkommentar Aktiengesetz, 15. Lfg., 4. Aufl., 2001, § 54 Rn. 78; Hüffer AktG (Fn. 43) § 54 Rn. 9; Großkomm AktG-Wiedemann (Fn. 45) § 182 Rn. 103. 58 Kölner Komm AktG-Lutter (Fn. 48) § 54 Rn. 33, (Fn. 44) Vorb. § 182 Rn. 33; Großkomm AktG-Wiedemann (Fn. 45) § 182 Rn. 103; für den Fall von Zusammenlegung von Aktien Götz Hueck, Der Grundsatz der gleichnmäßigen Behandlung im Privatrecht, 1958, S. 57. 59 Geßler/Hefermehl AktG-Hefermehl/Bungeroth (Fn. 44) Vor § 182 Rn. 17. 53 54

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Werden in den beschriebenen Fällen Zuzahlungen von den Aktionären gewährt, sind die Beträge nach § 272 Abs. 2 Nr. 3 HGB in die Kapitalrücklage einzustellen.61 Sie sind nach § 150 AktG Bestandteil der gesetzlichen Rücklage und unterliegen den dort geregelten Verwendungsbeschränkungen. Anders als für das Aufgeld bestehen keine Regelungen, welche die Aufbringung solcher Zuzahlungen sichern sollen. Diese Zurückhaltung des Gesetzgebers ist angesichts ihrer geringen Bedeutung verständlich. Fehlt es hiernach an einer gerichtlichen Aufbringungskontrolle, besteht kein Anlaß, in geeigneten Fällen die Regeln über verdeckte Sacheinlagen anzuwenden. Dafür sprechen auch nicht die Verwendungsbeschränkungen nach § 150 AktG. Sie dienen nur der Kapitalerhaltung, nicht der Kapitalaufbringung. Die Kapitalerhaltung ist nur bedroht, wenn das mit dem Aktionär für den Erwerb eines Vermögensgegenstandes vereinbarte Entgelt höher ist als der Wert des Gegenstandes. Insoweit liegt eine verdeckte Ausschüttung aus dem Gesellschaftsvermögen vor, die im Jahresabschluß entsprechend auszuweisen ist 62 und zu den in § 62 AktG geregelten Folgen führt. 3. Andere Zuzahlungen nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB Die anderen Zuzahlungen haben bei der AG dieselbe Funktion wie bei der GmbH.63 Der Ausweis als Kapitalrücklage verhindert, daß die Zuwendungen der Gesellschafter, die nicht auf der Geschäftstätigkeit der Gesellschaft beruhen, als Ertrag ausgewiesen werden.64 Eine Kontrolle der Aufbringung findet nicht statt. Im Falle der Einbringung eines Vermögensgegenstandes sind unrichtige Bewertungen nur anläßlich der Abschlußprüfung aufzudecken. Der Abschlußprüfer hat die richtige Bewertung des eingebrachten Gegenstandes und die darauf beruhende Dotierung der Kapitalrücklage zu prüfen.65 Das ist aber nicht die Sicherung der Kapitalaufbringung, deren Umgehung durch die Regeln über verdeckte Sacheinlagen verhindert werden soll. Es besteht also keine Möglichkeit, diese Regeln im Fall einer anderen Zuzahlung anzuwenden. Ohne daß davon die Nichtanwendung der Regeln über verdeckte Sacheinlagen abhängt, ist zusätzlich darauf hinzuweisen, daß die Kapitalrücklage für die anderen Zuzahlungen nicht der gesetzlichen Rücklage nach § 150 60 Geßler/Hefermehl AktG-Hefermehl/Bungeroth (Fn. 44) Vor § 182 Rn. 17; anders für den Fall freiwilliger Kapitalleistungen bei einer Sanierung Großkomm AktG-Wiedemann (Fn. 45) Vor § 182 Rn. 90. 61 Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 24) § 272 HGB Rn. 131; BeckBil-Komm-Förschle/Hoffmann (Fn. 24) § 272 HGB Rn. 66; Farr HdJ III /2 (Oktober 1992), Rn. 25. 62 Fn. 28. 63 Oben II 3. 64 Schulze-Osterloh FS Claussen, 1997, 769, 776 ff. 65 Schulze-Osterloh FS Claussen, 1997, 769, 782.

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AktG zuzuführen ist. In der Verwendung der Rücklage ist die Gesellschaft frei. 66 4. Abgrenzung Aufgeld/andere Zuzahlung Unterliegt hiernach die Aufbringung eines Aufgeldes der Kapitalbindung mit der Folge, daß gegebenenfalls die Regeln über verdeckte Sacheinlagen anzuwenden sind, 67 und besteht insoweit bei der Vereinbarung einer anderen Zuzahlung keine Einschränkung, 68 liegt die Frage nahe, ob die Gesellschaft insoweit ein Wahlrecht hat, um die Gefahren einer verdeckten Sacheinlage im Falle einer Kapitalzuführung, die den Nennbetrag der Aktien oder den auf die einzelne Stückaktie entfallenden anteiligen Betrag des Grundkapitals69 übersteigt, von vornherein zu vermeiden. Diese Frage stellt sich nur, wenn die Kapitalaufbringung über den Nennbetrag der Aktien hinaus mit der Gründung oder mit einer Kapitalerhöhung verbunden wird. a) Zusätzliche Kapitalaufbringung anläßlich der Gründung § 54 Abs. 1 AktG begrenzt die Verpflichtung der Aktionäre zur Leistung der Einlagen auf den Ausgabebetrag der Aktien, der gegebenenfalls nach § 9 Abs. 2 AktG ein Aufgeld enthält. 70 In der Satzung kann also eine Zuzahlung nicht vereinbart werden. 71 Ein Wahlrecht der Aktionäre und der Gesellschaft besteht insoweit nicht. Zulässig ist es allerdings, daß die Aktionäre anläßlich der Gründung außerhalb der Satzung einen schuldrechtlichen Vertrag schließen, in dem sie sich zur Erbringung weiterer Leistungen an die Gesellschaft verpflichten. 72 Dieser kann als Vertrag zugunsten der Gesellschaft gestaltet sein, die dadurch einen eigenen Anspruch gegen die Gesellschafter erlangt. 73 Von einer in der Satzung getroffenen Vereinbarung unterscheidet sich eine solche Re66 Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 24) § 272 HGB Rn. 134; BeckBil-Komm-Förschle/Hoffmann (Fn. 24) § 272 HGB Rn. 72; Staub HGB -Hüttemann (Fn. 24) § 272 Rn. 40. 67 Oben III 1. 68 Oben III 3. 69 Dieser Fall der Kapitalaufbringung über pari wird im folgenden nicht mehr ausdrücklich hervorgehoben. 70 Bungeroth in Münchener Kommentar zum AktG, Band 2, 2. Aufl., 2003, § 54 Rn. 7; GroßkommAktG-Henze (Fn. 57) § 54 Rn. 39; Kölner Komm AktG-Lutter (Fn. 48) § 54 Rn. 12. 71 Großkomm AktG-Henze (Fn. 57) § 54 Rn. 47; Kölner Komm AktG-Lutter (Fn. 48) § 54 Rn. 13; Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994, 311. 72 Münch Komm AktG-Bungeroth (Fn. 70) § 54 Rn. 31; Großkomm AktG-Henze (Fn. 57) § 54 Rn. 77; Hüffer AktG (Fn. 43) § 54 Rn. 7; Kölner Komm AktG-Lutter (Fn. 48) § 54 Rn. 21, 22; Noack (Fn. 71) S. 128. 73 Münch Komm AktG-Bungeroth (Fn. 70) § 54 Rn. 30; Großkomm AktG-Henze (Fn. 57) § 54 Rn. 55; Hüffer AktG (Fn. 43) § 54 Rn. 7.

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gelung vor allem dadurch, daß sie die Aktionäre nur persönlich verpflichtet und berechtigt und bei einer Abtretung der Aktie nicht ohne weiteres auf den Erwerber übergeht. 74 Ein solcher Vertrag kann daher nicht den Inhalt haben, daß die Aktionäre ein Aufgeld schulden. Eine solche Verpflichtung wäre an die Aktien gebunden und daher nicht schuldrechtlich, sondern nur korporationsrechtlich begründbar. Folglich kann außerhalb der Satzung nur die Verpflichtung zu einer Zuzahlung i.S.d. § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB begründet werden. Das gilt entgegen einem Beschluß des Bayerischen Obersten Landesgerichts 75 auch dann, wenn die Gesellschaft auf Grund eines Vertrages zugunsten Dritter einen unmittelbaren Leistungsanspruch gegen die Aktionäre erlangt. Ein solcher Anspruch macht die schuldrechtliche Vereinbarung nicht zu einer korporationsrechtlichen und transformiert den Anspruch auf Zuzahlung nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB nicht in einen solchen auf Zahlung eines Aufgeldes nach § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB . 76 Insofern besteht also ein Wahlrecht, ob eine den Nennbetrag der Aktien übersteigende Einlage als Aufgeld oder als andere Zuzahlung erbracht werden soll. Im ersten Fall ist eine Satzungsregelung erforderlich, im zweiten Fall kommt nur eine schuldrechtliche Vereinbarung, die von der Satzung zu unterscheiden ist, in Betracht. b) Zusätzliche Kapitalaufbringung anläßlich einer Kapitalerhöhung Ob die soeben beschriebene Wahlfreiheit zwischen Vereinbarung eines Aufgelds in der Satzung und einer anderen Zuzahlung in einer schuldrechtlichen Vereinbarung auch im Falle einer Kapitalerhöhung besteht, ist zweifelhaft. Mit den dabei vereinbarten Leistungen über den Nennbetrag der neuen Anteile hinaus bezahlen die an der Kapitalerhöhung teilnehmenden Erwerber den anteiligen Mehrwert, der auf die alten Aktien entfällt und der durch den Beitritt neuer Gesellschafter für die alten Aktionäre verwässert wird. 77 Steht den alten Aktionären das Bezugsrecht nach § 186 AktG zu, können sie die Wertverschiebung durch Teilnahme an der Kapitalerhöhung oder durch Veräußerung des Bezugsrechts für sich ausgleichen. Ist das Bezugsrecht aber ausgeschlossen, kann die Wertverschiebung nur vermieden werden, wenn die neuen Aktionäre einen angemessenen Mehrbetrag aufbringen, der den Nennbetrag der neuen Aktien übersteigt.

74 Münch Komm AktG-Bungeroth (Fn. 70) § 54 Rn. 30; Großkomm AktG-Henze (Fn.57) § 54 Rn. 68: Hüffer AktG (Fn. 43) § 54 Rn. 8; Kölner Komm AktG-Lutter (Fn. 48) § 54 Rn. 28; Noack (Fn. 71) S. 171. Ebenso für GmbH Raiser (Fn. 1) § 28 Rn. 31. 75 BayObLG 3Z BR 35/02 v. 27. 2. 2002, AG 2002, 510 = NJW- RR 2002, 1036 = MittBayNot 2002, 304 f. mit abl. Anmerkung von Gerber. 76 Gerber MittBayNot 2002, 305 ff. – A. M. Becker NZG 2003, 510, 515 f. 77 Raiser (Fn. 1) § 12 Rn. 33; Priester FS Lutter, 2000, 617, 629.

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Diese Zusammenhänge kommen im Gesetz dadurch zum Ausdruck, daß der Vorstand nach § 186 Abs. 4 Satz 2 AktG in dem schriftlichen Bericht über den Grund für den Ausschluß des Bezugsrechts auch den vorgeschlagenen Ausgabebetrag, also gegebenenfalls die Differenz zwischen dem Nennbetrag und dem höheren Ausgabebetrag, zu begründen hat. Die Bedeutung dieses Differenzbetrages wird dadurch unterstrichen, daß die Aktionäre den Beschluß über die Kapitalerhöhung gegen Einlagen nach § 255 Abs. 2 Satz 1 AktG auch mit der Begründung anfechten können, daß der Ausgabebetrag unangemessen niedrig sei. Demgemäß muß der Vorstand zwingend einen Ausgabebetrag vorschlagen. 78 Damit ist über die Höhe des vorzuschlagenden Ausgabebetrages allerdings nichts ausgesagt. Es bleibt die Möglichkeit offen, daß der Vorstand einen Ausgabebetrag in Höhe des Nennbetrages mit der Begründung vorschlägt, daß sich der Übernehmer der neuen Aktien in einer schuldrechtlichen Vereinbarung verpflichtet habe, eine andere Zuzahlung in angemessener Höhe in das Gesellschaftsvermögen zu leisten. Wäre ein solches Verfahren zulässig, dann könnte die Gesellschaft auch bei einer Kapitalerhöhung unter Ausschluß des Bezugsrechts zwischen der Bestimmung eines Aufgeldes im Kapitalerhöhungsbeschluß und der vertraglichen Festsetzung von Zuzahlungen wählen. Die Praxis scheint ein solches Verfahren zu billigen. Das Landgericht Mainz 79 hat es im Fall IBH -Holding für zulässig gehalten, daß im Zusammenhang mit einer Kapitalerhöhung eine schuldrechtliche Vereinbarung geschlossen wurde, die zusätzliche Leistungen des Übernehmers der neuen Aktien vorsieht. Für Priester 80 kommt es nur darauf an, daß die Leistung aus der schuldrechtlichen Vereinbarung mit einem anderenfalls festzusetzenden Aufgeld gleichwertig ist. Gegen diese Auffassung bestehen jedoch erhebliche Bedenken, die sich aus der unterschiedlichen Sicherheit der Kapitalaufbringung bei Festsetzung eines Aufgeldes einerseits und bei Vereinbarung einer bloßen Zuzahlung andererseits herleiten. Die Aufbringung des Aufgeldes ist genauso gesichert wie die Aufbringung des Nennbetrages der Aktien. 81 Das gilt wegen der Verweisung in § 188 Abs. 2 AktG auf § 36a AktG auch für die Kapitalerhöhung. Es findet also eine umfassende Kapitalaufbringungskontrolle statt. Daran fehlt es vollständig bei einer anderen Zuzahlung. 82 Zwar würde der Vorstand pflichtwidrig handeln, wenn er die Zuzahlung nicht in voller Höhe gegenüber dem Zeichner der neuen Aktien durchsetzte. Aber die Kapital78 Geßler/Hefermehl AktG-Hefermehl/Bungeroth (Fn. 44) § 186 Rn. 99; Hüffer AktG (Fn. 43) § 186 Rn. 24; GroßkommAktG-Wiedemann (Fn. 45) § 186 Rn. 127. 79 12 HO 53/85 v. 18. 9. 1986, ZIP 1986, 1323, 1328. 80 FS Lutter, 2000, 617, 631. 81 Oben III 1. 82 Oben III 3.

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aufbringung ist schon deshalb nicht ausreichend gesichert, weil die Regeln über verdeckte Sacheinlagen nicht eingreifen. 83 Die Gefahren, die dadurch für die Gesellschaft und damit für ihre Aktionäre verbunden sind, zeigt deutlich der zitierte Fall des Landgerichts Mainz. 84 Priester 85 rechtfertigt die Gleichwertigkeit der schuldrechtlichen Vereinbarung über Zuzahlungen und der Festsetzung eines Aufgeldes im Falle der Kapitalerhöhung zusätzlich mit folgendem Argument: Sei Gegenstand der Einlage im Falle einer Kapitalerhöhung eine Sacheinlage, so brauche der Ausgabebetrag der neuen Aktien den vollen Wert der Sacheinlage nicht zu umfassen, sofern deren Wert nur den Nennbetrag erreiche. In einem solchen Fall trete mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 86 für den Verwässerungsschutz nach § 255 Abs. 2 AktG der Wert der Sacheinlage an die Stelle des Ausgabebetrages. Daran zeige sich, daß der Schutz der bisherigen Aktionäre die Festsetzung eines Aufgeldes nicht erfordere. Dagegen ist einzuwenden, daß sich der Anspruch der Gesellschaft auf die Sacheinlage aus dem Kapitalerhöhungsbeschluß nach § 183 AktG und dem Zeichnungsvertrag auf Grund der Zeichnung der neuen Aktien nach § 185 AktG, also aus einer korporationsrechtlichen Grundlage 87 ergibt. Er unterliegt damit dem Gegenstand nach den Sicherungen der Kapitalaufbringung. Damit ist der Anspruch aus einer nur schuldrechtlichen Zuzahlungsvereinbarung nicht zu vergleichen. Folglich ist der Verwässerungsschutz der Altaktionäre im Verhältnis zur Festsetzung eines angemessenen höheren Ausgabebetrages schwächer ausgebildet, wenn der Wertausgleich mit Hilfe einer Zuzahlung gewährleistet werden soll, die auf einer schuldrechtlichen Vereinbarung beruht. Daher ist ein Wahlrecht im Falle einer Kapitalerhöhung unter Ausschluß des Bezugsrechts der Aktionäre zu verneinen. Der Wertausgleich kann nur im Wege der Festsetzung eines Aufgeldes hergestellt werden. 88

Oben III 3. Fn. 79. 85 FS Lutter 2000, 617, 631. 86 II ZR 142/76 v. 13. 3. 1978, BGHZ 71, 40, 50 (Kali + Salz). 87 Geßler/Hefermehl AktG-Hefermehl/Bungeroth (Fn. 44) § 185 Rn. 47; Kölner Komm AktG-Lutter (Fn. 44) § 185 Rn. 5, 19; Großkomm AktG-Wiedemann (Fn. 45) § 185 Rn. 29; ähnlich (Doppelnatur als korperationsrechtliches und schuldrechtliches Rechtsgeschäft) Hüffer AktG (Fn. 43) § 185 Rn. 4. 88 Ebenso im Ergebnis Becker NZG 2003, 510, 515 f., der schuldrechtliche Zuzahlungsvereinbarungen bei einer Kapitalerhöhung für zulässig hält, aber dennoch die Einstellung des Mehrbetrages in die Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 1 AktG verlangt. 83 84

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IV. Ergebnisse Bei der GmbH besteht in allen Fällen einer auf Einlagen eines Gesellschafters beruhenden Kapitalrücklage kein Kapitalaufbringungsschutz. Erwirbt die Gesellschaft von dem Gesellschafter unter Einsatz solcher Einlagen einen Vermögensgegenstand, sind daher die Regeln über verdeckte Sacheinlagen nicht anzuwenden. Bei der Aktiengesellschaft gelten die Regeln über verdeckte Sacheinlagen nur im Falle eines Aufgeldes. In den Fällen der Zuzahlung für die Gewährung eines Vorzugs und der anderen Zuzahlung besteht kein Kapitalaufbringungsschutz. Grundsätzlich kann die Aktiengesellschaft wählen, ob zusätzliche Leistungen ihrer Aktionäre im Wege des Aufgeldes oder als sonstige Zuzahlungen erbracht werden sollen. Im Fall einer Kapitalerhöhung unter Ausschluß des Bezugsrechts der Aktionäre muß die Differenz zwischen dem höheren Ausgabebetrag und dem Nennbetrag der neuen Aktien allerdings zwingend durch die Festsetzung eines Aufgeldes dargestellt werden.

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Inhaltsübersicht Seite

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Bezüge des Vorstands . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtliche Grenzen der Vorstandsbezüge . . . . . . . . 1. Beschränkungen außerhalb des § 87 AktG . . . . . 2. Die Kriterien des § 87 Abs. 1 AktG . . . . . . . . . a. Die Vergütungskriterien . . . . . . . . . . . . . b. Die Angemessenheit als Bemessungskriterium . . c. Die Überprüfbarkeit der Vergütungsentscheidung d. Abfindungsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . e. Nachträgliche Erhöhung der Bezüge . . . . . . . IV. Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Reformbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Procedere der Festlegung der Vergütung . . . . 2. Publizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Änderungen des § 87 AktG . . . . . . . . . . . . . 4. Verbesserung der Durchsetzungsmöglichkeiten . . .

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I. Einführung In den vergangenen zwanzig Jahren sind die Bezüge der angestellten Mitglieder des Vorstands der Großunternehmen,1 in den USA der managing directors des board2, stark angestiegen. Von der Steigerung der Arbeitnehmereinkommen haben sie sich zunehmend abgekoppelt. 3 Diese Entwicklung 1 Vgl. die Geschäftsberichte der DAX 30-Unternehmen, in denen allerdings bis in die jüngste Zeit überwiegend nur die Gesamtbezüge des Vorstands angegeben werden; ferner die jährlichen (vergleichenden) Übersichten von Towers Perrin. 2 Generalanzeiger vom 14./15. 9. 2002, S. 27. 3 Vgl. die Feststellung des Präsidenten der New York Federal Reserve Bank Mc Donough, der Verdienst der CEOs der großen corporations habe sich gegenüber dem 42-fachen des Lohnes eines Industriearbeiters vor 20 Jahren auf das mehr als 400-fache erhöht, wiedergegeben aaO. (Fn. 2); vgl. auch die Angaben bei Baums FS Claussen, S. 3 f. mwN., der für 1995 für den CEO das 113-fache des Lohnes eines Industriearbeiters und für deutsche Vorstände eine Spanne zwischen dem 15- und dem 30-fachen angibt.

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betrifft nicht nur die Festgehälter und Tantiemen (Boni) sondern hat in den bekannten exzessiven Erscheinungsformen4 auch ihren Grund in den mit einer Börsenhausse einhergehenden Aktienoptionsplänen für Führungskräfte. Diese in den USA seit langem üblichen Optionsprogramme 5 wurden erst Mitte der Neunzigerjahre bei deutschen DAX-Unternehmen eingeführt. 6 Trotz der tendenziell gleichlaufenden Entwicklung ist darauf hinzuweisen, dass die Vergütung der US -board members weiterhin ein Vielfaches deutscher Vorstandsbezüge erreicht. 7 Die Problematik der hohen Vorstandsbezüge wird in den USA seit langem kritisch diskutiert, dabei wurde zugleich ein Versagen des US -amerikanischen Rechts konstatiert.8 In Deutschland hat die aktuelle Diskussion, befördert durch die Bemühungen um nationale Corporate-Governance-Regeln,9 erst seit jüngster Zeit eingesetzt. Sie wird in der Öffentlichkeit10 und zunehmend auch in juristischen Fachkreisen11 geführt. Dazu hat ohne Zweifel der aktuelle Fall der Übernahme der Mannesmann AG durch Vodafone beigetragen; dort geht es in erster Linie um die Berechtigung von Anerkennungsprämien (appreciation awards) an ausgeschiedene Vorstandsmitglieder.12 Die aktienrechtlichen Grundlagen für die juristische Betrachtung sind denkbar dürftig und unbestimmt. Gemäß § 87 Abs. 1 AktG hat der Aufsichtsrat dafür zu sorgen, dass die Gesamtbezüge des Vorstands in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben des Vorstands und zur Lage der Gesellschaft stehen. Über Sanktionen bei Verstoß gegen diese Pflicht sagt das Gesetz nichts. § 87 Abs. 2 AktG ermächtigt den Aufsichtsrat, diese Bezüge bei einer so wesentlichen Verschlechterung der Verhältnisse, dass eine Weiterzahlung in bisheriger Höhe eine schwere Unbilligkeit für die Gesellschaft bedeuten würde, herabzusetzen. Ob daraus auch Folgerungen für 4 Beispiele bei Käpplinger Inhaltkontrolle von Aktienoptionsplänen, 2003, S. 15; FAZ vom 27. 8. 2002, S. 11. 5 S. etwa Clark Corporate Law, 1986, S. 200 ff. 6 Käpplinger (Fn. 4) S. 15 f. 7 Nach der Liste von Forbes Global für 2001 hat die Nr. 25 der amerikanischen Forbes Liste (David Komansky, Merryl Lynch) fast dreimal soviel verdient wie der bestbezahlte CEO außerhalb der USA , FAZ vom 27. 8. 2002, S. 11; vgl. auch die vergleichende Studie der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz, 2002 für das gleiche Jahr und FAZ vom 22. 11. 2002, S. 20. 8 Vgl. nur Barris Indiana Law Journal 1992, 59 ff., 99; Cunningham Cornell Law Review 1999, 1133, 1175 und die zahlreichen Nachw. bei Käpplinger (Fn. 4) S. 15 Fn. 4. 9 S. Baums (Hrsg.) Bericht der Regierungskommission, 2001, Rn. 42 ff.; Deutscher Corporate Governance Kodex i. d. F. vom 21. 5. 2003, 4.2.2. – 4.2.4. 10 Vgl. FAZ vom 27. 8. 2002, S. 14, vom 1. 10. 2002, S. 21, vom 5. 5. 2003, S. 11; Die Zeit vom 9. 1. 2003, S. 1 (Helmut Schmidt). 11 Peltzer FS Lutter, 2000, S. 571 ff.; Lutter ZIP 2003, 737, 739 ff.; Thüsing ZGR 2003, 457 ff.; ders. DB 2003, 1612 ff.; Adams ZIP 2002, 1325 ff. 12 Vgl. die Gutachten von Hüffer BB 2003, Beil. 7; Baums Rechtsgutachten für die Vodafone GmbH vom 24. 10. 2001 und ergänzendes Gutachten vom 1. 10. 2003.

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eine Heraufsetzung der Vergütung gezogen werden können, bleibt unklar. Durch das Transparenz- und Publizitätsgesetz vom 19. 7. 2002 ist zudem die in § 86 AktG enthaltene Bemessungsgrundlage für Vorstandstantiemen gestrichen worden, weil die Anknüpfung an den Begriff des Jahresgewinns sich als problematisch erwiesen hatte.13 Dagegen hat das KonTraG vom 27. 4. 1998 zu einer gewissen Präzisierung der Gewährung von Stock Options geführt. Werden die zur Bedienung erforderlichen Aktien im Wege der Kapitalerhöhung nach § 192 Abs. 2 Nr. 3 n.F. AktG geschaffen, entscheidet, ungeachtet der Vergütungskompetenz des Aufsichtsrats, die Hauptversammlung nicht nur über das „Ob“ des bedingten Kapitals, sondern auch über das „Wie“ der Optionen (§ 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG). Wird dagegen der Weg des § 221 i.V.m. § 192 Abs. 2 Nr. 1 gewählt14 oder werden virtuelle Aktienoptionen aufgelegt,15 greift die optionsplanspezifische Regelung des § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG dem Wortlaut nach nicht ein.16 Die folgenden Bemerkungen zum Gesetzesbegriff der Bezüge, der vom Aufsichtsrat auf Grund des § 87 Abs. 1 AktG oder anderer Bestimmungen einzuhaltenden Grenzen und der Rechtsfolgen bei ihrem Überschreiten sind dem Fakultätskollegen Thomas Raiser in herzlicher Verbundenheit gewidmet. Die vielfältigen Aspekte des Themas, das in den Rechtstatsachen seinen Ausgangspunkt findet und bis zu Grundfragen des sozialen Systems der Bundesrepublik 17 und ordnungspolitischen Konzepten einer Marktwirtschaft 18 reicht, sollen zugleich ein Licht auf den weiten Kreis der Interessen des Jubilars werfen, denen er sich in seinen Publikationen und im wissenschaftlichen Gespräch gewidmet hat und sicherlich auch weiterhin widmen wird.

II. Die Bezüge des Vorstands Vergleichsweise geringe Probleme wirft die Bestimmung derjenigen Leistungen des Unternehmens auf, die zu den Vorstandsbezügen zu rechnen sind. Die Aufzählung in § 87 Abs. 1 Satz 1 AktG ist nicht erschöpfend.19 Der Grundsatz der Angemessenheit der Gesamtbezüge gebietet es viel-

Näher Begründung des RegE, abgedr. in NZG 2002, 213 ff.; S. 219 (zu Nr. 4). Zur weiter bestehenden Zulässigkeit Hüffer AktG 5. Aufl., 2002, § 192 Rn. 15. 15 Dazu Baums FS Claussen, S. 3, 6; Götze Aktienoptionen, 2000, S. 31. 16 So für virtuelle Optionen Hefermehl/Spindler in: Münchener Kommentar zum AktG, Band 3, 2. Aufl., 2004, § 87 Rn. 37 mwN. 17 So Lutter ZIP 2003, 737, 739. 18 So Peltzer FS Lutter, S. 586, der die Leistungsgerechtigkeit als tragenden Grundsatz der Marktwirtschaft und moralisches Axiom bezeichnet. 19 Mertens in: Kölner Kommentar zum AktG, Band 2, 2. Aufl., 1996, § 87 Rn. 8. 13 14

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mehr, alle geldwerten Vorteile einzubeziehen, die dem Vorstand aufgrund seiner Tätigkeit für das Unternehmen zufließen oder von diesen übernommen werden. 20 Dazu gehören das Festgehalt, Tantiemen (Boni, Gratifikationen), Optionen realer oder virtueller Art, aber auch Sachleistungen des Unternehmens. Vergütungen, die dem Vorstand als Mandatsträger in mit der Gesellschaft verbundenen Unternehmen gewährt werden, sind deshalb grundsätzlich in die Gesamtbezüge einzurechnen. 21 Mandate in anderen Unternehmen bleiben dagegen mangels anderweitiger Vereinbarung außen vor; sie sind zwar regelmäßig auch mit der Funktion verknüpft, beruhen aber zum großen Teil auf den persönlichen Qualitäten des Vorstandsmitglieds. Da § 87 Abs. 1 Satz 1 AktG Versicherungsentgelte als relevant einstuft, sind auch die vom Unternehmen gezahlten Prämien einer D&O-Versicherung zu den Bezügen zu rechnen. Denn dadurch werden diese gegen eine Schmälerung in Haftungsfällen abgesichert. 22 Abfindungen, die bei einvernehmlicher vorzeitiger Beendigung des Anstellungsverhältnisses vereinbart werden, treten an die Stelle des vertraglichen Erfüllungsanspruchs 23 und zählen deshalb nicht zum Ruhegehalt sondern zu den Bezügen i.S.d. § 87 Abs. 1 Satz 1 AktG. Gleiches gilt für Anerkennungsprämien (appreciation awards), die nach erbrachter Leistung zusätzlich zu im Anstellungsvertrag vereinbarten Tantiemen und stock options gewährt werden. Der Sache nach handelt es sich dabei um eine nachträgliche Erhöhung der Vorstandsbezüge der Vergangenheit, 24 die nicht mit einer Abfindung im oben genannten Sinne verwechselt werden darf. Die Gesamthöhe der Vergütungen an den Vorstand steht in dem für die Angemessenheitsprüfung relevanten Zeitpunkt ihrer Vereinbarung dann nicht fest, wenn sie von zukünftigen Ereignissen, wie der Entwicklung des Unternehmenserfolgs oder des Börsenkurses abhängen. Solche Vergütungsbestandteile sind dann unter Verwendung sachlicher, realitätsnaher Kriterien zu schätzen. Vergangenheitswerte und Zukunftsaussichten des Unternehmens sind zu berücksichtigen; für die Bewertung von Optionen kann die finanzmathematische Barwertformel von Black-Scholes herangezogen werden. 25 In der Praxis überprüft der Aufsichtsrat die Höhe der Vergütung, vor allem ihrer variablen Teile, in bestimmten Zeitabständen. Gemäß § 87 Abs. 1 Satz 2 AktG unterliegen auch das Ruhegehalt und verwandte Leistungen, z. B. die Gestellung eines Büros oder Pkws nach Auslaufen der aktiven Tätigkeit bzw. der durch eine Abfindung abgegolteÄhnlich Semler FS Budde, S. 599, 601. Semler FS Budde, S. 607 f. unter Hinweis auf Ausnahmen. 22 Im Ergebnis ebenso MünchKommAktG-Hefermehl/Spindler (Fn. 16) § 87 Rn. 9; a.A. Schüller Vorstandsvergütung, 2002, S. 40. 23 Käpplinger NZG 2003, 573, 574. 24 Zutreffend MünchKommAktG-Hefermehl/Spindler (Fn. 16) § 87 Rn. 15. 25 Dazu Adams ZIP 2002, 1325, 1326 mwN. 20 21

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nen Vertragslaufzeit, der Angemessenheitsprüfung. Da diese Leistungen zum gleichen Zeitpunkt wie der Anstellungs- bzw. Verlängerungsvertrag beschlossen werden, sind sie in die Gesamtbeurteilung der Angemessenheit mit einzubeziehen. Nicht zu den Bezügen des § 87 Abs. 1 AktG zählen Zahlungen an das Vorstandsmitglied, die sich aus Kauf- oder Nutzungsverträgen mit der Gesellschaft ergeben; 26 sie sind kein Entgelt für derzeitige oder frühere Vorstandstätigkeit.

III. Rechtliche Grenzen der Vorstandsbezüge 1. Beschränkungen außerhalb des § 87 AktG Dass es neben § 87 AktG rechtliche Begrenzungen für die Höhe der Vorstandsbezüge gibt, war in der Literatur stets anerkannt. Das gilt selbstredend für die Anwendbarkeit des § 138 BGB ; Vereinbarungen über Bezüge, die dagegen verstoßen, sind nichtig. Die äußerste Grenze der Sittenwidrigkeit würde ein deutscher Jurist in den extremen aus den USA bekannten Fällen wohl überschritten sehen, bei deutschen Spitzenverdienern aber wohl kaum. Einen Fingerzeig könnte die Rechtsprechung des BGH zum auffälligen Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung geben. 27 Danach wird bei einer etwa 100-prozentigen Überschreitung eines von der Bundesbank ermittelten Durchschnittszinssatzes die Sittenwidrigkeit von Ratenkrediten angenommen, wobei stets eine Gesamtwürdigung aller Umstände hinzutreten muss. Auf Vorstandsbezüge lässt sich ein solcher Vergleichsmaßstab jedoch nicht übertragen; sie sind ungleich stärker als der für einen bestimmten Geschäftstyp geforderte Zinssatz von der jeweiligen Branche, der Größe des Unternehmens und seiner performance, der Qualifikation und Funktion des Vorstandsmitglieds, kurz von individuellen Umständen abhängig. Einsichtiger sind Grenzen, die aus dem Aktienrecht entwickelt werden. So hat der II . Zivilsenat des Bundesgerichtshofs bereits in den Fünfzigerjahren Beschränkungen für Vergütungszusagen aus § 84 Abs. 1 AktG (§ 75 Abs. 1 a.F.) entwickelt.28 Wenn dadurch die Entschließungsfreiheit des Aufsichtsrats, nach fünf Jahren ein neues Vorstandsmitglied zu bestellen, beeinträchtigt werde, seien solche Zusagen teilunwirksam (§ 139 BGB). Die Vereinbarung hoher Abfindungen oder Pensionszahlungen,29 die den Aufsichtsrat im UnKK zum AktG/Mertens (Fn. 19) § 87 Rn. 9. BGHZ 80, 153; BGH NJW 1982, 2433, NJW 1983, 1420, 2692. 28 BGHZ 8, 348, 359 f.; zust. KK zum AktG/Mertens (Fn. 19) § 84 Rn. 9; Semler FS Budde, S. 602; Fonk FS Semler, S. 139, 150. 26 27

29 Im konkreten Fall waren Pensionszahlungen in Höhe der Gesamtbezüge zugesagt worden.

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ternehmensinteresse mehr oder weniger zwingen, das Vorstandsmitglied wiederzubestellen, ist danach unzulässig. Damit ist eine weitere aktienrechtliche Grenze angesprochen, die bei unternehmerischen Leitungsentscheidungen zu beachten ist, nämlich die des Unternehmensinteresses. Darunter wird allgemein die Pflicht zur Einhaltung des Bestandes und der langfristigen Rentabilität des Unternehmens verstanden.30 Sie trifft in erster Linie den Vorstand als Leitungsorgan des Unternehmens. Doch ist auch der Aufsichtsrat daran gebunden, soweit ihm das Gesetz unternehmerische Aufgaben überträgt. Das ist nicht nur hinsichtlich der Bestellung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern und im Rahmen des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG der Fall,31 sondern gilt auch für mit der Bestellung verbundene Entscheidungen, wie die Festsetzung der Vorstandsbezüge.32 Die Lehre vom Unternehmensinteresse berührt sich insoweit in ihren Auswirkungen mit der US -amerikanischen Praxis vom Verbot eines „waste of corporate property“, danach muss die Vergütung der Mitglieder des board in einem vernünftigen Verhältnis zum Wert der für die Gesellschaft erbrachten Dienste stehen.33 Ein Blick auf die US -amerikanische Judikatur zeigt jedoch, dass die Gerichte zögern, waste of corporate property anzunehmen und nur bei gänzlichem Fehlen vernünftiger Gründe einschreiten.34 Da es sich beim Unternehmensinteresse um einen noch unbestimmteren Rechtsbegriff als der Angemessenheit der Vergütung handelt, dürfte es auch im deutschen Recht schwierig sein, daraus operationale inhaltliche Maßstäbe für die zulässige Höhe der Vorstandsbezüge abzuleiten.35 Eine ganze Reihe aktienrechtlicher Bestimmungen sind bei der Auflegung von Aktienoptionsprogrammen zu beachten. Dazu gehören zunächst formale Begrenzungen. Sollen die Optionsrechte zulässigerweise 36 aus vorgehaltenen Aktien der Gesellschaft bedient werden, ist die Zehn-ProzentGrenze des § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG einzuhalten; die gleiche Grenze gilt für eine bedingte Kapitalerhöhung zur Gewährung von stock options an die Geschäftsführung (§ 192 Abs. 3 AktG), um den dadurch zu Lasten der Altaktionäre eintretenden Verwässerungseffekt zu beschränken. 37 Wird der Weg über §§ 221, 192 Abs. 2 Nr. 1 AktG gewählt, ist der Spielraum für den Umfang des Optionsplans größer. Materielle Begrenzungen folgen aus der 30 Hüffer AktG (Fn. 14) § 76 Rn. 13; KK zum AktG/Mertens (Fn. 19) § 76 Rn. 17, 22 jeweils mwN.; OLG Hamm AG 1995, 512, 514; ansatzweise auch BVerfGE 50, 290, 374; BGHZ 64, 325, 329; kritisch Mülbert ZGR 1997, 129, 147 ff.; Schüller (Fn. 22) S. 133 ff., 138. 31 Dazu BGHZ 135, 244, 245 f. 32 Zutreffend Hüffer BB 2003, Beil. 7, S. 21; Peltzer FS Lutter, S. 571, 577. 33 S. Merkt US -amerikanisches Gesellschaftsrecht, 1991, Rn. 520; Clark (Fn. 5) S. 191 ff. 34 Vgl. Tegtmeiner Die Vergütung von Vorstandsmitgliedern in Aktiengesellschaften, 1998, S. 219 ff.; Clark (Fn. 5) S. 195. 35 Tendenziell optimistischer Hüffer BB 2003, Beil. 7, 21. 36 Hüffer AktG (Fn. 14) § 71 Rn. 19 f. 37 Die an Arbeitnehmer gewährten Bezugsrechte sind in die Berechnung einzubeziehen. Die hälftige Grenze ist kumulativ zu berücksichtigen.

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Mitwirkungsbefugnis der Hauptversammlung bei Durchführung von Optionsplänen gemäß § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG. Wenn danach auch über die Aufteilung der Bezugsrechte, Erfolgsziele, Erwerbs- und Ausübungszeiträume sowie Wartezeiten für die erstmalige Ausübung entschieden werden muss, macht nicht nur das Fehlen von Teilen des vorgegebenen Beschlussinhalts den Beschluss anfechtbar und gefährdet dadurch die dem Vorstand zugesagte variable Vergütung. Vielmehr lassen sich aus Abs. 2 Nr. 4 auch inhaltliche Vorgaben ableiten. Werden die Aktienoptionen nicht als Gratifikation für die Vergangenheit sondern, wie üblich, als Anreiz für den zukünftigen Einsatz des Vorstands gewährt, lassen sich unter „Erfolgszielen“ nur solche Umstände subsumieren, die zumindest potentiell auf Leistungen des Optionsinhabers zurückgeführt werden können. 38 An einer solchen potentiellen Kausalbeziehung fehlt es, wenn das Ziel nur zufällig erreicht wird, etwa wegen einer allgemeinen Aktienhausse oder eines konjunkturell bedingten Umsatzanstiegs. Absolute Kurshürden, die allein auf den gestiegenen Kurs abstellen, 39 oder Umsatzhürden, bei denen kein Bezug zur Erhöhung des Unternehmenswertes oder der Steigerung des Gewinns hergestellt wird, 40 sind deshalb nicht als taugliche Erfolgsziele i.S.d. § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG anzusehen. 2. Die Kriterien des § 87 Abs. 1 AktG Der Tatbestand des § 87 Abs. 1 AktG ist so aufgebaut, dass er auf der einen Seite die Angemessenheit als Bemessungskriterium für die Vorstandsvergütung enthält, auf der anderen Vergütungskriterien, oft auch als Vergleichsbasis, Vergleichsmaßstab oder Vergleichsgegenstand bezeichnet, nennt, zu denen die festzusetzende Vergütung ins Verhältnis zu setzen ist. a. Die Vergütungskriterien Als Vergütungskriterien enthält das Gesetz allein die Aufgaben des Vorstandsmitglieds und die Lage der Gesellschaft. Mit den „Aufgaben“ ist die Art der Aufgaben und ihre Bedeutung für die Gesellschaft, nicht die Leistung des Vorstandsmitglieds gemeint. Danach ist etwa in Gesellschaften des Handelssektors die Aufgabe des Verkaufsvorstands besonders bedeutsam und rechtfertigt eine vergleichsweise höhere feste und variable Vergütung, 38 Käpplinger (Fn. 4) S. 109, 156; a.A. die wohl h.M., wenn sie unter Erfolgsziel jedwede aufschiebende Bedingung versteht, s. Hirte RWS -Forum Gesellschaftsrecht, 1999, S. 211, 219; OLG Stuttgart ZIP 2001, 1376, 1370 f. – Daimler Chrysler; für restriktive Auslegung des § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG auch Schüller (Fn. 22) S. 199. 39 Dazu Käpplinger (Fn. 4) S. 112 f. 40 Dazu Käpplinger (Fn. 4) S. 118; kritisch zur bloßen Umsatzentwicklung als Erfolgsmaßstab auch Hüffer AktG (Fn. 14) § 86 Rn. 4; Kohler ZHR 161 (1999), S. 246, 258.

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bei Finanzdienstleistern, die ihren Schwerpunkt in bestimmten Formen des Bankgeschäfts sehen (z. B. dem Investmentbanking), eine entsprechende herausgehobene Vergütung des für diesen Schwerpunkt zuständigen Vorstandsmitglieds. Auch die Rolle des Vorstandsvorsitzenden der AG verdient bei der Vergütung berücksichtigt zu werden, wie dies auch ganz regelmäßig geschieht. Sowohl dem Merkmal „Aufgaben“ wie auch der kumulativ zu berücksichtigenden Lage der Gesellschaft sind die Aufgaben eines Vorstandsmitglieds zuzurechnen, der als Sanierer in das Unternehmen berufen wird. Sie können, wie allseits anerkannt wird, 41 einen Risikozuschlag in Form relativ hoher Bezüge rechtfertigen. Eine Besserstellung von Vorstandsmitgliedern, die, etwa in einer Familien- AG , zugleich Gesellschafter sind, verbietet sich dagegen. 42 „Lage der Gesellschaft“ bezieht sich auf die wirtschaftliche Gesamtlage der Gesellschaft. Ein Abstellen auf die Vermögenslage 43 wäre zu statisch; vielmehr können in Anlehnung an § 289 Abs. 2 HGB auch die bereits angelegte voraussichtliche Entwicklung im Unternehmen und vergleichbare Faktoren, die bereits im Zeitpunkt der Festsetzung der Gesellschaft ihren wirtschaftlichen Wert bestimmen, berücksichtigt werden. In konzernleitenden Aktiengesellschaften ist die Konzernlage einzubeziehen. Da damit auch zukünftige, nicht sicher eintretende Umstände relevant sind, ist bereits die Ebene der Vergütungskriterien mit einem Element behaftet, das sich auf die Bandbreite der schließlichen Entscheidung über die Angemessenheit der Gesamtbezüge auswirkt. Die gesetzlichen Vergütungskriterien werden in der Literatur überwiegend nicht als ausreichend und abschließend verstanden. Genannt werden die Qualifikation des Vorstandsmitglieds, sein Marktwert, 44 seine familiären Verhältnisse 45 und vor allem die in vergleichbaren Gesellschaften gezahlten Vorstandsbezüge. 46 Dabei beruft man sich zum Teil auf die Entscheidung BGHZ 111, 224, 228, die eine umfassende Würdigung aller Umstände verlangt. 47 Dieses Urteil des VI . Zivilsenats ist allerdings zum GmbH-Recht ergangen, das keine Vorschriften zu den Bezügen der Geschäftsführer kennt. Fehlt eine Vergütungsregelung im Anstellungsvertrag, gilt deshalb der Maßstab der üblichen Vergütung (§ 612 Abs. 2 BGB ). 48 Gleichwohl postuliert der BGH für den GmbH-Geschäftsführer 41 KK zum AktG/Mertens (Fn. 19) § 87 Rn. 6; Meyer-Landrut in: Großkommentar zum AktG, 4. Aufl., 1999, § 87 Rn. 7; Semler FS Budde, S. 602. 42 So für die GmbH BGHZ 111, 224, 227; für die AG Semler FS Budde, S. 602. 43 So Geßler JW 1937, 497, 499. 44 So KK zum AktG/Mertens (Fn. 19) § 87 Rn. 6. 45 MünchKommAktG-Hefermehl/Spindler (Fn. 16) § 87 Rn. 13. 46 KK zum AktG/Mertens (Fn. 19) § 87 Rn. 5: maßgebliche Vergleichsbasis; ebenso Fonk in: Semler (Hrsg.), Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 1999, I, 113. 47 Hüffer BB 2003, Beil. 7, 23; ähnlich BGH WM 1976, 1226, 1228; BGH NJW 1992, 2894, 2896. 48 Baumbach/Hueck-Zöllner GmbHG , 17. Aufl., 2000, § 35 Rn. 34 mwN.

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das Gebot der Angemessenheit der Vergütung. 49 Im zu entscheidenden Fall eines Gesellschafter-Geschäftsführers ließ sich dies mit seiner Treuepflicht gegenüber den anderen Gesellschaftern begründen. 50 Und nur auf eine solche Konstellation bezieht sich auch die Aussage des BGH . Die schlichte Übertragung der Rechtsprechung des BGH , der zu den zu berücksichtigenden Umständen auch das Alter und die Ausbildung des Geschäftsführers rechnet, scheidet deshalb aus. Gleichwohl lassen sich in vorsichtiger Form und unter Berücksichtigung des § 87 Abs. 1 AktG einzelne Gesichtspunkte der Rechtsprechung zur GmbH auch für die Auslegung der Vergütungskriterien des Aktienrechts verwenden. Dies gilt zunächst für den sich auf Qualifikation und Erfahrung gründenden Marktwert des Vorstandsmitglieds, wenn dieser in Relation zur Art der ihm übertragenen Aufgabe steht. Denn regelmäßig werden Qualifikation und Aufgabe korrelieren. Bedenklich erscheint dagegen die verbreitete Ausrichtung am Vergütungsniveau auf dem gleichen Markt (z. B. Investitionsgüterindustrie, Finanzwesen). Schon der BGH hat in der zitierten Entscheidung zum GmbH-Recht die Ausrichtung an der Spannbreite vergleichbarer Geschäftsführergehälter für unzureichend gehalten. 51 Tatsächlich fehlt es häufig an einer für einen solchen Außenvergleich erforderlichen Markttransparenz, 52 zumal bisher nur wenige Gesellschaften die Forderung des Deutschen Corporate Governance Kodex nach Offenlegung der individuellen Vorstandsbezüge erfüllen. 53 Zudem tendiert eine Ausrichtung nach dem üblichen Vergütungsrahmen zu einem Hochschaukeln der Bezüge im Einzelfall, weil die Amtsbewerber sich an bekannt gewordenen Höchstbezügen orientieren werden. In der Praxis ist dies in der Form von Hinweisen auf die ausländischen Vergütungen in Großunternehmen, die weit höher als in Deutschland liegen (s. o. S. 382), zu beobachten. Sicherlich dürfen in international tätigen Konzernen mit inländischem Sitz des konzernleitenden Unternehmens die international üblichen Vergütungsgepflogenheiten berücksichtigt werden. 54 Das darf jedoch nicht pauschal geschehen. 55 Wie Baums zutreffend formuliert hat, 56 können die Vergütungsgewohnheiten auf einem ausländischen Markt nur dann herangezogen werden, „wenn das betreffende Vorstandsmitglied auf dem jeweiligen ausländischen Markt für Führungskräfte auch tatsächlich gleichwertige berufliche Alternativen hätte, so dass die Gefahr eines Abwanderns bestünde, wenn es bei einer inländischen Gesellschaft nicht der Art und Höhe nach 49

BGHZ 111, 224, 227.

50

So denn auch Baumbach/Hueck-Zöllner GmbHG (Fn. 48) § 35 Rn. 100.

51

BGHZ 111, 224, 228.

52

Schüller (Fn. 22) S. 118. FAZ vom 26. 2. 2004, S. 18. Horn FS Lutter, S. 1113, 1130; Kallmeyer AG 1999, 97, 101. Hüffer ZHR 161 (1997), 214, 234 f.; Thüsing ZGR 2003, 457, 465. Gutachten (Fn. 12) S. 16.

53 54 55 56

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vergleichbare Bezüge erhielte wie für vergleichbare Aufgaben bei einer vergleichbaren ausländischen Gesellschaft“. Und schließlich spricht gegen die Nutzung des branchenüblichen Niveaus als Vergleichsbasis, dass die Verhältnisse jeder Gesellschaft unterschiedlich sind, § 87 Abs. 1 AktG aber auf die Lage des jeweiligen Unternehmens und die Art der Aufgaben in diesem Unternehmen abstellt. Liegen die Bezüge innerhalb der nachweislichen Spannbreite am relevanten Markt, ist dies jedoch als Indiz für eine gerechtfertigte Angemessenheitsentscheidung (s. u. III . 2. b) zu werten. Empirische Untersuchungen haben ergeben, dass die Unternehmensgröße, gemessen an der Zahl der Beschäftigten, im verarbeitenden Gewerbe eine herausragende Bedeutung (im Gegensatz zur Umsatzrendite) für die Höhe der Vergütung besitzt. 57 Zwar lässt sich eine Verbindung der Größe des Unternehmens zu den Anforderungen an die Unternehmensführung und damit an die Aufgaben des Vorstands i.S.d. § 87 Abs. 1 AktG herstellen. Die Lage des Unternehmens wird aber sicherlich stärker durch seine Rentabilität bestimmt. Eine vornehmlich an der Beschäftigtenzahl orientierte Vergütungsbasis, die nicht zumindest gleichgewichtig die Wirtschaftskraft (corporate performance) des Unternehmens berücksichtigt, steht deshalb mit den Kriterien des § 87 Abs. 1 AktG nicht in Einklang. Besondere Fragen ergeben sich bei der Ermittlung der Vergütungskriterien für die immer bedeutender werdenden variablen Bestandteile der Bezüge. Nachdem § 86 AktG aufgehoben wurde, fehlt es an gesetzlichen Hinweisen. An die Stelle des früher regelmäßig, wenn auch nicht zwingend58 benutzten Jahresgewinns als Grundlage der Tantieme sind heute andere Ergebnisgrößen wie das EBITDA getreten. Die Anknüpfung daran ist zweifellos zulässig. Auf der Ebene der Vergütungsbasis nicht zu lösen sind auch die von Peltzer 59 beklagten Fälle, in denen der Jahresüberschuss zu wesentlichen Teilen durch Auflösung stiller Reserven anlässlich von Vermögensverkäufen erwirtschaftet wird und zu unerwartet hohen Tantiemen des Vorstands führt. Steht die Entwicklung der laufenden Geschäfte in krassem Widerspruch oder sind sie gar verlustreich, wäre die Festsetzung von Tantiemen, die dies nicht berücksichtigt, jedoch unangemessen, weil dem Unternehmensinteresse zuwiderlaufend.

57 Schwalbach/Großkopf ZfB 1997, 203, 211. Untersucht wurden die Bezüge von Vorstandmitgliedern und Geschäftsführern in den Jahren 1988–1992 (aaO. S. 207); vgl. ferner Conyon/Schwalbach LRP 2000, 505, 516 = ZfB 2000, 97 ff., wo die sehr niedrige Korrelation der Vergütung zur corporate performance in Deutschland und Großbritannien festgestellt wird. 58 Zu anderen Anknüpfungspunkten Hüffer AktG (Fn. 14) § 86 Rn. 2. 59 FS Lutter S. 571 ff.; so bereits unter Geltung des § 86 AktG, s. KK zum AktG/Mertens (Fn. 19) § 86 Rn. 16 mwN.

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Fragwürdig ist auch die Gewährung von Vergütungen, die an die Steigerung des Börsenkurses anknüpfen. Sie erlangen praktische Bedeutung in Aktienoptionsprogrammen und als Anerkennungsprämien für in der Vergangenheit erreichte Kurserhöhungen. Gegen eine Vermischung von Aktionärsinteressen, die von höheren Kursen profitieren, und einem Nutzen für das Unternehmen haben sich jüngst Lutter und Zöllner gewandt.60 Da, so darf man den kurzen Beitrag verstehen, der Unternehmenswert sich durch Kurssteigerungen nicht erhöht, sind Zahlungen an Vorstände, die darauf beruhen, nicht zu rechtfertigen. Dem kann jedoch in dieser Allgemeinheit nicht gefolgt werden. Kurssteigerungen der Aktien eines Unternehmens verbessern insbesondere dann, wenn sie den Branchendurchschnitt übersteigen, signifikant die Finanzierungsbedingungen der AG . Sie erleichtern zudem die Akquisition anderer Gesellschaften, soweit sie im Wege des Aktientauschs abgegolten werden; auch die Abfindung außenstehender Aktionäre wird dadurch „billiger“. Deshalb werden zu Recht Aktienoptionsprogramme mit relativen Kurshürden als zulässige Erfolgsziele angesehen.61 Die Kritik an der Verwendung von Kurssteigerungen als Vergütungskriterium mag ihren Grund auch darin haben, dass Vorstände als Treuhänder der Aktionäre verstanden werden,62 die sich nicht an deren Vermögenswerten bereichern sollen. Die Vorstellung eines solchen treuhänderischen Rechtsverhältnisses verschiebt jedoch die Bindung des Vorstands an das Unternehmensinteresse (s. o. III . 1.) zu sehr in Richtung auf eine Gruppe der Unternehmensbeteiligten. Der Vorstand steht zu den Aktionären nicht in einem auftragsähnlichen Verhältnis.63 Dies bedeutet nicht, dass Kurssteigerungen stets als ein zulässiger Anknüpfungspunkt für variable und nachträgliche Vergütungen anzusehen sind. Verneint wurde bereits die Zulässigkeit absoluter Kurshürden in Optionsprogrammen mit Anreizwirkung (s. o. III . 1.). Auch Kurssteigerungen, die im Verlaufe eines Übernahmeprozesses eintreten, müssen als Basis für Anerkennungsprämien ausscheiden. Denn sie finden ihren Grund regelmäßig in den unternehmerischen Zielen des Bieters und weniger in der normalen Marktbewertung. b. Die Angemessenheit als Bemessungskriterium Die Entscheidung des Aufsichtsrats über die Vorstandsbezüge wird nicht selten als „Ermessensentscheidung“ bezeichnet. 64 Das ist zumindest missverständlich. Dem Aufsichtsrat steht zunächst kein Ermessen i.S.d. verwalFAZ vom 10. 2. 2004, S. 12. Baums FS Claussen, S. 3, 12 f.; Feddersen/Pohl AG 2001, 26, 30; Käpplinger (Fn. 4) S. 113 mwN. 62 Lutter ZIP 2003, 737, 739. 63 Vgl. BGH NJW 1976, 1462, 1463; LG Detmold AG 1959, 140; Hüffer AktG (Fn. 14) § 76 Rn. 10; ders. ZIP 1996, 401, 404. 64 Schüller (Fn. 22) S. 105; Baums Gutachten vom 24. 10. 2001, S. 17. 60 61

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tungsrechtlichen Terminologie zu. 65 § 87 Abs. 1 AktG enthält vielmehr eine Rechtsregel ohne Rechtsfolge; er beschreibt in seinem gesamten Inhalt einen gesetzlichen Tatbestand. Verwaltungsrechtlich gesprochen stellt das Wort „angemessen“ einen unbestimmten Rechtsbegriff dar. Zum zweiten ist zwischen der Angemessenheit als inhaltlichem Entscheidungsmaßstab und der Überprüfbarkeit der Entscheidung durch die Gerichte zu unterscheiden. 66 Ob das Gericht, ähnlich wie bei geschäftsleitenden Entscheidungen des Vorstands, 67 die Festsetzung der Bezüge durch den Aufsichtsrat in gewissen Grenzen hinzunehmen hat (sog. business judgement rule), spielt für das materielle Recht keine Rolle. Für die auf einer ersten Stufe vorzunehmende inhaltliche Bestimmung der Angemessenheit führt eine Anlehnung an die verwaltungsrechtliche Doktrin vom unbestimmten Rechtsbegriff nicht weiter. Bekanntlich wurde früher der Verwaltung ein prozessual verstandener Beurteilungsspielraum bei Anwendung solcher Rechtsbegriffe zugestanden, 68 der von der Rechtsprechung immer weiter reduziert und auf wenige Ausnahmefälle beschränkt wurde. 69 Die infrage stehende Entscheidung des Aufsichtsrats, die nur an nicht stets eindeutig zu bestimmende Basiskriterien gebunden ist, muss jedoch stets in einem gewissen Rahmen als gesetzeskonform angesehen werden. Zu den Bezügen eines GmbH-Geschäftsführers hat deshalb der BGH zu Recht judiziert, den Gesellschaftern bleibe ein Ermessensspielraum, innerhalb dessen ein bestimmter Vergütungsbetrag nicht deswegen als unangemessen bezeichnet werden kann, weil eine andere Bemessung sich ebenso gut oder besser vertreten ließe. 70 Andere sprechen von einer Bandbreite angemessener Bezüge. 71 Dass aus § 87 Abs. 1 AktG nur eine obere Grenze der Vorstandsbezüge zu entnehmen sei, 72 entspricht dem freilich nicht. Da Sanktionen, insbesondere die Schadensersatzhaftung des Aufsichtsrats (§§ 116, 93 AktG) aber stets nur greifen, wenn die Vorstandsbezüge zu hoch bemessen wurden, liegt es nahe, nach einer festen Höchstgrenze für Vorstandsbezüge zu suchen. Ein viel zitiertes Beispiel enthält § 94 des Statuts der Carl-Zeiss-Stiftung. Dort heißt es: „Das höchste Jahreseinkommen, welches einem Angestellten, die Mitglieder der Geschäftsleitung eingeschlossen, … gewährt wird, darf … nicht hinausgehen über das Zehnfache vom durchschnittlichen jährlichen Arbeitseinkommen der sämtlichen … Arbeiter aller Stiftungsbetriebe …“ Es wäre interessant zu erfah65 66 67 68 69 70 71 72

Vgl. dazu nur Maurer Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl., 2000, § 7 Rn. 7 ff., 19 ff. Zutreffend Baums (Fn. 64) S. 18. Dazu BGHZ 135, 244, 253. Grundlegend Bachof JZ 1955, 97 ff. Zu dieser Entwicklung Maurer (Fn. 65) § 7 Rn. 35 ff. BGHZ 111, 224, 227. So Peltzer FS Lutter, S. 571, 577. KK zum AktG/Mertens (Fn. 19) § 87 Rn. 3.

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ren, wie es die Stiftungsverwaltung, das Land Baden-Württemberg mit dieser wohl bis heute geltenden Bestimmung, die aber sicherlich nicht beachtet wird, gehalten hat und hält. Ein anderer Vorschlag geht dahin, das 150-fache eines durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommens, das ist für das Jahr 2001 4,785 Mio e pro Jahr, als Vergütungsobergrenze festzulegen. 73 Lutter meint, auch der mit fremdem Geld arbeitende Tüchtige sei gut bezahlt, wenn er insgesamt das Fünffache verdiene wie der Bundeskanzler. 74 Das liegt deutlich unter der zuvor genannten Ziffer. Die Fixierung einer absoluten Obergrenze, bei deren Überschreiten Bezüge nicht mehr angemessen sind, ist jedoch zu grob, um ernsthaft in Erwägung gezogen zu werden. Wird sie zu hoch angesetzt, bewirkt sie in der Vielzahl der Fälle, in denen die Vorstandsbezüge tatsächlich niedriger liegen, nichts, sondern hat gegenteilige Effekte. Eine zu niedrige Grenze demotiviert und wird dem auch in Deutschland zunehmenden Erfolgs- und Abberufungsrisiko nicht gerecht. Weiterführend wäre es, wenn die Aufwendungen für die Arbeitnehmer und der Anstieg ihrer Gehälter mit der Entwicklung der Vorstandsvergütungen in Beziehung gesetzt und als Angemessenheitsmaßstab mit verwertet würden. 75 Den Zugang dazu bietet § 77 Abs. 3 Satz 1 AktG 1937, dessen Grundgedanke weiterhin verwendbar ist. 76 Lassen sich verwendbare allgemeine Regeln für die konkrete Bemessung von Vorstandsbezügen nicht finden,77 so bleibt nur die Bewertung der die Entscheidung des Aufsichtsrats tragenden Gründe im Lichte des Angemessenheitsgebots. Die Rechtswissenschaft hat sich damit bisher nur in Ansätzen befasst und es wird überhaupt schwierig sein, ein Raster aufzustellen, das aufgrund bestimmter Umstände angemessene von übermäßigen Vergütungen scheidet. Zumeist wird es nur darum gehen können, Indizien aufzustellen, die für oder gegen die Angemessenheit sprechen. Dabei kann auf Gesichtspunkte zurückgegriffen werden, die aus anderen Gründen als denen des § 87 Abs. 1 AktG die Vorstandsbezüge begrenzen (s. o. III . 1.), sowie in weitem Umfang auf die Bemerkungen zu den Vergütungskriterien des § 87 AktG (s. o. III . 2. a). Wenn die Entschließungsfreiheit des Aufsichtsrats bei der Vorstandsbestellung zu wahren ist, wird man Entsprechendes auch für die Festlegung der Vergütung als unternehmerische Entscheidung annehmen

73 74

Adams ZIP 2002, 1325, 1343 f. ZIP 2003, 737, 739.

75

Zurückhaltend Thüsing (Fn. 55) S. 472 f.

76

KK zum AktG/Mertens (Fn. 19) § 86 Rn. 1. Gemäß § 77 Abs. 3 Satz 1 AktG a.F. sollten

die Tantiemen im angemessenen Verhältnis zu den Aufwendungen für Arbeitnehmer und dem Allgemeinwohl stehen. 77 Nicht praktikabel etwa die Umschreibung von Schüller (Fn. 22) S. 153, angemessen sei eine Vergütung, die dem erwarteten Wert des Vorstandsmitglieds für die Gesellschaft entspreche.

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können. Jedwede Pression oder auch nur Einflussnahme auf den Aufsichtsrat, die über die des Verhandlungspartners hinausgehen, legen deshalb die Frage nach der Angemessenheit der Bezüge nahe. Wer absolute Kurshürden und Umsatzhürden ohne Bezug zum Unternehmenswert in Aktienoptionsprogrammen nicht für schlechthin unzulässig hält, 78 wird jedenfalls dann, wenn die Programme anreizorientiert sind, an ihrer Unangemessenheit kaum zweifeln können. Gleiches gilt bei Fehlen eines Cap, der Optionsgewinne deckelt und zwar gleichgültig, ob es sich um reale oder virtuelle Optionen handelt. 79 Für Unangemessenheit spricht auch die Übertragung der Befugnis für ein „repricing“ des Basispreises von Optionen an die Verwaltung im Beschluss gemäß § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG und die daraufhin erfolgende Herabsetzung dieses Preises, wenn die Optionen wegen Kursrückganges ihren Wert verloren haben. Denn die Entscheidung über ein repricing ist Sache der Hauptversammlung, weil sie das Erfolgsziel des Optionsprogramms wesentlich verändert. Bei der Festsetzung von Tantiemen stellt sich die Frage der Angemessenheit dann verstärkt, wenn sie nach Kennziffern wie z. B. dem Umsatz bemessen werden, die mit der Rentabilität des Unternehmens nichts zu tun haben. 80 Gleiches gilt, wenn Tantiemen trotz negativer Unternehmensentwicklung nicht gekürzt oder gar erhöht werden. Werden variable Gehaltsbestandteile mit Zielen und Vorgaben verknüpft, die andere strategische Absichten als die der Förderung des Unternehmensinteresses verfolgen, kann dies Unangemessenheit begründen. In der Praxis sind Modelle für leistungs- und erfolgsabhängige Tantieme-Systeme entwickelt worden. 81 Sie können als Anhaltspunkt für eine angemessene Gestaltung dienen, eine ganz divergierende Ausgestaltung im konkreten Fall zu Zweifeln Anlass geben. Festgehälter, die ersichtlich durch Faktoren bestimmt werden, die als Vergütungsbasis nicht oder nur eingeschränkt berücksichtigt werden dürfen (Arbeitnehmerzahl, vergleichbare Gehälter, Umsatz, Beteiligung am Unternehmen etc., s. o. III . 2. a), legen eine Prüfung auf ihre Angemessenheit nahe. Da aktienrechtlich die Gesamtbezüge des Vorstands Gegenstand der Angemessenheitsprüfung sind, können Defizite bei einem Vergütungsteil im Rahmen einer Gesamtbetrachtung ausgeglichen werden. Führt die materielle Prüfung nicht allzu weit, helfen oft prozedurale Gesichtspunkte. Die Entscheidung über die Vergütung trifft regelmäßig und zulässigerweise der Personal- oder der Präsidialausschuss des Aufsichtsrats. So aber Verf. unter III . 1. a.E. Zurückhaltender noch Deutscher Corporate Governance Kodex 4.2.3; wie hier Käpplinger (Fn. 4) S. 151 f. 80 Zur Frage der Zulässigkeit der Umsatztantieme Henze HRR zum Aktienrecht, 3. Aufl., 1997, Rn. 337 f.; Hüffer AktG (Fn. 14) § 86 Rn. 3; Schüller (Fn. 22) S. 110. 81 So etwa Semler FS Budde, S. 600, 610. 78 79

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Dessen Beschlüsse sind gemäß § 107 Abs. 2 AktG analog zu protokollieren. 82 In der Niederschrift ist auch der Beratungsablauf in seinem wesentlichen Inhalt anzugeben. Darunter sind vor allem die Umstände zu verstehen, die zum Verständnis des Beschlussinhalts beitragen. 83 Enthält das Protokoll nur den „nackten“ Beschluss über die Höhe der Vorstandsvergütung und deren Bestandteile, sind die Gründe, aus denen besonders hohe, in ihrer Angemessenheit fragwürdige Bezüge gewährt wurden, nur schwer nachzuvollziehen. Ihre Überprüfung in einem gerichtlichen Verfahren begegnet Beweisschwierigkeiten. In solchen Fällen gibt deshalb die fehlende Begründung Anlass zu Zweifeln an der Angemessenheit der Bezüge, ohne dass daraus bereits eine tatsächliche Vermutung abgeleitet werden könnte. Gleiches gilt, wenn die Entscheidung des Ausschusses unter erheblichem Zeitdruck getroffen wurde, so dass eine sachlich gebotene Beratung nicht möglich war. 84 Die Gerichte werden solche Verfahrensdefizite zum Anlass nehmen, genauer hinzuschauen. c. Die Überprüfbarkeit der Vergütungsentscheidung In der Literatur wird unter Bezugnahme auf das ARAG /GarmenbeckUrteil des BGH 85 zum Teil die Auffassung vertreten, die Entscheidung des Aufsichtsrats über die Angemessenheit der Vergütung unterliege im gerichtlichen Verfahren einer weiteren Begrenzung ihrer Nachprüfbarkeit. 86 Der Aufsichtsrat nehme insoweit unternehmerische Aufgaben wahr, so dass ihm ein unternehmerischer Ermessensspielraum zustehe, der nur bei ganz unverantwortlichem Handeln zur Pflichtwidrigkeit führe (business judgement rule). Wäre dies zutreffend, würde die Entscheidung über die Vorstandsvergütung doppelt abgesichert, zum einen im Rahmen der durch § 87 Abs. 1 AktG eröffneten Bandbreite und zum zweiten zusätzlich durch die business judgement rule. Eine Feststellung der Unangemessenheit von Vorstandsbezügen wäre damit in weite Ferne gerückt, ja nahezu ausgeschlossen. Nun hat der BGH in der zitierten Entscheidung zwar ausdrücklich nur die Bestellung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern erwähnt, doch wird man auch die mit diesen Vorgängen verbundene, wenn auch rechtlich dem Anstellungsvertrag zugehörende Festsetzung der Vorstandsbezüge zu 82

KK zum AktG/Mertens (Fn. 19) § 107 Rn. 121.

Hüffer AktG (Fn. 14) § 107 Rn. 5. Vgl. Fleischer FS Wiedemann, S. 827, 840 f.; Paefgen Unternehmerische Entscheidungen und Rechtsbindung der Organe in der AG , 2002, S. 223, 228 ff. 85 BGHZ 135, 244, 254. 86 Baums Rechtsgutachten vom 24. 10. 2001, S. 18 f.; Kramarsch Aktienbasierte Managementvergütung, 2000, S. 56 Fn. 76; Weiß Aktienoptionspläne für Führungskräfte, 1999, S. 142. 83 84

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den unternehmerischen Entscheidungen des Aufsichtsrats zu rechnen haben (s. o. III . 1.). Gegen eine Anwendung der business judgement rule sprechen gleichwohl entscheidende Argumente. Bei der Festlegung der Bezüge verfügt der Aufsichtsrat bereits aus materiellrechtlichen Gründen über einen Ermessensspielraum, der unterschiedliche Entscheidungen rechtfertigt. Für einen zusätzlichen Spielraum im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung besteht deshalb keine Notwendigkeit. Er würde im Ergebnis die objektiven Anforderungen, die das Gesetz vorsieht, in einem Umfang relativieren, der dem Zweck des § 87 Abs. 1 AktG, Auswüchse zu verhindern, zuwiderläuft. Zudem stellt die Bestellung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern eine für das Unternehmen entscheidende Führungsaufgabe dar; für die Ausgestaltung der Anstellungsbedingungen im Einzelnen lässt sich das nicht in gleicher Weise behaupten. d. Abfindungsvereinbarungen Werden im Zuge von Fusionen oder Übernahmen die Vorstandsfunktion und der Anstellungsvertrag beendet, geschieht dies regelmäßig ohne wichtigen Grund, wie ihn das Gesetz aber voraussetzt (§ 84 Abs. 3 Satz 1 AktG, § 626 Abs. 1 BGB ). Der Einkommensverlust des Vorstands wird dann durch eine Abfindungsvereinbarung ausgeglichen, die sich primär an den für die Restlaufzeit des Vertrages zugesagten Bezügen orientiert. Nur diese Restlaufzeit ist zu berücksichtigen. Da die Initiative zur Lösung von dem jeweiligen Vorstandsmitglied vom Unternehmen ausgeht, es als Dienstberechtigter an der Erbringung der Leistungen des Vorstands mithin kein Interesse mehr hat, greift § 615 Satz 2 BGB nicht ein. 87 Das ausgeschiedene Vorstandsmitglied braucht sich deshalb Ersparnisse durch anderweitige Tätigkeiten nicht anrechnen zu lassen. Da Abfindungen in einer Summe ausgezahlt zu werden pflegen, muss allerdings eine Abzinsung vorgenommen werden. 88 Um Streit über die Berechtigung der Beendigung der Vorstandsfunktion und des Anstellungsvertrages zu vermeiden, kann eine höhere Abfindung als sie den vertraglich vorgesehenen und zu erwartenden Bezügen entsprechen würde, vereinbart werden. 89 Ist eine gerichtliche Auseinandersetzung nicht zu erwarten, besteht allerdings – auch bei Fehlen eines wichtigen Grundes – kein Anlass, über das vertraglich Geschuldete hinauszugehen. Die vorzeitige Beendigung der Vorstandstätigkeit führt nicht selten, selbst wenn sie von der Person des Vorstands unabhängig ist und mit grundlegenden Veränderungen des Unternehmens zusammenhängt, zu Nachteilen für das Fortkommen des Vorstands. Sie können bei der Abfindungshöhe be87 88 89

Soergel/Kraft, BGB , Band 4/1, 12. Aufl., 1997, § 615 Rn. 6. Fonk (Fn. 46); Käpplinger NZG 2003, 573, 574. KK zum AktG/Mertens (Fn. 19) § 84 Rn. 91; Zöllner FS Koppensteiner, S. 291, 304.

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rücksichtigt werden. 90 Dagegen lassen sich andere Umstände, die die Entschädigung des Arbeitnehmers für den Verlust seines sozialen Besitzstandes prägen (Dauer der Betriebszugehörigkeit, Alter, familiäre Verhältnisse etc.), 91 nicht auf die Vorstandsabfindung übertragen. Denn anders als beim arbeitsrechtlichen Auflösungsvergleich, der eine Abfindung nach sich zieht, tritt die dem Vorstand gewährte Abfindung an die Stelle vertraglicher Ansprüche für einen gesetzlich fixierten (§ 84 Abs. 1 Satz 1 AktG) zukunftsbezogenen Zeitraum. Das schließt es aus, Verdienste des ausscheidenden Vorstands für das Unternehmen in die Abfindung einfließen zu lassen. 92 Sie können in Form einer Sonderzuwendung zulässig und angemessen sein, wenn die Vergütung des Vorstands in der Vergangenheit unangemessen niedrig war (s. u. III . 2. e). Als Bestandteil einer Abfindung gänzlich auszuschließen sind „golden parachutes“ oder vergleichbare Zahlungen, wie sie in Fällen einer feindlichen Übernahme in den USA wegen Verlustes des Vorstandspostens zuweilen gewährt werden. 93 Denn das Risiko einer grundlegenden Veränderung der Struktur der Gesellschaft ist in Vorstandsgehälter eingepreist und die Chance der Wiederbestellung rebus sic stantibus verdient keinen geldwerten Ausgleich. e. Nachträgliche Erhöhung der Bezüge Eine nachträgliche Erhöhung von Bezügen ist dem deutschen Recht nicht fremd. Im Arbeitsrecht zählen dazu Sonderzuwendungen und Gratifikationen, die in Anerkennung für geleistete Dienste gewährt werden. 94 In der Aktiengesellschaft dürfen deren Organe weder sich selbst noch einem anderen Organ Zuwendungen aus dem Gesellschaftsvermögen zukommen lassen, soweit sich nicht aus Gesetz oder Vertrag ein anderes ergibt. 95 Eine nachträgliche Erhöhung der Bezüge des Vorstands in Form von Anerkennungsprämien oder appreciation awards setzt mithin eine Vertragsänderung voraus. Dazu darf sich der Aufsichtsrat nur bereit finden, wenn eine solche Prämie unter Einbeziehung der sonstigen Bezüge angemessen ist (§ 87 Abs. 1 AktG). Zu prüfen ist zunächst die Höhe und die Struktur der Bezüge der Vergangenheit. Erscheinen sie auch unter Berücksichtigung einer Verbesserung der Lage des Unternehmens während der Zeit der Vorstandstätigkeit und der vom Vorstandsmitglied wahrzunehmenden Aufgaben angemessen, ist kein Raum für eine nachträgliche Erhöhung der Bezüge. Besondere Zurückhaltung ist geboten, wenn im zeitlichen Zusammenhang 90 91 92 93 94 95

KK zum AktG/Mertens (Fn. 19) § 84 Rn. 91. Überblick bei Schaub Arbeitsrechtshandbuch, 9. Aufl., 2000, § 141 Rn. 27. A.A. Zöllner FS Koppensteiner, S. 304. A.A. Zöllner FS Koppensteiner, S. 304; wie hier Schüller (Fn. 22) S. 143. Schaub (Fn. 91) § 78 Rn. 1 ff. Hüffer BB 2003, Beil. 7, S. 18 mwN.; zu weitgehend Fonk (Fn. 46) Rn. I 120.

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mit einem zu erwartenden Ausscheiden des Vorstandsmitglieds Anerkennungsprämien vereinbart werden. Denn nachträgliche Vergütungen sollen, ebenso wie Gratifikationen, regelmäßig auch Anreizwirkung ausüben; 96 diese entfällt, wenn zugleich die Vorstandsfunktion endet. Unter Beachtung all dessen sind Anerkennungsprämien nur zulässig, wenn sie auf die Vergütungskriterien des § 87 Abs. 1 AktG bezogen sind (s. o. III . 2. a, b). Damit scheiden Zahlungen aus, die wegen der Bereitschaft, eine Übernahme trotz anfänglichen Widerstrebens rasch durchzuführen, erfolgen oder die mit einer vom Bieterunternehmen verursachten außergewöhnlichen Kurssteigerung begründet werden. Sie sind unzulässig und unangemessen. Dagegen können im Branchenvergleich überproportionale Kurssteigerungen während der Zeit der früheren Vorstandstätigkeit Grundlage nachträglicher finanzieller Anerkennung sein, weil sie auch dem Unternehmen nutzen (s. o.). Maßgeblich für die Bewertung der Aufsichtsratsentscheidung ist der Beschlusszeitpunkt, eine spätere Änderung der Kapitalmarktverhältnisse damit nicht relevant, auch wenn sie die frühere Entscheidung fragwürdig erscheinen lassen. Diese knappen Bemerkungen sind nicht als Stellungnahme zum Fall Mannesmann/Vodafone zu verstehen, in dem derzeit weder der genaue Ablauf noch die Beweggründe für die gezahlten Anerkennungsprämien hinreichend geklärt sind. Sie können und sollen aber nicht die Skepsis des Verfassers gegenüber der Angemessenheit besonderer nachträglicher Anerkennungsprämien verdecken, die trotz hoher fester und variabler ordentlicher Bezüge und einer großzügig bemessenen Abfindung in einer mehreren Jahresbezügen entsprechenden Höhe gezahlt werden.

IV. Sanktionen Die Effizienz organschaftlicher Entscheidungsmaximen steht und fällt mit ihrer Durchsetzbarkeit. Dabei spielen nicht nur die zur Verfügung stehenden Anspruchsgrundlagen eine Rolle sondern auch – und dies steht hier im Vordergrund – die Bereitschaft und Fähigkeit, davon auch tatsächlich Gebrauch zu machen. Was die Rechtsfolgen und daran anknüpfende Ansprüche angeht, besteht Einigkeit. Sind die festgesetzten Bezüge so unangemessen hoch, dass sie die Grenze zur Sittenwidrigkeit überschreiten oder die Entschließungsfreiheit des Aufsichtsrats für die Zukunft beeinträchtigen (s. o. III . 1.), ist die Vergütungsvereinbarung unwirksam, allerdings nur bis zur Grenze angemessener Bezüge. 97 Dem Unternehmen steht ein entsprechender Rückforderungsanspruch aus § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB zu. EntspreMünchKommAktG-Hefermehl/Spindler (Fn. 16) § 87 Rn. 15. RG DR 1944, 488, 489; vgl. ferner BGHZ 8, 348, 361; KK zum AktG/Mertens (Fn. 19) § 87 Rn. 3. 96 97

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chen die Bezüge nicht dem Angemessenheitspostulat des § 87 Abs. 1 AktG, bleibt zwar die Vergütungsvereinbarung wirksam, doch steht der Gesellschaft bei schuldhaftem Verhalten des Aufsichtsrats ein Schadensersatzanspruch gemäß §§ 116, 93 Abs. 2 AktG zu. 98 Unstreitig ist in solchen Fällen auch der begünstigte Vorstand schadensersatzpflichtig, wenn er durch unrichtige oder unvollständige Informationen die angemessene Entscheidung des Aufsichtsrats beeinflusst oder in den oft harten Verhandlungen99 nur eigene Interessen vertritt und dabei das Wohl des Unternehmens schuldhaft hintanstellt.100 Auf einen weiteren Ansatz, der die vertragliche Bindung hinfällig macht, hat jüngst Peltzer 101 hingewiesen. Überschreitet der Aufsichtsrat durch Festlegung einer unangemessenen Vergütung schuldhaft seine gesetzliche Vertretungsmacht (§ 112 AktG),102 dann kann ein Vorstand, der dies als „reasonable man“ erkennen würde,103 sich nicht auf die vereinbarten Bezüge berufen. Sie sind bis zur Grenze der Angemessenheit zu reduzieren, gegebenenfalls der Gesellschaft zurückzuerstatten. Ansprüche der Gesellschaft gegen den Aufsichtsrat sind vom Vorstand, Ansprüche gegen den Vorstand vom Aufsichtsrat geltend zu machen. Beide Organe werden nach aller Erfahrung jedoch kaum bereit sein, gegeneinander vorzugehen.104 Denn soweit ein Vorgehen gegen den Aufsichtsrat infrage steht, würde der Vorstand gegen eigene Interessen handeln; soweit eine Klage gegen Vorstandsmitglieder angezeigt ist, würde der Aufsichtsrat von seinem eigenen Beschluss bzw. dem eines Ausschusses Abstand nehmen. Zudem wird eine ARAG /Garmenbeck-Konstellation nur in Ausnahmefällen vorliegen. Es bleiben die Möglichkeiten der Durchsetzung von Ansprüchen gegen Aufsichtrat oder Vorstand durch die Hauptversammlung oder eine qualifizierte Aktionärsminderheit (§ 147 Abs. 1 Satz 1 AktG). Die durch das KonTraG umgestaltete Bestimmung erleichtert aber auch in ihrer jetzigen Form die Rechtsdurchsetzung nicht in ausreichendem Maße,105 insbesondere ist der für das Minderheitsverlangen verlangte Anteilsbetrag zu hoch. 98 Wiesner in: Hoffmann/Becking (Hrsg.) Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 4, 2. Aufl., 1999, § 21 Rn. 29. 99 Peltzer FS Lutter, S. 571, 574; Lutter ZIP 2003, 737, 741. 100 KK zum AktG/Mertens (Fn. 19) § 93 Rn. 30, 69; Peltzer FS Lutter, S. 578. 101 FS Lutter, S. 578. 102 Zum Erfordernis der Fahrlässigkeit BGH NJW 1966, 1911; teilweise wird nur objektive Pflichtwidrigkeit – teilweise – im Handelsrecht – Vorsatz gefordert, dazu Soergel/Leptien BGB , Band 1, 12. Aufl., 1987, § 177 Rn. 17. 103 So Flume Das Rechtsgeschäft, 3. Aufl., 1979, S. 788, 790; die Rechtsprechung verlangt nur einfache Fahrlässigkeit (BGH NJW 1966, 1911; WM 1976, 632; zum Ganzen Soergel/ Leptien BGB (Fn. 102) § 177 Rn. 18). 104 Hüffer AktG (Fn. 14) § 147 Rn. 1; KK zum AktG-Kronstein/Zöllner (Fn. 19) § 147 Rn. 2. 105 Vgl. die Kritik von Brandner FS Lutter, S. 317, 321 f.; ferner Hüffer AktG (Fn. 14) § 147 Rn. 9 mwN.

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V. Reformbedarf Der hier unternommene Versuch einer Konkretisierung der Vergütungskriterien und des Bemessungsmaßstabes des § 87 Abs. 1 AktG, verbunden mit einem Abbau von „Ermessenspyramiden“ (III . 2. c), soll dazu beitragen, die Norm mit Leben zu erfüllen. Ob dieses Ziel allein auf diesem Weg erreicht werden kann, bleibt freilich zweifelhaft. Denn die nun einmal bestehenden Spielräume setzen jeder Präzisierung Schranken. Deshalb ist es angezeigt, über zusätzliche Instrumentarien nachzudenken. Sie könnten auf vier Feldern liegen, nämlich den Verfahrensregeln, der Publizität, der Änderung materiellen Aktienrechts und der Durchsetzungsmöglichkeiten. 1. Das Procedere der Festlegung der Vergütung Bereits nach geltendem Recht sind die wesentlichen Umstände, die zum Beschluss des Personalausschusses führen, zu protokollieren. Einem Vorschlag von Lutter 106 folgend, sollte der Ausschuss allgemeine Grundsätze zur Vergütung der Vorstandsmitglieder entwickeln, diese dem Gesamtaufsichtsrat zur Genehmigung vorlegen und ihm regelmäßig über deren Umsetzung in concreto berichten müssen. Ein solches Verfahren schränkt die Variationsbreite von Einzelfallentscheidungen ein und gibt dem Ausschuss in den Vertragsverhandlungen Argumente an die Hand, die für beide Seiten disziplinierend wirken. Teile der variablen Bezüge können bereits heute durch die Hauptversammlung festgelegt oder doch hinsichtlich ihrer Anknüpfungskriterien bestimmt werden. So ist, falls eine Ermächtigung in der Satzung gemäß § 58 Abs. 3 Satz 2 AktG erteilt wurde, die Hauptversammlung befugt, Tantiemen für das vergangene Geschäftsjahr im Beschluss über die Gewinnverwendung an die Vorstandsmitglieder als Dritte zu gewähren.107 Ob in der Satzung auch eine Obergrenze der Bezüge und weitere Angemessenheitskriterien enthalten sein sollten, ist wegen der damit verbundenen Ermessensbindung des zuständigen Entscheidungsorgans Aufsichtsrat streitig.108 Der Gesetzgeber sollte dies im positiven Sinne klären.109 Wird die Bedienung von Optionsprogrammen im Wege des § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG sichergestellt, lässt sich bereits aus dem gebotenen Inhalt der Beschlussvorlage (§ 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG i.V.m. § 87 Abs. 1 AktG) vieles ableiten. 106

ZIP 2003, 737, 741.

MünchKommAktG-Hefermehl/Spindler (Fn. 16) § 87 Rn. 20; KK zum AktG/Mertens (Fn. 19) § 86 Rn. 4; Hüffer AktG (Fn. 14) § 58 Rn. 25. 108 Dafür Hüffer AktG (Fn. 14) § 87 Rn. 2 mit Nachw. für und wider; a.A. KK zum AktG/Mertens (Fn. 19) § 87 Rn. 3, der aber immerhin eine beschränkte Relevanz solcher Satzungsbestimmungen anerkennt, aaO. Vorbemerkung § 76 Rn. 18. 109 Ebenso Lutter ZIP 2003, 737, 743. 107

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Dazu gehören nach der hier vertretenen Auffassung die Unzulässigkeit von absoluten Kurshürden und von Umsatzhürden ohne Bezug zum Unternehmenswert sowie die Notwendigkeit eines Cap. Auch ein „repricing“ kann nur durch die Hauptversammlung vorgenommen werden (s. o. III . 1. 2. b). Diese Grundsätze können auch auf die Schaffung bedingten Kapitals über §§ 221, 192 Abs. 2 Nr. 1 AktG zur Bedienung von Stock Options übertragen werden. De lege ferenda sollte die Hauptversammlung auch zuständig sein, wenn virtuelle Aktienoptionen aufgestellt werden. 2. Publizität Um den der Bemessung der Vorstandsbezüge zugrunde liegenden Principal-Agent-Konflikt zum wenigsten gesellschaftsintern deutlich zu machen, ist mehr Publizität ein erster Schritt. Die im Deutschen Corporate Governance Kodex (4.2.4) nur empfohlene Angabe der individuellen Vorstandsvergütung sollte deshalb, wenn die Gesellschaften der Empfehlung, wie bisher weitgehend, nicht folgen, zur gesetzlichen Pflicht erhoben werden.110 Damit dürfte es schwieriger werden, einzelnen Vorstandsmitgliedern völlig aus dem Rahmen fallende Bezüge zukommen zu lassen. Werden dem Gebot guter Corporate Governance folgend Vergütungsgrundsätze aufgestellt, die auch das Verhältnis ihrer Komponenten regeln, spricht vieles dafür, diese auch im Geschäftsbericht zu veröffentlichen. Dazu wäre eine Änderung des § 285 HGB erforderlich.111 Konsequenterweise würde sich dann auch das Auskunftsrecht der Aktionäre (§ 131 AktG) darauf erstrecken.112 Einer Zuständigkeit der Hauptversammlung für die Aufstellung von Vergütungsgrundsätzen oder für die Bezüge der Vorstandsmitglieder ist dagegen nicht das Wort zu reden.113 Sie würde je nach Zusammensetzung des Aktionärskreises zu endlosen Debatten führen und beschwört die Gefahr unsachlicher Entscheidungen zum Schaden des Unternehmens geradezu herauf. Schließlich ist die Information über die oft unverständlichen Optionsprogramme zu verbessern, ihr Barwert nach der Black-Scholes-Formel 114 anzugeben.

Ebenso Lutter ZIP 2003, 737, 741. Befürwortend Schüller (Fn. 22) S. 261. 112 Dafür Schüller (Fn. 22) S. 261 ff., 284; Stellungnahme der deutschen Arbeitsgruppe zum Report der High Level Group, ZIP 2003, 863, 870; Lutter ZIP 2003, 737, 742. 113 Vgl. Stellungnahme der deutschen Arbeitsgruppe (Fn. 112) ZIP 2003, 863, 870. 114 Dazu Adams ZIP 2002, 1325, 1326 mwN. 110

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3. Änderungen des § 87 AktG Es ist vorgeschlagen worden, an unangemessene Bezüge die Rechtsfolge der Nichtigkeit im Außenverhältnis zu knüpfen115 und die bisherige KannVorschrift des § 87 Abs. 2 AktG in eine Muss-Vorschrift umzuwandeln. Beidem ist zu widersprechen. Die Nichtigkeitsfolge würde das Vorstandsmitglied nur verpflichten, Teilbezüge, die die Grenze der Angemessenheit überschreiten, der Gesellschaft zurückzuerstatten (s. o. IV.). Der Anspruch auf Bereicherungsausgleich verjährt aber bereits nach drei Jahren (§ 195 BGB) und unterliegt damit einer kürzeren Verjährungsfrist als die sonst einschlägigen Schadensersatzansprüche. Zudem wird das Problem der Aversion der Gesellschaftsorgane gegenüber der Durchsetzung solcher Ansprüche dadurch nicht gelöst. Eine obligatorische Herabsetzung der Bezüge unter den Voraussetzungen des § 87 Abs. 2 AktG dürfte kaum Wirkungen zeigen; denn das Merkmal der schweren Unbilligkeit wird selten erfüllt sein. Flexibler und zielfördernder sind Gehaltssysteme, die ein sachlich gebotenes Korrektiv enthalten, indem sie relativ hohe variable Vergütungsbestandteile von der wirtschaftlichen Lage der Gesellschaft abhängig machen. 4. Verbesserung der Durchsetzungsmöglichkeiten Entscheidend für eine Aktivierung der Kontrolle überzogener Vorstandsvergütungen wird deshalb eine Verbesserung der Befugnisse der Aktionäre sein, Ersatzansprüche der Gesellschaft durchzusetzen, sei es im Wege des § 147 AktG, sei es durch ein eigenes Klagerecht. Letzteres sieht der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts ( UMAG ) vor. Gemäß § 147a sollen Aktionäre Ersatzansprüche gegen die Organe im eigenen Namen geltend machen können, wenn sie Anteile besitzen, die den einhundertsten Teil des Grundkapitals oder einen Börsenwert von 100 000 e erreichen. Ein vorgeschaltetes Zulassungsverfahren soll verhindern, dass solche Klagen mutwillig (mit dem Ziel eines Abkaufs) erhoben werden. Die im Vergleich zu § 147 AktG deutlich herabgesetzten Quoren könnten auch unser Problem einer Lösung näher bringen.

115

Thüsing ZGR 2003, 457, 506.

Die Effizienzprüfung des Aufsichtsrats Johannes Semler

Inhaltsübersicht Seite

I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX.

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Feststellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feststellungen zur formalen Seite der Aufsichtsratstätigkeit . . Feststellungen zur Personalhoheit des Aufsichtsrats . . . . . . Feststellungen zur Überwachung der Geschäftsführung . . . . Feststellungen zur Prüfung des Jahresabschlusses . . . . . . . Feststellungen zur Tätigkeit einzelner Aufsichtsratsmitglieder Feststellungen zur Rechenschaftslegung des Aufsichtsrats . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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400 401 402 406 409 413 416 417 419

Der Deutsche Corporate Governance Kodex 1 (im Folgenden Kodex) empfiehlt in Ziffer 5.6, dass der Aufsichtsrat einer börsennotierten Gesellschaft 2 regelmäßig die Effizienz seiner Tätigkeit überprüfen soll. Ein solches Verfahren ist in den USA seit langem üblich, 3 in Kontinental-Europa aber in dieser organisierten Form neu. 4 1 Deutscher Corporate Governance Kodex ( DCGK ) idF vom 21. 5. 2003, veröffentlicht im elektronischen Bundesanzeiger am 4. 7. 2003; vgl. dazu J. Semler/Spindler in Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl., 2000 ff., Vor § 76 Rn. 232 ff.; MünchKommAktG-J. Semler § 161. 2 § 3 Abs. 2 AktG; vgl. zur Sonderbehandlung börsennotierter Gesellschaften auch MünchKommAktG–J. Semler/Spindler (Fn. 1) Vor § 76 Rn. 181 ff. 3 Peltzer, Deutscher Corporate Governance, 2003, Rn. 261; vgl. z. B. Seibt DB 2003, 2107; Sick, Die Effizienzprüfung des Aufsichtsrats in Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.), Arbeitshilfe für Aufsichtsräte 16, 2003, S. 6; Lorsch Harvard Business Review 1995 Heft 1, 116; Berenheim, Corporate Governance – An International Review 1996, 46; Lorsch ZfbF 1996 Sonderheft 36, 214 f.; Neubauer, Corporate Governance – An International Review 1997, 160; Conger/Finegold/Lawler, Harvard Business Review 1998 Heft 1, 136 ff.; Conger/ Finegold/Lawler, Corporate Boards, 2001, S. 103 ff.; näher zur amerikanischen Praxis v. Werder in Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Kommentar zum Deutschen Corporate Governance Kodex, 2003, Rn. 818 ff. 4 Vgl. Theisen, Grundsätze einer ordnungsmäßigen Information des Aufsichtsrats, 3. Aufl., 2002, S. 75; Ringleb/Kremer/Lutter/v.Werder KommDCGK –v. Werder (Fn. 3) Rn. 816; Seibt DB 2003, 2107, 2108; zur Nützlichkeit einer solchen Prüfung auch für nicht börsennotierte Gesellschaften vgl. MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 116 Rn. 69.

400

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Thomas Raiser war immer bemüht, eigene Betrachtungen nicht nur formalrechtlich anzustellen, sondern durch Einordnung von Bedürfnissen der Praxis in einen weiteren Zusammenhang zu setzen und enge Verbindungen zur unternehmensrechtlichen Praxis zu halten. Verbunden mit den besten Wünschen für ein langes weiteres Leben möchte ich im Folgenden einen kleinen Beitrag zu dieser Verbindung von Theorie und Praxis beisteuern.

I. Vorbemerkung In gut geführten Aufsichtsräten war es auch bisher schon gebräuchlich, sich gelegentlich zu überlegen, ob die Arbeit des Gremiums zufriedenstellend verrichtet wurde. Auch die mitwirkende Leistung der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder wurde von Zeit zu Zeit überdacht. Vor einem Vorschlag zur Wiederwahl eines Aufsichtsratsmitglieds hat der Aufsichtsratsvorsitzende regelmäßig, oft zusammen mit dem einen oder anderen Aufsichtsratsmitglied, überlegt, ob das bisherige Mitglied erneut zur Wahl vorgeschlagen oder ob es durch eine andere Persönlichkeit ersetzt werden sollte. 5 Erste Fachaufsätze und Ausarbeitungen zur Evaluierung der Aufsichtsratsarbeit, speziell von Mitarbeitern großer Personalberatungsgesellschaften, die hier ein neues Geschäftsfeld wittern, liegen vor. 6 An umfassenden praktischen Erfahrungen fehlt es jedoch noch. Bemühungen einzelner Unternehmen, der Empfehlung des Kodex zu folgen, sind in Methode und Ergebnis durchweg Geheimnisse der betroffenen Gesellschaften geblieben. Es gibt keine rechtliche Verpflichtung zur Bekanntgabe der eigenen Erkenntnisse. Auch der Vorstand braucht über das Verfahren der Evaluierung und ihre Ergebnisse nicht unterrichtet zu werden. Anleitungen zur Durchführung von Effizienzprüfungen7 sind häufig im Formalen hängen geblieben. Sie zählen zutreffend auf, was ein Aufsichtsrat wie oft und wann tun muss. Diese Aufzählungen sind zwar durchaus löblich, aber nicht eigentlich geeignet, die Wirksamkeit eines primär zu unternehmerischer Tätigkeit berufenen Organs zu beurteilen. Umfangreiche Fragebögen können allenfalls hilfreich sein. 8 5 Vgl. MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 100 Rn. 71; vgl. zu Wahlvorschlägen auch Ziff. 5.4.1 DCGK . 6 Bernhardt BB 2004, 457; Sick (Fn. 3) S. 25 f.; siehe auch Hinweis von MünchKommAktGJ. Semler (Fn. 1) § 116 Rn. 69; Seibt DB 2003, 2107, 2110; Wieczorek Der Aufsichtsrat 2004, 7. 7 Z.B. (anonyme) Fragebögen werden als Methode genannt, vgl. Peltzer (Fn. 3) Rn. 260 f.; Hucke/Ammann, Der Deutsche Corporate Governance Kodex, 2003, 103; v. Werder/Gundei in Hommelhoff/Hopt/v. Werder, Handbuch Corporate Governance, 2003, 688; Seibt DB 2003, 2107, 2111; Sick (Fn. 3) S. 8 f., 17 ff. und Fragebogen der Hans-BöcklerStiftung S. 20 ff.; Muster eines Fragebogens für Mitglieder des Audit Committee vgl. http://www.kpmg.de/audit-committee-institute/bin/evaluier_einzel_290803b.pdf. 8 Sick (Fn. 3) S. 20 ff.; siehe auch Peltzer (Fn. 3) Rn. 260 f.

Die Effizienzprüfung des Aufsichtsrats

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Wer der Empfehlung des Kodex folgen und eine Effizienzprüfung vornehmen will, wird eine Reihe von Feststellungen treffen und verschiedene Urteile abgeben müssen. Er darf sich aber nie über das Ziel der Effizienzprüfung im Unklaren sein. Das Ziel ist eine Verbesserung der Wirksamkeit der Arbeit des Aufsichtsrats, nicht die Feststellung von Kritikpunkten an der Tätigkeit des Aufsichtsrats insgesamt oder der Mitwirkung einzelner Aufsichtsratsmitglieder. Im Folgenden soll versucht werden, anhand der Aufgaben eines Aufsichtsrats die einzelnen Feststellungsbereiche zu erörtern. „Non multa, sed multum“ möge die Leitlinie sein.

II. Allgemeine Feststellungen 1. Woran wird die Effizienz der Tätigkeit eines Aufsichtsrats gemessen? Der einzig richtige Maßstab ist die Entwicklung des überwachten Unternehmens und seiner Vermögens-, Ertrags- und Finanzlage. 9 Wenn sich das Unternehmen erfolgreich entwickelt, kann daraus geschlossen werden, dass der Aufsichtsrat positiv gewirkt hat. Wenn sich das Unternehmen negativ entwickelt, muss sich der Aufsichtsrat die Frage gefallen lassen, ob er seine Pflicht ordnungsmäßig erfüllt hat.10 Allerdings ist diese Fragestellung nur ein ganz grobes Raster. Es bedarf in jedem Fall weiterer Feststellungen. 2. Wer soll die Effizienz der Tätigkeit beurteilen? Gelegentlich wird die Forderung erhoben, die Effizienz durch Dritte feststellen zu lassen. Nur dritte Personen, die dem Aufsichtsrat nicht angehören, hätten die notwendige Objektivität zur zutreffenden Bewertung der Aufsichtsratstätigkeit.11 Mit Objektivität ist es allerdings allein nicht getan. Viel wichtiger sind das Vorhandensein von Fähigkeiten, Kenntnissen und Erfahrungen, die ein Aufsichtsratsmitglied für eine effiziente Ausübung seiner Tätigkeit benötigt, 12 sowie eine eingehende Kenntnis von der Entwicklung des Unternehmens und der Tätigkeit des Aufsichtsrats im Beurteilungszeitraum. Wer die Effizienz der Aufsichtsratstätigkeit beurteilen will, 9 Vgl. zur Bedeutung der Lage des Unternehmens MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 111 Rn. 61 ff.; vgl. auch zu Maximen der Geschäftsführung und Aufsicht MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 111 Rn. 141 ff.; zur Bedeutung des Unternehmenserfolgs im Rahmen guter Corporate Governance auch Sünner AG 2000, 492, 493. 10 Vgl. §§ 93, 116 AktG zur Haftung bei Pflichtverletzungen des Aufsichtsrats. 11 Vgl. Wieczorek, Der Aufsichtsrat 2004, 7, 8; die Einschaltung von Dritten als Hilfspersonen befürwortend Seibt DB 2003, 2107, 2110. 12 Vgl. z. B. Potthoff/Trescher/Theisen, Das Aufsichtsratsmitglied, 6. Aufl. 2003, Rn. 805; MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 100 Rn. 76 ff.; vgl. auch J. Semler in Semler/ v. Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 2. Aufl., 2004, § 2 Rn. 67 ff.

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muss ein intimer Kenner des Geschehens sein. Im Allgemeinen werden nur der betroffene Aufsichtsrat selbst und die mitwirkenden Aufsichtsratsmitglieder ein zutreffendes Urteil über die Effizienz ihrer Tätigkeit abgeben können. Denn oben wurde schon festgestellt, dass bei einer Effizienzprüfung nicht nur Feststellungen zu treffen sind, sondern auch Urteile abgegeben werden müssen. Diese Notwendigkeiten schließen nicht aus, dass Mitarbeiter des Unternehmens oder außenstehende Sachverständige zur Hilfe herangezogen werden. Sie dürfen aber nie das abschließende Urteil abgeben. Dazu ist allein der Aufsichtsrat berufen. Der Aufsichtsrat muss die abschließenden Feststellungen im Plenum treffen. Er darf die Feststellung seiner eigenen Effizienz nicht einem Ausschuss13 übertragen. Das steht zwar nicht ausdrücklich im Gesetz. Aber über Angelegenheiten, die Grundlagen des Wirkens des Aufsichtsrats betreffen, muss stets das Plenum entscheiden.14 Bei der Selbstbewertung seiner Tätigkeit mag der Aufsichtsrat in einzelnen Fällen einen Moderator zuziehen. Dessen Aufgabe ist es nicht, eigene Feststellungen zu treffen oder selbst Urteile abzugeben, sondern durch geeignete Fragen und Hinweise die Mitglieder des Aufsichtsrats zu konstruktiven Darstellungen und konstruktiver Selbstkritik zu veranlassen. Die Selbstevaluierung der eigenen Tätigkeit muss stets eine Eigenbeurteilung (Self Appraisal) sein, sie sollte nie zu einer Fremdbeurteilung (Peer Review) werden.15

III. Feststellungen zur formalen Seite der Aufsichtsratstätigkeit Der Aufsichtsrat ist gehalten, alle Bestimmungen über seine formale Tätigkeit einzuhalten. Er muss bei seiner Effizienzprüfung feststellen, ob dies geschehen ist. Es geht dabei um Folgendes: 1. Hat der Aufsichtsrat seinen Vorsitzenden und seinen stellvertretenden Vorsitzenden gewählt?

§ 107 Abs. 3 AktG. Vgl. MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 107 Rn. 357; Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 4. Aufl., 2002, Rn. 623; Hoffmann-Becking, Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 4, Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 1999, § 32 Rn. 3; ebenso für die Effizienzprüfung Seibt DB 2003, 2107, 2111. 15 Vgl. hierzu Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder KommDCGK –v. Werder (Fn. 3) Rn. 820; vgl. auch Baums, Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, 2001, Rn. 62; ebenso im Grundsatz, aber für die Einschaltung von Hilfspersonen auch Seibt DB 2003, 2107, 2110; Sick (Fn. 3) S. 7; von interner Überprüfung durch den Aufsichtsrat selbst ausgehend auch Theisen (Fn. 4) S. 74. 13 14

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Dazu ist er gesetzlich verpflichtet.16 2. Haben dem Aufsichtsrat während der ganzen Berichtsperiode die Aufsichtsratsmitglieder in der gesetzlich vorgeschriebenen Zahl17 angehört? Ist ein Aufsichtsratsmitglied längere Zeit ausgefallen, ohne dass es durch ein anderes ersetzt wurde? Bei der Zusammensetzung eines Aufsichtsrats soll darauf geachtet werden, dass das Gremium insgesamt über die Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die zur ordnungsmäßigen Ausübung seiner Tätigkeit erforderlich sind.18 Wenn eines der für diese ordnungsmäßige Zusammensetzung notwendigen Mitglieder fehlt, kann möglicherweise die Aufgabe insgesamt nicht mehr ordnungsgemäß erfüllt werden.19 3. Sind über alle Sitzungen des Aufsichtsrats ordnungsmäßige Niederschriften angefertigt und vom Vorsitzenden unterzeichnet worden? Entsprechen die Niederschriften den Bestimmungen des Gesetzes? Sind die Niederschriften – wenn verlangt – jedem Mitglied des Aufsichtsrats abschriftlich ausgehändigt worden? Diese Verpflichtungen finden sich im Gesetz. 20 Eine Verletzung dieser Pflichten macht die gefassten Beschlüsse nicht unwirksam. 21 Dennoch empfiehlt sich eine sorgfältige Beachtung der Vorschriften, damit immer dokumentiert ist, was der Aufsichtsrat getan hat. 22 4. Nur bei Gesellschaften, die den Bestimmungen des MitbestG unterliegen: Ist unmittelbar im Zusammenhang mit der Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden oder seines Stellvertreters ein Ausschuss (sog. Mitbestimmungsausschuss) gebildet worden, dem der Aufsichtsratsvorsitzende, sein Stellvertreter sowie je ein Aufsichtsratsmitglied der Arbeitnehmer und der Anteilseigner angehören?

16 § 107 Abs. 1 S. 1 AktG; vgl. Ziff. 5.2 DCGK ; vgl. für mitbestimmte Gesellschaften § 27 MitbestG; zu Aufgaben und Befugnissen des Aufsichtsratsvorsitzenden MünchKommAktG-J. Semler (Fn1) § 107 Rn. 93 ff.; Semler/v. Schenck AR Hdb–J. Semler (Fn. 12) § 4. 17 § 95 AktG. 18 Ziff. 5.4.1 DCGK bestimmt daher, dass bei Vorschlägen zur Wahl von Aufsichtsratsmitglieder darauf geachtet werden soll, dass dem Aufsichtsrat jederzeit Mitglieder angehören, die über die zur ordnungsgemäßen Wahrnehmung der Aufgaben erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und fachlichen Erfahrungen verfügen und hinreichend unabhängig sind. 19 Semler/v. Schenck AR Hdb–J. Semler (Fn. 12) § 2 Rn. 80 ff. 20 § 107 Abs. 2 S. 1, 2, 4 AktG; vgl. zu Anforderungen an den Inhalt MünchKommAktG-J. Semler § 107 Rn. 189. 21 § 107 Abs. 2 S. 3 AktG; vgl. MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 107 Rn. 198 ff.; Mertens in Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl., 1986, § 107 Rn. 79. 22 Zur Beweisfunktion MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 107 Rn. 183; KölnerKomm–Mertens (Fn. 21) § 107 Rn. 79; Lutter/Krieger (Fn. 14) Rn. 588.

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Dieser Ausschuss, der nach dem Gesetz zu bilden ist, 23 hat zwar häufig keine Bedeutung, muss aber dennoch errichtet werden. 24 Vor allem für die Zusammenarbeit der Anteilseignervertreter mit den Arbeitnehmervertretern ist wichtig, diese im Interesse der Arbeitnehmervertreter getroffene Bestimmung zu beachten. Ein Verzicht auf ihre Umsetzung könnte bei Arbeitnehmervertretern den Eindruck hervorrufen, dass ihre Rolle nicht ausreichend gewürdigt wird. 5. Hat der Aufsichtsratsvorsitzende alle Beschlüsse, die auf schriftlicher, fernmündlicher oder in vergleichbarer Weise gefasst worden sind, ordnungsgemäß dokumentiert und sind die Niederschriften über solche Beschlussfassungen den Mitgliedern des Aufsichtsrats auf Verlangen zugesandt worden? Die Vorschrift über die Verpflichtung zur Anfertigung von Niederschriften über die Sitzungen des Aufsichtsrats 25 muss nach allgemeiner Meinung entsprechend angewendet werden, wenn der Aufsichtsrat außerhalb von Sitzungen Beschlüsse fasst. 26 Dass dies ordnungsgemäß erfolgt ist, sollte im Rahmen der Effizienzüberprüfung festgestellt werden. 6. Hat der Aufsichtsrat darauf geachtet, dass an seinen Sitzungen nur Mitglieder des Aufsichtsrats und des Vorstands oder mit technischen Fragen der Durchführung beauftragte Personen teilgenommen haben? Ist bei der Teilnahme anderer Personen stets festgestellt worden, dass diese Personen aus berechtigenden Gründen bei einzelnen Tagesordnungspunkten zur Sitzung zugelassen waren? Die Aufsichtsratssitzungen sollen nicht von Personen besucht werden, die weder dem Aufsichtsrat noch dem Vorstand angehören. 27 Damit soll eine objektive und unbeeinflusste Ausübung der Aufsicht sichergestellt werden. 28 Dass dies geschehen ist, sollte der Aufsichtsrat feststellen. Der Aufsichtsrat einer börsennotierten Gesellschaft muss zwei Sitzungen im Kalenderhalbjahr abhalten. 29 Im Rahmen der Selbstbeurteilung sollte der § 27 Abs. 3 MitbestG. Vgl. MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 107 Rn. 261; vgl. auch MünchKommAktG-Gach (Fn. 1) § 27 MitbestG Rn. 21 ff. 25 § 107 Abs. 2 S. 1 AktG. 26 MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 108 Rn. 204; KölnerKomm-Mertens (Fn. 21) § 108 Rn. 34, § 107 Rn. 84. 27 § 109 Abs. 1 AktG; die Zulässigkeit der Teilnahme von Vorstandsmitgliedern lässt sich auch Ziff. 3.6 DCGK entnehmen, die anregt, der Aufsichtsrat solle bei Bedarf ohne den Vorstand tagen; vgl. MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 109 Rn. 33 f.; Semler/ v. Schenck AR Hdb–Siebel (Fn. 12) § 5 Rn. 107. 28 Vgl. MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 109 Rn. 7; vgl. KölnerKomm-Mertens (Fn. 21) § 109 Rn. 6. 29 § 110 Abs. 3 S. 1 AktG idF des TransPuG. 23 24

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Aufsichtsrat feststellen, wie viele Sitzungen er abgehalten hat. Gleichzeitig sollte er angeben, wie oft etwa bestehende Ausschüsse 30 zu Sitzungen zusammengetreten sind. 7. Hat der Aufsichtsrat sich eine Geschäftsordnung gegeben? Das Gesetz kennt keine ausdrückliche Verpflichtung für den Aufsichtsrat, sich eine Geschäftsordnung zu geben. Es geht allerdings davon aus, dass der Aufsichtsrat sich eine Geschäftsordnung gibt. 31 Bei sachlicher Beurteilung wird eine ordnungsmäßige Arbeit des Aufsichtsrats ohne Geschäftsordnung nicht möglich sein. 32 Dem entsprechend empfiehlt der Kodex, dass der Aufsichtsrat sich eine Geschäftsordnung geben soll. 33 Der Aufsichtsrat sollte im Rahmen der Selbstevaluierung feststellen, dass eine solche Geschäftsordnung erlassen worden ist und dass diese Geschäftsordnung allen Anforderungen, die sich bei der Arbeit des Aufsichtsrats ergeben, entspricht. 8. Hat der Aufsichtsrat einen Prüfungsausschuss gebildet und sachgerecht besetzt? Börsennotierte Unternehmen sollen nach Empfehlung des Kodex einen besonderen Prüfungsausschuss einrichten. 34 Dieser soll sich insbesondere mit Fragen der Rechnungslegung und des Risikomanagements, der erforderlichen Unabhängigkeit des Abschlussprüfers, der Erteilung des Prüfungsauftrags an den Abschlussprüfer, der Bestimmung von Prüfungsschwerpunkten und der Honorarvereinbarung befassen. Nach Anregung des Kodex sollte der Vorsitzende dieses Ausschusses kein ehemaliges Vorstandsmitglied sein. Im Rahmen der Effizienzprüfung muss der Aufsichtsrat feststellen, ob ein solcher Prüfungsausschuss eingerichtet worden ist und ob er seine Aufgaben ordnungsgemäß erfüllt hat. Auch im Übrigen empfiehlt der Kodex dem Aufsichtsrat, zur Steigerung seiner Effizienz und zur Behandlung komplexer Sachverhalte fachlich qualifizierte Ausschüsse zu bilden. 35 Dies wird etwa zur Behandlung der Strategie des Unternehmens, der Vergütung der Vorstandsmitglieder, Investitionen und Finanzierungen angeregt, 36 Der Aufsichtsrat muss feststellen, ob dies im richtigen Maß erfolgt ist. § 107 Abs. 3 AktG. § 82 Abs. 2 AktG. 32 MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 111 Rn. 65, § 107 Rn. 407 ff., § 116 Rn. 152. 33 Ziff. 5.1.3 DCGK . 34 Audit Committee, vgl. Ziff. 5.3.2 DCGK . 35 Ziff. 5.3.1 DCGK ; vgl. auch Lutter ZHR 159 (1995), 287, 298; zur Ausschussbildung als Teil der Selbstorganisation vgl. MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 116 Rn. 145; vgl. auch Semler/v. Schenck AR Hdb–Siebel (Fn. 12) § 6; Lutter/Krieger (Fn. 14) Rn. 620. 36 Ziff. 5.3.3 DCGK . 30 31

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9. Hat der Aufsichtsrat die im Aktiengesetz 37 geforderte Entsprechenserklärung uneingeschränkt oder eingeschränkt abgegeben? Der Aufsichtsrat muss im Einzelnen darlegen, ob er den Kodexempfehlungen, die er akzeptiert hat, tatsächlich gefolgt ist und auch die Absicht hat, ihnen zukünftig zu folgen. 38 Wenn das nicht der Fall ist, muss er in seiner Selbstevaluierung darstellen, warum er dies nicht tun möchte oder nicht getan hat. 39 Dabei kann er auch darauf hinweisen, dass er nach einer gewissen Übergangszeit diese Empfehlungen beachten wird. Formell braucht er sich zu Anregungen des Kodex nicht zu äußern. 40 Bei der Selbstevaluierung sollten die Aufsichtsratsmitglieder aber auch Stellung zu den Anregungen des Kodex nehmen und dartun, ob sie diese Anregungen befolgt haben oder nicht. Wenn sie von einer Beachtung der Anregungen abgesehen haben, sollte dargelegt werden, aus welchen Gründen dies geschehen ist. Ob die durch den Kodex empfohlene Selbstevaluierung des Aufsichtsrats stattgefunden hat und in Zukunft stattfinden soll, ist umgekehrt ebenfalls Gegenstand der Entsprechenserklärung. Der Aufsichtsrat sollte zweckmäßig die Selbstevaluierung jährlich vor Abgabe der Entsprechenserklärung vornehmen. 41

IV. Feststellungen zur Personalhoheit des Aufsichtsrats Eine der ganz wesentlichen Aufgaben des Aufsichtsrats ist die Besetzung des Vorstands mit guten Führungskräften. 42 Kein Unternehmen kann ohne einen hervorragenden Vorstand hervorragend gedeihen. Ein Aufsichtsrat, der sich mit Vorstandsmitgliedern zweiter Wahl zufrieden gibt, kann nicht erwarten, dass er erstklassige Ergebnisse erzielt. Hierüber muss sich jedes Aufsichtsratsmitglied im Klaren sein, wenn es im Rahmen der Selbstevaluierung ein Urteil zur Arbeit des Vorstands abgibt. § 161 AktG. Vgl. zur vergangenheits- und zukunftsbezogenen Erklärung MünchKommAktGJ. Semler (Fn. 1) § 161 Rn. 124 ff.; Lutter/Krieger (Fn. 14) Rn. 492. 39 § 161 AktG zwingt nicht zur Begründung, vgl. MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 161 Rn. 148. 40 MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 161 Rn. 26. Gem. Ziff. 3.10 DCGK kann im Geschäftsbericht von Vorstand und Aufsichtsrat zu den Anregungen Stellung genommen werden. 41 Ähnlich Seibt DB 2003, 2107, 2112; Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder KommDCGK – v. Werder (Fn. 3) Rn. 817; Sick (Fn. 3) S. 12 mit dem Hinweis, die Intensität der Prüfung müsse nicht jedes Jahr gleich hoch sein. 42 Vgl. Ziff. 5.1.2 DCGK ; § 84 AktG; MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 116 Rn. 102, 298; vgl. zur Bedeutung der Personalkompetenz Semler/v. Schenck AR Hdb–J. Semler (Fn. 12) § 1 Rn. 48 ff.; in Semler/v. Schenck AR Hdb–Fonk (Fn. 12) § 9 Rn. 1; Bernhardt ZHR 159 (1995), 311, 318. 37 38

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Für diesen Bereich seiner Tätigkeit empfiehlt sich eine Antwort auf folgende Fragen: 1. Hat der Aufsichtsrat eine hervorragende Besetzung des Vorstands erreicht? Der Aufsichtsrat darf Vorstandsmitglieder nur für längstens fünf Jahre bestellen. 43 Bei Erstbestellungen regt der Kodex an, dass die maximale Bestelldauer von fünf Jahren nicht die Regel sein sollte. 44 Eine rechtzeitige Überprüfung von Personalentscheidungen wird so gefördert. Denn zum Ende der Bestelldauer hat der Aufsichtsrat die Möglichkeit und damit zugleich die Pflicht, Vorstandsmitglieder, die seinen Ansprüchen nicht genügen, auszutauschen und durch Persönlichkeiten von außen oder aus dem Unternehmensnachwuchs zu ersetzen. Von dieser Möglichkeit muss Gebrauch gemacht werden. Der Aufsichtsrat muss sich bei seiner Selbstevaluierung über diesen Teil seiner Aufgabe Rechenschaft legen. Fehlbesetzungen im Vorstand bestehen nicht so sehr deswegen, weil falsche Personen berufen worden sind, sondern weil falsche Personen nicht alsbald wieder abberufen worden sind. Das Abberufen ungeeigneter Vorstandsmitglieder ist für den Aufsichtsrat fast wichtiger als das Berufen neuer Mitglieder. 45 2. Hat der Aufsichtsrat die Voraussetzungen für eine reibungslose und förderliche Zusammenarbeit der Vorstandsmitglieder geschaffen? Die Zusammenarbeit der Vorstandsmitglieder soll regelmäßig auf der Grundlage einer Geschäftsordnung erfolgen. Der Kodex empfiehlt, dass eine Geschäftsordnung die Geschäftsverteilung und die Zusammenarbeit im Vorstand regeln soll. 46 Die Zuständigkeit für die Einführung einer Geschäftsordnung ist im Gesetz kompliziert geregelt. 47 Der Aufsichtsrat muss sich aber darüber im Klaren sein, dass allen Einzelheiten zum Trotz die endgültige Verantwortung für eine ordnungsmäßige Geschäftsordnung bei ihm liegt. 48 Er kann jede Geschäftsordnung, die der Vorstand erlassen hat, aufheben und er kann sie auch abändern. Wenn die Zusammenarbeit des Vorstands nicht ordnungsgemäß funktioniert, ist es letztlich immer die Verantwortung des Aufsichtsrats und nicht die des Vorstands, der seine § 84 Abs. 1 S. 1 AktG. Ziff. 5.1.2 DCGK . 45 Vgl. schon Semler/v. Schenck ARHdb –J. Semler (Fn. 12) § 1 Rn. 48; vgl. auch Bernhardt ZHR 159 (1995), 311, 313; ungeeignet ist auch ein Vorstandsmitglied, welches Interessenkonflikte hat, vgl. Ziff. 4.3 DCGK ; vgl. dazu auch MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 100 Rn. 117 ff. 46 Ziff. 4.2.1 DCGK . 47 § 77 Abs. 2 AktG. 48 Zur primären Kompetenz des Aufsichtsrats vgl. Hüffer AktG, 6. Aufl., 2004, § 77 Rn. 19; MünchKommAktG–Hefermehl/Spindler (Fn. 1) § 77 Rn. 42; MünchKommAktGJ. Semler (Fn. 1) § 116 Rn. 231 f., 335; vgl. auch Lutter/Krieger (Fn. 14) Rn. 428. 43 44

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Geschäftsordnungsaufgabe oder eine Geschäftsverteilung nicht sachgerecht erledigt hat. 3. Hat der Aufsichtsrat für eine sachgerechte, leistungsbezogene Vergütung gesorgt? Vorstandsmitglieder müssen für ihre Tätigkeit angemessen vergütet werden. 49 Was in diesem Zusammenhang angemessen bedeutet, ist streitig. Es gibt Personen, die meinen, dass angemessen nur das sei, was irgendwo in der Welt als höchste Vergütung gezahlt wird. Andere meinen, dass schon eine dem Gehalt eines Staatssekretärs entsprechende Vergütung ausreichend angemessen ist. Allgemeine Regeln kann man hier nicht festsetzen. 50 Kriterien für die Angemessenheit der Vergütung bilden insbesondere die Aufgaben des jeweiligen Vorstandsmitglieds, seine persönliche Leistung, die Leistung des Vorstands sowie die wirtschaftliche Lage, der Erfolg und die Zukunftsaussichten des Unternehmens unter Berücksichtigung seines Vergleichsumfelds. 51 Der Aufsichtsrat muss sich über die Grundsätze, die der Vergütung des Vorstands zugrunde zu legen sind, einig werden und darauf achten, dass weder zu wenig gezahlt noch zu viel vergütet wird. Die Ansprüche ändern sich von Zeit zu Zeit. Was gestern eine hervorragende Bezahlung war, mag heute als unzureichend angesehen werden. Was heute als angemessen betrachtet wird, mag morgen als eine Art „Zugriff im Selbstbedienungsladen“ gesehen werden. Der Aufsichtsrat muss von Jahr zu Jahr seine Entscheidungen überprüfen. Auf jeden Fall sollte er für jedes Vorstandsmitglied eine Höchstgrenze für die Gesamtvergütung (Cap) 52 festsetzen, in die neben den festen und variablen Vergütungen, die die Gesamtvergütung nach Empfehlung des Kodex umfassen soll, 53 auch Nebenvergütungen, wie z. B. private Nutzung von Dienstwagen, jede Art anderer Zurverfügungstellung privater Hilfskräfte und schließlich auch die Kosten der Vorsorge für eine Altersversorgung einschließlich etwaiger Nebenleistungen (Sekretariat, Dienstwagen, Fahrer nach erfolgter Pensionierung) einbezogen werden. Auch etwaige Stock Options sind zu berücksichtigen. Der Aufsichtsrat muss sich darüber klar werden, ob er alle sachgerechten Vorkehrungen gegen fehlerhafte Entwicklungen oder unzureichende Wertanteile getroffen hat.

Vgl. Ziff. 4.2.2 DCGK , § 87 AktG. Vgl. zur Angemessenheit MünchKommAktG-Hefermehl/Spindler (Fn. 1) § 87 Rn. 6 ff.; KölnerKomm-Mertens (Fn. 21) § 87 Rn. 3 ff. 51 Ziff. 4.2.2 DCGK . 52 Vgl. Ziff. 4.2.3 DCGK . 53 Ziff. 4.2.3 DCGK . 49 50

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4. Hat der Aufsichtsrat sich von einer zielgerichteten Nachwuchsförderung überzeugt bzw. zu einer solchen beigetragen? Wenn die erstklassige Besetzung des Vorstands durch hervorragende Unternehmerpersönlichkeiten die bedeutendste Aufgabe für den Aufsichtsrat ist, dann folgt mittelbar daraus die Aufgabe, für entsprechende Nachwuchskräfte zu sorgen. 54 Auch der beste Personalberater kann nicht die Erfahrung des Aufsichtsrats im langjährigen Umgang mit Führungskräften der zweiten Linie ersetzen, die ausgesucht werden, um später einmal in den Vorstand gewählt zu werden. Der Kodex empfiehlt daher, dass der Aufsichtsrat gemeinsam mit dem Vorstand für eine langfristige Nachfolgeplanung sorgen soll. 55 Dabei muss sich der Aufsichtsrat bei seiner Selbstevaluierung darüber klar werden, ob der Vorstand diese Nachwuchskräfte hinreichend gefördert und durch Job Rotation oder in anderer Weise auf ihre zukünftige Aufgabe vorbereitet hat.

V. Feststellungen zur Überwachung der Geschäftsführung Nach der Ausübung seiner Personalkompetenz ist die Überwachung der Geschäftsführung die herausragende Aufgabe des Aufsichtsrats. 56 Hier muss der Aufsichtsrat alles Können, alles Wissen und alle Erfahrung einsetzen, um in einer sachgerechten Weise so auf den Vorstand einzuwirken, dass dieser eine optimale Führungsleistung erbringt. Der Aufsichtsrat darf nicht davon ausgehen, dass er kraft Amtes alles besser weiß als der Vorstand. Aber er darf auch nicht zu zögerlich sein, wenn er eigene bessere Erfahrungen zum Wohle des Unternehmens einsetzen möchte. An dieser Stelle kann nicht alles das wiederholt werden, was in zahlreichen Büchern über die Aufgaben des Aufsichtsrats geschrieben steht. 57 Bei der Effizienz-Selbstprüfung muss sich der Aufsichtsrat mit der Beantwortung einiger weniger Fragen begnügen: 1. Hat der Aufsichtsrat gemeinsam mit dem Vorstand die langfristige Geschäftspolitik zielgerichtet festgelegt? Es ist nicht in erster Linie Aufgabe des Aufsichtsrats, an der kurzfristigen Geschäftsführungstätigkeit des Vorstands mitzuwirken. Der Aufsichtsrat Vgl. MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 116 Rn. 307. Ziff. 5.1.2 DCGK . 56 § 111 Abs. 1 AktG; Ziff. 5.1.1 DCGK ; zur Überwachungspflicht MünchKommAktGJ. Semler (Fn. 1) § 111 Rn. 83 ff. und § 116 Rn. 103; MünchKommAktG-J. Semler/Spindler (Fn. 1) Vor § 76 Rn. 70 ff.; vgl. auch Lutter/Krieger (Fn 14) Rn. 63. 57 Literaturhinweise siehe MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 111; KölnerKommMertens (Fn. 21) § 111 AktG; J. Semler, Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, 1996; Köstler/Kittner/Zachert/Müller, Aufsichtsratspraxis, 7. Aufl. 2003. 54 55

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hat sein Wissen und Können in die Überlegungen zur Ermittlung der langfristigen Unternehmensziele und der Wege, die dahin führen, einzusetzen. 58 Schon von Rechts wegen darf sich der Aufsichtsrat nicht in das Tagesgeschäft einmischen, wenn es nicht die Grundsätze der Ordnungsmäßigkeit oder Rechtmäßigkeit verletzt. 59 Der Kodex 60 legt fest, dass der Vorstand die strategische Ausrichtung des Unternehmens mit dem Aufsichtsrat abstimmt und mit ihm in regelmäßigen Abständen den Stand der Strategieumsetzung erörtert. Diese gemeinsame Bearbeitung strategischer Fragen darf nicht im Formalen stecken bleiben. Gerade der Aufsichtsrat ist auf Grund seiner eigenen unternehmerischen Erfahrung dazu berufen, dem Vorstand Ratschläge für die langfristigen Unternehmensziele und die strategische Umsetzung zu geben. Der Aufsichtsrat muss sich immer wieder fragen, ob er sowohl konstruktive Mitarbeit als auch etwa notwendige Kritik beigesteuert hat. Es ist oft schwierig, eine gemeinsam mit dem Vorstand entwickelte strategische Entwicklung abzubrechen, weil sie nicht den erwarteten Erfolg bringt. Aber gerade in dem Hinwirken auf einen solchen vorzeitigen Abbruch – so er denn notwendig ist – muss der Aufsichtsrat seine Aufgabe sehen. 61 2. Hat der Aufsichtsrat das vom Vorstand vorgelegte Budget für das Folgejahr geprüft und gebilligt? Der Aufsichtsrat ist – wie erwähnt – nicht dazu berufen, in die kurzfristige Geschäftsführung des Vorstands einzugreifen, wenn sie ordnungsmäßig und rechtmäßig erfolgt. Das hindert ihn aber nicht daran, den Rahmen für diese Tätigkeit in Form eines vom Vorstand vorzulegenden Budgets zu prüfen und letztlich festzulegen. Mit dem Budget werden der Tätigkeit des Vorstands gewisse Grenzen gezogen, deren unternehmerische Eignung der Aufsichtsrat zu beurteilen hat. 62 3. Hat der Aufsichtsrat regelmäßig die vom Vorstand geschuldeten Berichte erhalten und durch die Berichterstattung jederzeit ein ausreichendes Bild von der Lage und der Entwicklung des Unternehmens gewinnen können? Ist er bedeutsamen Abweichungen nachgegangen? Das deutsche Vorstand/Aufsichtsrat-System wird häufig deswegen als ungeeignet dargestellt, weil der Vorstand dem Aufsichtsrat alle Informatio58 Vgl. auch Lutter ZHR 159 (1995), 287, 292; vgl. KölnerKomm-Mertens (Fn. 21) § 111 Rn. 26. 59 Vgl. MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 116 Rn. 346; vgl. KölnerKomm-Mertens (Fn. 21) § 111 Rn. 11; die Geschäftsführung obliegt grundsätzlich dem Vorstand, vgl. §§ 77 Abs. 1, 111 Abs. 4 AktG; vgl. auch Ziff. 4.1.1 DCGK ; Lutter ZHR 159 (1995), 287, 291. 60 Ziff. 3.2 DCGK . 61 Vgl. auch MünchKommAktG–J. Semler (Fn. 1) § 111 Rn. 391 ff. 62 Lutter ZHR 159 (1995), 287, 292; vgl. auch Lutter/Krieger (Fn. 14) Rn. 76.

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nen liefern muss, anhand derer der Aufsichtsrat seine Arbeit zu erfüllen hat. Der Aufsichtsrat wird „matt“ gesetzt, wenn der Vorstand keine ausreichenden Informationen liefert. Die ausreichende Informationsversorgung des Aufsichtsrats ist aber gemeinsame Aufgabe von Vorstand und Aufsichtsrat. Der Kodex empfiehlt daher, dass der Aufsichtsrat die Informations- und Berichtspflichten näher festlegen soll. 63 Zur Effizienzprüfung des Aufsichtsrats gehört vor allem die Feststellung, dass der Vorstand jederzeit alle notwendigen Informationen rechtzeitig zur Verfügung gestellt hat und dass es dem Aufsichtsrat möglich war, auf Grund dieser Informationen eine angemessene Überprüfung der Vorstandstätigkeit laufend vorzunehmen. 64 4. Hat sich der Aufsichtsrat von einer angemessenen Risikovorsorge und einem sachgerechten Risikoerkennungssystem überzeugt? Eingetretene Risiken verursachen meist erheblichen Schaden. Das Gesetz hat daher mit Recht festgelegt, 65 dass der Vorstand ein geeignetes Risikoerkennungssystem einrichten muss. 66 Es gehört zu den Aufgaben des Aufsichtsrats, sich von der Leistungsfähigkeit dieses Risikoerkennungssystems zu überzeugen und selbst festzustellen, dass nach menschlichem Ermessen eintretende Risiken so rechtzeitig erkannt werden, dass gegen ihre Abwehr wirksam etwas unternommen werden kann. Der Aufsichtsrat darf sich aber nicht darauf beschränken, nur die Brauchbarkeit des Systems zu überprüfen und seine Funktionsweise nachzuvollziehen. Er muss auch feststellen, ob sich anbahnende Risiken tatsächlich erkannt und frühzeitig bekämpft werden. 5. Hat der Aufsichtsrat alles getan, um Schaden vom Unternehmen abzuwenden? Nach der Rechtsprechung schon des Reichsgerichts war der Aufsichtsrat immer berufen, Schaden vom Unternehmen abzuwenden. Die Antwort auf diese Frage wird sich weitgehend mit der zur Risikovorsorge decken. Hat der Aufsichtsrat schon alles getan, um Risiken vom Unternehmen fern zu halten, dann wird er im Allgemeinen auch eine entsprechende Schadensvorsorge leisten.

63 Ziff. 3.4 DCGK ; zu einer möglichen Informationsordnung auch MünchKommAktGJ. Semler (Fn. 1) § 111 Rn. 275 und § 116 Rn. 162, 350; Semler/v. Schenck AR Hdb–v. Schenck (Fn. 12) § 7 Rn. 109 ff. 64 Vgl. MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 111 Rn. 153, 267 ff.; vgl. auch MünchKommAktG-Hefermehl/Spindler (Fn. 1) § 90 Rn. 1. 65 § 91 Abs. 2 AktG. 66 Dazu MünchKommAktG-Hefermehl/Spindler (Fn. 1) § 91 Rn. 14 ff.; Lutter/Krieger (Fn. 14) Rn. 80 ff.; vgl. auch Ziff 4.1.4 DCGK .

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6. Hat der Aufsichtsrat alles getan, um das Vermögen des Unternehmens zu mehren? Ein Unternehmen kann sich nicht dadurch erfolgreich entwickeln, dass es ausschließlich den Eintritt von Risiken und Schäden verhindert. Es kommt darauf an, Chancen zu ergreifen und in Vorteile umzusetzen. Nur in dieser Weise kann sich eine Vermögensmehrung ergeben. 67 Der Aufsichtsrat muss prüfen und sollte letztlich feststellen, dass er alles getan hat, um zu gewährleisten, dass das Unternehmen erfolgreich geführt wird und damit auch das Vermögen des Unternehmens gemehrt wird. 7. Hat der Aufsichtsrat erreicht, dass sich zwischen ihm und dem Vorstand ein konstruktives, kritisches Klima entwickelt hat? Eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Vorstand und Aufsichtsrat, von der das Gesetz ausgeht, bedingt eine vertrauensvolle Zusammenarbeit dieser beiden Verwaltungsorgane. 68 Der Aufsichtsrat und der Vorstand stehen sich als gleichberechtigte Organe gegenüber. 69 Nur bei gegenseitigem Vertrauen ist es dem Aufsichtsrat möglich, den notwendigen Einfluss so zu nehmen, dass dies dem Vorstand nützt und damit das Unternehmen Vorteile hat. Die Zusammenarbeit zwischen Vorstand und Aufsichtsrat darf weder zu einer „Kumpanei“ ausarten noch darf sie sich wie ein „LehrerSchüler-Verhältnis“ entwickeln. Der Vorstand muss die Mitglieder des Aufsichtsrats und deren Erfahrung achten und aus Achtung vor dem Können und Wissen dieser Personen dem Rat folgen. 8. Hat der Aufsichtsrat erforderliche Zustimmungsvorbehalte festgelegt? Der Aufsichtsrat kann und muss auf die Unternehmensleitung Einfluss nehmen, indem er besonders bedeutsame und der Art nach bestimmte Geschäfte seiner Zustimmungspflicht unterwirft.70 Der Kodex nennt beispielhaft Entscheidungen oder Maßnahmen, die die Vermögens-, Finanz- oder Ertragslage des Unternehmens grundlegend verändern.71 Unabhängig von der Festlegung von Zustimmungsvorbehalten in der Satzung muss der Aufsichtsrat nach pflichtgemäßem Ermessen solche Zustimmungsvorbehalte festle67 Zur Handlungsmaxime der Gewinnerzielung vgl. MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) Vor § 76 Rn. 79 ff. 68 Vgl. Ziff. 3.1 DCGK ; zur Bedeutung der Kooperation zwischen Aufsichtsrat und Vorstand auch Wieczorek Der Aufsichtsrat 2004, 7. 69 MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 111 Rn. 49; MünchKommAktG-J. Semler/ Spindler (Fn. 1) Vor § 76 Rn. 53. 70 § 111 Abs. 4 S. 2 AktG idF des TransPuG; zuvor bestand keine gesetzliche Verpflichtung zur Festlegung von Zustimmungsvorbehalten; vgl. MünchKommAktG–J. Semler (Fn. 1) § 111 Rn. 399; Hoffmann/Preu, Der Aufsichtsrat, 5. Aufl., 2003, Rn. 304; zu Zustimmungsvorbehalten als Überwachungsinstrument siehe J. Semler GesRJ 2004, 17, 22. 71 Ziff. 3.3. DCGK ; vgl. auch Ziff. 3.9 DCGK .

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gen.72 Dieses Ermessen reduziert sich auf Null, wenn die Festlegung – auch durch Ad hoc-Beschluss – die einzige Möglichkeit darstellt, eine gesetzesoder satzungswidrige Maßnahme des Vorstands zu verhindern.73 Im Rahmen der Selbstevaluierung muss der Aufsichtsrat prüfen, ob er dieses Instrument zu seiner Einbindung in Entscheidungen von grundlegender Bedeutung für das Unternehmen74 zum Wohle des Unternehmens eingesetzt hat.

VI. Feststellungen zur Prüfung des Jahresabschlusses Die Bemühungen des Gesetzgebers sind seit einigen Jahren darauf gerichtet, den Abschussprüfer verstärkt in die Corporate Governance von Aktiengesellschaften jedenfalls von börsennotierten Gesellschaften einzubeziehen. Auch der Kodex ist bemüht, zu dieser besseren Wirksamkeit der Abschlussprüfung beizutragen.75 Der Aufsichtsrat ist dasjenige Organ der Aktiengesellschaft, das mit dem von der Hauptversammlung bestellten Prüfer den entsprechenden Dienstvertrag schließt76 und das auch während der Dauer der Prüfung mit ihm engste Fühlung halten soll.77 Der Aufsichtsrat muss sich vom Fortgang der Arbeiten unterrichten. Er muss in Erfahrung bringen, ob der Abschlussprüfer irgendwelche besonderen Feststellungen getroffen hat und vor allem darauf achten, dass Vorgänge, die ein sofortiges Eingreifen des Aufsichtsrats oder des Vorstands nötig machen, unverzüglich vom Abschlussprüfer an den Aufsichtsrat berichtet werden. Demgemäß empfiehlt der Kodex, dass der Aufsichtsrat vereinbaren soll, dass der Abschlussprüfer über alle für die Aufgaben des Aufsichtsrats wesentlichen Feststellungen und Vorkommnisse unverzüglich berichtet.78 Bei seiner Selbstevaluierung wird sich der Aufsichtsrat vor allem folgende Fragen vorlegen: 1. Hat der Aufsichtsrat dem Abschlussprüfer unverzüglich nach der Wahl durch die Hauptversammlung den Prüfungsauftrag erteilt? Bei Zuständigkeit des Aufsichtsrats hat dieser unverzüglich nach der Wahl des Prüfers durch die Hauptversammlung den Prüfungsauftrag zu erteilen. 79 Hierzu ist kein Beschluss des Plenums erforderlich, der Beschluss eines Lutter/Krieger (Fn. 14) Rn. 106. Vgl. BGHZ 124, 111, 127; LG Stuttgart AG 2000, 237; MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 111 Rn. 197, 408; Lutter/Krieger (Fn. 14) Rn. 106; Hoffmann/Preu (Fn. 70) Rn. 304. 74 Vgl. Ziff. 5.1.1 DCGK ; vgl. auch Lutter ZHR 159 (1995), 287, 300; MünchKommAktG–J. Semler (Fn. 1) § 111 Rn. 253; vgl. auch J. Semler GesRJ 2004, 17, 22. 75 Vgl. Ziff. 7.2 DCGK . 76 § 111 Abs. 2 S. 3 AktG; Ziff. 7.2.2 DCGK . 77 MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 111 Rn. 334. 78 Ziff. 7.2.3 DCGK . 79 § 318 Abs. 1 S. 4 HGB . 72 73

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Ausschusses genügt. 80 Der Abschlussprüfer wird nicht tätig, solange er diesen Prüfungsauftrag nicht erhalten hat. Im Interesse eines rechtzeitigen Prüfungsbeginns sollte der Aufsichtsrat deswegen diesen Prüfungsauftrag so rasch wie möglich erteilen. Der Aufsichtsrat ist berechtigt, seinen Vorsitzenden zum Abschluss eines Dienstvertrags schon vor der Wahl des Abschlussprüfers zu bevollmächtigen, wenn er dies unter dem Vorbehalt einer ordnungsmäßigen Wahl in der Hauptversammlung tut. 81 2. Hat der Aufsichtsrat zusätzliche Prüfungsschwerpunkte festgelegt, ggf. welche? Die Kompetenz des Aufsichtsrats, den Dienstvertrag mit dem Abschlussprüfer abzuschließen, wurde festgelegt, um durch diese Zuständigkeitsregelung eine unmittelbare Einwirkung des Aufsichtsrats auf das Prüfungsgeschehen zu ermöglichen und den Vorstand aus einer laufenden Verbindung mit dem Abschlussprüfer herauszuhalten, sofern es nicht um Prüfungsgrundlagen geht. 82 Der Aufsichtsrat muss bei seiner Selbstevaluierung feststellen, ob er von den Möglichkeiten, die ihm das Gesetz gibt, ausreichend Gebrauch gemacht hat und ob nach seiner Auffassung das Vorgehen des Abschlussprüfers so war, dass Vorstand und nachgeordnete leitende Mitarbeiter nur zur Auskunft und zur Bereitstellung von Unterlagen herangezogen wurden. Er sollte sich davon überzeugen, dass der Vorstand und die dem Vorstand nachgeordneten Führungspersönlichkeiten nicht auf die Tätigkeit des Abschlussprüfers eingewirkt haben. 3. Hat der Aufsichtsrat die gesetzlich vorgeschriebenen Abschlussunterlagen rechtzeitig erhalten und im erforderlichen Umfang geprüft? Der Aufsichtsrat hat den Jahresabschluss, den Lagebericht und den Vorschlag für die Verwendung des Bilanzgewinns zu prüfen, bei Mutterunternehmen auch den Konzernabschluss und den Konzernlagebericht. 83 Neben der als Beratung ausgestalteten vorausschauenden Überwachung ist die Prüfung des Jahresabschlusses und des Konzernabschlusses die wesentliche Aufgabe des Aufsichtsrats. Die Mitglieder des Aufsichtsrats müssen sich im Rahmen ihrer Selbstevaluierung darüber klar werden, ob sie alles getan haben, um die Feststellung eines ordnungsmäßigen Jahresabschlusses zu gewährleisten. Dabei müssen sie sich auch darüber Gedanken machen, ob eventuell zusätzliche Nachtragsprüfungen 84 durch den Abschlussprüfer er80 MünchKommAktG-Semler (Fn. 1) § 111 Rn. 329; Hüffer (Fn. 48) § 111 Rn. 12c; aA z. B. Hoffmann/Preu (Fn. 70) Rn. 310. 81 MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 111 Rn. 331 f. 82 Schwerpunkte der gesetzlichen Prüfung können vom Aufsichtsrat festgelegt werden, vgl. MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 111 Rn. 326; Lutter/Krieger (Fn. 14) Rn. 173. 83 Vgl. § 171 Abs. 1 S. 1 AktG. 84 Vgl. § 173 Abs. 3 AktG.

Die Effizienzprüfung des Aufsichtsrats

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forderlich sind, wenn einzelne Prüfungsgebiete nicht erschöpfend geprüft oder dargestellt wurden. Die Aufsichtsratsmitglieder sollten sich auch Gedanken darüber machen, ob in Einzelfällen, wenn der Abschlussprüfer auf besonders problembehaftete Fragen hingewiesen hat, ein weiterer Sachverständiger vom Aufsichtsrat mit der Anfertigung eines Gutachtens zu diesem Tatbestand beauftragt werden soll. Dies kann der Aufsichtsrat nur dann tun, wenn der Abschlussprüfer den Jahresabschluss und den Lagebericht unverzüglich nach der Aufstellung dem Aufsichtsrat vorgelegt hat und wenn der Abschlussprüfer, dem gegenüber der Aufsichtsrat die Gesellschaft vertritt, zeitgerecht seine Prüfung beendet und seinen Prüfungsbericht vorgelegt hat. 4. Hat der Abschlussprüfer an den Abschlusssitzungen mit dem Vorstand teilgenommen und alle erforderlichen Auskünfte und Urteile abgegeben? Nach den Bestimmungen des Gesetzes85 hat der Abschlussprüfer an den Verhandlungen des Aufsichtsrats oder eines Aufsichtsratsausschusses über den Jahresabschluss und den Konzernabschluss teilzunehmen. Er muss gleichzeitig über wesentliche Ergebnisse der Prüfung berichten.86 Der Aufsichtsrat sollte überlegen, ob er von dieser Zusammenarbeitsmöglichkeit vollen Gebrauch gemacht hat und ob er alle Unklarheiten mit dem Abschlussprüfer ausreichend erörtert hat. Er sollte sich darüber klar werden, ob alle im Jahresabschluss verarbeiteten Problemfelder sachgerecht behandelt und von ihm ausreichend beurteilt worden sind. Dabei kommt es nicht darauf an, dass er Formalprüfungen nachvollzieht. Die Aufgabe des Aufsichtsrats besteht darin, die endgültigen Wertungen und Beurteilungen des Abschlussprüfers nachzuvollziehen und gegebenenfalls zu billigen.87 Die Anwesenheit des Abschlussprüfers ist, wenn die Vorprüfung durch einen Prüfungsausschuss (Audit Committee) erfolgt, sowohl bei dieser Sitzung des Prüfungsausschusses als auch bei der Sitzung des Plenums notwendig.88 Der Aufsichtsrat muss sich klar sein, dass er eine Chance zur Verbesserung der Effizienz vertan hat, wenn der Abschlussprüfer nicht an beiden Sitzungen teilnimmt. 5. Ist der Abschlussprüfer geeignet, für das kommende Jahr erneut zum Abschlussprüfer bestellt zu werden? Der Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft muss vor der Hauptversammlung zur Wahl des Abschlussprüfers einen Vorschlag machen. 89 Dieser Vorschlag muss mit der erforderlichen Sorgfalt erarbeitet werden. Der Aufsichtsrat handelt nicht effizient, wenn er den Vorschlag zur Wiederwahl des bisherigen 85 86 87 88 89

§ 171 Abs. 1 S. 2 AktG idF des KonTraG. Vgl. auch Ziff. 7.2.4 DCGK . Vgl. Hüffer (Fn. 48) § 171 Rn. 5, 9; MünchKommAktG–Kropff (Fn. 1) § 171 Rn. 152. Vgl. MünchKommAktG-Kropff (Fn. 1) § 171 Rn. 109. Vgl. Ziff. 7.2.1 DCGK .

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Abschlussprüfers lediglich „abnickt“.90 Der Aufsichtsrat wird seine Aufgabe dann ordnungsgemäß und gewichtig erfüllen, wenn er sich vor dem Vorschlag noch einmal vergewissert, dass der Abschlussprüfer alle ihm obliegenden Aufgaben erfüllt hat, dass er an den Sitzungen teilgenommen hat und dass keine Bedenken gegen seine Tätigkeit als Abschlussprüfer entstanden sind. Vor der Unterbreitung des Wahlvorschlags soll der Aufsichtsrat bzw. Prüfungsausschuss nach Empfehlung des Kodex daher eine Erklärung des vorgesehenen Prüfers darüber einholen, ob und ggf. welche beruflichen, finanziellen oder sonstigen Beziehungen zwischen dem Prüfer und seinen Organen und Prüfungsleitern einerseits und dem Unternehmen und seinen Organmitgliedern andererseits bestehen, die Zweifel an seiner Unabhängigkeit begründen können.91 Der Aufsichtsrat wird sich außerdem ein Bild darüber verschaffen, ob das Unternehmen dem Abschlussprüfer außerhalb der Abschlussprüfung Aufträge erteilt hat und welcher Art diese Aufträge sind.92 Es sollte vermieden werden, dass der Abschlussprüfer Aufträge erhält, die ebenso gut oder sogar besser ein anderer Sachverständiger erfüllen kann. Durch jede zusätzliche Auftragserteilung wird tendenziell die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers und damit die Ordnungsmäßigkeit der Prüfung beeinträchtigt.

VII. Feststellungen zur Tätigkeit einzelner Aufsichtsratsmitglieder Die Überlegungen zur Tätigkeit einzelner Aufsichtsratsmitglieder werden jedenfalls heute in einem engeren Kreis, zumeist im Präsidium 93 des Aufsichtsrats angestellt. Es bestehen keine Bedenken dagegen, dass entsprechende Vorüberlegungen in einem solchen kleinen Kreis erfolgen. Endgültig aber muss sich der ganze Aufsichtsrat darüber im Klaren sein, ob alle Aufsichtsratsmitglieder in gehöriger Weise an der Arbeit des Gremiums mitgewirkt haben. 94 1. Ist der Aufsichtsrat von einer vollen Leistungsfähigkeit aller Aufsichtsratsmitglieder überzeugt 95 und hat er erforderlichenfalls die gerichtliche Abberufung eines ungeeigneten Mitglieds beantragt? 90 Vgl. kritisch zum mangelnden Austausch der Abschlussprüfer Bernhardt ZHR 159 (1995), 311, 313. 91 Ziff. 7.2.1 DCGK . 92 Vgl. Ziff. 7.2.1 DCGK . 93 Vgl. MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 107 Rn. 250 ff.; KölnerKomm-Mertens (Fn 21) § 107 Rn. 96. 94 Kritisch zur Beurteilung der Tätigkeit einzelner Mitglieder Sick (Fn. 3) S. 12. 95 Auch bei Vorschlägen zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern soll darauf geachtet werden, dass dem Aufsichtsrat jederzeit Mitglieder angehören, die über die zur ordnungsgemäßen Wahrnehmung erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und fachlichen Erfahrungen verfügen und hinreichend unabhängig sind, Ziff. 5.4.1 DCGK ; hierzu gehört auch die

Die Effizienzprüfung des Aufsichtsrats

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Qualifikation und Engagement der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder sind von entscheidender Bedeutung für die Funktionsfähigkeit des Gremiums und daher Gegenstand der Selbstevaluierung. 96 2. Hat der Aufsichtsrat dafür gesorgt, dass bei Aufsichtsratsmitgliedern, die ihre Tätigkeit im Geschäftsjahr nicht oder nicht im vorgeschriebenen Ausmaß ausgeübt haben, eine entsprechende Kürzung der Vergütung vorgenommen wurde? Die Vergütung des Aufsichtsratsmitglieds ist eine Vergütung für seine Tätigkeit und nicht für seine Zugehörigkeit zum Gremium.97 Wer nicht tätig war, hat keinen Anspruch auf Vergütung, auch wenn die Satzung eine Vergütung vorsieht. Der Charakter der Aufsichtsratsvergütung kann durch die Satzung nicht verändert werden. Bei einer Tätigkeitsvergütung ist das Wahrnehmen einer entsprechenden Tätigkeit notwendig, um den Anspruch auf die Vergütung entstehen zu lassen. Darüber müssen sich alle Aufsichtsratsmitglieder klar sein und im Rahmen ihrer Selbstevaluierung selbst überlegen, ob sie entsprechend verfahren sind. Es ist nicht erforderlich, Kürzungen von den satzungsmäßigen Bezügen vorzusehen, wenn ein Aufsichtsratsmitglied einmal oder zweimal begründet gefehlt hat. Wenn aber ein Aufsichtsratsmitglied mehrfach und vielleicht auch noch unbegründet an Aufsichtsratssitzungen nicht teilgenommen hat, muss der Aufsichtsrat für eine Kürzung der Bezüge sorgen.98 Im Rahmen der Selbstevaluierung muss der Aufsichtsrat überlegen, ob er entsprechend verfahren ist.

VIII. Feststellungen zur Rechenschaftslegung des Aufsichtsrats Der Aufsichtsrat ist von den Anteilseignern und – bei Arbeitnehmermitwirkung im Aufsichtsrat – von den Arbeitnehmern gewählt worden. 99 Ihre Wahl ist Ausdruck des Vertrauens, das die Wahlgremien in die gewählten Persönlichkeiten setzen. Wer in dieser Weise gewählt worden ist, muss über seine Tätigkeit Rechenschaft ablegen.100

Freiheit von Interessenkonflikten, vgl. dazu MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 100 Rn. 117 ff.; vgl. Ziff. 5.5 DCGK ; vgl. zur Einhaltung der Verschwiegenheitspflicht Ziff. 3.5 DCGK . 96 So auch Seibt DB 2003, 2107, 2109; aA Sick (Fn. 3) S. 13. 97 Vgl. Ziff. 5.4.5 DCGK . 98 Vgl. MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 113 Rn. 92; vgl. auch KölnerKomm-Mertens (Fn. 21) § 113 Rn. 14. 99 § 101 Abs. 1 AktG. 100 Vgl. MünchKommAktG-J. Semler (Fn. 1) § 116 Rn. 480.

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1. Ist die vom Gesetz geforderte Rechenschaftslegung ordnungsgemäß erfolgt? Der Aufsichtsrat hat über das Ergebnis seiner Prüfung schriftlich in der Hauptversammlung zu berichten.101 In dem Bericht hat der Aufsichtsrat mitzuteilen, in welcher Art und in welchem Umfang er die Geschäftsführung der Gesellschaft während des Geschäftsjahrs geprüft hat.102 Bei börsennotierten Gesellschaften muss er insbesondere angeben, welche Ausschüsse gebildet worden sind, wie die Zahl seiner Sitzungen und die der Ausschüsse ist.103 Der Aufsichtsrat muss schließlich auch zum Ergebnis der Prüfung des Jahresabschlusses durch den Abschlussprüfer Stellung nehmen,104 das Ergebnis seiner eigenen Prüfung darstellen und erklären, ob nach seiner Prüfung Einwendungen gegen den Jahresabschluss zu erheben sind oder nicht. Es gibt immer noch Unternehmen, in denen der Aufsichtsrat nahezu formularmäßig als Inhalt seiner Tätigkeit das wiedergibt, was im Gesetz 105 steht.106 Solch ein Bericht ist nicht Ausdruck einer effizienten Tätigkeit des Gremiums. Der Aufsichtsrat hat die Möglichkeit, im Rahmen seines Berichts ausführlich darzustellen, wie er seine Tätigkeit entfaltet hat, und im Einzelnen zu erläutern, was er im Rahmen seiner Überwachung als besonders positiv oder negativ festgestellt hat. Nur durch eingehende Berichterstattung erwirbt er das Vertrauen der Anteilseigner bzw. der Arbeitnehmer und zeigt eine ausreichende Effizienz seiner Tätigkeit. Zu Beginn jeder Hauptversammlung, die einen Jahresabschluss verabschiedet, muss der Vorsitzende des Aufsichtsrats den Bericht des Aufsichtsrats erläutern.107 Dies gibt dem Aufsichtsratsvorsitzenden Gelegenheit, sich auch auf die Selbstevaluierung der Aufsichtsratsmitglieder zu beziehen und Gründe dafür darzulegen, dass der Aufsichtsrat von einer hinreichenden Effizienz seiner Tätigkeit überzeugt ist oder welche Mängel er festgestellt hat. Auch ist dieser Bericht dazu geeignet, Mängel in der Aufsichtsratsbesetzung darzustellen und den Aktionären vorzutragen. Dabei sollte nicht nur eine Feststellung der Mängel erfolgen, sondern auch vorgeschlagen werden, was zur Besserung geschehen kann.

§ 171 Abs. 2 AktG. Vgl. Lutter/Krieger (Fn. 14) Rn. 33; Hoffmann-Becking Münch HdbAG (Fn. 14) § 44 Rn. 18. 103 § 171 Abs. 2 S. 2 AktG. 104 § 171 Abs. 2 S. 4 AktG. 105 § 171 Abs. 2 S. 1 bis 5 AktG. 106 Vgl. MünchKommAktG-Kropff (Fn. 1) § 171 Rn. 154. 107 § 176 Abs. 1 S. 2 AktG. 101

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2. Ist die von der Satzung geforderte Rechenschaftslegung ordnungsgemäß erfolgt? Nicht alle Gesellschaften treffen in ihren Satzungen108 zusätzliche Bestimmungen über die Rechenschaftslegung des Aufsichtsrats in seinem Aufsichtsratsbericht. Dort, wo das geschehen ist, muss der Aufsichtsrat die Vorgaben beachten und sich überlegen, ob er den Vorgaben der Satzung im abgelaufenen Jahr ausreichend nachgekommen ist.

IX. Zusammenfassung Mit der Empfehlung, dass der Aufsichtsrat regelmäßig die Effizienz seiner Tätigkeit prüfen soll,109 hat der Kodex dem Aufsichtsrat die Möglichkeit gegeben, sich mindestens einmal jährlich von der Effizienz seiner Tätigkeit ein Bild zu machen. Dabei genügt es nicht, dass der Aufsichtsrat lediglich eine Augenblicksanalyse vornimmt. Es genügt auch nicht, dass der Aufsichtsrat nur Feststellungen zu seiner Tätigkeit trifft. Von entscheidender Bedeutung ist, dass der Aufsichtsrat zugleich überlegt, welche Verbesserungen er bei seiner Tätigkeit vornehmen kann. Es empfiehlt sich, diese Verbesserungsmöglichkeiten schriftlich festzuhalten, damit sie nicht wenige Tage nach der entsprechenden Aufsichtsratssitzung schon wieder in Vergessenheit geraten.

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§ 23 AktG. Ziff. 5.6 DCGK .

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Drittanstellung von Vorstandsmitgliedern in der Aktiengesellschaft Wolfgang Theobald

Inhaltsübersicht Seite

I. Der tatsächliche Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die gesellschaftsrechtlichen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Der tatsächliche Befund 1. Die Rechtsform der Aktiengesellschaft hat sich im Laufe der letzten zehn Jahre sprunghaft verbreitet. Während die Anzahl der Aktiengesellschaften seit 1960 bei rund 2500 stagnierte und in der ersten Hälfte der achtziger Jahre mit 2100 Gesellschaften einen Tiefstand erreichte, trat ab dem Beginn der neunziger Jahre eine Belebung und seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre eine stürmische Entwicklung ein. In 1999 wurden 6355 Gesellschaften gezählt und Ende April 2003 lag ihre Zahl bereits bei 15 033. Die Aktiengesellschaft ist damit auf dem Weg zu ihrem VorkriegsHoch des Jahres 1923 mit damals über 16 000 Gesellschaften. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sicher aber hat die Diskussion um die so bezeichnete kleine Aktiengesellschaft mit den bekannten gesetzlichen Neuerungen zur Deregulierung des Aktienrechts aus dem Jahre 1994 diese Rechtsform in ein breiteres Interesse gerückt. In der Rechtspraxis ließ sich feststellen, dass seither mit der Aktiengesellschaft nicht mehr zwingend große Unternehmen und Börsennotierung verbunden wurden; es wurde chic, sich allein schon durch die Rechtsform der Aktiengesellschaft entsprechendes Gewicht beizulegen und das Beispiel von dem als Aktiengesellschaft organisierten Imbissstand machte die Runde. Wie gängig die Aktiengesellschaft auch im Sprachgebrauch geworden ist, zeigt der Begriff der Ich-AG . Die Aktiengesellschaft hat daher längst Einzug in Mittelbetriebe gehalten, die trotz Deregulierung des Aktienrechts mit den auch weiterhin verbliebenen organisatorisch und rechtlich weit weniger flexiblen Anforderungen dieser Gesellschaftsform nicht vertraut und darauf auch nicht vorbe-

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reitet sind. In der Beratungspraxis finden sich deshalb immer wieder Fälle, in denen eine Aktiengesellschaft von ihrem Alleinaktionär wie ein Einzelunternehmen oder eine GmbH geführt wird. Dies betrifft gerade den Vorstandsbereich, auf den der Mehrheits- oder Alleinaktionär seinen Einfluss durchsetzen möchte. Fragen, die bei der GmbH längst diskutiert und entschieden sind, stellen sich daher in zunehmendem Umfang auch bei der Aktiengesellschaft. 2. Für die hier zu behandelnde Frage der Drittanstellung von Vorstandsmitgliedern gilt dies jedoch nicht allein für die vielleicht pathologischen Fälle, dass der Mehrheits- oder Alleinaktionär über den Anstellungsvertrag als Dienstherr seinen Einfluss auf den Vorstand erhalten möchte. Die Frage der Drittanstellung ist auch von Interesse bei völlig intakten Konzernverhältnissen, sei es, dass ein Mitarbeiter der Obergesellschaft in den Vorstand einer abhängigen Aktiengesellschaft abgeordnet wird oder umgekehrt neben seiner operativen Tätigkeit in einer Untergesellschaft Vorstandsverantwortung in der Muttergesellschaft mit reiner Holdingfunktion übernimmt. In diesen Abordnungsfällen besteht oftmals aus Konzernsicht kein Wunsch nach Abschluss eines neuen Vorstands-Anstellungsvertrags, wenn das Führungspersonal sowohl nach seinen Anstellungsbedingungen wie nach seinem Anstellungspartner gewissermaßen gepoolt werden soll. Genauso wenig hat das Führungspersonal Interesse am Abschluss eines neuen auf höchstens fünf Jahre befristeten (§ 84 Abs. 1 Sätze 1, 2, 5 AktG) Anstellungsvertrags ohne Rückkehr in die frühere Position nach Ablauf dieses Anstellungsvertrags. 3. Die vorbeschriebenen Konstellationen führen zu einem gespaltenen Tatbestand: Organstellung bei der Aktiengesellschaft und Anstellungsvertrag mit einem Dritten, sei es mit dem Aktionär oder einem verbundenen Unternehmen. Spindler1 bezeichnet diesen Vorstand als Diener zweier Herren und hält eine solche Drittanstellung entgegen der von ihm so verstandenen h.M. für bedenklich. In diesem Sinne hat sich auch der Jubilar in seinem Werk Recht der Kapitalgesellschaften geäußert: Der Vertragsschluss mit einem Dritten, namentlich einem Großaktionär oder herrschenden Unternehmen ist (dagegen) unzulässig, weil nach der aktienrechtlichen Kompetenzordnung ausschließlich der Aufsichtsrat zuständig ist.2

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Spindler in Münchner Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Auflage, 2003, § 84 Rn. 54. So wörtlich: Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, 3. Auflage, 2001, § 14 Rn. 47.

Drittanstellung von Vorstandsmitgliedern in der Aktiengesellschaft

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II. Die gesellschaftsrechtlichen Grundlagen 1. Die Behandlung von Drittanstellungsverhältnissen ist in der Literatur bislang vorwiegend ein Thema des GmbH-Rechts gewesen. 3 Auch die aus der Rechtsprechung bekannt gewordenen Fälle sind solche der GmbH. 4 Zur Aktiengesellschaft finden sich durchweg nur feststellende Äußerungen, die wegen der Unterschiede zur GmbH die dort vertretenen Standpunkte entweder ablehnen 5 oder Drittanstellungsverträge nur unter Beachtung weiterer Einschränkungen zulassen 6 oder bei wohl grundsätzlich unterstellter Zulässigkeit von solchen Gestaltungen dennoch abraten. 7 Von einer herrschend oder überwiegend vertretenen Zulässigkeit solcher Drittanstellungsverträge, die Spindler und Hüffer feststellen, kann jedenfalls für das Aktienrecht keine Rede sein. Es stellt sich deshalb die Frage, worin die Unterschiede zwischen GmbH und Aktiengesellschaft liegen sollen, die im ersten Fall eine Drittanstellung erlauben sollen, im zweiten Fall hingegen nicht oder nur unter weiteren Einschränkungen. 2. Als zentraler Punkt sind insoweit zunächst die Weisungsrechte zu untersuchen und zwar in zweierlei Hinsicht: Einmal das rein gesellschaftsrechtliche, korporative, das mit der Organstellung verbundene Weisungsrecht, ferner aber auch dasjenige, das aus dem Anstellungsvertrag, also aus der schuldrechtlichen Beziehung des Organs zu seinem Dienstherren fließt. Obgleich Organstellung und Anstellung sich rechtspraktisch auf einen einheitlichen Tatbestand beziehen, sind es rechtlich dennoch getrennte Verhältnisse, auch wenn betont wird, dass zwischen ihnen ein enger tatsächlicher und rechtlicher Zusammenhang mit wechselseitigen

3 Etwa: Fleck, Die Drittanstellung des GmbH-Geschäftsführers, ZHR 145 (1985) S. 387 ff.; Schneider, Der Anstellungsvertrag des Geschäftsführers einer GmbH im Konzern, GmbHR 1993, S. 10 ff.; Baums, der Geschäftsleitervertrag, 1987, S. 89 ff.; Winter GmbHR 1965 195, 196. 4 Etwa: BGH WM 1964, 1320 (Anstellungsvertrag zwischen AG -Mutter und Geschäftsführer ihrer GmbH-Tochter); BGHZ 75, 209 (GmbH & Co. KG , Anstellung des GmbHGeschäftsführers bei der KG ); BAG NJW 1998, 260 (Anstellungsvertrag des Geschäftsführers auch mit dem Alleingesellschafter); BAG ZIP 2003, 1010, 1014 (Anstellungsvertrag mit Drittunternehmen). 5 Etwa: Raiser Kapitalgesellschaften, § 14 Rn. 47; Hefermehl/Spindler in Münchner Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Auflage, 2003, § 84 Rn. 54; Martens in Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Auflage, 1988, § 84 Rn. 51; Münch HdbAG -Wiesner, 2. Auflage, 1999, § 21 Rn. 3; Henssler RdA 1992, 289, 301 bei Drittanstellungen außerhalb konzernverbundener Unternehmen; eingehender: Baums Geschäftsleitervertrag, 73 f. 6 Krieger, Personalentscheidungen des Aufsichtsrats, 1981, S. 186 ff.; Martens, FS Hilger/ Stumpf, 1983, S. 437, 446 f. 7 Hüffer, Kommentar zum AktG, 5. Auflage, 2002, § 84 Rn. 14; Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 3. Auflage, 1993, Rn. 168.

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Auswirkungen aufeinander besteht.8 So wird kein Organ, dessen Anstellungsvertrag gekündigt ist, geneigt sein, weiterhin seinen Pflichten als Organ nachzukommen, ebenso wenig wie im umgekehrten Fall einer Beendigung der Organstellung der Dienstherr weitere Bezüge zahlen möchte. Trotz juristischer Trennungstheorie hat gerade Raiser vor einer Übertreibung dieses Dogmas gewarnt und eine Einheitsbetrachtung nicht ausgeschlossen.9 Nur wegen der Trennungstheorie stellt sich überhaupt die Problematik von Drittanstellungsverhältnissen: Wären Organstellung und Anstellung rechtlich eine einheitliche Beziehung, würde sich die von Spindler aufgeworfene Frage nach dem Diener zweier Herren nicht stellen.10 Dazu führt nur der Umstand, dass nach geltendem Verständnis das Organ in zwei Pflichtkreisen steht, nämlich dem gesellschaftsrechtlichen einerseits und dem anstellungsrechtlichen andererseits. Bei einer Einheitsbetrachtung läge demgegenüber nur ein Rechtskreis mit organschaftlichen und schuldrechtlichen Elementen vor. a) Geht man den Weisungsrechten näher nach, ist gesellschaftsrechtlich zunächst festzustellen, dass der Geschäftsführer einer GmbH den Weisungen unterliegt, die ihm durch Gesellschafterbeschluss erteilt werden (§ 37 Abs. 1 GmbHG). Er hat deshalb unternehmerisch eine vergleichsweise begrenzte, unselbstständige Stellung, indem er bis in einzelne Geschäftsführungsentscheidungen sowohl verbietend wie gebietend den Weisungen der Gesellschafterversammlung unterworfen ist.11 Nicht gleichzusetzen sind damit übrigens Einzelweisungen des Mehrheitsgesellschafters. Auch wenn dieser in einer Gesellschafterversammlung seine Ansichten durchsetzen kann, bedarf es zu Anweisungen gegenüber dem Geschäftsführer dennoch eines entsprechenden Gesellschafterbeschlusses, denn den Minderheitsgesellschaftern muss die Möglichkeit der Einflussnahme erhalten bleiben; und das dafür einschlägige Forum ist die Gesellschafterversammlung. Nur bei der Einmann-GmbH fallen Gesellschafterbeschluss und Weisung faktisch zusammen.12 Ganz anders liegen die Dinge bei der Aktiengesellschaft. Diese leitet der Vorstand unter eigener Verantwortung (§ 76 Abs. 1 AktG). Er handelt selbstständig und nach eigenem Ermessen. Weder die Hauptversammlung noch der Aufsichtsrat oder ein Alleinaktionär können ihm Weisun8 BGHZ 89, 48, 52; Raiser Kapitalgesellschaften, § 14 Rn. 46; Hüffer, Kommentar zumAktG, § 84 Rn. 2; von „grundsätzlicher Harmonie“ spricht Winter GmbHR 1965, 195 f. 9 Raiser Kapitalgesellschaften, § 14 Rn. 46. 10 S.o. Fn.1. 11 Statt aller: Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbH-Gesetz, 17. Auflage, 2000 § 35 Rn. 1 ff., 10; Fleck, ZHR 149 (1985) S. 387, 403. 12 Baums Geschäftsleitervertrag, S. 90, 92; Fleck ZHR 149 (1985), S. 387, 403.

Drittanstellung von Vorstandsmitgliedern in der Aktiengesellschaft

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gen erteilen.13 Der Aufsichtsrat ist auf die Überwachung des Vorstands beschränkt, Maßnahmen der Geschäftsleitung können ihm nicht übertragen werden (§ 111 Abs. 1, Abs. 4 Satz 1 AktG). Soweit bestimmte Arten von Geschäften der Zustimmung des Aufsichtsrats bedürfen (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG), handelt es sich ebenfalls nicht um Weisungsrechte, sondern um reine Vetorechte, die zudem dadurch begrenzt sind, dass die Hauptversammlung sie überstimmen kann (§ 111 Abs. 4 Satz 3 AktG). Ausnahmen von dieser Weisungsfreiheit des Vorstands bestehen indessen in den Fällen eines Beherrschungsvertrags und der Eingliederung. Hier sind Weisungen gegenüber dem Vorstand der abhängigen oder eingegliederten Gesellschaft ausdrücklich erlaubt (§§ 308 Abs. 1 Satz 1, 323 Abs. 1 AktG). Das herrschende Unternehmen bzw. die Hauptgesellschaft können in diesen Fällen unmittelbar auf den Vorstand einwirken und zwar auch zum Nachteil der abhängigen bzw. eingegliederten Gesellschaft, ohne dass darüber zuvor ein Beschluss der Hauptversammlung herbeizuführen wäre. Die Hauptversammlung hat ihr Einverständnis dazu gewissermaßen generell und vorab durch ihre Zustimmung zu dem Beherrschungsvertrag bzw. der Eingliederung erteilt. Als Zwischenergebnis lässt sich danach feststellen, dass sich bei der Aktiengesellschaft und der GmbH die organschaftlichen Weisungsrechte klar unterscheiden. Während bei der unabhängigen Aktiengesellschaft der Vorstand völlig weisungsfrei ist, ist er in der abhängigen wie in der eingegliederten Aktiengesellschaft ebenso wie der Geschäftsführer einer GmbH weisungsunterworfen. Damit bestätigen sich zwar grundlegende Unterschiede zwischen der GmbH und der (unabhängigen) Aktiengesellschaft, doch besagt dies für die Zulässigkeit oder Nichtzulässigkeit einer Drittanstellung des Organs allein noch nichts, weil die bislang behandelten organschaftlichen Weisungsstrukturen gesellschaftsrechtlich vorgegeben sind, und zwar unabhängig davon, wo das betreffende Organ schuldrechtlich angestellt ist, bei der eigenen Gesellschaft oder bei einem Dritten. Deshalb müssen weiter die Weisungsrechte aus dem Anstellungsvertrag und deren Verhältnis zu den organschaftlichen Weisungsbefugnissen betrachtet werden. Nur wenn sich dabei Spannungen gerade wegen der Drittanstellung erweisen sollten, ließe dies Rückschlüsse auf systematische Unverträglichkeiten einer Drittanstellung mit den gesellschaftsrechtlichen Vorgaben zu. b) Der Anstellungsvertrag des AG -Vorstands hat eine Geschäftsbesorgung mit dienstvertraglichem Charakter zum Inhalt (§§ 675, 611 ff. BGB ).

13 Hüffer, Kommentar zum AktG, § 76 Rn. 10; MünchKommAktG-Hefermehl/Spindler (Fn. 5) § 76 Rn. 21.

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Dies ist weithin anerkannt.14 Ein Dienstverpflichteter unterliegt nach allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen den Weisungen des Auftraggebers, was somit zunächst einmal auch für den Vorstand der Aktiengesellschaft gilt. Gleiches gilt für das Anstellungsverhältnis des GmbHGeschäftsführers.15 In beiden Fällen können somit Spannungen zwischen der grundsätzlichen Weisungsunterworfenheit nach dem Anstellungsvertrag und der Weisungslage nach der Organstellung auftreten. Bei der nicht abhängigen Aktiengesellschaft ist diese Spannung evident, denn dort unterliegt der Vorstand organschaftlich gerade keinerlei Weisungen. Doch auch bei der abhängigen bzw. eingegliederten Aktiengesellschaft wie auch der GmbH liegt trotz organschaftlicher Weisungsunterworfenheit kein spannungsfreies Verhältnis vor, weil Weisungen nach dem Anstellungsvertrag den organschaftlichen widersprechen können. Bei Drittanstellungen sind solche Konstellationen leicht vorstellbar. c) Deshalb ist das Verhältnis anstellungsrechtlicher Weisungen zur organschaftlichen Weisungslage von entscheidender Bedeutung. Kann der Vorstand einer Aktiengesellschaft trotz seiner eigenverantwortlichen Leitungsbefugnis dennoch aus seinem Anstellungsverhältnis angewiesen werden? Und setzen sich gegenüber dem GmbH-Geschäftsführer und dem Vorstand der abhängigen bzw. eingegliederten Aktiengesellschaft die anstellungsbedingten Weisungen gegenüber anders lautenden organschaftlichen durch? Dies ist die Frage nach der Priorität von Gesellschaftsrecht oder Dienstrecht. Neu ist diese Frage nicht. Sie wurde bereits Anfang der achtziger Jahre namentlich für die GmbH diskutiert und kann heute in dem Sinne als geklärt angesehen werden, dass die auf Gesetz und Satzung beruhenden Pflichten des Organs Vorrang haben, dass also die organisationsrechtlichen Strukturen nicht durch den Anstellungsvertrag und durch darauf gestützte Weisungen verdrängt werden können. Die schuldrechtliche Gestaltungsfreiheit und entsprechende Weisungen haben dort ihre Grenzen, wo sie an die gesetzlichen und satzungsmäßigen Anforderungen und Pflichten des Geschäftsführers stoßen. Davon kann der Geschäftsführer nicht freigestellt werden und zu einem Verstoß dagegen kann er nicht angewiesen werden.16 14 Seit BGHZ 10, 187, 191; 36, 142, 143 ständige Rspr.; Hüffer, Kommentar zum AktG, § 84 Rn. 11; Raiser Kapitalgesellschaften, § 14 Rn. 45. 15 Baumbach/Hueck GmbHG -Zöllner (Fn. 11) § 35 Rn. 97 ff. 16 Fleck ZHR 145 (1985), S. 387, 398, 401, 402. Hueck ZfA 1985, 25, 36; Martens, FS Hilger/Stumpf, S. 437, 442 ff., 447; ders., FS Werner, S. 506 f.; Stein in Hachenburg, Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Großkommentar, 8. Auflage, 1996, § 35 Rn. 174; Baums Geschäftsleitervertrag, S. 90; unklar Winter GmbHR 1965, 195, 196, der nicht zwischen Organ- und Anstellungsverhältnis unterscheidet.

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Auch der weisungsunterworfene Geschäftsführer der GmbH unterliegt daher in erster Linie Gesetz und Satzung. Dieser Bereich ist nicht disponibel und vertragliche Regelungen, die dagegen verstoßen, sind unwirksam, darauf gestützte Weisungen sind unbeachtlich. So kann der Geschäftsführer nicht angewiesen werden, etwa gegen die gesetzlichen Kapitalschutzregelungen zu verstoßen oder gegen Buchhaltungspflichten oder gegen die Grundsätze ordnungsgemäßer Bilanzierung; dies übrigens auch nicht durch organschaftliche Weisungen der Gesellschafterversammlung. Für die Aktiengesellschaft kann nichts anderes gelten.17 Die Begründung ergibt sich dort aus dem Gesetz. § 23 Abs. 5 AktG enthält den Grundsatz der Satzungsstrenge. Abweichungen von den Vorschriften des Aktiengesetzes sind danach nur zulässig, soweit das Aktiengesetz diese Abweichungen ausdrücklich zulässt. Zwingender Natur sind insbesondere die Normen, die den Zuständigkeitsbereich des Vorstands regeln. Dazu gehört die Kompetenzregelung des Vorstands zur eigenverantwortlichen Leitung der Gesellschaft (§ 76 Abs. 1 AktG).18 Strukturell Gleiches gilt für die abhängige bzw. eingegliederte Aktiengesellschaft. Auch wenn dem Vorstand dort sogar für die Gesellschaft wirtschaftlich nachteilige Weisungen erteilt werden können (§ 308 Abs. 1 Satz 2 AktG, § 323 Abs. 1 AktG), ergeben sich Grenzen aus den zwingenden Vorschriften des Aktienrechts und der grundsätzlich fortbestehenden eigenverantwortlichen Leitung, soweit der Beherrschungsvertrag und die Eingliederungsfolgen nicht eingreifen.19 Diese Grenzen können schuldrechtlich, durch dienstrechtliche Weisungen, nicht überschritten werden. d) Welche Folgerungen ergeben sich aus den vorstehenden Untersuchungen zu den organschaftlichen und vertraglichen Weisungsrechten und ihrem Verhältnis zueinander für Drittanstellungsverhältnisse in der Aktiengesellschaft? Werden solche Drittanstellungsverhältnisse bei dem weisungsgebundenen GmbH-Geschäftsführer akzeptiert, möchte man annehmen, dass sie wegen der Weisungsfreiheit des Vorstands bei der Aktiengesellschaft dort unzulässig sind, wie es tatsächlich bisweilen begründet wird. Diese Folgerung wird von den vorstehenden Feststellungen aber gerade nicht gestützt: Wenn die gesetzlichen und satzungsmäßigen Organpflichten einen weisungsfreien Kernbereich bilden, dann kann darin durch Weisungen aus der Anstellungsebene nicht eingegrifMartens, FS Werner, S. 507 f.; Kölner Komm. AktG-Martens (Fn.5) § 84 Rn. 51. Hüffer, Kommentar zum AktG, § 23 Rn. 36; § 76 Rn. 4; MünchHdb AG -Wiesner, § 6 Nr. 10. 19 Hüffer, Kommentar zum AktG, § 308 Rn. 13 f., § 323 Rn. 3. 17 18

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fen werden. Die Organpflichten sind gewissermaßen weisungsresistent und zwar sowohl bei der GmbH wie auch in viel weiterem Umfang bei der Aktiengesellschaft. In diese Pflichten kann der anstellungsrechtliche Dienstherr des Organs nicht eingreifen, sodass sich die anstellungsrechtliche Weisungsunterworfenheit des Organs nicht danach unterscheidet, ob es bei der von ihm geführten Gesellschaft eigenangestellt oder ob es drittangestellt ist. Zu Recht hat deshalb Martens, wenn auch nur beiläufig, 20 darauf hingewiesen, dass wegen des Vorrangs des Gesellschaftsrechts kein grundsätzlicher Unterschied zwischen den Fällen der eigen- und der drittangestellten Organpersonen bestehe. Deshalb lässt sich aus der Weisungsfreiheit des Vorstands nichts gegen dessen Drittanstellung herleiten. Dieser unterliegt keinen anstellungsrechtlichen Weisungen, einerlei wo er angestellt ist, bei der eigenen Aktiengesellschaft oder bei einem Dritten. Er ist anstellungsrechtlich nicht weisungsunterworfen, eben weil er es auch gesellschaftsrechtlich, korporativ, nach seiner Organstellung nicht ist. Unter Weisungsgesichtspunkten spricht deshalb nichts gegen eine Drittanstellung des Vorstandes. Ebenso wenig wie der Aufsichtsrat des eigenangestellten Vorstands diesen anweisen kann, könnte es ein dritter Dienstherr. Deshalb ist jedenfalls unter diesem Weisungsaspekt der Vorstand einer Aktiengesellschaft sogar eher als ein GmbH-Geschäftsführer für eine Drittanstellung prädestiniert. Nachdem der GmbH-Geschäftsführer nämlich auch organschaftlich weisungsunterworfen ist, stellt sich bei diesem durchaus die Frage, ob dessen Dienstherr bei einer Drittanstellung jedenfalls insoweit anstellungsbegründete Weisungen erteilen kann, als die Gesellschafterversammlung von ihrem entsprechenden korporativen Recht keinen Gebrauch macht. Ebenso sind dort Abstimmungsfragen zwischen Gesellschafterversammlung und Drittdienstherr denkbar, weil im GmbH-Recht Weisungen nicht ausgeschlossen, sondern erlaubt sind. Vor diesem Hintergrund verwundert es deshalb, wenn mit der Weisungsgebundenheit des GmbH-Geschäftsführers begründet wird, dass dieser drittangestellt werden könne, der Vorstand einer Aktiengesellschaft dagegen nicht. Gerade wegen der Weisungsfreiheit des Vorstands lässt sich dieses schwerlich vertreten. Infolge der klaren gesetzlichen Leitungsverantwortung des Vorstands stellen sich dort im Grundsatz keine Abgrenzungsfragen, anders als bei der GmbH. Bei der abhängigen bzw. eingegliederten Aktiengesellschaft ähnelt die Lage derjenigen bei der GmbH. Das korporative Weisungsrecht des herrschenden Unternehmens bzw. der Hauptgesellschaft entspricht strukturell demjenigen der Gesellschafterversammlung bei der GmbH. 20

Festschrift, Hilger/Stumpf, S. 437, 447 Fn. 24.

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Ist der Vorstand der abhängigen bzw. eingegliederten Gesellschaft bei der herrschenden bzw. Hauptgesellschaft angestellt, lässt sich faktisch zwischen ihren organschaftlichen Weisungen (§§ 308 Abs. 1 Satz 1, 323 Abs. 1AktG) einerseits und solchen aus dem Anstellungsverhältnis andererseits kaum unterscheiden. Eine solche Drittanstellung ist, zumindest unter dem hier untersuchten Gesichtspunkt, ob die Weisungsstrukturen eine Drittanstellung verbieten, unproblematisch. Grenze der anstellungsrechtlichen Weisungen ist auch in diesen Fällen der dem Vorstand verbleibende Kernbereich, doch darf die herrschende bzw. Hauptgesellschaft in diesen Kernbereich schon gesellschaftsrechtlich nicht eingreifen, weshalb sich nach dem dargelegten Vorrang des Gesellschaftsrechts widersprechende anstellungsrechtliche Weisungen ebenfalls verbieten. In den Fällen der abhängigen bzw. eingegliederten Aktiengesellschaft kann sich ein Spannungsverhältnis gerade bei dem eigenangestellten Vorstand ergeben, der anstellungsrechtlich seinem eigenen Aufsichtsrat, gesellschaftsrechtlich aber der herrschenden bzw. der Hauptgesellschaft zu folgen hat. Auch hier geht nach dem oben dargelegten Grundsatz die gesellschaftsrechtliche, korporative Seite dem Anstellungsverhältnis vor. Der Aufsichtsrat kann sich deshalb gegenüber der herrschenden bzw. Hauptgesellschaft weisungsrechtlich nicht durchsetzen, ganz abgesehen davon, dass ihm wegen der aktienrechtlichen Strukturen ohnedies keine originären Weisungsrechte gegenüber dem Vorstand zukommen. e) Fasst man die vorstehende Betrachtung zusammen, ist festzustellen, dass in der Aktiengesellschaft jedenfalls die (fehlenden) Weisungsverhältnisse einer Drittanstellung des Vorstands nicht entgegenstehen. Dies gilt sowohl für die unabhängige Aktiengesellschaft wie für die eingegliederte oder abhängige. Bei der ersteren können sich Weisungsrechte Dritter aus einem Anstellungsverhältnis gegenüber der vorrangigen organschaftlichen Weisungsfreiheit und der eigenverantwortlichen Leitung der Aktiengesellschaft durch den Vorstand (§ 76 Abs. 1 AktG) nicht durchsetzen und im letzten Fall der abhängigen oder eingegliederten Aktiengesellschaft werden sich schon rein tatsächlich die zulässigen organschaftlichen Weisungen mit denjenigen aus dem Anstellungsverhältnis decken, sofern der Vorstand bei der herrschenden bzw. Hauptgesellschaft angestellt sein sollte. 3. Die bislang betrachteten Weisungsverhältnisse innerhalb der Kapitalgesellschaft sind ein wesentlicher Teil der Zuständigkeitsordnung, weil sie die Aufgaben der Organe bei der Führung und der laufenden Verwaltung der Gesellschaft abgrenzen und dabei die internen Abhängigkeiten festlegen. Dies ist indessen nur ein Teilaspekt der umfassenderen Zuständigkeitsordnung. Teil der Zuständigkeitsordnung sind auch die der laufenden opera-

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tiven Führung vorgelagerten Fragen der Bestellungskompetenz. Wenn einer Drittanstellung des Vorstands der Weisungsaspekt nicht entgegensteht, ist weiter zu klären, ob dies gleichermaßen auch für den Bestellungsaspekt gelten kann. Bejahendenfalls wären damit die Bedenken oder die jedenfalls verhaltenen Stellungnahmen der Literatur21 ausgeräumt. a) Diese Bedenken könnten sich auf erste Sicht möglicherweise mit dem Trennungsprinzip zwischen Bestellung und Anstellung ausräumen lassen. Die Anstellung des Organs ist – wie oben dargelegt – als schuldrechtliches Begleitgeschäft von dem organschaftlichen Bestellungsakt zu trennen. Selbst wenn daher das Organ bei einem Dritten angestellt wird oder bleibt, greift dies in die Bestellungskompetenz des dafür zuständigen Gremiums – also die des Aufsichtsrats bei der Aktiengesellschaft (§ 84 Abs. 1 Satz 1 AktG) und die der Gesellschafterversammlung bei der GmbH (§ 46 Nr. 5 GmbHG) – nicht ein. Von mehr als der Bestellung und Abberufung der Geschäftsführer ist in § 46 Nr. 5 GmbHG nicht die Rede, sodass daraus geschlossen werden könnte, die Regelung des Anstellungsverhältnisses könne einem Dritten überlassen werden. Spezifischer ist insoweit zwar das Aktiengesetz, indem es in § 84 Abs. 1 Satz 5 den Anstellungsvertrag des Vorstands ausdrücklich anspricht und dafür auf die sinngemäße Anwendung der Regelungen verweist, die für den korporativen Akt der Bestellung des Vorstands gelten. Damit wird zwar eine Zuständigkeit des Aufsichtsrats auch für den Anstellungsvertrag und dessen Inhalt begründet, doch muss daraus zwingend folgen, dass Partner dieses inhaltlich vom Aufsichtsrat festgelegten Anstellungsvertrags die eigene Aktiengesellschaft zu sein hat? Weshalb sollte in den inhaltlich so durch den Aufsichtsrat bestimmten Anstellungsvertrag des Vorstands nicht ein Dritter als Dienstherr eintreten? b) Dies macht eine Klärung der Bestellungsfragen und dabei insbesondere den Blick auf die Einbeziehung Dritter erforderlich. Bei der GmbH wird die Geschäftsführung von der Gesellschafterversammlung bestellt und abberufen (§ 46 Nr. 5 GmbHG). Umfasst davon sind als so genannte Annexkompetenz auch Abschluss und Beendigung des Anstellungsvertrags des Geschäftsführers 22 und zwar sowohl hinsichtlich der internen Willensbildung über die Anstellungsbedingungen als auch hinsichtlich der Vertretung der GmbH bei dem Vertragsabschluss. Abweichendes gilt insoweit für Gesellschaften, die dem Mitbestimmungsgesetz unterliegen, worauf später noch einzuge21 22

oben Fn. 5 und 6. Etwa: Baumbach/Hueck GmbHG -Zöllner (Fn.11) § 35 Rn. 50 a, 95, § 46 Rn. 24.

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hen ist. Die umfassende Zuständigkeit der Gesellschafterversammlung in Fragen der organschaftlichen Bestellung, der schuldrechtlichen Anstellung sowie der Vertretung gegenüber dem Geschäftsführer ist die gesetzliche Normallage bei der GmbH. Davon sind Abweichungen zulässig. Diese Kompetenzen können auf andere Organe, so etwa auf einen Beirat oder einen Gesellschafterausschuss, verlagert werden.23 Entsprechende Satzungsregelungen lässt das GmbH-Gesetz wegen seines weithin dispositiven Charakters in § 45 Abs. 2 ausdrücklich zu. So kann die Bestellungskompetenz auch einzelnen Gesellschaftern, etwa durch Entsendungsrechte, und nach h. A. sogar Dritten zugewiesen werden. Diese werden dann kraft Zuweisung für die Gesellschafterversammlung organschaftlich tätig.24 Der Schutz und die Selbstbestimmung der GmbH bleiben durch die fortbestehende Abberufungskompetenz der Gesellschafterversammlung jedenfalls bei wichtigem Grund gewahrt. Außerdem verbleibt der Gesellschafterversammlung die jederzeitige Befugnis, die entsprechenden Verlagerungsregelungen der Satzung auch ohne Zustimmung der dadurch bedachten Dritten zu ändern.25 Obgleich daher in der GmbH die Gesellschafterversammlung neben der Bestellung auch für die Anstellungsseite der Geschäftsführung zuständig ist, handelt es sich dabei dennoch nicht um eine gebundene Kompetenz. Die Satzung und damit die Gesellschafterversammlung kann diese Kompetenz übertragen, auf Gesellschafter und sogar auf Dritte. Die Kompetenzordnung bei der GmbH verbietet deshalb die Auslagerung des Anstellungsverhältnisses auf einen Dritten nicht.26 Dies ist letztlich eine Entscheidung der dafür originär zuständigen Gesellschafterversammlung. Betrachtet man dazu die Lage bei der Aktiengesellschaft, ist zunächst festzustellen, dass sowohl die Bestellung wie die Anstellungsbedingungen des Vorstands Sache des Aufsichtsrats sind (§ 84 Abs. 1 AktG). Anders als bei der GmbH ist die Anstellungsseite hier ausdrücklich im Gesetz erwähnt. Dies war übrigens nicht immer so und ist auch nicht zwingend, denn nach dem früheren HGB legte die Satzung selbst die Art der Bestellung des Vorstands fest. Dies änderte sich im heutigen Sinne der Zuständigkeit des Aufsichtsrats erst durch das Aktiengesetz von 1937. 27 Eine Übertragung dieser Aufgaben ist kraft Gesetzes zugelassen auf einen Aufsichtsratsausschuss, der aus der Mitte des AufEtwa: Baumbach/Hueck GmbHG–Zöllner (Fn. 11) § 6 Rn. 18, § 35 Rn. 6, § 46 Rn. 63. Baumbach/Hueck GmbHG – Zöllner (Fn. 11) § 6 Rn. 18, 18a, mit umfangreichen weiteren Nachweisen; restriktiver wohl Zöllner, ebenda § 47 Rn. 64 f. 25 Baumbach/Hueck GmbHG –Zöllner (Fn. 11) § 6 Rn. 18. 26 BGH WM 1964, 1320, 1321; kritisch zu dieser Entscheidung Winter GmbHR 1965, 195. 27 Dazu: Baums Geschäftsleitervertrag, S. 64, 71. 23 24

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sichtsrats, also ausschließlich aus den Mitgliedern des betreffenden Aufsichtsrats,28 gebildet werden kann (§ 107 Abs. 3 Satz 1 AktG). Dies ist der häufig so bezeichnete Personalausschuss, Präsidialausschuss oder das Aufsichtsratspräsidium. Aber auch diese Übertragungsmöglichkeit umfasst allein die Anstellungsfragen, also die schuldrechtlichen Konditionen der Tätigkeit, nicht hingegen umfasst sie die organschaftliche Berufung des Vorstands als solche. § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG legt nämlich ausdrücklich fest, dass die Bestellung und die Abberufung des Vorstands nicht einem Ausschuss übertragen werden dürfen. Und ferner hat ein solcher Ausschuss bei den Anstellungsbedingungen eine lediglich akzessorische Regelungskompetenz,29 die den Entscheidungen des Aufsichtsratsplenums zur Bestellung und Abberufung des Vorstands nachfolgt, ihnen keinesfalls aber vorgreifen darf. Selbst faktisch, etwa durch Schaffung entsprechender wirtschaftlicher Verhältnisse, wie beispielsweise einem verfrühten Abschluss des Anstellungsvertrags oder Vereinbarung einer die organschaftliche Bestellungsdauer überschreitenden Vertragslaufzeit, darf der Ausschuss das Aufsichtsratsplenum in der organschaftlichen Bestellungsfrage nicht präjudizieren. Die Entscheidung, mit wem ein Anstellungsvertrag geschlossen wird, bleibt Sache des Aufsichtsratsplenums und zwar ohne jede Einschränkung. 30 Als Zwischenergebnis lässt sich somit feststellen, dass das Aktienrecht eine Verlagerung der Kompetenzen im Bereich des Anstellungsvertrags zwar zulässt, anders als im GmbH-Recht aber nicht an externe Gremien oder Personen,31 sondern nur an einen Aufsichtsratsausschuss, also an eine Einheit, die nichts anders als eine personelle Teilmenge des Aufsichtsrats selbst ist. Dies ist ein struktureller Unterschied zu der bei der GmbH vorgefundenen Rechtslage, die eine echte externe Kompetenzübertragung zulässt. Und auch im Verhältnis von Aufsichtsratsplenum zu Ausschuss zeigt sich der klare Vorrang des Plenums, das durch die Vorstellungen des Ausschusses in seinen Entscheidungen über Bestellung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern nicht festgelegt werden darf, weder rechtlich noch faktisch. Eine weitergehende Delegation von Kompetenzen des Aufsichtsrats lässt das Aktienrecht nicht zu. Dies gilt insbesondere für die organschaftliche Bestellungs- und Abberufungsbefugnis, die nicht nur einem Aufsichtsratsausschuss nicht übertragen werden darf (§ 107 Abs. 3 Satz 2 AktG), sondern auch nicht der Hauptversammlung oder einem einzelnen Aktionär oder einem herrschenden Unternehmen, genauso wenig wie einem sonstigen Dritten. Dies ist einhellige und ungeteilte An28 29 30 31

Hüffer, Kommentar zum AktG, § 107 Rn. 16. BGHZ 79, 38, 43. Etwa: BGHZ 79, 38 41 f.; Baums Geschäftsleitervertrag, S. 69, 74 ff. Baums Geschäftsleitervertrag, S. 72 f.; Raiser Kapitalgesellschaften, § 14 Rn. 47.

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sicht.32 Es ist Ausfluss der Satzungsstrenge des Aktiengesetzes, wonach von den gesetzlichen Vorschriften nur abgewichen werden kann, soweit dies ausdrücklich zugelassen ist (§ 23 Abs. 5 Satz 1 AktG). Und zwingender Natur in diesem Sinne sind die Zuständigkeiten der Organe, darunter diejenigen des Aufsichtsrats.33 Auch bei einer abhängigen oder eingegliederten Aktiengesellschaft ändert sich an den beschriebenen Zuständigkeiten und Kompetenzen des Aufsichtsrats nichts. 34 Die abhängige bzw. eingegliederte Aktiengesellschaft bleibt juristisch als eigenständig bestehen, lediglich die operative Leitung ist ihr genommen, soweit die Beherrschungs- und Leitungsbefugnisse der herrschenden Gesellschaft reichen. Dabei wäre in diesen Fällen, in denen sich die herrschende Gesellschaft über Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats der abhängigen bzw. eingegliederten Gesellschaft nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG sogar hinwegsetzen kann (§ § 308 Abs. 3, 323 AktG), auch eine entsprechende Verlagerung der Personalkompetenz am ehesten denkbar. Diesen Weg hat das Aktiengesetz jedoch nicht gewählt, sodass er auch satzungsmäßig oder durch Weisung oder durch entsprechende freiwillige Kompetenzverlagerung des Aufsichtsrats der abhängigen Gesellschaft nicht beschritten werden kann (§ 23 Abs. 5 Satz 1 AktG).35 Schließlich gilt das vorstehende aktienrechtliche Regelungsmuster über § 31 Abs. 1 MitbestG für alle Gesellschaften mit beschränkter Haftung, die dem Mitbestimmungsgesetz 1976 unterliegen. Im Bereich der GmbH führt das Mitbestimmungsgesetz 1976 deshalb zu einer Aufhebung der GmbH-typischen Regelungsfreiheit, soweit es um die Bestellung und Abberufung der Geschäftsführer und deren Anstellungsverhältnisse geht. Dafür ist ausschließlich der Aufsichtsrat zuständig, und zwar auch für den Anstellungsvertrag. 36 Auch hier gilt, dass Satzung oder Beschlüsse des Aufsichtsrats keine Kompetenzverlagerungen auf die Gesellschafterversammlung, Ausschüsse, herrschende Unternehmen oder dritte Gremien bewirken können. Das Mitbestimmungsgesetz 1976 führt dann auch in der GmbH zu einer ausschließlichen Personalkompetenz des Aufsichtsrats. 37 Der mitbestimmten GmbH ist damit das zwingende aktienrechtliche Kompetenzkorsett angelegt, soBaums Geschäftsleitervertrag, S. 66, 73; BGHZ 89, 48, 54. Allgemeine Ansicht, etwa: Hüffer, Kommentar zum AktG, § 23 Rn. 36; MünchHdbAG -Wiesner, § 6 Rn. 10; Baums Geschäftsleitervertrag, S. 64, 66; MünchKommAktG-Hefermehl/Spindler (Fn.5), § 84 Rn. 1. 34 Hüffer AktG, § 291 Rn. 10. 35 Im Ergebnis ebenso: Baums Geschäftsleitervertrag, S. 66, 73. 36 Von dem in § 31 Abs. 1 MitbestG nicht die Rede ist. 37 Raiser MitbestG, § 31 Rn. 6 f.; 20. ff. 32 33

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weit es bei ihr um die Bestellung und Anstellung ihres Führungspersonals geht. Fasst man die Kompetenzordnung für die Aktiengesellschaft zusammen, zeigt sich ein von der Lage bei der GmbH abweichender Befund. Anders als dort besteht bei der Aktiengesellschaft eine zwingende Anbindung der organschaftlichen wie auch der Anstellungskompetenz an den Aufsichtsrat. Davon kann nicht abgewichen werden, sieht man von der Einbeziehung eines aufsichtsratsinternen Ausschusses bei den Anstellungsfragen einmal ab. Und dieser Befund gilt auch in den Fällen der Beherrschung und der Eingliederung, ja er gilt sogar in der GmbH, wenn diese dem Mitbestimmungsgesetz 1976 unterliegt. Feststellen lässt sich danach jedenfalls als weiteres Zwischenergebnis, dass die Übertragung von Anstellungsfragen auf Dritte bei der Aktiengesellschaft grundlegenden Organisationsmerkmalen dieser Rechtsform widerspricht, was sich für die GmbH nicht feststellen lässt, jedenfalls soweit diese nicht mitbestimmt ist.

III. Fazit Für die Ausgangsfrage nach der Zulässigkeit von Drittanstellungsverhältnissen haben die vorstehenden Untersuchungen zur Zuständigkeitsordnung Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede zwischen der GmbH und der Aktiengesellschaft gezeigt. Bei den Weisungsbefugnissen gegenüber der Geschäftsleitung gehen GmbHund Aktienrecht getrennte Wege. Korporativ steht der Weisungsunterworfenheit des Geschäftsführers die weisungsfreie, eigenverantwortliche Leitung der Aktiengesellschaft durch den Vorstand gegenüber. Doch ein Grund gegen eine Drittanstellung des Vorstands ließ sich daraus nicht ableiten: Weisungsbefugnisse, denen der Vorstand nach seinem Anstellungsverhältnis unterliegt, finden ihre Grenze nämlich an der organschaftlichen Eigenständigkeit des Vorstands. Ob daher der Vorstand eigen- oder drittangestellt ist, anstellungsvertragliche Weisungen, die in seine Stellung als Organ eingreifen, sind unbeachtlich, mögen diese im Falle einer Eigenanstellung durch den Aufsichtsrat erfolgen oder im Falle einer Drittanstellung durch Externe. Nachdem daher die organschaftliche Stellung das Maß der Dinge ist, der gegenüber sich anstellungsvertragliche Weisungen nicht durchsetzen, verbinden sich mit solchen Weisungen jedenfalls keine Gefahren für die Leitungsverantwortung des Vorstands (§ 76 Abs. 1 AktG), die Ausfluss seiner vorrangigen organschaftlichen Stellung ist. Eine Drittanstellung des Vorstands kollidiert deshalb wegen der Subsidiarität des Anstellungsverhält-

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nisses nicht mit dem Organisationsmerkmal der weisungsfreien, eigenverantwortlichen Leitung der Aktiengesellschaft durch den Vorstand. Dies gilt erst recht in Beherrschungs- und Eingliederungsfällen, weil dort Weisungsfreiheit gerade nicht besteht, und der Restbereich an eigenständiger Leitungsverantwortung, der auch dort noch verbleibt, ebenfalls vor dienstrechtlichen Weisungen Bestand behält. Zu einem anderen Resultat für die Drittanstellung des Vorstands kann deshalb nur der zweite Teilaspekt der Zuständigkeitsordnung führen, nämlich das innere Kompetenzgefüge. Die Untersuchungen dazu haben ergeben, dass in der Aktiengesellschaft, anders als in der GmbH, weder die Bestellung des Organs noch die Entscheidung über seine Anstellungsbedingungen auf Gremien oder Dritte außerhalb des Aufsichtsrats verlagert werden können. Der Aufsichtsrat ist deshalb der alleinige Partner des Vorstands und zwar nicht nur bei der Vertretung der Aktiengesellschaft (§ 112 AktG), sondern bei der organschaftlichen Bestellung und Abberufung und auch bei der Gestaltung der schuldrechtlichen Anstellungsbedingungen (§ 84 Abs. 1 AktG). Die Einbeziehung Dritter ist bei den Bestellungsfragen gänzlich ausgeschlossen und bei den Anstellungsfragen ist sie auf einen Aufsichtsratsausschuss beschränkt, bei dem aber organisationsrechtlich kaum von einem echten Dritten die Rede sein kann. Damit verbietet das Aktienrecht im Vorstandsbereich jede Kompetenzänderung, die in die strikte und umfassende Zuständigkeit des Aufsichtsrats für den Vorstand eingreift. Und dies gilt gleichermaßen für die beherrschte wie für die eingegliederte Aktiengesellschaft, denn auch dort ist trotz des Eingriffs in die grundsätzliche Weisungsfreiheit des Vorstands die Personalkompetenz bei der beherrschten bzw. eingegliederten Gesellschaft verblieben. Ob dies der Organisationsordnung nach zwingend ist, ließe sich angesichts der dortigen Zurückdrängung des Aufsichtsrats der Untergesellschaft (§§ 308 Abs. 3, 323 AktG) sicher diskutieren, es entspricht aber der geltenden Rechtslage. Bei der GmbH gelten diese Prinzipien dann deckungsgleich, sofern sie dem Mitbestimmungsgesetz 1976 unterliegt. Dieses Kompetenzgefüge steht der Zulässigkeit von Drittanstellungsverträgen in der Aktiengesellschaft entgegen. Mit der Anstellung des Vorstands bei einem Dritten, sei dies der Mehrheits- oder Alleingesellschafter oder die herrschende Gesellschaft, würde dieser Dritte Einfluss auf das Anstellungsverhältnis des Vorstands erhalten und damit in die dem Aufsichtsrat ebenfalls zugewiesenen dienstrechtlichen Kompetenzen eingreifen. Dass selbst mittelbare Eingriffe darin oder auch nur Einflüsse darauf unzulässig sind, ergibt sich bereits daraus, dass sogar der Aufsichtsratsausschuss alles zu unterlassen hat, was das Aufsichtsratsplenum in seiner Bestellungs- oder Abberufungsentscheidung auch nur wirtschaftlich präjudizieren könnte. Berücksichtigt man, dass der Aufsichtsratsausschuss personell lediglich eine Teilmenge des Aufsichtsratsplenums selbst ist, wird

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deutlich, dass das Aktienrecht den Aufsichtsrat erst recht vor jedem echten Dritteinfluss abschirmt. Ein solcher Einfluss wäre bei einer Drittanstellung des Vorstands unvermeidbar, wie auch immer diese Drittanstellung gestaltet würde: Ein Abschluss des Vorstands-Dienstvertrags in eigenem Namen und auf eigene Rechnung des Dritten ohne Beteiligung des Aufsichtsrats liefe, wie schon dargelegt, § 84 Abs. 1 Satz 5 AktG zuwider, weil damit die Anstellungsbedingungen unzulässigerweise in fremde Hände gelegt würden. Ließe man abweichend davon den Aufsichtsrat (oder seinen Personalausschuss) über die Anstellungsbedingungen entscheiden, den Anstellungsvertrag dann aber zu diesen vorgegebenen Bedingungen durch den Dritten in eigenem Namen abschließen, wäre zunächst den materiellen Kompetenzen des Aufsichtsrats Rechnung getragen. Allerdings „lebt“ das Anstellungsverhältnis, wenn man etwa an seine laufende Abwicklung von Urlaubs- über Krankheitsfragen bis hin zur Veränderung der wirtschaftlichen Bedingungen oder an seine Beendigung denkt. Für diese Fälle wäre Dienstherr der Dritte und mit allen Maßnahmen könnte er über die Ebene des Dienstrechts auch Einfluss auf die Ebene der Bestellung gewinnen. So könnte er als Dienstherr etwa den Anstellungsvertrag aus ihm wichtig erscheinenden Gründen kündigen, während der Aufsichtsrat keine Veranlassung zu einer deckungsgleichen Abberufung (§ 84 Abs. 3 AktG) sähe. Als Dienstherr könnte der Dritte auch die Bezüge verändern, was zu Änderungen etwa vereinbarter interner Verrechnungspreise oder Umlagen gegenüber der Aktiengesellschaft führen könnte. Bereits diese Beispiele zeigen, dass der Abschluss des Vorstands-Anstellungsvertrags durch einen Dritten nur dann juristisch widerspruchsfrei in die aktienrechtliche Zuständigkeitsordnung eingepasst werden könnte, wenn der Dritte seine sämtlichen dienstrechtlichen Befugnisse und Entscheidungen aus der Anstellungsebene dem Aufsichtsrat materiell und zu dessen eigener, freier Bestimmung überließe. Dies ist aber nichts anderes als das gesetzliche, zwingende Leitbild. Richtigerweise wird man deshalb annehmen müssen, dass dieses gesetzliche Leitbild es nicht zulässt, jedwede Entscheidungen, die das Anstellungsverhältnis betreffen, überhaupt auf Dritte zu verlagern. Der Abschluss des Anstellungsvertrags mit einem Dritten wäre deshalb nichts anderes als ein Formalie, die in der täglichen Praxis zwischen dem allein zuständigen Aufsichtsrat und dem formalen Dienstherren schwerlich spannungsfrei gestaltet werden könnte. Krieger 38 hat versucht, diese Spannung durch einen Vertrag zugunsten Dritter zu lösen. Vertragspartner des Anstellungsvertrags sei danach der fremde Dienstherr, wogegen die Aktiengesellschaft selbst einen eigenen schuldrechtlichen Anspruch auf die Leistungen des Vorstands erwerbe (§ 328 Abs. 2 BGB ). Die schuldrechtlichen Grundlagen würden danach zwischen 38

Krieger Personalentscheidungen, S. 187; vor ihm bereits Winter GmbHR 1965, 195 f.

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dem Vorstand und dem dritten Dienstherrn geregelt und nicht der Aktiengesellschaft. Dieses Modell widerspricht der gesetzlich ausschließlichen Kompetenz des Aufsichtsrats für die Anstellungsbedingungen (§ 85 Abs. 1 Satz 5 AktG) und greift damit auch mittelbar in die organschaftliche Bestellungskompetenz des Aufsichtsrats ein. Über interne Erstattungs- und Rückbelastungsvereinbarungen, die zwischen dem Dritten und dem Aufsichtsrat für die Aktiengesellschaft geschlossen werden könnten, 39 lässt sich der unzulässige Eingriff in die gesetzlichen Kompetenzen des Aufsichtsrats nicht korrigieren. Im Ergebnis erweist sich danach, dass eine Drittanstellung in der Aktiengesellschaft unzulässig ist. Sie widerspricht zwar nicht den Weisungsverhältnissen, wohl aber der aktienrechtlichen Kompetenzordnung, so wie der Jubilar es bündig festgestellt hat. 40 Für die ihrer Zahl nach zunehmenden kleinen Aktiengesellschaften bedeutet dies, dass sich Vorstands-Anstellungsverträge mit dem Mehrheits- oder Alleinaktionär verbieten, bei der AG & Co. KG ist der Vorstand bei der Komplementär AG anzustellen – was von der bei der GmbH & Co. KG üblichen Gestaltung abweicht – und auch in Fällen der Beherrschung oder Eingliederung wie auch bei sonstigen Konzerngestaltungen sind die Anstellungsverträge des Vorstands mit der konkret geführten Aktiengesellschaft abzuschließen.

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Krieger Personalentscheidungen, S. 187 f. Raiser Kapitalgesellschaften, § 14 Rn. 47.

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Rechtsfolgen nachträglicher Diskrepanz zwischen Satzungssitz und tatsächlichem Sitz der GmbH – § 4a Abs. 2 GmbHG als Schlag ins Wasser? –

Peter Ulmer

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I. Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Beurteilungsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die rechtliche Bedeutung des (Satzungs-)Sitzes . . . . . . . . . . 2. Die Anforderungen des § 4a Abs. 2 GmbHG an die Sitzwahl . . . 3. Die Unterscheidung zwischen der Verlegung des tatsächlichen oder des Satzungssitzes als jeweilige Ursache für das Auseinanderfallen der beiden Sitzorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die nachträgliche Verlegung des tatsächlichen Sitzes und ihre Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nichtigkeit der Bestimmung des Satzungssitzes? . . . . . . . . . 2. Analogie zu § 144a Abs. 4 FGG? . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kontrollüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Das Problem Das Aktienrecht schreibt seit der Aktienrechtsreform 1937 in § 5 Abs. 2 AktG vor, dass der (Satzungs-)Sitz der Aktiengesellschaft „in der Regel“ nach einem derjenigen Orte zu bestimmen ist, an denen sich ein Betrieb der Gesellschaft, die Geschäftsleitung oder die Verwaltung befindet. Zweck der Regelung ist es einerseits, Gesellschaftsgläubigern die Verfolgung ihrer Ansprüche und den Zugriff auf das Gesellschaftsvermögen ohne aufwändige Ermittlungen zu ermöglichen. Andererseits soll dadurch erreicht werden, dass fristenauslösende Verfügungen der Registergerichte (§ 16 FGG ) den im jeweiligen Register eingetragenen Gesellschaften innerhalb des Registerbezirks zugestellt werden können, um eine effiziente Tätigkeit dieser Gerichte entsprechend den Vorschriften über ihre örtliche Zuständigkeit

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(§§ 14, 36 AktG) sicherzustellen.1 Es geht m.a.W. darum, an dem – nach § 80 Abs. 1 AktG publizitätspflichtigen – Satzungssitz nicht nur die Erreichbarkeit der Gesellschaften für Gläubiger, sondern auch die Möglichkeit von Amtszustellungen (§§ 166 ff. ZPO ) zu gewährleisten. Abweichend von dieser aktienrechtlichen Regelung wurde für das GmbHRecht die freie Sitzwahl der Gründer oder späterer Gesellschafter viele Jahrzehnte lang als Ausdruck der Satzungsautonomie betont. Ihre Grenze sollte diese Wahlfreiheit, vom unverzichtbaren Erfordernis eines inländischen Sitzes abgesehen,2 nur in Fällen rein fiktiver oder aus sonstigen Gründen missbräuchlicher Sitzwahl finden.3 Dementsprechend lehnte man die analoge Anwendung des § 5 Abs. 2 AktG ganz überwiegend ab.4 Auch der (nicht Gesetz gewordene) Regierungsentwurf einer großen GmbH-Reform 1971/1973 verzichtete abweichend vom Referentenentwurf 1969 darauf, die aktienrechtlichen Anforderungen an die Sitzwahl in das GmbH-Recht zu übernehmen. In der nicht nur durch die außerordentlich starke Verbreitung der Rechtsform der GmbH, sondern auch durch deren hohe Insolvenzanfälligkeit gekennzeichneten Gesellschaftspraxis machte sich das Fehlen gesetzlicher Sitzvorgaben vor allem mit Blick auf spätere tatsächliche Verlagerungen der Tätigkeitsorte der GmbH ohne Anpassung des Satzungssitzes im Lauf der Jahre negativ bemerkbar. Wie die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Handelsrecht und Handelsregister“ in ihrem Abschlussbericht von 1994 5 feststellte, hatten Beobachtungen des DIHT ergeben, dass „sich unseriöse Gesellschaften mbH zunehmend durch (faktische) Sitzverlegungen dem Zugriff ihrer Gläubiger zu entziehen trachten und auch von Seiten der Registergerichte Zustellungen an solche Gesellschaften nur nach aufwändigen Recherchen oder gar nicht möglich sind“. Die Arbeitsgruppe empfahl deshalb, für eine „gesetzliche Klarstellung wie im Aktienrecht“ zu sorgen. Diese Empfehlung griff der Gesetzgeber des HRefG 1998 durch Einfügung des mit § 5 Abs. 2 AktG fast wortgleichen § 4a Abs. 2 GmbHG auf. Die Vorschrift trat am 1. 1. 1999 in Kraft und gilt seither auch für Altgesellschaften. 6 1

Vgl. statt aller die Gründe für die Übernahme der Regelung des § 5 Abs. 2 AktG in das

GmbHG (Amtl. Begründung zum HRefG 1998, BT-Drucks. 13/8444 S. 75). 2 EinhM, vgl. Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck GmbH-Gesetz, 17. Aufl., 2000, § 4a Rn. 3; Ulmer in Hachenburg, Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Großkommentar, 8. Aufl., 1990, § 3 Rn. 9 mwN. 3 St. Rspr. der Obergerichte, vgl. OLG Karslruhe BB 1972, 852; OLG Köln BB 1984, 1065, 1066; BayObLG BB 1981, 870 und GmbHR 1988, 23; so auch Hachenburg GmbHG Ulmer (Fn. 2) § 3 Rn. 9; Winter in Scholz, Kommentar zum GmbH-Gesetz, 6. Aufl., 1978, § 3 Rn. 9. 4 BayObLG GmbHR , 1988, 23, 24; Hachenburg GmbHG -Ulmer (Fn. 2) und Scholz GmbH-Winter aaO. (Fn. 3). 5 Beilage Nr. 148a zu BAnz v. 9. 8. 1994, S. 47. 6 EinhM, vgl. Baumbach/Hueck GmbHG -Hueck/Fastrich (Fn. 2) § 4a Rn. 1; Emmerich in Scholz, Kommentar zum GmbH-Gesetz, 9. Aufl., 2000, § 4a Rn. 21.

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Wer erwartet hatte, damit habe sich das Problem einer Diskrepanz von Satzungssitz und – nachträglich verlagertem – Tätigkeitsort der GmbH jedenfalls im rechtlichen Ansatz erledigt, sah sich freilich schon wenige Jahre später eines Besseren belehrt. Denn in einem viel beachteten Beschluss vom 20. 2. 2002 entschied das im Registerrecht seit Jahrzehnten tonangebende BayObLG , die nachträgliche faktische Verlegung des Verwaltungssitzes einer GmbH im Inland führe weder zur Nichtigkeit des Satzungssitzes noch rechtfertige sie die Einleitung eines Amtsauflösungsverfahrens nach § 144a Abs. 4 FGG . 7 Im gleichen Sinne hatte zuvor schon das LG Mannheim unter Hinweis auf gegen eine abweichende Entscheidung bestehende verfassungsrechtliche Bedenken judiziert und das Registergericht statt des Verfahrens nach § 144a FGG auf die mögliche Reaktion mit Ordnungsstrafen oder Zwangsgeldern verwiesen 8 – ein Hinweis, der in der Registerpraxis angesichts hierfür fehlender Rechtsgrundlagen mit Verwunderung zur Kenntnis genommen wurde. Die rechtliche Bewältigung der scheinbar einfachen Fallkonstellation erweist sich bei näherem Hinsehen als nicht einfach, soll dem Normzweck des § 4a Abs. 2 GmbHG angemessen Rechnung getragen werden. Das zeigt eine ausführliche, sich kritisch mit dem BayObLG -Beschluss auseinandersetzende Abhandlung; 9 deren Argumente halten trotz der teleologisch naheliegenden Kritik der Verf. ihrerseits näherer Prüfung nicht stand.10 Der Diskussionsstand mag es rechtfertigen, die Problematik als Beispiel bestehender Diskrepanzen zwischen Recht und Wirklichkeit trotz ihrer dogmatisch beschränkten Bedeutung zum Gegenstand eines Festschriftbeitrags zu machen. Hierfür bietet sich die Thomas Raiser als Kenner des Kapitalgesellschaftsrechts und der Rechtssoziologie gewidmete Festschrift in besonderer Weise an.

7 BayObLG ZIP 2002, 1400, 1401 f. entgegen LG Memmingen NZG 2002, 95, 96 (als Vorinstanz). 8 LG Mannheim GmbHR 2000, 874, 875. 9 Bandehzadeh/Thoß NZG 2002, 803, 804 ff. 10 Unzutreffend sind insbes. die Feststellungen der Verf., das BayObLG hätte aus seiner Sicht auch bei einer zum Schein getroffenen Sitzwahl keine Möglichkeit zum Einschreiten (vgl. § 117 BGB ), die Anwendung des § 144a FGG wäre danach auch bei der Handelsregistereintragung eines fehlerhaften Sitzes unter Verstoß gegen § 9c Abs. 2 GmbHG oder bei Nichtigkeit wegen nachträglicher Gesetzesänderung abzulehnen (vgl. unter II 3, III 1), sowie die Nichtigkeitsfolge sei aus § 144a Abs. 4 FGG i.V.m. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 4a Abs. 2 GmbHG herzuleiten (vgl. unter III 1 und 2).

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II. Beurteilungsgrundlagen 1. Die rechtliche Bedeutung des (Satzungs-)Sitzes Die Wahl des Satzungssitzes einer GmbH hat für die Beteiligten nicht unerhebliche Bedeutung, und zwar aus einer Mehrzahl von Gründen. Sie gehört nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 GmbHG zu den zwingenden, der Kontrolle durch das Registergericht nach § 9c Abs. 2 Nr. 1 GmbHG unterliegenden Entstehungsvoraussetzungen einer GmbH und entscheidet nach § 7 Abs. 1 GmbHG über die örtliche Zuständigkeit des Registergerichts. Zusammen mit der Firma bestimmt sie die „Identitätsausstattung“ der Gesellschaft 11 und bildet damit für diese eine Art Visitenkarte; das zeigt sich nicht zuletzt bei der Fusion insbesondere von Großunternehmen, bei der Firma und Sitz der durch die Verschmelzung neu entstandenen oder erweiterten Gesellschaft ein Thema zentraler Auseinandersetzungen der Beteiligten bilden können.12 Die Sitzwahl begründet nach § 17 Abs. 1 S. 1 ZPO den allgemeinen Gerichtsstand der Gesellschaft für gegen die Gesellschaft gerichtete Klagen Dritter unter Einschluss gesellschaftsinterner Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen 13 und definiert über die Verweisung des § 3 Abs. 1 InsO regelmäßig auch die örtliche Zuständigkeit des Insolvenzgerichts. Nach der im GmbH-Recht analog anwendbaren Vorschrift des § 121 Abs. 5 AktG bestimmt sie den Ort der Gesellschafterversammlung, wenn die Satzung keine andere Regelung enthält und auch die Gesellschafter nichts Abweichendes beschließen.14 Schließlich entscheidet sie nach § 20 Abs. 2 AO über die örtliche Zuständigkeit des für die KSt -Veranlagung zuständigen Finanzamts, sofern sich die Geschäftsleitung der Gesellschaft nicht im Inland befindet oder ihr Ort sich nicht ermitteln lässt. Die Mehrzahl der vorgenannten Anknüpfungen an den Sitzort betrifft nicht nur oder in erster Linie die Interessen der Gesellschafter, sondern auch und besonders diejenigen der Gesellschaftsgläubiger sowie den Rechtsverkehr der Gesellschaft mit Behörden und Gerichten. Diesem Außenaspekt tragen die im Jahr 1969 eingeführten Vorschriften der §§ 35a Abs. 1 GmbHG , 80 Abs. 1 AktG Rechnung, indem sie – in Umsetzung der 1. Publizitäts-

Vgl. dazu nur John, Die organisierte Rechtsperson, 1977, insbes. S. 92 ff., 130 f. Zu den Möglichkeiten eines Doppelsitzes in derartigen Fällen vgl. etwa LG Essen ZIP 2001, 1632 (Thyssen Krupp); dazu auch Katschinski ZIP 1997, 620, 621 ff. und König AG 2000, 18, 22 ff. 13 Statt aller Heider in Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl., 2000, § 5 Rn. 14; Raiser in Hachenburg, Gesetz betreffend die Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Großkommentar, 8. Aufl., 1991, Anh. § 47 Rn. 202 (Analogie zu §§ 246 Abs. 3, 249 Abs. 1 AktG). 14 BGH WM 1985, 568; Zöllner in Baumbach/Hueck Aktiengesetz, 17. Aufl., 2000, § 51 Rn. 13. 11 12

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Richtlinie der EG 15 – zwingend die Angabe des Satzungssitzes der Gesellschaft auf Geschäftsbriefen u. a. vorschreiben. Auch entspricht es ganz h.M., dass gegenüber Satzungsänderungsbeschlüssen, die eine Sitzverlegung zum Gegenstand haben, der Nichtigkeitsgrund des § 241 Nr. 3 AktG eingreift.16 Das Interesse von Gläubigern und Öffentlichkeit an der Wahl bzw. der späteren Änderung des Satzungssitzes steht nach allem außer Zweifel. Ihm ist auch mit Blick auf die Einhaltung der Anforderungen des § 4a Abs. 2 GmbHG Rechnung zu tragen (vergleiche unter III 2). 2. Die Anforderungen des § 4a Abs. 2 GmbHG an die Sitzwahl Wie vorstehend schon erwähnt, wurden die mit § 4a Abs. 2 GmbHG bzw. seiner aktienrechtlichen Vorgängernorm verbundenen Einschränkungen der freien Sitzwahl der Gesellschafter lange Zeit als gravierend angesehen mit der Folge überwiegender Ablehnung einer Analogie zu § 5 Abs. 2 AktG.17 Die Stimmen, die im Hinblick auf die Einführung des § 4a Abs. 2 GmbHG von einer „gesetzlichen Klarstellung“ sprachen 18 oder entsprechende Anforderungen an die Sitzwahl schon zuvor aus allgemeinen Grundsätzen ableiteten,19 befanden sich deutlich in der Minderzahl. Die mit Blick auf die Wahl eines fiktiven Sitzes in Rechtsprechung und Literatur betonte Schranke wurde bewusst eng gezogen, indem man bereits die postalische Erreichbarkeit der Gesellschaft am Sitzort, also das Vorhandensein eines Briefkastens oder Postfachs, als ausreichend ansah 20 und im Einzelfall sogar die postalische Erreichbarkeit in der Bundesrepublik unabhängig vom Sitzort ausreichen ließ. 21 Gegenüber dieser ungewöhnlich großzügigen Praxis hat die Regel-Anforderung des § 4a Abs. 2 GmbHG mit ihren dort alternativ genannten Anknüpfungsorten der Betriebsstätte, der Geschäftsleitung und der Verwaltungsführung zweifellos eine Einschränkung gebracht; dies zumal dann, wenn man angesichts des Normzwecks der Vorschrift davon ausgeht, dass für die Zulassung von Ausnahmen, das heißt für die Anerkennung eines höherrangigen sachlichen Interesses der Beteiligten an einer abweichenden Sitzwahl, nur in sehr seltenen Fällen Raum ist. 22 Auch fehlt es bei einer Richtlinie 68/151/ EWG v. 9. 3. 1968 ( ABl . Nr. L 65 S. 8), Art. 4. Scholz GmbHG -Emmerich (Fn. 6) § 4a Rn. 19; Hüffer AktG, 5. Aufl., 2002, § 5 Rn. 9; KG AG 1996, 421, 422. 17 Vgl. Nachw. in Fn. 3. 18 So die Amtl. Begründung zu § 4a Abs. 2 GmbHG (aaO. Fn. 1). 19 So Wessel BB 1984, 1057, 1058 f. 20 So die st. Rspr. der Obergerichte, vgl. OLG Stuttgart GmbHR 1991, 316, OLG Schleswig-Holstein GmbHR 1994, 557, und die Nachw. in Fn. 3. 21 So BayObLG GmbHR 1988, 23, 25. 22 Vgl. nur Scholz GmbHG -Emmerich (Fn. 6) § 4a Rn. 14 f. 15 16

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GmbH mit relativ geringem Geschäftsumfang, bei der sich (einziger) Betrieb, Geschäftsleitung und Verwaltungsführung typischerweise am selben Ort befinden, im Allgemeinen an einer Wahlfreiheit hinsichtlich des Satzungssitzes, sieht man von der damit zusammenhängenden (Vor-)Entscheidung der Gründer über die örtliche Wahl des tatsächlichen Sitzes ab. Sobald die Gesellschaft aber über verschiedene Betriebsstätten an zwei oder mehr Orten verfügt oder die Geschäftsleitung (bzw. Verwaltung) getrennt von den für Produktion, Vertrieb, Dienstleistungen u. a. vorgesehenen Betriebsstätten installiert, kann sie auch zwischen verschiedenen Sitzorten wählen, und dies ohne dass es darauf ankommt, an welchem dieser Orte sich der Schwerpunkt der Geschäftstätigkeit (die Haupt- oder Zentralverwaltung) befindet. 23 Selbst der bisher in der Literatur nicht selten anzutreffende Zusatz, bei dem Anknüpfungspunkt dürfe es sich nicht nur um einen untergeordneten oder Hilfsbetrieb handeln, 24 hat angesichts der Auflockerung des Zustellungsrechts durch die Reform von 200125 an Bedeutung verloren. Denn die Vorschriften der §§ 178, 180 ZPO über die Ersatzzustellung amtlicher Schriftstücke in jedem Geschäftsraum des Adressaten durch Übergabe an eine dort beschäftigte Person oder hilfsweise durch Einlegen in einen zum Geschäftsraum gehörenden Briefkasten gewähren den mit der Zustellung beauftragten Stellen (§ 176 ZPO ) weitgehende Handlungsmöglichkeiten und lassen das Kriterium der Zustellungsmöglichkeit am Satzungssitz entsprechend flexibel erscheinen. Aus den vorgenannten Gründen bedarf es auch keiner näheren Abgrenzung zwischen den verschiedenen in § 4a Abs. 2 GmbHG genannten Anknüpfungsorten; 26 alle danach in Betracht kommenden Orte stehen gleichrangig für die Sitzwahl zur Verfügung. Die Entscheidung für einen von ihnen macht diesen Ort zur Hauptniederlassung i.S.v. § 13 Abs. 1 HGB , während die Aktivitäten der Gesellschaft an den sonstigen Orten, wenn sie die hierfür erforderliche organisatorische Verselbständigung im Sinne dieser Vorschrift aufweisen, 27 zu Zweigniederlassungen ohne Einfluss auf den Satzungssitz werden. 28

23 Ganz h.M. (auch zu § 5 Abs. 2 AktG); vgl. Roth in Roth/Altmeppen, Gesetz betreffend die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, 4. Aufl., 2003, § 4a Rn. 6; Scholz GmbHG Emmerich (Fn.6) § 4a Rn. 11; Kögel GmbHR 1998, 1108, 1110; Hüffer AktG (Fn. 16) § 5 Rn. 6. 24 Vgl. etwa Roth/Altmeppen GmbHG -Roth und Scholz GmbHG -Emmerich aaO. (Fn. 23). 25 Gesetz zur Reform des Verfahrens bei Zustellungen im gerichtlichem Verfahren v. 25. 6. 2001 ( BGBl . I 1206); dazu Hess NJW 2002, 2417, 2418 ff. 26 So zutr. MünchKommAktG-Heider (Fn. 13) § 5 Rn. 34. 27 Vgl. nur Hopt in Baumbach/Hopt Handelsgesetzbuch, 31. Aufl., 2003, § 13 Rn. 3. 28 HM , vgl. Scholz GmbHG -Emmerich (Fn. 6) § 4a Rn. 17; Roth/Altmeppen GmbHG Roth (Fn. 23) § 4a Rn. 3; Hüffer AktG (Fn. 16) § 5 Rn. 2.

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3. Die Unterscheidung zwischen der Verlegung des tatsächlichen oder des Satzungssitzes als jeweilige Ursache für das Auseinanderfallen der beiden Sitzorte Für die Beurteilung der Rechtsfolgen eines Auseinanderfallens zwischen tatsächlichem Sitz und Satzungssitz der GmbH aus der Sicht des § 4a Abs. 2 GmbHG ist es, wie sich zeigen wird (unter III 1), von wesentlicher Bedeutung, wie es zu dieser Diskrepanz gekommen ist, das heißt bei welchem der beiden in Frage stehenden Sitze die zur Diskrepanz führende Verlegung eingetreten ist. Den unschwer zu beurteilenden Fall bildet dabei die beabsichtigte isolierte Verlegung des Satzungssitzes. Sie bedarf zu ihrer Wirksamkeit außer dem Satzungsänderungsbeschluss auch der Eintragung in das Handelsregister des neuen Sitzes nach Anmeldung beim bisherigen Sitzgericht, wobei die Prüfung der Anforderungen des § 4a Abs. 2 GmbHG als Eintragungsvoraussetzung dem neuen Registergericht obliegt. 29 Fehlt es in einem derartigen Fall an der nach § 4a Abs. 2 GmbHG erforderlichen Anknüpfung, und liegen auch keine besonderen Gründe für einen Ausnahmefall vor, so hat das neue Gericht die Eintragung nach §§ 57a, 9c Abs. 1 GmbHG abzulehnen. Damit ist die beabsichtigte Verlegung gescheitert. Es bleibt beim bisherigen Satzungssitz; eine Diskrepanz tritt nicht ein. Probleme bereitet demgegenüber der umgekehrte Fall einer Änderung des tatsächlichen Sitzes ohne entsprechende Verlegung auch des Satzungssitzes. Er bildet vermutlich die wesentlich häufigere Konstellation; diese war auch die Ursache für die Neuregelung im Zuge des HRefG 1998. 30 Die Schwierigkeiten ergeben sich daraus, dass die Ortsveränderung als Realakt sich nicht an das Vorliegen der Voraussetzungen des § 4a Abs. 2 GmbHG binden lässt und ein diesen Fall abdeckender Ordnungswidrigkeitstatbestand weder im Gesellschafts- noch im Registerrecht zu finden ist. 31 Damit stellt sich die Frage, ob die Verlegung des tatsächlichen Sitzes einen nachträglichen Nichtigkeitsgrund für den Satzungssitz bildet. Sie ist, wie die folgende Untersuchung (unter III 1) zeigt, entgegen der in der Literatur noch immer h.M. zu verneinen.

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Vgl. nur Baumbach/Hueck GmbHG -Hueck/Fastrich (Fn. 2) § 4a Rn. 9. So Amtl. Begründung zu § 4a Abs. 2 GmbHG (aaO. Fn. 1). Unzutr. daher LG Mannheim GmbHR 2000, 874, 875.

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III. Die nachträgliche Verlegung des tatsächlichen Sitzes und ihre Rechtsfolgen 1. Nichtigkeit der Bestimmung des Satzungssitzes? Nichtig ist ein Rechtsgeschäft, das bei seiner Vornahme gegen ein Verbotsgesetz i.S.v. § 134 BGB oder gegen sonstiges zwingendes Recht verstößt. 32 Handelt es sich demgegenüber um ein ursprünglich wirksam vereinbartes, seither unverändertes Rechtsgeschäft, so kommt nachträgliche Nichtigkeit nur dann in Betracht, wenn während seines Bestehens ein Verbotsgesetz oder sonstiges zwingendes Recht mit verfassungskonformem Geltungsanspruch auch für Altfälle erlassen wird. 33 Dagegen reicht die bloße Veränderung tatsächlicher Umstände grundsätzlich nicht aus, um nachträglich die Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts eintreten zu lassen. Das war etwa für Abfindungsklauseln in Personengesellschaftsverträgen schon immer anerkannt, soweit es um deren Sittenwidrigkeit wegen grober Benachteiligung eines ausscheidenden Gesellschafters ging: maßgebend war die Beurteilung bei Vertragsschluss unabhängig von später eintretenden Entwicklungen. 34 Zu Recht hat der BGH diesen Grundsatz in den 90er Jahren auch auf die Feststellung der Nichtigkeit übermäßiger, als verbotene Kündigungsschranke nach § 723 Abs. 3 BGB zu qualifizierender Abfindungsbeschränkungen erstreckt und dadurch der bis dahin herrschenden Rechtsfigur der je nach Entwicklung der Wertverhältnisse „gleitenden“ Unwirksamkeit von Buchwertklauseln u. a. eine Absage erteilt. 35 Bezogen auf die Frage der Wirksamkeit einer ursprünglich zulässigen Sitzbestimmung konnte es zur nachträglich eingreifenden Nichtigkeit wegen Auseinanderfallens von tatsächlichem und Satzungssitz somit zwar als Folge des Inkrafttretens des § 4a Abs. 2 GmbHG zum 1. 1. 1999 kommen, da die Neuregelung sich auch auf Altfälle bezog. 36 Demgegenüber reicht der nachträgliche Wegfall des von § 4a Abs. 2 GmbHG geforderten Anknüpfungsorts infolge Verlagerung des tatsächlichen Sitzes als solcher nicht aus, 32 Vgl. nur Palm in Erman, Handkommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 10. Aufl., 2000, § 134 Rn. 11, 15; Heinrich in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 62. Aufl., 2003, § 134 Rn. 12 b. 33 So zutr. Mayer-Maly/Armbrüster in Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 4. Aufl., 2001, § 134 Rn. 20; Erman-Palm und Palandt-Heinrichs aaO. (Fn. 32); im Erg. wohl auch Sack in Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 2003, § 134 Rn. 55; für einen Sonderfall verneinend OLG Düsseldorf NJW- RR 1993, 849; offenlassend noch BGHZ 45, 322, 326. 34 Vgl. nur Ulmer, Gesellschaft bürgerlichen Rechts, 4. Aufl., 2004, § 738 Rn. 46. 35 BGHZ 123, 281, 284 und 126, 226, 233; insoweit zust. Ulmer/Schäfer ZGR 1995, 134, 139 f.; näher dazu Ulmer (Fn. 34) § 738 Rn. 49 f., 55. 36 Vgl. Nachw. in Fn. 6.

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um die Nichtigkeitsfolge herbeizuführen. Das haben die Obergerichte entgegen verbreiteter Literaturansicht 37 seit rund 25 Jahren bereits zum alten GmbH-Recht zutreffend festgestellt. 38 Die Verschärfung der Anforderungen an den Satzungssitz durch § 4a Abs. 2 GmbHG hat hieran nichts geändert. 39 Auch wenn die Gesetzesverfasser weitergehende Absichten verfolgt haben sollten, ist die Neuregelung doch nicht geeignet, maßgebliche Grundsätze der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre in Frage zu stellen oder gar außer Kraft zu setzen. Aus den genannten Gründen verdient das BayObLG mit seinem Beschluss von 2002 insoweit Zustimmung, als es eine nachträgliche Nichtigkeit der den Anforderungen des § 4a Abs. 2 GmbHG nicht mehr entsprechenden satzungsrechtlichen Sitzbestimmung ausgeschlossen hat; die hieran geübte Kritik geht fehl. 40 Es bleibt freilich die – vom BayObLG verneinte – Frage, ob dem neuen Recht in derartigen Fällen nicht auf andere Weise zum Durchbruch verholfen werden kann (vergleiche unter 2). 2. Analogie zu § 144a Abs. 4 FGG? Um die Beschränkung der Nichtigkeitsgründe des GmbH-Rechts auf grundlegende Satzungsverstöße gegen § 3 Abs. 1 Nr. 2 und 3 GmbHG durch Neufassung des § 75 Abs. 1 GmbHG41 zu kompensieren, hat der Gesetzgeber bekanntlich für Verstöße gegen eine der übrigen Anforderungen des § 3 Abs. 1 GmbHG ein neues Amtsauflösungsverfahren nach § 144a Abs. 4 FGG eingeführt. Die Vorschrift begründet das Recht (und die Pflicht) der Registergerichte, beim Vorliegen solcher Verstöße – sei es wegen Fehlens oder wegen Nichtigkeit einer der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 und 4 GmbHG geforderten wesentlichen Satzungsbestimmungen – ein Amtsauflösungsverfahren gegen die Gesellschaft einzuleiten und diese, wenn die Aufforderung zur Mangelbeseitigung oder zur Widerspruchserhebung innerhalb der gesetzten Frist nicht befolgt wurde, durch Mangelfeststellung nach § 144a Abs. 2 FGG i.V.m. § 60 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG zur Auflösung zu bringen. Die Frage liegt nahe, ob dieses Verfahren im Analogiewege nicht auch dann angewandt 37 So auch heute noch Baumbach/Hueck GmbHG -Hueck/Fastrich (Fn. 2) § 4a Rn. 9; Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbH-Gesetz, 16. Aufl., 2004, § 4a Rn. 25; wohl auch Scholz GmbHG -Emmerich (Fn. 6) § 4a Rn. 20; Roth/Altmeppen GmbHG -Roth (Fn. 23) § 4a Rn. 11; ebenso zu § 5 Abs. 2 AktG noch Hüffer AktG (Fn. 16) Rn. 11; MünchKommAktG-Heider (Fn. 13) Rn. 67und wohl auch Brändel in Großkommentar zum Aktiengesetz, 4. Aufl., 1992, Rn. 43. 38 BayObLG BB 1982, 578 und ZIP 1999, 1714; OLG Frankfurt GmbHR 1979, 226, 227. 39 BayObLG ZIP 2002, 1400, 1401 (offenlassend noch DB 2001, 644, 645); LG Mannheim GmbHR 2000, 874, 875. 40 Vgl. o. Fn. 9, 10. 41 Durch Gesetz zur Durchführung der 1. (Publiz.-)Richtlinie des EG -Rates (Fn. 15) v. 15. 8. 1969, BGBl . I 1146.

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werden kann, wenn der nach § 144 a Abs. 4 FGG von Amts wegen zu beanstandende Verstoß der Beteiligten gegen die Anforderungen an den Satzungssitz nicht zur Nichtigkeit der Satzungsbestimmung geführt hat. 42 Sie stellt sich – wie in Teilen der Literatur mit Blick auf das Amtslöschungsverfahren des § 144 FGG zutreffend hervorgehoben wurde 43 – entsprechend auch beim nachträglichen Auseinanderfallen von satzungsmäßigem und tatsächlichem Unternehmensgegenstand. Vor dem Hintergrund des mit § 4a Abs. 2 GmbHG verfolgten Normzwecks, das Auseinanderfallen von tatsächlichem und Satzungssitz der GmbH insbesondere infolge nachträglicher Verlagerung des tatsächlichen Sitzes zu verhindern, um dadurch sowohl den Gläubigerzugriff als auch die amtliche Zustellung von Registerverfügungen am Satzungssitz der GmbH zu ermöglichen, liegt die Bejahung eines Analogieschlusses nahe. Denn aus der Sicht dieses im öffentlichen Interesse liegenden Normzwecks kann es nicht ausschlaggebend sein, ob die fragliche, dem Regelungsplan des Gesetzgebers widersprechende Satzungsbestimmung infolge des Verstoßes nichtig ist oder ob ihre Wirksamkeit aus rechtsdogmatischen Gründen trotz des Verstoßes fortbesteht. Eine Regelungslücke ist daher zu bejahen; dies allerdings nicht mit Blick auf § 4a Abs. 2 GmbHG , sondern auf die nicht durch das HRefG 1998 modifizierte Vorschrift des § 144a Abs. 4 FGG . Denn nur deshalb, weil diese Vorschrift nach wie vor auf die Nichtigkeit der Satzungsbestimmung als Voraussetzung für das Amtsauflösungsverfahren abstellt, sind die Registergerichte bei strikter Rechtsanwendung gehindert, gegen Sitzrechtsverstöße der hier erörterten Art vorzugehen. Das BayObLG hat die insoweit bestehende Analogiemöglichkeit zwar erörtert, aber ihre Voraussetzungen abgelehnt, und zwar mit drei schwer nachvollziehbaren Gründen;44 darin verdient es Kritik. So erweist sich die im Ansatz zweifellos zutreffende Feststellung, § 144a FGG beschränke bewusst die Gründe, die zu einer Auflösung der Gesellschaft von Amts wegen führen, als in der Sache nicht weiterführend. Sieht man den hier in Frage stehenden, tragenden Grund für das Amtsverfahren nicht in der zivilrechtlichen Nichtigkeit der Sitzbestimmung, sondern in deren – auch nachträglichem – Verstoß gegen die Anforderungen des § 4a Abs. 2 GmbHG , so kann von einer regelwidrigen Ausdehnung des Amtsauflösungsverfahrens nicht die Rede sein. Der zweite Grund, der Gesetzgeber habe in Kenntnis der Aus42 Dafür insbes. Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbH-Gesetz, 17. Aufl., 2000, Anh. § 77 Rn. 32; Michalski GmbHG , 2002, § 4a Rn. 14; Keidel/Krafka/Willer Registerrecht, 6. Aufl., 2003, Rn. 927; so auch nach altem Recht schon Wessel BB 1984, 1057, 1059; a.A. Keidel/Winkler, Freiwillige Gerichtsbarkeit, 15. Aufl., 2003, § 144a Rn. 5. 43 Baumbach/Hueck GmbHG -Schulze-Osterloh (Fn. 42) § 75 Rn. 12; K. Schmidt in Scholz, Kommentar zum GmbH-Gesetz, 9. Aufl., 2003, § 75 Rn. 11; Michalski (Fn. 42) § 3 Rn. 16; eingehend Tieves, Der Unternehmensgegenstand der Kapitalgesellschaft, 1998, S. 230 ff., 240 f. 44 BayObLG ZIP 2002, 1400, 1402.

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legung der Parallelvorschrift des § 5 Abs. 2 AktG auf eine „Klarstellung im Sinne einer Nichtigkeitsfolge für die Satzung bei nachträglicher faktischer Sitzverlegung verzichtet“, überschätzt nicht nur den Bekanntheitsgrad der eigenen Rechtsprechung und den Weitblick des Gesetzgebers. Vielmehr setzt er auch am falschen Punkt an, weil nicht die (systembedingt „lückenhafte“) Regelung des § 4a Abs. 2 GmbHG und dessen analoge Anwendung in Frage steht, sondern diejenige des nicht in das Reformvorhaben einbezogenen § 144a Abs. 4 FGG . Schließlich kann bei analoger Anwendung des Amtslöschungsverfahrens auch nicht ernsthaft von einer „tief in die Rechte Betroffener eingreifenden Rechtsfolge“ die Rede sein.45 Denn das einzige, was den Gesellschaftern durch die Analogie zugemutet wird, ist die Befolgung der zwar im Ansatz zwingenden, in ihrer Ausgestaltung jedoch flexiblen Vorgaben des § 4a Abs. 2 GmbHG unter Berücksichtigung auch der dort für begründete Sonderfälle zugelassenen Ausnahme vom regelhaften Zusammenfallen des satzungsrechtlichen mit dem faktischen Sitz. Und selbst bei Nichtbefolgung dieser Vorgabe bis zu der zur Auflösung führenden gerichtlichen Mangelfeststellung sind die Gesellschafter nicht gehindert, anschließend unter gleichzeitiger Behebung des Satzungsmangels einen Fortsetzungsbeschluss zu fassen.46 3. Zwischenbilanz Entgegen der Ansicht des BayObLG stehen der Analogie zu § 144a Abs. 4 AktG nach allem keine durchschlagenden Bedenken entgegen. Sie ist vielmehr im öffentlichen Interesse dringend geboten, um für Abhilfe gegenüber den vom DIHT zu Recht aufgezeigten, von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe aufgegriffenen und zur Regelung des § 4a Abs. 2 GmbHG im Zuge des HRefG 1998 führenden Missständen in Gestalt des Auseinanderfallens von rechtlichem und faktischem GmbH-Sitz zu sorgen. 4. Kontrollüberlegungen a) In einer Rezension zum Beschluss des BayObLG wurde – zur Rechtfertigung der Entscheidung – auch darauf verwiesen, eine analoge Anwendung des § 144a Abs. 4 FGG führe zu dem wenig überzeugenden Ergebnis, dass nur Gesellschaften deutscher Rechtsform gehindert werden könnten, ihren tatsächlichen Sitz ohne Satzungsänderung zu verlegen, nicht aber ausländische, nach dem Recht eines anderen EU -Staates gegründete Gesellschaften.47 Zu überzeugen vermag dieser nur scheinbar naheliegende Vergleich indessen 45 So aber auch LG Mannheim GmbHR 2000, 874, 875, das aus diesem Grund sogar verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Analogieschluss vorbringt. 46 Baumbach/Hueck GmbHG -Schulze-Osterloh (Fn. 42) Anh. § 77 Rn. 37. 47 So Borges EWiR § 4 GmbHG 1/03 S. 928.

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nicht, und dies auch dann, wenn man von der darin zum Ausdruck kommenden, rechtspolitisch fragwürdigen Tendenz eines „race to the bottom“ absieht.48 Denn bei der Errichtung – oder Verlegung – einer inländischen Niederlassung durch eine im Ausland gegründete und ihren dortigen (Satzungs-)Sitz beibehaltende Gesellschaft geht es aus der Sicht des deutschen Rechts nicht um die faktische Sitzverlegung, sondern um die Errichtung einer inländischen Zweigniederlassung der Auslandsgesellschaft,49 wobei diese den Anforderungen der §§ 13e, 13g HGB entsprechen muss. Dazu gehört auch die Angabe der Anschrift und des Gegenstands der Zweigniederlassung (§ 13e Abs. 2 S. 3 HGB) unter Einschluss des für die örtliche Handelsregisterzuständigkeit (§ 13d Abs. 1 HGB) maßgebenden Bestehens der Zweigniederlassung im Registerbezirk. Nichts anderes gilt nach §§ 13, 13b HGB aber, abgesehen von der Anmeldung beim Gericht des GmbH-Sitzes, für die Errichtung und Eintragung der Zweigniederlassung einer inländischen GmbH. Die davon zu unterscheidende Frage, ob der inländische Satzungssitz trotz tatsächlicher grenzüberschreitender Verlegung der Aktivitäten der Gesellschaft unverändert beibehalten werden kann, unterfällt demgegenüber (noch) nicht der EG -Niederlassungsfreiheit. Sie kann daher vom Recht des jeweiligen Sitz-(=Gründungs-)Staates unterschiedlich beantwortet werden. Eine unterschiedliche Behandlung derartiger Fallkonstellationen nach deutschem Recht als Folge analoger Anwendung des § 144a Abs. 4 FGG bei Auseinanderfallen von tatsächlichem und Satzungssitz einer Inlandsgesellschaft ist nach allem nicht zu befürchten. b) Ein weiterer denkbarer Einwand gegen den hier vertretenen Analogieschluss könnte dahin gehen, dass Registergerichten dadurch die Möglichkeit verschafft würde, im Wege der Amtsauflösung gegen solche Mantel-Gesellschaften mbH vorzugehen, die über keinen der in § 4a Abs. 2 GmbHG genannten Anknüpfungsorte mehr verfügen, sondern nur noch als leere, wenn auch mangels Löschung im Handelsregister fortbestehende „Hülse“ einer juristischen Person existieren. In der Tat ist auch in derartigen Fällen ein zur analogen Anwendung des § 144a FGG führender Satzungsmangel mit Blick auf § 3 Abs. 1 Nr. 1 G mbHG festzustellen. Entsprechendes gilt freilich auch für den durch keinerlei tatsächliche Aktivitäten mehr gedeckten satzungsrechtlichen Unternehmensgegenstand (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG) mit der ebenfalls gebotenen Folge eines Amtslöschungsverfahrens analog § 144 FGG . Beide Arten des Vorgehens haben zwar den Nachteil, dass sie – anders als die Amtslöschung wegen Vermögenslosigkeit (§ 141a FGG ) – nicht zum Erlöschen der GmbH als juristische Person führen, sondern nur zu ih48 Vgl. in diesem Sinn, bezogen auf den Abbau des Gläubigerschutzes im deutschen GmbH-Recht, etwa Hirte GmbHR 2003, R 421; Koegel GmbHR 2003, 1225 f.; Meilicke GmbHR 2003, 1271, 1273; Wilhelm ZHR 167 (2003), 520, 535 ff. 49 So zutr. KG GmbHR 2004, 116, 117 f.

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rer Umwandlung in eine Liquidationsgesellschaft. 50 Immerhin sind sie jedoch geeignet, den unerwünschten Handel mit leeren GmbH-Mänteln weiter zu erschweren und deren Reaktivierung durch Fortsetzungsbeschluss von dem Nachweis der bei wirtschaftlicher Neugründung gebotenen Kapitalausstattung abhängig zu machen.51 Mittelbar kann darin ein Beitrag zur rechtspolitisch erwünschten „Entsorgung von GmbH-Leichen“ durch Bereinigung des Handelsregisters liegen.52 Auch wenn man darin noch keine Rechtfertigung des zusätzlichen, aus dem Analogieschluss zu erwartenden Arbeitsaufwands der Registergerichte sehen wollte, lässt sich doch jedenfalls ein rechtlich durchgreifender Einwand gegen die analoge Anwendung des § 144a FGG in dieser Folgewirkung für leere GmbH-Mäntel nicht finden.

IV. Ergebnis und Ausblick 1. Der nachträgliche, aus der Verlegung des tatsächlichen Sitzes resultierende Verstoß gegen die Anforderungen des § 4a Abs. 2 GmbHG betreffend die Wahl des Satzungssitzes führt zwar nicht zur Nichtigkeit der ursprünglich gesetzeskonformen Sitzwahl. Er begründet jedoch einen auf der Nichtbefolgung zwingenden Rechts beruhenden Satzungsmangel und berechtigt das örtlich zuständige Registergericht dazu, ein Amtsauflösungsverfahren analog § 144a Abs. 4 FGG gegen die betroffene GmbH durchzuführen. 2. Die gegenteilige, vom BayObLG geprägte Rechtsprechung der Obergerichte ist dringend korrekturbedürftig. Die darin angeführten Gründe gegen die Analogie vermögen nicht zu überzeugen. Sie erweisen sich nicht nur als unvereinbar mit dem durch § 4a Abs. 2 GmbHG verfolgte Regelungszweck, sondern auch als Ausdruck einer aus heutiger Sicht übermäßigen Betonung der Satzungsautonomie der GmbH-Gesellschafter zu Lasten der berechtigten Interessen von Gläubigern und Öffentlichkeit. Es steht zu wünschen, dass der BGH ebenso wie in Bezug auf die verfehlte Rechtsprechung des BayObLG zur Mantel-Gründung 53 bald Gelegenheit erhält, dafür zu sorgen, dass das mit § 4a Abs. 2 GmbHG verfolgte Regelungsanliegen des HRef G 1998 sich nicht als Schlag ins Wasser erweist. 50 Auch das Amtslöschungsverfahren führt nicht etwa zum Erlöschen der GmbH, sondern nur zu ihrer Amtsauflösung, vgl. Baumbach/Hueck GmbHG -Schulze-Osterloh (Fn. 42) Anh. § 77 Rn. 29. 51 Zur Abgrenzungsproblematik bei der Wiederverwendung von GmbH-Mänteln vgl. nur BGHZ 155, 318, 324 f. = NJW 2003, 3198, dazu auch Goette DStR 2004, 461, 465; K. Schmidt NJW 2004, 1345, 1350 ff. 52 Zu den (geringen) sonstigen Möglichkeiten einer „geräuschlosen Beseitigung“ von GmbH-Mänteln durch die Registergerichte nach geltendem Recht vgl. schon H. Herchen DB 2003, 2211 ff. 53 BayObLG GmbHR 1999, 607, 608; dazu Vorlagebeschluss OLG Brandenburg BB 2002, 1229 und BGH -Urteil aaO. (Fn. 51).

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I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundsätze bei der Festlegung des Umtauschverhältnisses . . . . . . 1. Unternehmensbewertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gestaltungsfreiheit bei der Festlegung des Umtauschverhältnisses . . III. Beschlusskontrolle (§ 241 ff. AktG) versus Ausgleich durch bare Zuzahlung (§ 15 Abs. 1 UmwG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Übertragende Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Übernehmende Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Organhaftung der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats . . 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer Haftung gem. § 25 UmwG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Pflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Begründung eines Ausgleichsanspruchs als wirtschaftlicher Vorteil aus dem schädigenden Ereignis . . . . . . . . . . bb) Zumutbarkeit einer Anrechnung . . . . . . . . . . . . . cc) Unbillige Entlastung des Schädigers . . . . . . . . . . . . V. Haftung der Verschmelzungsprüfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Vertragshaftung der mit der Unternehmensbewertung beauftragten Wirtschaftsprüfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Leistungsnähe und berechtigtes Interesse des Gläubigers . . . . . 2. Zumutbares Haftungsrisiko und Schutzbedürftigkeit des Dritten . VII. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung Die Verschmelzung der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank AG mit der Bayerischen Vereinsbank AG im Jahre 1999 hat für zahlreiche Schlagzeilen gesorgt. Im Blickpunkt standen zwei Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, die im Auftrag der Vorstände der fusionierenden Gesellschaf-

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ten ein Wertgutachten erstattet hatten, welches die Grundlage für das im Verschmelzungsvertrag festgelegte Umtauschverhältnis der Anteile bildete. Kurze Zeit nach der Verschmelzung stellte sich heraus, dass Risiken im Bauträgerimmobiliengeschäft der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank AG nicht zutreffend erkannt worden waren, woraus ein Wertberichtigungsbedarf in Höhe von 7,5 Mrd. DM resultierte. Empörung erregte, dass in der ersten Hauptversammlung der HypoVereinsbank AG nach dem Vollzug der Verschmelzung eine der Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, die mit der Erstattung des Verschmelzungswertgutachtens beauftragt worden war, zur Abschlussprüferin bestellt wurde. Der BGH erklärte diesen Beschluss auf die Anfechtungsklage einer Aktionärin hin für nichtig.1 Mit der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft hatte er sich nicht zu befassen. Die früheren Aktionäre der Bayerischen Vereinsbank AG haben – soweit ersichtlich – Schadensersatzansprüche nicht gerichtlich geltend gemacht. Dies könnte seinen Grund darin haben, dass sich die verantwortliche Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und die HypoVereinsbank AG im Wege eines Vergleichs auf die Zahlung eines Schadensersatzbetrags verständigt hatten. Bei näherem Hinsehen erweist sich die getroffene Konfliktlösung als zweifelhaft. Die HypoVereinsbank AG als fusionierte Gesellschaft erlitt keinen eigenen Schaden. Vielmehr wurden die vermögensrechtlichen Interessen der früheren Aktionäre der Bayerischen Vereinsbank AG verletzt, die im Falle eines ordnungsgemäß erstellten Wertgutachtens Anspruch auf ein günstigeres Umtauschverhältnis gehabt hätten. Ob es ihnen möglich gewesen wäre, ihre Vermögenseinbußen geltend zu machen, kann und braucht an dieser Stelle nicht untersucht werden. Vielmehr sollen die aufgetretenen Vorfälle zum Anlass genommen werden, das einschlägige vertrags- und gesellschaftsrechtliche Sanktionensystem auf einer abstrakten Ebene einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen. Das UmwG bietet ein reiches Arsenal an Rechtsschutzmöglichkeiten. So können die Aktionäre der übertragenden Gesellschaft im Falle eines unangemessenen Umtauschverhältnisses einen Ausgleich durch bare Zuzahlung verlangen (§ 15 Abs. 1 UmwG). Ferner ist es ihnen möglich, die ehemaligen Verwaltungsmitglieder ihrer Gesellschaft auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen (§ 25 Abs. 1 UmwG). Schließlich unterliegen auch die Verschmelzungsprüfer einer haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit (§ 11 Abs. 2 UmwG i.V.m. § 313 HGB). Die Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft sind dagegen darauf angewiesen, auf die Verletzung ihrer Mitgliedsrechte mit einer Anfechtungsklage gegen den Verschmelzungsbeschluss (§ 14 Abs. 1 UmwG, §§ 243 ff. AktG) zu reagieren. Schadensersatzansprüche stehen ihnen nur gegen die Verschmelzungsprüfer zu. 1

Vgl. BGH WM 2003, 437.

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Sowohl die Voraussetzungen der skizzierten Ansprüche als auch ihr Verhältnis zueinander sind weitgehend ungeklärt; 2 höchstrichterliche Urteile sind noch nicht ergangen. Es lohnt sich daher, die Haftungstatbestände unter die Lupe zu nehmen. Neuland betritt man schließlich, wenn man einer möglichen Vertragshaftung der Wirtschaftsprüfer nachgeht, die im Auftrag der Vorstände den Unternehmenswert der fusionierenden Gesellschaften ermitteln. Als Grundlage für die Analyse des Haftungsregimes ist allerdings zunächst herauszuarbeiten, auf welche Weise das Umtauschverhältnis festgelegt wird und welche Pflichten die geschäftsleitenden Organe hierbei zu beachten haben.

II. Grundsätze bei der Festlegung des Umtauschverhältnisses Bei der Verschmelzung zweier Aktiengesellschaften werden die Aktionäre der übertragenden Gesellschaft nach Maßgabe des im Verschmelzungsvertrag bestimmten Umtauschverhältnisses (§ 5 Abs. 1 Nr. 3 UmwG) Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft (§ 20 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1). Das Umtauschverhältnis ist das Herzstück einer Verschmelzung. Zwei rechtliche Aspekte sind zu beleuchten. Von Interesse ist zum einen, welche Pflichten die Mitglieder der Verwaltung bei der Bewertung der Gesellschaften zu beachten haben. 3 Zum anderen soll in Augenschein genommen werden, in welcher Weise die geschäftsleitenden Organe sich bei der Festlegung des Umtauschverhältnisses zu verhalten haben. 1. Unternehmensbewertungen Das Umtauschverhältnis bestimmt sich nach dem Verhältnis zwischen den Werten der an der Verschmelzung beteiligten Gesellschaften. Einer ordnungsgemäßen Unternehmensbewertung kommt daher eine herausragende Bedeutung zu. Es ist in der Praxis üblich, diese Aufgabe Wirtschaftsprüfern zu übertragen, 4 die mit der von den Gerichten anerkannten Ertragswertme2 Bislang haben sich lediglich Clemm/Dürrschmidt, FS Widmann, 2001, S. 3 ff. und Schnorbus ZHR 167 (2003), 666 ff. mit der umwandlungsrechtlichen Haftung eingehend beschäftigt. 3 Der Komplex ist bislang – soweit ersichtlich – noch nicht monographisch aufbereitet worden. Die Kommentarliteratur beschränkt sich im Wesentlichen darauf, die sorgfältige Auswahl der Verschmelzungsprüfer zu verlangen. Vgl. Grunewald in Lutter, Umwandlungsgesetz, 2. Aufl., 2000, § 25 Rn. 10; Kübler in Semler/Stengel, Kommentar zum Umwandlungsgesetz, 2003, § 25 Rn. 9. 4 Vgl. Lutter in Lutter, Umwandlungsgesetz, 2. Aufl., 2000, § 5 Rn. 22; Stratz in Schmitt/ Hörtnagl/Stratz, Umwandlungsgesetz – Umwandlungssteuergesetz, 3. Aufl., 2001, § 5 Rn. 8; Vossius in Widmann/Mayer, Komm. zum Umwandlungsgesetz, Stand Nov. 2003, § 25 Rn. 21 geht sogar von einer Pflicht aus, geeignete Sachverständige zu beauftragen.

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thode besser vertraut sind als die Geschäftsleitung. Damit verbindet sich allerdings keine Delegation der den Vorständen obliegenden Verantwortlichkeiten. Die Festlegung des Umtauschverhältnisses ist eine Angelegenheit der Gesellschaft, die der eigenverantwortlich wahrzunehmenden Leitungskompetenz des Vorstands zuzuordnen ist (§ 76 Abs. 1 AktG). 5 Der Vorstand hat sich im Rahmen seines unternehmerischen Ermessensspielraums ein eigenes Urteil darüber zu bilden, ob der Unternehmenswert zutreffend ermittelt wurde. 6 Er ist daher verpflichtet, das vom Wirtschaftsprüfer vorgelegte Gutachten zu überprüfen. Die hierbei zu beachtenden Maßstäbe können an dieser Stelle nicht erschöpfend konkretisiert werden. Es mag genügen, Leitlinien zu zeichnen. Hierzu kann im Ausgangspunkt auf die Pflichtenlage abgestellt werden, die der Gesetzgeber für die Verschmelzungsprüfer geschaffen und mit denen sich das Schrifttum bereits auseinander gesetzt hat. So hat der Vorstand zum einen nachzuvollziehen, ob die zu Grunde gelegten Daten zutreffend und vollständig sind. Da das Zahlenmaterial von ihm stammt, wird er dies ohne weiteres bewältigen können. Zum anderen hat der Vorstand zu kontrollieren, ob der Verkehrswert nach den Grundsätzen einer ordnungsgemäßen Unternehmensbewertung ermittelt wurde. Dabei wird er sein Augenmerk vor allem darauf zu richten haben, ob die vorgenommenen Rechnungen und Annahmen zutreffend sind. 7 Insoweit kann er sich in gleicher Weise wie ein Verschmelzungsprüfer auf die Prüfung beschränken, ob die getroffenen Prognosen und Wertungen vertretbar sind. 8 Schwierig zu beurteilen ist, welche Pflichten den Vorstand hinsichtlich der Überprüfung des Wertes des Fusionspartners treffen. Die Rechtslage ist noch ungeklärt. Da die Sachlage nicht wesentlich anders ist als bei einem Unternehmenskauf, bietet es sich an, die Erkenntnisse fruchtbar zu machen, die in der wissenschaftlichen Diskussion über die beim Erwerb von Unternehmen zu beachtenden Sorgfaltsanforderungen gewonnen wurden. 9 Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Vorstand des Fusionspartners die Unternehmensbewertung einem externen Sachverständigen anvertraut haben wird. Im Unterschied zu einem Unternehmenskauf kann somit auf Unterlagen zugegriffen werden, aus denen sich der Wert des Unternehmens erschließt. Der Vorstand hat sich die Gutachten der vom Fusionspartner eingeschalteten Wirtschaftsprüfer vorlegen zu lassen und die Plausibilität So wohl auch Semler/Stengel UmwG-Kübler (Fn. 3), § 25 Rn. 9. Vgl. hierzu ausführlich Schnorbus ZHR 167 (2003), 666, 681 f. 7 Vgl. die ausführliche Auseinandersetzung mit den Anforderungen an eine Unternehmensbewertung von Schmitt/Hörtnagl/Stratz UmwG-Stratz (Fn. 4), § 5 Rn. 8 ff. 8 Vgl. zu den Pflichten des Verschmelzungsprüfers Lutter UmwG-Lutter (Fn. 4), § 9 Rn. 11; Schmitt/Hörtnagl/Stratz UmwG-Stratz (Fn. 4), § 12 Rn. 5. 9 So auch Schnorbus ZHR 167 (2003), 666, 684. Vgl. zur Pflicht einer Due Diligence beim Unternehmenskauf Kiethe NZG 1999, 976, 982. 5 6

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der darin getroffenen Annahmen zu prüfen. Dabei sind dieselben Maßstäbe zu beachten, die für die Bewertung des eigenen Unternehmens gelten. Problematisch ist, dass zuverlässige Aussagen über die Richtigkeit und Vollständigkeit des Zahlenmaterials nicht getroffen werden können. Die Situation ist identisch mit jener, in der sich der Käufer eines Unternehmens befindet. Angesichts der erheblichen Risiken einer unzutreffenden Bewertung kann es notwendig sein, die geschäftlichen Verhältnisse der anderen Gesellschaft an Hand von Unterlagen zu kontrollieren und bei Zweifeln eine ergänzende Auskunft zu verlangen.10 Davon geht das Gesetz auch an anderer Stelle aus: Der Vorstand hat in der Hauptversammlung Auskunft über alle für die Verschmelzung wesentlichen Angelegenheiten der anderen beteiligten Rechtsträger zu geben (§ 64 Abs. 2 UmwG). 2. Gestaltungsfreiheit bei der Festlegung des Umtauschverhältnisses Das Umtauschverhältnis der Anteile muss angemessen sein. Dies folgt aus § 12 Abs. 2 Satz 1 UmwG. Nach dieser Vorschrift haben die Verschmelzungsprüfer ihren Bericht mit einer Erklärung darüber abzuschließen, ob das vorgeschlagene Umtauschverhältnis der Anteile, gegebenenfalls die Höhe der baren Zuzahlung angemessen ist. Der Begriff der Angemessenheit ist freilich vieldeutig. Fraglich ist vor allem, wie exakt die Wertrelation der Unternehmenswerte zueinander zu sein hat. Denkbar ist beispielsweise, dem Vorstand einen gewissen Verhandlungsspielraum bei der Festlegung des Umtauschverhältnisses einzuräumen.11 Dagegen spricht, dass auf diese Weise die Aktionäre keinen vollen Gegenwert für ihre Beteiligungen erhielten. Ihre vermögensrechtlichen Interessen würden verletzt. Es ist auch kein Bedürfnis dafür ersichtlich, von den ermittelten Unternehmenswerten abzuweichen. Die Vorstände der beteiligten Gesellschaften sind verpflichtet, beim Abschluss des Verschmelzungsvertrags die von ihren Sachverständigen bestimmten Werte zu Grunde zu legen und gegebenenfalls durch Vereinbarung barer Zuzahlungen dafür Sorge zu tragen, dass die Aktionäre keine Vermögenseinbuße erleiden.12 Ein wie auch immer gearteter Verhandlungsspielraum ist nicht anzuerkennen.

10 Schmitt/Hörtnagl/Stratz UmwG-Stratz (Fn. 4), § 25 Rn. 20; Schnorbus ZHR 167 (2003), 666, 685; wohl auch Widmann/Mayer UmwG-Vossius (Fn. 4), § 25 Rn. 33. Zu weitgehend Semler/Stengel UmwG-Kübler (Fn. 3), § 25 Rn. 9, der mit Blick auf das mittlerweile auch in Deutschland anerkannte Ermessen der Geschäftsleitung bei unternehmerischen Entscheidungen eine Sorgfaltspflichtverletzung selbst dann ablehnt, wenn die Unterlagen des übernehmenden Rechtsträgers unvollständig oder unzureichend sind. 11 So wohl Semler/Stengel UmwG-Kübler (Fn. 3), § 25 Rn. 9. 12 In diesem Sinne auch Schmitt/Hörtnagl/Stratz UmwG-Stratz (Fn. 4) § 5 Rn. 6; in der Tendenz ebenso Lutter UmwG-Lutter (Fn. 4), § 5 Rn. 18.

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III. Beschlusskontrolle (§ 241 ff. AktG) versus Ausgleich durch bare Zuzahlung (§ 15 Abs. 1 UmwG) 1. Übertragende Gesellschaft Der Beschluss einer Hauptversammlung zu einem Verschmelzungsvertrag, der ein unangemessenes Umtauschverhältnis vorsieht, ist rechtswidrig zustande gekommen. Folge wäre an sich, dass die Aktionäre gegen den Verschmelzungsbeschluss wegen Verletzung des Gesetzes Anfechtungsklage erheben könnten (§ 243 Abs. 1 AktG). Der Gesetzgeber hat diesen Rechtsschutz für die Aktionäre der übertragenden Gesellschaft aber ausgeschlossen (§ 14 Abs. 2 UmwG). Stattdessen kann jeder Aktionär von der übernehmenden Gesellschaft einen Ausgleich durch bare Zuzahlung verlangen (§ 15 Abs. 1 UmwG). Die Höhe des Ausgleichs wird im Spruchverfahren festgesetzt. Die Vorschriften verfolgen den Zweck, die Durchführung einer Fusion zu erleichtern.13 Anderenfalls wäre es Aktionären ein Leichtes, durch Bewertungsrügen zu verhindern, dass die Verschmelzung wirksam wird (vgl. § 16 Abs. 2 UmwG) und das „Lästigkeitspotential“ ihrer Anfechtungsklagen zu Geld zu machen. In der Lösung artikuliert sich eine Hinwendung zu einem vermögensrechtlichen Aktionärsschutz, den der Gesetzgeber in den letzten Jahren in anderen Bereichen des Aktienrechts mit großer Energie betreibt 14 und der in der Rechtsprechung des II . Zivilsenats zum Aktienrecht eine zunehmend dominante Rolle spielt.15 Die Lösung ist auch vor dem Hintergrund, dass Aktien als „gesellschaftsrechtlich vermitteltes Eigentum“ den grundrechtlichen Schutz des Art. 14 GG genießen, aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht zu beanstanden.16 So ist es zum einen möglich, einer missbräuchlichen Ausnutzung der Rechtslage entgegen zu wirken. Im Schrifttum wird eine teleologische Reduktion des Anfechtungsausschlusses weitgehend akzeptiert, wenn die Voraussetzungen des § 826 BGB erfüllt sind, insbesondere wenn ein grob falsches Umtauschverhältnis auf ein kollusives Zusammenwirken der Geschäftsleitungen zurückzuführen ist.17 Zum anderen 13 Vgl. Begr. RegE § 14 UmwG, abgedr. bei Ganske, Umwandlungsrecht, 2. Aufl. 1995, S. 63. 14 Zu nennen ist vor allem die Einführung eines squeeze-out (§§ 327a ff. AktG) gegen eine angemessene Barabfindung. Ferner lässt sich in dem UMAG das Bestreben des Gesetzgebers ausmachen, einerseits die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit der Organmitglieder effektiver auszugestalten, andererseits allgemeine verbandsrechtliche Schutzmechanismen zu Gunsten der Aktionäre (Informations- und Klagerechte) zu begrenzen. 15 Vgl. BGHZ 146, 179, 183 (abfindungswertbezogene Informationsmängel können nur im Spruchverfahren geltend gemacht werden). 16 Vgl. BVerfGE 14, 263, 276; 50, 290, 348. 17 Vgl. Heckschen in Widmann/Mayer, Kommentar zum Umwandlungsgesetz, Stand Nov. 2003, § 14 Rn. 44; Ihrig, ZHR 160 (1996), 317, 332; Schmitt/Hörtnagl/Stratz UmwG-

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weist die vermögensrechtliche Schutzkonzeption erhebliche verfahrensrechtliche Vorteile auf. Die Aktionäre können den vom Gesetz vorgesehenen Ausgleich in Gestalt einer baren Zuzahlung ohne nennenswerte Risiken auf einfache Weise im Spruchverfahren geltend machen. Die Entscheidung des Gerichts entfaltet eine inter-omnes-Wirkung (§ 13 Satz 2 SpruchG); es profitieren somit auch Aktionäre, die sich am Spruchverfahren nicht beteiligt haben. Zudem ist es häufig nicht möglich, innerhalb eines Zeitraums von einem Monat nach dem Verschmelzungsbeschluss alle relevanten möglichen Bewertungsfehler zu benennen und zu konkretisieren. Dieser Aspekt ist, wie die eingangs geschilderte Verschmelzung der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank AG mit der Bayerischen Vereinsbank AG zeigt, von erheblicher praktischer Bedeutung. Eine nach Ablauf der gesetzlichen Klagefrist vorgebrachte Bewertungsrüge wäre in einem Anfechtungsverfahren präkludiert.18 Dagegen kann die Festsetzung einer baren Zuzahlung noch drei Monate nach Bekanntmachung der Verschmelzung beantragt werden. In dem Verfahren kann Bewertungsmängeln selbst dann nachgegangen werden, wenn sie sich erst nach dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung offenbaren.19 2. Übernehmende Gesellschaft Die Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft werden durch ein zu hohes Umtauschverhältnis zu Gunsten der Aktionäre der übertragenden Gesellschaft in ihren vermögensrechtlichen Interessen verletzt. Sie können die zu niedrige Bewertung ihrer Gesellschaft oder eine zu hohe Bewertung des Fusionspartners durch Anfechtung des Verschmelzungsbeschlusses (§ 243 Abs. 1 AktG) geltend machen. § 14 Abs. 2 UmwG schließt lediglich eine Klage der Aktionäre der übertragenden Gesellschaft aus. Die Möglichkeit, einen Ausgleich durch bare Zuzahlung zu verlangen (§ 15 Abs. 1 UmwG), steht den Aktionären der übernehmenden Gesellschaft nach geltendem Recht nicht zu. 20 Stratz (Fn. 4) § 14 Rn. 21; ähnlich OLG Düsseldorf, ZIP 1999, 793, 794. A.A. Bork in Lutter, Umwandlungsgesetz, 2. Aufl. 2000, § 14 Rn. 13; Marsch-Barner in Kallmeyer, Kommentar zum Umwandlungsgesetz, 2. Aufl. 2001, § 14 Rn. 13. 18 Die Anfechtungsgründe sind innerhalb der Frist in ihrem wesentlichen tatsächlichen Kern vorzutragen; vgl. Hüffer, Kommentar zum AktG, 5. Aufl. 2002, § 246 Rn. 26. 19 Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist gem. § 4 Abs. 2 SpruchG zu begründen. Dabei sind auch konkrete Einwendungen gegen den als Grundlage für die Kompensation ermittelten Unternehmenswert des Antragsgegners zu machen. Die Beteiligten unterliegen außerdem einer Verfahrensförderungspflicht (§ 9 Abs. 1 SpruchG). Das Gericht hat aber die Möglichkeit, verspätetes Vorbringen zuzulassen (§ 10 SpruchG). Sofern sich erst während des Verfahrens Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Unternehmensbewertung ergeben, können diese folglich noch vorgetragen und berücksichtigt werden. 20 Der BGH hat in der Entscheidung BGHZ 146, 179, 189 zum Ausdruck gebracht, beim Formwechsel könne es geboten sein, wegen einer zu hohen Festsetzung der Abfindung zu-

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Die unterschiedliche Rechtslage ist kaum zu begreifen und kann schwerlich mit dem Argument gerechtfertigt werden, der Ausschluss des Klagerechts würde zu tief in das allgemeine Gesellschaftsrecht eingreifen. 21 Träfe dies zu, müsste auch den Aktionären der übertragenden Gesellschaft eine Anfechtung des Beschlusses eingeräumt werden. Es verwundert daher nicht, dass sich Praxis und Wissenschaft mit Vehemenz für eine Erstreckung des Anfechtungsausschlusses auf die Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft aussprechen. 22 Obwohl der Gesetzgeber in anderen Bereichen des Aktienrechts einen vermögensrechtlichen Aktionärsschutz verfolgt, konnte er sich zu einer Änderung der §§ 14, 15 UmwG noch nicht durchringen. 23 Die Praxis hilft sich daher auf andere Weise. So wird angesichts der für die Gesellschaften und deren Aktionäre misslichen Rechtslage in der Regel der Weg einer Verschmelzung zur Neugründung gewählt. 24 Konsequenz ist, dass die Aktionäre aller an der Fusion beteiligten Gesellschaften einen Ausgleich durch bare Zuzahlung verlangen können. Eine Anfechtung des Verschmelzungsbeschlusses wegen Bewertungsfehlern ist ihnen gem. § 14 Abs. 2 UmwG nicht möglich. Dies rechtfertigt es, in den weiteren Überlegungen das Augenmerk vor allem auf den Schutz der Aktionäre einer übertragenden Gesellschaft durch die verschiedenen, in Betracht kommenden Haftungsregeln zu lenken.

gunsten der ausgeschiedenen Aktionäre auch den in der Gesellschaft verbliebenen Aktionären das Spruchverfahren zu eröffnen. Bei der Verschmelzung soll ein entsprechendes Bedürfnis bestehen; vgl. Röhricht in VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2001, VGR Bd. 5 (2002), S. 3, 33. Diese Überlegungen können jedoch allenfalls als ein Beitrag zur rechtspolitischen Diskussion über die Funktionsfähigkeit des bestehenden Sanktionensystems verstanden werden. Die Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft verfügen de lege lata über keinen Ausgleichsanspruch, den sie im Spruchverfahren geltend machen könnten. Vgl. J. Vetter ZHR 168 (2004), 8, 35. 21 So Begr. RegE § 14 UmwG, abgedr. bei Ganske, Umwandlungsrecht, 2. Aufl. 1995, S. 64. Vgl. zu den Problemen des Kapitalschutzes Ihrig, ZHR 168 (2004), 8, 25. 22 Bayer, ZHR 163 (1999), 505, 548 ff.; Bork, ZGR 1993, 343, 354; Gehling in Semler/ Stengel, Kommentar zum Umwandlungsgesetz, 2003, § 14 Rn. 31; Hoffmann-Becking ZGR 1990, 482, 485; Martens, AG 2000, 301, 308; Schmitt/Hörtnagl/Stratz UmwG-Stratz (Fn. 4), § 14 Rn. 20. 23 In der rechtspolitischen Diskussion ist wiederholt vorgeschlagen worden, den Anfechtungsausschluss auf die Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft zu erstrecken. Vgl. Baums, Verhandlungen des 63. DJT, 2000, Bd. I, S. 120 ff.; Baums (Hrsg.), Bericht der Regierungskommission Corporate Governance, 2002, Rn. 151. Es hätte nahe gelegen, die Forderung im Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts umzusetzen. In dem im Januar 2004 vorgelegten Entwurf ist dies jedoch nicht geschehen. 24 Vgl. Ihrig, ZHR 168 (2004), 8, 25.

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IV. Organhaftung der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats 1. Grundlagen Die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats sind als Gesamtschuldner zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den die Aktionäre der übertragenden Gesellschaft durch die Verschmelzung erleiden. Eine Ersatzpflicht trifft sie nicht, wenn sie bei der Prüfung der Vermögenslage der Gesellschaften ihre Sorgfaltspflichten beobachtet haben (§ 25 Abs. 1 UmwG). Der Anspruch geht auf Art. 20 Abs. 3 der Verschmelzungsrichtlinie zurück. 25 Hiernach müssen die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zumindest die zivilrechtliche Haftung der Mitglieder des Verwaltungs- oder Leitungsorgans der übertragenden Gesellschaft gegenüber den Aktionären dieser Gesellschaft für schuldhaftes Verhalten von Mitgliedern dieses Organs bei der Vorbereitung und dem Vollzug der Verschmelzung regeln. Zentraler Anwendungsbereich des Schadensersatzanspruchs ist das hier diskutierte Szenarium eines unangemessenen Umtauschverhältnisses der Anteile auf Grund fehlerhafter Unternehmensbewertungen. 26 In einem solchen Fall erleidet die Gesellschaft selbst keinen Schaden erleidet. Es werden vielmehr die vermögensrechtlichen Interessen der Aktionäre verletzt. Die allgemeine organschaftliche Geschäftsleiterhaftung (§ 93 AktG) kann daher keine Anwendung finden; 27 § 25 Abs. 1 UmwG schließt folglich eine Sanktionslücke. Klärungsbedürftig sind zwei Aspekte: Erstens, ob die Schadensersatzhaftung als ein funktionsfähiges Instrument konstruiert ist, und zweitens, ob sie im System des vermögensrechtlichen Aktionärsschutzes wirklich benötigt wird. So haben die Aktionäre der übertragenden Gesellschaft bei einem unangemessenen Umtauschverhältnis einen Ausgleichsanspruch (§ 15 UmwG), den sie im Spruchverfahren geltend machen können. Auf Grund der inter-omnes-Wirkung der gerichtlichen Entscheidung (§ 13 Satz 2 SpruchG) profitieren hiervon auch jene Aktionäre, die nicht bzw. nicht fristgerecht einen Antrag gestellt haben. Es fragt sich daher, in welchem Verhältnis der Ausgleichsanspruch (§ 15 Abs. 1 UmwG) und die in § 25 Abs. 1 UmwG normierte Schadensersatzhaftung zueinander stehen.

25 Dritte Richtlinie des Rates vom 9. Oktober 1978 betreffend die Verschmelzung von Aktiengesellschaften (78/855/ EWG), ABl . EG Nr. L 295/36 vom 20. 10. 1978; abgedr. u. a. bei Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2003, Rn. 258. 26 Lutter UmwG-Grunewald (Fn. 3), § 25 Rn. 14; Schnorbus ZHR 167 (2003), 666, 693. 27 Clemm/Dürrschmidt (Fn. 2), S. 3, 6; Schnorbus, ZHR 167 (2003), 666, 673.

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2. Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer Haftung gem. § 25 UmwG a) Pflichtverletzung Eine Haftung des Vorstands setzt eine objektive Pflichtverletzung bei Prüfung der Vermögenslage voraus. Ferner ist erforderlich, dass der Vorstand schuldhaft gehandelt hat. Ihm obliegt es, sich hinsichtlich einer etwaigen Pflichtverletzung und eines Verschuldens zu entlasten (§ 25 Abs. 1 Satz 2 UmwG).28 Die Rechtsprechung hat bisher keine Gelegenheit gehabt, den Pflichtenkatalog der Geschäftsleitung zu konkretisieren. Ausgangspunkt muss die vom Gesetz festgelegte Pflichtenlage sein. Hiernach haften die Mitglieder des Vorstands und Aufsichtsrats für Pflichtverletzungen bei Prüfung der Vermögenslage der an der Verschmelzung beteiligten Rechtsträger. Schadensersatz kann demnach zu leisten sein, wenn ein Geschäftsleiter die Vermögenslage der übertragenden und/oder der übernehmenden Gesellschaft nicht ordnungsgemäß ermittelt hat. Die hierbei zu beachtenden Pflichten sind bereits in den wesentlichen Grundzügen aufgezeigt worden. 29 Als Quintessenz dieser Überlegungen ist herauszustellen, dass der Vorstand sich ein eigenes Urteil über der von den externen Sachverständigen ermittelten Unternehmenswert bilden muss. Kommt er diesen Pflichten nicht nach, so macht er sich gem. § 25 Abs. 1 UmwG schadensersatzpflichtig. Fraglich ist allerdings, ob ihm auch das Fehlverhalten der Wirtschaftsprüfer analog § 278 BGB zuzurechnen ist. Das Problem stellt sich in vergleichbarer Weise bei der organschaftlichen Haftung eines Mitglieds des Vorstands (§ 93 Abs. 2 AktG), wenn dieses Angestellte des Unternehmens mit Geschäftsführungsmaßnahmen betraut. Die h.M. lehnt eine Zurechnung des Fremdverschuldens mit der Erwägung ab, Geschäftsherr sei nicht der Vorstand, sondern die Gesellschaft. 30 Ebenso verhält es sich bei der Bewertung des Unternehmens durch externe Gutachter. Vertragspartner der Wirtschaftsprüfer ist die Gesellschaft, so dass der Vorstand nur für eigenes Verschulden einzustehen hat. b) Schaden Ein Schaden der Aktionäre der übertragenden Gesellschaft kann erst mit Wirksamwerden der Verschmelzung entstehen. Auf Grund einer fehlerhaften Ermittlung des Umtauschverhältnisses erleiden die Aktionäre eine Vermögenseinbuße in Höhe der Differenz zwischen dem Wert der Aktien, welche sie bei einem Umtauschverhältnis erlangt hätten, das die Wertrelation Lutter UmwG-Grunewald (Fn. 3), § 25 Rn. 13. Siehe oben unter II .1. 30 Vgl. Hüffer AktG (Fn. 18), § 93 Rn. 14; Mertens in Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl., 1988, § 93 Rn. 18. 28 29

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exakt wiederspiegelte, und dem Wert der Aktien, die sie auf Grund der im Verschmelzungsvertrag getroffenen Abrede erhalten haben. Allerdings soll nach manchen Stimmen ein Schaden der Aktionäre jedenfalls dann nicht entstehen, wenn diese im Spruchverfahren eine bare Zuzahlung zugesprochen bekommen. 31 Falls die Aktionäre ein Spruchverfahren nicht eingeleitet haben, müssten sie sich ein erhebliches Mitverschulden anrechnen lassen. 32 Zum Teil wird sogar die Auffassung vertreten, das Instrument eines im Spruchverfahren geltend zu machenden Ausgleichs (§ 15 UmwG, §§ 1 ff. SpruchG) sei gegenüber den umwandlungsrechtlichen Schadensersatzregeln vorrangig. 33 Folgt man dieser Auffassung, käme der Vorstandshaftung nach § 25 UmwG keine nennenswerte praktische Bedeutung zu. Selbst wenn das Spruchverfahren noch nicht abgeschlossen wäre, müsste eine Schadensersatzklage als derzeit unbegründet abgewiesen werden. Die im Ergebnis einhellige Position erscheint freilich bei näherem Hinsehen zweifelhaft zu sein. So vermag die verschiedentlich geäußerte Ansicht, die Aktionäre würden wegen ihres Ausgleichsanspruchs (§ 15 Abs. 1 UmwG) keinen Schaden erleiden, schwerlich zu überzeugen. 34 Zur Debatte kann allein stehen, ob der Anspruch auf bare Zuzahlung als ein aus dem schädigenden Ereignis resultierender Vorteil anzurechnen ist. Das Institut der Vorteilsausgleichung hat durch eine umfangreiche Rechtsprechung mittlerweile klare Konturen erlangt. Nach der gängigen Formel muss der wirtschaftliche Vorteil erstens durch das schadensbegründende Ereignis adäquat kausal verursacht worden sein, seine Anrechnung muss dem Geschädigten zweitens zumutbar sein und dem Zweck des Schadensersatzes entsprechen; drittens darf der Schädiger nicht unbillig entlastet werden. 35 aa) Begründung eines Ausgleichsanspruchs als wirtschaftlicher Vorteil aus dem schädigenden Ereignis Es ist inzwischen anerkannt, dass die Leistung eines Dritten nur dann anrechnungsfähig ist, wenn zwischen dem schädigenden Ereignis und dem Vorteil ein adäquater Kausalzusammenhang besteht. 36 Dieses Element einer Vorteilsausgleichung wird in den hier interessierenden Fällen stets erfüllt sein. Die Ausgleichsansprüche zu Gunsten der Aktionäre entstehen ebenso 31 Clemm/Dürrschmidt (Fn. 2), S. 3, 9; Widmann/Mayer UmwG-Vossius (Fn. 4), § 25 Rn. 37. 32 Clemm/Dürrschmidt (Fn. 2), S. 3, 9; Lutter UmwG-Grunewald (Fn. 3), § 25 Rn. 15; Kübler (Fn. 3), § 25 Rn. 23; Marsch-Barner (Fn. 17), § 25 Rn. 11; Schnorbus ZHR 167 (2003), 666, 698; Widmann/Mayer UmwG – Vossius (Fn. 4), § 25 Rn. 25. 33 Vgl. Schmitt/Hörtnagl/Stratz UmwG-Stratz (Fn. 4), § 25 Rn. 17; sympathisierend Widmann/Mayer UmwG-Vossius (Fn. 4), § 25 Rn. 25 Fn. 4. 34 Ebenso Schnorbus ZHR 167 (2003), 666, 697. 35 Vgl. BGHZ 8, 325, 329; 10, 107, 108; 81, 271, 275; 91, 210; BGH NJW 1990, 1360. 36 BGHZ 49, 56, 61; 81, 271, 275; BGH NJW 1990, 1360.

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wie die Schadensersatzansprüche gegen die Geschäftsleitung mit Wirksamwerden der Verschmelzung. Sie resultieren aus der Pflichtverletzung des Vorstands bei der Prüfung der Vermögenslage und sind somit durch das schädigende Ereignis adäquat kausal verursacht worden. bb) Zumutbarkeit einer Anrechnung Schwieriger zu beurteilen ist, ob die Anrechnung des Vorteils aus Sicht des Geschädigten zumutbar ist. Die Frage ist maßgeblich mit Blick darauf zu beantworten, ob dies mit dem Zweck des möglicherweise anzurechenden Anspruchs – hier des gesetzlichen Ausgleichs (§ 15 Abs. 1 UmwG) – vereinbar ist. 37 Dafür spricht zum einen, dass der Ausgleich in Gestalt einer baren Zuzahlung vom Gesetzgeber als ein besonderes Instrument ausgestaltet wurde, das die durch ein unangemessenes Umtauschverhältnis ausgelösten Vermögenseinbußen der Aktionäre kompensieren soll. Ein Aktionär kann selbst dann eine Zuzahlung verlangen, wenn er keinen Widerspruch gegen den Beschluss eingelegt oder sich sogar für das Verschmelzungsvorhaben ausgesprochen hat. 38 Außerdem kann ein Aktionär seine Interessen im Spruchverfahren auf eine kostengünstige Weise effektiv durchsetzen. Spruchverfahren werden zwar oft mehrere Jahre geführt, bevor eine rechtskräftige Entscheidung ergeht. Doch kommt diesem Aspekt keine entscheidende Bedeutung zu. Der Anspruch auf bare Zuzahlung ist angemessen zu verzinsen (§ 15 Abs. 2 Satz 1 UmwG), so dass sich eine lange Verfahrensdauer nicht zu Lasten der Aktionäre auswirkt. Das Spruchverfahren wird den vielschichtigen Interessen und Motivationen der Aktionäre auch nach der jüngsten Reform in ausreichender Weise gerecht. Das zuständige Landgericht bestellt für die Aktionäre, die antragsberechtigt sind, aber keinen eigenen Antrag gestellt haben, einen gemeinsamen Vertreter (§ 6 Abs. 1 SpruchG), der deren Interessen vertritt. Der gemeinsame Vertreter kann das Verfahren selbst bei Rücknahme eines Antrags weiterführen (§ 6 Abs. 3 SpruchG). Es ist daher der als Antragsgegnerin beteiligten übernehmenden Gesellschaft nicht möglich, durch freiwillige Leistungen an die Antragsteller das Verfahren vorzeitig zu beenden. 39 Eine Anrechnung des Ausgleichs auf eine Schadensersatzleistung des Vorstands wird somit dessen Zweck gerecht und ist für den betroffenen Aktionär zumutbar. 40 Vgl. BGHZ 10, 107, 108. Vgl. Lutter UmwG-Bork (Fn. 17), § 15 Rn. 4; Kallmeyer UmwG-Marsch-Barner (Fn. 17), § 15 Rn. 5. 39 Vgl. zum alten Recht Krieger, in Lutter, Umwandlungsgesetz, 2. Aufl. 2000, § 308 Rn. 1. 40 Nach h.M. soll sich ein Aktionär gem. § 254 Abs. 2 Satz 1 BGB ein Mitverschulden zurechnen lassen müssen, wenn er ein Spruchverfahren nicht eingeleitet hat. Dies wird man freilich nur im Einzelfall definitiv beurteilen können. So ist es durchaus vorstellbar, dass 37 38

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cc) Unbillige Entlastung des Schädigers Zweifel gegen eine Berücksichtigung der Ausgleichsansprüche resultieren aus der Präventivfunktion der umwandlungsrechtlichen Schadensersatzhaftung. Es könnte unbillig sein, eine primäre Zahlungspflicht der Gesellschaft in Gestalt barer Zuzahlungen (§ 15 Abs. 1 UmwG) zu begründen, da in diesem Fall die Schadensersatzhaftung keine verhaltenssteuernde Wirkung entfaltete. Dieser Gesichtspunkt ist in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den haftungsrechtlichen Verantwortlichkeiten der Geschäftsleitung bislang noch nicht beleuchtet worden, was sich bei näherer Betrachtung als ein Versäumnis erweist. Die Vorstandshaftung gem. § 25 UmwG ist im System der organschaftlichen Haftung der Geschäftsleitung zu verorten. Sie unterscheidet sich zwar von der in § 93 Abs. 2 AktG verankerten Schadensersatzpflicht in einem zentralen Punkt. So können im Gegensatz zu der allgemeinen haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit auch Aktionäre der Gesellschaft ihren Schaden gegenüber dem Vorstand geltend machen. Doch rechtfertigt es dieser Aspekt nicht, die Funktionen der umwandlungsrechtlichen Haftung anders zu beurteilen.41 Die Haftung des Vorstands soll zum einen den Ausgleich von Schäden gewährleisten. Zum anderen verfolgt sie aber auch das Ziel, den Vorstand zu einem rechtmäßigen Verhalten anzuleiten. Der letzteren Funktion wird in der wissenschaftlichen Debatte über die organschaftliche Geschäftsleiterhaftung zunehmend Bedeutung beigemessen. 42 Ferner ist zu bedenken, dass eine Außenhaftung maßgeblich unter Präventionsaspekten zu interpretieren ist. Der Ausgleichsgedanke spielt eine untergeordnete Rolle, da die geschäftsleitenden Organe in der Regel nicht über ausreichend Vermögen verfügen, das eine Kompensation der zugefügten Nachteile ermöglichen würde. So wird die in der rechtspolitischen Diskussion von zahlreichen Stimmen geforderte Außenhaftung des Vorstands wegen fehlerhafter Information des Kapitalmarkts in erster Linie mit dem Präventionsgedanken gerechtfertigt.43 Als Ergebnis der bisherigen Überlegungen kann festgehalten werden, dass das Umwandlungsrecht eine haftungsrechtliche Sanktion bereit zu halten hat, die geeignet ist, das Verhalten der Geschäftsleitung zu steuern. Diesen erst mehrere Monate nach der Verschmelzung sich Anhaltspunkte für eine unzutreffende Bewertung der Unternehmen ergeben. In diesem Fall verbietet es sich aber, einen Schadensersatzanspruch des Aktionärs mit der Begründung abzulehnen, er hätte binnen zwei Monaten nach dem Tag der Bekanntmachung der Eintragung der Verschmelzung in das Handelsregister der übernehmenden Gesellschaft das Spruchverfahren „ins Blaue hinein“ einleiten können. In diesem Sinne auch Schnorbus ZHR 167 (2003), 666, 698. 41 So auch Schnorbus ZHR 167 (2003), 666, 671. 42 Vgl. Hopt in Großkommentar zum Aktiengesetz, 4. Aufl., 1999, § 93 Rn. 11; Lutter ZHR 159 (1995), 287, 305. 43 Vgl. Fleischer, Gutachten F zum 64. Deutschen Juristentag, 2002, S. 102 f. („nicht unbeträchtliche Präventivwirkung“); Veil ZHR 167 (2003), 365, 397f.; Zimmer WM 2004, 9, 12.

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Anforderungen wird der in § 25 Abs. 1 UmwG verankerte Schadensersatzanspruch gerecht; die strengen Haftungsvoraussetzungen lassen ihn als ein scharfes Schwert erscheinen, das die Mitglieder der Verwaltung anhält, ihren Pflichten nachzukommen. Die Anforderungen sind aber auch bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Schadensersatzanspruch und dem Ausgleichsanspruch zu beachten. Der mit einer möglichen Haftung verbundene Disziplinierungseffekt würde nicht erreicht werden, wenn dem Ausgleich gem. § 15 Abs. 1 UmwG die Wirkung beigemessen würde, dass eine Schadensersatzhaftung der Verwaltungsmitglieder in der praktisch relevanten Konstellation eines unangemessenen Umtauschverhältnisses der Anteile in der Regel ausgeschlossen ist. Die von der h.M. vertretene These, die gesetzlichen Ausgleichsansprüche in Gestalt von baren Zuzahlungen seien in der Regel auf den Schadensersatzanspruch anzurechnen, ist daher abzulehnen.

V. Haftung der Verschmelzungsprüfer Die Verschmelzungsprüfer sind unmittelbar gegenüber den Aktionären der an der Verschmelzung beteiligten Gesellschaften verantwortlich, soweit sie die ihnen obliegenden Pflichten schuldhaft verletzt haben (§ 11 Abs. 2 UmwG i.V.m. § 323 HGB ). Folglich können Aktionäre der übertragenden als auch der übernehmenden Gesellschaft Befriedigung bei diesen Personen suchen, wenn sie durch ein nicht zutreffend bemessenes Umtauschverhältnis in ihren Rechten verletzt werden und die Verschmelzungsprüfer pflichtwidrig gehandelt haben. Diese Schadensersatzhaftung hat nicht die gleiche Bedeutung wie die organschaftliche Haftung der Verwaltungsmitglieder gem. § 25 Abs. 1 UmwG. Grund hierfür ist in erster Linie, dass von den Verschmelzungsprüfern nicht verlangt werden kann, den gesamten Vorgang en detail aufzuschlüsseln und den Unternehmenswert der Gesellschaften selbständig festzustellen.44 Die Prüfer brauchen lediglich auf der Grundlage der ihnen zur Verfügung gestellten Zahlen und Rechnungen dazu Stellung nehmen, ob die getroffenen Annahmen vertretbar sind.45 Es wird ihnen anders als dem Vorstand meist nicht möglich sein, Unstimmigkeiten oder Unvollständigkeiten in tatsächlicher Hinsicht aufzuspüren. Schwierigkeiten bereitet wiederum die Frage, ob die Ausgleichsansprüche der Aktionäre als wirtschaftliche Vorteile zu qualifizieren sind, die auf die Schadensersatzleistungen der Verschmelzungsprüfer anzurechnen sind. Ausschlaggebend hierfür müssen gleichfalls die Funktionen der PrüferhafMüller in Kallmeyer, Kommentar zum Umwandlungsgesetz, 2. Aufl., 2001, § 9 Rn. 22. Kallmeyer UmwG-Müller (Fn. 44), § 9 Rn. 22; Zeidler in Semler/Stengel, Kommentar zum Umwandlungsgesetz, 2003, § 9 Rn. 29 f. 44 45

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tung sein. Die Schadensersatzpflicht wird zum einen vom Ausgleichsgedanken getragen. Zum anderen ist ihr ebenso wie die in § 323 Abs. 1 HGB vorgesehene Haftung des Abschlussprüfers ein präventiver Charakter beizumessen. Die Verschmelzungsprüfer werden durch Androhung einer haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit angehalten, ihren Pflichten ordnungsgemäß nachzukommen. Dies spricht dafür, dass etwaige im Spruchverfahren festgesetzte Zuzahlungen ebenfalls nicht anzurechnen sind.

VI. Vertragshaftung der mit der Unternehmensbewertung beauftragten Wirtschaftsprüfer Eine haftungsrechtliche Verantwortlichkeit der mit der Ermittlung des Unternehmenswerts beauftragten Wirtschaftsprüfer kommt in Betracht, wenn der zwischen den externen Sachverständigen und der Gesellschaft geschlossene Vertrag Schutzwirkungen zu Gunsten der Aktionäre entfaltet. Die Möglichkeiten und Grenzen einer Expertenhaftung werden bekanntlich höchst kontrovers diskutiert. Eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Positionen ist an dieser Stelle nicht möglich. Immerhin kann eine im Kern gefestigte Rechtsprechung zu Grunde gelegt werden, die der Haftung des Abschlussprüfers und anderer auf „freiwilliger Basis“ tätiger Sachverständiger an Hand von vier Kriterien erste Konturen verliehen hat. 1. Leistungsnähe und berechtigtes Interesse des Gläubigers Ein Drittschutz setzt voraus, dass der Dritte bestimmungsgemäß mit der geschuldeten Leistung in Kontakt kommt und daher den Gefahren einer Schlechtleistung in gleichem Maße ausgesetzt ist wie der Gläubiger. 46 Das bloße Interesse eines Dritten an der Richtigkeit des Gutachtens soll nicht genügen. 47 Es wird vielmehr für erforderlich gehalten, dass das Gutachten dem Dritten als Grundlage für eine Entscheidung dienen soll. 48 Ein Drittschutz sei abzulehnen, wenn das Gutachten bloß für einen internen Gebrauch bestimmt sei. 49 In den hier interessierenden Konstellationen beauftragt der Vorstand im Namen der Gesellschaft einen Wirtschaftsprüfer mit der Bewertung des Unternehmens, um das Umtauschverhältnis der Anteile zutreffend zu ermitteln. Das Wertgutachten wird aber in der Regel den Aktionären nicht be46 Vgl. Janoschek in Bamberger/Roth, Komm. z. BGB , 2003, § 328 Rn. 51; Gottwald in Münchener Kommentar zum BGB , 4. Aufl. 2003, § 328 Rn. 110. 47 Vgl. MünchKommAktG-Gottwald (Fn. 46), § 328 Rn. 167. 48 Vgl. BGH NJW- RR 1989, 696; BGH NJW 1987, 1758, 1759; MünchKommAktG-Gottwald (Fn. 46), § 328 Rn. 167. 49 Vgl. OLG Köln VersR 2003, 744.

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kannt gegeben. Dies könnte gegen einen vertraglichen Schutz der Aktionäre sprechen. Allerdings ist zu bedenken, dass eine ordnungsgemäße Bestimmung des Unternehmenswerts sowohl für die Aktionäre der übertragenden als auch für die Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist; nur unter dieser Prämisse erleiden sie keine Vermögenseinbuße. Zu berücksichtigen ist ferner, dass sich die Unternehmensbewertung im vereinbarten Umtauschverhältnis artikuliert und in den Verschmelzungsbericht Eingang findet. Die Aktionäre „vertrauen“ auf das Ergebnis der Prüfer, wenn sie in der Hauptversammlung der Verschmelzung zustimmen. Aus diesen Gründen haben auch die Gesellschaften ein berechtigtes Interesse am Schutz ihrer Aktionäre. 2. Zumutbares Haftungsrisiko und Schutzbedürftigkeit des Dritten Die Leistungsnähe der Aktionäre und das berechtigte Schutzinteresse der an der Fusion beteiligten Gesellschaften sind für die Wirtschaftsprüfer erkennbar. Nach gefestigter Meinung ist es nicht erforderlich, dass der Schuldner die Zahl und die Namen der Dritten kennt.50 Mit Blick auf eine Begrenzung des Haftungsrisikos soll es ausreichend sein, dass es sich um eine überschaubare Personengruppe handelt.51 Die h.M. verlangt für einen Drittschutz aber weiter, dass der Dritte in besonderem Maße schutzbedürftig ist.52 Er darf keinen eigenen Ersatzanspruch haben, der inhaltsgleich ist mit dem Anspruch, der ihm im Falle eines vertraglichen Drittschutzes zustünde.53 Ein näherer Blick auf dieses Kriterium der Schutzbedürftigkeit vermittelt ein diffuses Bild. Anerkannt ist lediglich, dass ein Drittschutz nicht abzulehnen ist, wenn der Dritte über einen deliktischen Schadensersatzanspruch verfügt.54 Es kann hier nicht dazu Stellung genommen werden, ob die Judikatur die virulenten Fälle überzeugend löst. Vielmehr muss es genügen, als Ausgangspunkt für eine zutreffende Beurteilung der aufgeworfenen Frage das Bestreben der Rechtsprechung herauszustellen, eine Schutzbedürftigkeit nur bei Bestehen gleichwertiger Ersatzansprüche abzulehnen.55 Insoweit ist zwischen den Aktionären der übertragenden Gesellschaft und den Aktionären der übernehmenden Gesellschaft zu unterscheiden. 50 Vgl. BGH NJW 1995, 51, 53; BGHZ 127, 378, 381; MünchKommAktG-Gottwald (Fn. 46), § 328 Rn. 116; Bamberger/Roth BGB-Janoschek (Fn. 46), § 328 Rn. 53. 51 Vgl. MünchKommAktG-Gottwald (Fn. 46), § 328 Rn. 116; Bamberger/Roth BGBJanoschek (Fn. 46), § 328 Rn. 53. 52 Vgl. MünchKommAktG-Gottwald (Fn. 46), § 328 Rn. 117; Bamberger/Roth BGBJanoschek (Fn. 46), § 328 Rn. 54. 53 Vgl. BGHZ 133, 168, 173; Jagmann in Staudinger, Kommentar zum BGB , 13. Bearb. 2001, § 328 Rn. 106; Bamberger/Roth BGB-Janoschek (Fn. 46), § 328 Rn. 54 54 Vgl. Brox/Walker, Allgemeines Schuldrecht, 29. Aufl. 2003, § 33 Rn. 12. 55 Vgl. BGH NJW 1993, 655, 656; NJW 1996, 2927, 2929.

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Ein Aktionär der übertragenden Gesellschaft verfügt über ein reichhaltiges Arsenal an zivilrechtlichen Ausgleichsinstrumenten. Im Vordergrund steht der von der übernehmenden Gesellschaft geschuldete Ausgleich, der ohne nennenswerte Kosten und Risiken im Spruchverfahren verfolgt werden kann. Ferner ist es möglich, von den Mitgliedern des Vorstands bzw. Aufsichtsrats (§ 25 Abs. 1 UmwG) und den Verschmelzungsprüfern (§ 11 Abs. 2 UmwG i.V.m. § 323 HGB ) Schadensersatz zu verlangen. Die Haftung dieser Personen ist nicht subsidiär gegenüber dem gem. § 15 Abs. 1 UmwG geschuldeten Ausgleich. Die im Spruchverfahren festzusetzenden baren Zuzahlungen sind auf die Schadensersatzansprüche der Aktionäre nicht anzurechnen. Vor diesem Hintergrund können die Aktionäre der übertragenden Gesellschaft schwerlich als schutzbedürftig qualifiziert werden. Anders stellt sich die Rechtslage hinsichtlich der Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft dar. Diese müssen Bewertungsrügen durch eine Anfechtungsklage geltend machen. Sie können lediglich die Verschmelzungsprüfer auf Schadensersatz in Anspruch nehmen. Die Bedeutung dieses Ersatzanspruchs ist freilich auf Grund der geringen Kontrolldichte der Prüfungstätigkeit gering. Demgegenüber hat der von der Gesellschaft eingeschaltete Wirtschaftsprüfer eine umfassende Bewertung vorzunehmen. Ein auf fehlerhafte Bewertung gestützter Schadensersatzanspruch weist folglich eine andere Struktur auf als die in § 11 Abs. 2 UmwG i.V.m. § 323 HGB verankerte Haftung der Verschmelzungsprüfer. Den Aktionären der übernehmenden Gesellschaft kann daher eine Schutzbedürftigkeit nicht abgesprochen werden. Es ist im Einzelfall daher denkbar, dass sie in den Schutzbereich des zwischen ihrer Gesellschaft und den Wirtschaftsprüfern geschlossenen Vertrags einzubeziehen sind.

VII. Ergebnisse Herzstück einer Verschmelzung von Aktiengesellschaften ist das im Verschmelzungsvertrag festgelegte Umtauschverhältnis der Anteile. In der Praxis ist es üblich, dass die Vorstände der an der Fusion beteiligten Gesellschaften zur Ermittlung der Unternehmenswerte externe Gutachter beauftragen, ein Wertgutachten zu erstatten. In diesem Fall ist die Geschäftsleitung verpflichtet, die den Gutachten zu Grunde liegenden Zahlen zu überprüfen. Ferner haben sie zu kontrollieren, ob die getroffenen Annahmen und die Rechnungen plausibel sind. Der Vorstand hat bei Festlegung des Umtauschverhältnisses sicher zu stellen, dass die Aktionäre keine Vermögenseinbuße erleiden. Die Analyse des Haftungsregimes offenbart freilich, dass die Aktionäre der übertragenden Gesellschaft auf ein reichhaltiges Instrumentarium zu-

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greifen können, das ihnen einen effektiveren Schutz gewährt als den Aktionären der übernehmenden Gesellschaft. Im Vordergrund steht das Recht der Aktionäre der übertragenden Gesellschaft, bei einer unzutreffenden Wertrelation einen Ausgleich in Gestalt einer baren Zuzahlung zu verlangen (§ 15 Abs. 1 UmwG). Ferner ist es ihnen möglich, vom Vorstand und Aufsichtsrat (§ 25 Abs. 1 UmwG) sowie von den Verschmelzungsprüfern (§ 11 Abs. 2 UmwG i.V.m. § 323 HGB) Schadensersatz zu verlangen. Eine Haftung der Wirtschaftsprüfer, die der Vorstand mit der Wertermittlung beauftragte, nach den Grundsätzen des Vertrags mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter kommt dagegen nicht in Betracht. Da die gesetzlichen Haftungsvorschriften auch präventive Funktionen verfolgen, ist es ausgeschlossen, die Ausgleichsansprüche der Aktionäre (§ 15 Abs. 1 UmwG) im Wege der Vorteilsausgleichung auf ihre Schadensersatzansprüche (§ 25 Abs. 1 UmwG und § 11 Abs. 2 UmwG i.V.m. § 323 HGB ) anzurechnen. Der Schutz der Aktionäre der übernehmenden Gesellschaft artikuliert sich in der Möglichkeit, den Beschluss der Hauptversammlung wegen eines unangemessenen Umtauschverhältnisses anzufechten. Schadensersatzansprüche stehen ihnen nur gegen die Verschmelzungsprüfer zu (§ 11 Abs. 2 UmwG i.V.m. § 323 HGB). Im Einzelfall kann es außerdem möglich sein, dass die Aktionäre sich gegenüber den mit der Unternehmensbewertung betrauten Wirtschaftsprüfern auf einen vertraglichen Drittschutz berufen können, so dass sie gegen diese eigene Schadensersatzansprüche geltend machen können. Diese Rechtslage ist höchst unbefriedigend. Die rechtspolitische Diskussion sollte das Ziel verfolgen, die Möglichkeiten eines Ausbaus des vermögensrechtlichen Schutzes der Aktionäre der übernehmenden Gesellschaften auszuloten und voranzutreiben.

Übergang des Rückgewährsanspruchs nach § 62 Abs. 1 AktG auf den Aktienerwerber Georg Wiesner

Inhaltsübersicht Seite

I. Einleitung und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Haftung des Rechtsnachfolgers bei Erwerb nicht voll eingezahlter Aktien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtsnatur der Haftung nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung und Problemstellung 1. Nach § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG dürfen den Aktionären die Einlagen nicht zurückgewährt werden. Über seinen Wortlaut hinaus wird dieses Verbot dahingehend verstanden, dass alles, was keine Ausschüttung von Bilanzgewinn darstellt, eine nach § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG verbotene Leistung ist, es sei denn, es greift eine gesetzlich zugelassene Ausnahme ein.1 § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG verkörpert somit den für das Aktienrecht zentralen Grundsatz der Kapitalerhaltung. Die Vorschrift wird durch § 62 AktG dahingehend ergänzt, dass Aktionäre und ihnen gleichgestellte Dritte zur Rückgewähr verpflichtet sind, wenn die Aktiengesellschaft dem Verbot des § 57 AktG zuwider unzulässige Vermögenszuwendungen an sie vorgenommen hat. § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG verkörpert nach ganz einhelliger Meinung nicht lediglich einen schuldrechtlichen Bereicherungsanspruch, sondern einen speziellen aktienrechtlichen Rückgewährsanspruch, der körperschaftlicher Natur ist.2 Zur Begründung für diese Rechtsnatur wird auf § 66 Abs. 2 AktG

1 BGH NJW 1992, 2821; OLG Frankfurt AG 1996, 324, 325; OLG Hamburg AG 1980, 275, 278; Henze in Großkommentar zum Aktiengesetz, 4. Aufl., 2001, § 57 Rn. 10; Th. Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, 3. Aufl., 2001, § 19 Rn. 1. 2 Großkomm AktG-Henze (Fn. 1) § 62 Rn. 11; Bayer in Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl., 2003, § 62 Rn. 7; Lutter in Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl., 1988, § 62 Rn. 4; Th. Raiser (Fn. 1) § 19 Rn. 11, der zu Recht darauf hinweist, dass Rechtsnatur und Tragweite des Rückgewährsanspruchs bislang wenig geklärt sind. Kritisch

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verwiesen.3 Dort wird der Rückgewährsanspruch mit dem aktienrechtlichen Einlageanspruch nach § 54 Abs. 1 AktG für das Verbot der Befreiung der Aktionäre von der Leistungspflicht für das Aufrechnungsverbot gleichgestellt. In der Literatur wird der Rückgewährsanspruch nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG wegen der dogmatischen Gleichstellung mit dem Einlageanspruch auch als „Wiedereinlageanspruch“ oder als „Rückeinlageanspruch“ bezeichnet.4 Für die Einlagepflicht nach § 54 Abs. 1 AktG ist unstreitig, dass der jeweilige Aktionär Schuldner ist, die Einlageverpflichtung also auf den Aktienerwerber übergeht. 5 Die Aktie verkörpert die Mitgliedschaft, in der die Einlagepflicht wurzelt. Es schuldet daher derjenige die Zahlung der ausstehenden Einlage, der das Mitgliedschaftsrecht durch Übernahme, Zeichnung oder derivativen Erwerb einer nicht (voll) eingezahlten Aktie erwirbt. Für die Wiedereinlage-Verpflichtung nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG wird dies anders gesehen. Zur Rückgewähr nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG soll grundsätzlich nur der Aktionär oder ein ihm wertungsmäßig gleichgestellter Dritter verpflichtet sein, der die verbotswidrige Leistung empfangen hat. Der Einzelrechtsnachfolger des Aktionärs, der die verbotene Leistung empfangen hat, soll – anders als der Gesamtrechtsnachfolger – nach einhelliger Meinung nicht nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG haften, da der Rückgewährsanspruch nicht an die Mitgliedschaft anknüpft, sondern an die Person des Empfängers der verbotenen Leistung. 6 Bedenken gegenüber dieser Auffassung hat – soweit ersichtlich – wohl nur Lutter.7 Im Rahmen der Kapitalaufbringung sei grundsätzlich der jeweilige Aktionär einlagepflichtig. Da die Rückgewähr der verbotswidrig empfangenen Leistung eine „Wiedereinlage“ darstelle, ist es nach Auffassung von Lutter nicht unbedenklich, wenn lediglich der empfangende Aktionär für die Rückgewähr haftet, nicht aber der Aktienerwerber. Lutter gibt jedoch zu bedenken, dass der Aktienerwerber mit einer „Wiedereinlage“-Schuld in keiner Weise habe rechnen können. Auch bei der originären Einlagepflicht werde der gutgläubige Aktienerwerber geschützt, indem er die Aktie gutgläubig lastenfrei – also ohne Einlageverpflichtung – erwerben könne. Mit dieser Begründung folgt Lutter mit gewissem Zögern der herrschenden Meinung. Lutter folgt der gegenüber dem rein aktienrechtlichen Verständnis des § 62 AktG Bommert, Verdeckte Vermögensverlagerungen im Aktienrecht, 1989, S. 93 ff. 3 Großkomm AktG-Henze (Fn. 1) § 62 Rn. 11; KölnerKommAktG-Lutter (Fn. 2) § 62 Rn. 5. 4 Lutter, Kapital, Sicherung der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung in den Aktienund GmbH-Rechten der EWG , 1964, S. 378 ff.; KölnerKommAktG-Lutter (Fn. 2) § 62 Rn. 5; Großkomm AktG-Henze (Fn. 1) § 62 Rn. 11. 5 Großkomm AktG-Henze (Fn. 1) § 54 Rn. 17; Hüffer Aktiengesetz, 5. Aufl., 2002, § 54 Rn. 4; Bungeroth in MünchKommAktG, 2. Aufl., 2003, § 54 Rn. 12. 6 Großkomm AktG-Henze (Fn. 1) § 62 Rn. 38; ebenso: Hüffer AktG (Fn. 5) § 62 Rn. 4; MünchKommAktG-Bayer (Fn. 2) § 62 Rn. 27. 7 Kölner Komm AktG-Lutter (Fn. 2) § 62 Rn. 14.

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herrschenden Meinung also nur, weil er den gutgläubigen Aktienerwerber für schutzbedürftig hält. Dabei drängen sich die Fragen auf, weshalb der bösgläubige Aktienerwerber ebenfalls des Schutzes bedarf und ob in diesen Fällen der Grundsatz der Kapitalerhaltung nicht eine Haftung des Aktienerwerbers für die verbotene Einlagenrückgewähr seines Vormanns erfordert. Dies gilt um so mehr, wenn der Erwerber die verbotene Einlagenrückgewähr an seinen Vormann kennt und mit Rücksicht darauf die Aktien günstig erwirbt. Praktisch kann diese Konstellation in den Fällen des finanzierten Aktienerwerb werden: Käufer K erwirbt von dem Verkäufer V Aktien an der A-AG . Da K den Kaufpreis nicht aus eigenen Mitteln aufbringen kann, finanziert die B-Bank den Kaufpreis und lässt sich zur Sicherheit von K die Aktien an der A-AG verpfänden. Als vorsichtige Bank macht die B-Bank die eigene Kreditgewährung davon abhängig, dass K einen Teil des Kaufpreises in Höhe von einem Drittel aus eigenen Mitteln aufbringt. Da K jedoch eigene Mittel nicht in ausreichender Höhe zur Verfügung stehen, nimmt K bei der C-Bank einen Kredit auf, der ihm aufgrund einer von der A-AG – unter Verstoß gegen § 57 AktG – gewährten Sicherheit zur Verfügung gestellt wird. Nachdem K zum vereinbarten Fälligkeitszeitpunkt den Kredit gegenüber der B-Bank nicht zurückführen kann und die C-Bank ebenfalls ihre Sicherheit verwerten musste, befriedigt sich die B-Bank aus den verpfändeten Aktien an der A-AG und erwirbt sie mangels anderweitiger Erwerbsinteressenten selbst zu einem Preis, der der Darlehensvaluta zuzüglich Zinsen und Kosten entspricht, also unter dem ursprünglichen Erwerbspreis von K liegt. In diesen Sachverhalt hat K durch die Veranlassung der durch die A-AG an die C-Bank gewährten und später verwerteten Sicherheit den Tatbestand § 57 AktG erfüllt und ist als Aktionär der A-AG zur Rückgewähr der verbotenen Leistung nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG verpflichtet. Im Einklang mit der ganz herrschenden Meinung kann sich die B-Bank als Erwerberin der Aktien von K bei einer Inanspruchnahme aus § 62 AktG gegenüber der A-AG darauf berufen, sie hafte als Erwerberin nicht nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG, obwohl sie im Hinblick auf den von der C-Bank gewährten Kredit und die hierfür von der A-AG gestellten Sicherheiten jedenfalls im Zeitpunkt des Erwerbs bösgläubig war. Gegenstand des Beitrags ist die Frage, ob eine Haftung der B-Bank nicht doch nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG als Rechtsnachfolger von K in Betracht kommt.

II. Haftung des Rechtsnachfolgers bei Erwerb nicht voll eingezahlter Aktien Bei Erwerb nicht voll eingezahlter Aktien trifft – wie eingangs gezeigt – den Erwerber die (Bar-)Einlagepflicht des früheren Aktionärs. Die Aktie verkörpert die Mitgliedschaft, in der die Einlagepflicht wurzelt. Es haftet da-

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her stets derjenige auf Zahlung, der Inhaber der Mitgliedschaft ist, gleichgültig ob er sie durch Aktienübernahme, Zeichnung junger Aktien oder Übertragung erworben hat. Die wohl allgemeine Meinung sieht die Bareinlagepflicht als dingliche Belastung der Aktie an. Dementsprechend lässt sie einen gutgläubig lastenfreien Aktienerwerb in entsprechender Anwendung der §§ 932, 936 BGB zu, soweit und sofern ein entsprechender Rechtsschein besteht. Hat etwa die Aktiengesellschaft entgegen § 10 Abs. 2 AktG Inhaberaktien ausgegeben, obwohl die Einlage noch nicht voll erbracht ist, so schuldet der gutgläubige Erwerber die noch ausstehende (Rest-)Einlage nicht. 8 Bei (noch) unverbrieften Aktien ist ein gutgläubig lastenfreier Erwerb mangels Rechtsscheins demgegenüber ausgeschlossen. 9 Der Erwerber haftet also stets für die noch ausstehende Einlage.

III. Rechtsnatur der Haftung nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG 1. Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG sind der Aktiengesellschaft „Leistungen, die sie … empfangen haben“ zurückzugewähren. „Sie“ bezieht sich auf die Schuldner des Anspruchs, nämlich die Aktionäre. Mithin ist nach dem Wortlaut der Vorschrift derjenige Aktionär Schuldner des Anspruchs, der die verbotswidrigen Leistung empfangen hat. Der Regelungsbereich des § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG ist jedoch nicht eindeutig. § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG regelt nach seinem Wortlaut lediglich den Fall, dass zwischen Einlagenrückgewähr und Inanspruchnahme des die verbotene Leistung empfangenen Aktionärs eine Übertragung seiner Aktien nicht stattgefunden hat. Aktionäre bleiben auch dann, wenn sie zwischenzeitlich ihre Aktien übertragen haben, Schuldner des Anspruchs aus § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG, obwohl sie zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme nicht mehr Aktionäre sind.10 Ob neben dem früheren Aktionär nach einer Übertragung der Aktien auch der Erwerber Schuldner des Rückgewährsanspruchs nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG ist, wird nicht geregelt. Insofern liegt eine Regelungslücke vor.11 2. Der Normzweck des § 62 Abs. 2 Satz 1 AktG liegt darin, einen Verstoß gegen das gesetzlich bestimmte Gebot der realen Kapitalerhaltung zu sank8 BGHZ 122, 180, 196 f.; RGZ 144, 138, 145; OLG Köln AG 2002, 92 f.; OLG Düsseldorf ZIP 1991, 161, 168; Wiesner in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, 2. Aufl., 1999,

§ 16 Rn. 4. 9

BGHZ 122, 180, 196; MünchKommAktG-Bayer (Fn. 2) § 54 Rn. 16.

Großkomm AktG-Henze (Fn. 1) § 62 Rn. 22. So für die solidarische Haftung nach § 31 Abs. 3 Goerdeler/Müller in Hachenburg, Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Großkommentar, 8. Aufl., 1992, § 31 Rn. 43. 10

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tionieren.,12 Dieses Gebot stellt zusammen mit dem Gebot der realen Kapitalaufbringung die umfassende Bindung des Gesellschaftsvermögens einer Aktiengesellschaft zum Schutz der Gläubiger, der Aktionäre und des Kapitalmarkts sicher. Die Ablehnung einer Haftung des Aktienerwerbers nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG ist angesichts der abweichenden Rechtslage für die (Bar-)Einlagepflicht nach § 54 AktG nur schwer einsichtig, da die Gebote realer Kapitalaufbringung und realer Kapitalerhaltung eine komplementäre Funktion haben. Für die Haftung des jeweiligen Aktionärs – also auch des Erwerbers – spricht weiterhin, dass der Anspruch aus § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG an eine Situation anknüpft, die aus der Sicht der Gesellschaft derjenigen vergleichbar ist, in der der Aktionär seine Einlagepflicht noch nicht erbracht hat. Für einen Gleichlauf von Einlage- und Rückgewährsverpflichtung spricht weiterhin die durch den Gesetzgeber vorgenommene Gleichbehandlung beider Ansprüche in § 66 Abs. 1 und 2 AktG. Für die Einlageverpflichtung nach § 54 AktG und die Rückgewährsverpflichtung nach § 62 Abs. 1 AktG gelten das Befreiungsverbot und das Aufrechnungsverbot des § 66 Abs. 1 AktG in gleicher Weise. Nach der Wertung des Gesetzgebers entsprechen sich Einlagepflicht und Rückgewährspflicht auch insoweit.13 Wegen dieser umfassenden dogmatischen Gleichstellung drängt sich auf, ebenso wie bei der Einlagepflicht nach § 54 AktG davon auszugehen, dass die Rückgewährsverpflichtung nach § 62 Abs. 1 AktG auf der Mitgliedsstellung des Empfängers beruht und daher Teil des Mitgliedschaftsrechts ist, der von ihm nicht abgespalten oder isoliert werden kann. 3. Die Rückgewährspflicht nach § 62 Abs. 2 Satz 1 AktG erfasst nicht nur die verbotswidrig zurückgewährte Einlage, die der Aktionär oder einer seiner Vormänner ursprünglich erbracht hat, sondern jegliche Leistung der Gesellschaft an einen Aktionär, die nicht Verteilung von Bilanzgewinn ist.14 Aus diesem Unterschied zur Einlagepflicht lässt sich nicht auf eine materielle Verschiedenartigkeit von Einlage- und Rückgewährspflicht und gegen ihre einheitliche Behandlung als mitgliedschaftliche, also an die Inhaberschaft an der Aktie geknüpfte Verpflichtungen schließen. Aufgrund dieses Unterschieds stellen sich jedoch Fragen, die bei der originären Einlagepflicht einfacher zu beantworten sind.15 Zu beantworten ist beispielsweise, in welcher Höhe die Rückgewährsverpflichtung des § 62 Abs. 1 AktG auf einen Aktienerwerber übergeht, der nur einen Teil der Aktien des Leistungsempfängers erwirbt. 12 Großkomm AktG-Henze (Fn. 1) § 62 Rn. 8; KölnerKommAktG-Lutter (Fn. 2) § 62 Rn. 3. 13 KölnerKommAktG-Lutter (Fn. 2) § 62 Rn. 3. 14 Großkomm AktG-Henze (Fn. 1) § 62 Rn. 39 ff. 15 Vgl. Großkomm AktG-Henze (Fn. 1) § 54 Rn.19 ff. und 31 ff.; KölnerKommAktGLutter (Fn. 2) § 54 Rn. 7 – 11; MünchKommAktG-Bungeroth (Fn. 5) § 54 Rn. 14 ff.

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Offen ist auch der Fall der Veräußerung an mehrere teils gutgläubige, teils bösgläubige Erwerber. Bei reinen Zahlungsverpflichtungen lassen sich relativ einfach eindeutige Antworten finden, wenn man an die erworbene Quote der vom Leistungsempfänger zum Zeitpunkt des Empfangs der verbotenen Leistung gehaltenen Aktien anknüpft. Geht die Rückgewährspflicht nach § 62 Abs. 1 AktG auf Übertragung einer konkreten Sache, kann in den vorgenannten Fällen jedenfalls keine Sach-Rückeinlagenverpflichtung gelten, sondern allenfalls eine anteilige Zahlungsverpflichtung. 4. Die Befürwortung eines Übergangs des Rückgewährsanspruchs gemäß § 62 Abs. 1 AktG als nicht isolierbarer Teil der Mitgliedschaft an der Aktiengesellschaft auf den Erwerber hat sich damit auseinanderzusetzen, dass – wie gezeigt – die ganz herrschende Meinung diese Auffassung ablehnt. Allerdings wird die Parallele zur Einlage – soweit ersichtlich – von keinem Autor näher untersucht. Lediglich Lutter hält – wie bereits mehrfach erwähnt – die unterschiedliche Behandlung der Einlagepflicht nach § 54 Abs. 1 AktG aufgrund der systematischen Identität der Wieder- oder Rückeinlagepflicht nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG für „nicht unbedenklich“. Im Hinblick auf den bei § 54 AktG erforderlichen Verkehrsschutz schließt er sich im Ergebnis aber der herrschenden Meinung an. Hierbei übersieht er freilich, dass damit der bösgläubige Erwerber einer mit einer Rückeinlagepflicht belasteten Aktie besser gestellt wird als der Erwerber einer mit einer ausstehenden Einlage belasteten Aktie, obwohl das objektive Erfordernis der Kapitalaufbringung und der Kapitalerhaltung in beiden Fällen einen identischen Schutz der Aktiengesellschaft verlangt. Im Übrigen ist dem Recht der Rückeinlage die Erstreckung der Nichtigkeitsfolge des § 134 BGB in § 57 AktG auf Dritte nicht fremd, sofern diese bösgläubig sind.16 Dann fragt sich allein schon aus Wertungsgesichtspunkten, weshalb der bösgläubige Erwerber einer mit einer Rücklageverpflichtung belasteten Aktie nicht der Gesellschaft haften soll. a) Aus der europarechtlichen Entstehungsgeschichte des heutigen § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG lassen sich allerdings keine Argumente für oder gegen die Annahme einer Haftung des Einzelrechtsnachfolgers nach § 62 Abs. 1 AktG entwickeln. Art. 16 der Zweiten EG -Richtlinie zur Koordinierung des Gesellschaftsrechts vom 13. Dezember 197617 bestimmt: „Jede Ausschüttung, die entgegen Art. 15 erfolgt, ist von den Aktionären, die sie empfangen haben, zurückzugewähren, …“ 16 Großkomm AktG-Henze (Fn. 1) § 57 Rn. 221; KölnerKommAktG-Lutter (Fn. 2) § 57 Rn. 75; Canaris FS Fischer, 1979, S. 31, 51; Schön ZHR 1995 (159), 351, 366 f.; Wiedemann Gesellschaftsrecht, Bd. I, 1980, S. 442; im Ergebnis auch OLG Hamburg AG 1980, 275,279: keine Berufung auf § 57 AktG, wenn der Dritte die näheren Zusammenhänge nicht kennt. 17 ABl . Nr. L 26/1 vom 31. 1. 1977.

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Diese Bestimmung wurde mit Neufassung des § 62 Abs. 1 AktG durch das Durchführungsgesetz vom 13. Dezember 1978 zur Umsetzung der Zweiten EG -Richtlinie in das deutsche Aktienrecht umgesetzt. Sieht man aufgrund der in den vorstehenden Überlegungen genannten Gesichtspunkte den Vermögens- und damit den Gläubigerschutz unter dem Aspekt der Haftungsdurchsetzbarkeit besser durch eine fortwährende Haftung des Leistungsempfängers als durch eine Haftung des jeweiligen Aktionärs gewahrt, so würde sich eine Haftung des jeweiligen Aktionärs als Unterschreitung des durch die Richtlinie gebotenen Mindeststandards darstellen. Ausweislich des zweiten Erwägungsgrunds der Richtlinie dient die Haftung gerade auch dem Gläubigerschutz. Im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie heißt es: „Die Koordinierung der einzelstaatlichen Vorschriften über … die Aufrechterhaltung … ihres Kapitals ist vor allem bedeutsam, um beim Schutz … der Gläubiger der Gesellschaft … ein Mindestmaß an Gleichwertigkeit herzustellen.“ Eine Einlagenrückgewährshaftung, verstanden als von der Mitgliedschaft nicht isolierbare Verpflichtung, wäre mithin gemeinschaftsrechtswidrig, wenn die Richtlinie den Fall des Übergangs der Rückgewährspflicht auf einen Aktienerwerber ausschließen wollte. Dieser Fall ist aber durch Art. 16 der Zweiten EG -Richtlinie gar nicht geregelt. Insoweit liegt eine Regelungslücke vor. Im Ergebnis sprechen somit aus der europarechtlichen Entstehungsgeschichte keine Argumente für oder gegen den Übergang einer Haftung nach § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG auf den Aktienerwerber. b) Lutter stützt den Übergang der Bareinlagepflicht des § 54 Abs. 1 AktG auf den Aktienerwerber u. a. auf ein argumentum e contrario aus §§ 65 Abs. 1, 66 Abs. 1 AktG.18 Die §§ 65 Abs. 1 und 66 Abs. 1 AktG regeln die Haftung der Vormänner des aktuellen Aktionärs lediglich für die Einlagepflicht des § 54 Abs. 1 AktG, nicht aber für die Rückgewährspflicht nach § 62 Abs. 1 AktG. Man könnte also meinen, dass die §§ 65 Abs. 1, 66 Abs. 1 AktG gegen eine Haftung des Aktienerwerbers auf Einlagenrückgewähr spricht. § 65 AktG bildet mit § 64 AktG eine Regelungseinheit. Die Haftung des § 65 AktG setzt einen wirksamen Ausschluss des säumigen Aktionärs nach § 64 AktG voraus. Dieser Ausschluss ist Voraussetzung der Ausgabe neuer Aktien anstelle der alten, um die Einlageerbringung durch Leistung eines neuen Aktionärs herbeizuführen. Dieser Mechanismus zur Sicherung der Kapitalaufbringung passt auf die Kapitalerhaltung nicht. Die Kapitalerhaltung erfasst nicht nur die Rückgewähr der ursprünglichen Einlage, sondern verbietet jede Leistung an den Aktionär, auch wenn sie wertmäßig über die ursprüngliche Einlage hinausgeht. Insoweit stellt die Kaduzierung der Aktie und Aus18

KölnerKommAktG-Lutter (Fn. 2) § 54 Rn. 6.

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gabe einer neuen Aktie nur dann einen hinreichenden Ausgleichsmechanismus dar, wenn der Ausgabebetrag der neuen Aktie dem Wert des Rückgewährsanspruchs entspräche. Hierfür dürften sich aus wirtschaftlichen Gründen nur sehr schwer Zeichner finden lassen. Aus dem Fehlen einer §§ 64, 65 AktG entsprechenden Regelung zur Form einer Haftung für den Anspruch auf Einlagenrückgewähr nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG lässt sich somit nichts herleiten. c) Nach § 66 Abs. 1 AktG können Aktionäre und ihre Vormänner von ihren Leistungspflichten nach §§ 54 und 65 AktG nicht befreit werden und ist gegen eine Forderung der Gesellschaft nach den §§ 54 und 65 AktG eine Aufrechnung nicht zulässig. Diese für die originäre Einlagepflicht nach § 54 Abs. 1 AktG geltende Regelung findet nach § 66 Abs. 2 entsprechende Anwendung auf die Verpflichtung zur Rückgewähr von Leistungen, die – z. B. nach § 57 AktG – entgegen den Vorschriften des Aktiengesetzes empfangen wurden. Aus dieser Verweisung lässt sich nicht entnehmen, dass der jeweilige Aktionär für einen Rückgewährsanspruch nach § 62 Abs. 1 AktG haftet. Die Verweisung in § 66 Abs. 2 AktG soll nicht den Schuldnerkreis erweitern, indem sie für die Haftung nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG auch die in § 66 Abs. 1 AktG genannten Vormänner in Bezug nimmt. Vielmehr soll für den Schuldner der Rückgewährsverpflichtung nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG lediglich das Verbot der Befreiung von der Leistungsverpflichtung (§ 66 Abs. 1 Satz 1 AktG) und die Unzulässigkeit der Aufrechnung gegen die Forderung der Gesellschaft (§ 66 Abs. 1 Satz 2 AktG) in Bezug genommen werden.19 Aus der Verweisung in § 66 Abs. 2 AktG lässt sich somit kein Argument für den Übergang des Rückgewährsanspruchs nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG auf den Aktienerwerber gewinnen. d) Auch ein Vergleich mit dem Recht der GmbH führt für die Beantwortung der Ausgangsfrage nicht weiter. § 31 Abs. 1 GmbHG regelt die Erstattungspflicht ohne Inbezugnahme eines Schuldners. Aus § 31 Abs. 1 und 3 GmbHG ergibt sich dann, dass primärer Schuldner der Leistungsempfänger ist und die „übrigen Gesellschafter“ subsidiär haften. Für diese subsidiäre Haftung wird angenommen, dass entsprechend dem für die Einlagepflicht geltenden § 16 Abs. 3 GmbHG die (Einzel-)Rechtsnachfolger der ursprünglich nach § 31 Abs. 3 GmbHG haftenden Gesellschafter neben diesen haften. 20 Für die primäre Haftung des Leistungsempfängers nach § 31 Abs. 1 GmbHG entspricht es demgegenüber auch im GmbH-Recht ganz herrschender Meinung, dass diese nicht an die Mitgliedschaft gebunden ist, der Anteilserwerber mithin nicht nach § 16 Abs. 3 GmbHG haftet. 21 Vgl. statt aller Hüffer AktG (Fn. 5) § 66 Rn. 8. Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck GmbHG -Gesetz, 17. Aufl., 2000, § 31 Rn. 15. 21 Baumbach/Hueck GmbHG -Hueck/Fastrich (Fn. 20) § 31 Rn. 9; a.A. wohl nur Limmer ZIP 1993, 412, 415. 19

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Anders als im Aktienrecht lässt sich die Ablehnung der Haftung des Anteilserwerbers für den Erstattungsanspruch nach § 31 Abs. 1 GmbHG für das GmbH-Recht auf das Gesetz stützen. Bei § 31 GmbHG fehlt es nämlich an einer dem § 16 Abs. 3 GmbHG entsprechenden Regelung. Zwingend ist die Ableitung einer nicht mit der Mitgliedschaft übergehenden Verpflichtung des Leistungsempfängers hieraus freilich nicht. Die vereinzelt gebliebene Gegenansicht von Limmer 22, wonach § 16 Abs. 3 GmbHG auch für den Anspruch aus § 31 Abs. 1 GmbHG Anwendung finden soll, beruft sich auf die Unbegründbarkeit der ansonsten bestehenden Ungleichbehandlung von Ansprüchen bei Missachtung der Kapitalaufbringung einerseits und bei Missachtung der Kapitalerhaltung andererseits. Auch wenn man den Standpunkt dieser Einzelmeinung teilt, so bliebe die Verwertbarkeit der so verstandenen GmbH-rechtlichen Haftung für die vorliegende aktienrechtliche Frage zweifelhaft. Denn eine dem § 16 Abs. 3 GmbHG entsprechende Regelung fehlt im Aktienrecht. Es ließe sich daher allenfalls argumentieren, dass dem § 16 Abs. 3 GmbHG ein im Kapitalgesellschaftsrecht allgemein gültiger Rechtsgedanke zugrunde liegt. Dies ist aber, wie die unterschiedlichen Regelungssysteme der Kapitalaufbringung und der Kapitalerhaltung im Aktien- und GmbH-Recht zeigen, nicht der Fall. 5. Die unterschiedlichen Rechtsfolgen der Einlage- und Rückgewährspflicht gegenüber dem Einzelrechtsnachfolger des Aktionärs, der den Anspruch durch Nichtleistung bzw. durch Empfang verbotener Leistungen begründet hat, werden von den Vertretern der herrschenden Meinung ganz überwiegend nicht erläutert. Auch die Darstellung, der Rückgewährsanspruch nach § 62 Abs. 1 AktG gehe auf „Wiedereinlage“ und sei ebenso aktienrechtlicher Natur wie der Einlageanspruch selbst, stellt streng genommen keine Begründung, sondern lediglich eine Umschreibung des befürworteten Ergebnisses dar, die zudem eher für als gegen eine Gleichbehandlung beider Sachverhalte spricht. Dies gilt ebenfalls für den Hinweis, dass die Verbotswirkung des § 57 AktG auf der Mitgliedsstellung des Aktionärs beruht. Dies gilt aber in gleicher Weise auch für die Einlagepflicht. Lediglich Lutter 23 führt in diesem Zusammenhang das Argument des Vertrauensschutzes zugunsten des Aktienerwerbers an. Bei der Einlagepflicht werde dem Vertrauensschutz des Aktienerwerbers durch die Möglichkeit des gutgläubig-lastenfreien Erwerbs Rechnung getragen. Ein Rechtsscheinträger, an welchen der gutgläubig-lastenfreie Erwerb einer mit dem Rückge22 Limmer ZIP 1993, 412, 415 unter Verweis auf Winter in Scholz, Kommentar zum GmbH-Gesetz, 7. Aufl., 1986, § 16 Rn. 40, 42 sowie Zutt in Hachenburg, Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Großkommentar, 8. Aufl., 1991, § 16 Rn. 31. Den zitierten Fundstellen lässt sich die von Limmer vertretene Auffassung freilich nicht entnehmen. 23 KölnerKommAktG-Lutter (Fn. 2) § 54 Rn. 7 und § 62 Rn. 14.

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währsanspruch nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG belasteten Aktie anknüpfen könnte, besteht nicht. Bei teileingezahlten Aktien müssen diese nach § 10 Abs. 2 AktG auf den Namen lauten und den Betrag der Teilleistung angeben. Bei der verbotenen Einlagenrückgewähr vermittelt die Aktienurkunde demgegenüber keinen derartigen Rechtsschein, da eine dem § 10 Abs. 2 AktG entsprechende Regelung für den Fall der Einlagenrückgewähr fehlt. Eine Erstreckung der Gutglaubensvorschriften des § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG oder des § 936 BGB auf diesen Fall erscheint auf den ersten Blick ausgeschlossen. Der Erwerber einer mit einem Rückgewährsanspruch nach § 62 AktG belasteten Aktie würde also nicht in seinem guten Glauben an die Freiheit von Rückgewähransprüchen geschützt. Dadurch würde die Verkehrsfähigkeit insbesondere von Inhaberaktien in erheblichem Maße beeinträchtigt. Die Aspekte des Vertrauensschutzes des Aktienerwerbers und der Verkehrsfähigkeit der Aktie könnten somit gegen die Haftung des Einzelrechtsnachfolgers in die Mitgliedschaft nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG sprechen. Zu einer Haftung des Aktienerwerbers könnte man aber dann kommen, wenn man mit Lutter 24 den Anspruch aus § 62 AktG zwar als nicht isolierbaren Teil der Mitgliedschaft ansieht, wegen des notwendigen Schutzes gutgläubiger Erwerber einen Übergang des Rückgewährsanspruchs auf Einzelrechtsnachfolger aber für den Fall der Gutgläubigkeit des Aktienerwerbers ausschlösse. Eine Beeinträchtigung der Verkehrsgängigkeit der Aktien wäre dann nicht zu befürchten. Als Maßstab der Gutgläubigkeit könnte an § 932 Abs. 2 BGB und § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG angeknüpft werden. Nach § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG ist der Empfänger einer unter Verstoß gegen § 57 AktG ausgeschütteten Dividende bösgläubig, wenn er die fehlende Dividendenberechtigung kannte oder fahrlässig nicht kannte. Demgegenüber schadet nach § 932 Abs. 2 BGB nur Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit. § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG stellt eine Ausnahme von der rein an objektive Voraussetzungen anknüpfenden Rückgewährsverpflichtung des § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG bei Empfang verbotener Leistungen dar. Die Vorschrift ist Ausdruck einer Abwägung des Gesetzgebers zwischen dem objektiven Interesse der Gesellschaft an der Kapitalerhaltung und dem individuellen Interesse des Aktionärs, die an ihn ausgeschüttete Dividende behalten zu dürfen. 25 Angesichts des in dieser speziellen Interessenabwägung zum Ausdruck kommenden Ausnahmecharakters des § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG wird man diesen Maßstab der Bösgläubigkeit nicht auf die hier zu prüfende Frage des Bösgläubigkeitsmaßstabs bei „lastenfreiem“ Erwerb einer mit einem Rückgewährsanspruch aus § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG belasteten Aktie übertragen KölnerKommAktG-Lutter (Fn. 2) § 54 Rn. 6. Großkomm AktG-Henze (Fn. 1) § 62 Rn. 64; MünchKommAktG-Bayer (Fn. 2) § 62 Rn. 58. 24 25

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können. 26 Dies gilt um so mehr, als bei dem aus der Sicht des Aktionärs strengen Maßstab der Bösgläubigkeit in § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG die Verkehrsfähigkeit insbesondere der Inhaberaktie in untragbarer Weise beeinträchtigt wäre. Näher liegt eine analoge Anwendung des in § 932 Abs. 2 BGB geregelten Maßstabs der Bösgläubigkeit. Danach sind nur Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit schädlich. Naheliegend ist die Analogie schon deswegen, weil auch der gutgläubige Erwerber einer teileingezahlten Aktie, über die entgegen § 10 Abs. 2 AktG eine Inhaberaktie ausgestellt ist, nach ganz einhelliger Meinung über die analoge Anwendung der §§ 932 Abs. 2, 936 BGB geschützt wird. 27 Ein identischer Maßstab der Bösgläubigkeit findet sich auch im Wertpapierrecht in Art. 16 Abs. 2 WG , der über § 68 Abs. 1 AktG auch für Namensaktien gilt. Voraussetzung für einen gutgläubigen Erwerb ist nach diesen Normen die Verkörperung der Aktie als Inhaber- oder Namensaktie. Insgesamt sprechen somit gute Gründe für die Auffassung, der Rückgewährsanspruch aus § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG gehe als Teil der Mitgliedschaft mit der Übertragung der Aktie auf den Einzelrechtsnachfolger über, sofern er nicht in entsprechender Anwendung der §§ 932 Abs. 2, 936 BGB gutgläubig lastenfrei – also frei von dem Rückgewährsanspruch des § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG – erworben wird. Wesentliche Argumente sind die Einordnung des Anspruchs aus § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG als spezifisch aktienrechtlicher Rückgewährsanspruch und die dogmatische Identität dieses „Wiedereinlageanspruchs“ mit dem Einlageanspruch des § 54 Abs. 1 AktG. Beim Einlageanspruch entspricht es einhelliger Meinung, dass dieser als nicht isolierbarer Teil der Mitgliedschaft auf den Einzelrechtsnachfolger übergeht, sofern er nicht in entsprechender Anwendung der §§ 932, 936 BGB gutgläubig lastenfrei erworben wird.

IV. Zusammenfassung 1. Der für das Recht der Aktiengesellschaft zentrale Grundsatz der Kapitalerhaltung ist in den §§ 57, 59, 66 Abs. 2 und 71 ff. AktG kodifiziert. Die Vorschrift des § 62 AktG ergänzt diese Verbotsvorschriften, indem sie eine Verpflichtung zur Rückgewähr an die Gesellschaft anordnet, wenn sie dem Verbot zuwider unzulässige Vermögenszuwendungen an ihre Aktionäre oder an aktionärsgleiche Dritte vorgenommen hat. Die verbotswidrig erbrachte Zuwendung ist an die Gesellschaft zurückzugewähren. Großkomm AktG-Henze (Fn. 1) § 54 Rn. 25. OLG Düsseldorf ZIP 1991, 161, 168; MünchKommAktG-Bungeroth (Fn. 5) § 54 Rn. 14; MünchHdb AG -Wiesner (Fn. 8) § 16 Rn. 4. 26 27

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Entgegen der für die Vorgängernorm § 56 AktG 1937 ganz herrschenden Meinung ist der Rückgewährsanspruch des § 62 Abs. 1 AktG kein bereicherungsrechtlicher, also schuldrechtlicher Anspruch, sondern wegen der Verpflichtung zur „Wiedereinlage“ ebenso wie die Einlagepflicht selbst ein speziell aktienrechtlicher Anspruch, der körperschaftlicher Natur ist. Die systematische Identität der „Wiedereinlageverpflichtung“ des § 62 Abs. 1 AktG mit der Einlagepflicht des § 54 Abs. 1 AktG und die gemeinsame dogmatische Einordnung beider Vorschriften als spezifisch aktienrechtliche Verpflichtungen mit körperschaftlicher Rechtsnatur hat zur Folge, dass die „Wiedereinlagepflicht“ des § 62 Abs. 1 AktG ebenso wie die Einlagepflicht des § 54 Abs. 1 AktG ein nicht isolierbarer Teil der Mitgliedschaft an der Aktiengesellschaft ist. Konsequenterweise geht die „Wiedereinlagepflicht“ des § 62 Abs. 1 AktG grundsätzlich als Teil der Aktie mit ihr auf einen Erwerber über. 2. Ebenso wie bei der Einlagepflicht des § 54 Abs. 1 AktG ist bei einer Übertragung der mit der „Wiedereinlagepflicht“ nach § 62 Abs. 1 AktG belasteten Aktie im Interesse der Verkehrsfähigkeit der Aktien das Vertrauen des redlichen Geschäftsverkehrs auf die Freiheit von Einlageverpflichtungen zu schützen. Die Offenlegung von originären Einlageverpflichtungen nach § 54 Abs. 1 AktG sichert § 10 Abs. 2 AktG. Vor der vollen Leistung der Einlagen dürfen nach § 10 Abs. 2 Satz 1 AktG nur Namensaktien ausgegeben werden, auf denen nach § 10 Abs. 2 Satz 2 AktG der Betrag der Teilleistungen anzugeben ist. Werden zu Unrecht Inhaberaktien ausgegeben oder überhöhte Teilleistungen auf den Namensaktien vermerkt, wird der Aktienerwerber geschützt, wenn er entsprechend §§ 932, 936 BGB und Art. 16 Abs. 2 WG gutgläubig ist. Für die „Wiedereinlagepflicht“ des § 62 Abs. 1 AktG fehlt es an einer § 10 Abs. 2 AktG vergleichbaren Norm. Aus der Aktienurkunde kann der Erwerber nicht erkennen, ob die Aktie mit einer Verpflichtung nach § 62 Abs. 1 AktG belastet ist. Die Situation ist vergleichbar mit der Gewährung einer Leistung aus dem Gesellschaftsvermögen an einen Dritten unter Verstoß gegen das Verbot des § 57 AktG. Die Gewährung ist grundsätzlich nicht nach § 134 BGB nichtig, weil der Dritte nicht Verbotsadressat des § 57 AktG ist. Die Nichtigkeit als Rechtsfolge des Verstoßes gegen § 57 AktG wird aber dann auf den Dritten erstreckt, wenn er aufgrund in seiner Person begründeter subjektiver Tatbestände keinen Schutz verdient. Im Rahmen des § 57 AktG wird dies beim Eingreifen der Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht bejaht. 28 Diese Fallkonstellation passt nicht auf den Fall des Aktienerwerbs. Übertragbar ist aber die grundsätzliche 28 Großkomm AktG-Henze (Fn. 1) § 57 Rn. 217; MünchKommAktG-Bayer (Fn. 5) § 57 Rn. 154 ff.

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Überlegung im Rahmen der Erstreckung der Nichtigkeitsfolge wegen Verstoßes gegen § 57 AktG auf Dritte, wenn diese bösgläubig und damit nicht schutzwürdig sind. Von Bösgläubigkeit und damit mangelnder Schutzwürdigkeit ist dann auszugehen, wenn positive Kenntnis vom Verstoß gegen § 57 AktG besteht oder wenn sich entsprechend § 932 Abs. 2 BGB und Art. 16 Abs. 2 WG der Verstoß aufdrängen musste, wenn also der Dritte grob fahrlässig in Unkenntnis über den Verstoß gegen das Verbot der Einlagenrückgewähr war, jedenfalls aber dann, wenn der Verstoß gegen § 57 AktG objektiv evident war. 29 Bejaht man den Übergang der „Wiedereinlagepflicht“ des § 62 Abs. 1 AktG als nicht isolierbaren Teil der Mitgliedschaft des Aktionärs auf einen Erwerber, so verdient dieser nach den vorstehenden Wertungen zu § 57 AktG jedenfalls keinen Schutz gegen das Nichtbestehen der „Wiedereinlagepflicht“ des § 62 Abs. 1 AktG, wenn er positive Kenntnis von der nach § 57 AktG verbotenen Einlagenrückgewähr an den Veräußerer oder an einen früheren Aktionär hat oder er über den Verstoß gegen § 57 AktG grob fahrlässig in Unkenntnis ist. Von grob fahrlässiger Unkenntnis ist in dem eingangs gebildeten Beispielsfall dann auszugehen, wenn die finanzierende B-Bank die Aktien deutlich unter dem Einstandspreis des Aktionärs von diesem erwirbt. Bei Kenntnis oder Evidenz einer Einlagenrückgewähr hat der Erwerber zudem die Möglichkeit, die Schädigung der Gesellschaft durch die verbotswidrige Einlagenrückgewähr durch Reduzierung des Kaufpreises gegenüber dem Veräußerer zu kompensieren.

29 Großkomm AktG-Henze (Fn. 1) § 57 Rn. 221; KölnerKommAktG-Lutter (Fn. 2) § 57 Rn. 75; Canaris FS Fischer, 1979, S. 31, 51; Schön ZHR 1995 (159) 351, 366.

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B. Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung

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Fehlerhafte LPG-Umwandlungen – Nachlese zum DFG-Forschungsprojekt Walter Bayer

Inhaltsübersicht Seite

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Festgestellte Rechtsverstöße im Überblick . . . 1. Mängel der Umwandlung . . . . . . . . . . 2. Mängel der Vermögensauseinandersetzung . IV. Reaktionen auf die Ergebnisse der Untersuchung Abwehrstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Nahezu alle in den Jahren 1990/1991 durchgeführten LPG -Umwandlungen waren mehr oder weniger fehlerhaft. Die Fehler betrafen einerseits die Umwandlung als solche, andererseits die Vermögensauseinandersetzung mit ausscheidenden LPG -Mitgliedern. Dokumentiert und im einzelnen aufgeschlüsselt sind die Rechtsverstöße in dem im Jahre 2003 veröffentlichten Abschlussbericht des DFG -Forschungsprojekts „Rechtsprobleme der Restrukturierung landwirtschaftlicher Unternehmen in den neuen Bundesländern nach 1989“.1 Diese durch zwei Symposien wissenschaftlich begleitete2 rechtstatsächliche Untersuchung fand in der Öffentlichkeit und der Politik 1 Bayer (Hrsg.), Rechtsprobleme der Restrukturierung landwirtschaftlicher Unternehmen in den neuen Bundesländern nach 1989, Abschlussbericht des DFG -Forschungsprojekts, 2003. 2 3. 7. 2000 in Jena: „10 Jahre Landwirtschaftsanpassungsgesetz – Eine Zwischenbilanz“ (siehe dazu den gleichnamigen Tagungsband, hrsg. v. Bayer, 2001); 26. 7. 2002 in Jena: „Die gescheiterten LPG -Umwandlungen – was nun“? (das Eingangsreferat von Bayer mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse ist abgedruckt in NL- BzAR 2002, 354 ff.). Siehe auch den Vortrag von Bayer „Erfolgreiche und fehlgeschlagene LPG -Umwandlungen: Hat sich das (neue) Recht bewährt?“ im Rahmen der Jenaer Ringvorlesung „10 Jahre deutsche Rechtseinheit“, veröff. in dem von Koch hrsg. gleichnamigen Sammelband, 2001.

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ein nachhaltiges Echo. Auch 15 Jahre nach der Wende reagieren die Betroffenen immer noch sehr emotional. Und die Medien berichten nach wie vor über dieses Thema. 3 Denn die Konsequenzen zahlreicher fehlerhafter LPG Umwandlungen sind bis heute weder juristisch aufgearbeitet noch wirtschaftlich in zufrieden stellender Weise gelöst. Gegenstand dieses Beitrags zu Ehren des Jubilars ist allerdings keine Darstellung der zahlreichen und teilweise noch ungeklärten zivilrechtsdogmatischen Probleme, mit denen sich Wissenschaft und Praxis seit vielen Jahren beschäftigt haben und auch noch zukünftig werden beschäftigen müssen. All dies ist an anderer Stelle ausführlich dargestellt worden. 4 Die nachfolgenden Ausführungen sind vielmehr dem Rechtssoziologen Thomas Raiser gewidmet und beschreiben einen Ausschnitt der juristischen Zeitgeschichte 1989 – 2004.

II. Rückblick Mit dem Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 5 war auch das Aus für die sozialistische Landwirtschaft der DDR besiegelt. Zum einen waren die zwar agrarindustriell geprägten, im Ergebnis aber durch ihren hohen Personalbestand nicht effizienten landwirtschaftlichen Unternehmen dem durch die Marktöffnung ausgelösten Wettbewerb nicht gewachsen, zum anderen erforderten die neuen rechtlichen Rahmenbedingungen einen umfassenden Strukturwandel. Es musste also einerseits das sozialistische Eigentum in Privateigentum überführt werden, andererseits galt es, wettbewerbsfähige Unternehmen aufzubauen. Im Grundsatz unterschied sich diese Aufgabe nicht von der Privatisierung der im Staatseigentum stehenden volkseigenen Betriebe ( VEB ). Indes war zu berücksichtigen, dass 82,2 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche von Unternehmen bewirtschaftet wurde, die genossenschaftlich

3 Zuletzt etwa plusminus ( ARD ) 18. 5. 2004. Presse, Funk und Fernsehen haben über die Problematik und die Ergebnisse des Forschungsprojekts kontinuierlich und intensiv berichtet. 4 Umfassende Darstellung und Nachweise im Abschlussbericht (Fn. 1). Vgl. weiter die Beiträge in Fn. 2 sowie darüber hinaus die im Zuge des Forschungsprojekts erstellten Mitarbeiter-Dissertationen von Abicht Fehlgeschlagene Umwandlungen als stecken gebliebene Sachgründungen, 2004, sowie Klepsch Prüfungsrecht und Prüfungspflicht der Registergerichte – unter besonderer Berücksichtigung der Umwandlung von landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, 2002. Noch nicht ganz abgeschlossen sind die weiteren Arbeiten: Kirchberg Die Prüfung der LPG -Umwandlung sowie Rzesnitzek Austrittsrechte bei Umstrukturierungen von Kapitalgesellschaften und Genossenschaften. 5 BGBl . 1990 II , S. 537.

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organisiert waren. 6 Dieser in der Verfassung der DDR verankerte und auch in der Praxis realisierte Unterschied zwischen Staatswirtschaft auf der einen und genossenschaftlicher Wirtschaft auf der anderen Seite hatte zur Folge, dass auch die Privatisierung und Restrukturierung der DDR-Wirtschaft in verschiedene Hände gelegt wurde, nämlich im Falle der VEB als Staatsaufgabe in die Hände der Treuhandanstalt, im Falle der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG ) als private Aufgabe in die Hände der LPG -Mitglieder selbst. 7 Denn allein die LPG -Mitglieder sollten nach der Vorstellung der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR darüber befinden, wie das im maßgeblichen Reformgesetz – dem am 29. 6. 1990 in Kraft getretenen Landwirtschaftsanpassungsgesetz (LwAnpG 1990) – formulierte Ziel der Entwicklung einer vielfältig strukturierten und leistungsfähigen Landwirtschaft in die Tat umgesetzt werden sollte. Vorgegeben war allein der rechtliche Rahmen mit zwei Alternativen, nämlich zum einen der Fortführung der bisherigen LPG als restrukturiertes Unternehmen in neuer Rechtsform, zum anderen die Auflösung der LPG mit nachfolgender Liquidation. Darüber hinaus stand es dem einzelnen LPG -Mitglied jederzeit frei, seine Mitgliedschaft durch Kündigung zu beenden (§ 43 LwAnpG). In diesem Fall hatte die LPG die eingebrachten Flächen sowie die Hofstelle zurückzugeben bzw. adäquaten Ersatz zu leisten (§§ 45, 46 LwAnpG 1990). Denn im Unterschied zur Staatswirtschaft hatten die LPG -Mitglieder ihr eingebrachtes Grundeigentum nur faktisch verloren, sind indes formal Eigentümer geblieben (§ 7 Abs. 1 LPG -Gesetz 1959, später § 19 Abs. 1 LPG -Gesetz 1982) und hatten somit grundsätzlich einen Anspruch auf Rückgewähr ihres ursprünglichen Besitzes. Aufgrund der unpräzisen Formulierung des § 44 LwAnpG waren indes die Höhe der zu erbringenden Rückerstattung sowie Art und Umfang der an künftige Wiedereinrichter zu leistenden Unterstützung problematisch und regelmäßig ein heftiger Streitpunkt. Wenig realitätsnah 8 hatte die Volkskammer darauf vertraut, dass sich die oftmals über Jahrzehnte in einer LPG verbundenen Mitglieder verständigen und auftretende Probleme einvernehmlich lösen würden. 9 Den zwischen den im LPG -Nachfolgeunternehmen verbleibenden und den gegen Abfindung ausscheidenden Mitgliedern bestehenden Interessengegensatz sowie das daraus resultierende Konfliktpotential hatte der Gesetzgeber offensichtlich völlig verkannt. Insbesondere eine begleitende Aufsicht – wie etwa im Insolvenzverfahren durch das Insol6 Bericht der Bundesregierung zur Deutschen Einheit, BT-Drucks 12/6854, S. 139, 511. Im Jahre 1989 existierten insgesamt 3844 LPG mit einer durchschnittlichen Betriebsgröße von 1390 Hektar. 7 Ausf. zu dieser Weichenstellung bereits Bayer ZGR-Sonderheft 14 (1998), 22 ff. 8 Ähnlich Wenzel FS 50 Jahre BGH , 2000, S. 201, 202: „illusionär“. 9 Protokolle DDR-Volkskammer, 10. Wahlperiode, S. 442 ff.

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venzgericht (§ 58 InsO) – war nicht vorgesehen. Und handwerkliche Fehler begünstigten Streitigkeiten: So wurde etwa aus der Stellung des § 44 LwAnpG im 6. Abschnitt unter der Überschrift „Bildung bäuerlicher und gärtnerischer Einzelwirtschaften (Familienwirtschaften)“ gefolgert, dass nur die LPG -Mitglieder einen Anspruch auf Abfindung haben sollten, die auch weiterhin landwirtschaftlich tätig würden – eine absurde Vorstellung, die jedoch viele LPG -Mitglieder verunsicherte. Dass sich bis Ende 1990 nur 18 % der LPG für eine Umwandlung entschieden hatten und die Zahl der Wiedereinrichter sogar nur bei 1 % lag,10 war sicherlich nicht nur auf die ungeklärte wirtschaftliche Zukunft, sondern auch auf die unklare Rechtslage zurückzuführen. Daher verständigten sich die Koalitionspartner der damaligen Bundesregierung Anfang 1991 darauf, das LwAnpG in der Weise umfassend zu novellieren, dass zwar die noch zu DDR-Zeiten beschlossenen Grundlinien beibehalten, jedoch insbesondere die Rechte der Bodeneigentümer gestärkt (§ 7 Abs. 2 Satz 1 LwAnpG 1991) und die Abfindungsansprüche der ausscheidenden Mitglieder (§ 44 LwAnpG 1991) präzisiert werden sollten.11 Im Rückblick ist allerdings festzuhalten, dass das Ziel des Gesetzgebers, mit der am 7. Juli 1991 in Kraft getretenen Novelle (LwAnpG 1991) 12 mehr Rechtsklarheit zu schaffen und insbesondere einen gerechten Ausgleich zwischen den beteiligten Interessen herbeizuführen,13 in der Rechtspraxis weitgehend verfehlt wurde.14 Vielmehr befehdeten sich LPG -Nachfolgeunternehmen und ausgeschiedene LPG -Mitglieder – insbesondere wenn sie als Wiedereinrichter einen neuen Start gewagt hatten – so heftig, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entstand, im Osten Deutschlands tobe ein Bauernkrieg. Dieser Streit ist bis heute noch nicht zu Ende gekommen. Ursache hierfür ist die Erkenntnis, dass die gesetzlichen Vorschriften, die sowohl Grundlage der LPG -Umstrukturierungen waren als auch den Umfang der an ausscheidende LPG -Mitglieder zu leistenden Abfindungen regelten, flächendeckend missachtet worden waren. Hinzu kommt, dass Politik und Verwaltung auf die bekannt gewordenen Missstände oftmals nur sehr zögerlich und auch nur sehr partiell reagiert haben. Die einmalige Chance, Vertrauen zurückzugewinnen und den Rechtsfrieden wiederherzustellen, wurde im Herbst 1996 vertan. Die Fraktionen der CDU / CSU und der FDP hatten aufgrund der zahlreich vermeldeten Unregelmäßigkeiten den Versuch unternommen, ein Versäumnis von 1991 wettAngaben nach BT-Drucks. 12/161, S. 7. Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen und weiterer 45 Abgeordneter v. 26. 2. 1991, BT-Drucks. 12/161. Zur dogmatischen Konzeption Bayer ZGR-Sonderheft 14 (1998), 22, 33 ff. 12 BGBl . 1991 I S. 1410, Bekanntmachung der Neufassung BGBl . I 1991 S. 1418. 13 Ausschuss BT-Drucks. 12/404 S. 13 f. 14 Ebenso Wenzel FS 50 Jahre BGH , 2000, S. 201, 202. 10

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zumachen und die Vermögensauseinandersetzung einer umfassenden gerichtlichen Überprüfung mit inter-omnes-Wirkung zuzuführen. Diese am 27. 6. 1996 in den Deutschen Bundestag eingebrachte 4. Novelle zum LwAnpG15 hätte im Ergebnis alle Abfindungsregelungen wieder aufgerollt und im Falle einer festgestellten wesentlichen Benachteiligung zu einem Anspruch der LPG -Mitglieder auf Nachabfindung geführt. Das Hemmnis einer individuellen Klage, die jedes LPG -Mitglied auf eigenes Kostenrisiko erheben muss, wenn es eine höhere Abfindung geltend machen will, wäre damit weggefallen. Konzeptionell war das Verfahren dem umwandlungsrechtlichen Spruchverfahren vergleichbar. Hätte die gerichtliche Überprüfung ergeben, dass sich LPG -Nachfolgeunternehmen unberechtigt bereichert haben, so wären erhebliche Nachzahlungen die Folge gewesen. Die 4. Novelle konnte indes nicht verwirklicht werden, da sowohl die LPG -Nachfolger als auch die offiziellen Bauernverbände 16 und auch die genossenschaftlichen Prüfungsverbände 17 allesamt 18 keinen Grund für ein übertriebenes Misstrauen sahen und darauf hinwiesen, dass schließlich über 99 % der LPG Mitglieder ihre erhaltenen Abfindungen akzeptiert hätten und darüber hinaus im Zuge verschiedener Landtagsbeschlüsse 19 die Vermögensauseinandersetzungen bereits flächendeckend überprüft worden seien. 20 Mit dieser Argumentation wurde der unzutreffende Eindruck erweckt, dass allein noch wenige Einzelfälle im Streit seien, die Vermögensauseinandersetzung aber im Großen und Ganzen ordnungsgemäß erfolgt sei. Wie wir heute wissen, wurden Politik und Öffentlichkeit fehlinformiert (dazu unten III .). Diese – erst im Rahmen unserer Untersuchung aufgedeckte – Irreführung sowie andere konzeptionelle Unzulänglichkeiten 21 ließen die 4. Novelle in diesem Punkt jedoch am Veto aller Landesregierungen 22 sowie auch zahlreicher CDU / FDP-Bundestagsabgeordneter der neuen Bundesländer scheitern, 23 15 BT-Drucks. 13/4950. Zur Vorgeschichte Strobel AgrarR 1996, 169 ff., 211 ff.; zum Gang der Gesetzgebung Strobel AgrarR 1997, 7 ff. Ausf. Dokumentation auch NL- BzAR 1996, 194 ff. 16 Siehe etwa Erklärung v. 24. 6. 1996, NL- BzAR 1996, 200, Stellungnahme v. 3. 9. 1996 NL- BzAR 1996, 262 ff. 17 Stellungnahmen v. 29. 8. 1996 NL- BzAR 1996, 266 ff. und v. 29. 10. 1996 NL- BzAR 1996, 326 ff. 18 Felgentreff NJW 1998, 120 ff. spricht zu Recht von einer „geschlossene(n) Haltung aller maßgeblichen politischen Kräfte der ostdeutschen Landwirtschaft“. Ähnlich Böhme NLBzAR 1997, 226, 236: „… waren in den neuen Ländern alle gegen eine Novellierung …“. 19 Beschluss des Sächsischen Landtags vom 13. 3. 1992; Beschluss des Thüringer Landtags vom 22. 12. 1992. 20 Gegen die 4. Novelle auch Felgentreff NL- BzAR 1996, 218 ff.; Böhme NL- BzAR 1996, 250 f.; Koch NL- BzAR 1996, 252 ff.; Gramse AgrarR 1996, 246 ff. 21 Ausf. Strobel AgrarR 1997, 7, 8 f. („Dilettantismus“). 22 Abl. Stellungnahme NL- BzAR 1996, 260 ff. 23 Gegen die Novelle stimmten nicht nur die Fraktionen von SPD , Bündnis 90/Die Grünen (Änderungsantrag BT-Drucks. 13/5974 = NL- BzAR 1996, 325) und PDS , sondern auch

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da man quer durch die Parteien nicht daran interessiert war, die rechtliche Stellung der zwischenzeitlich gestärkten und vermeintlich auch wirtschaftlich erfolgreichen LPG -Nachfolgeunternehmen durch neue gesetzliche Maßnahmen zu schwächen. Den politischen Todesstoß versetzte der 4. Novelle allerdings die unwiderlegbare Mutmaßung, dass der Gesetzentwurf auf eine Initiative der westdeutschen Agrarlobby zurückgehe, mit dem Ziel, die Konkurrenz der ostdeutschen Landwirtschaft zu schwächen. So richtete sich die Hoffnung aller im Rahmen der Umwandlung benachteiligter LPG -Mitglieder auf die Rechtsprechung, die sich auch nach besten Kräften bemüht hat, die an sie herangetragenen Rechtsverstöße zu korrigieren. Doch konnten diese Korrekturen im Regelfall erst mit einer Verspätung von vielen Jahren erfolgen und auch nur dann, wenn übervorteilte LPG -Mitglieder den für sie ungewohnten und mit einem erheblichen Kostenrisiko verbundenen Rechtsweg beschritten hatten. Vor allem in der Umbruchzeit 1990/1991 war dagegen auch die Justiz völlig überfordert.24 Insbesondere die Registergerichte waren weder der Flut von Anmeldungen gewachsen noch überblickten sie die spezielle Rechtsmaterie des LPG -Umwandlungsrechts. Aber auch die Instanzgerichte scheiterten in den ersten Jahren häufig an der rechtlichen Problematik. Erst eine Vielzahl richtungsweisender Entscheidungen des Landwirtschaftssenats des BGH beseitigten das anfängliche Rechtschaos und gewährleisteten mit der Zeit eine gewisse Rechtssicherheit.

III. Festgestellte Rechtsverstöße im Überblick Zu unterscheiden sind Rechtsverstöße, die die Umwandlung als solche betreffen, sowie gesetzeswidrige Benachteiligungen der ausgeschiedenen LPG -Mitglieder im Rahmen der Vermögensauseinandersetzung. In beiden Bereichen wurde das Gesetz im Regelfall missachtet. Rechtmäßiges Verhalten war die ganz große Ausnahme. 25 1. Mängel der Umwandlung Bereits aus formalen Gründen hätte ein Großteil der angemeldeten LPG Umwandlungen vom Registerrichter nicht eingetragen werden dürfen, da vom Gesetz zwingend vorgeschriebene Unterlagen dem Eintragungsantrag nicht beigefügt waren. Der zur Rechtskontrolle berufene Registerrichter war somit überhaupt nicht in der Lage, die Gesetzmäßigkeit der LPG -Umeinzelne ostdeutsche Abgeordnete von CDU und FDP. Die positiv votierenden CDU - und FDP-Abgeordneten wurden in NL- BzAR 1996, 324 namentlich „gebrandmarkt“. 24 So auch Wenzel FS 50 Jahre BGH , 2000, S. 201, 203. 25 Einzelheiten im Abschlußbericht (Fn. 1); zusammenfassende Darstellung in NL- BzAR 2002, 345 ff.

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wandlung zu überprüfen. So fehlte etwa häufig die Abschlussbilanz oder auch der zwingend beizufügende Umwandlungsbericht. Eigentlich unvorstellbar ist, dass sogar vereinzelt Umwandlungen eingetragen wurden, obschon nicht einmal der Umwandlungsbeschluss im Wortlaut vorlag; gelegentlich fehlte auch die Satzung des Rechtsträgers neuer Rechtsform. Bemerkenswert ist weiterhin, dass in etwa 80 % aller Umwandlungen, die nach dem LwAnpG von 1991 erfolgten, ein Nachweis über die erforderliche separate Zustimmung der Landeinbringer nicht vorgelegt wurde; dies verwundert insbesondere deshalb, weil dieser besondere Schutz der Landeinbringer ein Hauptziel der Gesetzesreform war und die Nachweispflicht ausdrücklich gesetzlich angeordnet wurde. Aufgrund fehlender Rechtskenntnisse der LPG -Mitglieder und mangels ausdrücklicher gesetzlicher Regelungen zur Beschlusskontrolle wurden selbst LPG -Umwandlungen, die mit schweren Fehlern behaftet waren, im Regelfall nicht angegriffen. Selbst nichtige Umwandlungsbeschlüsse erlangten daher durch die Registereintragung grundsätzlich Bestandskraft (§ 37 II LwAnpG 1990, § 34 III LwAnpG 1991). Die Rechtslage entspricht insoweit der allgemeinen umwandlungsrechtlichen Regelung in §§ 20 II , 202 III UmwG. 26 Allerdings hat der BGH den Bestandsschutz der erfolgten Eintragung für bestimmte Fallgruppen verneint: 27 So ist die Umwandlung trotz Registereintragung unwirksam, wenn in der Mitgliederversammlung der LPG überhaupt kein Umwandlungsbeschluss gefasst wurde 28 oder wenn gegen den zwingenden Grundsatz des identitätswahrenden Formwechsels verstoßen worden war, indem für alle fortsetzungswilligen LPG -Mitglieder keine unmittelbare Beteiligung am Rechtsträger neuer Rechtsform begründet wurde (sog. mitgliederverdrängende Umwandlung), sei es dass die mitgliedschaftliche Beteiligung generell verweigert wurde (Ausschlussklausel), 29 sei es dass das Vermögen der LPG auf einen Treuhänder übertragen wurde, der den neuen Rechtsträger errichten und die Anteile der bisherigen LPG -Mitglieder treuhänderisch halten sollte (Treuhandmodell).30 Ebenso verneint der BGH die Wirksamkeit des eingetragenen Formwechsels, wenn ein solcher überhaupt nicht stattgefunden hat, sondern eine sog. 26 Zum Formwechsel: Decher in Lutter UmwG, 2. Aufl., 2000, § 202 Rn. 47 ff.; Meister/ Klöcker in Kallmeyer UmwG, 2. Aufl., 2001, § 202 Rn. 55 f. 27 Hierzu ausf.: Abicht in Abschlussbericht (Fn. 1) Kap. 8 und 16; vgl. weiter dies. (Fn. 4) S. 5 ff. m.z.N. 28 BGH ZIP 1995, 422 m. Anm. Lohlein; BGH WM 1997, 2040 m. Anm. Bayer/Hoffmann EWiR 1997, 949 f.; ThürOLG N L-BzAR 2001, 247. 29 BGHZ 138, 371, 377. 30 BGHZ 142, 1, 5; BGH ZIP 1999, 840; BGH DB 1999, 2105 m. Anm. Bayer/Hoffmann EWiR 1999, 1019.

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übertragende Umwandlung vorgenommen wurde. 31 Denn auch hier wird die Identität des Rechtsträgers nicht gewahrt, da zunächst ein neuer Rechtsträger errichtet und dann auf diesen das Vermögen der LPG übertragen wird. Beispiele: So kann etwa die Errichtung einer GmbH mit 4 Gesellschaftern, auf die dann das Vermögen von drei LPG übertragen wird und die LPG -Mitglieder in einer nur still an der GmbH beteiligten BGB -Gesellschaft zusammengefasst sind, nicht als Formwechsel qualifiziert werden, wie vom BGH zutreffend entschieden wurde. 32 Ebenfalls unwirksam ist die Errichtung einer KG durch 16 LPG -Mitglieder, auf die das Vermögen der LPG übertragen wurde, wobei die übrigen LPG -Mitglieder als Kommanditisten beitreten konnten. 33 Auch die Gründung einer AG durch 7 Vorstandsmitglieder von 5 „zusammengeschlossenen“ LPG sowie dem beratenden Rechtsanwalt F., der treuhänderisch für alle nicht an der Gründung beteiligten LPG -Mitglieder deren Aktien übernehmen und dann entsprechend einem Teilungsplan weiter übertragen sollte, kann nicht als Formwechsel qualifiziert werden und ist daher unwirksam. 34 Unwirksam ist nach Auffassung des BGH schließlich auch die Umwandlung, die den numerus clausus der Umwandlungsmöglichkeiten missachtet hat, d. h. solche Rechtsformwechsel, die insbesondere vom LwAnpG 1990 (noch) nicht gestattet worden waren. Allerdings macht hier der BGH eine sehr formale, wertungsmäßig kaum nachvollziehbare Unterscheidung: Erfolgte die Eintragung der unzulässigen Rechtsform erst nach dem 7. 7. 1991 und damit zu einem Zeitpunkt, in dem die gewählte Rechtsform durch das LwAnpG 1991 zulässig war, dann soll der Mangel geheilt sein, 35 nicht dagegen, wenn der Registerrichter vorher eingetragen hat; trotz zwischenzeitlicher Zulässigkeit der gewählten Rechtsform sei die Umwandlung gescheitert. 36 Die Rechtsprechung des BGH ist im Schrifttum nicht unumstritten geblieben. So haben etwa Hommelhoff/Schubel und K. Schmidt die strenge 31 BGH ZIP 1998, 1245 m. zust. Anm. Lohlein, EWiR 1998, 793; BGH ZIP 1998, 1207; OLG Naumburg AgrarR 1996, 292; OLG Brandenburg AgrarR 1996, 201 m. Anm. Schweizer. 32 BGH DB 1999, 2105 m. Anm. Bayer/Hoffmann, EWiR 1999, 1019 = WuB II N. § 34 LwAnpG 1.01 m. Anm. Veil („Stück aus dem Tollhaus“). Dieser Mangel ist auch nicht analog § 275 Abs. 3 AktG heilbar (BGH aaO. gegen OLG Brandenburg NZG 1999, 222 m. zust. Anm. Zeidler). 33 BGH ZIP 1999, 2096. Verkannt von OLG Dresden NL- BzAR 1997, 55, 58 f. 34 BGH ZIP 1999, 840 = AgrarR 2000, 131; ähnlich BGH ZIP 1999, 1126 m. Anm. Terbrack, EWiR 1999, 665 = WuB II N. § 34 LwAnpG 1.00 m. Anm. Drygala. 35 BGHZ 132, 353, 359 ff. m. Anm. Lohlein EWiR 1996, 711; 36 BGHZ 137, 134, 139 m. Anm. Lohlein EwiR 1998, 135 f.; krit. zu dieser Differenzierung Bayer in Koch (Hrsg.), 10 Jahre Deutsche Rechtseinheit, 2001, S. 155, 177; vgl. auch ders. Abschlussbericht (Fn. 1) S. 19.

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Rechtsfolge der Überführung in die Zwangsliquidation im Falle der mitgliederverdrängenden Umwandlung kritisiert. 37 Die Rechte der verdrängten LPG -Mitglieder könnten in gleicher Weise auch dadurch gesichert werden, dass sie ex lege am Rechtsträger neuer Rechtsform beteiligt seien (so K. Schmidt) bzw. (so Hommelhoff/Schubel im Anschluss an OLG Rostock) einen Anspruch auf Wiederaufnahme durchsetzen könnten. Im Falle der – unzulässigen – Umwandlung in eine vom LwAnpG 1990 nicht zugelassene Rechtsform halten Hommelhoff/Schubel darüber hinaus eine Umdeutung (§ 140 BGB ) des Umwandlungsbeschlusses in eine Vermögensübertragung für möglich, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass alle LPG -Mitglieder das Recht zur Beteiligung am Rechtsträger neuer Rechtsform hatten. 38 Trotz dieser Kritik hat der Landwirtschaftssenat des BGH an seiner Rechtsprechung festgehalten. 39 Und auch der für das Gesellschaftsrecht zuständige 2. Zivilsenat des BGH hat sich der Linie des Landwirtschaftssenats ausdrücklich angeschlossen. 40 M.E. zu Recht. Mag auch die Rechtsprechung des BGH vor dem Hintergrund der Dogmatik des allgemeinen Umwandlungsrechts angreifbar und deshalb auf Umwandlungen (nach dem UmwG 1995) „zu normalen Zeiten“ nicht übertragbar sein, 41 so ist doch für die spezielle Konstellation der fehlerhaften LPG -Umwandlungen zu berücksichtigen, dass zum einen die Registergerichte ihre vom Gesetzgeber erwartete und für das Eingreifen des Bestandsschutzes auch vorausgesetzte Kontrollfunktion nicht wahrgenommen haben, und zum anderen sowohl im Falle der mitgliederverdrängenden Umwandlung als auch im Falle der unzulässigen übertragenden Umwandlung (jedenfalls beim Ausschluss einer direkten Beteiligung der LPG -Mitglieder am Rechtsträger neuer Rechtsform) der Gesetzesverstoß nicht dadurch belohnt werden darf, dass die Umwandlung in der beschlossenen Form (zunächst) als wirksam erachtet wird und die benachteiligten früheren LPG -Mitglieder dadurch gezwungen werden, aktiv den Rechtsweg zu beschreiten, um den von ihnen nicht zu vertretenden Mangel wieder zu korrigieren.42 Das den Bestandsschutz rechtfertigende Argument, eine Rückabwicklung der vollzogenen eingetragenen Umwandlung K. Schmidt ZIP 1998, 181, 186; Hommelhoff/Schubel ZIP 1998, 537, 546 f. Hommelhoff/Schubel ZIP 1998, 537, 547. 39 BGHZ 138, 371 = ZIP 1998, 1161 m. zust. Anm. Lohlein EWiR 1998, 659; BGH ZIP 1998, 1207 m. zust. Anm. Lohlein EWiR 1998, 777; BGH ZIP 1999, 840 m. Anm. Lohlein EWiR 1999, 1021; BGH AgrarR 2000, 234; abl. Schubel ZIP 1998, 1386 ff.; vgl. auch ders. in Bayer 10 Jahre LwAnpG, 2001, S. 46, 51 ff.; Drescher NL- BzAR 1999, 313, 322 ff.; Steinebach NL- BzAR 1999, 222 ff. 40 BGH ZIP 1999, 1126 = WuB II N. § 34 LwAnpG 1.00 m. Anm. Drygala; BGH AgrarR 2000, 132 m. zust. Anm. Bayer/Hoffmann EWiR 1999, 1019. 41 So Henze BB 1998, 2208 ff.; aA Veil WuB II N. § 34 LwAnpG 1.01; diff. Decher in Lutter UmwG, § 202 Rn. 47 ff.; M. Kort ZGR-Sonderheft 14 (1998), 194, 196 ff. 42 Zutreffend Wenzel AgrarR 1998, 139, 141; ders. FS 50 Jahre BGH , 2000, S. 201, 221; vgl. auch bereits Hagen FS des Rheinischen Notariates, 1998, S. 261 ff. 37 38

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sei unzweckmäßig und schwierig,43 muss hier – wie der BGH zutreffend erkannt hat – hinter allgemeinen Gerechtigkeitsüberlegungen zutreten.44 2. Mängel der Vermögensauseinandersetzung Im Mittelpunkt der gerichtlichen Auseinandersetzungen zwischen LPG Nachfolgeunternehmen und LPG -Mitgliedern stand in der Vergangenheit und steht auch noch in den heute anhängigen Verfahren allerdings der Streit über die angemessene Abfindung. Obwohl mit gerichtlicher Hilfe die Abfindungsleistungen regelmäßig und teilweise deutlich verbessert werden konnten, hat nur ein geringer Teil der ausgeschiedenen LPG -Mitglieder den Rechtsweg beschritten. Aus dieser Tatsache wurde vielfach fälschlich geschlussfolgert, dass die Abfindungen in der Mehrzahl der Fälle in rechtmäßiger Weise festgesetzt worden waren. Auch die Politik hat sich durch diese Argumentation der LPG -Nachfolgeunternehmen und ihrer Verbandslobby jahrelang irreleiten lassen, zumal auch die durch verschiedene Landtage initiierten Überprüfungen aus den Jahren 1992/1994 dieses Ergebnis vermeintlich bestätigten. Gegenteilige Beispiele, mit denen belegt werden sollte, dass sich die LPG -Nachfolgeunternehmen flächendeckend auf Kosten der LPG Mitglieder in gesetzwidriger Weise bereichert hätten, wurden als bedauerliche, aber nicht repräsentative Einzelfälle abgetan. Im Rückblick ist festzustellen, dass Politik und Öffentlichkeit getäuscht wurden. Unsere Untersuchung kommt zu dem zweifelsfreien und bis heute trotz kritischer Kommentare nicht widerlegten Ergebnis, dass die ganz große Mehrzahl aller Abfindungen nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise festgesetzt und abgewickelt wurde. Hierbei wurden – oft kumuliert – verschiedene Maßnahmen zur Benachteiligung der LPG -Mitglieder ergriffen: Zunächst wurde sehr häufig nicht das gesamte Eigenkapital der LPG – wie gesetzlich vorgeschrieben – als Verteilmasse berücksichtigt, sondern nur ein geringer Teil: im Mittelwert die Hälfte, in Extremfällen weniger als 10 %. Der Rest wurde vorab dem LPG -Nachfolgeunternehmen als Rücklage zugewiesen. Weiterhin wurde ermittelt, dass sowohl die Inventarbeiträge als auch die Vergütungen für Kapital und Arbeit regelmäßig zu niedrig angesetzt wurden. Benachteiligt wurden die ausgeschiedenen LPG -Mitglieder nicht selten doppelt: Zuerst wurde die Abfindung zu niedrig festgesetzt, anschließend die festgesetzte Abfindung im Rahmen der Auszahlung nochmals auf 25 – 50 % gekürzt mit dem Argument, mehr lasse die Leistungskraft des LPG -Nachfolgeunternehmens nicht zu.

43 So BegrRegE zu § 20 UmwG, Ganske UmwR S. 75; vgl. weiter Grunewald in Lutter UmwG, § 20 Rn. 68; Decher in Lutter UmwG, § 202 Rn. 47 ff. 44 So i.E. auch Henze BB 1999, 2208, 2210.

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Dass diese rechtswidrigen Vermögensverlagerungen von den LPG -Mitgliedern zu den LPG -Nachfolgeunternehmen bei den „Überprüfungen“ der Jahre 1992/1994 nicht beanstandet worden waren, ist rückblickend ein Skandal und lässt sich nicht als Versehen erklären. Denn die dargestellten Gesetzesverstöße waren und sind offenkundig. Streitigkeiten über richtige oder falsche bilanzielle Ansätze betreffen andere Aspekte der Problematik, lassen indes den strukturell falschen Ansatz der Vermögensverteilung unberührt: Selbst unter Zugrundelegung der von den LPG -Nachfolgeunternehmen selbst gewählten Bilanzansätze wurden die ausgeschiedenen LPG -Mitglieder systematisch übervorteilt.

IV. Reaktionen auf die Ergebnisse der Untersuchung und aktuelle Abwehrstrategien Die „Jenaer Studie“ – so das verbreitete Kürzel – hat seit der Veröffentlichung der Ergebnisse im Sommer 2002 für viel Unruhe gesorgt. Aus politischer Sicht hat sich das Thema allerdings „abgenutzt“; angekündigte Gesetzesinitiativen – zB vom Freistaat Sachsen – wurden nicht verwirklicht. 45 Die Mehrzahl der LPG -Nachfolgeunternehmen lehnt sich beruhigt zurück, weil sowohl Ansprüche auf Abfindungsleistungen als auch mögliche Haftungsansprüche wegen pflichtwidriger Unternehmensleitung nach einer insgesamt 10jährigen Verjährungsfrist in Zukunft wohl nicht mehr zu befürchten sind. Darüber hinaus wird suggeriert, dass die ursprünglich zu niedrig festgesetzten Abfindungen zwischenzeitlich durch angemessene Nachzahlungen korrigiert worden seien; zahlreiche LPG -Mitglieder hätten darüber hinaus in „Abfindungsvergleichen“ auf weitere Zahlungen verzichtet. Richtig ist zwar, dass es Nachzahlungen gegeben hat und dass auch sehr viele Abfindungsvereinbarungen geschlossen wurden. Unsere Untersuchung – die diesen Aspekt mangels verweigerter Datengrundlage aus den LPG -Nachfolgeunternehmen nur sporadisch erfasst hat – kann indes nicht bestätigen, dass angemessene Nachzahlungen die Regel waren. Zahlreiche Beispiele sowie insbesondere die hohe Erfolgsquote von Klagen auf höhere Abfindung legen vielmehr das gegenteilige Ergebnis nahe. Daher ist die Behauptung der LPG -Nachfolgeunternehmen, das Thema habe sich zwischenzeitlich erledigt, bislang unbewiesen und wird durch jedes Verfahren widerlegt, in dem auch noch heute höhere Abfindungszahlungen zugesprochen werden. Eine eindeutige Klärung könnte allein eine neutrale Überprüfung herbeiführen; aktuelle Gutachten von genossenschaftlichen Prüfungsverbänden und Wirtschaftsprüfern, die bereits in der Vergangenheit eingeschaltet waren und damals schon kläglich versagt haben, sind dagegen ohne jeden Wert. 45

Dazu etwa Czub VIZ 2003, 105, 117 f.

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Unwirksam umgewandelte LPG -Nachfolgeunternehmen verdrängen heute im Regelfall die Problematik und setzen darauf, dass die Unwirksamkeit in ihrem konkreten Fall nicht aufgedeckt wird. Andere haben die Hoffnung, dass ihnen notfalls die Politik beispringt – wie bereits häufiger in der Vergangenheit, wenn Gesetzwidrigkeiten aufgedeckt wurden und staatliche Intervention drohte. Die Aufforderung von Wissenschaft und Praxis, der Gesetzgeber möge für das atypische Liquidationsverfahren einer LPG i.L. – die seit über 10 Jahren unerkannt in Liquidation ist und deren Vermögen sich im Besitz eines Unternehmens befindet, das regelmäßig nicht kooperieren will, sondern bestrebt ist, das Verfahren ohne Rücksichtnahme auf die Interessen der Mitglieder der LPG i.L. in seinem Sinne zu steuern – eine besondere Regelung treffen und insbesondere die Tätigkeit des Liquidators einer speziellen gerichtlichen Aufsicht unterstellen, wurde bislang ignoriert. Dies hat jedoch zur Folge, dass die Liquidation nach Vorschriften und Regeln erfolgt, die auf die vorliegende Situation widerstreitender Interessen zwischen LPG i.L. und vermeintlichem LPG -Nachfolgeunternehmen nicht zugeschnitten sind. Insbesondere der rechtliche Rahmen einer häufig gebotenen und wirtschaftlich oftmals für alle Beteiligten sinnvollen vertraglichen Regelung, mit der die Sach- und Rechtslage ohne langwierigen und teuren Rechtsstreit bereinigt werden könnte, ist völlig offen und hat bereits zu widersprechenden Entscheidungen des Landwirtschaftssenats des OLG Dresden einerseits 46 sowie des 8. Zivilsenats des Thüringer OLG 47 andererseits geführt. Beide Entscheidungen überzeugen jedoch nicht: Nach Auffassung des OLG Dresden ist die vertragliche Abrede, wonach das Vermögen der LPG i.L. auf das Scheinnachfolgeunternehmen übertragen werde, wegen der damit verbundenen Abweichung vom Liquidationsmodell der §§ 42 I, 44 LwAnpG nur wirksam, wenn die Mitgliederversammlung der LPG i.L. diesem Vertrag einstimmig zugestimmt habe. Diese Rechtsprechung hätte zur Folge, dass eine solche „Heilung“ der unwirksamen Umwandlung durch nachträgliche vertragliche Vereinbarung in praxi ausgeschlossen wäre. Dies macht indes keinen Sinn und wird auch vom LwAnpG nicht gefordert. Unhaltbar ist m. E. jedoch der umgekehrte Weg, den der 8. Zivilsenat des Thüringer OLG beschritten hat: Danach soll sogar der Verkauf des Unternehmens der LPG i.L. an den Scheinnachfolger dann mit Mehrheitsbeschluss zulässig sein, wenn der LPG i.L. im Gegenzug kein an ihre Mitglieder verteilbarer „Kaufpreis“ zufließt, sondern diesen lediglich Anteile an dem Scheinnachfolgeunternehmen eingeräumt werden; unklar bleibt in der Entscheidung allerdings, ob die Mitglieder der LPG i.L. dem Scheinnachfolger als Kommanditist beitreten können oder ob mit dem Mehrheitsbeschluss quasi im 46 47

OLG Dresden VIZ 2002, 123 = NL- BzAR 2001, 451, 457 f. ThürOLG VIZ 2003, 149.

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Wege einer nachgeholten Umwandlung ein Kommanditanteil auch ohne Beitrittserklärung eingeräumt werden soll. Beide Varianten sind allergrößten Bedenken ausgesetzt: Außerhalb der gesetzlich vorgesehenen Umwandlungsverfahren kann kein Gesellschafter zwangsweise Mitglied in einem Rechtsträger neuer Rechtsform werden. Soll dagegen ein Beitrittsrecht begründet werden, so würden von dem Verkauf des Unternehmens der LPG i.L. nur diejenigen Mitglieder profitieren, die bereits früher Kommanditist beim Scheinnachfolger geworden sind oder nunmehr in diese Rechtsstellung einrücken; alle anderen Mitglieder der LPG i.L. würden leer ausgehen. Auch dieses Ergebnis widerspricht jedoch allen Prinzipien des Liquidationsrechts. Eine Vertragslösung kann daher nur so aussehen, dass der nachträglichen Übertragung des Vermögens der LPG i.L. eine angemessene Gegenleistung gegenüber steht, die an die Mitglieder der LPG i.L. ausgeschüttet wird. Andernfalls hat der Scheinnachfolger das rechtsgrundlos übernommene Vermögen Zug-um-Zug gegen Erstattung von Aufwendungen und anderen Gegenansprüchen an die LPG i.L. herauszugeben. 48 Enthält der Übernahmevertrag einen solchen inhaltlichen Interessenausgleich zwischen den Beteiligten, dann sollte der Liquidator den Vertrag auch mit Zustimmung der qualifizierten Mehrheit der Mitglieder der LPG i.L. abschließen dürfen. Angesichts der schwierigen Problematik, eine unwirksame LPG -Umwandlung im nachhinein „zu heilen“, ist das Bestreben der Scheinnachfolger, die Feststellung dieser für sie ungünstigen Rechtslage zu vermeiden, verständlich. Unverständlich ist dagegen, dass Teile der Instanzgerichte sich offen der BGH -Rechtsprechung widersetzen und Klagen, die auf Feststellung der Unwirksamkeit der LPG -Umwandlung gerichtet sind, mit unhaltbarer Begründung abweisen. So wurde etwa in einem Beispiel aus Thüringen die Unwirksamkeit eines Treuhandmodells erst im Rahmen des Verfahrens der sofortigen Beschwerde vom Landwirtschaftssenat des Thüringer OLG festgestellt,49 obschon bereits der BGH dezidiert entschieden hatte, dass die Übernahme des gesamten LPG -Vermögens durch eine GmbH, deren Anteile allein vom künftigen GmbH-Geschäftsführer gehalten werden sollten und der dann auch allein die GmbH „neu errichtet hat“ (so die ausdrückliche Erklärung bei der Anmeldung) nicht als identitätswahrende formwechselnde Umwandlung qualifiziert werden könne. Im konkreten Fall hatte der Geschäftsführer als Alleingesellschafter das neue Unternehmen über 10 Jahre lang ohne jede Rücksicht auf beteiligungswillige frühere LPG -Mitglieder geleitet. Dennoch sah das Landwirtschaftsgericht in Meiningen die Umwandlung als wirksam an, da alle fortsetzungswilligen LPG -Mitglieder die Mög-

48 49

Ausf. Abicht (Fn. 4), S. 229 ff., 265 ff. ThürOLG 15. 5. 2003 Lw U 74/03 (unveröff.).

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lichkeit gehabt hätten, ihre GmbH-Beteiligung einzufordern.50 Trotz ausdrücklichen Hinweises des Klägers auf die entgegenstehende BGH Rechtsprechung wurde diese von der ersten Instanz nicht zur Kenntnis genommen. Bemerkenswert ist in diesem Sachverhalt, dass der Registerrichter ursprünglich – und zu Recht – die Eintragung des Umwandlungsvermerks abgelehnt und die GmbH – zutreffend – als Neugründung eingetragen hatte; erst der Amtsnachfolger hat dann auf Verlangen des Scheinnachfolgers den Umwandlungsvermerk nachträglich – unzutreffend – ergänzt. Eine solche nachträgliche Ergänzung des Umwandlungsvermerks wird nach der Veröffentlichung der Jenaer Studie teilweise auch von solchen Unternehmen angestrebt, die bislang auf eine solche Registereintragung keinen großen Wert gelegt hatten. Hauptgrund hierfür dürfte sein, dass nur ordnungsgemäß umgewandelte Unternehmen subventionsberechtigt sind. Darüber hinaus befürchten zahlreiche Unternehmen, die das Vermögen der LPG auf zweifelhafte Weise übernommen haben, dass dieser Erwerb bei unklarer Registerlage wieder in Frage gestellt werden könnte. Problematisch ist, dass Streitigkeiten in dieser Konstellation oftmals nicht von den einschlägig sachkundigen Landwirtschaftsgerichten und -senaten, sondern im registergerichtlichen Rechtszug entschieden werden, also von Spruchkörpern, die mit der Problematik unwirksamer LPG -Umwandlungen nur am Rande beschäftigt sind. Nicht immer vermögen dann die dort getroffenen Entscheidungen zu überzeugen, wie etwa ein Beispiel aus Sachsen verdeutlichen mag: Die Mitglieder einer LPG beschlossen noch unter der Geltung des LwAnpG 1990 die – damals nicht zulässige – Umwandlung in eine GmbH & Co KG . Umwandlungsbericht, Prüfungsgutachten, Abschlussbilanz sowie der Text eines Gesellschaftsvertrages lagen bei der Beschlussfassung nicht vor. Der Anmeldung beim Handelsregister war beigefügt ein Gesellschaftsvertrag, der vor einem Notar in Lüneburg von 7 LPG -Mitgliedern (als Kommanditisten) abgeschlossen worden war, wobei ein LPG -Mitglied zugleich als Geschäftsführer der Komplementär-GmbH i.G. auftrat. Der Gesellschaftsvertrag der KG sieht ua vor, dass als weitere Kommanditisten diejenigen Mitglieder der LPG aufgenommen werden sollten, deren Mitgliedschaft am 31. 12. 1990 noch bestand; die Komplementärin wurde beauftragt, die entsprechenden Verträge mit den Kommanditisten abzuschließen. Die Komplementärin ist auch zur außerordentlichen Geschäftsführung befugt; das Widerspruchsrecht der Kommanditisten gem. § 164 HGB ist ausgeschlossen. Die KG wurde am 24. 9. 1991 – d. h. nach Inkrafttreten des LwAnpG 1991 – in das Handelsregister eingetragen. Ein Hinweis darauf, dass die KG durch Umwandlung aus der LPG hervorgegangen sei, wurde nicht eingetragen. Am 1. 4. 1993 wurde der Beitritt von 81 weiteren ehemaligen LPG -Mit50

AG Meiningen 9. 1. 2003 – Lw 28/01 (unveröff.).

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gliedern als Kommanditisten eingetragen. Die im Herbst 1993 beantragte Eintragung eines Umwandlungsvermerks lehnte das Registergericht ab. Auf die erfolglose Beschwerde hat dann auch das LG Leipzig entschieden, dass die Voraussetzungen für die Eintragung eines Umwandlungsvermerks nicht vorliegen würden, weil zahlreiche, zwingend erforderliche Unterlagen fehlten, insbesondere die Niederschrift des Umwandlungsbeschlusses nebst Anwesenheitsliste. 51 Am 5. 4. 2002 stellte die KG erneut den Antrag, den Umwandlungsvermerk im Handelsregister nachzutragen. Daraufhin teilte das Registergericht Leipzig mit, dass es beabsichtige, den Registereintrag dahin zu ergänzen, dass die KG durch Umwandlung Rechtsnachfolgerin der LPG geworden sei. Beschwerde und weitere Beschwerde blieben erfolglos. Der 3. Zivilsenat des OLG Dresden urteilte: Da ein Umwandlungsbeschluss vorliege, der einen identitätswahrenden Formwechsel vorsehe, sei nach der Rechtsprechung des BGH von einer zwar fehlerhaften – denn der Umwandlungsbeschluss sei nichtig –, durch die Registereintragung der KG aber wirksamen Umwandlung der LPG auszugehen. 52 Diese Entscheidung stößt auf zwei Bedenken: Zum einen begnügt sich das OLG lapidar mit der Feststellung, dass der BGH den hier geltend gemachten Unwirksamkeitsgrund bislang noch nicht anerkannt habe. Zum anderen wird einer Umwandlung, die auf einem nichtigen Umwandlungsbeschluss beruht, gerade erst durch die Anerkennung der bislang vom Registergericht abgelehnten Umwandlungswirkung (!) die Bestandskraft verliehen. Die Behauptung des OLG , dass es ausreichend sei, dass der Umwandlungsbeschluss einen identitätswahrenden Formwechsel vorsehe, mag auch die Durchführung hiervon abweichen – die 7 Gründungsgesellschafter der KG haben deren Satzung eigenmächtig aufgestellt, die KG neu gegründet und dann erst in der Folgezeit die übrigen LPG -Mitglieder in die Rechtsstellung einflussloser Kommanditisten einrücken lassen –, wird jedenfalls durch die Rechtsprechung des BGH nicht gestützt; der BGH hat diese Konstellation bislang noch gar nicht entschieden. Insbesondere hat jedoch das OLG – im Gegenzug zum Registergericht, das im Jahre 1993 die Eintragung des Umwandlungsvermerks noch abgelehnt hatte – übersehen, dass einer fehlerhaften Umwandlung nur dann Bestandskraft zukommen kann, wenn sich die Registereintragung auf eine „umgewandelte LPG “ bezieht. Denn es ist doch eindeutig, dass nicht jedes von ehemaligen LPG -Mitgliedern neu gegründete und ohne Umwandlungsvermerk eingetragene Unternehmen nachträglich geltend machen kann, es sei aus der umgewandelten LPG entstanden. Dies wird sofort einsichtig, wenn wir den vorliegenden Sachverhalt abwandeln: 7 ehemalige LPG -Mitglieder wollen sich selbständig machen und gründen eine KG ; als Sacheinlage soll in diese KG der jedem LPG -Mitglied zuste51 52

LG Leipzig 6. 2. 1995 – 4 HKT 2577/94 (unveröff.). OLG Dresden 5. 5. 2003 – 3 W 0217/03 (unveröff.).

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hende Anteil am LPG -Vermögen eingebracht werden. Die KG wird in das Handelsregister eingetragen (warum auch nicht!). Später behauptet die KG , sie sei die umgewandelte LPG . Angenommen, die LPG hätte tatsächlich eine Umwandlung beschlossen, die Umwandlung allerdings wegen erkannter Nichtigkeitsgründe nicht zur Eintragung gebracht: Will man hier behaupten, allein die Eintragung der – neuen – KG in das Handelsregister und die Erklärung, man sei die formgewechselte LPG , habe die Umwandlungswirkungen herbeigeführt? Offensichtlich doch nicht. Richtigerweise wird man auch dann, wenn eine Umwandlung nicht in der beschlossenen Weise – nämlich unter direkter Wahrung der Identität der Mitgliedschaft – durchgeführt wird, die Umwandlungswirkungen verneinen müssen. Entgegen der Auffassung des OLG Dresden ist dieser Standpunkt auch bereits in der BGH -Entscheidung vom 17. 5. 1999 angelegt. 53 Dies gilt um so mehr, wenn der Umwandlungsbeschluss nichtig ist. Warum sollte in dieser Konstellation eine als Neugründung zu Recht eingetragene KG Gründung nachträglich um einen Umwandlungsvermerk ergänzt und auf diese Weise die bislang nicht gegebene Bestandskraft der Umwandlung erstmals überhaupt anerkannt werden?

V. Fazit Die gesetzliche Konzeption des LwAnpG – die Schaffung einer vielfältig strukturierten, mittelständischen Landwirtschaft – wurde in der Praxis auf den Kopf gestellt. Agrargroßunternehmen sollten nur dann aufrecht erhalten werden, wenn sie trotz angemessener Abfindung ausscheidungswilliger LPG -Mitglieder lebensfähig waren. Stattdessen wurde der umgekehrte Weg beschritten: Mit dem Argument der drohenden Insolvenz und einem damit verbundenen Arbeitsplatzabbau wurden Abfindungsleistungen flächendeckend zu niedrig festgesetzt. Die heutigen Eigentümer der LPG -Nachfolgeunternehmen konnten sich daher häufig zu Lasten der ausgeschiedenen LPG -Mitglieder bereichern. Korrekturen sind nur im Einzelfall erfolgt. Eingriffe des Staates konnten die LPG -Nachfolgeunternehmen und ihre Verbände durch Fehlinformationen verhindern. Obwohl die Rechtsprechung in zahlreichen Einzelfällen helfen konnte, bleibt der Eindruck, dass sich der Rechtsstaat aufgrund der mangelnden Unterstützung durch Politik und Verwaltung nur eingeschränkt durchsetzen konnte. Somit gibt die Epoche der Restrukturierung der landwirtschaftlichen Unternehmen in den neuen Bundesländern nach 1989 ein anschauliches Beispiel dafür, wie schwer es das Recht hat, sich gegen eine machtvolle Koalition aus Ignoranz, Lobbyismus und persönlichen Netzwerken zu behaupten. 53

BGHZ 142, 1.

Diversity in American Higher Education Lawrence Church

It is a pleasure to contribute to the Festschrift for Thomas Raiser. I first got to know Thomas about twenty years ago, at the beginning of an ongoing faculty and student exchange between Justus-Liebig Universität and the Wisconsin Law School – an idea he and Wisconsin’s David Trubek hatched. The premise of the exchange was simple: both law schools would be enriched by the presence of faculty and students from a foreign country. The subject of this paper relates, in a way, to the philosophy behind this exchange – the idea that everyone benefits from exposure to the views of people from different backgrounds. We know that we at Wisconsin have learned much about the world, and even about ourselves, from the German students and faculty who have come here, and we like to imagine that the benefits have flowed both ways. Diversity in the classroom is valuable to everyone involved in learning. Of course, diversity is as beneficial on the domestic as on the international level. In many countries around the world (including Germany) and particularly in the United States, there is increasing domestic diversity – in race, ethnicity, religion, culture and language. European Americans, who comprised about 87 % of the national population in 1900, are expected be only about half the population fifty years from now.1 Some large city school districts currently must serve children from more than 100 different language backgrounds. There is growing diversity in every part of the country. This diversity is a source of pride, strength and energy. It is also the source of a lot of problems. American history is replete with examples of the tensions that can attend diversity. There are many instances of discrimination based on such characteristics as religion, 2 and language. 3 However, 1 Pollard and O’Hare, America’s Racial and Ethnic Minorities, Pop. Ref. Bur., 54 Pop. Bull. 3, p. 10, September, 1999. More Americans identify themselves as at least in part of German ancestry than any other ethnic group – about 60 million in all. See 1997 Statistical Abstract of the United States, U.S. Com. Dep’t., Census Bur., Table 56, p. 54. (On-line, see generally WWW.Census.Gov.) But this represents only about one-fifth of the total population. 2 See, e.g., Church of the Lukumi Babalu Aye, Inc. v. City of Hialeah, 508 U.S. 520, 113 S. Ct. 447, 121 L.Ed. 2d 472 (1993). 3 As a result of tensions raised by the First World War, for example, the state of Nebraska forbade the teaching of German (or other non-English languages) in public schools. The

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of all the difficulties presented by diversity, those related to race have proved to be the most intractable. Two groups in particular, AfricanAmericans and Hispanic-Americans, can be singled out. These are the largest minority groups in the United States; together, they represent about a quarter of the nation’s population. Until the 1860s, slavery, based principally (though not entirely) on African heritage, was widely practiced in the American South. More recently, Hispanics have been subjected to discrimination, with racial and linguistic differences combining with newlyarrived immigrant status to form a vulnerable mix. (Other minority races and ethnic groups have also been discriminated against, 4 but not with the same current impact.) The consequences have been profoundly debilitating. Slavery itself ended with the Civil War, and, technically, discrimination against African-Americans also ended with the passage of the 14 th Amendment to the Constitution. 5 In fact, though, discrimination against American blacks continued in a thousand ways, particularly in the South. 6 State-sponsored – de jure – segregation was largely tolerated by the United States Supreme Court up until the famous Brown v. Board of Education case in 1954. 7 De facto-segregation,

U.S. Supreme Court struck this down in Meyer v. Nebraska, 262 U.S. 390, 43 S. Ct. 625, 67 L. Ed. 1042 (1923). More recently, the Arizona courts struck down a requirement (directed mostly at Spanishspeaking Americans) that state government be conducted only in English. Ruiz v. Hull, 957 P.2d 984 (Ariz., 1998). 4 Native American Indians, depleted by war and disease, were often relegated to isolated reservations. There continue to be many problems due to this history, but with a population that is less than 1 % of the national total, see Statistical Abstract of the United States, supra, Note 1, Table 278, p. 178, Indians have less impact on national cohesion than the two larger minority groups. Other groups have suffered past discrimination, but to a lesser degree. See, e.g., Yick Wo v. Hopkins, 118 U.S. 356, 6 S. Ct 1064, 30 L.Ed. 220 (1886) (respecting Chinese-Americans); Korematsu v. United States, 323 U.S. 214, 65 S.Ct. 193, 89 L.Ed. 194 (1944) (Japanese-Americans). Few Americans know that thousands of Italian-Americans were also discriminated against during World War II . See Italians’ Treatment Under Review, Milwaukee J. Sentinel, Mar. 28, 2001 at A8. German-Americans were generally not mistreated, perhaps because there were so many of them. 5 The 14 th Amendment was ratified in 1868. It provides that no state shall „deny to any person within its jurisdiction the equal protection of the laws“ – the Equal Protection Clause. U.S. Const. Amend 14, Sec. 1. 6 Segregation in housing, through zoning laws, was struck down early, in Buchanan v. Warley, 245 U.S. 60, 38 S.Ct. 16, 62 L.Ed. 149 (1917). But other forms of segregation, including in education, were permitted under the „separate but equal“ doctrine announced in Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 537, 16 S.Ct. 1138, 41 L.Ed. 256 (1896). 7 „[I]n the field of public education the doctrine of ‚separate but equal‘ has no place. Separate educational facilities are inherently unequal.“ Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483, 495, 74 S.Ct. 686, 98 L.Ed. 873 (1954).

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especially residential segregation, has proved more difficult to eliminate. In fact, it may be on the rise, especially in the cities of the North. 8 Discrimination against Hispanic-Americans is mostly of more recent vintage. For much of American history, immigrants came almost exclusively from Europe. In recent decades, nearly all immigrants have come from nonEuropean countries, especially from Mexico and other Spanish-speaking countries in Latin America. The Hispanic-American population has now moved past blacks to become the country’s largest minority community. 9 Hispanics often live in de facto segregated housing and attend segregated schools – perhaps even more so than blacks.10 As a result of this history, blacks and Hispanics are behind EuropeanAmericans in almost every category of economic and social success.11 Nearly everyone agrees that in the end this is unacceptable. It is inconsistent with egalitarian ideals; and given the racial mix of America now and in the predicted future, it is downright dangerous. One way to address the problem is through education. To the degree that education is the path to middle class status and success, a racially integrated educational system should lead to economic and social equality. This was the major premise behind Brown v. Board. It remains a vital goal. Alas, though, it has remained a stubbornly elusive one. The pernicious aftereffects of past discrimination are perhaps nowhere more obvious today than in the field of education. Minorities (except for Asian-Americans) lag far behind at every level of school.12 (Possible bias in the tests used to measure academic 8 See, e.g., Segregation Growing Among U.S. Children, N.Y.Times, May 6, 2001, at A20. A century ago, Milwaukee, Wisconsin school students were largely of German origin. Today, the City’s school district is about 60 % black, while its suburban school districts are heavily white. Ibid. 9 Riche, America’s Diversity and Growth: Signposts for the 21 st Century, Pop. Ref. Bur., 55 Pop. Bull. 2, p.16, June, 2000. Not only immigration causes this growth – Hispanics have a total fertility rate of 2.9, compared with a 1.8 rate for European-Americans, and are expected to comprise almost a quarter of the American population by the year 2050. Ibid. 10 As Justice Ginsburg noted in her concurring opinion in Grutter v. Bollinger, 123 S.Ct. 2325, 2348, 155 L.Ed 223 (2003), 76.3 % of Hispanic (and 71.6 % of black) children attending public schools are attending schools in which a majority of students are racial minorities. 11 The median family income of American blacks is about 61 % of that of whites; for Hispanics it is only 58 %. See Statistical Abstract of the United States, supra, Note 1, Table 723, p. 469. (For some minorities, however, the income level is much higher, often considerably exceeding white levels. See Sowell, The Presuppositions of Affirmative Action, 26 Wayne L. Rev. 1309 (1980). For blacks and Hispanics, discrimination and its effects can be found in many contexts, including unemployment and low pay rates, health insurance coverage, de facto residential segregation and consumer transactions. See Gratz v. Bollinger, 123 S.Ct. 2411, 2443, 156 L.Ed. 2d 257 (2003) (Ginsburg, J., dissenting). 12 On average, black 12 th grade students perform at about the same level as white 8 th grade students in geography and U.S. history, and at the white 7th grade level in math and science. Hispanic students fare only slightly better. See Thernstrom and Thernstrom, No

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aptitude and achievement is not a sufficient explanation for the large discrepancies in results,13 so merely tinkering with the tests will not greatly reduce the gap.) Because admission to higher education is competitive, this means that even if minorities are invited to compete freely for the coveted spots, their entry into college, and even more into advanced degree programs like law, medicine or business, will be severely limited, and they will not achieve anything near equal representation there for the foreseeable future. Unless corrective measures are taken, the American dream will remain elusive for many minorities. Of course, there is an obvious solution to this dilemma. Increased rates of minority access to the middle class and to such professions as the law could be „jump-started“ by basing admission to college or law school, including (perhaps especially) at the most prestigious schools, partly on race. This could be achieved through imprecise preferences or, more explicitly, through proportional numerical racial quotas.14 The simplicity of this solution and the overwhelming pressure to do something to accelerate racial equality in the United States proved irresistible, and many institutions of higher learning responded with affirmative action programs. Some of these adopted specific numerical quotas for named races, encouraged in part by government quotas and set-asides for minority Excuses: Closing the Racial Gap in Learning, (New York: Simon & Schuster, 2003) 13. Reading ability among Hispanic 17-year olds rose slightly during the decade of the 1990s; for black 17-year olds, there was virtually no change. Id, at p. 19. The difference in aptitude test scores between blacks and whites is about one whole standard deviation. Asian Americans score slightly higher than whites. See Herrnstein and Murray, The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life, (New York: Free Press, 1994) Part 3. 13 In areas such as math and science, where testing bias against minorities would be expected to be least significant, blacks and Hispanics do comparatively worse than on English and geography tests. Meanwhile, some studies suggest that black college aptitude scores actually over-predict later performance in college classes. See Thernstrom and Thernstrom, supra, Note 12, at p. 29. 14 For example, only 62 % of Hispanics complete high school, compared with 89 % of non-Hispanics. Only 6.6 % of Hispanics finish four years of college, compared with 16.6 % of the rest of the population. See Statistical Abstract of the United States, supra, Note 1, Table 245, p.160. Typically, the academic qualifications required for admission to top tier law schools like Michigan include a high undergraduate grade point average (e.g., a 3.5 GPA ) and a high Law School Aptitude Test score (e.g., an LSAT ranking at or above the 92d percentile.) In 1997, the nationwide pool of black law school applicants at this level was just 16. For Hispanics, the figure was 45. They were competing with 2646 whites who attained these scores. Given that nearly a third of American schoolchildren are black or Hispanic, these groups would statistically be expected to have about 14 times their actual representation at this elite level. See Morris, Boalt Hall’s Affirmative Action Dilemma, 1997 American Lawyer. Similarly, estimony in Grutter v. Bollinger, supra, Note 10, 123 S.Ct. at 2334, suggested that without affirmative action, only 10 % of the minority students who were accepted at the Michigan Law School would have been admitted.

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groups in public contracting and employment 15 and by the Supreme Court’s own receptiveness to aggressive measures to desegregate primary and secondary schools.16 However, reliance on racial quotas to achieve balance in higher education was bound to become controversial, because of its immediate impact on both minority and majority applicants and its implications for the future. It was clear that the Supreme Court would be asked to address the issue, and, after some initial hesitation, it did so in the well-known Bakke case of 1978.17 Bakke involved a racial quota used for admissions to the Medical School at the University of California at Davis – exactly 16 of the 100 seats in the entering class were set aside for blacks, Mexican-Americans, Asian-Americans or American Indians. Allan Bakke, a white applicant with very high test scores and grades, was denied admission. He sued, alleging invidious race discrimination, under the Equal Protection Clause of the 14th Amendment. The Supreme Court’s decision was divided and confusing. Four Justices said that any form of state-sponsored race discrimination, even for the benefit of minorities, should be condemned.18 Four other Justices said that „benign“ race discrimination, designed only to level the racial playing field, should be allowed. Justice Powell cast the deciding vote. He rejected the claim that the descendants of a victimized racial group should be compensated by individuals who are descendants of other groups and concluded that a specific quota, such as the one before the Court, violated the Constitution. However, he also concluded that „the attainment of a diverse student body … clearly is a constitutionally permissible goal for an institution of higher education,“ 19 and stated that an admissions process that made race a plus, together with other pluses (such as geographic origin, or musical or athletic talent) might pass muster. Thus was born the diversity rationale for consideration of race in higher education admissions decisions. Many universities and professional schools 15 See, e.g., Griggs v. Duke Power, 401 U.S. 424, 91 S.Ct. 849, 28 L.Ed.2d 158 (1971); Fullilove v. Klutznick, 448 U.S. 448, 100 S.Ct. 2758, 65 L.Ed.2d 902 (1980); City of Richmond v. J. A. Croson Co., 488 U.S. 469, 109 S.Ct. 706, 102 L.Ed.2d 854 (1989); Metro Broadcasting, Inc. v. FCC., 497 U.S. 547, 110 S.Ct. 2997, 111 L.Ed.2d 445 (1990). However, the Court restricted such practices, and overruled Metro Broadcasting, in Adarand Constructors, Inc. v. Pena, 515 U.S. 200, 115 S.Ct 2097, 132 L.Ed.2d 158 (1995). 16 See, e.g., Swann v. Charlotte-Mecklenburg Board of Education, 402 U.S.1, 91 S.Ct. 1267, 28 L.Ed.2d 554 (1971). 17 Regents of the University of California v. Bakke, 438 U.S. 265, 98 S.Ct. 2733, 57 L.Ed.2d 750 (1978). (Hereinafter Bakke.) 18 The four were Justices Stevens, Stewart and Rehnquist and Chief Justice Burger. See Bakke, 438 U.S. at 408. They based their opinion on a federal civil rights statute, rather than on the Constitution, however. Of all the Bakke Justices, only Justices Rehnquist and Stevens remain on the Court. (It seems very likely that Justice Stevens no longer agrees with much of the tenor of this opinion.). 19 Bakke, 438 U.S. at 311.

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followed the suggestions of Justice Powell in fashioning their admissions policies. However, arguments about the wisdom (and constitutionality) of this practice continued unabated. Indeed, as affirmative action programs expanded, the underlying debate intensified. Some courts concluded that Justice Powell’s Bakke opinion – accepted by no other Justice, but rather positioned between two irreconcilable extremes – was largely irrelevant, and declared that affirmative action in education, even to promote diversity, could not constitutionally be defended. 20 Meanwhile, oppositely, other courts found no constitutional barriers to affirmative action in higher education. 21 For twenty-five years, the Supreme Court resolutely declined to clarify its Bakke decision, even as the controversy over racial preferences deepened. The Court did issue opinions about affirmative action in other contexts, and there were indications that a bare majority of five Justices might be growing hostile to the concept. 22 But the Court offered only silence with respect to affirmative action in higher education. With conflict in the lower courts increasing, the Supreme Court could not continue to ignore the issue. Two test cases were brought against the University of Michigan for its affirmative action policies, one involving undergraduate admissions and the other law school admissions. 23 After a bitterly divided federal appeals court decision in one of them, 24 the Court took both cases, and on June, 23, 2003, handed down two separate, but interrelated, decisions: Gratz v. Bollinger25 and Grutter v. Bollinger. 26 In Gratz, the Court, by a 6–3 margin, declared that Michigan’s undergraduate admissions program was unconstitutional; but in Grutter, by a 5–4 20 See, e.g., Hopwood v. Texas, 78 F.3d 932 C.A. 5, 1996). Reflecting this view, voters in California passed „Proposition 209“ prohibiting discrimination on the basis of race, sex, color, ethnicity or national origin in education, government contracting and employment. The Ninth Circuit Court of Appeals found no constitutional impediment to this. Coalition for Economic Equity v. Wilson, 110 F.3d 1431 (C.A. 9, 1997). 21 See, e.g., Smith v. University of Washington Law School, 233 F.3d 1188 (C.A. 9, 2000). 22 See, e.g. Adarand Constructors, Inc. v. Pena, supra Note 15. 23 The University of Wisconsin was apparently also considered as a target for a test case. In the end, Michigan was selected instead. 24 The Sixth Circuit issued an en banc decision in favor of the Law School in Grutter v. Bollinger, 288 F.3d 732 (C.A. 6, 2002). A dissenting judge accused the Chief Judge of deliberately manipulating procedures in order to ensure a majority vote in favor of affirmative action – a startling charge. See the „Procedural Appendix“ of the dissenting opinion of J. Boggs, 288 F.3d at 810. The Supreme Court agreed to hear both cases before the Sixth Circuit issued an opinion in the undergraduate (Gratz) case, so there is no Sixth Circuit opinion in that case. 25 Gratz v. Bollinger, supra, Note 11. (Hereinafter Gratz, and cited only to the Supreme Court Reporter.). 26 Grutter v. Bollinger, supra, Note 10. (Hereinafter Grutter, and cited only to the Supreme Court Reporter.).

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margin, it upheld the Law School’s program. The key distinction between the two programs was not whether racial preferences were granted – both programs gave preferences to members of certain minority groups deemed under-represented at Michigan (i.e., African Americans, Hispanics, and American Indians); and diversity was the only justification asserted in each case. The difference between the two programs lay in the way the preferences were implemented. The undergraduate program adopted a point system for admission. An applicant scoring 100 points or more qualified for automatic admission, and 74 points or less generally meant rejection. Points were awarded for various attributes – for example, 10 points for being a Michigan state resident, 4 points for being the child of Michigan alumni, up to 3 points for an unusually good essay submission, and up to 5 points for leadership or public service. A full 20 points was automatically awarded for membership in an under-represented racial or ethnic group. In the eyes of the majority, this „mechanized“ approach failed the „strict scrutiny“ test applied under the Equal Protection Clause to all state-sanctioned race discrimination. Even though there was a „compelling“ state interest in promoting academic diversity, the point system was not „narrowly tailored“ enough to meet it. 27 In contrast, the Law School did not have any sort of mechanical point system. Instead, it asked applicants to describe their racial or ethnic identity, and then gave particularized consideration to each applicant’s file, to determine whether he or she would bring racial, ethnic or any other kind of desired diversity to the Law School. This highly individualized and subjective approach gave rise to the possibility that race could actually sometimes become an even more dominant factor than in programs involving quantified across-the-board preferences (like the Michigan undergraduate point system). 28 But it could also be more benignly applied than a point system, and in any event, at least it did not involve any explicit quotas or overt consideration of race. Because it was so ambiguous and subjective, the Law School process was almost impervious to outside review to see how significant racial considerations really were in various individual cases. The Law School claimed that all it was trying to do was to achieve a „critical mass“ of students from each under-represented group. 29 However, it admitted that minority admission 27 Gratz, 123 S.Ct. at 2430. The Court also found that the point system violated a federal civil rights statute. Ibid. 28 This possibility was pointed out by Justice Ginsburg, who argued that the openness of the point system was preferable to „achieving similar numbers through winks, nods and disguises.“ Gratz, 123 S.Ct. at 2446 (Ginsburg, J., dissenting). 29 „Critical mass“ was said to be that number of minority students from each group needed to ensure that they not feel isolated or become identified only as representatives of their group rather than as individuals, and to challenge all students to think critically and

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levels were carefully tracked on a daily basis; and it was never really able to explain why the number of students required to form a critical mass for each racial group seemed to reflect so closely that group’s share of the total number of applications to the Law School. In the view of the Grutter dissenters, the program was in reality just a soft quota system for the admission of black, Hispanic and Native American applicants – a subtle, inexact, somewhat flexible system, to be sure, but a quota system nevertheless. In the final analysis, there may not be much difference between the two programs. Of the nine Justices on the Court, only two found the differences between them to be constitutionally decisive. (Three Justices found both programs constitutional, and four found both unconstitutional.) Even those two had reservations. One, Justice Breyer, accepted only the result, not the majority reasoning, in striking down the undergraduate program in Gratz; 30 and while the other, Justice O’Connor accepted the result and even wrote the majority opinion upholding the Law School program in Grutter, she did not whole-heartedly condone it. She acknowledged that „there are serious problems of justice connected with the idea of preference itself,“ 31 and qualified her approval of the program in a very unusual way: „We expect that 25 years from now, the use of racial preferences will no longer be necessary to further the interest approved today.“ 32 The result of all this is that the two decisions, taken together, seem both to support and to limit preferential admissions. Schools which take pains to give individualized scrutiny to their applicants should be able to use some racial preference in order to achieve racial diversity in their classrooms, although perhaps not quite as openly as before Gratz, and not without committing extensive resources to the process. 33 Results may depend not only re-examine stereotypes. However, this number seemed to vary in direct relationship to the number of applicants from each group. For example, over a six-year-period, the Law School annually admitted about a hundred blacks, but fewer than 20 Indians. For Chief Justice Rehnquist and Justice Scalia, the critical mass rationale was a „sham.“ See Grutter, 123 S.Ct. at 2367 and 2348 (Rehnquist, C.J., and Scalia, J., dissenting). 30 Justice Breyer also stated that it is proper to „distinguish between policies of inclusion and exclusion for the former are more likely to prove consistent with the basic constitutional obligation that the law respect each individual equally.“ Gratz, 123 S.Ct. At 2434 (Breyer, J., concurring in the judgment). 31 Grutter, 123 S.Ct. at 2345, quoting J. Powell in Bakke, 438 U.S. at 298. Note also that she wrote the majority opinion in the Adarand case, supra, Note 15, striking down affirmative action in federal contracting, and she agreed that affirmative action went too far in the Gratz circumstances. 32 Grutter, 123 5. Ct. at 2347. The 25-year limitation drew criticism from other Justices, on one side because it might be too short a period of grace, and on the other, because it only confirmed the weakness of the reasons for sustaining the program now. 33 There are reports that Michigan’s undergraduate admissions costs have increased significantly because of the requirements of Gratz; and its minority applications are down 23 % from last year. See Wall St. J., Feb. 10, 2004 at A3.

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on how various admissions programs are structured, but also on how various state and lower federal courts interpret them. A judge unsympathetic to affirmative action might see a challenged program as more like the one in Gratz, while a sympathetic judge would see the same program as more like the one in Grutter. The Gratz-Grutter combination seems unlikely to erase Bakke’s 25-year legacy of uncertainty. This is not altogether surprising. The debate about affirmative action that underlies all the litigation remains robust, fueled by the undeniable reality that progress toward racial equality in education has been unexpectedly and painfully slow, and by the uncertainty caused by continuing demographic changes. The debate is enlivened by the importance of the policy arguments on both sides. On the one hand, affirmative action in higher education serves many positive goals. As noted earlier, the sort of classroom diversity it produces is beneficial for all concerned. Students are not only challenged to become racially and culturally tolerant; they are challenged intellectually as well, as they confront different perceptions of the world. This is invigorating for most and broadening for nearly all – precisely what education should be. Moreover, some of the benefits of affirmative action go well beyond the benefits of diversity in the classroom. It is clear that past de jure and continuing de facto discrimination against minorities have combined to place many obstacles in the path of their advancement. Academic affirmative action to help compensate for this is strongly supported by many Americans, 34 and, not surprisingly, by an overwhelming majority of minorities. It is difficult for minority legislators to support the expenditure of public funds on higher education if their constituents can rarely get in. 35 More broadly, if affirmative action is curtailed – after many years of promises of racial equality – minorities may be terribly disillusioned about the future, to their own detriment and to the peril of the larger society. It can even be argued that the pressures in favor of racial equality are so strong that if affirmative action is judicially precluded, schools (and even whole states) will resort to other, less straightforward devices to achieve the same results, including the abandonment of standardized aptitude and achievement tests in the admissions process – which might do more harm to both higher education and social mobility than overt affirmative action would.36 34 In Grutter, major corporations, like 3M and General Motors, representatives of the military, the Association of American Law Schools, the government of the United States, and many others filed amicus curiae briefs supporting affirmative action. See Grutter, 123 S.Ct. at 2340. 35 For the argument that the funding of elite institutions like the Michigan Law School involves a transfer of wealth from poor to rich people, see Pilon, Principle & Policy in Public University Admissions, 2002–2003 Cato Supreme Court Review 43, 47. 36 For example, undergraduate admission to state universities in the states of California, Florida and Texas, where affirmative action has officially been barred, is now automatic for

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Meanwhile, there need be little fear that affirmative action will ever become so extreme that it causes serious harm to non-minorities, because the nation’s political and educational systems are for the most part firmly under majority white control. No race is likely to disadvantage itself too much. On the other hand, the arguments against affirmative action are also powerful. Most basically, affirmative action cannot be reconciled with the conviction that race discrimination is inherently evil, which lies at the heart of the Court’s Equal Protection jurisprudence. If discrimination in favor of minorities is acceptable, the moral high ground is lost, making it difficult to persuade whites that discrimination in their own favor is intolerable. Moreover, whites, and even some minorities, could be led to the very damaging suspicion that, without affirmative action, protected minorities simply would be unable to compete with whites (and Asians). 37 Other implications of affirmative action also cause concern. If racial diversity in the classroom is so supremely important that achieving it can be called a compelling state interest, how can colleges that are nearly all black be justified? 38 Moreover, if „critical mass“ is given the meaning it was in Grutter, representation of every group should be roughly proportionate to its share of the national population. This would threaten not just historically black colleges, but also those minorities doing better than average scholastically (and economically) and accordingly now „over-represented“ in higher education. 39 A more generalized criticism of affirmative action is that it has the predictable effect of making people even more race conscious than they already

all state high school students who graduate with a good class rank (e.g., in the top 10 % in Texas). Because so many high schools are still racially segregated, this means that some minority students may qualify for college admission, even though their College Board test scores are well below the scores of rejected applicants from more competitive (and largely white) high schools. 37 This possibility is particularly galling to Justice Thomas, himself an African-American: „The majority of blacks are admitted to the Law School because of discrimination, and because of this policy, all are tarred as undeserving.“ Grutter, 123 S.Ct. at 2363 (Thomas, J., dissenting). 38 This point is also stressed by Justice Thomas, who notes that some studies suggest that black students develop better at black colleges than at integrated (that is, mostly white) ones. See Grutter, 123 S.Ct. at 2358 (Thomas, J., dissenting). 39 This issue is particularly acute for Asian-Americans, whose rate of participation in higher education is about five times their proportion of the population. Asian-Americans constitute nearly half of the students at the two leading University of California campuses at Berkeley and Los Angeles, although they represent only about 10 % of California’s (and 4 % of America’s) population. See Thernstrom and Thernstrom, supra, Note 12, Ch. 5. German-Americans are among the groups doing better than average economically. See Sowell, The Presuppositions of Affirmative Action, supra, Note 11.

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are. 40 The groups that do not benefit from quotas may resent the minorities that do; and those who benefit will have every incentive to see themselves in racial terms first and as Americans second. This cannot advance racial harmony in America. Nor can an erosion of merit selection in higher education advance economic prosperity or intellectual achievement. Finally, if classroom diversity in higher education is a compelling state interest, it is hard to see why it should be limited just to racial representation, 41 or just to admissions decisions. The logic of affirmative action extends as well to proportional enrollment in advanced classes and possibly also to adjustments in grading, and even to hiring decisions after graduation. 42 Carried too far, affirmative action would compromise basic notions of liberty, individual accountability and merit-based personal advancement. In sum, there are good reasons for the Supreme Court’s failure to come up with clear constitutional guidelines for schools and lower courts as they consider affirmative action programs. Race relations have a long and complex history in the United States. Certainly there are no easy answers to the problems now at hand. Gratz and Grutter are not likely to settle the matter.

40 With so many groups to chose from and so much intermarriage, it can become awkward and difficult to identify one’s own race in the United States. (There has been an ongoing dispute about whether the U.S. Census Bureau should list „mixed race“ as a racial category on census forms.). An embarrassing example of the sort of dispute that can arise is the suggestion by one faculty member at Michigan that Cuban-Americans should not count as Hispanics, because they are Republicans. See Grutter, 123 S.Ct. at 2373 (Kennedy, J., dissenting). 41 Arguments can be made on diversity grounds for proportional representation in higher education on the basis of sex. (Historically, women were badly under-represented. Increasingly, however, they outnumber men on college campuses – the ratio could go as high as 3.2 in coming decades. At the Michigan Law School, black women outnumbered black men 46 to 28. See Grutter, 123 S.Ct. At 2362 (Thomas, J., dissenting). Nationally, more women entered law school than men for the first time in 2001. ABA Journal, Jan., 2002, at 31.). Other groups with a potential claim include various religions, gays, poor people and even political groups – conservatives complain that they are grossly under-represented on many university faculties, where liberals may outnumber them by more than a ten-to-one ratio. See Leo, Lopsided Liberals Draw Sharp Line on Intellectual Diversity, Wis. State J., Feb 17, 2004 at A8. 42 One example is how to assess the qualifications required for membership on competitive student-run law reviews, a fixture at most United States law schools. See Grutter, 123 S.Ct. at 2362 (Thomas, J., dissenting). Justice Scalia expressed concern about the extension of affirmative action beyond the educational system into career employment, especially in the public sector. See Grutter, 123 S.Ct. at 2349 (Scalia, dissenting).

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Sozialwissenschaftlich belebte Rechtsanwendung Wolfgang Hoffmann- Riem

Inhaltsübersicht Seite

I. Veränderte Sichtweisen auf das Recht und die Rechtsanwendung II. Ebenen der Einbeziehung außerrechtlicher Faktoren in die Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problem(lösungs)bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Normprogrammbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsstoffbereich i.e.S. . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Realbereich der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Folgeneröffnungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Optionenwahlbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Entscheidungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Folgenbewirkungsbereich, insbesondere Vollzugsbereich . . 5. Kontrollbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Lernbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Veränderte Sichtweisen auf das Recht und die Rechtsanwendung In seiner programmatischen Antrittsvorlesung im Jahre 1970 in Hamburg identifiziert Thomas Raiser drei Richtungen, in denen Soziologie und Recht einander befruchten könnten: 1 (1) Die Erforschung von rechtlich relevanten sozialen Tatbeständen mit den Mitteln empirischer Sozialforschung (2) Die Aufdeckung allgemeiner Strukturen und Gesetzmäßigkeiten des sozialen Lebens, die auch dem Recht vorgegeben sind (3) Die ideologie- und dogmenkritische Sicht auf rechtliche Regeln und deren Konfrontation mit den sozialen Veränderungen, insbesondere der Ablösung vom Gesellschaftsbild des 19. Jahrhunderts. Seit diesen Anregungen für ein Forschungsprogramm 2 hat es zwar keinen Siegeszug der Anhänger einer sozialwissenschaftlich reflektierten RechtsRaiser JZ 1970, 665 ff. Als aktuelle Bestandsaufnahme s. Dreier (Hrsg.), Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts, 2000. 1 2

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wissenschaft in den juristischen Fakultäten und in der Rechtspraxis gegeben, wohl aber doch eine bemerkenswerte Veränderung der Sichtweise fast aller Rechtswissenschaftler und -praktiker auf das Recht. Sie geht einher mit einer „Versozialwissenschaftlichung“ des professionellen Denkens und Handelns, die auch anderswo, ja sogar in der Alltagssprache, beobachtbar ist. Auch die Sprache der Rechtswissenschaft sowie des Gesetzgebers hat sich verändert – etwa im Umweltrecht, im Telekommunikationsrecht oder auch im Gesellschaftsrecht. Da Sprache Denkweisen aufdeckt und vermittelt, deutet das Vordringen sozialwissenschaftlich geprägter Begriffe auch auf einen Wandel in der Rechtswissenschaft. Parallel dazu ist für viele Juristen eine Sichtweise prägend geworden, die Anfang des vorigen Jahrhunderts schon der nordamerikanischen Sociological Jurisprudence und dem Legal Realism3 ebenso zu Grunde gelegen hatte wie der deutschen Freirechtsschule und der Interessenjurisprudenz: Das „lebende Recht“ als das praktisch geltende, anerkannte Recht – den von Eugen Ehrlich4 geprägten Begriff des lebenden Rechts nimmt auch Raiser zum Leitbegriff seiner rechtssoziologischen Arbeiten5 – ist (anders formuliert) ein gesellschaftliches Konstrukt, dessen Rahmen und Orientierung zwar das geschriebene Recht vorgibt, dessen konkrete Ausgestaltung aber Produkt eines Prozesses sozialer Wirklichkeitskonstruktion ist,6 an dem Laien und Professionals mitwirken. Die Anerkennung des in der jeweiligen Situation zur Anwendung geratenden Rechts als gesellschaftliches Konstrukt geht einher mit einer Relativierung dessen, was normative Richtigkeit bedeutet. So ist heute in der Diskussion um die Methoden der Rechtswissenschaft – also um die Methoden zur Auslegung und Anwendung von Rechtsnormen – herrschende Meinung, dass die Vorstellung von einer (nur) einzigartigen (einer einzig möglichen) Richtigkeit der Auslegung von Rechtsbegriffen und Normen zu verabschieden ist.7 Dies öffnet zugleich den Weg für die Legitimation von Rechtsschöpfung und Rechtsfortbildung im Richterrecht.8 Auch in der 3 S. dazu statt vieler M. Weiß, Die Theorie der richterlichen Entscheidungstätigkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1971. 4 Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts (1913), 4. Aufl. 1989, S. 409 ff. 5 Raiser, Das lebende Recht. Rechtssoziologie in Deutschland, 3. Aufl. 1999. 6 Zum Konstruktivismus allgemein s. Watzlawick, Wie wirklich ist die Wirklichkeit?, 17. Aufl. 2001, S. J. Schmidt, Kognition und Gesellschaft, 1992; Pörksen, Abschied vom Absoluten. Gespräche zum Konstruktivismus, 2001. Zur Rezeption in der Rechtswissenschaft vgl. Scherzberg, Die Öffentlichkeit der Verwaltung, 2000, S. 28 ff.; Lepsius, Besitz und Sachherrschaft im öffentlichen Recht, 2002, S. 174 ff. 7 Aus der allgemeinen Methodendiskussion dazu s. etwa Gröschner, Dialogik und Jurisprudenz, 1982, 197 ff.; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 3. Aufl. 1996, S. 433 f.; Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999; Cremer, Anwendungsorientierte Verfassungsauslegung, 2000, S. 287 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, Grundlagen öffentliches Recht, 8. Aufl. 2002. 8 Dazu Raiser ZRP 1985, 111 ff.

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Welt des Rechts gibt es keine absoluten Wahrheiten – keine unumstößlichen normativen Gewissheiten –, wohl aber eine „relative Richtigkeit“. Die unbestreitbare Kontingenz vieler Rechtsbegriffe und Normen bedeutet nicht Beliebigkeit der Auslegung und Normanwendung. Die Rechtsordnung begrenzt den rechtlichen Möglichkeitsraum, so nicht nur durch die materiellen Maßstäbe der Normen, sondern auch durch die Verfahrensregeln, die Orientierungskraft von Ordnungsmodellen und Präjudizien, die anerkannten Methoden juristischer Begründungen, aber auch durch die institutionellen Vorkehrungen für professionelle Rechtsarbeit, etwa durch Vorgaben für die Verwaltungs- und Gerichtsorganisation und das anzuwendende Verfahren. Die Einsicht in die Vielfalt der die Normauslegung und Rechtsanwendung „steuernden“ Faktoren 9 weitet für eine im konstruktivistischen Denken fundierte Theorie der Rechtswissenschaft den Blick. Eine solche, etwa gegenüber dem juristischen „Positivismus“ deutlich veränderte, Ausgangsposition erlaubt insbesondere einen neuen Zugang zur Analyse des Prozesses der Rechtsauslegung und -anwendung. Dies gilt beispielsweise für Analysen zum Umgang mit Generalklauseln, einem lange bei sozialwissenschaftlich reflektiert vorgehenden Rechtswissenschaftlern beliebtem Forschungsgegenstand.10 Der Siegeszug des Labelling Approach in der Kriminologie 11 – als weiteres Beispiel – baut auf einer solchen konstruktivistischen Sicht auf, die insbesondere die selektive Wahrnehmung sozialen Geschehens durch die Instanzen sozialer Kontrolle aufdeckte 12 – insoweit also vorrangig die Konstituierung des Sachverhalts betraf. Die Richtersoziologie 13 oder allgemeiner die Rechtsstabfor9 Instruktiv speziell für richterliches Handeln Rottleuthner, Richterliches Handeln. Zur Kritik der juristischen Dogmatik, 1973. 10 S. etwa Limbach, Die Feststellung von Handelsbräuchen, Berliner Festschrift für Ernst Hirsch, S. 77 ff.; Teubner, Standards und Direktiven in den Generalklauseln, 1971; Hassemer/ Hoffmann-Riem/Weiss (Hrsg.), Generalklauseln als Gegenstand der Sozialwissenschaften, 1978. 11 Allgemein zu diesem Ansatz s. etwa Sack, Definition von Kriminalität als politisches Handeln, Kriminologisches Journal 1972, 3 ff.; Kaiser, Kriminologie, 10. Aufl. 1997, S. 97 ff. m.w.N.; starke Aufmerksamkeit fordern auch jenseits des Strafrechts die polizeisoziologischen Untersuchungen. Besonders einflussreich waren Feest/Lautmann (Hrsg.), Die Polizei, 1971; Brusten/Feest/Lautmann (Hrsg.), Die Polizei. Eine Institution öffentlicher Gewalt, 1975. 12 Allgemein zum Verhältnis von Rechtssoziologie und Kriminologie s. Bora/Liebl (Hrsg.), Theoretische Perspektiven rechtssoziologischer und kriminologischer Forschung, 1994; Bussmann, Die Entdeckung der Informalität. Über Aushandlungen im Strafprozess und ihre juristische Konstruktion, 1991; Ludwig-Mayerhofer, Das Strafrecht und seine administrative Rationalisierung, Kritik der informalen Justiz, 1998; Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention. Studien zu einer Theorie der gesellschaftlichen Funktion des Strafrechts, 1998. 13 Vgl. dazu Zwingmann, Zur Soziologie des Richters in der Bundesrepublik Deutschland, 1966; Richter, Zur soziologischen Struktur der deutschen Richterschaft, 1968; Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung, 1969; Weyrauch, Zum Gesellschaftsbild des Juristen, 1970; Kaupen/Rasehorn, Die Justiz zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie, 1971; Klausa, Ehrenamtliche Richter, 1972; Görlitz, Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland, 1975;

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schung 14 bezog aber auch verstärkt die Arbeit mit der Norm – ihre Auslegung und Anwendung – ein. Die von Luhmann auf den Begriff gebrachte Unterscheidung zwischen der Herstellung und der Darstellung einer Entscheidung 15 und deren Rezeption in der Rechtswissenschaft verdeutlichten, dass auf den Prozess des Findens einer Entscheidung zum Teil andere Faktoren einwirken (können/dürfen), als in der Präsentation des Ergebnisses in Form der Begründung der Entscheidung 16 aufgeführt werden (müssen). Diese hier nur mit einzelnen Farbtupfern gekennzeichneten Veränderungen der Sichtweise betreffen die professionelle Arbeit mit dem Recht selbst, nicht (nur) die ebenfalls wichtige Sicht auf das Recht, etwa aus soziologischer Perspektive. Die Etablierung einer besonderen Rechtssoziologie in den juristischen Fakultäten, in der rechtswissenschaftlichen Literatur sowie in der Ausbildung 17 war erheblich weniger erfolgreich 18 als die „Infiltration“ sozialwissenschaftlichen Denkens in die professionelle Arbeit des Gesetzgebers, der Rechtsanwender und der theoretisch arbeitenden Rechtswissenschaftler. Wird eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren als bedeutsam für die professionelle Arbeit mit dem Recht identifiziert, dann wird es erforderlich, die Methoden der Rechtswissenschaft entsprechend auszurichten, gegebenenfalls „umzurüsten“. Die an der Arbeit mit der Norm orientierte, insbesondere durch die Hermeneutik beeinflusste, traditionelle Methodik der Rechtswissenschaft 19 wird dadurch nicht obsolet – auch Hermeneutik beruht im Übrigen auf einer konstruktivistischen Sicht –, sie bedarf aber der Rottleuthner, Soziale Merkmale, Einstellungen und Verhaltensweisen von Arbeitsrichtern, in: ders., Rechtssoziologische Studien zur Arbeitsgerichtsbarkeit, 1984, 291 ff.; Kauffmann, Zur Konstruktion des Richterberufs durch Richterleitbilder, 2003. 14 S. die Nachweise in Fn. 83 bis 86. S. auch Bryde Juristensoziologie, in: Dreier (Fn. 2), S. 137 ff. 15 Luhmann, Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, 1966, S. 50 ff.; s. ferner Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 115 ff.; Bora, Ökologie der Kontrolle, in: ders. (Hrsg.), Rechtliches Risikomanagement, 1999, S. 9 ff. Zur Auseinandersetzung mit der Differenz zwischen Herstellung und Darstellung einer Entscheidung s. Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 9, 20 ff.; Trute, Methodik der Herstellung und Darstellung verwaltungsrechtlicher Entscheidungen, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Fn. 15), S. 293 ff. 16 Dazu s. Koch/Rüßmann (Fn. 15); Alexy/Koch/Kuhlen/Rüßmann, Elemente einer juristischen Begründungslehre, 2003; Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001. 17 Zum aktuellen Stand s. Heitzmann, Lehre der Rechtssoziologie an deutschen Hochschulen, ZfRsoz 2003, 249 ff. S. auch Raiser, Rechtssoziologie als Grundlagenfach in der Juristenausbildung, in: Dreier (Fn. 2), S. 323 ff. 18 Dazu s. Röhl, Zur Bedeutung der Rechtssoziologie für das Zivilrecht, in: Dreier (Fn. 2), S. 39 ff. 19 Prototypisch etwa Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999.

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Ergänzung um weitere Anleitungen für „richtiges“ Vorgehen, insbesondere für Suchregeln, die auf dem Weg zur Konstruktion dessen hilfreich sind, was im konkreten Entscheidungsfall zum lebenden Recht wird.

II. Ebenen der Einbeziehung außerrechtlicher Faktoren in die Rechtsanwendung Im Sinne einer Vorarbeit für eine solche erweiterte Methodik der Rechtswissenschaft und insbesondere der Rechtsanwendung habe ich mich seit längerem bemüht, die Bereiche und Ebenen zu identifizieren, auf denen die Ergebnisse der professionellen Arbeit mit dem Recht beeinflusst werden. 20 Solche Ebenen bzw. das Handeln auf ihnen können daraufhin besehen werden, wie weit hier auch außerrechtliche Faktoren bedeutsam werden (dürfen). Im Folgenden benenne ich die nach meiner Einschätzung besonders wichtigen Bereiche unter Rückgriff auf den gegenwärtigen Stand meiner Bemühungen21 und illustriere die Darstellung mit Beispielen für Verknüpfungsmöglichkeiten mit sozialwissenschaftlicher Forschung, allerdings mit einer Verengung. Mein Blick konzentriert sich auf die für Rechtssoziologie typischen Forschungsgegenstände 22 und dort auf die deutschsprachige Forschung. 23 Ich beziehe also nicht alles ein, was eine sozialwissenschaftliche Erfassung von Realität im Rechtsanwendungsprozess in den Blick nehmen könnte und was schlagwortartig als „Sozialwissenschaften im Recht“ klassifiziert werden könnte. Vielmehr fokussiere ich die Sicht auf sozialwissenschaftliche Untersuchungen über den Umgang mit Recht im Bereich der 20 Hoffmann-Riem, Rechtswissenschaft als Rechtsanwendungswissenschaft. Lernzielthesen zur Integration von Rechts- und Sozialwissenschaft, in: ders. (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd. II : Verfassungs- und Verwaltungsrecht, 1977, S. 1, 5 ff; ders., Sozialwissenschaftlich orientierte Rechtsanwendung in öffentlich-rechtlichen Übungsund Prüfungsarbeiten. Vorüberlegungen und praktische Hinweise, in: Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwissenschaften im öffentlichen Recht. Fälle und Lösungen in Ausbildung und Prüfung, 1981, S. 3, 12 ff. 21 Hoffmann-Riem (Fn. 15), S. 31 ff. Auf diese Ausarbeitung greifen die folgenden Ausführungen als Ausgangspunkt (zum Teil wörtlich) zurück. 22 Insofern verweise ich allgemein und ohne später immer wieder erfolgenden Einzelbezug auf neuere Lehrbücher und Grundrisse der Rechtssoziologie: Röhl Rechtssoziologie, 1987; Luhmann Rechtssoziologie, 3. Aufl. 1987; Rottleuthner, Einführung in die Rechtssoziologie, 1987; Raiser (Fn. 5); Rehbinder Rechtssoziologie, 3. Aufl. 1993; Rotter/Dux/ Lautmann (Hrsg.), Rechtssoziologisches Examinatorium, 1980. Aus der älteren Literatur insbesondere Ehrlich (Fn. 4); Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 4. Aufl. 1987; M. Weber Rechtssoziologie, 3. Aufl. 1973; Luhmann Rechtssoziologie, Bd. 1 und 2, 1972; Hirsch/Rehbinder (Hrsg.) Rechtssoziologie. Sonderheft 11 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (2. Aufl. 1971). 23 Der Blick auf sie zeigt einen gewissen „Boom“ solcher Forschung in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts.

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Rechtsanwendung. Auch blende ich sozialwissenschaftliche Theorien aus, die das Recht und das Rechtssystem in den Kontext umfassender Theorien von Gesellschaft ordnen, 24 wie die Systemtheorie. 25 Vornehmlich sehe ich auf die Beteiligung professioneller Rechtsanwender am Vorgang der rechtsgeprägten Konfliktbewältigung, nur sehr begrenzt auch auf den Umgang mit Recht im täglichen Leben der Bürger untereinander. Ich möchte illustrieren, dass es sich für die auf den konkreten Prozess der Rechtsanwendung bezogene Rechtswissenschaft lohnt, rechtssoziologisch orientierte Forschung zur Kenntnis zu nehmen und als Impulsgeber für die rechtswissenschaftliche Arbeit zu nutzen. Mir geht es also um Vorklärungen für den Brückenschlag zwischen Rechtsdogmatik, Rechtsanwendung und darauf bezogener sozialwissenschaftlicher Forschung. Eine klare Abgrenzung der verschiedenen Felder – insbesondere: Einsatz von Sozialwissenschaften im Recht; sozialwissenschaftlich informierter und reflektierter Blick auf das Recht – ist allerdings nur begrenzt möglich und sinnvoll.26 Insofern geht es mir auch nicht um Abgrenzungsfragen oder die Befolgung eines Reinheitsgebots bei der Zuordnung, sondern um eine perspektivische Schwerpunktsetzung. Ohne eine Eingrenzung müsste ich praktisch die gesamte Palette anwendungsorientierter Sozialwissenschaft benennen: Denn so wie das Recht praktisch in alle Bereiche des Lebens hineinwirkt, so können grundsätzlich alle auf die Realität sozialen Lebens bezogenen wissenschaftlichen Befunde für die Arbeit mit dem Recht bedeutsam werden. 1. Problem(lösungs)bereich Rechtsanwendung als ein Akt sozialer Gestaltung in einem (auch) rechtsnormativ geprägten Rahmen nimmt als Ausgangspunkt ein lösungsbedürftiges Problem. Gemeint ist eine meist konflikthafte Lage27 (sozialer, politischer, wirtschaftlicher u. ä. Art), die einer „Lösung“ in Form einer rechtsgeprägten Entscheidung zugeführt werden soll. 28 Gibt es z. B. einen 24 S. etwa Habermas, Faktizität und Geltung, 1992; Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, 1992. 25 S. etwa Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993; Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989. 26 Übergreifend kann der Begriff „sozialwissenschaftliche Rechtsforschung“ benutzt werden (zu ihm vgl. Call-for-Paper ZfRsoz 2002, 309 f.), der allerdings noch mehr erfasst als hier angestrebt ist. 27 Zur Konfliktforschung s. Brinkmann, Konfliktpraxis und Rechtspraxis, 1975. Vgl. auch Northoff, Rechtspsychologie. Anwendungsorientierte Grundlagen der Arbeits- und Konfliktbewältigung für Rechtswesen, Sozialwesen, Polizeiwesen, 1996. 28 Daneben gibt es selbstverständlich nichtrechtliche Formen der Konfliktbewältigung. Als Überblick dazu s. Raiser (Fn. 5), S. 275 ff., 282 ff.; Röhl (Fn. 22), S. 470 ff. sowie unten Fn. 33.

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Konflikt um einen Arbeitnehmer im Betrieb – häufiges Erkranken, Streit mit dem Kollegen, Nichtbefolgung von Anweisungen der Vorgesetzten –, so steht ein relativ reichhaltiges Arsenal von Möglichkeiten der Konfliktbewältigung zur Verfügung, von dem persönlichen Gespräch über die Einschaltung des Betriebsrats hin zur Versetzung in eine andere Abteilung oder zum Angebot freiwilligen Ausscheidens mit Abfindung oder aber eine Kündigung. Jede dieser Möglichkeiten ist auf unterschiedliche – und unterschiedlich intensive – Weise rechtlich „begleitet“. Welche letztlich gewählt wird, ist den Beteiligten häufig nicht sogleich klar. Vielfach werden sie auch gar nicht hinreichend über rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten informiert sein oder die Informationen nur schwer handlungskompetent nutzen können. 29 Der rechtliche Möglichkeitsraum der Problemlösung ist den Beteiligten jedenfalls nicht stets von Anfang an bewusst, kann aber in einem späteren Stadium in den Blick geraten, etwa nach professioneller Beratung. 30 Die Optionen für die Problemlösung sind auch professionellen Akteuren häufig noch nicht von vornherein klar. Später mögen sie sich auf eine Option verengen, z. B. den Ausspruch der Kündigung und die anschließende Klage vor dem Arbeitsgericht. Solange der Bereich möglicher Optionen sich noch nicht auf eine verengt hat, ist die Suche und Auswahl der anzuwendenden Norm Teil einer Problemlösung. Von dem angestrebten Lösungsweg und damit den dafür maßgeblichen Normen hängt auch ab, welches der rechtlich erhebliche „Sachverhalt“ 31 ist. Die Ermittlung dieses Sachverhalts ist ebenfalls ein Akt der Konstruktion einer für die konkrete Normanwendung erheblichen sozialen Wirklichkeit, die die Auswahl, Ordnung und Interpretation von Faktenannahmen erfasst. 32 Vorangehen muss aber die Klärung, welche Norm zur Problemlösung herangezogen werden soll, denn für je unterschiedliche Normen können je unterschiedliche Sachverhalte (Realitätsausschnitte) bedeutsam sein. Der für die jeweilige Norm maßgebliche Sachverhalt ist häufig enger als das zu lösende soziale Problem.

29 Insofern sind Einsichten der sog. Knowledge of Law ( KOL )-Forschung bedeutsam, dazu s. Raiser (Fn. 5), S. 345 ff.; Röhl (Fn. 22), S. 259 ff., 269 ff. Bedeutsam können auch Untersuchungen zum Rechtsbewusstsein sein, s. dazu etwa die Beiträge in Bryde/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Rechtsproduktion und Rechtsbewusstsein, 1988; Lampe (Hrsg.), Zur Entwicklung von Rechtsbewusstsein, 1997. 30 Zur Frage, welche Faktoren eine Rolle spielen, damit ein Bedürfnis nach einer rechtlichen Lösung erkannt wird, s. etwa Blankenburg, Mobilisierung von Recht, Zeitschrift für Rechtssoziologie 1 (1980), 3 ff.; Curran, The Legal Needs of the Public, 1977. Zu Zugangsbarrieren vgl. Baumgärtel, Gleicher Zugang zum Recht für alle, 1976; Cappelletti (ed.), Access to Justice, 4 Bände 1978/79. 31 Zu ihm s. statt vieler Larenz/Canaris (Fn. 19), S. 99 ff. 32 Es gibt auch Vorgänge eines „Aushandelns der Realität“, vgl. etwa K. F. Schumann, Der Handel mit Gerechtigkeit, 1977, 55 ff. S. auch die Nachweise oben Fn. 12.

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Solange allerdings noch nicht geklärt ist, welche Norm zur Problembewältigung herangezogen werden soll, gibt es meist Optionen für die Wahrnehmung und Selektion des lösungsbedürftigen Problems. Häufig lohnt es sich auch, unter Vergleich mehrerer Normkomplexe nach demjenigen zu suchen, dessen Anwendung am ehesten die vom individuellen Akteur oder allen Konfliktbeteiligten angestrebte (etwa als „interessengerecht“ empfundene) Problemlösung ermöglicht. Das Ausgangsproblem kann häufig so zugerichtet und zugeschnitten werden, dass möglichst „günstige“ Normen anwendbar sind und das Risiko vermieden wird, auch noch andere heranziehen zu müssen. Der Blick in die Normenordnung kann sogar dazu führen, von einer bestimmten Problemlösung ganz abzusehen, weil sie viele neue Probleme schafft, oder andere auch lösungsbedürftige Probleme mit einzubeziehen, um einen Gesamtinteressenausgleich zu ermöglichen. Dass die Rechtsordnung ein Arsenal unterschiedlicher Optionen bereithält, ist beispielsweise der Ausgangspunkt solcher rechtssoziologischer Forschungen, die sich mit „Alternativen zur Justiz“ befassen. 33 Gemeint ist damit weniger die Suche nach unterschiedlichen Anknüpfungspunkten zur Lösung eines Problems – etwa die Wahl zwischen Rücktritt und Schadensersatz – und zur Anrufung eines Gerichts, sondern die Suche nach „alternativen“ Problemlösungsprozessen ohne Beteiligung der Gerichte. Der Blick richtet sich insofern etwa auf Streitverhütung durch Anwälte, 34 auf außergerichtliche Schiedsverfahren, auf die Vereins- und Verbandsgerichtsbarkeit, auf Betriebsjustiz u. ä. 35 oder die Einschaltung der Öffentlichkeit. Gegenwärtig findet die sog. Mediation36 besondere Aufmerksamkeit, bei der ein neutraler Konfliktmittler eingeschaltet wird, um eine möglichst einverständliche Problemlösung zu erreichen. Die Mediation zeigt besonders deutlich, 33 Dazu vgl. Blankenburg/Klausa/Rottleuthner (Hrsg.), Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. VI , 1980; Blankenburg/Gottwald/Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz, 1982; Morasch, Schieds- und Schlichtungsstellen in der Bundesrepublik, 1984; Gottwald, Streitbeilegung ohne Urteil, 1981. Vgl. ferner den Überblick bei Röhl (Fn. 22), S. 509 ff. 34 Wasilewski, Streitverhütung durch Rechtsanwälte, 1990. Zu der gegenwärtig in den USA beobachtbaren Bewegung zu einer „representation without litigation“ gibt es gegenwärtig in Deutschland noch keine Parallele. Gemeint sind einverständliche Konfliktlösungen unter Beteiligung der Anwälte in einem auf Konsens ausgerichteten Verfahren, das die Option der Einschaltung des Gerichts in die Konfliktlösung ausschaltet. 35 Vgl. Gottwald/Strempel (Hrsg.), Streitschlichtung, 1995; Eidmann, Zur Logik außergerichtlicher Konfliktregelung, 1994; Nautz/Brix/Luf (Hrsg.), Das Rechtssystem zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Zur Rolle gesellschaftlicher Selbstregulierung und vorstaatlicher Schlichtung, 2001. 36 Breidenbach Mediation, 1995; Bannenberg/Weitekamp/Rössner/Kerner, Mediation bei Gewaltstraftaten in Paarbeziehungen, 1999. Für das öffentliche Recht s. Hoffmann-Riem, Konfliktmittler in Verwaltungsverhandlungen, 1989; Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Konfliktbewältigung durch Verhandlungen, Bd. 1 und 2, 1990; Holznagel, Konfliktlösung durch Verhandlungen, 1990.

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dass es zur interessengerechten Problemlösung sinnvoll sein kann, den in gerichtlichen Verfahren eng definierten „Streitgegenstand“ auszuweiten und einen gegebenenfalls auch andere Konflikte oder Konfliktebenen einbeziehenden „Problemlösungsgegenstand“ zu wählen. 37 Es leuchtet ein, dass der für die Problemlösung dann maßgebende Ausschnitt tatsächlichen Geschehens ein anderer sein wird als ein für die gerichtliche Subsumtion aufbereiteter „Sachverhalt“. Die Bereitstellung von Alternativen gerichtlicher Konfliktbewältigung hat aber auch Rückwirkungen auf die Arbeit in den Gerichten selbst gehabt. Zwar gibt es schon seit jeher die Möglichkeit gerichtlicher Vergleiche 38 und damit konsentierter Problemlösungen. In der Konkurrenz mit „Alternativen zur Justiz“ sind aber auch die Prozessordnungen geändert worden, so durch obligatorisch 39 oder fakultativ der gerichtlichen Klärung vorgeschaltete Einigungsverfahren. 2. Normprogrammbereich Die im Kontext des lösungsbedürftigen Problems entscheidungserhebliche Rechtsnorm muss im Rechtsanwendungsakt gesucht und gefunden und im Hinblick auf die anstehende Entscheidung so konkretisiert (konstruiert) werden, dass sie auf den konkreten Sachverhalt beziehbar und zur Problemlösung einsetzbar ist. Dies geschieht aus der konkreten Entscheidungssituation heraus. Von maßstabsetzender und zugleich begrenzender Bedeutung ist das verfügbare rechtliche Problemlösungsprogramm, soweit die Problemlösung mit Hilfe des Rechts gesucht wird. Der Erfassung der rechtlichen Vorgaben gilt der Normprogrammbereich. Er lässt sich in weitere Teilbereiche untergliedern, so den Rechtsstoffbereich i.e.S. (1), einen auf die Norm bezogenen Realbereich (2), den Folgeneröffnungsbereich (3), aber auch den Optionenwahlbereich (4). a) Rechtsstoffbereich i.e.S. Durch die im Normtext verwendeten Begriffe wird der Gehalt der Norm symbolisiert, der regelmäßig erst durch Rückgriff auf besondere Techniken der Normkonkretisierung ermittelt werden kann. Der Normtext ist das hervorragende (wenn auch nicht einzige) Mittel, mit dessen Hilfe der demokratische Gesetzgeber das Verhalten der Rechtsanwender steuert und legiti37 Vgl. Hoffmann-Riem, Mediation als moderner Weg zur Konfliktbewältigung, in: Brand/Strempel (Hrsg.), Soziologie des Rechts, 1998, S. 649, 651 f., 655 f. 38 Dazu s. Gottwald/Hutmacher/Röhl/Strempel, Der Prozessvergleich, 1983. 39 Zu den Erfahrungen damit vgl. Weiß, Erste Zahlen zur obligatorischen Streitschlichtung, in: Machura/Ulbrich (Hrsg.), Recht – Gesellschaft – Kommunikation, FS Röhl 2003, S. 287 f.

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miert – also die politische Verantwortung für Steuerung übernimmt – und zugleich begrenzt. Die Rechtfertigung der Entscheidung an dem Normtext ist ein unabdingbares Element des demokratischen Rechtsstaats. Allerdings wählt der Gesetzgeber „Abkürzungen“; er regelt nicht stets alles neu, sondern verweist über den Text vielfach auf weitere Faktoren der Rechtsanwendung. Dazu gehören die zur Erschließung des Normtextes beitragenden und damit seine Einbettung in das Normprogramm ermöglichenden empirischen und normativen Prämissen. Zu nennen sind etwa entstehungs- und entwicklungsgeschichtlich aufklärbare Annahmen über die Realität oder das normative Konzept der Problemlösung, teleologisch-systematische Einbindungen, zur Rechtsdogmatik sedimentierte Argumentationsmuster, aber auch normübergreifende philosophische, gesellschafts- und rechtstheoretische Konzepte (z. B. das liberale Gesellschaftsmodell) und kollektive Ideale (Gerechtigkeit) sowie Symbole. Von Bedeutung können ferner Ordnungsbegriffe, Leitgedanken und Strukturprinzipien sein, vor deren Hintergrund die Normen entwickelt worden sind und ihre aktuelle Wirkung entfalten sollen. Diese Faktoren sind gegebenenfalls im Wechselspiel mit dem Normtext zu erarbeiten. Dabei müssen u. a. der Bedeutungsgehalt und die Verwendungsregeln der Begriffe analysiert, einschlägige rechtsdogmatische Konstruktionen und methodische Figuren erfasst und vorliegende Präjudizien verarbeitet werden usw. Schon diese Andeutungen lassen erkennen, dass die von Raiser betonte ideologie- und dogmenkritische Sicht auf rechtliche Regeln und deren Konfrontation mit sozialen Veränderungen 40 folgenreich werden können. Aus dem traditionellen Feld rechtssoziologischer Forschung kommen insbesondere Untersuchungen über das Verhältnis zwischen Rechtsnormen und sozialen Normen, 41 aber auch nach den Entstehungsbedingungen und Verfallserscheinungen von Recht und dem Verhältnis zwischen Recht und sozialem Wandel in den Blick. 42 Bedeutsam sind auch sozialwissenschaftlich aufgeklärte Theorien, die die Entwicklung des Rechts nachzeichnen und erklären wollen. Beispielhaft seien die Untersuchungen benannt, die etwa die Entwicklung des Rechts im Wechsel vom Statusrecht und Kontraktrecht nachzeichnen wollen 43 oder die sich um den Aufweis von Bestimmungs-

Raiser JZ 1970, 665. S. auch Maihofer (Hrsg.), Ideologie und Recht, 1969. S. den Überblick bei Raiser (Fn. 5), S. 190 ff. 42 Dazu s. Friedmann, Recht und sozialer Wandel, 1969; Heldrich, Höchstrichterliche Rechtsprechung als Triebfeder sozialen Wandels, Jahrbuch für Rechtssoziologie, Bd. 3 (1972), S. 305 ff.; Winter, Sozialer Wandel durch Rechtsnormen, 1969. Zum Sonderfall des Verfassungswandels vgl. Bryde Verfassungsentwicklung, 1982; Blankennagel, Tradition und Verfassung, 1987. 43 Diese Forschung knüpft an eine ältere Untersuchung von H. S. Maine an. Zur aktuellen Diskussion s. Rehbinder (Fn. 22), S. 95 ff., 104 ff. 40 41

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gründen für den Prozess der Verrechtlichung 44 bemühen. In diesen Kontext gehört auch die sog. KOL-Forschung. Gemeint sind Untersuchungen, die sich mit den Rechtskenntnissen der von der Norm Betroffenen, insbesondere der Bevölkerung, auseinander setzen. 45 Die erwähnten rechtssoziologischen Forschungen verfolgen ein anderes Erkennungsinteresse als Bemühungen um die Entwicklung der auf den Rechtsstoffbereich i.e.S. bezogenen traditionellen Methoden der Rechtswissenschaft. Mit ihnen ist die Gesamtheit der normativ legitimierten Suchund Stoppregeln, insbesondere der argumentativen Kunstregeln im Umgang mit Normtexten gemeint, wie z. B. die grammatikalische, historische, systematische, teleologische Auslegung, die Analogie, die verfassungskonforme Auslegung, die Rechtsfortbildung u. ä. Aber auch entsprechende Bemühungen lassen Verknüpfungspunkte zu den erwähnten rechtssoziologischen Forschungsansätzen erkennen. So greifen insbesondere die historische und die teleologische Auslegung häufig auf gesellschaftspolitische Konzepte rechtlicher Steuerung zurück und müssen sich mit deren Wandel im Laufe der Normentwicklung auseinander setzen. b) Realbereich der Norm Das sprachlich vermittelte normative Regelungsprogramm ist auf ein bestimmtes Feld der Realität bezogen, in dem typischerweise Konflikte entstehen, wie sie die jeweilige Norm zu bewältigen sucht. Dieser spezifische Ausschnitt sozialer, politischer, ökonomischer, kultureller, technologischer oder ökologischer Wirklichkeit, der von dem normativen Programm erfasst wird, ist in seinen Grundstrukturen Bezugspunkt und zugleich konstitutiver Bestandteil der Rechtsnorm. 46 Er ist von den Rechtsanwendern ebenso wie der Rechtsstoff i.e.S. heranzuziehen, also für den Entscheidungskontext zu rekonstruieren. Die entsprechenden Realdaten müssen erfasst (konkretisiert) und in Sprache gegossen werden, damit sie in normativen Kontexten verarbeitbar sind. Der entsprechende normerhebliche Ausschnitt sozialer Realität – er wird hier „Realbereich der Norm“ genannt, Friedrich Müller nennt ihn den „Normbereich“ 47 – war schon immer ein wichtiger Bestandteil der Rechtsanwendungsarbeit. Seiner Erheblichkeit steht nicht entgegen, dass aus dem Sein kein Sollen folgt. Die vom Gesetzgeber legitimierte Sollensnorm ist selbst als Transformator zur Einbeziehung von empirischer Realität in das Normprogramm konzipiert worden. Ohne die 44 Dazu s. die Darstellung bei Raiser (Fn. 22), S. 300 ff. sowie Voigt (Hrsg.), Verrechtlichung, 1980; Zacher/Simitis/Kübler/Hopt/Teubner, Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, 1984; Holtschneider, Normenflut und Rechtsversagen, 1991. 45 S.o. Fn. 29. 46 Vgl. dazu Müller/Christensen (Fn. 7). 47 Vgl. dazu Müller/Christensen (Fn. 7) Rn. 15 ff., 232, 281.

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Erfassung von Realannahmen lässt es sich regelhaft weder verstehen noch zu der vom Gesetzgeber beabsichtigten Problemlösung einsetzen. Der konkret lösungsbedürftige Sachverhalt (s. o. 1.) ist Teil des Realbereichs der Norm, aber nicht mit ihm deckungsgleich. Die Erfassung des Realbereichs ermöglicht die Prüfung, auf welche Problemlagen die Norm anwendbar sein soll und wie die Wirkungsweise der normgeleiteten Problemlösung vorstellbar ist. Der konkrete Sachverhalt des zu lösenden Problems betrifft demgegenüber – wie schon erwähnt – regelhaft nur einen kleinen Ausschnitt der von der Norm in Bezug genommenen Realität. Die konkrete Konfliktlage ist ferner regelhaft durch eine Vielzahl von Details gekennzeichnet, von denen viele bei der Inbeziehungsetzung zur Norm (der Subsumtion) außer Betracht zu bleiben haben, so wenn sie nicht zum Realbereich der Norm gehören oder nach dem gesetzgeberischen Programm als rechtlich unerheblich angesehen werden. Ob und wie weit Details des Ausgangskonflikts ausweislich des Normprogramms (in der Konkretisierung der Normanwender) rechtserheblich sind, ist im Zuge der Normanwendung durch Zurichtung des Sachverhalts auf die Norm zu klären. Bei der Erfassung des Realbereichs sowie des konkret erheblichen Sachverhalts bedarf es des Zugriffs auf Empirie, also der Verwendung empirischen Wissens unter Einordnung empirischer Befunde in den Kontext der Rechtsanwendung.48 Dies setzt geeignete Methoden des Zugriffs auf Realität voraus. Über solche Methoden verfügt die Rechtswissenschaft als „genuine“ nicht49 oder jedenfalls nur in sehr eingeschränkter Weise.50 Die in der Rechtsordnung verfügbaren Regeln über die Beweiserhebung und -würdigung sowie über die Verteilung der Beweislast sollen den Zugriff auf die Realität handhabbar machen, allerdings ausgerichtet auf den Einzel-Sachverhalt, nicht etwa auf den Realbereich der Norm. Die Beweismittel – etwa der Zeugen- oder Sachverständigenbeweis; Augenschein – betreffen (und beschränken) die Erkenntnismittel. Wie der Realbereich der Norm treffend erfasst wird, sagen diese Regeln nur sehr begrenzt. So mag ein Sachverständigengutachten auch dafür als Erfassungsinstrument nutzbar sein.51 Da aber die Verarbeitung des Realbereichs zur Normerfassung gehört, sind die Regeln über die formelle und materielle Beweislast insoweit nicht anwendbar (iura novit curia). Mit welchen Methoden die Realität wahrgenommen wird und vor allem wie gesichert wird, dass die verwendeten Daten nutzbar (zuverlässig, vaVgl. dazu Philippi, Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts, 1971. Selbst in der die Bedeutung des Realbereichs besonders hervorhebenden Methodenlehre von F. Müller/Christensen, (Fn. 7) gibt es keine besonderen, auf die Erfassung des Realbereichs bezogenen Regeln oder Arbeitstechniken, die den Zugang zur empirischen Wirklichkeit erschließen helfen. 50 Vgl. dazu die Bemühungen zur Entwicklung von Hilfen bei Bender/Nack (Hrsg.), Tatsachenfeststellungen vor Gericht, Bd. 1, 2, 1981. 51 Vgl. Rehbinder (Fn. 22), S. 11. 48 49

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lide u. a.) sind, ist in der Rechtsordnung regelhaft nicht normiert und ergibt sich auch nicht aus den Lehren über die Methoden der Rechtsanwendung. Die in den Sozialwissenschaften entwickelten Methoden empirischer Sozialforschung 52 wären zwar ein möglicher Zugriff auf Realität. 53 Sie werden insbesondere von der Rechtstatsachenforschung eingesetzt, 54 wenn auch nicht immer unter strenger Beachtung der bei Sozialwissenschaftlern anerkannten Methoden empirischer Sozialforschung. Die Nutzung dieser Methoden scheidet allerdings in konkreten Rechtsanwendungsprozessen weitgehend aus, so insbesondere wegen der Knappheit der zeitlichen und finanziellen Ressourcen, aber auch wegen der regelhaft fehlenden Kompetenz der Beteiligten zu sozialwissenschaftlicher Analyse. 55 Vor allem aber sind die Methoden empirischer Sozialforschung nicht auf die spezifischen Erkenntnisinteressen und Verwendungszusammenhänge der Rechtsanwendung ausgerichtet, so dass sie für die Rechtsanwender regelhaft ohnehin nicht ohne Ausrichtung auf ihre Erkenntnisinteressen und Verwendungszusammenhänge einsetzbar wären. Die Rechtsordnung verlangt nicht, dieses Defizit so zu beheben, dass sozialwissenschaftliche Methoden bei der Rechtsanwendung eingesetzt werden und dies z. B. durch eine obligatorische sozialwissenschaftliche Ausbildung der Rechtsanwender ermöglicht wird. 56 Rechtswissenschaft und Rechtsanwendung benötigen aber Methoden des Zugriffs auf das Erkenntnisarsenal anderer Wissenschaften sowie zur Klärung, wann und wie ohne einen solchen Zugriff Realdaten verwendet werden dürfen (Transferkompetenz). Der Erwerb und die Nutzung einer solchen transdisziplinären Kompetenz ist schwer genug, 57 aber eher zu leisten als die der Fähigkeit 52 Zu ihnen s. etwa Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, 15. Aufl. 1999; Kromrey, Empirische Sozialforschung, 10. Aufl. 2002; Schnell/Hill/Esser, Methoden der empirischen Sozialforschung, 6. Aufl. 1999. 53 Zum Einsatz sozialwissenschaftlicher Methoden im Kontext der Rechtsanwendung s. Blankenburg (Hrsg.), Empirische Rechtssoziologie, 1975; Hager, Soziologie für Juristen, 1977; Schünemann, Sozialwissenschaft und Jurisprudenz. Eine Einführung für Praktiker, 1976. 54 Zu ihr s. etwa den „Klassiker“ Nußbaum, Die Rechtstatsachenforschung, 1968 sowie Chiotellis/Fikentscher (Hrsg.), Rechtstatsachenforschung, 1985; Heinz (Hrsg.), Rechtstatsachenforschung heute, 1986; Strempel, Rechtstatsachenforschung und Rechtspolitik, ZRP 1984, 195. 55 S. dazu auch Rehbinder (Fn. 22), S. 28 f. 56 Zur Bedeutung der Sozialwissenschaften für die Juristenausbildung s. die Beiträge in Hassemer/Hoffmann-Riem/Limbach (Hrsg.), Juristenausbildung zwischen Experiment und Tradition, 1986; Strempel (Hrsg.), Juristenausbildung zwischen Internationalität und Individualität, 1998; Giehring/Haag/Hoffmann-Riem/Ott (Hrsg.), Juristenausbildung – erneut überdacht, 1990. 57 Auf die Vermittlung solcher Kompetenz zielten die von Grimm herausgegebenen Bände Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften 1 und 2, 2. Aufl. 1976 sowie die Bände der Reihe JuS Didaktik „Sozialwissenschaften im Studium des Rechts“ (Verlag C. H.

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zum eigenen Einsatz von und zum Umgang mit den in den Nachbarwissenschaften zur Erfassung von Realdaten eingesetzten Methoden empirischer Sozialforschung. Juristen behelfen sich im Übrigen – wie auch in der Soziologie näher analysiert worden ist 58 – regelhaft mit dem Rückgriff auf persönliche alltagstheoretische Vorverständnisse 59 oder sie greifen auf die institutionelle Erfahrungswelt der Organisation zurück, der sie angehören. Diese Vorgehensweise ist nicht von vornherein abzulehnen. Niemand, übrigens auch der Sozialwissenschaftler, kann sich im Leben ohne alltagstheoretische Orientierungshilfen zurechtfinden. 60 Bei den Juristen dürften alltagstheoretische Annahmen auf der Herstellungsebene der Entscheidung vermutlich noch wirkungskräftiger sein als auf der Darstellungsebene. Solche alltagstheoretischen Annahmen können zumindest einem Plausibilitätstest unterzogen werden, etwa unter Rückkoppelung an Befunde und theoretische Erklärungsversuche der Realwissenschaften in vergleichbaren Feldern. Anzustreben ist eine möglichst weit gehende, also auch theoretisch reflektierte Plausibilität solcher Annahmen. 61 Das Risiko von empirischen Irrtümern kann vermindert werden, wenn Transparenz auch über die Verwendung von Alltagstheorien geschaffen wird, so dass sie diskutier- und kritisierbar werden. Die Kontrolle alltagstheoretischer Annahmen ist auch Aufgabe einer Rechtswissenschaft, die sich nicht nur als Geisteswissenschaft versteht. Es ist allerdings auffällig, dass die Rechtssoziologie sich dieses praktisch wichtigen Themas nur sehr begrenzt zugewandt hat. 62 c) Folgeneröffnungsbereich Rechtsanwendungsentscheidungen sind regelhaft auf das Erzielen von Wirkungen ausgerichtet. Diese Wirkungen können auf der Ebene des Rechts liegen (z. B. die Gestaltung der Rechtslage durch Ausspruch einer Beck, 1977–1978) sowie „Sozialwissenschaften im öffentlichen Recht, im Zivilrecht und im Strafrecht (Luchterhand Verlag, 1981–1984). 58 Siehe dazu Opp, Soziologie im Recht, 1973, S. 49 ff., 55 ff. 59 Vgl. Bürkle, Richterliche Alltagstheorien im Bereich des Zivilrechts, 1984. 60 Das Alltagswissen ist im Übrigen ein wesentliches Element verschiedener sozialwissenschaftlicher Ansätze, insbesondere der Ethnomethodologie. Zu ihr s. Garfinkel, Studies in Ethnomethodology, 1967. S. ferner die Beiträge in Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. 1 und 2, 1973; Weingarten/Sack/Schenkein (Hrsg.), Ethnomethodologie, 1976. 61 Zu Recht wendet sich gegen einen uninformierten und unflektierten Theorienimport in die Rechtswissenschaft Voßkuhle, Methode und Pragmatik im öffentlichen Recht, in: Bauer u.a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2002, S. 171, 182 ff. 62 So kommt in den Standardlehrbüchern der Rechtssoziologie von Raiser, Röhl und Rehbinder (Fn. 5, 22) der Begriff der Alltagstheorie im Stichwortregister nicht oder nur marginal vor.

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Kündigung) oder die empirische Realität betreffen (die Normadressaten verhalten sich zwecks Vermeidung einer Kündigung arbeitsvertragsgemäß). Allerdings nimmt die Rechtsordnung nicht Folgen aller Art als rechtserheblich in den Blick. Es bedarf daher der Abklärung, welche empirisch erwartbaren Folgen der Entscheidung normativ erheblich sind und ob und wie weit auch Folgesfolgen rechtlich bedeutsam werden dürfen. 63 Für die unterschiedlichen Folgendimensionen hat sich in jüngerer Zeit eine aus der Betriebswirtschaftslehre entlehnte Terminologie einzubürgern begonnen: Output, Impact und Outcome. 64 Im Zuge der Rechtsanwendung ist zu klären, ob die Rechtsnorm nur das Entscheidungsergebnis (Output) als rechtlich bedeutsam in den Blick nimmt, ob auch die Wirkungen einer Entscheidung für ihre Adressaten oder für Dritte wichtig sind (Impact) oder ob sogar Auswirkungen in dem erfassten gesellschaftlichen Bereich unter Einschluss von Präzedenzwirkungen für spätere Entscheidungsverfahren berücksichtigt werden dürfen und müssen (Outcome). Zur Rechtsarbeit gehört auch die Klärung, welche Folgendimensionen wichtig sind, also für die Rechtsentscheidung als erheblich anerkannt sind und deshalb für die Rechtsarbeit „eröffnet“ worden sind. Das Folgenargument verweist auf die Notwendigkeit, Erfahrungswissen einzubeziehen, um auf seiner Grundlage Prognosen über zukünftige Abläufe abzugeben. In den Sozialwissenschaften ist das Verhältnis zwischen Beobachtung, Erklärung und Prognose seit langem ein wichtiger Forschungsgegenstand. 65 d) Optionenwahlbereich Wird die Lösung eines sozialen Problems durch Beachtung bzw. Anwendung des Rechts angestrebt, so ist schon dies eine Alternativenwahl: Verworfen wird die Option der Nichtbeachtung der Norm. Die Häufigkeit des 63 Zur Folgenorientierung s. statt vieler Wäldle, Juristische Folgenorientierung, 1979; Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, 1995; Teubner (Hrsg.), Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe, 1995; Coles, Folgenorientierung im richterlichen Entscheidungsprozess, 1991; Hermes, Folgenberücksichtigung in der Verwaltungspraxis und in einer wirkungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Schmidt-Aßmann/HoffmannRiem (Fn. 15), S. 359 ff.; zur sozialwissenschaftlichen Folgendiskussion s. die Beiträge in Sommermann (Hrsg.), Folgen von Folgenforschung, 2002. Grundsätzliche Skepsis gegenüber der Folgenberücksichtigung im Recht hat etwa Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 31 ff. geäußert. 64 Zu den (nicht immer in gleicher Weise eingesetzten) Begriffen s. Nullmeier, Impact, Output, Outcome, Effektivität und Effizienz, in: v. Bandemer/Blanke/Nullmeier/Wewer (Hrsg.), Handbuch zur Verwaltungsreform, 2. Aufl. 2001, S. 357 ff.; die Begriffe Outcome und Impact werden zum Teil umgekehrt wie im Text angegeben verwendet. 65 Vgl. Albert (Hrsg.), Theorie und Realität, 1964; Kühn, Das Problem der Prognose in der Soziologie, 1970; Schurz (Hrsg.), Erklären und Verstehen in der Wissenschaft, 1988.

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Absehens von der Normbefolgung und die Erarbeitung der Bestimmungsfaktoren dafür ist ein traditionelles Feld der Rechtssoziologie 66 und vor allem der Kriminologie. In diesen Bereich gehören auch die Forschungen zur Normenerosion, 67 aber auch solche zur Reduktion der Normerheblichkeit auf „brauchbare Illegalität“, insbesondere in organisatorischen Kontexten. 68 Die Rechtsanwendung umfasst die normdirigierte Auswahl einer problemlösungsgeeigneten Alternative (Entscheidung). Soweit das Normprogramm nicht auf eine einzige Rechtsfolge verengt ist, stehen Optionen bereit. Je offener die Normierungen sind, umso größer ist das Feld zugelassener Optionen. Aber selbst bei einem Konditionalprogramm ist es möglich, verschiedene Rechtsfolgen bereitzustellen. Bei Finalprogrammen gibt es regelhaft unterschiedliche Wege zur Zielerreichung, ebenso bei normativen Planungen, oder der gesetzlichen Verwendung von Leitbildern und Konzepten. 69 Optionenorientiertes Recht70 fordert dazu auf, mögliche Optionen herauszuarbeiten und Kriterien der Optionenwahl zu entwickeln. Die Rückkoppelung zu dem Problemlösungsbereich (s. o. 1.) erlaubt die These: Die Konfliktbewältigung wird voraussichtlich umso besser gelingen, je stärker die gewählte Option auf das zu lösende soziale Problem und die unterschiedlichen betroffenen Interessen abgestimmt ist. Zu den möglichen Optionen kann auch gehören, eine Alternative zur formalen (etwa gerichtlichen) Rechtsdurchsetzung zu wählen, 71 z. B. die Mediation. 72 3. Entscheidungsbereich Die Verknüpfung der Ermittlung des lösungsbedürftigen Problems mit den Vorgaben des anwendbaren Normprogramms in einem auf ein konkretes Entscheidungsergebnis ausgerichteten konkreten Entscheidungsvorgang geschieht unter spezifischen situativen, organisatorischen, verfahrensmäßigen, finanziellen, personellen und damit auch interaktiven Rahmenbedingungen, die auf das Entscheidungsverfahren und -ergebnis einwirken können. Deren Wirkkraft ist – ebenso wie der Normtext – vom demokratischen 66 Vgl. statt vieler Diekmann, Die Befolgung von Gesetzen, 1990; Lüdemann, Die Befolgung von Gesetzen, ZfRsoz 1998, 116 ff. 67 Vgl. etwa Frommel/Gessner Normenerosion, 1996. 68 Zum Befund bzw. Konzept „Brauchbare Illegalität“ s. Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, 1972, S. 304 ff. 69 Dazu vgl. Baer, Schlüsselbegriffe, Typen und Leitbilder als Erkenntnismittel und ihr Verhältnis zur Rechtsdogmatik, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Fn. 15), S. 223 ff. 70 Dazu s. Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 206 f., 312 f.; Hoffmann-Riem, Von der Antragsbindung zum konsentierten Optionenermessen, DVBl . 1994, 605 ff. 71 S.o. Fn. 33. 72 S.o. Fn. 36.

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Gesetzgeber grundsätzlich legitimiert, der zum einen entsprechende auf den Entscheidungsbereich einwirkende Normen geschaffen hat (etwa das Individualarbeitsrecht, die Organisationsnormen des Gesellschaftsrechts, das Betriebsverfassungsrecht, aber auch – soweit hoheitliche Rechtsanwendung betroffen ist – z. B. das Beamtenrecht und Haushaltsrecht) und der die Entscheidungsträger im Übrigen in Kenntnis der Wirkkraft solcher Entscheidungsfaktoren zum Entscheidungshandeln ermächtigt hat. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive kommen daher auch Theorien der Institution73 in den Blick. Es erleichtert das Verständnis des Prozesses der Rechtsanwendung, wenn in dem Entscheidungsbereich unterschiedliche Teilbereiche identifiziert werden. Besonders wichtig sind – – – –

der der der der

Organisationsbereich, Verfahrensbereich, Personalbereich und Haushaltsbereich.

Vor allem die drei zuerst genannten Bereiche ergeben verschiedene Verknüpfungsmöglichkeiten zur rechtssoziologischen Forschung. Seit langem ist beispielsweise rechtsnormativ anerkannt, dass die Faktoren „Personal“ und „Organisation/Verfahren“ 74 für den Prozess und das Ergebnis der Rechtsanwendung bedeutsam sind. Der Steuerungsfaktor Personal 75 wird insbesondere in der sog. Rechtsstabforschung 76 in den Blick genommen. Die Rekrutierung, die Aus- und Fortbildung, der konkrete Einsatz des Personals u. a. werden darauf besehen, wie weit sie das Entscheidungsverhalten prägen, etwa durch den Rückgriff der Akteure auf ihre spezielle Erfahrungswelt und die von ihnen internalisierten Werte oder durch ihre Verankerung in gesellschaftlichen Konfliktverhältnissen. 77 Im Hinblick auf die maßgebende Organisation, innerhalb derer Problemlösungen betrieben werden, hat die Forschung insbesondere die Einsicht in den Unterschied zwischen formellen und informellen Entscheidungsorga-

Vgl. etwa Schelsky (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, 1970. S. etwa BVerfGE 53, 30, 57 ff., 60 ff., 71 ff. sowie G.-P. Calliess, Prozedurales Recht, 1999; Schuppert Verwaltungswissenschaft, 2000, S. 788 ff., 805 ff.; Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann (Hrsg.), Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, 2002. 75 S. beispielsweise auch zur Wechselwirkung von Organisation und Selbstverständnis Werle, Justizorganisation und Selbstverständnis der Richter, 1977. 76 S.o. Fn. 13 und u. Fn. 83 bis 86. 77 Auf letztere richtet ihr Augenmerk die Literatur zur Schichtenabhängigkeit der Rechtsanwendung oder gar einer „Klassenjustiz“. Dazu s. etwa Fraenkel, Zur Soziologie der Klassenjustiz, 1927; Geffken Klassenjustiz, 1972; Rasehorn, Recht und Klassen, 1974. 73 74

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nisationen herausgearbeitet. 78 Da Rechtsanwendung nur begrenzt über Vorgaben zur Sicherung einer einzigartigen Richtigkeit eines Auslegungsergebnisses verfügt, 79 kommt den real eingesetzten Entscheidungsfaktoren Steuerungskraft zu. Fragen der Behörden- und Gerichtsorganisation, des Personaleinsatzes, der Kooperation hoheitlicher und nicht hoheitlicher Akteure, des Einsatzes informeller Entscheidungsverfahren u. ä. steuern die Verfahrensabläufe und -ergebnisse mit. In der rechtssoziologischen Forschung haben Untersuchungen besondere Aufmerksamkeit gefunden, die sich mit der Chancenverteilung und insbesondere den Machtasymmetrien befassen; 80 so ist etwa analysiert worden, wie Sprache vor Gericht eingesetzt wird. 81 Untersuchungen über den Einfluss von Personal, Verfahren und Organisation können insbesondere auf den für die konkrete Rechtsanwendung maßgebenden „Rechtsstab“ – etwa Polizei, 82 Staatsanwaltschaft, 83 Rechtsanwälte, 84 Richter 85 – bezogen werden, aber auch auf die Akteure in der Rechtswissenschaft, die Einfluss auf die Systematisierung des Rechts und die Herausarbeitung rechtsdogmatischer Figuren sowie konkreter Auslegungsergebnisse nehmen. Hier werden wissenschaftssoziologische Untersuchungen bedeutsam. 86 Die einzelnen Facetten des Entscheidungsbereichs sind auch aus einer steuerungswissenschaftlichen Perspektive von Relevanz, also einer Perspektive, die Recht in seiner Funktion zum Bewirken von Wirkungen87 erfasst. 78 Dazu s. etwa Etzioni, Soziologie der Organisation, 3. Aufl. 1971, S. 69 ff.; Luhmann, (Fn. 68) sowie die Beiträge in Blankenburg/Lenk (Hrsg.), Organisation und Recht, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. VII , 1980. 79 S.o. Fn. 7. 80 Bender/Schumacher, Erfolgsbarrieren vor Gericht. Eine empirische Untersuchung zur Chancengleichheit im Zivilprozess, 1980. 81 Dazu s. Leodolter, Das Sprachverhalten von Angeklagten bei Gericht; Hoffmann-Riem/ Rottleuthner/Schütze/Zielke, Interaktion vor Gericht, 1978; Hoffmann (Hrsg.), Rechtsdiskurse. Untersuchungen zur Kommunikation im Gerichtsverfahren, 1989; Ludwig/Mayerhofer, Kommunikation in jugendstrafrechtlichen Hauptverhandlungen, ZfRsoz 1997, 180 ff. 82 S.o. Fn. 11. 83 S. etwa Blankenburg/Sessar/Steffen, Die Staatsanwaltschaft im Prozess strafrechtlicher Sozialkontrolle, 1978. 84 Hommerich, Die Anwaltschaft unter Expansionsdruck, 1988; C. Schumann, Anwaltliche Rechtsproduktion als Aushandlungsprozess, in: Bryde/Hoffmann-Riem (Fn. 29), S. 39 ff.; Hommerich/Prütting, Das Berufsbild des Syndikusanwaltes, 1998; Jungjohann/ Wettmann, Inanspruchnahme anwaltlicher Leistungen, 1989; Wasilewski (Fn. 34); Roethe, Strukturprinzipien professionalisierten anwaltlichen Handelns, 1994. 85 S.o. Fn. 13. 86 S. etwa Klausa, Deutsche und amerikanische Hochschullehrer, 1981. 87 Zur steuerungswissenschaftlichen Diskussion in der (Verwaltungs-)Rechtswissenschaft s. Schuppert, Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert (Hrsg.), Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 65 ff.; Hoffmann-Riem, Modernisierung von Recht und Justiz, 2001, S. 31 ff.

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Damit können alle rechtlich zulässigen Faktoren der Bewirkungssteuerung in die Betrachtung einbezogen werden. Diese Steuerungsfaktoren werden besonders wichtig, wenn die Steuerung nicht nur auf die Sicherung der Einhaltung rechtlicher Grenzen bezogen wird, sondern auch auf die Orientierung an gestalterischen Elementen der Zweckgerechtigkeit und Interessenoptimierung und an anderen die Einzelentscheidung übergreifenden Zielen, etwa der Ressourcenschonung (Effizienz), der Sicherung von Akzeptanz88 und Implementierbarkeit89 u. ä. 90 Die Interaktionsstrukturen und -abläufe erlangen besonderes Gewicht in komplexen Kooperations- und Koordinationsbeziehungen. 91 4. Folgenbewirkungsbereich, insbesondere Vollzugsbereich Für Rechtswissenschaft spielt seit jeher nicht nur die Frage eine Rolle, ob beabsichtigte Wirkungen erreicht werden, sondern auch, ob es zu unerwünschten oder gar dysfunktionalen Nebenwirkungen kommt. 92 Insofern ist es für die Rechtsarbeit nicht nur wichtig zu klären, welche Folgen in den Blick kommen dürfen (Folgeneröffnungsbereich, s. o. 2. c)), sondern auch, welche real eintreten (Folgenbewirkungsbereich). Eine zentrale Frage rechtssoziologischer Forschung ist, ob und wie weit Recht Verhalten beeinflusst, 93 einschließlich der Unterfrage, welche Verhaltensanreize dafür förderlich sind. 94 Damit verbunden, aber eigenständig zu stellen, ist die Frage, ob auch die von den Rechtsnormen erwarteten Wirkungen eintreten. Die rechtssoziologische Forschung zur Effektivität des Rechts 95 hat diese Perspektive seit jeher eingenommen. Dabei ist auch ge88 Dazu s. Lücke, Akzeptanz. Legitimität in der „Abstimmungsgesellschaft“, 1995; Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1969. 89 Dazu s. u. Fn. 97. 90 Zu den verschiedenen Richtigkeitsdimensionen s. Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Schmidt-Aßmann/HoffmannRiem (Fn. 15), S. 9, 46 ff. 91 Zu kooperativem Handeln, insbesondere in der Verwaltung s. Benz, Kooperative Verwaltung, 1994 m.w.N. Zu Risiken solchen Verhaltens s. Benz/Seibel (Hrsg.), Zwischen Kooperation und Korruption. Abweichendes Verhalten in der Verwaltung, 1992. 92 Darauf reagiert z. B. die Forderung nach sog. Gesetzesfolgenabschätzung. Dazu s. Böhret/Hugger, Test und Prüfung von Gesetzentwürfen, 1980; Zeh Gesetzesfolgenabschätzung, in: Jann/Koenig/Landfried/Wordelmann (Hrsg.), Politik und Verwaltung auf dem Weg in die transindustrielle Gesellschaft, 1998, S. 365 ff. 93 Zu einer Verhaltenstheorie des Rechts vgl. aus der jüngeren Literatur Führ, Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat, 2003 m.w.N. 94 Hier gibt auch die Institutionenökonomik Anregungen. Zu ihr s. North (Fn. 73); Erlei/Lesche/Samland, Neue Institutionenökonomik, 1999; Homann/Suchanek Ökonomik, 2000. 95 S. dazu Rehbinder/Schelsky (Hrsg.), Zur Effektivität des Rechts, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. III (1972); Röhl JZ 1971, 576 ff.; Holtschneider, Normen-

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fragt worden, wie weit spezielle Vollzugsinstrumente der Rechtsordnung einsetzbar sind und Folgen bewirken helfen, etwa der Einsatz von Aufsichtsmitteln oder die positive und negative Sanktionierung.96 In der verwaltungswissenschaftlichen Implementationsforschung97 ist insbesondere untersucht worden, wie weit es Vollzugsdefizite gibt und wie die Rechtsordnung mit ihnen umgeht. Anstoß war insbesondere die Diskussion um Vollzugsdefizite im Umweltrecht. Die Implementationsforschung war bemüht, den Ablauf des Entscheidungsprozesses (insbesondere in der Verwaltung), die Einwirkung unterschiedlicher Entscheidungsfaktoren und die Rückkoppelung zwischen Normprogramm und erzielten Ergebnissen, aber auch von Normvorbereitung und Normanwendung in den Blick zu nehmen und hinreichend komplexe Erklärungsmuster herauszuarbeiten. Dabei sind auch Vorwirkungen von Entscheidungen und ihres Vollzugs auf spätere Entscheidungen analysiert worden (s. u. 6.). Auch wurde die Vollzugsperspektive nicht nur darauf bezogen, ob die konkrete Entscheidung umgesetzt wird, sondern umfassend auch darauf, welche Bedeutung die Vollzugsmöglichkeit, die Vollzugsandrohung und konkrete Vollzugsmaßnahmen für die Erzielung von Wirkungen haben. Zugleich wurde der Folgenbewirkungsbereich darauf bezogen, ob von Normen auch ungeachtet ihrer Umsetzung und der damit verfolgten instrumentellen Funktion Wirkungen – insbesondere symbolische – ausgehen, die durchaus normativ relevant sein können. So lassen sich Normen entdecken, deren praktizierte Funktion nicht – jedenfalls nicht in erster Linie – in möglichst lückenloser Normbefolgung durch die Adressaten und in weit gehender Implementation durch staatliche Instanzen besteht. In den Vordergrund kann vielmehr die mit der Norm verbundene Symbolik treten, etwa die regulatoriflut und Rechtsversagen, 1992; Gawron/Rogowski, Effektivität, Implementation und Evaluation. Wirkungsanalyse am Beispiel von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, ZfRsoz 1996, 177 ff. S. auch Fn. 97. 96 Dazu s. Raiser (Fn. 5), S. 229 ff. 97 Mayntz (Hrsg.), Vollzugsprobleme der Umweltpolitik, 1978; dies. (Hrsg.), Implementation politischer Programme, Bd. 1 und 2, 1980, 1981; Wollmann (Hrsg.), Politik im Dickicht der Bürokratie. Beiträge zur Implementationsforschung, 1980; Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990; Raiser/Voigt (Hrsg.), Durchsetzung und Wirkung von Rechtsentscheidungen, 1990; Hof/Lübbe-Wolff (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht I, Wirkungen und Erfolgsbedingungen von Gesetzen, 1999; Hill/Hof (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht II . Verwaltung als Adressat und Akteur, 2000. Speziell zur Implementation von Gerichtsentscheidungen s. Blankenburg/Voigt, Implementation von Gerichtsentscheidungen, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. XI (1987); Gawron/Rogowski, Effektivität, Implementation und Evaluation. Wirkungsanalyse am Beispiel von Entscheidungen des BVerfG , ZfRsoz, 1996, 177. Vgl. auch Hoffmann-Riem, Zur notwendigen Verbindung von Rechtssoziologie und Implementationsforschung, in: Hoffmann-Riem/Mollnau/Rottleuthner (Hrsg.), Rechtssoziologie in der Deutschen Demokratischen Republik und in der Bundesrepublik Deutschland, 1990, S. 126 ff.

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sche Darstellung von staatlicher Entscheidungsfähigkeit98 oder die symbolische Bestätigung der Gültigkeit bestimmter Werte. So ist die Symbolfunktion von Normen99 im Bereich der Umweltgesetzgebung analysiert worden.100 Das Konzept der strafrechtlichen Generalprävention greift auch auf den symbolischen Effekt von Strafrechtsnormen zurück. Der nur selektive Vollzug von Strafrecht ist Gegenstand der Kriminologie, die auch fragt, wie weit er als Mittel der „Bestätigung“ der faktischen Gültigkeit von Normen ausreicht. 5. Kontrollbereich Entscheidungsverhalten wird auch dadurch beeinflusst, ob es eine Instanz zur Kontrolle seiner Richtigkeit gibt. Als Kontrollinstanzen kommen nicht nur administrative Kontrollträger und die Gerichte, sondern auch die Öffentlichkeit oder Akteure im privaten Bezugsfeld, etwa Nachbarn, in Betracht.101 Soweit staatliche Instanzen mit Kontrollfunktionen versehen werden, ist zu berücksichtigen, dass sie die Norm als Kontrollnorm und damit zum Teil mit anderer Akzentuierung als bei ihrem Einsatz als Handlungsnorm nutzen.102 Die in der Rechtswissenschaft vorherrschende Darstellungsorientierung (s. o. I.) ist vor allem aus der Kontrollperspektive entwickelt worden. In juristischen Begründungen wird insbesondere daran gearbeitet, die Entscheidung gegenüber der Kontrollinstanz unangreifbar (z. B. revisionsfest) zu machen. Demgegenüber tritt das Bemühen um ihre Überzeugungskraft für die von einer Entscheidung positiv oder nachteilig Betroffenen häufig zurück. 6. Lernbereich Recht und Rechtsanwendung sind in einem rekursiven Lernprozess miteinander verknüpft.103 Die Akteure sammeln im Zuge ihrer Entscheidungen insbesondere Erfahrungswissen. Soweit es sich um Organisationen handelt, können sie dieses in die Organisation, etwa in Form von Verwaltungskultu98 Etwa als Reaktion des Gesetzgebers auf neue Gefahren durch Erhöhung der Strafsanktion, auch wenn das Sanktionsverhalten der Gerichte dadurch nicht verändert wird. 99 Vgl. Kindermann, Symbolische Gesetzgebung, in: Grimm/Maihofer (Hrsg.), Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik, 1988, S. 222; Neves, Symbolische Konstitutionalisierung, 1998. 100 S. Newig, Symbolische Umweltgesetzgebung, 2003. 101 Vgl. Frehsee/Löschper/Schumann (Hrsg.), Strafrecht, soziale Kontrolle, soziale Disziplinierung, Bd. 15, Jahrbuch zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 1993. 102 Zum Unterschied von Normen als Handlungsnormen und als Kontrollnormen s. Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), 7 ff. 103 Zu solchen Verknüpfungen allgemein s. Krohn, Rekursive Lernprozesse, in: Rammert/Bechmann (Hrsg.), Technik und Gesellschaft, Jahrbuch 9 (1997), S. 65 ff.

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ren,104 integrieren. Erfahrungswissen kann aber auch institutionalisiert werden, etwa durch den Erlass von Verwaltungsvorschriften. Die Rechtserheblichkeit des Lernbereichs ist in der Rechtsordnung anerkannt, beispielsweise dadurch, dass Gesetze Evaluationsvorkehrungen oder Nachbesserungs- und Revisionsvorbehalte 105 kennen. Die Anwendung des Wissens ist mit dem Erwerb von Wissen verbunden. Dementsprechend gibt es Literatur zum „lernenden Recht“.106 Ein Lernpotential findet sich insbesondere in den Entscheidungen, die als Präjudizien Orientierungswirkungen entfalten, häufig auch vorbildhaft wirken. Insofern sind Untersuchungen zur Wirkungsweise des angelsächsischen „Fallrechts“ besonders aufschlussreich. Zu „lernen“ ist auch der Zugriff auf Realität und damit auf diagnostische und prognostische Erkenntnisse (s. o. 2. b)), dabei aber vor allem auch der Umgang mit Unsicherheit, eine in der „Risikogesellschaft“ zunehmend wichtige Aufgabe.107 Soll diagnostisches und prognostisches Wissen folgenreich für spätere Entscheidungen werden, ist es wichtig, entsprechendes Erfahrungswissen in „Bausteinen“ für zukünftige Entscheidungen aufzuheben. Anzustreben sind „Verfestigungen“ des Erfahrungswissens – auch in rechtsdogmatischen Figuren, die es den Rechtsanwendern erlauben, auf (relativ) stabiles Wissen zurückzugreifen. Anzustreben ist eine Qualität verfügbarer Realdaten, die es den Rechtsanwendern ermöglicht, in weiteren Rechtsanwendungsprozessen auf zusätzliche Konkretisierungsarbeit zu verzichten. Insofern ist zu berücksichtigen, dass Rechtsanwender die für den konkreten Rechtsanwendungsakt maßgebenden Vorgaben regelhaft nicht selbst entwickeln können, sondern darauf angewiesen sind, auf ein durch vorangegangene Rechtspraxis und Rechtswissenschaft „aufbereitetes“ Wissen zurückzugreifen.108 Herkömmlich eröffnet die Rechtsdogmatik einen Zugang zu solchem aufbereiteten Wissen, ohne dass es ausgeschlossen ist, dass sie auch Zugang zu empirischem Wissen eröffnen kann.

104 Dazu vgl. Jann, Staatliche Programme und „Verwaltungskultur“, 1983; Schuh, Organisationskultur. Integration eines Konzepts in die empirische Forschung, 1989; Staab, Verwaltungskultur im Wandel der Staatsfunktionen, Verwaltungsrundschau, 1995, 12 ff. sowie die konzeptionellen Überlegungen von Römer/Hillebrecht Verwaltungskultur, 1998. 105 Dazu s. Bernd, Legislative Prognosen und Nachbesserungspflichten Diss. iur. Mainz, 1989; Huster, ZfRsoz 2003, 3 ff. 106 S. etwa Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie, 2. Aufl. 1995, S. 103 ff.; G. P. Calliess (Fn. 74), S. 121 f.; Eifert, Die Verwaltung, Beiheft 4, 2001, 137 ff.; Appel, Methodik des Umgangs mit Ungewissheit, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Fn. 15), S. 327, 351 ff. Er benennt Flexibilisierung, Temporalisierung, Futurisierung des Rechts u. ä. 107 Dazu s. statt vieler die Beiträge in Bora (Hrsg.), Rechtliches Risikomanagement, 1999 sowie Hoffmann-Riem (Fn. 15), S. 63 ff. 108 Zu der Notwendigkeit s. Jansen, Soziologie, Rechtssoziologie und Rechtswissenschaft, in: Machura/Ulbrich (Fn. 39), S. 24 ff., 30 ff.

Sozialwissenschaftlich belebte Rechtsanwendung

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Allerdings dürfen keine nicht realisierbaren Anforderungen an die einzelnen Rechtsanwender gestellt werden. Angesichts der Massenhaftigkeit von Entscheidungsaufgaben sind die Rechtsanwender auf Vorgehensweisen angewiesen, die sie von der regelhaft bestehenden Unsicherheit über verfügbare empirische Daten oder prognostische Zusammenhänge möglichst weitgehend entlasten. Die Erarbeitung von Standardmethoden, die in Standardverfahren in Standardsituationen durch Standardakteure einsetzbar sind,109 ist praktisch wichtig und normativ gerechtfertigt, wenn dabei zugleich darauf geachtet wird, dass Möglichkeiten erhalten bleiben, eine im Einzelfall gegebene Abweichung vom Standardfall zu identifizieren. Zu den Aufgaben der Rechtswissenschaft gehört es auch, Realwissen für Standardsituationen aufzubereiten.110 Die Einfügung solchen Wissens in die Rechtsdogmatik ist ein Weg zu seiner verallgemeinerbaren Nutzung. Auch Informationen zum Realbereich einer Norm sind dogmatisierungsbedürftig und grundsätzlich dogmatisierbar. Rechtsstaatlich hinnehmbar ist dies allerdings nur, wenn die entsprechenden Figuren hinreichend offen bleiben, um gegebenenfalls neuen (erweiterten) Einsichten zu weichen. Lernendes Recht ist insofern auf eine lernende Rechtswissenschaft angewiesen. Die rechtssoziologische Forschung i.w.S. hat einen Beitrag zu solchen Lernprozessen geleistet. Auch wenn dieser nicht immer identifizierbar ist, lässt sich doch vermuten, dass ohne die rechtssoziologischen Bemühungen die Einsichten in die Strukturen der Rechtsanwendung, in die auf sie einwirkenden Faktoren und vor allem in den für die Rechtsanwendung maßgebenden Ausschnitt sozialer Realität andere wären als gegenwärtig. Die Sozialwissenschaften haben in den letzten Jahren „belebend“ auf die Rechtsanwendung eingewirkt. Ihr Potential zur analytischen Durchdringung und zur Steigerung der Qualität der Rechtsarbeit ist allerdings noch keineswegs ausgeschöpft.

S. dazu Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 86. Wegweisend insofern die Idee einer sozialwissenschaftlichen Kommentierung von Gesetzen oder einzelnen Rechtsnormen, etwa des Strafgesetzbuchs. 109 110

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Vergleichende Online-Delinquenzbefragung Gießen-Madison 2003 Arthur Kreuzer

Inhaltsübersicht Seite

I. II. III. IV. V. VI.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tradition und Neuerungen der Gießener Delinquenzbefragungen Ausgewählte Ergebnisse zur Delinquenz . . . . . . . . . . . . . Suchtmittel und Einstellungen zur Drogenpolitik . . . . . . . . . Aspekte des Opferwerdens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einstellungen zur Todesstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

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I. Einleitung Obwohl dem Zivilrecht fern, haben mich als Kriminologen zwei Umstände bewogen, diesen Beitrag Thomas Raiser – Fakultätskollegen und Freund aus seiner Gießener Schaffenszeit – zu widmen: Zum Ersten gehört der Gegenstand als Teil der Dunkelfeldforschung zu den zentralen kriminalsoziologischen Anliegen. Kriminologie in ihrer soziologischen Ausrichtung ist nahe der Rechtssoziologie, also einem Arbeitsgebiet, auf dem der Geehrte wichtiges geleistet hat.1 Beide Disziplinen müssen seit ihrer Wiederbelebung in Deutschland in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts immer für ihren Bestand im rechtswissenschaftlichen Fächerspektrum kämpfen; für die Rechtssoziologie gilt das bei knapper werdenden Ressourcen derzeit noch mehr als für die Kriminologie, welche wohl wegen ihrer besonderen kriminalpolitischen Bedeutsamkeit durch neue Schwerpunkte in der reformierten Juristenausbildung an den meisten Rechtsfakultäten vorerst abgesichert ist. Thomas Raiser war seit meiner Berufung nach Gießen mit den dortigen regelmäßigen Delinquenzbefragungen bei Studienanfängern vertraut. Ich vermute daher seine Aufgeschlossenheit für deren Fortentwicklung. Zum Zweiten erinnert der Gegenstand mit dem Delinquenzvergleich von Rechtsstudierenden in Gießen und Madison an die dankenswerterweise von 1

Raiser Das lebende Recht – Rechtssoziologie in Deutschland, 3. Aufl., 1999.

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Arthur Kreuzer

Thomas Raiser langjährig intensiv betreute Partnerschaft der beiden Fakultäten. Zur Vorbereitung meines vierten Lehr- und Forschungsaufenthalts an der Wisconsin Law School in Madison im vergangenen September habe ich erstmals eine vergleichende Delinquenzbefragung online hüben und drüben durchgeführt. Einige ihrer Ergebnisse fließen in den Beitrag ein. 2

II. Tradition und Neuerungen der Gießener Delinquenzbefragungen Die Gießener Delinquenzbefragungen werden seit 1976 fast alljährlich als schriftliche Erhebungen bei den Studienanfängern der Rechtswissenschaften in einer Einführungsvorlesung – paper and pencil class room-study – durchgeführt. Gelegentlich wurde die Stichprobe ausgeweitet auf Studierende anderer Fachbereiche, auf altersgleiche Rekruten, Auszubildende und Jugendstrafgefangene, ferner auf andere Universitäten. Die Befragungen nutzen in erster Linie methodisch Elemente der Täterbefragung (self reported delinquency), außerdem der Opferbefragung und der Informanten- und Einstellungsbefragung. Sie dienen zum einen didaktischen Zielen – Lernen der Methoden durch Eigenteilnahme, Wirkungen des aufklärerischen Potentials durch Auseinandersetzung mit eigener Delinquenz und dem Bild vom „Straftäter“ –, zum anderen gleichfalls der Fortentwicklung der Dunkelfeldforschung in Theorie und Methodik. So konnten theoretisch Positionen des „Labeling approach“, ferner Fragen geschlechterspezifischer Delinquenz und Coping-Strategien oder der Zusammenhänge von Sucht und Delinquenz überprüft, modifiziert oder aufgedeckt werden. Methodisch konnten Unterschiede der Frage- und Antwortgestaltungen, der Sitzmodalitäten sowie der Befragung in der Gruppen- oder Einzelsituation geprüft werden. Auch ließen sich neue, in Repräsentativerhebungen noch nicht berücksichtigte oder zu heikle Gegenstände testweise aufnehmen. Außerdem ließen sich beispielsweise nach Bildung oder delinquenter Vorerfahrung unterschiedliches Delinquenzverständnis und Berichtsverhalten klären. 3 Mit der hier knapp zu skizzierenden vergleichenden Online-Befragung bei allen Rechtsstudierenden in Gießen und Madison wurden methodisch neue Wege beschritten – zunächst eher versuchsweise in kleinem Rahmen. Bereits Anfang 2002 war erstmalig in der Dunkelfeldforschung die Delin2 Online-Fragebogen deutsch und englisch sowie weitere Ergebnisse: http://www.unigiessen.de/~g11039/delinquenz/giessen.html, 2003. 3 Zum Ganzen Übersichten bei: Kreuzer, Görgen et al. Jugenddelinquenz in Ost und West, 1993; Kreuzer Kriminologische Dunkelfeldforschung, NStZ 1994, 10 ff, 164 ff; Wittich, Görgen, Kreuzer „Wenn zwei das gleiche berichten“, 1998; Kreuzer, Görgen Gießener Delinquenzbefragungen I, II , in: Kreuzer et al. (Hrsg.) Ehrengabe für Anne-Eva Brauneck, 1999, S. 101 ff., 117 ff.

Vergleichende Online-Delinquenzbefragung Gießen-Madison 2003

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quenzbefragung online mit einem deutlich reduzierten Erhebungsinstrument bei allen über E-Mail zentral erreichbaren Studierenden aller Semester und Studienfächer der Gießener Universität durchgeführt worden. 15 – 20 % der so Erreichten hatten teilgenommen. Eine zweite Online-Befragung richtete sich im April 2003 an alle über E-Mail zentral in Gießen und Madison erreichbaren Studierenden aller Semester der Rechtswissenschaft. Die Teilnahme lag in Madison bei ca. 10–15 %, in Gießen bei ca. 20 %. OnlineBefragungen verzeichnen allgemein geringere Teilnahme als Erhebungen, bei denen Fragebögen angekündigt und direkt ausgehändigt sowie schriftlich ausgefüllt werden. Das dürfte weniger auf Sicherheitsbedenken zurückgehen, eher auf ein Übermaß an E-Mail-Aufforderungen. Angesichts kleiner Stichproben ist eine Verallgemeinerbarkeit der Befunde für Studierende nur eingeschränkt möglich. Zudem ist bei dem Vergleich Gießen/Madison der etwas höhere Altersschnitt in der Stichprobe von Madison zu bedenken. Andererseits hatten die Gießener Jura-Studierenden durchschnittlich bereits ein halbes Jahr länger studiert. Diese Unterschiede beruhen darauf, dass in Madison das Studium öfter nach vorangegangener Berufsausübung begonnen wird und kürzer ist als in Deutschland. Auch sind die Studierenden in Madison häufiger mittel- oder großstädtischer Herkunft als die Gießener. Diese Online-Befragungen bieten einen weiteren Ansatz, technische Neuerungen für die Dunkelfeldforschung nutzbar zu machen. Schon länger sind Telefonbefragungen eingeführt. Jeder methodische Zugang birgt eigene Chancen, Grenzen, Fehlerquellen und interpretatorische Tücken. Neue Wege ging die Online-Befragung auch durch ihre komparative Ausrichtung auf Rechtsstudierende zweier unterschiedlicher, sich indes in vielem ähnelnder Staaten, Gesellschaften und Ausbildungssysteme. Bislang waren von Gießen aus innerdeutsche Vergleiche angestellt worden, am intensivsten durch die vergleichende Delinquenzbefragung nach der deutschen Wiedervereinigung bei allen Studienanfängern der Universitäten Gießen, Jena und Potsdam. 4 Nunmehr wurden die Landesgrenzen überschritten. Dass dabei nur Rechtsstudierende einbezogen wurden, hat Vor- und Nachteile. Für Kulturen oder auch nur junge Menschen gleichen Alters repräsentative Aussagen lassen sich so nicht gewinnen. Andererseits vermeiden solche Befragungen bei nach Alter, Berufs- und Lebensplanung sowie Bildung nahezu homogenen Populationen viele methodische Probleme repräsentativer Erhebungen, die sich vor allem aus ungleichen Frageverständnissen und sozialen Kontexten ergeben. International vergleichende Delinquenzbefragungen („self reported delinquency“) sind ohnehin rar und leiden unter „Kinderkrankheiten“. Nach einem Expertentreffen gab Malcom Klein 1989 einen ersten Grundlagenbericht, dem einige vergleichende Befragungen bei Schülern unterschiedlicher 4

Kreuzer, Görgen et al., aaO., 1991.

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Arthur Kreuzer

Schularten und Altersstufen mehrerer amerikanischer und europäischer Länder folgten. 5 Die Fehlerquellen dieser Schülererhebungen sind gerade wegen inhomogener Vergleichsgruppen erheblich. Eine weitere international vergleichende Delinquenzbefragung hat jüngst Dünkel anhand des vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen entwickelten Erhebungsinstruments bei Schülern in Schulen Mecklenburg-Vorpommerns und der baltischen Länder durchgeführt. 6 Fast experimentell anmutende kleinere Studien wie die hier angesprochenen können in diesem Entwicklungsstadium deswegen wertvolle Beiträge leisten.

III. Ausgewählte Ergebnisse zur Delinquenz Beispielhaft werden Grobbefunde zur Delinquenz im Langzeitvergleich der Gießener Erstsemesterbefragungen dargelegt, sodann Befunde im Querschnitt dreier unterschiedlicher jüngerer Befragungen. Tabelle 1 bereitet die Langzeitbefunde zu einzelnen ausgewählten Formen der Delinquenz nach jemaligem Auftreten bei befragten Männern und Frauen auf, anschließend Befunde zu Verhaltensweisen im Zusammenhang mit Alkohol und Drogen. Bei der Delinquenz zeichnet sich quantitativ kein Trend ab. Tabelle 2 gibt entsprechende Befunde aus den drei neuen Delinquenzbefragungen unterschiedlichen methodischen Zuschnitts wider. Schon hier sind große Übereinstimmungen bemerkenswert, sowohl im Gießen-Madison-Vergleich als auch im Vergleich von claas-room- und online-Befragung. Das stützt ansatzweise die kriminalsoziologische These von der „Normalität“ leichterer Jugenddelinquenz, ebenso wie die Verlässlichkeit der unterschiedlichen Erhebungsmethoden. Lediglich beim Fahrgeldhinterziehen sind die Studierenden aus Madison auffällig geringer vertreten; das dürfte vornehmlich auf geringeren Möglichkeiten zu solchem Verhalten dort wegen größerer technischer Kontrolle beruhen. In den Befragungen werden jeweils Delinquenzbelastungen gemessen und verglichen. Sie setzen sich aus Häufigkeit und Schwere der erfragten Delikte zusammen. Die Schwere wird nach einem im Team-Rating gewonnenen Gewichtungspunkt zwischen eins und zehn gemessen. Gesamtbelastungen ergeben für beide Geschlechter Verteilungskurven, die gleichfalls einer kriminalsoziologischen Erkenntnis entsprechen, wonach viele Weniges und Trivialeres tun, wenige Viel und Ernsteres, Schwereres, wonach außerdem 5 Klein (ed.) Cross-national-research in self-reported Crime and Delinquency, 1989; Junger-Tas et al. (eds.) Delinquent behavior among young people in the Western world, 1994. 6 Dünkel, Drinkhahn Youth violence: new patterns and local responses – Experiences in East and West, 2003.

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junge Männer deutlich schwerer belastet sind als junge Frauen. Vergleicht man die hier nicht darstellbaren Verteilungskurven von Befragten in Gießen und Madison, so zeigt sich eine sehr ähnliche Verteilung bei beiden Geschlechtern. Tabelle 3 referiert für Männer der drei neuen Befragungen die Häufigkeiten und Arten polizeilicher Auffälligkeiten wegen Straftaten. Auswertungen der Langzeitbefunde ergeben zum Verhältnis von Dunkel- und Hellfeld, dass etwa Delikte wie Ladendiebstahl oder Erwerb/Besitz illegaler Drogen nach den Befragungsdaten eine tatsächliche Aufklärung von höchstens einem Prozent aufweisen, während die kriminalstatistisch ausgewiesenen Aufklärungsquoten fast 100 % betragen („Aufklärungsparadox“ insbesondere bei proaktiver Ermittlungstätigkeit). Geringere Stichprobengrößen der jüngsten Befragungen bedingen bei den Arten der Auffälligkeiten zufällige Schwankungen. Die Größenordnungen der Gesamtauffälligkeiten sind aber ähnlich denen der vorangegangenen Befragungen und etwas niedriger als in der Gesamtbevölkerung; das dürfte mit geringerer Delinquenz, aber auch mit besseren Strategien gegenüber polizeilicher Verfolgung in dieser gehobenen Bildungsschicht zu erklären sein. Insgesamt zeigt sich aus allen Befragungen – übereinstimmend auch in dem Gießen-Madison-Vergleich –, dass Polizeiauffälligkeit primär funktional mit Häufigkeit und Schwere tatsächlicher (berichteter) Delinquenz zu tun hat. Junge Frauen sind nur etwa halb so oft wie Männer polizeiauffällig. Die Palette berichteter Auffälligkeiten zeigt, dass ein Großteil mit Strafenverkehrssachen zusammenhängt und dass jeweils etwas differierende strafrechtliche Erfassungen und polizeiliche Strategien in Hessen und Wisconsin bestehen.

IV. Suchtmittel und Einstellungen zur Drogenpolitik Breiten Raum nehmen von Anbeginn in den Gießener Studien Fragen zur Verbreitung des Suchtmittelumgangs, zu seinen Zusammenhängen mit Sozialisation und Delinquenz sowie zu Einstellungen gegenüber der Drogenprohibition ein. Wenige ausgewählte Daten in der Zeitreihe der Tabelle 1 zum Alkoholumgang zeigen langfristige Trends. Sie decken sich überwiegend mit denen groß angelegter epidemiologischer Studien der Bundesrepublik für die altersgleiche Bevölkerung aller Bildungsschichten. Nur andeutungsweise gab es nach den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine rückläufige Tendenz, die seit etwa 1990 in einen Wiederanstieg umschlug. Viel deutlicher ist diese Entwicklung bei dem Umgang mit illegalen Drogen. Er bedeutet bei Studierenden fast ausschließlich Umgang mit Cannabis. Fast alle jungen Leute geraten heute in eine Versuchungssituation; sie werden mit Angeboten zum Cannabiskonsum konfrontiert. Immer mehr – nun schon die Hälfte

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Arthur Kreuzer

der männlichen, über ein Drittel der weiblichen Befragten – haben diese Droge bereits probiert. Entsprechend ist die Gruppe derer, die aktuell Drogenkonsum angeben. Tabelle 2 ergibt noch deutlich höhere Werte für Drogen- (ebenfalls im Sinne von Cannabis-) Erfahrung der Vergleichsgruppe in Madison und bestätigt damit Befunde epidemiologischer Forschung zur Drogenverbreitung in den USA . 7 Gleiches gilt für Angaben zum Fahren unter Drogeneinfluss. Insoweit sind diese Befunde wiederum einzig, da keine entsprechenden Werte aus der sonstigen Dunkelfeldforschung mit Selbstbericht-Befragungen in einer von der Teilnahme am Straßenverkehr unabhängig gewählten Stichprobe vorliegen. Die Daten zum Fahren unter Alkoholeinfluss liegen freilich erheblich höher. Parallel zum wachsenden Drogenumgang hat sich auch eine freizügigere Einstellung zur Drogenprohibition entwickelt. Während die Gießener Befragungen in den 70er und 80er Jahren eine polarisierte Haltung ergaben – etwa ein Drittel befürwortete oder lehnte eine strafende Politik gegenüber Cannabisumgang ab –, zeichnet sich jetzt nahezu geschlechtergleich eine Mehrheit ab, die einer kontrollierten Abgabe, wenn nicht einer Freigabe, das Wort redet. Noch stärker trifft das für die in Madison befragten Männer zu (vgl. Tabelle 4).

V. Aspekte des Opferwerdens Soweit ersichtlich bieten die Gießener Delinquenzbefragungen als einzige in der Dunkelfeldforschung Langzeit-Daten zu Opfererfahrungen im Bereich der Sexualdelinquenz. Tabelle 5 zeigt die Ergebnisse der jüngsten Befragungen. Erwartungsgemäß berichten junge Frauen weitaus häufiger, Opfer sexueller Nötigung oder von versuchten und vollendeten Vergewaltigungen geworden zu sein. Bemerkenswert sind die hier höheren Verweigerungen von Angaben durch männliche Befragte in der claas-room-Befragungssituation. Vermutlich handelt es sich um einen der seltenen Bereiche, in denen Antworten bei enger Sitzweise als zu peinlich empfunden werden. Die auffällig höheren Angaben zu sexueller Gewalterfahrung der Frauen in Madison könnten mit entsprechend riskanteren Wohnsituationen in „dormitories“ der „colleges“ zu tun haben; auch ist ein weiteres Definitionsverständnis wegen dort größerer Skandalisierung des Phänomens zu vermuten. Die Daten müssen allerdings in größeren Stichproben überprüft werden. Im Langzeitvergleich sind die von deutschen Rechtsstudentinnen berichteten Erfahrungen sexueller Gewalt keinesfalls steigend, tendenziell eher 7 Vgl. z. B. Kreuzer, in: ders. (Hrsg.) Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts,1998, S. 89.

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rückläufig. 8 Zu berücksichtigen ist dabei, dass mit gewachsenem Problembewusstsein die Bereitschaft zu entsprechenden Angaben gleichfalls gewachsen sein dürfte. Der Befund nicht steigender oder sogar rückläufiger berichteter sexueller Gewalt dürfte verallgemeinerbar jedenfalls für die höhere Bildungsschicht sein. Er ergänzt eine kriminalstatistisch auszumachende Rückläufigkeit amtlich erfasster schwerer sexueller Gewalt. Somit kontrastiert er zu gegenläufigen Vorstellungen in Öffentlichkeit und Kriminalpolitik. Ein tatsächlicher Rückgang ließe sich mit größerer öffentlicher Diskussion, Problembewusstsein, gewachsener Selbständigkeit und Abwehrbereitschaft sowie verbesserten Coping-Strategien junger Frauen erklären lassen. Ein gegenläufiger Eindruck in der Öffentlichkeit dürfte mit eben diesem Problembewusstsein und mit massenmedialer Verstärkerwirkung, namentlich der forcierten Berichterstattung angesichts spektakulärer Einzelfälle, zu tun haben. Erst in jüngeren Gießener Befragungen wurde die Thematik des „Stalking“ berührt. Da es hierzu keine Befunde aus inländischer Dunkelfeldforschung gibt, wird Neuland betreten. In vielen westlichen Ländern sind Anti-Stalking-Strafgesetze geschaffen worden. Sie leiden an zu großer Unbestimmtheit. Hierzulande gibt es strafrechtlichen Schutz fragmentarisch durch Straftatbestände wie Hausfriedensbruch, Beleidigung, Körperverletzung, Nötigung, Bedrohung. Die Palette des Stalking ist weit, vielleicht zu weit, um mit hinreichender Präzision relevantes Verhalten objektiv und vor allem nach dem Tätervorsatz in einem Straftatbestand erfassen zu können. 9 In den Befragungen geht es um erste Eindrücke von der Relevanz solchen Verhaltens. Die entsprechende Frage lautete: „Hat Sie schon mal jemand anhaltend verfolgt, kontrolliert, belästigt, so dass Sie sich nachhaltig bedrängt, in Ihrer Freiheit eingeengt und verängstigt gefühlt haben (z. B. durch nächtliche Telefonate, Hinterherlaufen, Ausspähen von Treffpunkten u. ä., sogenanntes Stalking)?“ Die Daten der Tabelle 5 zeigen, dass solche Erfahrungen erwartungsgemäß mehr von Frauen berichtet werden, in nicht zu vernachlässigender Größenordnung jedoch auch von jungen Männern.

8 Kreuzer in: Triffterer, v. Zezschwitz (Hrsg.) FS für Walter Mallmann, 1978, S. 129 ff, 148; ders., Görgen et al. a.a.O, 1993, S. 184. 9 Vgl. z. B. Bettermann Stalking – Ein Phänomen ohne klare Grenzen, KrimJ 2003, 267 ff; Davis Stalking – perspectives on victims and perpetrators, 2002; Gropp, S. Stalking, NK 2002, 112 ff; Löbmann Stalking – Ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand, MschrKrim 2002, 25 ff; Meyer Strafbarkeit und Strafwürdigkeit von „Stalking“ im deutschen Recht, ZStW 2003, 249 ff. Neuestens aber Entwurf des Landes Hessen „Stalking-Bekämpfungsgesetz“: www.hmdj.justiz.hessen.de.

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Arthur Kreuzer

VI. Einstellungen zur Todesstrafe Die Gießener Delinquenzbefragungen, auch die neue komparative Online-Befragung Gießen/Madison, untersuchen von Anbeginn Methodenfragen in der Messung von Einstellungen zur Todesstrafe und Veränderungen dieser Einstellungen im Zusammenhang mit aktuellen relevanten Ereignissen. Bei allen Umfragedaten sind nämlich methodische Probleme zu berücksichtigen. Der Vergleich von Befragungen der Meinungsforschungsinstitute Allensbach und Emnid in Deutschland zeigt, wie auch die Gießener Universitätsbefragungen nachweisen, dass sich mehr Befragte für die Todesstrafe entscheiden, wenn die Fragestellung suggeriert, die Strafe lasse sich auf schwerste und womöglich sicher nachweisbare Fälle beschränken. So konnten die eigenen Erhebungen bei Studierenden – auch die jetzt vergleichenden – aufzeigen, dass sich in der Mittelgruppe Unentschiedener mehr solcher Befragter verbergen, die in Ausnahmefällen oder bei spektakulären Kriminalitätsereignissen – Sexualmord an Kindern, Selbstmordattentate, Terrorismus, in der näheren Umgebung aufgetretene oder überregional Aufsehen erregende Schwerstkriminalität – zur Todesstrafe neigen.10 Tabelle 6 gibt eine Zeitreihe über Einstellungen zur Todesstrafe aus den bisherigen schriftlichen anonymen Befragungen bei Studienanfängern der Rechtswissenschaften seit 1976. Bemerkenswert sind der allmähliche Rückgang entschiedener Todesstrafablehnung, die Zunahme Unentschiedener oder sich auf Ausnahmen für besondere Fälle Berufender, sowie ein inzwischen entstandener Abstand zwischen den Geschlechtern. Tabelle 7 vergleicht die Ergebnisse zu Todesstrafeinstellungen aus den drei neuen Befragungen. Bezogen auf die Frage zur Todesstrafe verstärkt eine fast identische Meinungslage bei den meist im Studium schon Fortgeschrittenen in Gießen und Madison die Annahme, akademisch Gebildete überprüften ihre Einstellung rational. Die Einstellung in der MadisonStichprobe ist deutlich ablehnender zur Todesstrafe als die der amerikanischen Normalbevölkerung – auch in höheren Bildungsschichten. Darin dürfte sich zweierlei auswirken: zum einen die unter Rechtsstudierenden aufgrund von akademischer Auseinandersetzung skeptischer gewordene Grundhaltung, zum anderen die in Wisconsin vorherrschende liberalere Haltung; so verzichtet dieser Staat auf die Todesstrafe. Außerdem hat die Innocence-Arbeitsgruppe an der Law School, ebenso wie diejenige in Chicago, spektakuläre Fälle von Fehlurteilen bei der Verhängung der Höchststrafe festgestellt. Der Einfluss des Studiums mit seinen rationaleren und kritischeren Ansätzen der Meinungsbildung dürfte ferner erklären, warum die Todesstrafgegnerschaft unter juristischen Studienanfängern noch deut10 Kreuzer Grundgesetz, Todesstrafe und lebenslange Freiheitsstrafe – Verfassungsrechtliche Vorgaben und Einstellungswandel, Kriminalistik 1979, 422 ff; ders. Aktuelle Aspekte der Todesstrafe, in: Triffterer (Hrsg.) Gedenkschrift für Theo Vogler, 2004 (im Druck).

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lich weniger ausgeprägt, emotionalen Einflüssen stärker zugänglich und in den letzten Jahren etwas zurückgegangen ist, wie die Gießener Daten belegen. Die Kontrollfrage, die den Befragten eine Konkretisierung möglicher Todesstrafanwendung auf jeweils für subjektiv am schwersten eingeschätzte Delikte abforderte, belegt, dass bei gedachter drastisch eingeschränkter Anwendung die Todesstrafe etwas stärker gebilligt wird. Wer auch hier ablehnend entscheidet, ist ein stabiler Todesstrafgegner. Bedeutsam ist ein weiterer Befund: Lediglich 6 % der Rechtsstudierenden in Madison und 10 % derer in Gießen meinten, „dass Justizirrtümer (Fehlurteile) im Hinblick auf die Todesstrafe sicher vermieden werden können“. Unter diesen wenigen wurde tendenziell erwartungsgemäß die Todesstrafe etwas häufiger befürwortet. Dieser geringe Anteil ist beruhigend. Gerade künftige Juristen sollten nämlich um die grundsätzliche Fehlsamkeit menschlichen Erkennens, Entscheidens und Richtens wissen. Hingegen hatte eine anonyme Befragung bei Staatsanwälten in New York ergeben, dass 70 % die Todesstrafe befürworteten und 50 % meinten, es bestehe kein Risiko der Hinrichtung Unschuldiger.11 Wer das Wissen um mögliche Fehlurteile hat und dennoch diese irreversible Strafe billigt, muss die Hinrichtung Unschuldiger – sarkastisch ausgedrückt – als „Kollateralschäden“ des Strafens hinnehmen. Insgesamt zeigt die Auswertung dieser und anderer Themenbereiche der Online-Befragung, dass die Stichprobenselektion und die geringeren Teilnahmeraten die Ergebnisse nicht erheblich schlagseitig beeinflussen. Online-Delinquenzbefragungen sind daher zumindest in dieser Population ein sehr preisgünstiges, schnelles, ohne aufwendige Datenverarbeitung mögliches, insgesamt noch als verlässlich einzuschätzendes Erhebungsinstrument; es muss allerdings – wie in Gießen und Madison geschehen – zuvor eingehend technisch und datenschutzrechtlich abgesichert sein; es erlaubt außerdem nur kleinere Fragebögen, und es erfordert wegen geringer Beteiligung erheblich größere Stichproben. Da auch die technischen Voraussetzungen durch eine Erreichbarkeit aller Studierenden über dieses Medium gegeben sein müssen, planen wir, unsere nächste vergleichende Delinquenzbefragung in den Städten Gießen, Izmir (Türkei) und Madison in größeren Stichproben wieder als claas-room-Befragung mit schriftlichen Fragebögen durchzuführen.

11 Callahan et al. Accomodating death penalty legislation: Personal and professional views of assistant district attorneys toward capital punishment, American Journal of Criminal Justice 2000, 15 ff.

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92

19

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8

8

irgendein Diebstahl

Sachbeschädigung

Schlägereibeteiligung

schon betrunken

schon mit 13 betrunken

in den letzten 2 Monaten betrunken

Drogenangebot erhalten

Drogen genommen

Drogenkonsum in den letzten 2 Monaten

Drogenabgabe

7

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86–90 (N=216)

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91–95 (N=639)

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96–00 (N=347)

18

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2001–03 (N=301)

4

9

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23

9

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15

*

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76–80 (N=240)

81–85 (N=531)

76–80 (N=442)

Ladendiebstahl

Art des Verhaltens

Frauen

Männer

3

4

23

50

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11

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19

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*

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81–85 (N=431)

2

5

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6

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79

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86–90 (N=209)

4

6

23

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22

5

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19

24

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35

91–95 (N=546)

7

6

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31

5

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96–00 (N=343)

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8

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13

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2001–03 (N=447)

Tabelle 1: Lifetime-Prävalenz ausgewählter delinquenter Verhaltensweisen: Zeitreihe Gießener Delinquenzbefragungen 1976 – 2003: Studienanfänger und -anfängerinnen der Rechtswissenschaften (Angaben in Prozent, gerundet)

548 Arthur Kreuzer

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Vergleichende Online-Delinquenzbefragung Gießen-Madison 2003

Tabelle 2: Grobbefunde zur Delinquenz aus drei zeitgleichen Befragungen bei Studienanfängern und -anfängerinnen der Rechtswissenschaften (Angaben in Prozent, gerundet) Fragebogenerhebungen 2002/03 u. 2003/04 bei Studienanfängern der Rechtswissenschaften

OnlineBefragung 2001/02 bei Studierenden verschiedener Fakultäten

Online-Befragung 2003 Madison – Giessen bei Studierenden der Rechtswissenschaften

Männer Giessen (N = 214)

Männer Giessen (N = 354)

Männer Giessen (N = 94)

Männer Madison (N = 47)

Durchschnittsalter 20,8 Jahre

Durchschnittsalter 25,4 Jahre

Durchschnittsalter 23,1 Jahre

Durchschnittsalter 26,3 Jahre

Fahrgeld hinterzogen

77

74

75

23

Fahren ohne Führerschein

38

28

31

34

Irgendeinen Diebstahl begangen

72

71

67

60

Ladendiebstahl

34

35

30

34

Sachbeschädigung

55

33

36

26

Schlägereibeteiligung

42

20

17

23

Überhaupt betrunken gewesen

89

87

82

94

Schon mit 13 betrunken gewesen

12

5

5

4

In den letzten 12 Monaten betrunken gewesen

76

67

62

81

Unter Alkoholeinfluss Kfz gefahren

48

55

52

70

Drogen genommen

54

48

40

62

Drogenkonsum letzte 12 Monate

29

24

19

28

Unter Drogeneinfluss Kfz gefahren

15

14

7

28

Verhalten

550 Verhalten

Arthur Kreuzer Frauen Giessen (N = 324)

Frauen Giessen (N = 480)

Frauen Giessen (N = 108)

Frauen Madison (N = 59)

Durchschnittsalter 20,1 Jahre

Durchschnittsalter 24,4 Jahre

Durchschnittsalter 22,6 Jahre

Durchschnittsalter 26,5 Jahre

Fahrgeld hinterzogen

74

75

77

20

Fahren ohne Führerschein

38

25

37

24

Irgendeinen Diebstahl begangen

64

68

55

70

Ladendiebstahl

33

30

26

22

Sachbeschädigung

20

11

7

10

Schlägereibeteiligung

14

5

6

7

Überhaupt betrunken gewesen

78

74

76

95

8

3

5

5

In den letzten 12 Monaten betrunken gewesen

60

50

58

75

Unter Alkoholeinfluss Kfz gefahren

29

37

33

53

Drogen genommen

37

38

29

59

Drogenkonsum letzte 12 Monate

17

16

11

17

7

6

3

15

Schon mit 13 betrunken gewesen

Unter Drogeneinfluss Kfz gefahren

551

Vergleichende Online-Delinquenzbefragung Gießen-Madison 2003

Tabelle 3: Vergleich von drei Delinquenzbefragungen: Polizeiauffälligkeit der Männer Fragebogenerhebungen 2002/03 u. 2003/04 bei Studienanfängern der Rechtswissenschaften

OnlineBefragung 2001/02 bei Studierenden verschiedener Fakultäten

Online-Befragung 2003 Madison – Giessen bei Studierenden der Rechtswissenschaften

Giessen (N = 214)

Giessen (N = 354)

Giessen (N = 94)

Madison (N = 47)

15.9

18.6

10.6

19.1

% der Taten an der Gesamtstichprobe

% der Taten an der Gesamtstichprobe

% der Taten an der Gesamtstichprobe

% der Taten an der Gesamtstichprobe

Fahren ohne Führerschein

0.5

1.1

1.1



Fahren unter Alkohleinfluss

0.5

2.0



4.3

Fahren unter Drogeneinfluss

0.9







Flucht nach Verkehrsunfall



2.0





Sonstige Verkehrsstraftaten

3.7

3.1

1.1

6.4

Entwendung eines Fahrzeugs, eines Fahrrades etc.

0.9







Ladendiebstahl

2.8

2.8



2.1

Sonstiger Diebstahl

0.5

1.1



6.4

Drogensachen

13.6

1.7

4.3

2.1

Widerstand gegen staatliche Organe

1.4

1.1

1.1



Schlägerei/Körperverletzung

1.9

0.8

1.1



Sachbeschädigung/ Körperverletzung

3.7

1.4





Sex. Verbrechen









Betrug









% der Männer, die wegen einer selbst begangenen Straftat vernommen wurden Vernehmung wegen …

552

Arthur Kreuzer

Fragebogenerhebungen 2002/03 u. 2003/04 bei Studienanfängern der Rechtswissenschaften

OnlineBefragung 2001/02 bei Studierenden verschiedener Fakultäten

Online-Befragung 2003 Madison – Giessen bei Studierenden der Rechtswissenschaften

Giessen (N = 214)

Giessen (N = 354)

Giessen (N = 94)

Madison (N = 47)



0.6



2.1

Wehrstraftaten

0.9

0.3





Sonstiges

5.6

1.4

3.2

6.4

Fahrgeldhinterziehung

– Computerbetrug

– gefälschte Identifikationsnummer

– Bruch – Belügen öffenteines lichen PolizeiFriebeamten dens, Vermummung während einer Demonstration – Ausspio- – Öffentnieren liches eines UrinieMilitärren gebäudes

553

Vergleichende Online-Delinquenzbefragung Gießen-Madison 2003

Tabelle 4: Vergleich von drei Delinquenzbefragungen: Befürwortete rechtliche Regelung des Umgangs mit Cannabis (Angaben in Prozent, gerundet) Fragebogenerhebungen 2002/03 u. 2003/04 bei Studienanfängern der Rechtswissenschaften

Online-Befragung 2001/02 bei Studierenden verschiedener Fakultäten

Online-Befragung 2003 Madison – Giessen bei Studierenden der Rechtswissenschaften

Männer Giessen (N = 214)

Männer Giessen (N = 354)

Männer Giessen (N = 94)

Männer Madison (N = 47)

Durchschnittsalter 20,8 Jahre

Durchschnittsalter 25,4 Jahre

Durchschnittsalter 23,1 Jahre

Durchschnittsalter 26,3 Jahre

Vollständige Freigabe

8

11

6

28

Kontrollierte Abgabe

48

43

35

32

Weitgehende Tolerierung, Straffreiheit bei Besitz geringer Mengen

29

29

34

26

Strikte Bestrafung, nur ausnahmsweise Straffreiheit

17

4

19

4

Weiß nicht, kommt drauf an

3

8

4

11

Keine Angabe

2

5

1



Einstellung

554

Arthur Kreuzer

Frauen Giessen (N = 324)

Frauen Giessen (N = 480)

Frauen Giessen (N = 108)

Frauen Madison (N = 59)

Durchschnittsalter 20,1 Jahre

Durchschnittsalter 24,4 Jahre

Durchschnittsalter 22,6 Jahre

Durchschnittsalter 26,5 Jahre

Vollständige Freigabe

4

7

4

17

Kontrollierte Abgabe

45

44

50

32

Weitgehende Tolerierung, Straffreiheit bei Besitz geringer Mengen

27

29

24

15

Strikte Bestrafung, nur ausnahmsweise Straffreiheit

21

4

14

10

Weiß nicht, kommt drauf an

10

7

7

25

1

10

1



Einstellung

Keine Angabe

555

Vergleichende Online-Delinquenzbefragung Gießen-Madison 2003

Tabelle 5: Vergleich von drei Delinquenzbefragungen: Opfererfahrungen (Angaben in Prozent, gerundet)

Art der Opfererfahrung

Fragebogenerhebungen 2002/03 u. 2003/04 bei Studienanfängern der Rechtswissenschaften

OnlineBefragung 2001/02 bei Studierenden verschiedener Fakultäten

Online-Befragung 2003 Madison – Giessen bei Studierenden der Rechtswissenschaften

Männer Giessen (N = 214)

Männer Giessen (N = 354)

Männer Giessen (N = 94)

Männer Madison (N = 47)

Durchschnittsalter 20,8 Jahre

Durchschnittsalter 25,4 Jahre

Durchschnittsalter 23,1 Jahre

Durchschnittsalter 26,3 Jahre

95 1 1 4

92 5 2 1

98 2 – –

96 4 – –

96 – 1 4

97 1 1 1

100 – – –

96 2 2 –

81 15 5

82 15 3

87 13 –

92 9 –

Zum Dulden oder zur Vornahme sexueller Handlungen gezwungen worden Nein Ja, Versuch Ja, vollendete Tat Keine Angabe Opfer einer Vergewaltigung geworden Nein Ja, Versuch Ja, vollendete Tat Keine Angabe Opfer anhaltender Verfolgung, Belästigung o. ä. (Stalking) geworden Nein Ja Keine Angabe

556

Art der Opfererfahrung

Arthur Kreuzer

Frauen Giessen (N = 324)

Frauen Giessen (N = 480)

Frauen Giessen (N = 108)

Frauen Madison (N = 59)

Durchschnittsalter 20,1 Jahre

Durchschnittsalter 24,4 Jahre

Durchschnittsalter 22,6 Jahre

Durchschnittsalter 26,5 Jahre

83 12 5 1

82 13 4 1

87 5 8 –

68 19 12 2

93 5 2 1

90 5 3 2

97 2 1 –

78 7 15 –

71 29 1

68 30 2

74 26 –

78 22 –

Zum Dulden oder zur Vornahme sexueller Handlungen gezwungen worden Nein Ja, Versuch Ja, vollendete Tat Keine Angabe Opfer einer Vergewaltigung geworden Nein Ja, Versuch Ja, vollendete Tat Keine Angabe Opfer anhaltender Verfolgung, Belästigung o. ä. (Stalking) geworden Nein Ja Keine Angabe

557

Vergleichende Online-Delinquenzbefragung Gießen-Madison 2003

Tabelle 6: Gießener Delinquenzbefragungen WS 1976/77 bis WS 2003/04: Todesstrafeinstellungen bei Erstsemestern der Rechtswissenschaften

Tabelle 7: Vergleich von drei Delinquenzbefragungen: Todesstrafeinstellungen (Angaben in Prozent, gerundet)

Einstellung zur Todesstrafe

Fragebogenerhebungen 2002/03 u. 2003/04 Bei Studienanfängern der Rechtswissenschaften

OnlineBefragung 2001/02 bei Studierenden verschiedener Fakultäten

Online-Befragung 2003 Madison – Giessen bei Studierenden der Rechtswissenschaften

Männer Giessen (N = 214)

Männer Giessen (N = 354)

Männer Giessen (N = 94)

Männer Madison (N = 47)

Durchschnittsalter 20,8 Jahre

Durchschnittsalter 25,4 Jahre

Durchschnittsalter 23,1 Jahre

Durchschnittsalter 26,3 Jahre

Entschieden dafür

17

5

12

17

Entschieden dagegen

42

66

70

51

Ich weiß nicht, kommt darauf an

42

29

18

32

558

Arthur Kreuzer Männer Giessen (N = 214)

Männer Giessen (N = 354)

Männer Giessen (N = 94)

Männer Madison (N = 47)

Durchschnittsalter 20,8 Jahre

Durchschnittsalter 25,4 Jahre

Durchschnittsalter 23,1 Jahre

Durchschnittsalter 26,3 Jahre

Ja

38

28*

17

22

Nein

42

21*

71

51

Kommt darauf an

20

51*

12

27

Frauen Giessen (N = 324)

Frauen Giessen (N = 480)

Frauen Giessen (N = 108)

Frauen Madison (N = 59)

Durchschnittsalter 20,1 Jahre

Durchschnittsalter 24,4 Jahre

Durchschnittsalter 22,6 Jahre

Durchschnittsalter 26,5 Jahre

9

5

6

5

Einstellung zur Todesstrafe „Kontrollfrage“: Ahndung des nach persönlicher Auffassung schwersten Verbrechens mit der Todesstrafe

Einstellung zur Todesstrafe Entschieden dafür Entschieden dagegen

41

59

58

68

Ich weiß nicht, kommt darauf an

50

36

36

27

Ja

30

30*

18

7

Nein

42

13*

59

66

Kommt darauf an

28

57*

23

28

„Kontrollfrage“: Ahndung des nach persönlicher Auffassung schwersten Verbrechens mit der Todesstrafe

* Die Antwortkategorien stimmen nicht voll mit denen der beiden anderen Befragungen überein, da die Frage nicht wie bei den anderen beiden Befragungen als offene Frage nach dem (einen) schwersten Verbrechen, sondern als geschlossene Frage mit Antwortvorgaben nach den fünf schwersten Verbrechen gestellt wurde. Für jede gegebene Antwort wurde auch gesondert nach der Todesstrafe gefragt. „Ja“ bedeutet hier, dass mindestens 1 mal „ja“ genannt wurde, „nein“ bedeutet, dass nur mit „nein“ geantwortet wurde, alle anderen (außer Befragte, die die Frage gar nicht beantwortet haben) werden in der Kategorie „kommt auf die Umstände an“ gezählt.

Rechtsstab und Ethnizität Vorüberlegungen zur Interkulturellen Öffnung der Verwaltung Rüdiger Lautmann

Inhaltsübersicht Seite

I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X.

Einwanderung nach Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . Staatsbürgerschaft (citizenship) . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Personal der Rechtsstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffnung der Verwaltung als innerstaatlicher Reflex globaler Vorgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europa besitzt eine verschüttete Tradition pluralisierten Rechts Monismus versus Pluralismus im Staatsdenken . . . . . . . . . Gefährdet der Pluralismus die Einheit des Rechts? . . . . . . . Ethnische Diversität und Rationalität des Entscheidens . . . . . Risiken und Chancen der interkulturellen Öffnung . . . . . . . Rechtskultur im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

560 561 564

. . . . . . .

567 569 569 571 574 576 578

. . . . . . .

„Die Behandlung von im Land lebenden Ausländern gehört in allen Völkern und zu allen Zeiten zu den rechtlich und moralisch schwierigsten Problemen des politischgesellschaftlichen Lebens, weil bei ihr die elementaren Erfahrungen der nationalkulturellen Zusammengehörigkeit der Volksgenossen und der Fremdheit der Ausländer mit dem Anspruch auf Achtung der Menschenwürde aller Menschen zusammenstoßen.“ 1 Der Jubilar benennt hier eine Herausforderung an Staat, Recht und Gesellschaft, ohne die Hemmnisse zu beschönigen, die einer glatten Lösung entgegenstehen. Solcher Realismus kennzeichnet das Geschäft der soziologischen Jurisprudenz und zumal die Arbeiten von Thomas Raiser, der sein Lehrbuch unter den Leitsatz gestellt hat: „eine Rechtssoziologie des liberalen und sozialen Rechtsstaats“. 2 Dieser Rechtsstaat sieht sich gegenwärtig geradezu existenziellen Herausforderungen ausgesetzt, die von außen kommen und im Inneren wirken. Die liberalen und sozialen Inhalte werden geschüttelt und geleert. An drei 1 2

T. Raiser Das lebende Recht. Rechtssoziologie in Deutschland, 3. Aufl. 1999, S. 332. Ebenda, S. 6, und so bereits von der ersten Auflage an.

560

Rüdiger Lautmann

Fronten vor allem kämpft der Rechtsstaat um sein Überleben: Sicherheit (vor terroristischen Angriffen), Arbeit und Beschäftigung (durch die Auslagerung der Produktionsstätten) und nationale Identität (wegen der Tendenz zur Globalisierung). In dem Dreieck von Politik, Wirtschaft und Kultur, worin sich die gesellschaftliche Integration herstellt, steht also jede Seite in Brand. Dieser Totalkonflikt macht den einen Angst, während andere ihn als riskante Chance begreifen. Freuen mag sich die Rechtssoziologie – sie findet ein Feld voller Fragen, für die sie kompetent ist.

I. Einwanderung nach Deutschland Die simple Koppelung zweier Wörter vermag die Gemüter zu erhitzen: Ist Deutschland eine Einwanderungs-Gesellschaft oder nicht? Wir erlebten hier in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschiedene Wellen, mit denen viele Neubewohner ins Land kamen: nach 1945 (durch die Vertreibungen aus dem mittelöstlichen Europa), seit den 1960ern (durch die Anwerbung von Gastarbeitern) und seit 1990 (Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion). Im Resultat hat keines der großen westlichen Länder im letzten Halbjahrhundert einen so hohen Anteil von Migranten aufgenommen. Thomas Raiser konstatiert (1999, S. 331): „Deutschland ist also in beträchtlichem Ausmaß ein Einwanderungsland geworden.“ Wie stellt sich das Recht zu dieser Entwicklung? Naturgemäß gibt es keine einheitliche Reaktion, gewiss aber die Möglichkeit, in der Summe der zahlreichen Rechtsreaktionen eine Tendenz auszumachen. Gefragt werden kann: Wirkt das Recht als Inklusion, also heißt es die Eingetroffenen willkommen und erleichtert ihren Weg? Oder wirkt es eher als Exklusion, zielt also auf eine ethnische Abgrenzung zwischen eingesessener und eingewanderter Bevölkerung? Eine rechtssoziologische Antwort gibt es zur Zeit nicht, und die Suche wäre auch müßig, weil ein geschwinder Wandel vonstatten geht. Rechtspolitisch allerdings hat bislang Exklusion den Ton angegeben. Die Rechtssoziologie darf als Seismograph sich ankündigender Entwicklungen gelten. Rückwärts gewandtes Denken ist wahrlich ihre Sache nicht. So widmet sie sich denn bereits seit etlichen Jahren den Konsequenzen der Globalisierung, deren Impulse vor allem von den Bereichen Politik und Ökonomie ausgehen. Ein wahres Gewitter an Begriffen geht politikwissenschaftlich auf die Idee des Nationalstaats nieder: als postnational, transnational, global, kosmopolitan und ähnlich wird das Trendziel beschrieben. Daneben wirken die inter- und supranationalen Tendenzen. Staatsbürgerschaft bewege sich kontinuierlich auf einen Weltbürgerstatus hin. 3

3

J. Habermas Faktizität und Geltung, 1992, S. 659 f.

Rechtsstab und Ethnizität

561

Wenn ich im Folgenden auf einen Aspekt der Rechtskultur eingehe – die ethnische Zusammensetzung des Rechtsstabes –, dann betrete ich ein Gebiet, welches nicht so sehr mit Ökonomie und Politik zu tun hat, die sonst in der aktuellen Rechtssoziologie untersucht werden. Die Frage, wie im Personal der Rechtsverwaltung auch die Immigranten vertreten sein sollen, betrifft nicht: x Die Entgrenzung von Staat oder Recht per Internationalisierung, Weltvergesellschaftung oder Transnationalisierung. 4 Viel diskutiert werden Vorgänge einer Transnationalisierung, wobei sich zwischen den Staaten neue Einheiten und Verfahrensweisen herausbilden. 5 Mein Thema hier ist anders geartet und betrifft gewissermaßen die Folgen der „Globalisierung in einem Lande“. x Die Durchsetzung von Menschenrechten in der innerdeutschen Rechtsordnung i.S. einer „Globalverfassung“. 6 x Die Durchsetzung eines bestimmten politischen Programms zur Zuwanderung. x Die Informalisierung des Verwaltungshandelns, wie sie im Zuge der Globalisierung von deren Staatstheoretikern 7 prognostiziert worden ist. Allerdings könnte sinnvoll gefragt werden, ob eine interkulturelle Öffnung nicht neue Maßstäbe in das Verwaltungshandeln importiert. Die verzweigten Debatten um „Nation“ und „Volk“ können bei einer so konkreten Frage wie der interkulturellen Öffnung des Rechtsstabes hintanstehen. Bekanntlich haben vor allem Deutsche die größten Probleme, sich als Nation oder Volk zu denken. Diese Hindernisse begründen sich zeithistorisch; sie belasten – durchaus legitim und jedenfalls real – den Auftritt unseres Landes in weltweiten Zusammenhängen. Die Integration von Zuwanderern rührt an das Gewissen. Zugleich sollten aber auch übereilte Schritte aus „schlechtem Gewissen“ unterbleiben; ihnen würde die solide gesellschaftliche Grundlage fehlen, und auch das Recht, „Vorbild“ für Andere zu sein, ist verwirkt.

II. Staatsbürgerschaft (citizenship) Zuwanderer und Einheimische zu kontrastieren bedeutet hier, ihren relativen Status nach Rechten und politischer Stellung zu besichtigen. Rechtssoziologisch gewinnt man damit einen unmittelbaren Einstieg in die MigraVgl. dazu: T. Bonacker ZRSoz 2003, 121–149; V. Gessner ZRSoz 2002, 277–305. Vgl. etwa die Beiträge von H. Kriesi, K. Eder und D. Rucht in A. Klein u. a., (Hrsg.), Globalisierung, Partizipation, Protest, 2001. 6 Vgl. dazu Bonacker aaO.; A. Fischer-Lescano ZRSoz 2003, 217. 7 Siehe dazu V. Gessner ZRSoz 2002, 298. 4 5

562

Rüdiger Lautmann

tionsproblematik und den Anschluss an eine laufende Debatte. Von den Fächergrenzen her gesehen gehörte das früher zur Politikwissenschaft; dementsprechend plagt sich die Soziologie in einer neuerdings anschwellenden Literatur mit Begriffspräzisierungen und Theoriezuordnungen – anstatt pragmatisch Bedingungen und Verläufe zu erkunden, mit denen Zuwanderer ihren Bürgerschaftsstatus verbessern. Das wieder vieldiskutierte Konzept der Staatsbürgerschaft (citizenship, eingeführt 1949 von Thomas H. Marshall 8) wird theoretisch vor allem interessant, nachdem ein Zuwanderer mit der Staatsangehörigkeit die Mitgliedschaft in einem Staat erreicht hat, ihm aber viele Teilhaberechte vorenthalten bleiben. Diese Rechte gehören drei Bereichen an – der politischen Souveränität, den bürgerlichen Freiheiten und der sozialen Teilhabe, einschließlich des Beschäftigungssektors. Marshall sieht hier ein politisches Programm, wonach sich eine moderne Gesellschaft in eine Gemeinschaft von Inkludierten wandele. Die aktuell werdende Frage lautet: Wann und wie wird den Zugewanderten (nachdem sie die Staatsangehörigkeit erlangt haben) das besondere soziale Teilhaberecht zugestanden, Mitglied im staatlichen Rechtsapparaten zu sein? In welchem Maße hält ein gesellschaftliches Subsystem ethnische Heterogenität aus? Der Bürgerschaftsstatus der Zuwanderer gerät dadurch in Bewegung, jedenfalls auf den ersten Blick. Der öffentliche Dienst hat immer schon als Ausgangspunkt für die Integration unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen gedient (Frauen, Behinderte, Randgruppen), die erzielten Effekte waren durchaus beachtlich. Allerdings darf es dann nicht bei Hilfspositionen bleiben, wie sie oft genannt werden: als spezieller Dienst für die migrantische Klientel bzw. in den vorwiegend von Ausländern bewohnten Stadtvierteln, als kompetente Dolmetscher zur Überwindung von Sprachbarrieren u. dgl. Vielmehr geht es um den „Härtetest“ dort, wo man lange geglaubt hat, der Zugang zum öffentlichen Dienst müsse Migranten prinzipiell verwehrt bleiben. Zu derartigen Organisationen zählen Polizei, Gerichte, Staatsanwaltschaft, Verfassungsschutz – kurz die Einrichtungen im Kernbereich der Inneren Sicherheit, gewissermaßen im „Allerheiligsten“ nationaler Identität. Wenn hier zunehmend Personen aus Zuwanderergruppen beschäftigt werden, wird deren Bürgerschaftsstatus generell erweitert (und nicht etwa bloß ein Beschäftigungsproblem gelöst). Der „türkisch“ aussehende Polizist oder der mit „russischem“ Akzent sprechende Vollzugsbeamte z. B. markieren neue und folgenreiche Symbolfiguren der deutschen Einwanderungsgesellschaft. Die aktive Beteiligung von Immigranten in den sicherheitsrelevanten Organisationen des Aufnahmelandes könnte einen Meilenstein im Fortgang der Staatsbürgerschaft setzen. Analog zur Politik des gender-mainstreaming kommt vielleicht der 8

Siehe: Bürgerrechte und soziale Klassen, 1992.

Rechtsstab und Ethnizität

563

Zeitpunkt, über geeignete Maßnahmen eines migration-mainstreaming nachzudenken. Der schöne (wenngleich deutungsoffene) Begriff Citizenship täuscht die Einfachheit der Lösung vor: Als müsse Politik sich nur einen Ruck geben, als liege es nur am guten Willen der Wahlberechtigten, als müssten Bürokratien nur flexibel sein – und schon bekämen alle, was ihnen gleichermaßen zusteht. Der Statuserwerb geschieht nicht voluntaristisch, sondern negotiatorisch (als Aushandlung). Eine wechselseitige Anerkennung der ethnokulturellen Milieus setzt eine Reihe grundlegender Umorientierungen voraus. Vieles bleibt hier zu klären. Wer wird als der generalisierte Andere gesehen, dessen Wertvorstellungen übernommen werden? Wie kommen Zuwanderungsgesetze bei ihren Adressaten an und verändern deren Lebensverhältnisse? Wie wirken sich die individuellen Anpassungshandlungen (von Migranten) auf die staatliche Willensbildung aus? Wie interveniert die öffentliche Meinung (Einstellungen in der Bevölkerung; Massenmedien mit ihren oftmals skandalisierenden Berichten) in den Aushandlungsprozess der differenten Populationen? Begrifflich ungeklärt ist, ob der mitgliedschaftliche Zugang zur staatlichen Verwaltung als ein politisches oder aber als ein soziales Recht einzuordnen ist. Als politisches Recht hätte es höhere Priorität, zumindest in zeitlicher Hinsicht. Da es in unserem Zusammenhang nicht um die Erwerbschancen geht, sondern mehr um die institutionelle Repräsentanz, ist von einem politischen Charakter auszugehen. Die politischen Rechte innerhalb der Citizenship gehen über die individuellen Freiheiten hinaus, aber nicht so weit wie die Wohlfahrtsrechte. Sowohl der zivile wie der soziale Teil des Bürgerschaftsstatus beruhen auf komplizierten Interaktionsverhältnissen; Änderungen sind hier schwerer anzustoßen. Der politische Teil von Bürgerschaft hingegen beschränkt sich auf das Verhältnis zwischen Individuum und Staat; die vergleichsweise einfache Struktur scheint diese Teilhaberechte für den geplanten Wandel zu prädestinieren. Citizenship muss als mehrseitiger Prozess konzipiert werden. Dann bleibt sie davor bewahrt, durch eine Top-down-Perspektive die Abhängigkeit der (Neu-) Bürger zu reproduzieren. Staatsbürgerschaft wird nicht (nur) gewährt, sondern (auch) genommen. Ohne dass sie begehrt und erworben wird, würde sie nicht zustande kommen bzw. leer laufen. Citizenship enthält nämlich neben den – am häufigsten diskutierten – Rechten auch etliche Pflichten. Auf der Ebene des Alltagsbewusstseins heißt es dann, die Migranten müssten die deutsche Sprache lernen, die hiesigen Wertvorstellungen übernehmen und was der Assimilationslasten noch mehr sind. Der Kopftuchstreit vermittelte davon einen Eindruck. Um den Aporien und Moralismen dieser Auseinandersetzungen auszuweichen, empfiehlt sich eine pragmatisch-interaktionistische Version des CitizenshipKonzepts. Beide Seiten müssen eingelebte Routinen aufgeben und sich auf

564

Rüdiger Lautmann

riskante Neuerungen einstellen – bei offenem Ausgang dieses makrosozialen Lernprozesses.

III. Das Personal der Rechtsstäbe Justiz, Polizei und andere Kontrollorganisationen rekrutieren ihr Personal wie selbstverständlich aus dem Kreise der eingesessen-deutschen BewerberInnen; nur in Ausnahmefällen erhalten Zugewanderte (auch: aus zweiter Generation mit deutscher Staatsangehörigkeit) eine Chance. Deren Anteil in den Sicherheitsbehörden beträgt weniger als ein Prozent. Selbst bezogen auf die Auszubildenden im gesamten öffentlichen Dienst beträgt der Anteil junger ausländischer Erwachsener nur 3 %. Zwar hat die Innenpolitik seit einiger Zeit dieses Integrations- und Ungleichheitsthema entdeckt, verharrt aber meist noch in der Abwartehaltung bloßer Appelle. Wenn die Rechtsstäbe für Immigranten zugänglich werden, dann geben sie eine etablierte Differenzlinie auf: Was bislang als „Kommunikationsproblem“ zwischen Behörden und Migranten-Klienten galt (und weiterhin ungelöst ist), wird nunmehr innerorganisatorisch auftreten. Der Rechtsbetrieb sperrt sich zunächst einmal: die Aufnahmevoraussetzungen sind formal und streng (auch jenseits der Staatsangehörigkeit). Bedenken hinsichtlich der rechtskulturellen Kompetenz werden leise angemeldet. An der Akzeptanz seitens der Arbeitskollegen vor Ort mangelt es (und auch daraus erklärt sich ein hoher Dropout-Anteil). Für den rechtssoziologischen Problemaufriss sind mindestens vier variable Dimensionen auseinander zu halten: Bevölkerung – Staat – Rechtsnomen – administrativer Stab. In einer einfachen Skizze stellen sich die Bezüge so dar: Abb. 1 Problemübersicht: die variablen Dimensionen analytisch

ethnisch

territorial

kulturell

organisatorisch

früher

ein Volk

ein Staat

ein Recht

ein Stab

heute

Einwanderungsbevölkerung

ein Staat

ein Recht

welcher Stab?

Das Recht, sein Anwendungsstab und der gesamte Staat gehen nicht ineinander auf, so viele begriffliche und empirische Bezüge zwischen ihnen auch bestehen mögen. Das positive Recht wird hier zunächst einmal unter die kulturellen Phänomene gerechnet. Unumstritten ist dies nicht, gerade in der Diskussion um die Staatsbürgerrechte. Einige Autoren verfahren wie hier (etwa Will Kymlicka und Rogers Brubaker). Hingegen meint Klaus Holz, 9 9

Staatsbürgerschaft, 2000, S. 15.

Rechtsstab und Ethnizität

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Recht und Kultur hätten zwar einiges miteinander zu tun, seien aber zu unterscheiden, um die „Verknüpfung rechtlicher und kultureller In- und Exklusionen“ analysieren zu können. Das Modell trennt die Ebenen Recht und Rechtsstab, obwohl einige das Recht mit dem staatlichen Durchsetzungsapparat ineinssetzen. Kritiker des präventiven Sicherheitsstaats wittern hier den allmächtigen Leviathan. Wenngleich die Nähe zwischen dem Regime des Rechts einerseits und dem Einfluss der Innen- und Justizbürokratie andererseits nicht zu leugnen ist, muss an deren Differenz festgehalten werden. In der Steuerung des Rechts verflechten sich Kräfte, die verschieden interessiert und organisiert sind, sodass es nicht zur Beute einer homogenen Staatsmacht wird. Zwischen Staat und Rechtsstab wird unterschieden, weil nicht alle Rechtsanwender in Behörden arbeiten, etwa Schlichter nicht (selbst wenn sie hauptberuflich Verwaltungs- oder Justizbeamte sind) und vor allem die Rechtsanwaltschaft nicht. Auch ist die Mitgliedschaft im Rechtsstab nicht an ein juristisches Staatsexamen geknüpft (Polizei, Rechtsbeistand etwa). Wer mit migrantischer Herkunft die hiesige Staatsangehörigkeit erworben hat, sieht sich gleichwohl vor besonderen Barrieren, auf eine Rechtsstabposition zu gelangen (außer wohl als Anwältin bzw. Anwalt). Sinnvollerweise sprechen wir hier über den Rechtsstab, auch wenn der Begriff etwas veraltet wirkt. Max Weber benutzt ihn eher selten, aber immerhin innerhalb einer definitorischen Bemerkung zum Rechtsbegriff, der sich konstituiert durch „ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen“.10 Eigentlich geht es in Webers Rechtssoziologie um den „Zwangsapparat“, der das Recht garantiert. Mit dem Begriff des Rechtsstabs wird nicht der Professionsaspekt beleuchtet, sondern der Umsetzungsaspekt – das Praktizieren von Rechtsnormen im Alltagshandeln der juristischen Berufe. (Nicht zu verwechseln mit der organisationstheoretischen Trennung von Stab und Linie.) Auf welcher Ebene bewegen sich die Widerstände gegen eine interkulturelle Öffnung der Rechtsstäbe? Ganz offensichtlich, aber völlig unausgesprochen, wird allenthalben befürchtet, die Innere Sicherheit werde beeinträchtigt – früher stand hierfür das Angst erregende Bild von der „Knochenerweichung“. Das Gewaltmonopol kann es nicht sein, zum einen weil es nicht angetastet wird, zum anderen weil es dem Staat zukommt und nicht einer bestimmten Volksgruppe in dessen Personal. Gleichwohl könnte die Vorstellung herrschen, es bestehe eine Art von homogener Einheit zwischen Staat, Volk und Recht. Wer ist „der Souverän“, wem haben die Bewohner eines Landes die Hoheit überlassen?

10

M. Weber Soziologische Grundbegriffe, § 6.

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Darüber wird seit Thomas Hobbes nachgedacht. Bis heute hält sich der prinzipielle Zweifel, die Menschen als von Natur aus gesellige und in staatliche Gemeinschaft strebende Wesen zu denken, die einander vertrauen; vielmehr existieren sie unter der Maxime des Überlebens in einer regellosen Umgebung. Die Unerträglichkeit dieses Naturzustands bringt die Menschen zu einem Herrschafts- und Unterwerfungsvertrag, worin sie auf ihren originären freien Willen verzichten und sich dem Willen eines Dritten unterordnen – hinfort der Staat. Die Übertragung aller Freiheit auf den Willen des Herrschers ist an den Zweck gebunden, dass der soziale Frieden einkehrt. Ein Kontrakt grundiert also die staatliche Herrschaft. Solche Gedanken, wie umstritten immer, haben bis heute ihre Kraft nicht eingebüßt. Dabei werden der „Naturzustand“ und der „Kontrakt“ nicht als historisches Verhältnis, sondern als ideelle Basis gedacht (etwa bei Rawls oder Habermas). Wer nun zählt in dieser wirkmächtigen Fiktion zu den Menschen, die ihre Freiheit dem Staat überlassen haben? Von wem leitet sich die Legitimität eines aktuellen und realen Staates her? Gibt es etwa ein „älteres“ Recht der autochthonen Bevölkerung, dem gegenüber die Zugewanderten zurückstehen müssten? In den Köpfen mancher Eingesessener mag diese Vorstellung grassieren; selbst das klassische Einwanderungsland, die „First New Nation“ U.S.A. , kennt den Vorrang der „Alten Familien“. Quasidynastische, quasiaristokratische Legitimitätsvorstellungen überleben unter bürgerlichen Verhältnissen. Wenn das Volk „der Souverän“ ist – wer ist hier dann „das Volk“? Möglicherweise steht diese Entscheidung keinem Gesetzgeber offen, sondern bezieht sich auf einen überpositiven Sachverhalt und wäre damit einer Zuwanderungsgesetzgebung vorgängig. Giorgio Agamben diskutiert „das Paradox der Souveränität“, denn der Souverän stehe zugleich innerhalb und außerhalb der Rechtsordnung.11 Hier werden Grundfragen der Ein- und Ausschließung verhandelt. Nicht jede in einem Land anwesende Person gehört „dazu“. Eine Einwanderung ist erst dann vollendet, wenn jemand alle Mitwirkungsrechte besitzt, auch die überpositiven in den Fiktionen des Gesellschaftsvertrags und einer „konstituierenden Gewalt“, die sich nicht in der „konstituierten Gewalt“ erschöpft. Es versteht sich keineswegs von selbst, auch nicht für „ausländerfreundliche“ und nationalismuskritische Haltungen, dass all jene Zugehörigkeiten den „neuen“ Deutschen zuerkannt werden.

11

Homo sacer, 2002, S. 25; die folgenden Zitate S. 50 f.

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IV. Öffnung der Verwaltung als innerstaatlicher Reflex globaler Vorgänge Besonders offensichtlich vollzieht sich Globalisierung im Bereich der Ökonomie. Ganze Produktionszweige wurden in andere Länder und Erdteile verlagert. Die meisten Großunternehmen operieren weltweit (Absatz, Standorte, Beteiligungen, Verflechtungen). Die Geldwährung wurde europäisiert. Viele altgewohnte Firmennamen sind verschwunden oder haben sich internationalisiert. Auch im Bereich der Politik wandern viele Kompetenzen aus, kommen zwingende Impulse transnationaler Stellen herein. Wie nun reagiert die so genannte Innenpolitik auf die neuen Umstände? Nach der alten Unterscheidung zwischen lokalen und kosmopolitanen Orientierungen (Robert K. Merton) könnte der landeseigene Rechtsstab parochial orientiert bleiben – zu deutsch: in der Kirchturmsperspektive arbeiten. Möglicherweise verspricht es Vorteile, sich an den Gegebenheiten des engeren Umkreises zu orientieren, dabei Traditionen zu bewahren und diese mit dem weltweiten Blick konkurrieren zu lassen. Da der politische Erfolg von Europäisierung und Globalisierung keineswegs gesichert ist, so „unumkehrbar“ jene stets auch genannt werden, könnte eine lokal denkende Struktur in Reserve gehalten werden. Jedoch zählt Zuwanderung kaum hierher: Die Migranten sind ja da, die Sozialstruktur enthält diesen weder unbeträchtlichen noch entbehrlichen Bevölkerungsteil, und auch unter lokalsten Gesichtspunkten ist für seine Integration zu sorgen. Politikwissenschaftlich viel diskutiert wird gegenwärtig das Entstehen einer Weltgesellschaft. Bei der Lektüre aktueller Schriften zu diesem Thema imponiert deren ausgreifender Optimismus; unser Problem einer Öffnung innerstaatlicher Stäbe will fast als theoretischer und historischer Nachzügler erscheinen. Ist das so? Für Bonacker12 bewegt sich die Evolution der Weltgesellschaft von einem zunächst territorial differenzierten Politik- und Rechtssystem hin zu einer Transnationalisierung politischer und rechtlicher Inklusionsformen. Mit diesem Wandel verliere der Nationalstaat an Bedeutung. Es zerfalle die Einheit von politischer und rechtlicher Inklusion über den Mechanismus der Staatsbürgerschaft und politischer Vergemeinschaftung. Und es entkoppele sich das Recht von nationalstaatlichen Vorgaben und Rahmenbedingungen. Die beiden Prozesse der „Denationalisierung“ 13 und „interkulturellen Öffnung“ arbeiten natürlich nicht gegeneinander, sondern komplementär; Fortschritte bei dem einen befördern auch den anderen. Gemeinsam bauen sie an der Transformation der Rechtskultur(en) – ein Projekt, welches die ethnonationalen Grenzziehungen aushebelt. Dieses Projekt zielt auf etwas 12 13

ZRSoz 2003, 123. Darüber vgl. M. Zürn Regieren jenseits des Nationalstaats, 1998.

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noch Unbekanntes, das mit „multikulturellem Rechtsstab“ bzw. „Weltgesellschaft“ nur visionär und allenfalls vorläufig gültig umschrieben ist. Der Rechtswandel sowohl auf territorialer wie auf globaler Ebene wird neue Formen der Inklusion und Integration hervorbringen – absurd aber wäre die Hoffnung, Exklusion und Desintegration würden damit abgeschafft. Einige Begleiterscheinungen der Transnationalisierung müssen bei der ethnischen Öffnung innerstaatlicher Rechtsstäbe nicht übernommen werden: x

x

x

Das geltende staatliche Recht muss nicht einem „soft law“ weichen (verstanden als die staatlich nicht sanktionierten Regeln und Verfahrensweisen, auf die sich Akteure einigen und die sie einhalten, als ob es sich um Recht handelte). Die Justiz muss nicht ihren rechtsetzenden Einfluss an die Anwaltskanzleien abtreten. (Im Zuge der Globalisierung etablieren sich neben den Gerichten die zwischen Firmen tätigen Anwaltskanzleien als Institutionen, die außerhalb der Parlamente verhaltenssteuernde Normen schaffen). Der Staat besitzt ein ausdifferenziertes Recht und muss dieses nicht über vage, interkulturell zudem umstrittene Menschenrechtsprinzipien beschaffen. Der Konkretionsgrad der Menschenrechte liegt ja noch weit unter dem der Grundrechtsordnung. M.a.W. die Situation im Globalrahmen stellt sich für die Rechtsstäbe völlig anders dar als im Staatsrahmen.

Von einem Paradox zwischen Globalität und Staatsbürgerschaft könnte wohl nur in formaler, spieltheoretischer Hinsicht gesprochen werden. Es schließt einander nicht aus, wenn die Inklusion von Individuen einmal über staatliche Reglements läuft, das andere Mal über eine global verbindliche Institutionalisierung von Menschenrechten. Heute sind „Staatenlose“ nicht mehr rechtlos, wenngleich sie längst nicht als „Weltbürger“ abgesichert werden. Nur wer in einem sich vollständig isolierenden Nationalstaat eine ganze und homogene „Kleine Welt“ erschaffen wollte – kulturell und ökonomisch autark, von der (Um-) Welt feindselig abgewandt –, würde Globalisierung negieren. So wie die globalen Gremien und Rechtseinrichtungen das nationalstaatliche Innere zu einer ethnischen Öffnung ermutigen, werden positiv verlaufende Erfahrungen mit interkulturell besetzten Staatsbehörden die Globalisierung des Rechts beflügeln. Das „Paradox“ zwischen Territorium und Welt wird von einer Vorstellung abgelöst, wonach zwei Armeen mit verschiedenen Strategien demselben Ziel zustreben. „Die multikulturelle Gesellschaft ist das Pendant zur Globalisierung der Lebensverhältnisse.“ 14

14

Raiser 1999, S. 332.

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V. Europa besitzt eine verschüttete Tradition pluralisierten Rechts André-Jean Arnaud 15 erinnert an den markanten gesellschaftlichen Pluralismus, wie er vor der Konstituierung des „modernen“ juristischen und politischen Denkens bestanden hat. Der heutige Pluralismus, von dem sich Soziologen faszinieren lassen, weise zahlreiche „Ähnlichkeiten“ mit diesem prämodernen Pluralismus auf. Arnaud argumentiert so: Europa erschien seit seinen Ursprüngen immer als wichtiger Kreuzungspunkt von multiplen Praktiken und Ideen, als Ort der Begegnung von unterschiedlichen Rechtsprozessen und Rechtsideen. Noch um die erste Jahrtausendwende erschien das europäische Territorium als ein vielgestaltiges Mosaik, ein Mosaik der Völker, der Sprachen, der Glauben, der Sitten und der Rechtsnormen. Die eigentlich europäische Perspektive ist als die Vitalität eines Pluralismus aufbewahrt. Im Gegensatz zu allen rechtspositivistischen Ideen erschien dieser Pluralismus früher keineswegs als ein Störfaktor. Im Verlauf des Mittelalters gelingt es dem Handel, dem Papsttum und den Universitäten, das Recht zu zentralisieren, zu Lasten des prämodernen Rechtspluralismus. Die von Arnaud skizzierte Entwicklung zeigt Europa als ein ursprünglich rechtspluralistisches Gebiet. Auch wenn wir uns heute daran erinnern, so verhindern doch Europäische Einigung sowie Globalisierung eine Wiederkehr früherer Zustände. Diese betrafen ja auch den Rechtsstoff, der selbst bei einer interkulturellen Öffnung der Verwaltung unangetastet bleibt. Und doch scheint, nach einer Bemerkung von Volkmar Gessner,16 „die – historisch ja nicht sehr lange – Epoche der Monopolisierung des Rechts auf den Staat von nun an ihrem Ende zuzugehen. Von innen und von außen gibt es Veränderungsdruck.“

VI. Monismus versus Pluralismus im Staatsdenken Zu erinnern ist an die lange Diskussion der Sozialphilosophie darüber, wie das natürliche Spannungsverhältnis zwischen der Vielfalt von Individuen und Gruppen einerseits und der staatlichen Einheit andererseits aufzufassen sei. Ein idealistischer Monismus artikuliert sich bei Georg W. F. Hegel, der alle Erfahrungen und Entwicklungen einem universalen Grundprinzip unterwirft. Die gesellschaftlichen Antagonismen vermitteln sich in der höheren Ordnung des Staates und heben sich hier auf. Betrieben wird dies von der Selbstverwirklichung des Weltgeistes, der absoluten Vernunft. Da lassen sich für das Verhältnis zwischen Staat, Recht und Rechtsanwendung nicht eben viele Abweichungen und Flexibilitäten unterbringen. Allen15 16

ZRSoz 2002, 251–275. Gessner ZRSoz 2002, 298.

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falls die bei Hegel gedachte Verschiedenheit der Volksgeister bietet eine Anknüpfung für unser Problem. Weitaus stärker schillert der Pluralismusbegriff, der in verschiedenen Versionen auf vielen Feldern der Staatslehre diskutiert wird. Die durch O. v. Gierke seit 1868 aufgebrachte Genossenschaftsidee verlegt den Staat zurück in die bürgerliche Gesellschaft. Es entsteht ein System sich mannigfach überkreuzender Verbände. Staatseinheit, bürgerliche Freiheit und Selbstverwaltung in den Verbänden können miteinander harmonieren, denn es gibt, wie er schrieb, keine prinzipielle Scheidung zwischen individueller und gemeinschaftlicher Willensmacht. F. Tönnies und G. Simmel knüpfen an diese Vorstellungen an. Eine zweite Quelle pluralistischer Vorstellungen sprudelt im amerikanischen Pragmatismus (insbesondere bei W. James und J. Dewey). H.J. Laski musste erkennen, dass der Wille des Staates und die verschiedenen Tendenzen der Verbände aufeinanderprallen, ohne dass ein Schlichter auftritt. Auch war bereits in den 1920er Jahren bekannt, dass die Gesetzgebung von Interessengruppen beeinflusst wurde und der Staat zum Dienstleistungsbetrieb tendierte. Die Freiheit der Individuen und die Macht der Organisationen (vor allem: der wirtschaftlichen Unternehmungen) bestreiten den Anspruch des Staates auf Souveränität, und vielleicht schaffen sie diese sogar heimlich ab. Die bis heute andauernde Pluralismusdiskussion kann wohl an kein Ende kommen. Die Pluralität von Rechtsströmungen – also die Meinungsvielfalt in juristischen Angelegenheiten – nagt an der Souveränität des Staates. Auch konkurriert hier die Freiheit der Individuen, sich für oder gegen Normen zu entscheiden. Die Erfahrungen mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts haben die Demokratietheorie zu sehr vorsichtigen Formulierungen angehalten. Der hierzu grundlegende Ernst Fraenkel nennt den Staat notwendig heterogen. Der politische Pluralismus begrenzt den Steuerungsradius des Rechts und des Rechtsstabs. Wir „wollen den totalen Staat“ – nie wieder. Die Widersprüche zwischen Pluralismus und Souveränität beschäftigen dauerhaft das demokratietheoretische Nachdenken; alle mit der interkulturellen Öffnung der Verwaltung verbundenen Fragen werden von diesem Diskurs berührt. Anerkennt man die Unauflöslichkeit der genannten Konflikte in einer pluralistisch strukturierten Gesellschaft, dann bleibt doch Laskis jahrzehntealte Einsicht gültig: Wenn denn das individuelle Streben sich im Medium der Gruppen verwirklicht, wenn die politische Willensbildung sich im Kräftespiel vollzieht, dann müsse die egalitäre Grundlage dieses Prozesses hergestellt werden (anstatt den Vorgang, wie heute hinzuzufügen ist, neoliberaler Nichtintervention zu überlassen). Dazu gehört zweifellos auch die Gewähr, dass die vom Recht adressierten Populationen, die der Hoheit des Staates zugerechnet werden, einen angemessenen Zugang zum Rechtsstab erhalten.

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VII. Gefährdet der Pluralismus die Einheit des Rechts? Raiser vermerkt die „ohnehin naheliegende Tendenz der Ausländer selbst, in nationalen Minderheitsgruppen zusammenzuleben, die ihre eigenen Traditionen bewahren“, verstärkt durch die bestehende rechtliche Diskriminierung zwischen Einheimischen und Eingewanderten. „Für die Rechtssoziologie stellt sich damit die Frage, in welchem Ausmaß sich aus diesen Gründen in Deutschland ein sprachlich, ethnisch oder religiös fundierter kultureller Rechtspluralismus beobachten lässt“.17 Unter „kulturellem Pluralismus“ wird (folgend) das Nebeneinander verschiedener Rechtsordnungen innerhalb derselben Gesellschaft verstanden, beruhend auf religiösen, ethnischen oder sprachlichen Besonderheiten. „Sein klassisches Beispiel ist das friedliche Zusammenleben von Moslems, Juden und Christen im frühen ottomanischen Reich, dessen Liberalität so weit reichte, jeder Gruppe für gewisse Streitigkeiten sogar eine eigene Gerichtsbarkeit zuzubilligen“.18 Ein Pluralismus dieser Art steht für die Bundesrepublik Deutschland mit Gewissheit nicht an, denn keineswegs ist sie „unter die Türken“ gefallen. Einwanderung bedeutet nicht Kolonialisiertwerden. Gleichwohl dürften manche populären Befürchtungen in diese Richtung weisen, als irrationale Ängste vor Identitätsverlust und Fremdherrschaft. Diese Ängste machen ein urdeutsches Spezifikum aus und werden durch die europäische Einigung bislang nur mäßig beruhigt. Eine ethnische Aufspaltung administrativer Zuständigkeiten und Entscheidungsgrundlagen – jede hier wohnende Population erhielte dann ihre eigene – kann nicht auf dem Programm der Interkulturalisierung stehen. Die Einheit des Rechts – bei allen Verschiedenheiten der Interessenlagen und Klienten, trotz des Korporatismus – bleibt ein gültiges Ideal innerstaatlicher Konfliktregulierung. Diese Einheit gilt für die Verfahrensordnungen und für die Anwendbarkeit des materiellen Rechts; sie ist als eine der obersten Ideen in der Rechtskultur dieses Landes überpositiv verankert und außerdem verfassungsrechtlich abgesichert. In der Tradition der Jurisprudenz wurde das Recht der Gesamtgesellschaft zugeordnet, sagt der Anthropologe Leo Pospísˇil,19 und deshalb wurde von einer gegebenen Gesellschaft angenommen, dass sie nur ein Rechtssystem habe, welches das Verhalten aller ihrer Mitglieder regle. Den Untergruppen auf den Ebenen unterhalb der Gesamtgesellschaft (Zusammenschlüsse bestimmter Gruppenmitglieder, Siedlungsgemeinschaften, Verwandtschaftsgruppen) wurde a priori die Möglichkeit eigener Rechtsregeln abgesprochen. Pospísˇil macht für diese Meinung den überragenden Einfluss verantwortlich, den das durchgearbeitete und einheitliche römische Recht auf die europäische 17 18 19

T. Raiser Das lebende Recht. Rechtssoziologie in Deutschland, 3. Aufl. 1999, S. 332. T.Raiser, aaO., S. 320. Anthropologie des Rechts, 1982, S. 139.

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Jurisprudenz ausgeübt hat. Auch die frühen Ethnologen seien jener machtvollen Idee noch erlegen. In der Rechtssoziologie indessen stieß der Monismus immer schon auf Bedenken. Das Fach hat sich in seinen Anfängen, etwa bei Eugen Ehrlich, mit empirischen Beiträgen zum Rechtspluralismus profilieren können. Das Ziel einer Vereinheitlichung gilt hier als so etwas wie die Basisidee der Juristenprofession und der Rechtsdogmatik. Eine Pluralität der Ordnungen anzunehmen ist rechtssoziologischer Konsens geblieben. Allerdings mutete Ehrlichs Befreiungsschlag überzogen an und hatte durch die Polemik Hans Kelsens eine deutliche Niederlage erlitten. So kam man erst allmählich von der Faszination juristischer Eindeutigkeitslogik los, und musste überdies jede Nähe zur gescholtenen Freirechtsschule meiden. Zumal Max Weber favorisierte die formalen Qualitäten des juristischen Denkens, denn zu den Entwicklungsbedingungen der westlichen Moderne rechnet er die Rationalisierung und Systematisierung des Rechts. 20 Die Ordnungen von Sitte, Konvention und Recht stehen für ihn nicht quer zueinander, sondern im genetischen Verhältnis flüssiger Übergänge. 21 Im letzten Kapitel seiner Rechtssoziologie kommt Weber in die Nähe unserer Fragestellung. Nachdem zunächst alle Sonderrechte verschwunden gewesen seien, träte neuestens (es war kurz vor dem ersten Weltkrieg) „eine zunehmende Partikularisierung“ zutage. 22 Weber beschreibt das für das Gebiet des Handelsrechts; die neuen Sonderrechte folgen aus der Berufsdifferenzierung usw. Er sieht in der modernen Rechtsentwicklung „Tendenzen, welche eine Auflösung des Rechtsformalismus begünstigen“.23 Das Entwicklungsschema wäre demnach um eine „nachformale Phase“ zu ergänzen. So verwundert Weber die materialen Tendenzen im Rechtsdenken konstatiert, so nüchtern folgert er: „Es liegt also im Kapitalismus als solchem kein entscheidendes Motiv der Begünstigung derjenigen Form der Rationalisierung des Rechts, welche seit der romanistischen Universitätsbildung des Mittelalters dem kontinentalen Okzident spezifisch geblieben ist“. 24 Ganz offenbar ist die Entwicklung des modernen Rechts nicht zu Ende. Theodor Geiger erwähnt den „Pluralismus der geselligen Ordnungsgefüge“, meint damit aber nur das Nebeneinander von Gesittung, Konventionen usw. „Die Rechtsordnung“ wird bei Geiger der „staatlichen Lebensform“ zugeordnet, die Gesittung hingegen der Gesellschaft als Ganzer – als „andere, nicht-rechtliche Ordnungsgefüge“.25 Später heißt es, in den Gesetzgebungen sei „die strenge systematische Einheit schon dadurch gebro20 21 22 23 24 25

Rechtssoziologie, Hrsg. Winckelmann, 1960 [1911–1913], S. 278. Rechtssoziologie, Hrsg. Winckelmann, 1960 [1911–1913], S. 63–76. Rechtssoziologie, Hrsg. Winckelmann, 1960 [1911–1913], S. 275. Rechtssoziologie, Hrsg. Winckelmann, 1960 [1911–1913], S. 278. Rechtssoziologie, Hrsg. Winckelmann, 1960 [1911–1913], S. 287. Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1964, S. 157 f.

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chen, dass Gesetze verschiedener Zeitabschnitte von wesentlich verschiedener sozialer Gesamtstruktur heute nebeneinander stehen“.26 Geiger mag hier an die Abfolge der politischen Regimes (Kaiserreich – Weimarer Republik – NS -Diktatur) gedacht haben. Die Anwendungsinstanzen hätten täglich „durch die vermittelnde Konstruktion Inkonsistenzen im Verhältnis verschiedener Normkomplexe zueinander auszubügeln“. In der Tat! Geiger, der sonst von der logischen Struktur des Rechtsstoffs durchaus beeindruckt ist, sieht genau, wie wenig der Normenkomplex eine geordnete Homogenität aufweist. Georges Gurvitch erwähnt unter den drei Postulaten juristischer Logik auch „die Rechtseinheit, die mit der systematischen Kohärenz der Rechtssätze identifiziert wird. Ehrlich beweist, dass es sich bei diesen Postulaten nur um ‚Täuschungsmanöver‘ handelt, um eine ‚Maske‘, die der effektiven Rechtswirklichkeit vorgebunden wird, Vorgänge, die nur in bestimmten historischen Epochen des Rechtslebens Sinn haben, um den Bedürfnissen eines zentralisierten Staates und seiner Gerichtshöfe zu dienen“.27 Die Forderung nach der monistischen Einheit des Rechtes sei ein bewusst fiktiver Vorgang, der den deduktiven Rationalismus als Basis benutzte; dies widerspreche der rechtlichen Autonomie der mannigfaltigen sozialen Gruppierungen und der Pluralität in den Gebräuchen einzelner Kreise 28 (S. 117 f.). Nun sind diese Argumente erkennbar auf Situationen gemünzt, die sich von der deutschen Gegenwart erheblich unterscheiden, nämlich bei Ehrlich auf die Bukowina als Vielvölkerstaat am entlegensten Rande der Donaumonarchie und bei Gurvitch auf den Vielvölkerstaat Russland sowie auf Frankreich mit seinen frankophonisierten Kolonien und naturalisierten Immigranten. Ohne das Einheitsprinzip aufzugeben lässt sich dem Pluralismusprinzip einiges abgewinnen. Beide Prinzipien spielen nicht notwendig gegeneinander und nicht um denselben Einsatz. Gurvitch hatte bei seiner Absage an die Rechtseinheit eine verknöcherte Begriffsjurisprudenz im Auge. 29 Seine Rigorosität erscheint verständlich, denn als soziologischer Theoretiker feiert er generell das Komplexe sozialer Wirklichkeiten, die Dialektik der sozialen Antagonismen und die schöpferische Kraft pluraler Kollektivitäten. Nun muss es aber keineswegs so sein, dass juristischer Monismus die Vielstimmigkeit der Kultur erdrosselt.

26 27 28 29

Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1964, S. 202. Grundzüge der Soziologie des Rechts, 1960, S. 117. Grundzüge der Soziologie des Rechts, 1960, S. 117 f. Grundzüge der Soziologie des Rechts, 1960, S. 118.

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VIII. Ethnische Diversität und Rationalität des Entscheidens Wie beeinflusst eine ethnische Diversion im Rechtsstab die Rationalität des Entscheidens, etwa im Strafprozess? Viele Verfahrensroutinen zielen nicht auf eine intensive Exploration des Sachverhalts, sondern auf eine „administrative Rationalisierung“: Die Effizienz der Fallerledigung unterläuft die „kommunikative Rationalität“ – vernünftige Interaktionen zwischen Klienten und Rechtsverwaltern –, wie es für das Jugendgerichtsverfahren empirisch festgestellt worden ist. 30 Dem Gleichheitsversprechen des Rechts könnte es dienen, die „Glätte“ eingespielter Verfahrensabläufe ein wenig „aufzurauen“, indem der Rechtsstab die kulturelle Diversität der Bevölkerung abbildete. Um die – quantitativ sehr beachtliche – Falllast weiterhin bewältigen zu können, stünden durchaus geeignete Maßnahmen zur Verfügung. Das juristische Entscheiden bedarf einer normativen Grundlage, die auf Kohärenz bedacht ist, sich aber aus diversen Quellen speist. Gurvitch beschreibt die erforderliche Sensibilität damit, „dass jede Rechtsart ihre eigenen Tiefenschichten besitzt und die Gerichte sich ebenso sehr mit der ‚friedlichen inneren Ordnung‘ der Gruppen wie mit dem interindividuellen und intergruppalen Recht beschäftigen, welch letzteres übrigens selber eine institutionelle und spontane Basis hat“. Zu untersuchen ist demnach „die Überschneidung von Tiefenschichten der Rechtswirklichkeit mit den Rechtsarten, die je nach den Gesellungsformen unterschieden sind, und mit den Rechtsordnungsgefügen, die sich nach den verschiedenen Gruppierungstypen unterscheiden“. Der Pluralismus, auf den Gurvitch abzielt, gilt dem geistigen Element im sozialen und rechtlichen Leben, das heißt, „den Werten und Ideen, die dieses Leben und insbesondere die verschiedenen Aspekte des Gerechtigkeitsideals in inspirieren“. 31 Die methodologische Opposition richtet sich also nicht (notwendig) gegen die rechtspolitische Einheit, sondern gegen eine Einfältigkeit der normativen Entscheidungsgrundlage. Einig waren sich die Klassiker der Rechtssoziologie darüber keineswegs. Ehrlich und Gurvitch standen auch in der Monismus/Pluralismus-Frage gegen Durkheim und Weber. Gurvitch sieht bei Max Weber eine Tendenz, sich den „dogmatisch-konstruktiven Systematisierungen der Juristen unterzuordnen“32 (S. 115). Eugen Ehrlich spricht vom Pluralismus als den „Gerechtigkeitsströmungen“. Sie widersprechen einander, ohne dass wissenschaftlich zwischen ihnen entschieden werden könnte. Dass etwas gerecht sei, das lasse sich wissenschaftlich ebenso wenig beweisen, wie Fragen der Schönheit. „Das alles 30 W. Ludwig-Mayerhofer Das Strafrecht und seine administrative Rationalisierung, 1998, S. 237. 31 Grundzüge der Soziologie des Rechts, 1960, S. 121 f. 32 Grundzüge der Soziologie des Rechts, 1960, S. 115.

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sind Fragen des Gefühlslebens. Die Wissenschaft kann wohl die Wirkungen eines Rechtssatzes feststellen, aber sie vermag den Menschen nicht vorzuschreiben, dass ihnen die Wirkungen erwünscht oder verabscheuungswürdig erscheinen“. 33 Um wirksam zu werden, bedarf Gerechtigkeit eines kreativen Akts – „der persönlichen Tat eines Einzelnen […] darin am ehesten der Kunst vergleichbar“. 34 Wenn Ehrlich hier den schöpferischen Anteil des interpretierenden Juristen betont, eröffnet er einer handlungstheoretischen Analyse den Raum und entdämonisiert das rechtstheoretische Problem widersprüchlicher Weisungen: Die verschiedenen Rechtsauffassungen finden in der Entscheidung zusammen. Bei teilweise kritischer Haltung gegenüber Ehrlich entdramatisiert Pospísˇil die Problematik mit einer zunächst bestürzenden, aber wohlbegründeten These, wonach „jede menschliche Gesellschaft nicht bloß ein einziges, durchgehendes Rechtssystem besitzt, sondern vielmehr zusätzlich so viele solcher Systeme, als es funktionierende Untergruppen in ihr gibt. Umgekehrt gilt, dass jede funktionierende Untergruppe einer Gesellschaft die Beziehungen ihrer Mitglieder durch ihr eigenes Rechtssystem regelt, welches sich notwendigerweise, zumindest in bestimmter Hinsicht, von den Rechtssystemen anderer Untergruppen unterscheidet“ (S. 138). Kann man diese These, gewonnen aus Ethnologie und Kulturvergleich, auch auf eine Gegenwartsgesellschaft anwenden? Pospísˇil tut das, wenn auch in vorsichtiger Formulierung, wenn er sagt, „dass jede tiefdringende Analyse des Rechts einer primitiven oder auch einer zivilisierten Gesellschaft nur dadurch erreicht werden kann, dass sie bei der jeweils relevanten Struktur der Gesellschaft und der zugehörigen Ebenen des Rechts ansetzt und dass der in jeder Gesellschaft bestehende Pluralismus der Rechtssysteme in vollem Umfang anerkannt wird“ (S. 171). Wenn die juristische Dogmatik beanspruchen will – und das tut sie wohl –, selber auch eine „tiefdringende Analyse des Rechts“ zu sein, dann wird sie die Erkenntnis der allgemeinen Rechtslehre nicht ignorieren. Die Vor- und Nachteile eines Rechtspluralismus wägt Manfred Rehbinder 35 ab, und er zeigt die juristischen Instrumente, wie eine Rechtseinheit erreicht werden kann. Interessanterweise erinnert er an die Erfahrungen mit der großen Rechtsvereinheitlichung, als im 19. Jahrhundert Preußen sich zum Deutschen Reich erweiterte (dabei meist sein eigenes Recht oktroyierend). Alle heute benutzten Mittel – politische, administrative, legislative, judikative und alltagspraktische – kamen bereits damals zum Einsatz. Gegen das allzu schöne Bild eines Wildwuchses, in dem „tausend bunte Blu-

33 34 35

Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, S. 163. Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, S. 168. Abhandlungen zur Rechtssoziologie, 1995, S. 234–251.

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men blühen“, hält Rehbinder den Sinn von Recht, gerichtet „auf Ordnung und Gleichheit“ 36 (S. 251). Eine ethnische Durchmischung des Rechtsstabs bedeutet keine Rechtszersplitterung, wie es befürchtet werden mag und allgemein als negativ konnotierter Vorgang gilt. Das anzuwendende Recht bleibt gleich; was sich ändert, sind vermutlich die subrechtlichen Grammatiken und die Ergänzungsregeln. Längst sind die Rechtsstäbe auf einen solchen kontinuierlichen Wandel eingestellt. Die Ablösung der Generationen im Personal, die Feminisierung der Rechtsberufe und zuletzt die deutsche Wiedervereinigung haben den Wechsel der Anwendungsstile verlässlich eingeübt (und zwar allem Anschein nach reibungslos). Wie viel ist von einer Öffnung der Rechtsstäbe zu erwarten, wenn die weitere Integration der Zuwandererpopulation gefördert werden soll? „Wenn man meint, durch rechtliche Maßnahmen Nicht-Bürger zu Bürgern und damit zu vollständigen Mitgliedern der Gesellschaft machen zu können, macht man sich Illusionen über die Organisation von Mitgliedschaft in funktional differenzierten Gesellschaften. Es gibt nicht mehr jene alles entscheidende Kategorie (Familie, Nationalität etc.), die über alle weiteren Inklusionschancen eines Individuums bestimmen könnte.“ 37 Dass eine bloße Verleihung der formalen Staatsangehörigkeit den Unterschied zwischen Eingesessenen und Fremden nicht aufhebt, zeigen schon die Erfahrungen in jenen Ländern, welche über das jus soli großzügig die britische, us-amerikanische usw. Staatsangehörigkeit zusprechen. Im Entwicklungsschema der citizenship nach Marshall befindet man sich allerdings ohnehin hiermit noch auf der Anfangsstufe politischer Rechte. Zu viel Optimismus ist also nicht angezeigt.

IX. Risiken und Chancen der interkulturellen Öffnung Welche Bedenken werden gegen „fremde“ Mitglieder eines Rechtsstabes vorgebracht, sei es ausdrücklich, sei es insgeheim? Hierher zählen zumindest die folgenden Annahmen: x

x

x

Die „Neuen“ würden das geltende Recht und seine ungeschriebene Anwendungsgrammatik nicht richtig kennen. Sie würden in den Ermessensspielräumen von anderen Normordnungen ausgehen, als „hiesige“ Beamte es tun. Sie würden sich ihrer jeweiligen Herkunftsgruppe so sehr verpflichtet fühlen, dass Loyalitätskonflikte entstehen. 36 37

Abhandlungen zur Rechtssoziologie, 1995, S. 251. A. Nassehi/M. Schroer Staatsbürgerschaft, in: Holz, 2000 (wie Fn. 9), S. 46.

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Für den Fall der Gerichte hat Niklas Luhmann gefragt, wie die Gerechtigkeit der Entscheidungen abgesichert werde, wenn traditionelle Bindungen entfallen – „etwa Rücksichten auf den sozialen Status der Parteien oder auf das soziale Netzwerk ihrer Beziehungen“. Die übliche Antwort (etwa in der Tonlage der Critical-legal-studies-Bewegung und ihrer neomarxistischen Parallelen) laute: Sie werden nicht ersetzt, sie sind nach wie vor wirksam. Aber das sei voreilig. Luhmann beantwortet seine Frage mit dem Verweis auf „Organisation und Professionalisierung der juristischen Kompetenz. […] Die übliche Auffassung steuert den Blick in Richtung auf latente, vor allem schichtungsbedingte Einwirkungen der Gesellschaft auf ihr Rechtssystem. Wie sollte man andere Quellen der Beschränkung denken? Legt man dagegen einen erweiterten Systembegriff im Sinne des AutopoiesisKonstrukts zugrunde, kommen ganz andere Quellen der Beschränkung des Entscheidungsspielraums in den Blick – eben Organisation und Profession.“ 38 Gewiss ist dies nicht auf Immigration gemünzt, sondern auf die Modernisierung. Die Durchlässigkeit nationaler Grenzen gehört dazu, gerade für Luhmann, mit seinem theoretischen Blick auf die Weltgesellschaft. Der Skeptiker scheint hier ausnahmsweise einmal mit denen einig, die immerzu an das Gute im Menschen glauben: Es existieren wirksame organisationsinterne Vorkehrungen, um Willkür und Parteilichkeit der Rechtsanwendung zu begrenzen oder ganz zu unterdrücken. Luhmann dekliniert das für den Fall der Gerichte durch: Sie müssen ihr Pensum erledigen, werden kollegial sowie instanziell beaufsichtigt, üben Selbstbeschränkung mit Rücksicht auf die eigene organisationsinterne Karriere. Von einem Fremden drohen nicht nur und nicht per se Gefahren für Kohäsion und Kultur. Vielleicht profitiert die Auslegung des Rechts, wenn dieses „von außen“ gesehen wird – und nicht nur distanzlos von „Einheimischen“ interpretiert wird. Die Autopoiesis im Kommunikationssystem Recht beruht nicht zuletzt auf der selbstorganisierten Selektion und Sozialisation des Personals; die Homogenität der Ansichten begünstigt die Kooptation. Viele mittelalterliche Städte in Italien haben ihre Richter von außen genommen. Gewiss ging es hierbei nicht um eine reichhaltigere Auslegung des Rechts, sondern um die Friedensfunktion. Gegenüber den notorisch zerstrittenen Patrizierfamilien sollten unparteiische Richter die Akzeptanz der Entscheidungen gewährleisten. Zugewanderte könnten durch ihren Abstand zu den einheimischen Gegebenheiten die Rationalität der Bürokratie erhöhen. 39 Es dürfte also alles andere als selbstverständlich sein, dass ein Nichthiesiger das hiesige Recht verfälschen müsste. Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 328 f. Vgl. M. Weber Wirtschaft und Gesellschaft, 1964, S. 757, für extrapatrimoniale Rekrutierung von Beamten. 38 39

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Rüdiger Lautmann

X. Rechtskultur im Wandel Das anfängliche und weit verbreitete Erschrecken über die möglichen Folgen ethnischer Öffnung dürfte sich dadurch beschwichtigen lassen, dass das juristische Feld als Rechtskultur betrachtet wird. Das Bild vom Recht als eines durch Gesetze und Anwenderlogik gefestigten Gehäuses traf ohnehin nie zu. Jede rechtssoziologische Betrachtung weist die Spielräume, Abhängigkeiten, Konflikte und Wandlungen im Rechtsbetrieb auf. Selbst der eingefleischteste Rechtsdogmatiker zieht die Offenheit des Rechts – für Interpretationen, für Anpassungen usw. – nicht infrage. Auch die Figur der Rechtssicherheit beinhaltete nie das Versprechen, Sicherheit im Sinne von Vorhersehbarkeit und Stabilität zu gewährleisten. Als Rechtskultur erscheinen die Aktivitäten des Rechtsstabes zunächst nur vage beschrieben, zumal der Begriff in vielen Facetten blinkt (als emphatisch, anthropologisch, philosophisch usw.). Rechtsvergleichung, -ethnologie und -soziologie arbeiten jedoch präzise mit dem Konzept und entfalten ein ganzes Forschungsprogramm. 40 Im einzelnen erwächst daraus ein Verständnis für die Variabilität juristischen Handelns. Die ethnische Diversität der aktiven Juristen und deren Kooperation steht unaufregend neben vielen anderen Kulturmerkmalen. Wir werden sensibilisiert für die „Mehr-Ebenen-Komplexität von Institutionen und Diskursen des Rechtsbetriebs“, für die „Wechselwirkungen zwischen allgemeinen Erwartungen und professionellen Selbstbildern […]. Angesichts von Rechtsprofessionen, die ihre relative Autonomie und Abstand von plebiszitärem Druck betonen, ist die Unterscheidung zwischen externer (sprich: allgemeiner) und interner (sprich professioneller) Rechtskultur notwendig.“ 41 Auch, und vielleicht gerade, wenn man das Recht als sich selbst reproduzierendes System betrachtet, weichen dessen Grenzen nicht dadurch auf, dass das Fachpersonal aus (ethnisch) verschiedenen Populationen rekrutiert wird. Eine dadurch ansteigende „Komplexität“ der Programmatik wird intern aufgefangen und absorbiert – durch die Arbeit der Fachjuristen.

40 Vgl. dazu E. Blankenburg in: J. Becker u.a. (Hrsg.), Festschrift M. Rehbinder, 2002, S. 425–431 (426–431). 41 E. Blankenburg in: J. Becker u.a. (Hrsg.), Festschrift M. Rehbinder, 2002, S. 430.

Korrelation und Argumentation Zur Soziologie und Neurobiologie richterlichen Handelns Hubert Rottleuthner

Inhaltsübersicht Seite

I. II. III. IV.

Grundlagen des Rechts und Autonomie des Rechts . . . . . . . . Richter-Soziologie: Sozialer Hintergrund und Entscheidungen . . Der neue Determinismus der Neurowissenschaften . . . . . . . . Korrelation und Argumentation in Soziologie und Neurobiologie

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. . . .

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I. Grundlagen des Rechts und Autonomie des Rechts Dass das Recht eine autonome Normenordnung sei, eine eigenständige Sphäre, ein sich selbst (re)produzierendes System ist ein erneuerter Gedanke in der rechtstheoretischen Reflexion auf die Entstehung, die Existenz und die Funktionen von Recht. Dominierend war lange Zeit ein Grundlagen-Denken, das nach rechtsexternen Fundamenten einer Rechtsordnung suchte, d. h. nach dem Recht äußerlichen Bedingungen, von denen die tatsächliche Existenz wie auch die normative Geltung von Rechtsnormen einschließlich ihrer Rechtfertigungsfähigkeit abhängig sei. In einem solchen rechtstheoretischen „Fundamentalismus“1 waren zunächst Rechtfertigung und Erklärung ungeschieden: die angeführten Grundlagen dienten der Beantwortung von Fragen nach dem tatsächlichen Ursprung von Recht wie von Fragen nach der Basis seiner legitimen Geltung. In mythischen Ursprungsgeschichten ebenso wie in religiösen Fundierungen, etwa in der scholastischen Rechtsphilosophie, fallen beide, Rechtfertigung und Erklärung, zusammen. Man könnte eine nahezu Hegelsche Geschichte der Bewegung des Rechtsdenkens weg von externen Faktoren hin zur „Internalisierung“ der Grundlagen schreiben: an die Stelle transzendenter (mythologischer, religiöser) Grundlagen treten welt-immanente. Dies sind zunächst „natürliche“ Bedingungen: solche der Menschennatur in anthropologischen Grundlegungen eines neuzeitlichen Naturrechts oder geographisch-klimatische Fak1

Vgl. H. Rottleuthner Foundations of Law (im Erscheinen).

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toren (etwa bei Montesquieu). Diese natürlichen Grundlagen werden abgelöst durch von Menschen geschaffene: ökonomische, politische, moralische, allgemein: soziale oder kulturelle Grundlagen. Bereits das neuzeitliche Naturrecht mit seinen Theorien eines Gesellschaftsvertrages reflektiert den Übergang von einer natürlichen Konstitution des Menschen zu einer rechtlichen Konstitutierung einer bürgerlichen Gesellschaft, die Transformation des status naturalis in einen status civilis. Gesellschaft kann als machbar erlebt werden. Der Mensch ist nicht mehr von Unverfügbarem abhängig. Nach der klaren Trennung von Erklärung und Rechtfertigung wird die Soziologie dann im 19. Jahrhundert zu der Disziplin, die – als Rechtssoziologie – auf die von Menschen gemachten rechtsexternen Grundlagen von Recht reflektiert. Alle Klassiker der Disziplin sind Grundlagen-Denker. Für Marx und Engels ist das Recht als ein Überbau-Phänomen bestimmt, bedingt durch die ökonomische „Basis“. 2 Durkheim sieht die Gesellschaft mit ihrem jeweiligen Recht als durch die moralische Verfassung der sozialen Solidarität fundiert an. Bei Max Weber wird eine Fülle der verschiedensten Faktoren (ökonomische, politische, religiöse, berufsständische, fachjuristische etc.) für die Erklärung der Entwicklung der diversen Dimensionen des Rechts versammelt. Für Eugen Ehrlich liegt der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung „in der Gesellschaft selbst“. Immer hängt das Recht in seiner Entstehung, seiner Entwicklung wie in seinen Funktionen, Wirkungen von rechtsexternen Bedingungen ab. Diese Annahme gehört zum selbstverständlichen „Fundus“ der Rechtssoziologie. 3 „Law is the product of other social facts in the society in which it exists.“ 4 Als Herausforderung an die Rechtssoziologie musste deshalb eine Lehre empfunden werden, nach der die Entwicklung des Rechts einen rein rechtsinternen Vorgang darstelle; 5 nach der gar Recht nur „rein rechtlich“ zu definieren sei, ein soziologischer Rechtsbegriff ein definitorisches Unding sei. Hans Kelsen entwarf mit seiner „Reinen Rechtslehre“ eine Konzeption, die beanspruchte, eine Rechtsordnung rein immanent analysieren zu können, d. h. ohne Rückgriff auf moralische Gerechtigkeitsüberlegungen eines Naturrechts und auch ohne Rekurs auf seinswissenschaftliche Elemente. Kel2 Entgegen Hegels idealistischen Liquidierungen, bei dem sich alles letztlich in „Geist“ auflöst, gibt es bei Marx den Gedanken, dass gerade die ökonomischen Verhältnisse, auch wenn sie von Menschen geschaffen wurden, als eine „zweite Natur“ existieren: undurchschaut, nicht kontrollierbar, naturhaft wirksam. Erst in einem revolutionären Akt, der kein Gesellschaftsvertrag mehr wäre, könnte sich das Proletariat als ein Kollektiv konstituieren, das seine Verhältnisse, die Geschichte überhaupt mit Willen und Bewusstsein gestalten könne. 3 Die Darstellung dieser Grundlagen-Denker der Disziplin gehört dann ihrerseits zum Fundus von Einführungen in die Rechtssoziologie; vgl. natürlich Thomas Raiser Das lebende Recht. Rechtssoziologie in Deutschland, 3. Aufl., Baden-Baden 1999, S. 71 ff. 4 R. Cotterrell Émile Durkheim: Law in a Moral Domain, Edinburgh 1999, S. 40. 5 So weit war nicht einmal Savigny gegangen, der noch einen fundierenden „Volksgeist“ unterstellte, auch wenn er ihn nie untersucht hat.

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sens Kritik an Ehrlichs „Grundlegung der Soziologie des Rechts“ 6 war vernichtend – aber nur unter der Voraussetzung, dass man das Recht in einer Welt des reinen Sollens platzierte. Sie läuft leer, wenn man als möglichen Gegenstand der Rechtssoziologie rechtsbezogene Tatsachen anerkennt, wie die Aktivitäten der Normsetzung, -anwendung, -durchsetzung, -befolgung etc. sowie psychische Phänomene wie Einstellungen zum Recht, Kenntnisse von Rechtsnormen und rechtlichen Einrichtungen. Nun ist aber der Rechtssoziologie ausgerechnet aus dem Kreis der Soziologie heraus eine neue Variante eines internen Purismus erwachsen, eine Konzeption, die das Recht als ein sich selbst (re)produzierendes System begreift, das – was seine Entwicklung angeht – von anderen Systemen allenfalls „irritiert“ werden kann, und das – was seine Wirkungen angeht – andere Systeme nicht effektiv beeinflussen kann. Luhmanns Soziologie eines autopoietischen Rechts 7 geht davon aus, dass das Rechtssystem in sich begründet ist, und zwar dadurch, dass es sich in zirkulären Prozessen der Operation der eigenen Elemente (nämlich Rechtskommunikationen), die nach einem bestimmten Code (nämlich der Differenz von Recht und Unrecht) erfolgt, permanent neu konstituiert. Auch hier gibt es wieder Konzessionen an rechtsexterne Welten, etwa in der Form einer kognitiven Offenheit (bei operativer Geschlossenheit) gegenüber den Umwelten des Rechtssystems oder in der Figur der „strukturellen Kopplung“ mit anderen Systemen (mit der Wirtschaft durch Vertrag, mit der Politik durch eine Verfassung). 8 Aber darin „gründet“ das Recht nicht. Was es allerdings verbietet, eine Geschichte der Bewegung des Rechtsdenkens weg von externen Faktoren hin zur „Internalisierung“ der Grundlagen à la Hegel zu schreiben, sind permanente Gegenbewegungen der „Externalisierung“, ist das Aufkommen neuer, meist wiederbelebter Fundamentalismen. Die Nazis regredierten zu einem biologistischen „Rassenrecht“. Ethologie und Soziobiologie zielen auf instinktmäßige (jedenfalls irgendwie universelle) oder genetische Grundlagen des Rechtslebens. Neomarxistische Revitalisierungen eines ökonomistischen Basis-Denkens wurden nur kurze Zeit verwechselt mit einer „Ökonomischen Analyse des Rechts“, die recht6 Hans Kelsen und Eugen Ehrlich Rechtssoziologie und Rechtswissenschaft. Eine Kontroverse (1915/17). Baden-Baden 2003; vgl. auch H. Rottleuthner Rechtstheoretische Probleme der Soziologie des Rechts. Die Kontroverse zwischen Hans Kelsen und Eugen Ehrlich (1915/1917), in: Rechtstheorie Beiheft 5 (1984), S. 521–551. Dass auch Kelsen unreine, seinswissenschaftliche Elemente in seine Lehre aufnehmen muss, ist häufig bemerkt worden: revolutionäre Akte bei der Rechtsentstehung, empirisch feststellbare Bedingungen der Wirksamkeit in seiner Konstruktion einer Grundnorm, die einer Rechtsordnung allererst Geltung verleiht. 7 N. Luhmann Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M 1993. 8 Zu weiteren Destruktionen einer Autopoiesis des Rechts durch Luhmann selbst vgl. M. Mahlmann Katastrophen der Rechtsgeschichte und die autopoietische Evolution des Rechts, ZfRsoz 2000, 247–277 (Fn. 25).

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liche Entscheidungen normativ wie explanatorisch in Kalkülen rationalen Handelns fundiert sieht. Aber auch Klima-Theorien tauchen im neuen Gewand von Klimakatastrophen-Theorien in (umwelt-)rechtlichen Kontexten auf. Immerhin ist der Mensch hier von Naturbedingungen abhängig, die er selbst geschaffen (oder eher zerstört) hat. Im folgenden widme ich mich zwei Varianten der externen Erklärung von Rechtsphänomenen, die ihre Konjunktur hatten und haben, einer soziologischen und einer neurobiologischen.

II. Richter-Soziologie: Sozialer Hintergrund und Entscheidungen In der Bundesrepublik erwachte die Rechtssoziologie in den 60er Jahren wieder als Richter-Soziologie und Justizforschung. Im Mittelpunkt standen dabei Untersuchungen über den sozialen Hintergrund der Richterschaft. In klassischer Manier wird das Recht, hier: das richterliche Handeln, in Abhängigkeit von rechtsexternen Faktoren betrachtet. Der dabei leitende Gedanke war nicht neu: die soziale Herkunft beeinflusst die späteren Einstellungen und das Verhalten der Richterschaft. Das war bereits die zentrale These im Vorwurf einer „Klassenjustiz“, wie ihn etwa Karl Liebkecht zu Anfang des 20. Jahrhunderts formuliert hatte. 9 Auch hier wird in einem konkreten Forschungsfeld auf rechtsexterne Merkmale zurückgegriffen, um rechtliche Merkmale, hier solche der Richterschaft, zu erklären. Es geht um Korrelationen zwischen (unabhängigen) Variablen des sozialen Hintergrundes und (abhängigen) Variablen aus dem Spektrum richterlicher Einstellungen und richterlichen Verhaltens. Die Kritik an diesem Ansatz ist vielfältig: (1) Zunächst wurden nur Merkmale der sozialen Herkunft von Richtern ermittelt, ohne deren Einfluss auf professionelle Verhaltensweisen zu überprüfen.10 Dann wurden Hintergrundmerkmale mit in Befragungen ermittel9 „Wenn wir sehen, woher unser Richterstand sich rekrutiert, so genügt das bereits, um zu kennzeichnen, aus welchem Milieu, aus welchen Auffassungen heraus unsere Richter der Regel nach urteilen werden. Es sind naturgemäß nur die besitzenden Klassen, die für den Richterstand in Frage kommen, schon wegen der teuren Kosten der Ausbildung, wegen der verhältnismäßig niedrigen Gehälter in den unteren Stufen, die das Bedürfnis standesgemäßen Lebens, das dennoch besteht, allein nicht befriedigen können.“ (K. Liebknecht Gegen die preußische Klassenjustiz (1910), in: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. III ., Berlin 1960, S. 3–55 (26 f.)). – Zur Theorie der Klassenjustiz vgl. H. Rottleuthner Klassenjustiz?, in: Kritische Justiz, 1969, 1–26; Th. Raiser Zum Problem der Klassenjustiz, in: L. Friedman/M. Rehbinder (Hrsg.) Zur Soziologie des Gerichtsverfahrens. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 4, Opladen 1976, S. 123–136. 10 W. Richter Die Richter der Oberlandesgerichte der Bundesrepublik, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 5, Tübingen 1960, S. 241–259. Das hinderte R Dahrendorf nicht, an diese Befunde weitreichende Behauptungen über die Menta-

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ten Einstellungen verknüpft.11 Dem tatsächlichen Entscheidungsverhalten näherte man sich über Entscheidungen in fiktiven, in Befragungen vorgelegten Fällen an und korrelierte sie mit Herkunftsmerkmalen.12 Methodisch aufwendig sind Untersuchungen, die schließlich alle Dimensionen miteinander korrelieren: sozialer Hintergrund – aktuelle Einstellungen – Verhalten in Verhandlungen und tatsächliche Entscheidungen.13 (2) Der Justizforschung, die nach sozialen Hintergrundmerkmalen der Richter fragt, ist der Vorwurf gemacht worden, sie betreibe eine „Rechtssoziologie ohne Recht“.14 Das seien eher Beiträge zur Elite- oder Mobilitätsforschung. Aber selbst justizsoziologische Untersuchungen, die sich auf die Ermittlung von Herkunftsmustern und irgendwie berufsbezogenen Einstellungen beschränken, werfen zumindest die rechtlich relevante Frage auf nach gleicher Repräsentation angesichts einer disproportionalen Rekrutierung der Richterschaft aus den oberen Mittelschichten. Und sie können zumindest weitere Fragen nach Zusammenhängen mit dem tatsächlichen Entscheidungsverhalten stimulieren. Die Kritik, eine Rechtssoziologie ohne Recht zu betreiben, ließe sich aber selbst noch gegen Untersuchungen wenden, die auch das Entscheidungsverhalten einbeziehen, wenn dieses Verhalten nicht auch rechtlich gewürdigt werde, d. h. wenn nicht näher auf die richterlichen Argumentationen, die Urteilsbegründungen, eingegangen werde, sondern sich der Entscheidungs-Output auf Erfolgsangaben, Quoten der Kostenteilung, das Strafmaß etc. reduziere. (3) Gegen den Hintergrundansatz in der Richtersoziologie ist aus eher normativer Perspektive eingewandt worden, dass Juristen doch zur Neutralisierung ihrer Herkunft fähig seien (sein sollten). Wenn man es nicht bei lität von bundesdeutschen Richtern zu knüpfen, die in einer „halbierten Gesellschaft“ lebten: R. Dahrendorf Bemerkungen zur sozialen Herkunft und Stellung der Richter an Oberlandesgerichten. Ein Beitrag zur Soziologie der deutschen Oberschicht, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 5, Tübingen 1960, S. 260–275 (275). Wie bei Soziologen häufig zu finden, beschränkt sich Dahrendorfs Bild von Justiz dabei auf die Strafjustiz. 11 W. Kaupen Die Hüter von Recht und Ordnung. Die soziale Herkunft, Erziehung und Ausbildung der deutschen Juristen – Eine soziologische Analyse, Neuwied/Berlin 1969; W. Kaupen/T. Rasehorn Die Justiz zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie, Neuwied/ Berlin 1971. 12 K. D. Opp/R. Peuckert Ideologie und Fakten in der Rechtsprechung, München 1971. 13 Vgl. H. Rottleuthner (Hrsg.), Studien zur Arbeitsgerichtsbarkeit, Baden-Baden 1984. 14 Vgl. E. E. Hirsch Rechtssoziologie heute, in: E. E. Hirsch/M. Rehbinder (Hrsg.) Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, Sonderheft 11 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln/Opladen 1967, S. 5–35 (23); N. Luhmann Evolution des Rechts (1970), in: Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt a.M. 1981, S. 11–34 (12); ders. Rechtssoziologie, Reinbek 1972, S. 3 ff.; H. Schelsky Soziologiekritische Bemerkungen zu gewissen Tendenzen von Rechtssoziologen, in: M. Rehbinder/H. Schelsky (Hrsg.) Zur Effektivität des Rechts. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. III , Düsseldorf 1972, S. 603–611 (603).

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einem standesideologischen Postulat belassen möchte,15 wären Fragen empirisch zu untersuchen wie die, ob die juristische Ausbildung zur Neutralisierung des sozialen Hintergrundes der Studierenden beiträgt.16 Können später Richter von ihrer sozialen Herkunft (Klasse, Schicht, Milieu, Religion), generell: von mit dem Eintritt in die Gesellschaft erworbenen Merkmalen abstrahieren? Dazu gehört auch das Geschlecht, wie alle anderen erwähnten Merkmale keine „natürliche“ Eigenschaft, sondern ein soziales, handlungswirksames „Konstrukt“.17 Wenn man Korrelationen zwischen Herkunftsmerkmalen und aktuellen Einstellungen zu rechtlich relevanten Themen findet, wäre zu fragen, ob diese Einstellungen auch in der Urteilstätigkeit als Richter zum Tragen kommen. (4) Der Betonung von „gender“ und der Vernachlässigung der SchichtVariable scheint die Vorstellung zugrunde zu liegen, dass es gar keine schichtspezifischen Muster, gar eine „Arbeiterkultur“ oder wenigstens stratifizierte Milieus gäbe. Es ist das Verdienst der Arbeiten von Michael Hartmann, die Bedeutung der sozialen Herkunft, von familialer Schicht oder des Milieus wieder betont zu haben.18 Seine Untersuchung von 6500 promovierten Ingenieuren, Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern aus mehreren Jahrgangskohorten zeigt, dass die Chancen, in eine Spitzenposition innerhalb von Unternehmen oder auch der Justiz zu gelangen, für den Nachwuchs aus dem gehobenen oder Großbürgertum ungleich größer sind als für Kinder aus der „Normalbevölkerung“. Wie immer die Erklärungen für diesen Befund aussehen, hier trifft allerdings die Charakterisierung zu, dass es sich um Beiträge zur Mobilitäts- und Elitenforschung handelt. Der Bezug zum Recht, und d. h. zur professionellen Tätigkeit der Juristen in unterschiedlichen Rängen der beruflichen Hierarchie, wird nicht hergestellt. (5) Wir werden weiterhin davon ausgehen können, dass es noch schichtspezifische kulturelle Muster gibt und dass sich diese wohl auch in berufs15 Dies war eine gängige Reaktion auf den Vorwurf von „Klassenjustiz“: „Der Richter kann sich kontrollieren und die ihm durch Ausbildung und Beruf ohnehin nahegelegte Fähigkeit zur Distanznahme von der Vorstellungswelt des ‚establishment‘ und seiner sozialen Schicht weiter entwickeln. Kraft intellektueller Anstrengung vermag er gleichsam aus dem Kreis herauszutreten, dem er sozial verhaftet ist.“ (R. Wassermann DRiZ 1966, 244; weitere Nachweise bei H. Rottleuthner Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, Frankfurt a.M. 1973, S. 57 ff.). 16 Hier liegt immer noch ein großes Forschungsdefizit. Es konnte auch nicht beseitigt werden durch die Untersuchung von A. Heldrich/G. Schmidtchen Gerechtigkeit als Beruf. Repräsentativumfrage unter jungen Juristen, München 1982. Zur Beantwortung der Frage ist das von den Autoren gewählte Querschnitt-Design nicht geeignet. Verlangt wäre eine Längsschnittanalyse. 17 Im Rückblick ist interessant zu sehen, wie in Umfragen zum sozialen Hintergrund die Schicht-(oder Klassen-)Variable mehr und mehr durch die Geschlechts-Variable verdrängt wurde; allenfalls der Nationalität oder Ethnizität wurde noch größere Aufmerksamkeit geschenkt. 18 Vgl. etwa M. Hartmann Der Mythos von den Leistungseliten, Frankfurt a.M. 2002.

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bezogenen Einstellungen manifestieren. Die Frage bleibt aber offen, ob sich solche Einstellungen in der beruflichen Tätigkeit tatsächlich niederschlagen. Ganz unabhängig von eventuellen Neutralisierungsleistungen wäre auch noch zu berücksichtigen, ob schichtspezifische Einstellungen in der Rechtsprechung überhaupt wirksam werden können. Viele Fragen, über die Gerichte zu entscheiden haben, dürften „schichtneutral“ sein. Welche Rolle könnte die Herkunft spielen, wenn es z. B. um ein Urteil darüber geht, ob ein Gericht vorschriftswidrig besetzt ist, wenn ein Ergänzungsrichter erst nach Beginn der Hauptverhandlung hinzugezogen wird? 19 (6) Für die „Objekte“ der Justizforschung, die sich selbst als Akteure verstehen, stellen Korrelationen zwischen Herkunftsmerkmalen und aktuellen Einstellungen eine Zumutung dar. Sie erkennen sich in den Korrelationen nicht wieder. Dies dürfte der Hauptgrund für die Abwehrreaktionen aus der Richterschaft und der sich mit ihr identifizierenden Schar akademischer Rechtslehrer gegen diese Art von rechtssoziologischer Justizforschung gewesen sein. Es handelt sich zumeist um Merkmale, für die man selbst nichts kann, weil sie mit der Geburt gegeben sind. Das katholische Beamtenkind vom Lande ist wohl das berühmteste Exempel. 20 Für mit der Geburt gegebene Merkmale kann man nichts, man trägt dafür keine Verantwortung. Im weiteren Leben sind sie kaum zu ändern – es sei denn man unterscheidet zwischen „angetaufter“ und praktizierter Konfession 21 oder unterzieht sich einer Geschlechtsumwandlung. Überdies sind die konstatierten Korrelationen insofern eine Zumutung, als sie erlebnismäßig kaum zu integrieren sind. Was soll jemand mit der Zuschreibung anfangen, dass er eine konservative Einstellung habe, weil er ein katholisches Beamtenkind vom Lande sei? Derart „äußerliche“ Korrelationen – äußerlich, weil sie nicht dem subjektiven Erlebnishorizont entsprechen – ließen sich in die interne Perspektive dadurch integrieren, dass eine Fülle von sozialisationstheoretischen Zusatzannahmen gemacht werden (z. B. über den beruflichen Status der Eltern und Erziehungsstile), die sich in ihrer Reichhaltigkeit schon einer biographischen Erzählung annähern. Das wäre ein Beitrag der soziologischen Aufklärung, für die nicht unbedingt psychoanalytische Annahmen über die Rolle frühkindlicher Erfahrungen und deren undurchschaute, unbewusste Bedeutung in der Lebensgeschichte bemüht werden müssen. 19 Eine wohl schichtneutrale Antwort findet sich in der Entscheidung des BGH v. 12. 7. 2001, NJW 2001, 3062. 20 Kaupen/Rasehorn aaO. (Fn. 11), S. 167 ff. 21 Die Definition von „Jude“ – als rechtsinternes Merkmal – war bei den Nazis an der Religion der Eltern und Großeltern festgemacht. Von den Betroffenen war diese Zuschreibung durch eigenes Handeln, etwa durch Konversion, nicht zu ändern. Daran wurden rechtliche, einschließlich tödlicher Konsequenzen geknüpft. Andere Grausamkeiten bietet das vergangene Jahrhundert hinsichtlich des Merkmals der Klassenherkunft.

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Erforderlich wäre eine deutliche Unterscheidung innerhalb der unabhängigen, erklärenden Variablen zwischen frühen, zugeschriebenen Merkmalen und lebensgeschichtlich später erworbenen, für die man etwas kann, weil sie einem durch eigene Tätigkeit zukommen. Die Justizforschung könnte sich solchen aktuellen Merkmalen zuwenden, die – weil selbst erworben – auch erlebnisnah sind. Ich möchte eine Reihe von Beispielen für solche Merkmale und mögliche Korrelationen anführen: welche Rolle spielt die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei in der Entscheidungstätigkeit (nicht nur am Bundesverfassungsgericht)? Wirkt sich die Gewerkschaftszugehörigkeit von Richtern an Arbeitsgerichten in ihrer Rechtsprechung aus? Judizieren Raucher anders als Nichtraucher bei (arbeitsgerichtlichen) Entscheidungen über die Einrichtung von Nichtraucherzonen in Betrieben? Richter, die selbst über Wohnungseigentum verfügen, entscheiden anscheinend weniger mieterfreundlich in Wohnungsmietsachen als Richter, die selber Mieter sind. 22 Spielt es in Ehesachen eine Rolle, ob der Richter/die Richterin geschieden ist oder nicht? Judizieren Richter in Verkehrssachen unterschiedlich, je nachdem, ob sie Autofahrer, Radfahrer, Fußgänger sind? Und wenn Richter selbst schon einmal Opfer eines Verkehrsunfalls wurden: spielt das bei der Bemessung des Schmerzensgeldes eine Rolle? Wirkt sich die praktizierte Konfession (nicht die angetaufte oder für die Kirchensteuer relevante) bei der Behandlung von Muslimen im Arbeits- oder Beamtenrecht aus? Wie hielten es die Richter am OLG Nürnberg mit der Religion, die die InternetPräsentation eines gekreuzigten Schweinchens für strafwürdig hielten? 23 Was geschieht, wenn passionierte Hundefeinde über die Gültigkeit von Kampfhundeverordnungen zu entscheiden haben? Sind sie gar selbst oder jemand aus dem Bekanntenkreis schon einmal von einem Hund – welcher Sorte? – gebissen worden? Richter, die bereits im „Dritten Reich“ amtierten und die nach 1945 über ihre früheren Kollegen in Rechtsbeugungsverfahren zu entscheiden hatten, kamen meist zu verständnisinnigen Freisprüchen. 24 Das sind alles keine Fälle von „Befangenheit“ i.S.v. § 42 ZPO /§ 24 StPO . Es geht nicht um eine parteiliche Verhandlungsführung und auch kaum um „Parteinähe“ oder spezielle Beziehungen zum Verfahrensgegenstand als per-

22 Vgl. H. Hilden Rechtstatsachen im Räumungsstreit. Zur Effektivität des sozialen Mietrechts und zur Unabhängigkeit der Rechtsprechung, Frankfurt a.M. 1976. 23 OLG Nürnberg v. 23. 6. 1998 ( NStZ - RR 1999, 238): „Der Protest vieler Tausender katholischer Christen gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens, dokumentiert in Einzelschreiben und in gemeinsamen Erklärungen, ist ein Indiz dafür, dass es zu einer Störung des öffentlichen Rechtsfriedens gekommen ist, dass die Protestierenden befürchten, vom Staat nicht mehr vor derart bösartigen Beschimpfungen ihres Bekenntnisinhalts geschützt zu werden.“ 24 Vgl. H. Rottleuthner Krähenjustiz, in: D. de Mildt (Hrsg.) Staatsverbrechen vor Gericht. Festschrift für C. F. Rüter zum 65. Geburtstag, Amsterdam 2003, S. 158–172.

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sönliches Merkmal, wie sie die Rechtsprechung bislang moniert hat. 25 Es geht darum, wie sich in die richterliche Argumentation der eigene Lebenshorizont oder der persönliche Erfahrungshintergrund einfügt. War bei der richtersoziologischen Hintergrundforschung zu fragen, wie die dabei festgestellten „externen“ Korrelationen in einen erlebbaren und auch argumentativen Zusammenhang integriert werden können, so stellt sich nun die Frage, ob sich die richterliche Argumentation von solchen soeben exemplarisch aufgeführten lebensweltlichen, erlebnisnahen Korrelationen reinigen lässt.

III. Der neue Determinismus der Neurowissenschaften Leitdisziplinen für „grundlegende“ Erklärungen menschlichen Verhaltens und gesellschaftlicher Verhältnisse lösen sich anscheinend ab; sie haben ihre Konjunkturen. War einmal das Denken von einer ökonomischen „Basis“ her prominent für die Erklärung von gesellschaftlichen „Überbau“-Phänomenen, so scheinen in letzter Zeit – nach diversen psychologischen Zwischen-Episoden (Psychoanalyse, Behaviorismus, Kognitionstheorien u. a.) – Rekurse auf biologische „Grundlagen“ modisch zu werden. Nicht näher eingegangen werden soll auf die Soziobiologie, die davon ausgeht, dass unser Verhalten durch unsere Gene bestimmt werde. 26 Es ist nur allzu deutlich, dass in dieser Theorie-Variante unsere genetische Ausstattung nur eine biologische Verdopplung von Kalkülen rationalen Handelns darstellt. Die „egoistischen“ Gene haben anscheinend eine Präferenzstruktur, wie wir sie bereits von utilitaristischen Theorien her kennen. Nun, da man mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms weit fortgeschritten ist, könnte man sich ja auch auf die Suche nach Genen begeben, die rationales Verhalten steuern, z. B. bei der Festlegung der optimalen Kinder25 An soziologisch relevanten Merkmalen kommen etwa in Betracht: das Geschlecht – und anscheinend ging es hier immer nur um Richterinnen – spielt keine Rolle (BayObLG, DRiZ 1980, 432). Kein Fall von Befangenheit liegt vor im Fall eines nach 1990 in den bundesdeutschen Justizdienst übernommenen DDR-Richters etwa in Verfahren gegen frühere SED -Mitglieder (BezG Rostock DtZ 1992, 62; vgl. auch BVerfG DtZ 1991, 408). Keinen Ablehnungsgrund bildet in der Regel die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe: nicht die Gewerkschaftsmitgliedschaft, selbst wenn der Hauptverband prozessbeteiligt ist (BAG BB 1987, 100; BVerfG NJW 1984, 1874); nicht die bloße Zugehörigkeit zu einer politischen Partei (BVerfGE 43, 128; 88, 13) oder zu einer Glaubensgemeinschaft (BayVerfGH NJW 2001, 2963), nicht bei Großvereinen wie dem ADAC ; problematisch wird es bei lokalen oder bei „elitären“ Vereinen (Rotary u. ä.) (vgl. Baumbach ZPO 62. Aufl. 2004, § 42 Rn. 54). Unklar ist die Situation bei wirtschaftlichen Interessen und Verbindungen. 26 Klassisch: E. O. Wilson Sociobiology. The New Synthesis. Cambridge, Mass 1975; als neuere Darstellung mit Rechtsbezug: A. von Rohr Evolutionsbiologische Grundlagen des Rechts. Zum Einfluß neurogenetischer Information auf das Recht. Ein Beitrag zur Rechtsethologie unter besonderer Berücksichtigung des Vertrauens im Recht, Berlin 2001.

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zahl. Solange ein solches Ansinnen illusorisch ist, liefert die Soziobiologie nur eine von der Genforschung inspirierte façon de parler. Was Gary S. Becker in der Terminologie einer Theorie ökonomisch-rationalen Handelns ausdrückt, schallt bei Richard Dawkins in genetischer Tonlage zurück. 27 Statt Methoden der Gentechnologie anzuwenden, werden von den Soziobiologen Annahmen einer Theorie rationalen Handelns in eine genetische „Grundlage“ projiziert. Ernster zu nehmen, auch hinsichtlich der normativen Konsequenzen, sind neuere Ansätze aus dem Bereich der neurobiologischen Hirnforschung. 28 Auch hier geht es „fundamental“ zu: alles menschliche Bewusstsein, das Erleben und Handeln des Menschen seien im Gehirn „fundiert“. Geistige Phänomene seien cerebral determiniert. Der Hinweis auf eine neurophysiologische Basis kann zunächst als ein allgemeines Prinzip verstanden werden, ähnlich dem Kausalprinzip. So wie man sagen kann, dass alles, was existiert, eine Ursache hat (mit Ausnahme des ersten Bewegers), so lässt sich behaupten: alle mentalen Vorgänge haben eine neuronale Basis. Einer solchen Konzeption – dass eine bestimmte physiologische Ausstattung notwendige Bedingung für geistige Vorgänge sei – können sogar Vertreter einer Re-Inkarnations-Lehre, wie Rudolf Steiner, zustimmen, wenn sie sagen, dass Seele und Geist den Leib brauchen, um Erfahrungen machen zu können. Das Problem liegt in der Bestimmung der Beziehungen zwischen Physischem und Mentalem (Leib und Seele, Körper und Geist, neuronalen Strukturen und Bewusstseinsphänomenen etc.). Die Positionen in der Behandlung dieses Problems sind bekannt: 29 der Dualismus behauptet, dass es zwei „Welten“ gibt, die parallel existieren und die miteinander in beiden Richtungen korrelieren können. Ein derart substantieller Dualismus wird kaum noch vertreten. In abgemilderter Form würde ein sprachlicher Dualismus behaupten, dass es zwei unterschiedliche Sprechweisen gibt – eine physikalistische, naturalistische und eine mentalis27 G. S. Becker The Economic Approach to Human Behavior, Chicago 1976; R. Dawkins The Selfish Gene, Oxford 1976. 28 In Deutschland sind vor allem Arbeiten bekannt von G. Roth [(Hrsg.) Kopf-Arbeit. Gehirnfunktionen und kognitive Leistungen, Heidelberg u. a. 1996; Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt a.M. 2003; Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt a. M. 2003] und W. Singer (Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt a.M. 2002; Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Frankfurt a.M. 2003). Diese Arbeiten sind nicht repräsentativ für die Diskussion über „mind and brain“ in den Kognitionswissenschaften; eine zurückhaltende Position vertritt z. B. N. Chomsky On Nature and Language, Cambridge 2002. – Nach Fertigstellung des Manuskripts erschienen das Schwerpunktheft der DZPhil 2004, 221–293 mit Beiträgen von G. Roth, W. Singer und H.-P. Krüger sowie A. Schiemann Kann es einen freien Willen geben? – Risiken und Nebenwirkungen der Hirnforschung für das deutsche Strafrecht, NJW 2004, 2056–2059. 29 Wiederum als „Klassiker“: H. Feigl The „Mental“ and the „Physical“. The Essay and a Postscript, Minneapolis 1967.

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tische, intentionale –, die sich in unterschiedlicher Weise, die nicht ohne Bedeutungsverlust ineinander übersetzbar ist, 30 auf „Dasselbe“ beziehen. Die Frage ist dann freilich, was dieses „Dasselbe“ sei. Ein Dualismus ließe sich in der Weise aufrechterhalten, dass man mentale und physikalische Eigenschaften unterscheidet, die einem Menschen zukommen können. Dann ist die Frage, ob sich mentale auf physikalische Eigenschaften reduzieren lassen. Ein Monist (oder Physikalist) würde die Ansicht vertreten, dass sich Bewusstseinsphänomene (Überzeugungen, Gefühle etc.) auf natürlich-physikalische Zustände zurückführen oder gar mit ihnen identifizieren lassen. 31 Die Neurobiologie behauptet nun nicht nur, – dass es Korrelationen zwischen körperlichen Bewegungen, Empfindungen, Gefühlen auf der einen Seite und Erregungszuständen der Nervenzellen gibt; – sondern stärker, dass die neuronalen Zustände den subjektiven Erlebnissen zeitlich vorangehen – wie die vielzitierten Experimente von Libet gezeigt hätten. Zunächst „feuern“ die Neuronen, erst dann entscheide ich mich scheinbar frei. Deshalb „beruht“ das Mentale auf hirnphysiologischen Prozessen, es ist deren „Folge“. Neuronale Prozesse „führen zu“ mentalen Vorgängen, Handlungen, Empfindungen. Damit wären die klassischen Bedingungen von Kausalität erfüllt: x ist eine notwendige Bedingungen für y; es besteht eine hohe Korrelation zwischen beiden und x geht y zeitlich voraus. Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, eine genaue Zuordnung von neuronalen und mentalen Zuständen vorzunehmen. Haben alle mentalen Zustände eine genau entsprechende neuronale Basis? Ist eine vollständige Reduzierbarkeit der einen auf die andere möglich? Für Neurobiologen stellt sich das Problem der Rückführbarkeit des Mentalen auf Neuronales anscheinend weniger als ein sprachtheoretisches oder philosophisches dar, sondern eher als eines der Messung. Wenn man nur ganz fein und genau die Hirnzustände beobachten könnte, dann müssten sich darin die sogleich ins Bewusstsein steigenden Phänomene konstatieren lassen. Die Probleme sind allerdings reichhaltig: (1) Eine Messung, zumal eine solche Feinmessung im Mikro-Bereich, greift in das zu beobachtende Geschehen ein. Dazu muss man gar nicht auf quantentheoretische Einsichten verweisen; für Soziologen genügt ein Hinweis auf das allgemeine Problem „reaktiver Verfahren“ (mit dem Interview als klassischem Beispiel). 30 D.h., für intentionale Ausdrücke wie wollen, glauben, streben, beabsichtigen, überzeugt sein, abwägen. begründen, entschuldigen, erwarten etc. gibt es keine Synonyma innerhalb von Beschreibungen neuronaler Zustände und Prozesse. Was allgemein unter einer „physikalistischen“ Sprache heute verstanden werden kann, ist nach der Verabschiedung eines mechanischen Weltbildes durch die Quantentheorie alles andere als klar. 31 Der Begriff der Emergenz führt auch nicht weiter. „Minds are emergent properties of brains.“ (Mountcastle).

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(2) Die verschiedenen Richtungen der Korrelation lassen eine eindeutige kausale Interpretation nicht zu. (a) Mit Hilfe elektrophysiologischer Untersuchungen oder bildgebender Verfahren (Positronen-Emissions-Tomographie, Kernspinresonanz-Spektroskopie) kann man feststellen, welche Hirnregion sich ändert, aktiviert wird, wenn man was macht, fühlt, denkt. Man kennt also den Bewusstseinszustand und -inhalt oder die Handlung (meist eine Bewegung) etc. und beobachtet Veränderungen in Hirnarealen. Welcher Bewusstseinszustand entspricht welcher Verfärbung auf dem Bildschirm oder welcher aktivierten Region? Hier kann man anscheinend bislang nur zeigen, in welcher Region eine erhöhte neuronale Aktivität stattfindet. Vorausgesetzt wird dabei aber immer die Kenntnis der mentalen Vorgänge oder der „äußerlichen“ körperlichen Bewegung. Ohne diese Kenntnis weiß man gar nicht, was man sieht. Das Vorgehen gleicht eher einem Stochern mit der Stange im Nebel, wobei die „Stange“ für immer feinere Messapparate steht, bei deren Anwendung sich der Nebel aber nicht lichtet. Statt mentalistische, intentionalistische Merkmale auf physikalistische zu reduzieren (und eine entsprechende intentionalistische Redeweise zu eliminieren), wäre doch nach den neuronalen Bedingungen von Intentionalität zu forschen. (b) Man kann Hirnregionen reizen, um körperliche Bewegungen auszulösen. Dabei kommen aber bislang nur Primitivformen von Handlungen heraus, z. B. eine Fingerbewegung, die sich durch Reizung des motorischen Kortex auslösen und dann auch noch als „freiwillig“ erleben lässt. (Hier wäre im übrigen zu fragen, was denn die neuronale Grundlage für dieses Erlebnis des freien Willens ist.) – Bestimmte Hirnregionen können verletzt oder sonst wie verändert sein, was zu motorischen und geistigen Defiziten führt (z. B. Aphasie, Alzheimer). Hirnläsionen können den moralischen Sinn und soziales Verhalten verändern. Das ist alles noch sehr grob. 32 (c) Umgekehrt kann man Hirnströme beeinflussen durch induzierte Erlebnisse, Gefühle, Vorstellungen. Das ist bekannt von Methoden des Biofeedback, von autogenem Training oder Meditation. Das lässt sich auch therapeutisch für Gelähmte nutzen. Wenn man sich eine Bewegung ganz fest vorstellt, erhöht dies die Hirnaktivität in bestimmten Arealen. Die regional unterschiedlichen EEG -Signale können für einen Computer lesbar gemacht werden. Allerdings lassen sich auch hier nur ganz grobe Bewegungen der

32 Eine besonders grobe Stufe der Forschung ist dokumentiert bei P. D. MacLean Die drei Dimensionen der Entwicklung des Gehirns und des Rechts, in: M. Gruter/M. Rehbinder (Hrsg.) Der Beitrag der Biologie zu Fragen von Recht und Ethik, Berlin 1983, S. 111–128: Von sehr groben Verhaltensähnlichkeiten zwischen Reptilien, Primaten und Menschen wird auf eine wohl gemeinsame Basis im Gehirn geschlossen. Hirnphysiologische Grobheiten, d. h. Exzisionen von Hirnarealen, führen zu anormalen Verhaltensweisen.

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rechten oder der linken Hand erfassen, nicht aber, um welche Bewegung es sich handelt. 33 (3) In einem größeren Kontext betrachtet, handelt es sich bei den neurobiologischen Ansätzen um eine weitere Variante des Schlusses von äußerlich Beobachtbarem, Physischem auf innere, psychische Zustände, auf Gedanken, Einstellungen, Charaktereigenschaften. Das hat eine lange Geschichte. Dabei wird das Äußere wie das Innere anscheinend immer mehr verfeinert. Die Astrologie schließt von kosmischen Ereignissen auf Charaktermerkmale und Lebensereignisse. Bei der Konstruktion von Nationalcharakteren wird der Ausgangspunkt des Schlusses schon etwas reduziert. Dann geht es endlich an den einzelnen Menschen: die Physiognomik (Lavater) schließt von der äußeren Erscheinung des Individuums (vor allem Kopf, Gesicht) auf das Wesen der Person. Rassenlehren klassifizieren Menschengruppen nach phänotypischen Merkmalen und schreiben ihnen „innere“ Eigenschaften zu. „Tiefer“ dringt die Kraniologie (Kranioskopie, Kraniometrie) etwa des Anatomen Franz Joseph Gall (1758–1828). Er versuchte bereits, die verschiedenen geistigen Fähigkeiten des Menschen als Funktionen bestimmter Areale des Großhirns zu bestimmen. Die Leistungskraft der Areale hinge von ihrem Volumen ab. Sie würden von innen her die äußere Schädelform bestimmen. Folglich könne man von den Ausbuchtungen und Einsenkungen im Schädel auf unterschiedliche intellektuelle und charakterliche Eigenschaften schließen. Die Schädelknochenformen ließen also einen Schluss auf die Form des Gehirns und das darin steckende Bewusstsein zu.34 Dann kommt Paul Broca (1824–1880) mit der Entdeckung des Sprachzentrums im Gehirn. Bekannt werden Untersuchungen an Gehirnen verstorbener Berühmtheiten (von Lenin über Einstein bis zu Ulrike Meinhof). Am vorläufigen Endpunkt der Verfeinerung stehen die jüngsten neurophysiologischen Messverfahren. Wenn man nur genau genug messen könnte, ließen sich auch Zusammenhänge zwischen neuronalen Prozessen und einzelnen Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken entdecken. Das ist wohl das für viele faszinierende Versprechen der Hirnforschung: dass es einstmals möglich sein wird, „Gedanken zu lesen“. Wenn man nur lange genug forschte – und lange genug dafür Geld bekäme –, ließe sich die bislang noch krasse Undeterminiertheit der Erklärungszusammenhänge verringern. 33 Um es nur ein wenig komplexer zu machen: Lassen sich solche noch recht einfachen Vorgänge in einem EEG oder anderswie abbilden, wie sie in Feldenkrais-Übungen im Komplex „Awareness Through Movement“ (ATM ) vorkommen? Nach Anleitung durch einen Trainer erfolgt die Vorstellung, Vorbereitung einer Bewegung, dann die tatsächliche Ausführung, schließlich ist zu achten auf Empfindungen in anderen Körperregionen, auf die die Vorstellung nicht gerichtet war. Wie sieht die neurophysiologische Welt dabei aus? 34 Seine „Kranioskopie“ erregte im frühen 19. Jahrhundert anscheinend großes Aufsehen in Europa, u. a. bei Goethe, der sich 1826 den exhumierten Schädel Schillers bringen ließ (vgl. seine Terzinen vom Sept. 1826 „Schillers Reliquien“; Goethe Gedichte in zeitlicher Folge, Frankfurt a.M. 1978, Bd. 2, S. 394 f.).

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(4) In der gesamten Leib-Seele-Debatte taucht eine Dimension überhaupt nicht auf: die Gesellschaft. Wo bleibt neben dem Physikalischen und Mentalen das Soziale? Müsste nicht in die Diskussion um Monismus oder Dualismus auch eine Position des „Trialismus“ 35 einbezogen werden, die die Eigenständigkeit des Sozialen gegenüber dem Psychischen verträte? Ein solches Gebilde wie „Gesellschaft“ müsste natürlich auch neuronal möglich sein, ließe sich aber nicht darauf „reduzieren“. Es gibt (auf einer psychischen Ebene) ein Erleben, das Anlass gibt, sinnvoll von einem gesellschaftlichen Zusammenhang zu reden, der über das Subjekt hinausreicht. Das „Erlebnis“ von Gesellschaft weist über dieses Erlebnis hinaus, auf ein „etwas“, eben die Gesellschaft. Wir erleben, dass wir in Verhältnisse hineingeboren werden, die wir uns nicht aussuchen konnten. Das meiste ist ja schon vorhanden: die Mittel der materiellen Reproduktion – das Hirn muss ja irgendwie leben –, arbeitsteilige Organisation, Märkte, technisches Wissen. Das alles ist von Individuen nur in geringem Maße zu gestalten. In die kulturellen Bedingungen müssen wir „sozialisiert“ werden, und das ist wohl nur durch andere Subjekte möglich. Sprache ist da, Traditionen, Wissensvorräte, kollektive Deutungen, Schrift, schriftliche Zeugnisse und andere Materialisierungen historischer Zusammenhänge. Wir wissen und wir erleben es auch spätestens beim Tod von Mitmenschen, dass die Verhältnisse auch nach unserem Tod weiter bestehen werden. Es ist ja geradezu das „Wesen“ von Institutionen, dass sie ihre Mitglieder überdauern. Die Gesellschaft leistet uns Widerstand in der Erfahrung der Objektivität von Regeln, die nicht die privaten, situativen Erfindungen der Akteure sind und nicht einfach durch volitive Akte, denen ein neuronales Erregungspotential „entsprechen“ mag, geändert werden können. Soziale Normen sind zeitlich und sozial generalisiert. Auf unserer neuronalen Basis können wir die Idee entwickeln und auch danach handeln, dass Normen, zumal Rechtsnormen, allgemeinverbindlich sind, also jenseits unserer neuronalen Repräsentation und subjektiven Empfindungen „gelten“. Auf Gesellschaft als eines Zusammenhanges jenseits des individuellen Erlebnishorizontes wird in Theorien Bezug genommen, z. B. in Ideen eines Gesellschaftsvertrages, durch den mittels individueller Übereinkunft etwas Transsubjektives konstituiert wird. Die Figur der „bürgerlichen Gesellschaft“ als eines objektiven arbeitsteiligen Marktzusammenhanges im Rahmen (normativer) Institutionen leitet von der sozialphilosophischen zur soziologischen Reflexion über, speziell zu Durkheims Versuch, die Soziologie als eigenständige Disziplin zu begründen mit einer scharfen Abgrenzung ge35 Drei „Welten“ unterscheiden K. R. Popper/J. C. Eccles The Self and Its Brain – An Argument for Interactionism, Berlin u. a. 1977 (dt. Üb. Das Ich und sein Gehirn, München/ Zürich 1982): Welt 1: der Bereich des Physischen und Messbaren, Welt 2: der Bereich der Empfindungen und Emotionen, Welt 3: die Welt des Wissens und der Argumente. Hier fehlt die Fortschreibung in die Welt des Sozialen.

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genüber der Psychologie mit „sozialen Tatsachen“ als eigenständigem Gegenstandsbereich. In dieser Tradition verankert sich dann Luhmann mit seiner systemtheoretischen Ontologie von vier Schichten – nicht gerade des Seins, sondern von Systemen: mechanische, biologische, psychische/mentale und schließlich soziale Systeme (mit der Weltgesellschaft als dem sozialen System). Dies ist der bislang wohl anspruchsvollste Versuch, eine eigenständige Sphäre des Sozialen theoriekonstruktiv zu begründen. Erstaunlich ist nun, dass viele Neurowissenschaftler zwar geflissentlich eine intentionalistische Redeweise zu vermeiden versuchen, aber ganz unbefangen von „Gesellschaft“, „gesellschaftlich“ reden. Damasio36 unterscheidet etwa zwischen emotions (körperliche Reaktionen), feelings (bewusste Wahrnehmung dieser Reaktionen) und schließlich sozialen Konventionen, ethischen Regeln, die auf einen Gleichgewichtszustand zielen, der für „Überleben und Wohlbefinden“ sorge analog zur „homöostatischen Organisation“ des Menschen. Nach G.Roth sei die Illusion der Autorschaft für unsere Handlungen (Selbstzuschreibung) auch Folge der „Zuschreibung durch die soziale Umwelt“. 37 Das Gefühl der Autorschaft spiele eine wichtige Rolle in der „sozialen Kommunikation“, „denn Handlungen verlangen sozial akzeptable Erklärungen“. 38 Er spricht von der „individuellen Erfahrung (die natürlich immer auch gesellschaftlich vermittelte Erfahrung ist)“. 39 Verhaltensähnlichkeiten und Berechenbarkeit des Verhaltens seien notwendig „für ein geordnetes gesellschaftliches Leben“. Die Verantwortlichkeit für das eigene Tun sei „ein soziales Konstrukt“ und die Beschreibungen eigenen und fremden Tuns seien „sozial-sprachlich vermittelt“.40 (5) Was können wir von den Neurobiologen speziell über das Recht lernen? Es gehört zu den wundersam-wunderbaren Ausstattungen des Menschengeschlechts, dass sich aus einem System von Nervenzellen nicht nur so etwas wie subjektive Erlebnisse entwickeln können, sondern auch Vorstellungen von der Objektivität von Regeln: der Logik, der Sprache und eben gerade des Rechts als Paradebeispiel für transsubjektive Entitäten. In welcher Weise existiert Recht? Nicht bloß als neuronale Struktur. Denn was hieße da „existieren“? Keine noch so genaue Analyse eines neuronalen Er36 A. R. Damasio Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen, München 2003. 37 G. Roth Willensfreiheit, Verantwortlichkeit und Verhaltensautonomie des Menschen aus Sicht der Hirnforschung, in: D. Dölling Hrsg., Jus Humanum. Grundlagen des Rechts und Strafrecht. Festschrift für Ernst-Joachim Lampe zum 70. Geburtstag, Berlin 2003, S. 43–63 (55 f.). 38 Ebd., S. 56. Natürlich habe die Selbstzuschreibung dann auch wieder „komplizierte neurobiologische Grundlagen“ (ebd.). 39 Ebd. 40 Ebd., S. 57.

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regungszustandes wird wohl den Schluss zulassen, dass das Hirn des untersuchten, erlebenden Subjekts gerade § 157 ZPO „erlebt“ – in welcher Eigenschaft eigentlich: als Richter in Zivilsachen oder als Prozessvertreter? Unterscheidet sich der neuronale Zustand nach dem Status, der Kompetenz einer Person? Unterscheidet sich das Hirn eines Bundesverfassungsrichters von dem eines Richters am Amtsgericht? Da kann man spöttisch werden oder seinen Spott „erleben“ – auf neuronaler Basis, versteht sich. Recht existiert nicht nur in individuellen Erlebnissen, nicht nur in kommunikativen Situationen, auch nicht in einem platonischen Normenhimmel, einer anderen Welt. Unsere hirnphysiologische Ausstattung erlaubt es anscheinend, Normen zu bilden, die mit einem intersubjektiven Geltungsanspruch auftreten und erfahren, empfunden werden; an denen sich unser Handeln orientieren kann, auf die man sich zur Begründung von Entscheidungen berufen kann. Aber was sind die neuronalen Bedingungen dieser humanen Möglichkeit? Was können die Neurowissenschaftler zum allgemeinen Problem des „Sollens“ und der moralischen Wertungen beitragen? Die Entgegensetzung von Determinismus und Willensfreiheit ist schief. Auf das allgemeine Problem will41 ich hier nicht eingehen. Die Analyse richterlichen Handelns zeigt, dass es nicht nur um Determination versus freier Wille geht. Weder noch: eine richterliche Entscheidung soll regelgeleitet sein, orientiert an allgemeinen Normen und/oder regelhaften Präzedenzien. Der „freie Wille“ des Richters soll immer ein normengebundener sein. Seine Freiheit ist nur negativ bestimmt. „Frei“ soll er insofern sein, als kein unzulässiger externer Einfluss auf ihn genommen werden darf – wobei die oben erwähnten mehr oder weniger erlebnisnahen Einflüsse (bis hin zu rein externen Korrelationen) nicht in den Bereich des normativ „Unzulässigen“ fallen. Eine richterliche Entscheidung muss zudem begründet werden. Gründe müssen „abgewogen“ werden. Es ist schwierig genug, den Vorgang des „Abwägens“ überhaupt irgendwie nachvollziehbar darzustellen. Da bedarf es scharfsinniger rechtstheoretischer Analysen 42 die nicht durch hirnphysiologische Untersuchungen zu ersetzen sind. Wenn man nicht weiß, wonach man eigentlich suchen soll, sucht der Neurobiologe Zuflucht im Metaphorischen. 43 Nach G.Roth geraten beim Abwägen Netzwerke des Stirnhirns in ein erhöhtes „Rauschen“. 44 Welche Argumente uns in den Sinn kommen, werde von unserem „unbewußt arbeitenden Erfahrungsgedächtnis be-

41 Ob man eine Erklärung für diese Volition in meinem Hirnzustand vor Schreiben dieses Satzes hätte finden können? Jedenfalls keine Rechtfertigung. 42 Vgl. etwa R. Alexy Die Gewichtsformel, Gedächtnisschrift für Jürgen Sonnenschein, Berlin 2003, S. 771–792 43 Übrigens eine erstaunliche kognitive Leistung, die selbst sicherlich wieder ihre neuronale Grundlage hat. 44 Roth aaO. (Fn. 37), S. 53.

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stimmt, über das wir keine willentliche Macht haben“. 45 Ein solches Gedächtnis ist bei einem abwägenden Richter sicher Resultat der juristischen Sozialisation, die sich dann irgendwie in neuronale Strukturen eingräbt. Das Resultat der Abwägung unterliegt nach Roth der „Letztentscheidung des limbischen Systems“. Das ist eine ganz okkulte „Erklärung“. Dann wird es wiederum nur metaphorisch: unser „Verstand“ (was immer das sei) könne als „Stab“ von corticalen „Experten-Beratern“ angesehen werden, dessen sich das (letztlich) verhaltenssteuernde limbische System bediene. Entscheidend sei, ob das limbische System aus dem „Ratschlag“ der „Experten“ ein „emotional verträgliches Verhalten erzeugen“ könne. Das Resultat müsse „übereinstimmen“ mit der bewussten und unbewussten individuellen „Erfahrung“, die im limbischen System gespeichert sei. 46 Man könnte aber auch sagen: Das Resultat muss übereinstimmen mit den Anforderungen der Logik und dem Spektrum der im juristischen Diskurs zulässigen Argumente. 47 (6) Die menschliche Vernunft ist anscheinend grenzenlos. So bewegen sich Neurobiologen jenseits ihrer kausalwissenschaftlichen Mikro- Gefilde ganz zwanglos in gesellschaftswissenschaftlichen Bereichen und ziehen auch normative Konsequenzen aus ihren Befunden. Mit ihren Empfehlungen wollen sie nicht nur Einstellungen und über bestimmte „Attraktoren“ die neuronalen Strukturen ihrer Adressaten ändern, sondern auch die gesamte „Gesellschaft“: „Eine Gesellschaft darf niemanden bestrafen, nur weil er in irgendeinem moralischen Sinne schuldig geworden ist – dies hätte nur dann Sinn, wenn dieses denkende Subjekt die Möglichkeit gehabt hätte, auch anders zu handeln als tatsächlich geschehen.“ An diesen Satz von Gerhard Roth knüpfte Klaus Lüderssen in einem Artikel in der FAZ vom 4. 11. 2003 an, mit dem eine Serie von Beiträgen zur neueren Hirnforschung eröffnet wurde. Dagegen holte dieser das Schreckgespenst des „geborenen Verbrechers“ von Lombroso aus dem Keller. Man könnte aber auch konsequent weiter argumentieren und fragen, wieso denn ein Strafrichter als „denkendes Subjekt die Möglichkeit gehabt hätte, auch anders zu handeln als tatsächlich geschehen“. Wenn alle unsere von Denken begleiteten Handlungen (irgendwie) determiniert sind, dann muss das auch für Richter, PoliEbd., S. 54. Ebd., S. 54 f. – In welcher Bedeutung werden hier Begriffe wie „entscheiden“, „auf Konsistenz prüfen“ verwendet? 47 Auf der Ebene des subjektiven Erlebens bewegen sich die amerikanischen Rechtsrealisten bei der Beschreibung des Phänomens des „hunch“ und des „hunching“. Sie suchen aber nicht nach dessen physiologischen Grundlagen, sondern versuchen in anderer, normativer Richtung dessen Verhältnis zu den Standards rationalen Begründens zu klären. Vgl. etwa J. Frank Courts on Trial (1949), New York 1969, S. 183 f. Im deutschen Sprachraum wird das Problem z. B. diskutiert als das Verhältnis der Herstellung und Darstellung einer Entscheidung. Selbst wenn es sich bei Begründungen nur um (nachträgliche) „Rationalisierungen“ handeln sollte, wären dies erstaunliche Leistungen, über deren neuronales Korrelat man gerne näheres erführe. 45 46

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zisten, Gefängnispersonal etc. gelten. Warum sollen die einen nach Kausalitätsprinzipien „behandelt“ werden, die anderen aber eine moralische Zurechnung erfahren? 48 In einer konsequent deterministischen Welt braucht sich gar nichts zu ändern; alle handeln notwendig so, wie sie es tun. Ist der in einem normativen Diskurs der Zurechnung formulierte Zusammenhang zwischen abweichendem Verhalten und Sanktionierung ohne Informations- und Orientierungsverlust in einer kausalen Sprache reformulierbar? Woran erkenne ich z. B. bei der Konstruktion eines kausalen Zusammenhangs etwa zwischen Taten (die sich in einer anderen Welt als Verbrechen und Strafe beschreiben lassen), dass es sich um das Hirn eines „Richters“ (und nicht eines „Kriminellen“) handelt? Ist der Unterschied zwischen einfacher, grober Fahrlässigkeit und Vorsatz neuronal repräsentiert? Beim Akteur und/oder beim zuschreibenden Richter? Wenn „Schuld“ nur ein Hirngespinst ist – ist dann dieses Gespinst wenigstens im Hirn des Richters nachweisbar? Wie lässt sich eine normative Äußerung („darf niemanden bestrafen“) in eine kausale übersetzen? Was geschieht hirnmäßig, wenn darüber Argumente ausgetauscht werden? Was ging im Hirn von Gerhard Roth vor, bevor und als er diesen Satz schrieb? Wie viele Millisekunden dauerte es, bis sich sein neuronaler Zustand in einen solchen Gedanken und in eine entsprechende sprachliche Artikulation verwandelt hatte? Hätte er als „denkendes Subjekt“ auch die Möglichkeit gehabt, einen sinnvolleren Gedanken zu entfalten? 49 Sollten wir ihm empfehlen, noch einmal „in sich“ zu gehen? Wohin eigentlich? Oder sollten wir einfach einen solchen Satz auf unsere neuronalen Zustände einwirken lassen und dann die Wirkungen in uns konstatieren? Aber vielleicht liegt auch nur ein Missverständnis meinerseits vor. 48 Zum Verhältnis von Kausalität und Zurechnung hat sich Hans Kelsen im rechtstheoretischen Bereich wohl am ausführlichsten geäußert; vgl. Vergeltung und Kausalität, Den Haag 1941 (Neudruck 1982); Society and Nature, Chicago 1953; Kausalität und Zurechnung, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht N.F. 1954, 125–151; Reine Rechtslehre, 2. Aufl. Wien 1960, S. 79 ff. 49 Ganz ohne hirnphysiologischen Reduktionismus kommen Sätze aus, die auch von einem Lernpsychologen geäußert sein könnten, der sich nicht scheut, von „Gesellschaft“ zu reden. Sie stammen aber von G. Roth (aaO. (Fn. 37), S. 57): „Je mehr wir über die Bedingtheit von Charakter und Persönlichkeit durch Vererbung und frühkindliche Prägung und das relativ geringe Ausmaß größerer Verhaltensänderungen im Erwachsenenalter lernen, desto mehr müßten wir die Begriffe „Willensfreiheit“ und „Schuld“ aus unserem Vokabular streichen. An ihre Stelle würden in viel stärkerem Maße als bisher Erziehung, Umerziehung und Besserung treten, und es wäre dann ein unverzichtbares Forschungsprogramm herauszufinden, wie und in welchem Ausmaß dies möglich ist und wann nur die Entfernung aus der Gesellschaft („Wegsperren“) als Ausweg bleibt. Ob und in welchem Maße dies gesellschaftlich möglich oder wünschenswert ist, muß ein vorurteilsfreier interdisziplinärer Diskurs klären.“ Wieso zieht der Neurobiologe nur das „Wegsperren“ in Betracht und nicht auch mehr oder weniger grobe Eingriffe in das Gehirn von Kriminellen? Das scheint (noch) nicht „gesellschaftlich wünschenswert“ zu sein.

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G.Roth fordert ja, dass „eine Gesellschaft“ nicht strafen dürfe. Dann stellt sich allerdings die Frage, was die neuronale Basis einer „Gesellschaft“ ist und ob die ein Hirnforscher jemals untersucht hat, jemals wird untersuchen können.

IV. Korrelation und Argumentation in Soziologie und Neurobiologie Bei den Korrelationen zwischen sozialen Hintergrundmerkmalen oder neuronalen Prozessen (als unabhängigen Variablen) und irgendwie rechtsbezogenen (abhängigen, zu erklärenden) Variablen handelt es sich jeweils um probabilistische Zusammenhänge. Die Erklärungen sind unterdeterminiert. Unterschiede zwischen beiden Erklärungsmodellen bestehen hinsichtlich der „Rechtsnähe“ der Explananda und hinsichtlich der „Erlebnisnähe“ des Explanans. Die Richtersoziologie zog sich den Vorwurf einer „Rechtssoziologie ohne Recht“ zu, weil sie mit Hilfe sozialer Hintergrundmerkmale nur Karrieremuster oder Einstellungen zu erklären versuchte, wobei die Einstellungen mehr oder weniger berufsbezogen waren. Eine „Rechtsnähe“ wurde erst dann erreicht, wenn zumindest das tatsächliche Entscheidungsverhalten zum Erklärungsgegenstand wurde. Dies geschah aber meist nur grob im Hinblick auf das Ergebnis („Erfolg“ gemessen an der Kostenverteilung, Strafhöhe u. ä.). Die juristische Argumentation kommt erst in den Blick, wenn im Rahmen von Inhaltsanalysen auch die Entscheidungsbegründungen analysiert wurden. Die meisten derartigen Untersuchungen blieben aber auf einer deskriptiven Ebene, ließen also den sozialen Hintergrund als Erklärungsebene unberücksichtigt. 50 Was das Explanans angeht, so hatte ich moniert, dass viele der Hintergrund-Variablen zu weit entfernt vom Erlebnis- oder Erfahrungshorizont der nun handelnden Subjekte sind. Allerdings sollte man es den Akteuren auch nicht zu leicht machen, indem man sich als deren Beobachter nur in ihren subjektiven Horizont „verstehend“ versetzt. 51 Selbst ein „teilnehmender Beobachter“ wird auf undurchschaute Zusammenhänge, auf nicht aufgehellte Abhängigkeiten achten – bei den Akteuren, wie bei sich selbst. Die Frage ist nur, ob solche externen Korrelationen in Lernprozessen einholbar sind. Ich hatte oben Beispiele für Merkmale genannt, die schon sehr erlebnisnah sind. Aber auch klassische soziologische Variablen wie Schichtzugehörigkeit, Milieu, Geschlecht, Alter, ethnische und nationale Herkunft, die als solche nicht handlungsZu einer Ausnahme vgl. Fn. 24. „Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt …“ K. Marx Zur Kritik der politischen Ökonomie – Vorwort (1859), MEW 13, S. 9. 50 51

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relevant sind – sie taugen argumentativ nicht für die subjektive Handlungsorientierung und -rechtfertigung –, lassen sich über zahlreiche Zwischenschritte und Zusatzannahmen im Akteurshorizont vergegenwärtigen. 52 Im Fall der neurobiologischen Erklärungen von Rechtsphänomenen fällt die Dürftigkeit des Explanandums ins Auge. Institutionelle Tatsachen fallen aus dem Beschreibungsrahmen heraus. Denn wie anders als durch Nutzung einer rechtlich informierten Beschreibung ließe sich sagen, dass es sich um das Hirn eines Richters, eines Bundestagsabgeordneten, eines Polizisten handelt? Es bleibt eine „Neurobiologie ohne Recht“. Was das Explanans angeht, so sollte die hochgradige Unwissenheit über die neuronale „Basis“ viel deutlicher gemacht werden. Dass etwa „das limbische System“ letztlich in argumentativen Abwägungsprozessen entscheidet, ist doch nur als eine vage Suchanleitung zu verstehen, die zudem mit einer intentionalen Ausdrucksweise belastet ist. Zum Verhältnis von neuronalen Prozessen und Argumentationen möchte ich nur einige Fragen formulieren: gibt es unterschiedliche neuronale Prozesse für unbewusste Vorgänge und für bewusste, argumentierende Vorgänge? Korreliert ein Argument mit neuronalen Aktivitäten? „Beruhen“ Argumente auf Hirnprozessen? In welchem Sinn? Kann ein Argument in neuronale Aktivitäten „übersetzt“ werden? Können auf neuronaler Ebene Rationalisierungen und „wirkliche Gründe“ unterschieden werden? Wie können Gründe das Gehirn kausal beeinflussen? Wie fungieren Gründe als „Attraktoren“? Für die Akteure sind bei den soziologischen, externen Korrelationen Lernprozesse möglich. In Abwandlung der psychoanalytischen Maxime „Wo Es war, soll Ich werden.“ könnte man sagen: „Wo Externes war, soll Internes werden.“, d. h., externe Korrelationen sollen als interne Zusammenhänge vergegenwärtigt werden. Von der Hirnforschung werden keine unbewussten Vorgänge ins Bewusstsein gehoben. Wenn ich mir die Befunde einer Tomographie oder Spektographie auf dem Bildschirm anschaue, sehe ich ein buntes abstraktes Bild, das mich nicht auf neue Gedanken über meine Gedanken bringt; ich lerne nichts. Aber vielleicht doch: Ich kann die Ausstattung des Gehirns als einmalige evolutionäre Errungenschaft bewundern und staunen, zu welchen Leistungen und Kompetenzen es befähigt.

52 Bei der Erklärung abweichenden oder konformen Verhaltens geht eine Theorievariante im Rahmen eines utilitaristischen Handlungsmodells von den subjektiven Orientierungen der Akteure aus, von ihren Kenntnissen, Folgeeinschätzungen, Präferenzen etc. (K. D. Opp Soziologie im Recht, Reinbek 1973; A.Diekmann Die Befolgung von Gesetzen. Empirische Untersuchungen zu einer rechtssoziologischen Theorie, Berlin 1980). Andere Ansätze arbeiten mit soziologischen Variablen bei der Erklärung der Kriminalität der Unterschichten, Frauen, Ausländer etc. Beide Ansätze sollten und könnten verknüpft werden.

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Zwischen Markenrecht und Wettbewerbsrecht – Zur Standortbestimmung der geographischen Herkunftsangaben und zum Anwendungsbereich des § 2 MarkenG – Claus Dietrich Asendorf

Inhaltsübersicht Seite

I. Historischer Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Markengesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kennzeichnungsfunktion geographischer Herkunftsangaben und das Problem ihres Schutzes als gewerbliches Eigentum . . . . . IV. Kennzeichenrechtlicher oder wettbewerbsrechtlicher Schutz der geographischen Herkunftsangaben . . . . . . . . . . . . . . . V. Anwendungsbereich des § 2 MarkenG . . . . . . . . . . . . . VI. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Historischer Ausgangspunkt Im Allgemeinen erfasst man unter dem Begriff des Wettbewerbsrechts im engeren Sinne (Lauterkeitsrecht) das Recht zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs, wie es heute im Wesentlichen im UWG niedergelegt ist, und das Recht zum Schutz der geschäftlichen Kennzeichen, das heute im Wesentlichen im Markengesetz niedergelegt ist, wobei das Markenrecht als Ausschnitt des Wettbewerbsrechts verstanden wird.1 Historisch gesehen verlief die Entwicklung umgekehrt: Der Schutz vor irreführender Werbung begann als Ergänzung des Markenschutzes, er war Teil des Markenrechts. Denn die Entwicklung des gewerblichen Rechtsschutzes setzte nach Einführung der Gewerbefreiheit im Deutschen Reich mit dem Erlass des Markenschutzgesetzes vom 30. 11. 1874 ein. 2 Dieses Gesetz wurde vom Reichsgericht als eine abschließende Regelung betrachtet. Ergänzender Schutz etwa

1 Baumbach/Hefermehl Wettbewerbsrecht, 22. Aufl. 2000, Allg. Rn. 101 ff.; Fezer Markenrecht, 3. Aufl. 2001, Einl. Rn. 5; Köhler/Piper UWG , 2. Aufl. 2001; Einf. Rn. 10; eingehend Kraft FS GRUR , 1991, S. 729 ff. 2 RGBl . 1874, 143 ff.

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aus der Generalklausel des Art. 1382 code civil wurde nicht gewährt, 3 auch nicht gegen irreführenden Markengebrauch. Der Schutz des Kaufmanns gegen unlautere Wettbewerbspraktiken wurde dem deutschen Recht als fremd angesehen. 4 Diesem Zustand wurde durch das „Gesetz zum Schutz von Warenbezeichnungen“ vom 12. 5. 1894 abgeholfen. 5 Es normierte in § 15 ein Verbot des irreführenden Gebrauchs von Ausstattungen und brachte in § 16 Schutz gegen die Verwendung von Wappen und Herkunftsangaben in Irreführungsabsicht. 6 Damit war im Markenrecht ein erster Schritt zur Bekämpfung irreführender Werbung vor allem im Zusammenhang mit geographischen Herkunftsangaben getan, der im ersten UWG vom 27. 5. 1896 7 eine Entsprechung in der Generalklausel des § 1 fand. Sie kam dem Verbot irreführender Werbung durch § 3 UWG in seiner heute geltenden Fassung weitgehend gleich. Eine „große“ Generalklausel nach Art des heutigen § 1 UWG kannte dieses Gesetz noch nicht. Man kann daher sagen, dass in der deutschen Rechtsentwicklung die Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs mit der Bekämpfung irreführender Werbung begann, diese als Annex des Kennzeichenschutzes behandelt wurde und sich von dort aus zur Keimzelle eines allgemeinen Wettbewerbsrechts in der Form eines Lauterkeitsrechts verselbständigt hat. Erst mit dem Erlass des zweiten UWG vom 7. 6. 1909 8 wurde die „große“ Generalklausel der sittenwidrigen Werbung geschaffen (§ 1 UWG ) und das Verbot irreführender Werbung erstmals in § 3 UWG eingestellt. Damit war die Grundlage gelegt, um das Wettbewerbsrecht nicht mehr als Anhängsel des Markenrechts zu betrachten, sondern das Markenrecht als Ausschnitt des umfassenden Wettbewerbsrechts. 9 Diese Sichtweise kam auch in den einschlägigen gesetzlichen Regelungen zum Ausdruck. Bis zum Inkrafttreten des MarkenG am 1. 1. 1995 war das Recht zum Schutz der geschäftlichen Kennzeichen (Name und Firma, besondere Geschäftsbezeichnungen, Titel, Warenzeichen und Ausstattungen sowie geographische Herkunftsangaben) zweigeteilt. Das alte Recht wies eine deutliche Trennungslinie zwischen Kennzeichen mit Namensfunktion und Kennzeichen mit Produktunterscheidungsfunktion auf. Als Kennzeichen mit Namensfunktion erfasste § 16 Abs. 1 UWG den Namen, die Firma RGZ 3, 67 ff. – Apollinarisbrunnen; RGZ 29, 57 ff., 59 – Sossidi Cigaretten. Lobe GRUR 1931, 1215 m.N.; Burmann WRP 1968, 258 ff.; vgl. auch Schünemann in UWG -Großkommentar, 1994, Einl. Rn. B 11; Köhler/Piper UWG (Fn. 1) Einf. Rn. 3 jeweils 3 4

mwN. 5 6

RGBl . 1894, 441 ff. Vgl. Gloy FS GRUR , 1991, S. 855 ff., 858; UWG -Großkom./Schünemann (Fn. 4) Einl.

Rn. B 12. 7 RGBl . 1896, 145 ff. 8 RGBl . 1909, 499 ff. 9 Lobe GRUR 1931, 1215 ff., 1216.

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sowie die besonderen Bezeichnungen von Erwerbsgeschäften. Ihnen stellte § 16 Abs. 3 UWG Geschäftsabzeichen und sonstige der Unterscheidung von Geschäftsbetrieben dienende Einrichtungen gleich, die innerhalb beteiligter Verkehrskreise als Kennzeichen des Erwerbsgeschäfts gelten. Von den früher in § 16 UWG geregelten geschäftlichen Bezeichnungen brauchten nur die Titel keine Namensfunktion für das Unternehmen aufzuweisen. Für sie genügte die Eignung zur Unterscheidung der Werke, um den Titelschutz zu begründen.10 Keine Namensfunktion hatten nach altem Recht Warenzeichen, Dienstleistungsmarken und Ausstattungen, die im WZG geregelt waren. Ihnen kam eine herkunftshinweisende Produktunterscheidungsfunktion zu. Mangels Namensfunktion war auf Marken § 16 UWG nicht anwendbar. Dieser Betrachtungsweise entsprach, dass als funktionsgerechte Benutzung eines namensmäßig unterscheidenden Kennzeichens die namens- oder firmenmäßige Benutzung und als funktionsgerechte Benutzung eines Kennzeichens mit Produktunterscheidungsfunktion die zeichen- oder markenmäßige Benutzung angesehen wurde. § 16 WZG bestimmte insoweit, dass durch die Eintragung eines Warenzeichens niemand gehindert war, seinen Namen und seine Firma zu benutzen oder beschreibende Angaben auf der Ware oder ihren Verpackungen anzubringen und im Geschäftsverkehr zu gebrauchen, solange der Gebrauch nicht warenzeichenmäßig erfolgte. Das Recht der geschäftlichen Bezeichnungen war demzufolge Bestandteil des UWG , das Recht der Marken und Ausstattungen war aus dem UWG ausgegliedert und im WZG geregelt. Obwohl der Schutz der geographischen Herkunftsangaben historisch gesehen aus dem Markenrecht stammte, war er – obwohl wie der Schutz der Firma von § 26 WZG erfasst – durch § 3 UWG geregelt, demzufolge Angaben untersagt waren, die geeignet sind, über die Beschaffenheit, den Ursprung und die Herstellungsart irrezuführen (§ 3 UWG). Das Recht der geographischen Herkunftsangaben gehörte demzufolge systematisch zum Wettbewerbs- und nicht zum Markenrecht.

II. Das Markengesetz Diese Rechtslage hat sich mit dem Inkrafttreten des MarkenG geändert. Der Anlass, das Recht der geschäftlichen Kennzeichen neu zu ordnen, kam aus Europa. Denn der Rat der EG hat die Markenrechtsrichtlinie vom 21. 2. 1988 ( MRRL) 11 erlassen, um die Markenrechte der Mitgliedstaaten zu harmonisieren. Die MRRL betrifft zwar nur das vor dem 1. 1. 1995 in Deutschland im WZG geregelte formelle Warenzeichenrecht, also nicht das 10 11

BGH GRUR 1982, 431 ff., 432 – POINT. ABl EG Nr. L 40 vom 11. 2. 1989, S. 1 ff.

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Recht der geschäftlichen Bezeichnungen (früher § 16 UWG) und auch nicht die Ausstattung alten Rechts, die im neuen Recht Benutzungsmarken heißt (§ 4 Nr. 2 MarkenG). Der Gesetzgeber hat die Umsetzung der MRRL aber zum Anlass einer umfassenden Reform des Rechts der geschäftlichen Kennzeichen genommen und im MarkenG nicht nur das Recht der Warenzeichen und Ausstattungen geregelt, sondern darüber hinaus das Warenzeichenrecht mit dem Recht der geschäftlichen Bezeichnungen und der geographischen Herkunftsangaben zusammengeführt. Der Schutz der geographischen Herkunftsangaben, historisch gesehen ein Teil des Markenrechts und Ausgangspunkts für die Schaffung eines allgemeinen Wettbewerbsrechts, ist damit in das MarkenG zurückgekehrt. Das ist Anlass, über das Verhältnis von Markenrecht und Wettbewerbsrecht neu nachzudenken. Denn § 2 MarkenG bestimmt, dass der Schutz von Marken, geschäftlichen Bezeichnungen und geographischen Herkunftsangaben nach dem MarkenG die Anwendung anderer Vorschriften zum Schutz dieser Kennzeichen nicht ausschließt. Das wirft die Frage auf, ob geographische Herkunftsangaben sowohl unter dem wettbewerbsrechtlichen als auch dem markenrechtlichen Irreführungsverbot zu schützen sind, also in vollem Umfang Anspruchskonkurrenz besteht, oder ob der markenrechtliche Schutz als Spezialregelung den Schutz nach allgemeinem Wettbewerbsrecht verdrängt. Welchen Anwendungsbereich die Vorschrift des § 2 MarkenG hat, ist in der Literatur umstritten. Die Auffassungen reichen von der Eröffnung voller Anspruchskonkurrenz und damit paralleler Anwendung markenund wettbewerbsrechtlicher Vorschriften auf Kennzeichenverletzungen bis zur nur subsidiären Anwendung des Wettbewerbsrechts auf Kennzeichenverletzungen in den Fällen, in denen die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Kennzeichenverletzung nicht vorliegen.12

III. Kennzeichnungsfunktion geographischer Herkunftsangaben und das Problem ihres Schutzes als gewerbliches Eigentum Das alte Recht kannte keinen Kennzeichenschutz für geographische Herkunftsangaben. Das sind Begriffe, Worte oder sonstige Zeichen, die nach Auffassung des Verkehrs unmittelbar oder mittelbar13 auf einen geographischen Raum hinweisen, aus dem die Ware oder Leistung stammt. Erschöpft sich der Hinweis für den Verkehr auf die Kennzeichnung der Produkther12 Zu Anspruchskonkurrenzen Deutsch WRP 2000, 854 ff.; Fezer WRP 2000, 863 ff.; Helm GRUR 2001, 291 ff.; zu Abgrenzungsfragen unter Einbeziehung der Gemeinschaftsmarke Kur MarkenR 2001, 137 ff.; Stark FS Erdmann, 2002, S. 485 ff.; zum Meinungsstand Fezer

MarkenR (Fn. 1) § 2 Rn. 10 ff. 13 Vgl. Köhler/Piper UWG (Fn. 1) § 3 Rn. 297 ff.; zu mittelbaren geographischen Herkunftsangaben vgl. auch Scherer WRP 2000, 362 ff.

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kunft, spricht man von einfachen geographischen Herkunftsangaben. Verbinden sich mit der Angabe Vorstellungen über Art oder Güte des Produkts, spricht man von qualifizierten geographischen Herkunftsangaben oder Ursprungsbezeichnungen.14 Stammen entsprechend bezeichnete Gegenstände nicht aus der in Bezug genommenen Gegend oder sind sie anderer Art oder Güte, als der Verkehr aufgrund der Angabe erwartet, liegt eine Irreführung vor, die nach altem Recht als Werbung mit falschen Herkunftsund Beschaffenheitsangaben über § 3 UWG , § 26 WZG untersagt werden konnte. Es handelte sich um einen wettbewerbsrechtlichen Schutz, der als Reflex auch eine Art Kennzeichenschutz gewährte.15 Teilweise wurde der Schutz geographischer Herkunftsangaben auch als gemischter kennzeichenund wettbewerbsrechtlicher Tatbestand betrachtet.16 Unter der Geltung des MarkenG hat sich die Frage erhoben, ob geographische Herkunftsangaben zu Kennzeichenrechten wie Marken und geschäftliche Bezeichnungen geworden sind oder nach wie vor nur wettbewerbsrechtlichen Schutz gegen Irreführungsgefahr genießen. Gegen den Kennzeichencharakter geographischer Herkunftsangaben kann ins Feld geführt werden, dass der in ihnen verkörperte Ruf nicht einem Unternehmen allein, sondern einer Mehrzahl ortsansässiger Unternehmen zukommt. Deshalb sind geographische Herkunftsangaben von Sonderfällen abgesehen 17 vom individuellen Zeichenschutz ausgeschlossen.18 Außerdem kommt ihnen wegen ihres lediglich die Herkunft oder Eigenart eines Produkts beschreibenden Inhalts in der Regel keine Unterscheidungskraft im kennzeichenrechtlichen Sinne zu. Ausschließlich aus geographischen Herkunftsangaben bestehende Zeichen unterliegen daher nach altem wie neuem Recht einem absoluten Schutzhindernis (§ 4 Abs. 2 Nr. 1 WZG , § 8 Abs. 2 Nr. 2 MarkenG). Es stellt nach altem wie neuem Recht im Allgemeininteresse sicher, dass geographische Angaben, von denen für die Zukunft vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zur Bezeichnung der geographischen Herkunft von Unternehmensprodukten verwendet werden, nicht durch einen einzelnen Anmelder monopolisiert werden.19 Dem entspricht Art. 3 Abs. 1 lit. c MRRL , der solche geographischen Herkunftsangaben Baumbach/Hefermehl (Fn. 1) § 3 UWG Rn. 185; Köhler/Piper UWG (Fn. 1) § 3 Rn. 301. Wichard WRP 1999, 1005 ff., 1006; so jetzt auch BGH WRP 2001, 546 ff., 548 – SPA. 16 Tilmann in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht in Deutschland, FS GRUR , 1991, Bd. II , S. 1007 ff., 1013 f., Rn. 11 f. 17 Z.B. Weinlagen in Alleinbesitz, BGH GRUR 1993, 43 – Römigberg I; dazu Kahler GRUR 2003, 10 ff. 18 Eingehend Baumbach/Hefermehl WZG , 12. Aufl. 1985, § 4 Rn. 70. 19 EuGH WRP 1999, 629 ff. – Windsurfing Chiemsee, Erw. 31; BPatG MarkenR 2000, 377 ff. – Cloppenburg; HABM GRUR 2002, 351 ff. – Oldenburger; vgl. Ingerl/Rohnke MarkenG, 2. Aufl. 2003, § 8 Rn. 264; eingehend Hackbarth MarkenR 1999, 329 ff.; zur Verneinung der Unterscheidungskraft einer aus einer geographischen Herkunftsangabe gebildeten Unternehmensbezeichnung vgl. OLG Jena GRUR 2000, 435 ff. –Wartburg. 14 15

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vom individuellen Zeichenschutz ausnimmt, die künftig als Herkunftsangaben verwendet werden können. Nach altem Recht konnten geographische Herkunftsangaben markenrechtlichen Schutz erlangen, wenn sie als Verbandszeichen (§§ 17 ff WZG ) eingetragen wurden oder durch Erlangung von Verkehrsgeltung zur Ausstattung (§ 25 WZG ) erstarkt waren. 20 Die Möglichkeit, Herkunftsangaben als Verbandszeichen einzutragen, wies den Weg zur Harmonisierung des deutschen Rechts im Zuge der deutschen Einheit. Abweichend vom alten Recht der Bundesrepublik konnten in der DDR geographische Herkunftsangaben in ein besonderes Register eingetragen werden, wodurch sie markenähnlichen Schutz erlangten (§§ 19 ff., 28, 29 WKG - DDR ). 21 Das Recht der DDR wies also durchaus einen – gemessen an der historischen Rechtslage – traditionellen Bezug des Schutzes geographischer Herkunftsangeben zum Markenrecht auf. Das damit verbundene innerdeutsche Harmonisierungsproblem wurde durch das Erstreckungsgesetz in der Weise gelöst, dass die in der früheren DDR registrierten oder zur Registrierung angemeldeten Herkunftsangaben auf Antrag in Verbandszeichen (§§ 17 ff. WZG ) umgewandelt werden konnten (§ 33 ErstrG). Auf diesem Wege wurde die in der DDR als geographische Herkunftsangabe geschützte Bezeichnung „Dresdner Stollen“, die in der alten Bundesrepublik als Gattungs- und Beschaffenheitsangabe schutzlos war, als Verbandszeichen eingetragen. 22 Dem Verbandszeichen alten Rechts entspricht im MarkenG die Kollektivmarke (§ 97), die als Schutzrechtsform auch für geographische Herkunftsangaben zur Verfügung steht (§ 99). Das neue Recht hat den Schutz geographischer Herkunftsangaben nicht nur aus dem UWG in das MarkenG verlagert, sondern behandelt ihn auch in seinen spezifisch markenrechtlichen Vorschriften. Geographische Herkunftsangaben können nach § 13 Abs. 2 Ziff. 5 MarkenG wie Marken- und Namensrechte einer Marke als älteres Recht entgegengehalten werden. Sie sind in der Terminologie des MarkenG relative Schutzhindernisse. Würde z. B. ein in München ansässiger Hersteller von Süßigkeiten seinen Familiennamen „Lübecker“ für Süßwaren, insbesondere Marzipan, als Marke eintragen lassen, könnten die Lübecker Marzipanhersteller dagegen aus dem relativen Schutzhindernis „Lübecker Marzipan“ vorgehen (§ 13 Abs. 2 Nr. 5, § 55 Abs. 2 Nr. 2, 3) und zudem auf der Grundlage des wettbewerbsrechtlichen Beseitigungsanspruchs unter den Voraussetzungen der § 127 20 Dazu Baumbach/Hefermehl WZG (Fn. 18) § 17 Rn. 10; vgl. auch Berg FS Vieregge, 1995, S. 61 ff.; Tilmann FS GRUR (Fn. 16) Rn. 15; BVerfG GRUR 1988, 610 ff. – Esslinger Neckarhalde II. 21 Über ein Registrierungsverfarem für geographische Herkunftsangaben verfügt inzwischen auch Polen, vgl. Kepínski GRUR Int. 2003, 37 ff. 22 LG Leipzig GRUR 1994, 379 – Dresdner Butterstollen; dazu Steeger WRP 1994, 584 ff.; Fezer MarkenR (Fn. 1) Einl. Rn. 73 ff.

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Abs. 1 und 4, § 128 Abs. 1 MarkenG die Rücknahme der Markenanmeldung verlangen. 23 In der Literatur ist daraus der Schluss auf eine Anerkennung des Kennzeichencharakters geographischer Herkunftsangaben gezogen worden. 24 Für die Anerkennung geographischer Herkunftsangaben als den Kennzeichenrechten gleichwertige Schutzrechtsform spricht auch die gemeinschaftsrechtliche Grundlage des § 13 Abs. 2 Nr. 5 MarkenG. Die MRRL behandelt die relativen Schutzhindernisse in Art. 4 Abs. 4 e. Danach können die Mitgliedstaaten im nationalen Recht Vorschriften vorsehen, denen zufolge der Markenschutz ausgeschlossen werden kann, wenn ältere Rechte an einem „sonstigen Kennzeichen“ bestehen. Voraussetzung dafür ist, dass diese sonstigen Rechte ihrem Inhaber die Befugnis verleihen, die Benutzung der jüngeren Marke zu untersagen. Davon hat das MarkenG in § 13 Abs. 2 Nr. 5 Gebrauch gemacht. Auf demselben Gedanken beruht Art. 14 Abs. 1 der VO 2081/92/ EWG über den Schutz von geographischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen. 25 Danach ist ein Antrag auf Eintragung einer Marke zurückzuweisen, wenn zuvor der Antrag auf Eintragung einer qualifizierten geographischen Herkunftsangabe im Amtsblatt der Gemeinschaft veröffentlicht worden ist. Aus dem Umstand, dass sich der Schutz geographischer Herkunftsangaben im MarkenG wie früher gegen ihren irreführenden Gebrauch richtet (§§ 127, 128 MarkenG, Art. 13 VO 2081/92/ EWG ), lässt sich wohl kaum herleiten, dass dieser Schutz ein nur in das Markenrecht verlagerter wettbewerbsrechtlicher Schutz sei. Denn auch der Schutz der Kennzeichenrechte gegen Verwechslungsgefahr ist ein Schutz gegen Irreführungen, nämlich über die Unternehmensidentität oder über Unternehmenszusammenhänge. Wettbewerbsrechtliche Irreführungsgefahr und markenrechtliche Verwechslungsgefahr sind daher zwar nicht dasselbe, sie weisen aber insofern einen gemeinsamen Kern auf, 26 als in Verletzungsfällen eine Irreführung über die Ursprungsidentität der gekennzeichneten Produkte erfolgt, nämlich bei den Kennzeichenrechten über den betrieblichen und bei den geographischen Herkunftsangaben über den geographischen Ursprung der Produkte. In beiden Fällen findet eine Zuordnungsverwirrung statt, ein Aspekt, ohne den sich der Begriff der Verwechslungsgefahr im 23 BGH WRP 1998, 752 ff., 755 – Fläminger; GRUR 2001, 420 ff. – SPA; zur Rechtslage vor dem MarkenG vgl. BGH GRUR 1969, 615 ff., 617 – Champi-Krone m. Nachw. 24 Starck DZWiR 1996, 313 ff., 315; Knaak GRUR 1995, 103 ff., 104; Harte-Bavendamm GRUR 1996, 717 ff., 723; Helm FS Vieregge, 1995, S. 335 ff., 332; a.A. (Sonderstellung der geographischen Herkunftsangaben im Schutzsystem des MarkenG) Ingerl/Rohnke (Fn. 19) Einl. Rn. 11, § 13 Rn. 11, vor §§ 126–139 Rn. 1 ff.; Ströbele/Hacker MarkenG, 7. Aufl. 2003, § 126 Rn. 6. 25 Abgedruckt in GRUR Int. 1992, 750 ff., ergänzt durch Vorschriften zur beschleunigten Eintragung VO ( EG ) 1107/96 und VO ( EG ) 590/99; zur Rechtsgültigkeit vgl. EuGH GRUR Int. 2002, 523 ff. – Spreewälder Gurken. 26 Kur MarkenR, 1999, 2 ff.

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Kennzeichenrecht nicht erschließt. 27 Darüber hinaus war bereits in der Rechtsprechung vor dem MarkenG anerkannt, dass sich der Schutz geographischer Herkunftsangaben nicht auf die Fälle der Irreführung beschränkt, sondern sich auch auf die Erhaltung des in der Bezeichnung steckenden geschäftlichen Werbewerts bezieht. 28 Aus der Beibehaltung des Schutzes geographischer Herkunftsangaben gegen Irreführungs- statt gegen Verwechslungsgefahr lässt sich daher nichts Entscheidendes gegen die Einordnung der geographischen Herkunftsangaben als geschäftlichen Kennzeichen gleichwertige Schutzrechtsform herleiten. Von der Frage, ob es sich bei geographischen Herkunftsangaben und Ursprungsbezeichnungen um Marken und geschäftlichen Bezeichnungen entsprechende Kennzeichnungsmittel handelt, ist die Frage zu unterscheiden, ob sie wie diese Eigentum im Sinne von Art. 14 GG darstellen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat bezüglich der gewerblichen Schutzrechte zwischen dem Urheberrecht und denjenigen gewerblichen Schutzrechten, die wie das Patent, Gebrauchs- und Geschmacksmuster Schutz für das Durchschnittskönnen des Fachmanns übersteigende geistige Leistungen gewähren, einerseits und den Kennzeichenrechten andererseits unterschieden. Sie hat aus der besonderen Qualität der geistigen Leistung das Gebot an den Gesetzgeber abgeleitet, den wirtschaftlichen Wert der schutzfähigen geistigen Leistung ihrem Urheber oder Erfinder in Form eines Ausschließlichkeitsrechts zuzuordnen.29 Im Falle der Kennzeichenrechte wird nach dieser Rechtsprechung dagegen nicht eine geistige Leistung, sondern „ein Geschäftswert zu Lasten des freien Wettbewerbs monopolisiert und dem Inhaber zur ausschließlichen Verwendung zuerkannt. Der Schutzgegenstand liegt vorrangig in der Erleichterung der gewerblichen Tätigkeit beim Wettbewerb.“30 Warenzeichen und Ausstattung waren nach dieser Rechtsprechung zwar wie Patente, Gebrauchsmuster, Urheberrechte und Geschmacksmuster geistiges Eigentum im Sinne von Art. 14 GG , aber unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten und demzufolge auch unterschiedlicher Wertigkeit. 27 Ingerl WRP 2002, 861 ff., 864 f.; a.A. v. Mühlendahl FS Erdmann, 2002, S. 425 ff., 429, der meint, es gebe Verwechslungsgefahr auch ohne Zuordnungsverwirrung; auf dem Aspekt der Irreführung über die geographische Zuordnung beruht auch der Umstand, dass die von der Verwendung einer geographischen Herkunftsangabe ausgehende Irreführungsgefahr durch entlokialisierende Zusätze aufgehoben werden kann, wobei die neuere Rspr. des BGH insoweit auf eine Interessenabwägung abstellt, nicht dagegen auf den Auschluss einer Zuordnungsverwirrung; vgl. BGH GRUR 2002, 1074 ff. – Original Oettinger. 28 BGH GRUR 1969, 615 ff., 616 – Champi-Krone. 29 Dazu Asendorf FS Nirk, 1992, S. 13 ff. 15 f. mwN. 30 BVerfGE 51, 193 ff., 217 – Weinbergsrolle, zum Zeichenrecht; BVerfG GRUR 1988, 610 ff. – Essslinger Neckarhalde, zum Ausstattungsrecht; vgl. auch Krieger GRUR 1980, 335 ff.; kritisch gegenüber dieser differenziernden Betrachtung unter dem Gesichtspunkt einer Einheit der Immaterialgüterrechte Fezer WRP 1998, 1 ff., 2; dagegen zutreffend Hacker NJW Sonderheft 100 Jahre Markenverband, 2003, 11 ff., 12.

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Unklar war die Rechtslage lediglich für die geographischen Herkunftsangaben. Das BVerfG hat unter der Geltung des alten Rechts den Schutz geographischer Herkunftsangaben als lauterkeitsrechtlichen Schutz verstanden und ihnen den Schutz des Art. 14 GG versagt. 31 In der Literatur wird davon teilweise weiterhin ausgegangen. 32 Teilweise wird dagegen die Auffassung vertreten, dass geographische Herkunftsangaben kommerzielles Eigentum33 und „kollektive“ Schutzrechte sind. 34 Die Frage spielte eine Rolle in dem Streit, ob geographische Herkunftsangaben für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel weiter nach nationalem Recht geschützt werden können oder – wie die Kommission meinte – nur noch dann, wenn sie in das Register nach der VO 2081/92 eingetragen sind. 35 Wäre dem Standpunkt der Kommission zu folgen gewesen und zugleich das Recht an einer geographischen Herkunftsangabe als geistiges Eigentumsrecht zu qualifizieren, hätte sich mit dem Standpunkt der Kommission ein Verfassungskonflikt zwischen europäischem Verordnungsrecht und nationalem Grundrechtsschutz eröffnet, zumal der EuGH in der Turron-Entscheidung bereits erkannt hat, dass die Untersagung der rechtswidrigen Verwendung einfacher wie qualifizierter geographischer Herkunftsangaben als Beschränkung des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs unter dem Gesichtspunkt des Schutzes des kommerziellen Eigentums gerechtfertigt sein kann. 36 Für Ursprungsbezeichnungen, die nach der VO 2081/92 geschützt werden, hat der EuGH darauf erkannt, dass die zu den Rechten des gewerblichen und kommerziellen Eigentums gehören. 37

31 32

BVerfGE 51, 193 ff. – Weinbergsrolle. v. Gamm FS Brandner, 1996, S. 375 ff., 380; Ströbele/Hacker MarkenG (Fn. 24) § 126

Rn. 6, die zwar den Kennzeichencharakter geographischer Herkunftsangaben bejahen, ihnen aber den Charakter subjektiver Rechte absprechen. 33 Knaak GRUR 1995, 103 ff., 105; Harte-Bavendamm GRUR 1996, 717 ff., 725; Ahrens GRUR Int. 1997, 508 ff., 512; Fezer MarkenR (Fn. 1) § 126 Rn. 4; ebenso für das österreichische Recht österr. OGH GRUR Int. 2000, 1025 ff., 1027 – Tiroler Loden. 34 Starck DZWiR 1996, 313 ff., 315. 35 Dazu eingehend Knaak GRUR 1995, 103 ff., 110; Harte-Bavendamm GRUR 1996, 717 ff., 725. 36 EuGH GRUR Int. 1993,76 ff., Erw. 11, 27 f., 37 ff. – Turron; da der EuGH über die Auslegung des Gemeinschaftsrechts entscheidet, nicht über die Auslegung nationalen Rechts, kann aus dieser Entscheidung zwar nicht abgeleitet werden, dass Art. 14 GG auch geographische Herkunftsangaben in seinen Schutzbereich einbezieht (so richtig Ströbele/Hacker MarkenG (Fn. 24) § 126 Rn. 1); die Entscheidung hindert aber eine solche Auslegung des nationalen Rechts nicht, sondern ermöglicht sie. 37 EuGH MarkenR 2003, 294 ff. – GANA PADANO Erw. 49.

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IV. Kennzeichenrechtlicher oder wettbewerbsrechtlicher Schutz der geographischen Herkunftsangaben Die deutsche Rechtsprechung ist dem bislang nicht gefolgt. Der BGH hat an der Auffassung festgehalten, dass der Schutz geographischer Herkunftsangaben auch nach seiner Integration in das MarkenG kein Schutz gewerblichen Eigentums ist,38 sondern weiterhin ein wettbewerbsrechtlicher Schutz. Zugleich hat er darauf erkannt, dass die markenrechtlichen Regelungen eine Spezialregelung darstellen, die in ihrem Anwendungsbereich einen Rückgriff auf §§ 3, 1 UWG ausschließen.39 § 2 MarkenG ist danach, obwohl die Vorschrift geographische Herkunftsangaben ausdrücklich nennt, keine Norm, die die parallele Anwendung marken- und wettbewerbsrechtlicher Vorschriften und damit die Anspruchskonkurrenz zwischen marken- und wettbewerbsrechtlichen Ansprüchen eröffnet. Versteht man die Regelungen des MarkenG über den nationalrechtlichen Schutz geographische Herkunftsangaben und Ursprungsbezeichnungen als wettbewerbsrechtlichen und nicht als kennzeichenrechtlichen Schutz, so folgt dies aus dem Umstand, dass Spezialtatbestände innerhalb des UWG und seiner Nebengesetze, zu denen dann auch die Vorschriften über den Schutz geographischer Herkunftsangaben und Ursprungsbezeichnungen gehören, grundsätzlich dessen Generalklauseln und mithin auch der „kleinen“ Generalklausel des § 3 UWG vorgehen.40 Erkennt man den Kennzeichencharakter geographischer Herkunftsangaben und Ursprungsbezeichnungen an, dann sind sie den Marken und geschäftlichen Bezeichnungen gleichgestellte Kennzeichnungsmittel, die sie regelnden Vorschriften mithin lex specialis zu den Generalklauseln des UWG . Auf beiden Wegen ist § 2 MarkenG keine Vorschrift, die Anspruchskonkurrenzen eröffnet, sondern dann ergänzenden wettbewerbsrechtlichen Schutz von geschäftlichen Kennzeichen und geographischen Herkunftsangaben ermöglicht, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen der spezialrechtlichen Regelungen des MarkenG nicht vorliegen. Für Ursprungsbezeichnungen, die nach der EG /VO 2081/92 registriert sind, stellt sich die Frage nicht. Ist eine geographische Herkunftsangabe in das Europäische Register eingetragen, wie dies bei Gorgonzola für italienischen Käse aus dem Gorgonzola-Gebiet der Fall ist, dann richtet sich der Schutz einer solchen Ursprungsbezeichnung ausschließlich nach der VO 2081/92 und nicht mehr nach nationalem Recht.41 Ein gegebenenfalls weitergehender Schutz nach nationalem Recht wird durch die Regelungen der VO verdrängt.42 38 BGH GRUR Int. 1999, 70 ff., 71 – Warsteiner I; kritisch insbesondere Köhler/Piper UWG (Fn. 1) § 3 Rn. 288; vgl. auch Sosnitza MarkenR 2000, 77 ff. 39 BGH GRUR 1999, 252 ff., 253 – Warsteiner II; GRUR 2001, 73 ff., 75 – Stich den Buben; GRUR 2002, 160 – Warsteiner III. 40 Vgl. Teplitzky Wettbewerbsrechtliche Ansprüche, 8. Aufl. 2002, Kap. 4, IV , Rn. 10 f. 41 OLG Frankfurt WRP 1997, 859 = GRUR Int. 1997, 751 m. Anm. Knaak. 42 EuGH GRUR Int. 1999, 443 ff., 444 – Gorgonzola/Cambozola, Erw. 18; damit hat zwar

die Frage, ob geographische Herkunftsangaben Eigentumsrechte sind, ihre Brisanz verlo-

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V. Anwendungsbereich des § 2 MarkenG Bei dieser Sachlage versteht sich, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung im Falle der Verletzung von Rechten an Marken und geschäftlichen Bezeichnungen ergänzenden Schutz nach den Vorschriften des UWG nur dann in Betracht zieht, wenn die markenrechtlichen Spezialvorschriften in ihrem Anwendungsbereich keine abschließende Regelung darstellen. 43 Beispiele derartigen ergänzenden Schutzes von Marken und geschäftlichen Bezeichnungen nach allgemeinem Wettbewerbsrecht finden sich in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung. Als Beispiel für ergänzenden Wettbewerbsschutz ist der vom OLG Karlsruhe entschiedene Peugeot-Fall erwähnenswert. 44 Ein Versandhandel hatte Werbeschreiben mit einem „Peugeot-Gewinn-Zertifikat“ verschickt, auf dem ein Peugeot Cabriolet abgebildet und anzukreuzen war, ob man den Preis beanspruchen oder dessen Wert ausgezahlt bekommen wollte. Die Firma Peugeot war an dem Gewinnspiel nicht beteiligt, bei den Preisen handelte es sich auch nicht um Autos, sondern um Pfeffermühlen mit PeugeotMahlwerk. In diesem Fall war weder die Bezeichnung der Preise mit „Peugeot“ als solche zu beanstanden, noch lag eine anstößige Ausbeutung des Rufs der Automobilmarke vor. Gleichwohl war das gesamte Gewinnspiel nebst Werbung zu beanstanden, weil durch die Abbildung eines Kfz die gesamte Aktion auf einer Täuschung über die Art der ausgelobten Preise beruhte (§ 3 UWG) und damit geeignet war, den guten Ruf des Automobilunternehmens nebst Muttergesellschaft zu beeinträchtigen (§ 1 UWG). Die Entscheidung zeigt, dass der Schutz gegen Verwässerungsgefahr zwar im Schutz der bekannten Marke aufgegangen ist, dass daneben aber Rufschädigungen vorkommen, die unter dem Gesichtspunkt der Verwässerungsgefahr nicht erfasst werden können und für die daher ergänzender wettbewerbsrechtlicher Schutz über § 2 MarkenG Platz greift. Daneben kann ergänzenden Kennzeichenschutz nach allgemeinen Vorschriften gewährt werden. Illustrativ ist der ACC -Fall. 45 Der „Spiegel“ hatte über den Wirkstoff Acetylcystein berichtet und diesen mit „ ACC “ abgekürzt, wobei ACC die eingetragene und bekannte Marke eines Herren; das Vorlageverfahren in der Sache Warsteiner hat aber zu einem weiteren Streitpunkt im Verhältnis zur Kommission geführt, denn Generalanwalt Jacobs hat in seinen Schlussanträgen die Frage des Verhältnisses des nationalen Schutzes geographischer Herkunftsangaben zur Warenverkehrsfreiheit problematisiert; dies ist von der Kommission aufgegriffen worden; vgl. dazu Büscher FS Erdmann, 2002, S. 237 ff; Loschelder FS Erdmann, 2002, S. 387 ff. 43 BGH WRP 1999, 1279 ff., 1283 – Szene; BGH GRUR 2002, 622 ff. – shell.de mwN.; ebenso Stark FS Erdmann, 2002, S. 485 ff. mwN.; weitergehend Fezer MarkenR (Fn. 1) § 2 Rn. 12. 44 OLG Karlsruhe GRUR 1999, 353 ff. – Peugeot. 45 OLG Frankfurt AfP 2000, 189 ff. = OLG -Report Ffm 2000, 121 ff. – ACC.

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Claus Dietrich Asendorf

stellers von Arzneimitteln ist, die diesen Wirkstoff enthalten. § 16 MarkenG gewährt Marken ergänzenden Schutz gegen ihre Denaturierung zu Gattungsangaben und damit gegen den Verlust ihrer Unterscheidungskraft, indem der Markeninhaber bei der Wiedergabe der Marke in Lexika und ähnlichen Nachschlagewerken den Abdruck eines Hinweises verlangen kann, dass es sich um eine geschützte Marke handelt. Obwohl „Spiegel“-Artikel aus dem elektronischen Archiv des Spiegelverlages abrufbar sind, handelt es sich bei einem solchen Archiv nicht um ein Nachschlagewerk i.S.v. § 16 MarkenG, so dass Schutz der Marke durch Abdruck eines Hinweises auf die Eintragung im Streitfall nicht verlangt werden konnte. 46 Soweit die Klägerin geltend gemacht hatte, ihr Unterlassungsbegehren sei jedenfalls aus §§ 823 Abs. 1, § 1004 BGB begründet, blieb die Klage im Ergebnis erfolglos: Im Anschluss an die Rechtsprechung des BGH 47 wurde darauf erkannt, dass der ergänzende, aus § 1 UWG , § 823 BGB hergeleitete Kennzeichenschutz grundsätzlich im Schutz der bekannten Marke nach § 14 Abs. 2 Nr. 3 MarkenG aufgegangen ist, dass sich die Ausschlusswirkung für ergänzenden Schutz der Marke aber auf den Anwendungsbereich der Vorschrift beschränkt. Ergänzender wettbewerbsrechtlicher und Eigentumsschutz der Marke nach § 823 BGB kommt danach in Betracht, wenn der Sachverhalt Anhaltspunkte für eine Einbeziehung und Beurteilung weiterer Tatumstände bietet, die bei der markenrechtlichen Beurteilung noch keine Rolle gespielt haben. 48 Nichts anderes gilt für § 16 MarkenG. Zwar ist § 16 MarkenG lex specialis, soweit Marken in Nachschlagewerken und ihnen gleichzustellenden Publikationen erwähnt werden. Daraus lässt sich aber nicht herleiten, dass beispielsweise die gezielte, planmäßige Abwertung von Marken zu Gattungsbezeichnungen durch Wettbewerber freigestellt werde. In solchen Fällen gezielter Benutzung der Marke als Gattungsangabe greift daher regelmäßig über § 2 MarkenG ergänzender Schutz der Marke durch § 1 UWG , § 823 BGB ein. 49 Im Streitfall scheiterten Ansprüche aus § 1 UWG allerdings daran, dass der beklagte Verlag nicht Wettbewerber des Markeninhabers war. Ansprüche aus § 823 BGB scheiterten, weil keine tatsächlichen Anhaltspunkte vorgetragen waren, dass von dem angegriffenen Presseartikel objektiv die Gefahr einer Abwertung der Klagemarke zur Gattungsangabe ausgehen konnte. Der Markeninhaber hatte selbst nicht geltend gemacht, dass sich der angegriffene Artikel z. B. in eine Serie von Artikeln einreihen würde, mit denen regelmäßig und in Kenntnis des Mar46 Zust. Ingerl/Rohnke (Fn. 19) § 16 Rn. 8; Ströbele/Hacker MarkenG (Fn. 24) § 16 Rn. 26; vgl. auch Ingerl WRP 1997, 817 ff., 818. 47 BGH GRUR 1999, 161 ff. – Mac Dog; BGH WRP 1999, 1279 ff. – Szene. 48 BGH GRUR 1999, 161 ff., 162 re. Sp. – Mac Dog. 49 Ingerl/Rohnke (Fn. 19) § 16 Rn. 22, § 23 Rn. 47 mwN.

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kenschutzes versucht werde, die Marke in ihrer Unterscheidungskraft zu beeinträchtigen. 50

VI. Schlussbemerkung Die Rechtsprechung ist damit bei dem traditionellen Grundsatz geblieben, dass die spezialgesetzlichen Regelungen des MarkenG einen Rückgriff auf Ansprüche auf Grund der Vorschriften des allgemeinen Wettbewerbsrechts grundsätzlich ausschließen. Es gilt weiterhin der Grundsatz, dass nur unter besonderen Voraussetzungen ergänzender Wettbewerbsschutz gewährt werden kann, soweit Sondervorschriften nicht eingreifen. 51 Damit ist der Anwendungsbereich des § 2 MarkenG geklärt. Die Vorschrift eröffnet keine Konkurrenz marken- und wettbewerbsrechtlicher Ansprüche, sondern eröffnet nur die ergänzende Anwendung des allgemeinen Wettbewerbsrechts für Tatbestände, die nicht spezialgesetzlich geregelt sind.

50 Zum Gesichtspunkt der planmäßigen Beeinträchtigung der Markenfunktion durch gezielte Veröffentlichungen in der Presse oder durch Mitteilungen an Presseredaktionen vgl. BGH GRUR 1964, 82 ff., 85 – Lesering. 51 Baumbach/Hefermehl (Fn. 1) Allg. Rn. 100.

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Fondsgesellschaft der Anleger versus Anlegerschutz? – Bemerkungen zu BGHZ 156, 46 – Ulrich Bälz

Inhaltsübersicht Seite

I. Eine fragwürdige Doktrin in neuem Gewande: Kein Ersatz des Anlegerschadens wegen Unvereinbarkeit mit den Regeln der fehlerhaften Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . 2. Zum Hintergrund der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . 3. These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Schutz des Kapitalanlegers als Verbraucher und der Bestandsund Verkehrsschutz der fehlerhaften Gesellschaft . . . . . . . . . . . 1. Die Besorgung der Beteiligung für den Anleger durch die Gesellschaft und seine Aufnahme als Mitglied . . . . . . . . . . . . . . 2. Fehlerhafter Beitritt zur Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Geschäfts- und Leistungsmängel des Verbrauchergeschäfts mit der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgangslage: Ansprüche des Anlegers auf Ausgleich oder Ersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einwendungsdurchgriff des Anlegers gegen die Bank bei Finanzierung der Beteiligung durch einen verbundenen Verbraucherkredit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rückforderungsdurchgriff gegen die Bank oder Anspruch auf Schadensersatz gegen die Gesellschaft . . . . . . . . . . . 4. Haftung Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis: Voller Ersatz durch ungeschmälerte Erstattung der Einlage . .

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Thomas Raiser, der seine wissenschaftliche Laufbahn als Dogmatiker des Schuldvertragsrechts angetreten hat,1 steht mit seinen gesellschaftsrechtlichen und soziologischen Arbeiten heute in vorderster Reihe derer, die für die Durchsetzung der wahren Rechtsgestalt auch der bürgerlichrechtlichen Personengesellschaft (Außengesellschaft) und ihrer handelsrechtlichen und

1

Haftungsbegrenzung nach dem Vertragszweck, Diss. Tübingen 1962.

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Ulrich Bälz

partnerschaftlichen Weiterbildungen als juristische Person streiten. 2 Mit der Anerkennung der Rechts- und Parteifähigkeit der BGB -Gesellschaft „nach außen“ in BGHZ 146, 341 war diesen Bestrebungen ein wichtiger Teilerfolg beschieden. Aber auf den ersten Schritt muss noch ein zweiter folgen: Von voller, dem kapitalgesellschaftlichen „Verband“ entsprechender Rechtssubjektivität auch der personengesellschaftlichen „Gruppe“ sprechen lässt sich erst, wenn diese ebenfalls, wie gegenüber Dritten nach außen, so auch nach innen im Verhältnis zu ihren Mitgliedern als rechtlich voll verselbständigte, organisierte Wirkungseinheit begriffen wird. 3

I. Eine fragwürdige Doktrin in neuem Gewande: Kein Ersatz des Anlegerschadens wegen Unvereinbarkeit mit den Regeln der fehlerhaften Gesellschaft Mit der von der ganz herrschenden Lehre unterstützten „Uminterpretation“4 des gesetzlichen Modells der Gesamthand, das in der gesamthänderischen Verbundenheit einer Mehrheit von Gesellschaftern aufgeht, hat der BGH sich selbst den Weg zur Anerkennung auch der „inneren“ Rechtsfähigkeit der Personengesellschaft nicht unbeträchtlich erschwert. Da seine Rechtsprechung aber nur im Ergebnis, nicht auch in ihrer Begründung bindende Kraft entfaltet, wird diese Begründung ihn mit einiger Gewissheit längerfristig nicht hindern, von der teilrechtsfähigen Personengesellschaft zur Vollrechtsfähigkeit der Personengesellschaft als einer auch gegenüber ihren eigenen Mitgliedern rechtsfähigen juristischen Person durchzudringen.5 Aufgabe einer die höchstrichterliche Rechtsprechung kritisch begleitenden Wissenschaft bleibt es aber, der Praxis auf diesem Weg bei einer Lösung von unfruchtbar und damit überständig gewordenen Begründungsgewohnheiten zu helfen. Dieses Ziel und diese Aufgabe vor Augen, besteht der Jubilar mit vollem Recht beharrlich darauf, dass die Gesamthandsdoktrin die dogmatische Darstellung einer einheitlichen rechtsfähigen Personenvereinigung (Organisation) der Gesellschafter – im Unterschied zu der einer bloßen Vermögensgemeinschaft von Innengesellschaftern – nicht zu tragen vermag.6

2 AcP 194 (1994), 495; in: FS Zöllner, 1999, S. 469; AcP 199 (1999), 104. Vgl. auch schon ders. Das Unternehmen als Organisation, 1969, insbes. S. 93 ff., 138 ff., 166 ff. 3 Ablehnend und damit zugleich zum jetzigen Stand von Rechtsprechung und herrschender Lehre Westermann in: Handbuch der Personengesellschaften, 1967/2000, Rn. I 16 mwN. 4 Wiedemann JZ 2001, 661, 662; Westermann NZG 2001, 289, 290. 5 Zu den damit im Einzelnen aufgeworfenen Sachfragen eingehender Bälz in: Münchner Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 1, 2. Aufl., 2004, § 100 Rn. 70 ff. 6 Zuletzt Raiser AcP 199 (1999), 104, 107 f. Zum Streitstand insgesamt statt sonstiger: K. Schmidt Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., 2002, § 8 III und IV.

Fondsgesellschaft der Anleger versus Anlegerschutz?

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1. Die Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs Besonderer Klärungsbedarf besteht hier weiterhin vor allem bei der notwendigen Überwindung des schwer praktikablen Innenprozesses durch seine Umwandlung von einem Streit zwischen den Gesellschaftern über die Gesellschaft in einen Streit zwischen dem einzelnen Gesellschafter und der auch in Grundlagengeschäften rechts- und parteifähigen bürgerlichrechtlichen, handelsrechtlichen oder partnerschaftlichen Personengesellschaft selbst.7 Kaum weniger exemplarisch liegt es aber auch für die Unterscheidung von personenrechtlicher Sozialbeziehung und vermögensrechtlicher Drittbeziehung zwischen Gesellschaft und Gesellschafter, wie die nachstehenden Bemerkungen zur Entscheidung des II . Zivilsenats vom 21. 7. 2003 über den Einwendungs- und Rückforderungsdurchgriff beim kreditfinanzierten Erwerb einer Anlagebeteiligung verdeutlichen sollen.8 Die klagende Bank nahm den beklagten Kapitalanleger auf Rückzahlung eines Darlehens in Anspruch, mit dem der Beklagte seine Beteiligung an dem als GbR geführten geschlossenen Immobilienfonds „G“ finanziert hatte. Das Anlagekonzept für den von der Gesellschaft „W“ initiierten und vertriebenen Anlagefonds sah vor, dass die Anleger über die von ihnen bevollmächtigte Treuhand-GmbH „S“ der Fondsgesellschaft beitraten und sich die Mittel durch Bankdarlehen beschafften. Der Fondsbeitritt wurde durch von der „W“ beauftragte Vermittler eingeleitet, die den Interessierten zugleich mit den Beitrittsunterlagen auch einen vollständig ausgefüllten Darlehensvertrag der Klägerin zur Unterschrift vorlegten. Der Beklagte unterzeichnete am 1. 9. 1995 neben der Erklärung über den Erwerb einer Gesellschaftsbeteiligung einen Antrag auf Gewährung eines am 1. 8. 2015 rückzahlbaren, durch eine Kapitallebensversicherung abzulösenden Darlehens über rund 70 000 DM und trat dem Fonds, vertreten durch die von ihm bevollmächtigte Treuhandgesellschaft, mit notariellem Vertrag vom 21. 12. 1995 unter Übernahme von 4 Anteilen von je 15 000 DM bei. Seine Einlage wurde von der Treuhandgesellschaft, an die die Klägerin die Darlehensvaluta ausgezahlt hatte, der Fondsgesellschaft zugeleitet. Den vom Beklagten monatlich zu leistenden Zins- und Prämienzahlungen standen in den folgenden Jahren planmäßige Ausschüttungen aus Mieteinnahmen durch die Fondsgesellschaft gegenüber. Ab Sommer 2000 blieben die Ausschüttungen jedoch aus. Da der Beklagte daher die monatliche Zinslast nicht mehr tragen konnte, stellte er die Zinszahlun7 In diesem Sinne etwa: K. Schmidt NJW 2001, 1893, 1900; Scholz NZG 2002, 153, 160 f.; Beuthien JZ 2003, 715, 719 f.; Gummert GRV 5 (2002), 141, 159. 8 BGH II ZR 387/02 vom 21. 7. 2003 = BGHZ 156, 46 = ZIP 2003, 1592 = NJW 2003, 2821. Dazu ergänzend jetzt die Entscheidungen des Senats vom 14. 6. 2004: BGH ZIP 2004, 1394 = NJW 2004, 2736; ZIP 2004, 1402 = NJW 2004, 2731; ZIP 2004, 1407 = NJW 2004, 2742.

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gen an die Klägerin ein, die daraufhin das Darlehen fällig stellte und zum 6. 12. 2000 die Rückzahlung der Darlehenssumme verlangte. Am 10. 4. 2001 focht der Beklagte seinen Beitritt zur Fondsgesellschaft gemäß § 123 BGB an und kündigte hilfsweise fristlos, äußerst hilfsweise fristgerecht seine Mitgliedschaft in der Gesellschaft. Hierfür machte er geltend, von den Vertreibern der Fondsanteile über den Wert des Anlageobjekts getäuscht worden zu sein. Dieses Grundstück sei, wie auch den Fondsbetreibern bekannt, nur 5,8 Mio. DM wert gewesen, die Fondsgesellschaft habe es jedoch für 10,8 Mio. DM erworben. Angesichts der den Anlegern verschwiegenen „weichen Kosten“ in Millionenhöhe sei es ausgeschlossen gewesen, dass die Kapitalanlage jemals Gewinn abwerfen würde. Die Klägerin müsse sich die Arglist der Fondsbetreiber entgegenhalten lassen. Der Beklagte verlangte seinerseits im Wege der Widerklage Rückzahlung der an die Klägerin bis dahin geleisteten Zinsen sowie die Freistellung von sämtlichen Verpflichtungen aus seinem Beitritt zur Fondsgesellschaft. Die Vorinstanzen hatten der Klage stattgegeben und die Widerklage abgewiesen. Mit der Revision erstrebte der Beklagte Abweisung der Klage und Verurteilung der Klägerin gemäß den Widerklageanträgen. Die Revision hatte Erfolg mit der Einschränkung, dass der Senat von einer Entscheidung über das Freistellungsbegehren des Beklagten als unter den gegebenen Umständen nicht veranlasst absah. Der Senat bestätigt seine für den Widerruf als Haustürgeschäft (§ 312 BGB ; § 2 HWiG 1986) entwickelte Rechtsprechung, dass der Vertrag über den Erwerb einer Beteiligung an einer Anlagegesellschaft ein „Verbrauchergeschäft“ darstellen kann. 9 Dieses bildet mit dem hier zur Finanzierung der Einlage geschlossenen Kreditvertrag (§ 491 BGB ) ein „verbundenes“ Geschäft i. S. d. §§ 358, 359 BGB (§ 9 VerbrKrG 1990). Zugleich wird der Anwendungsbereich des „Einwendungsdurchgriffs“ (§ 359 BGB ; § 9 Abs. 3 und 4 VerbrKrG 1990) und des „Rückforderungsdurchgriffs“ (§ 358 Abs. 4 Satz 3 BGB ; § 9 Abs. 2 Satz 4 VerbrKrG 1990) erweitert: Auch wo das Gesetz kein Widerrufsrecht vorsieht, kann der unter Verletzung einer Aufklärungspflicht oder durch arglistige Täuschung zum Beitritt veranlasste Anleger stattdessen sein Recht, nach den Regeln des fehlerhaften Gesellschaftsbeitritts unter Forderung des ihm zustehenden Abfindungsguthabens aus der Gesellschaft fristlos auszuscheiden, dem Rückzahlungsanspruch des Kreditinstituts entgegen halten. Soweit damit der Einwendungsdurchgriff nach § 359 BGB nunmehr reicht, ist zugleich auch der Rückforderungsdurchgriff gegen das Kreditinstitut nach § 358 Abs. 4 Satz 3 BGB gegeben. Bei alledem bleibt aber der Anleger auf das bloße Abfindungsguthaben beschränkt. Dagegen wird ihm ein auf die ungeschmälerte Erstattung der 9

BGHZ 148, 201, 203. Vgl. weiter schon BGHZ 133, 254, 261 f.

Fondsgesellschaft der Anleger versus Anlegerschutz?

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geleisteten Einlage gerichteter Anspruch auf Schadensersatz mit der insoweit erneut bestätigten ständigen Rechtsprechung versagt. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass bei „rein kapitalistisch organisierten Gesellschaftsbeteiligungen“ der getäuschte Beitrittswillige regelmäßig nur dem die Verhandlung führenden Vertreter der Gesellschafter, nicht aber diesen oder der Gesellschaft Vertrauen entgegenbringe. Daher sei es auch gerechtfertigt, allein den Vertreter persönlich haften zu lassen. Anders lasse sich eine geordnete Auseinandersetzung der Fondsgesellschaft nach dem Regelwerk über die fehlerhafte Gesellschaft bzw. den fehlerhaften Gesellschaftsbeitritt nicht durchführen. 2. Zum Hintergrund der Fragestellung Wie fest gefügt diese nun schon jahrzehntelange Rechtsprechungspraxis 10 auch erscheinen mag: Den unbefangenen Betrachter beschleichen doch Zweifel, wenn hier dem Anleger zwar mit der einen Hand gegeben, d. h. mit den Regeln der fehlerhaften Gesellschaft das Abfindungsguthaben mit sofortiger Wirkung abrufbar gemacht wird, die andere Hand ihm aber unter Hinweis auf dieselben Regeln auch bei schuldhafter Schädigung den vollen Ersatz seiner Einlage vorenthält. Auf wen anders als in aller erster Linie die Fondsgesellschaft soll denn der Erwerber einer Beteiligung an der Gesellschaft sein Vertrauen in die Werthaltigkeit der Anlage setzen? Dagegen ist das Vertrauen, das der Anleger dem regelmäßig als GmbH organisierten, mit der Geschäftsführung und Vertretung der Fondsgesellschaft (GbR, KG ) betrauten Betreibergesellschafter entgegen bringt, kaum höher zu veranschlagen als sein Vertrauen in Vermittler, Banken oder Treuhänder, die heute regelmäßig nur noch von außen in den Erwerb, die Finanzierung und die Verwaltung der Beteiligung eingeschaltet werden. Das gewachsene Bedürfnis, bei schuldhafter Verletzung der „Aufklärungspflicht“ vielmehr die Gesellschaft selbst auf den vollen Ersatz der geleisteten Einlage in Anspruch nehmen zu können, wird gerade auch an dieser inzwischen fast vollständigen „Auswanderung“ der verschiedenen Funktionsträger des Anlagegeschäfts aus der Publikumspersonengesellschaft sichtbar. Lagen zu deren Frühzeit in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts 11 Vertrieb, Finanzierung und Verwaltung der Beteiligungen typischerweise noch bei Mitgliedern der Gesellschaft selbst, zeigt der vorliegende Sachverhalt ein ganz anderes, längst vorherrschend gewordenes Bild. Die Initiatoren haben sich mit dem Vertrieb, wo das „große Geld“ verdient wird, auf selbständige Gesellschaften zurückgezogen. Die Kreditinstitute bedienen sich zwar, wie auch hier, für ihr eigenes Geschäft weiterhin der 10 11

Grundlegend BGH NJW 1973, 1604, 1605. Näher Bälz ZGR 1980, 1, 3 ff.

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Vertreiber der Anteile, haben sich aber gleichfalls aus der Mitgliedschaft in den Fondsgesellschaften heraus- und auf die Rolle „neutraler Kreditgeber“ zurückgezogen, die sich nicht an den finanzierten Beteiligungen, sondern durch Kapitallebensversicherungen der Anleger sichern. Selbst die Verwaltung der Anteile liegt nicht mehr, wie noch beim klassischen Treuhandkommanditisten, in der Hand eines Mitgliedes der Fondsgesellschaft. An dessen Stelle tritt vielfach ein nur in Vollmacht der Gesellschaft handelnder, aber nicht mehr ihr selbst angehörender Mitteltreuhänder oder zunehmend, wie im vorliegenden Fall, auch eine ebenfalls selbständige Treuhandgesellschaft, die nur noch in Vollmacht der Anleger deren Beitritt zur Gesellschaft vollzieht und den Mittelfluss kontrolliert. Allein die Betreibergesellschaft kann sich aus ihrer Rolle als Mitglied der Fondsgesellschaft schlechterdings nicht verabschieden, wenn schon durch Minimierung des Stammkapitals ihr Haftungsrisiko beschränken.12 Nicht zuletzt enthebt aber selbst eine noch so ausgedehnte außervertragliche Verschuldenshaftung von Initiatoren, Betreibern, Vermittlern, Kreditgebern oder Treuhändern, seien diese nun Mitglieder der Fondsgesellschaft oder nicht, der Frage nach der vertraglichen Verschuldenshaftung der Gesellschaft auch schon deshalb nicht, weil der Anleger den vollen Ersatz seines Schadens durch die ungeschmälerte Erstattung seiner Einlage jedenfalls grundsätzlich nur von der Gesellschaft selbst erwarten kann, an welche die Einlage auch geflossen ist. 3. These Der vermeintlich unüberwindbare Gegensatz zwischen einem solchen, auch den vollen Ersatz des Schadens einschließenden Schutz der Anleger als Verbraucher und der „nach dem Regelwerk über die fehlerhafte Gesellschaft bzw. den fehlerhaften Gesellschaftsbeitritt“ auseinanderzusetzenden Fondsgesellschaft 13 derselben Anleger besteht jedoch – so die hier zu verfolgende These – in Wahrheit nicht. Der Vertrag über den Erwerb einer Beteiligung an der Anlagegesellschaft und der Beitritt des Anlegers zur Gesellschaft sind nicht ein und dasselbe Rechtsgeschäft, sondern stellen zwei grundverschiedene Verträge dar. Der Vertrag über den Erwerb einer Beteiligung ist ein vermögensrechtlicher Schuldvertrag des Anlegers mit der Personengesellschaft. Der Beitritt des Anlegers als Mitglied der Gesellschaft ist ein personenrechtliches Grundlagengeschäft, das ebenfalls zwischen dem Anleger und nicht den Gesellschaftern oder auch in deren Vertretung mit dem Betreibergesellschafter, sondern mit der rechtsfähigen Personengesellschaft als juristischer Person geschlossen wird, aber Schadensersatzansprüche des 12

Übersicht bei K. Schmidt Gesellschaftsrecht (Fn. 6) § 57 I 2 mwN.

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BGHZ 156, 46, 52.

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Anlegers aus seinem Schuldvertrag mit der Gesellschaft nicht hindert. Zugleich sind so auch Funktion und Reichweite der Regeln des fehlerhaften Gesellschaftsbeitritts genauer zu erfassen. Jedenfalls aber kommt alles darauf an, dass auch die Personengesellschaft als uneingeschränkt, d. h. auch gegenüber ihren eigenen Mitgliedern rechtsfähige Personenvereinigung (juristische Person) zu verstehen ist.

II. Der Schutz des Kapitalanlegers als Verbraucher und der Bestands- und Verkehrsschutz der fehlerhaften Gesellschaft Die aus verbraucherkreditrechtlicher Sicht geradezu als „Sensation“ aufgenommene Entscheidung 14 fordert damit auch dogmenkritische Überlegungen heraus, die sich im vorliegenden Rahmen freilich zu kaum mehr als einer knappen Problemstudie zusammenfügen lassen. 1. Die Besorgung der Beteiligung für den Anleger durch die Gesellschaft und seine Aufnahme als Mitglied Die von Thomas Raiser15 auch für die Personengesellschaften besonders prägnant herausgearbeiteten Strukturmerkmale der juristischen Personen, die nicht dem administrativen Modell (Stiftung, Anstalt), sondern dem korporativen Modell (Verein, Körperschaft) folgen, vertreten die Funktion von zwingenden Normativbestimmungen, die mit dem Abschluss des Gesellschaftsvertrages in Kraft gesetzt werden: Der personenrechtliche Organisationsvertrag schafft eine nach außen und innen rechtsfähige Personenvereinigung mit eigener Identität, eigenen Befugnissen und Pflichten, eigenem Vermögen, eigenen Organen und eigener Haftungsordnung.16 Die personengesellschaftliche „Gruppe“ unterscheidet sich vom kapitalgesellschaftlichen „Verband“ nur durch die selbstorganschaftliche Geschäftsführung und Vertretung der Gesellschaft und die damit innerlich verbundene (unbeschränkte oder beschränkte) Mithaftung der Gesellschafter für ihre Verbindlichkeiten. Ihre Rechtssubjektivität berührt aber dieser Unterschied nicht.17 Der ein neues Rechtssubjekt schaffende personenrechtliche Organisationsvertrag – und nicht ein vermögensrechtlicher, mit dem Gesamthandsprinzip verbundener und dem Regeltypus der Innengesellschaft vorbehaltener Schuldvertrag einer Mehrheit von Gesellschaftern – macht die rechtsfähige bürgerlichrechtliche Außengesellschaft zur Grundform der rechtsfähigen Bülow LMK 2004, 221. AcP 194 (1994), 495, 499 ff. 16 Hierzu und zum Folgenden Bälz in: FS Zöllner, 1999, S. 35, insbes. 47 ff. Vgl. weiter schon ders. ZGR 1980, 1, 37 ff. Kritisch Hadding ZGR 2001, 712, 715. 17 Raiser AcP 194 (1994), 495, 503 ff.; Bälz FS Zöllner (Fn. 16), S. 58 ff. 14 15

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Personengesellschaft; mehr noch: eine solche personengesellschaftliche Gruppe liegt in Gestalt der Vorgesellschaft auch jeder Personenvereinigung zugrunde, die sich erst mit deren Registereintrag in einen kapitalgesellschaftlichen Verband verwandelt.18 In der in einer rechtsfähigen Personengesellschaft bürgerlichen Rechts „rein kapitalistisch organisierten“ Beteiligung der Anleger tritt die Struktur der Fondsgesellschaft als „reine“ Außengesellschaft nur besonders klar zutage. Soweit sich die Strukturelemente der Grundform der rechtsfähigen Personengesellschaft aus den an der Gesamthand orientierten Bestimmungen der §§ 705 ff. BGB nicht gewinnen lassen, sind sie in Anlehnung an die kraft Gesetzes auch bisher schon als rechtsfähig anerkannten Sonderformen der Personengesellschaften darzustellen.19 Der BGH hat dem für die Mithaftung der Gesellschafter mit der Übernahme der §§ 128 ff. HGB klar ins Auge gesehen.20 Für die organschaftliche Geschäftsführung und Vertretung der Gesellschaft bleibt eine entsprechende Übernahme der §§ 114 ff., 125 ff. HGB noch zu vollziehen.21 Im vorliegenden Zusammenhang tritt aber ein anderer Gesichtspunkt in den Vordergrund. Im Unterschied zu der auch im Innenverhältnis nur in der Verbundenheit von Vermögensgemeinschaftern bestehenden innengesellschaftlichen Gesamthand entsteht mit der Errichtung einer außengesellschaftlichen Personengemeinschaft ein mitgliedschaftliches Organisationsverhältnis zwischen der Gesellschaft und jedem einzelnen Gesellschafter. Zugleich werden die Gesellschafter fortan das für alle den Organisationsvertrag ändernden Grundlagengeschäfte zuständige Grundorgan der Gesellschaft, gleichviel ob sie dabei vertraglich als organschaftliche Repräsentanten der Gesellschaft oder durch Beschluss als Kollektivorgan der Gesellschaft handeln.22 Das gilt gerade auch für die Aufnahme neuer und das Ausscheiden bisheriger Gesellschafter. Die herrschende Lehre geht hier – offensichtlich noch unter dem Einfluss des Gesamthandmodells – von einem Vertrag der bisher vorhandenen Gesellschafter mit dem neuen Gesellschafter bzw. zwischen den weiter verbleibenden Gesellschaftern und dem ausscheidenden Gesellschafter aus.23 Stattdessen handelt es sich aber um einen Organisationsvertrag zwischen dem neuen bzw. dem ausscheidenden Gesellschafter und der rechtsfähigen Gesellschaft, die dabei von den schon vorhandenen bzw. den verbleibenden Gesellschaftern organschaftlich repräsentiert wird. Dementsprechend ist auch ein einseitiges Eintritts- oder Austrittsrecht eines Gesellschafters gegenüber der – von den übrigen Gesellschaftern repräsen-

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Eingehender Bälz FS Zöllner (Fn. 16), S. 58 ff. Ausführlicher K. Schmidt Gesellschaftsrecht (Fn. 6) § 58 V 2 mwN. BGHZ 146, 341, 358 f. Dazu wieder K. Schmidt Gesellschaftsrecht (Fn. 6) § 58 IV 2 b und V 2 a. Vertiefend Mülbert/Gramse WM 2002, 2085. RGZ 128, 172, 176; Ulmer in: Großkommentar HGB , 4. Aufl., 1989, § 105 Rn. 368, 373.

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tierten – Gesellschaft auszuüben.24 Der Gesellschaftsvertrag kann aber auch einen einzelnen Gesellschafter – im vorliegenden Fall die mit der Geschäftsführung und Vertretung der Fondsgesellschaft betraute Betreibergesellschaft – zur Aufnahme weiterer Gesellschafter (Anleger) und zur Entgegennahme einseitiger Bei- oder Austrittserklärungen ermächtigen.25 Dann vertritt dieser aber wiederum nicht die Gesellschafter, sondern die rechtsfähige Gesellschaft und ist eine solche organschaftliche Ermächtigung zu Grundlagengeschäften auch von der schon gesetzlich vorgesehenen Vertretung der Gesellschaft in laufenden Geschäften zu unterscheiden. Mit dem „Beitritt zur Gesellschaft“ als einem personenrechtlichen Aufnahmevertrag erwirbt der neue Gesellschafter die Mitgliedschaft in der Personengesellschaft, wobei nach Maßgabe des Gesellschaftsvertrages ein personenrechtlicher Einlageanspruch der Gesellschaft gegen den neuen Gesellschafter entsteht. Diese mitgliedschaftliche Rechtsstellung des Gesellschafters 26 in seinem Organisationsverhältnis zur Gesellschaft ist ein personenrechtlicher Status, der sich weder von einem anderen erwerben noch auf einen anderen übertragen lässt, sondern mit seinem Inhaber steht und fällt. Eine „Beteiligung“ an der Gesellschaft als subjektives Vermögensrecht des neuen Gesellschafters entsteht, im Unterschied zur Aufnahme eines weiteren Vermögensgemeinschafters in eine innengesellschaftliche Gesamthand, nicht durch An- und Abwachsung von in einer solchen Vermögensgemeinschaft den Gesellschaftern selbst und gemeinsam gehörendem Vermögen. Der vermögensrechtliche Gesellschaftsanteil jedes einzelnen Gesellschafters wird vielmehr allein durch seine Dispositionsmacht über die personenrechtlichen Anspruchs- und Gestaltungsbefugnisse (nicht auch die entsprechenden Befriedigungs- und Unterwerfungspflichten) aus seiner Mitgliedschaft gebildet: Dadurch sind diese auch in ihrer Zusammenfassung und nicht nur als Substrat einzelner Forderungs- und Optionsrechte der mögliche Gegenstand entsprechender Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäfte des Gesellschafters mit Dritten. 27 Der Gesellschaftsanteil (Beteiligung) ist alleiniges Vermögen des Anlagegesellschafters. Das Gesellschaftsvermögen, hier das Grundstück, ist alleiniges Vermögen der von ihren Gesellschaftern verschiedenen, rechtsfähigen Fondsgesellschaft. 28 Mit der Beendigung der personenMünchner Hdb. des Gesellschaftsrechts/Bälz (Fn. 5) § 101 Rn. 91, 124. BGHZ 63, 338, 345. 26 Zum umstrittenen Verhältnis von „Mitgliedschaft“ und „Gesellschaftsanteil“: BGHZ 98, 48, 50; Ulmer in: Münchener Kommentar zum BGB , Bd. 5, 4. Aufl., 2004, § 719 Rn. 2. 27 Näher zur hier vertretenen Auffassung Münchner Hdb. des Gesellschaftsrechts/Bälz (Fn. 5) § 100 Rn. 77. 28 Im vorliegenden Fall hielten die Beteiligten – wohl mit Rücksicht auf das Gesamthandsprinzip – noch die notarielle Beurkundung des Beitritts für erforderlich. Gegen das Erfordernis und damit im Ergebnis wie hier für den entsprechenden Fall des Austritts BGHZ 86, 367, 369 ff. 24 25

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rechtlichen Mitgliedschaft erlischt auch der vermögensrechtliche Gesellschaftsanteil und verbleibt dem ausgeschiedenen Gesellschafter nur der personenrechtliche Abfindungsanspruch gegen die Gesellschaft. In dem „Vertrag über den Erwerb einer Gesellschaftsbeteiligung“ schließt die Fondsgesellschaft mit dem Kapitalanleger einen als (Dienst-)Geschäftsbesorgungsvertrag nach § 675 BGB zu bestimmenden, vermögensrechtlichen Schuldvertrag, der sich auf die Verschaffung eines Gesellschaftsanteils durch Ermöglichung der Aufnahme des Anlegers als Mitglied der Gesellschaft richtet und durch den nachfolgenden Beitritt als personenrechtlichen Aufnahmevertrag verwirklicht wird. Dabei schuldet der Anleger, von einer Provision der Gesellschaft abgesehen, auch die zur Ausführung der Geschäftsbesorgung, nämlich zur Deckung der mit seiner Aufnahme entstehenden Einlageschuld, erforderlichen Geldmittel als – auf Verlangen vorschusspflichtige – Aufwendung (§§ 669, 670 BGB ). Dieser Schuldvertrag kommt mit der Unterzeichnung der Beitrittsunterlagen („Zeichnungsschein“) durch den Anleger beim Vermittler der Anlage zustande, der dabei in Vertretung der rechtsfähigen Fondsgesellschaft bürgerlichen Rechts handelt und hierzu wiederum durch die analog § 125 HGB in organschaftlicher Vertretung der Fondsgesellschaft handelnde Betreibergesellschaft bevollmächtigt worden ist. 29 Mängel im Schuldvertrag und Mängel im Aufnahmevertrag können – und werden häufig – zusammentreffen. Trotzdem sind, was die Entscheidungsgründe nicht erkennen lassen, beide streng auseinander zu halten. Im vorliegenden Sachverhalt lagen zwischen dem Abschluss des Geschäftsbesorgungsvertrages (1. 9.) und des Aufnahmevertrages (21. 12.) über dreieinhalb Monate. Im Verhältnis von Schuldvertrag und Aufnahmevertrag zwischen Gesellschafter und Gesellschaft kehrt beim späteren Beitritt eines Gesellschafters, wenn schon in verkürzter Form, nur das grundsätzliche Verhältnis von schuldvertraglicher (innengesellschaftlicher) Vereinbarung einer Vorgründungsgesellschaft und mit ihr bezweckter Errichtung einer Personengesellschaft (Außengesellschaft) durch den personenrechtlichen Gründungsvertrag wieder. 2. Fehlerhafter Beitritt zur Gesellschaft Kritisch zu sehen ist daher, dass der Senat in Verkennung dieses fundamentalen Unterschiedes aus der Austrittskündigung nach den Regeln über den fehlerhaften Beitritt zu einer Anlagegesellschaft im Ergebnis praeter legem einen weiteren Widerruf von Verbraucherverträgen macht. Dabei stehen diese Regeln für sich genommen grundsätzlich außer Frage: Der fehlerhafte Beitritt ist, wenn – hier jedenfalls durch Leistung der Einlage – in Vollzug gesetzt, entgegen den allgemeinen Regeln der Rechtsgeschäftslehre 29

Vgl. K. Schmidt Gesellschaftsrecht (Fn. 6) § 58 V 2.

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wirksam. Der fehlerhaft beigetretene Gesellschafter kann aber, wozu es bei einer Publikumsgesellschaft keiner ausdrücklichen Regelung im Vertrag bedarf, seine Mitgliedschaft durch außerordentliche Kündigung beenden und sich für die Zukunft von seiner Beteiligung unter Abfindung zu deren Jetztwert wieder lösen. 30 Die Regeln der fehlerhaften Gesellschaft stehen jedoch in einem selbständigen Kontext. Und schon gar nicht gehören sie in einen Verbrauchervertrag. 31 Das „Regelwerk über die fehlerhafte Gesellschaft“ verdankt sich richterlichem Pragmatismus: Der Bestands- und Verkehrsschutz der Gründung der Gesellschaft oder, wie hier, des Beitritts zu ihr wird im Wesentlichen aus den Schwierigkeiten einer Rückabwicklung gerechtfertigt, wenn das fehlerhafte Geschäft schon vollzogen ist. 32 Die Rechtsprechung wendet die Regeln bis heute unterschiedslos auf Außen- und Innengesellschaften an. 33 Im Schrifttum wird unter Berufung auf das „moderne“ Verständnis des Gesamthandprinzips schon lange eine Beschränkung der Grundsätze auf die allein als Organisation ihrer Gesellschafter begriffene Außengesellschaft gefordert. 34 Aber erst wenn die Gesamthandsgesellschaft ganz der Innengesellschaft zugeschlagen, ja als deren in der Interessengemeinschaft und der stillen Gesellschaft nur abgewandelter Regelfall erkannt, die Rechtsfähigkeit der Außengesellschaft dagegen als Ergebnis des personenrechtlichen Organisationsvertrages verstanden wird, tritt die Bedeutung der Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft uneingeschränkt in Erscheinung: Die maßgeblich aus den Bedürfnissen des Vermögensrechts entwickelten Regeln der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre werden durch personenrechtliches Sonderrecht fehlerhafter Organisationsgeschäfte verdrängt, das der Sicherung der Errichtung und bei nachfolgenden Änderungen auch der Sicherung der Funktionsfähigkeit der rechtsfähigen Personenvereinigungen dient. 35 Die innengesellschaftlichen Vermögensgemeinschaften hingegen bedürfen solcher Sicherung nicht. Hinter der Berufung auf die Rückabwicklungsschwierigkeiten steht hier vielmehr die uneingestandene, aber für das Vermögensrecht ganz allgemein erhebliche Einsicht, dass eine Rückabwicklung allein dem Austausch von Leistungen ohne rechtsbeständige Grundlage, dagegen der Vereinigung von Leistungen ebenso ausschließlich nur eine Auseinan30 BGHZ 156, 46, 52 f.; st. Rspr. Eingehender Münchner Hdb. des Gesellschaftsrechts/ Bälz (Fn. 5) § 101 Rn. 91 ff. mwN. 31 Wie hier für Trennung etwa auch OLG Karlsruhe ZIP 2003, 202, 205; Hdb. Personengesellschaften/Westermann (Fn. 3) Rn. I 198a; Wagner NZG 2000, 169. 32 Näher Münchner Hdb. des Gesellschaftsrechts/Bälz (Fn. 5) § 100 Rn. 39 ff. 33 BGHZ 8, 157, 168 f.; 55, 5, 8 f.; st. Rspr. Einschränkend neustens aber BGH ZIP 2004, 1706, 1707 f. 34 Nachweise: Münchner Hdb. des Gesellschaftsrechts/Bälz (Fn. 5) § 100 Rn. 42 ff. 35 Ausführlich zur hier vertretenen Auffassung Münchner Hdb. des Gesellschaftsrechts/ Bälz (Fn. 5) § 100 Rn. 61 ff., 70 ff. In gleicher Gesamtrichtung eingehender Schäfer, Die Lehre vom fehlerhaften Verband, 2002.

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dersetzung der so gebildeten (offenen oder stillen) Vermögensgemeinschaft gemäß ist. 36 Der gebotenen Eindeutigkeit und Berechenbarkeit von Organisationsgeschäften entsprechend sind die Gründe der Fehlerhaftigkeit, die ein Organisationsgeschäft in der Regel nur „anfechtbar“, und solche, die es ganz ausnahmsweise schon von vornherein „nichtig“ machen, selbständig zu bestimmen. Dabei treten die von der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre her bekannten rechtsgeschäftlichen Mängel wie Täuschung, Gesetzes- oder Sittenwidrigkeit, Irrtum und Dissens hier oft auch kumulativ auf. Nur kann es sich dabei immer nur um rechtsgeschäftliche Mängel drehen. 37 Daher ist nicht unwidersprochen hinzunehmen, dass der Senat hier neben der arglistigen Täuschung des Anlegers in gleichem Atemzug den Beitritt unter Verletzung der Aufklärungspflicht nennt: 38 Insoweit geht es nicht um einen rechtsgeschäftlichen Mangel des Beitritts und damit auch nicht um die Regeln der fehlerhaften Gesellschaft, sondern um die schuldhafte Verursachung eines Schadens und damit um einen möglichen Ersatz dieses Schadens für den Anleger. Das ist wegen der hier verfolgten Fragestellung besonders festzuhalten. Im Übrigen wird die Lehre vom fehlerhaften Organisationsgeschäft erst dann voll schlüssig, wenn man dem Geschäft die im Regelfall gegebene Wirksamkeit schon von Anfang an zuspricht und einen nachfolgenden „Vollzug“ des Geschäfts allein noch darüber entscheiden lässt, ob die „Anfechtung“ noch rückwirkend oder nur noch mit Wirkung für die Zukunft erfolgen kann. 39 Dem Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Berechenbarkeit der Fehlergründe des Organisationsgeschäfts entspricht das Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bei seiner Geltendmachung. Auch wo insoweit, wie vorliegend, an die Stelle eines richterlichen Gestaltungsverfahrens eine einfache Austrittskündigung tritt, ist deshalb die Geltendmachung nur in einem klar bestimmbaren zeitlichen Rahmen zuzulassen. 40 Daher ist auch der ständigen und vom Senat bestätigten Praxis zu widersprechen, dass der fehlerhaft beigetretene Anleger das Recht zur fristlosen Kündigung seiner Mitgliedschaft in der Gesellschaft jederzeit ausüben und hierbei nur durch die – der knapperen Verjährung eines Schadensersatzanspruches ausdrücklich gegenübergestellten – allgemeinen Grundsätze der Verwirkung beschränkt wird. Das ist vielmehr auch insofern noch zu weitherzig, als diese Verwirkung immerhin bereits eintreten soll, „wenn sich die Gesellschaft wegen der Un36 §§ 752 ff. BGB ; § 235 HGB . Ausführlicher dazu Münchner Hdb. des Gesellschaftsrechts/Bälz (Fn. 5) § 100 Rn. 328 ff., 337 ff. 37 Eingehender Münchner Hdb. des Gesellschaftsrechts/Bälz (Fn. 5) § 100 Rn. 132 ff., § 101 Rn. 92 ff. 38 BGHZ 156, 46, 53. 39 Münchner Hdb. des Gesellschaftsrechts/Bälz (Fn. 5) § 100 Rn. 143 ff., § 101 Rn. 95. 40 Münchner Hdb. des Gesellschaftsrechts/Bälz (Fn. 5) § 101 Rn. 102.

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tätigkeit des getäuschten Anlegers über einen gewissen Zeitraum hinweg (Zeitmoment) bei objektiver Beurteilung darauf einrichten durfte und eingerichtet hat, dieser werde von seinem Recht nicht mehr Gebrauch machen (Umstandsmoment) und die verspätete Geltendmachung daher gegen Treu und Glauben verstieße“. 41 Zu fordern ist vielmehr, dass der Betroffene die Fehlerhaftigkeit schon mit aller ihm zumutbaren Beschleunigung geltend macht. 42 Vor allem aber sind die Regeln der fehlerhaften Gesellschaft nicht auf den vermögensrechtlichen Vertrag über den Erwerb der Beteiligung, sondern allein auf den personenrechtlichen Beitrittsvertrag anzuwenden. Der Beitritt zu der Fondsgesellschaft als einer rechtsfähigen Personenvereinigung wiederum ist kein Verbrauchergeschäft. 43 Dem entsprechend sind mögliche Mängel des Beitrittsvertrages nicht notwendig auch solche des Geschäftsbesorgungsvertrages und umgekehrt, und kann je nachdem auch der zeitliche Rahmen differieren, innerhalb dessen die einzelnen Mängel sich noch geltend machen lassen. Die insoweit für jeden der beiden Verträge gesondert zu prüfenden Voraussetzungen werden zwar häufig gleichzeitig zutreffen. Aber das muss keineswegs immer so sein. So war im vorliegenden Fall die Täuschung des Anlegers durch die Vermittler der Fondsanteile den Fondsbetreibern tatsächlich bekannt, in concreto also die Kenntnis des Geschäftsführers der für die Fondsgesellschaft bei der Aufnahme des Anlegers tätigen Betreiber-GmbH der Fondsgesellschaft gemäß § 166 Abs. 1 BGB organschaftlich zuzurechnen. 44 Aber ohne dass man deshalb in Naivität verfallen müsste, ist auch, wo im Vertrieb das Blaue vom Himmel heruntergelogen wurde, eine korrekte Geschäftsgebarung bei der späteren Aufnahme des Anlegers unter Mitwirkung ganz anderer Personen nicht notwendig auszuschließen. 45 Ebenso schlägt, wenn man die zeitliche Grenze der Geltendmachung erst bei der Verwirkung zieht, der Schutz des Anlegers nur zu leicht in die Möglichkeit um, ihn zunächst weiter auf den Anlageerfolg spekulieren zu lassen, auch wenn ihm die tatsächliche Entwicklung des Anlageobjektes längst nicht mehr geheuer ist. Immerhin waren hier die geplanten Erträge viereinhalb Jahre geflossen und hatte sich der Beklagte, nachdem sie dann ausblieben, noch vom Sommer bis zum April des Folgejahres mit seiner Kündigung und der Besinnung auf die „weichen Kosten des Anlageprojektes“ Zeit gelassen. Wenn man dagegen richtiger das Kündigungsrecht wegen fehlerhaften Beitritts zeitlich enger begrenzt, schließt das umgekehrt, wie zu zeigen sein wird, einen Anspruch des Anlegers auf Schadensersatz aus dem Geschäftsbesorgungsvertrag nicht aus, der – sofern etwa die feh41

BGHZ 156, 46, 53. Ebenso jetzt wieder BGH ZIP 2004, 1402, 1406 f.

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Münchner Hdb. des Gesellschaftsrechts/Bälz (Fn. 5) § 101 Rn. 89. Vgl. Fn. 31. Zu § 312 BGB offen lassend jetzt BGH ZIP 2004, 1402, 1406. Vgl. K. Schmidt Gesellschftsrecht (Fn. 6) § 58 V 2. So im Fall BGHZ 148, 201.

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lende Werthaltigkeit der Beteiligung tatsächlich erst später offenbar wird – noch nicht verjährt ist. Doch ist der Anleger dann nicht mehr in der Lage, sein Wiederausscheiden aus der Gesellschaft selbständig herbeizuführen, sondern muss es vermöge des Schuldvertrages erst erzwingen. 3. Geschäfts- und Leistungsmängel des Verbrauchergeschäfts mit der Gesellschaft Das führt von der gesellschaftsrechtlichen zur schuldvertraglichen Problematik der Entscheidung und damit zu dem vom Senat als Verbrauchervertrag über die „Erbringung einer anderen Leistung“ (§ 358 Abs. 1 BGB ; § 9 Abs. 4 VerbrKrG 1990) erfassten „Vertrag über den Erwerb einer Beteiligung an einer Anlagegesellschaft“.46 Dieser ist, wie dargelegt, als ein Geschäftsbesorgungsvertrag des Anlegers mit der Gesellschaft nach § 675 BGB zu verstehen, der sich auf die Verschaffung der vorgesehenen Beteiligung durch die Ermöglichung der Aufnahme des Anlegers als Mitglied der Gesellschaft richtet. Jetzt geht es um Gründe für einen Widerruf und weitere Geschäftsmängel, dazuhin aber auch um Leistungsmängel des Vertrages. Damit ist die Kritik wieder unmittelbar auf die Versagung eines Schadensersatzes durch eine ungeschmälerte Rückerstattung der Einlage zu lenken. a) Ausgangslage: Ansprüche des Anlegers auf Ausgleich oder Ersatz Wenn der Senat von dem „unter Verletzung einer Aufklärungspflicht oder sogar unter arglistiger Täuschung zur Beteiligung veranlaßten und damit fehlerhaft beigetretenen Anlagegesellschafter“47 spricht, vermischt er nicht nur schuldvertragliches Vermögensgeschäft und personenrechtliches Organisationsgeschäft. Er geht damit vielmehr kommentarlos auch über eine nur scheinbar gelöste Grundsatzfrage hinweg, die jedenfalls nach der Schuldrechtsreform wieder neu gestellt und aufzuarbeiten ist: Ob die in ständiger Rechtsprechung entwickelte und mit der Anfechtung wegen arglistiger Täuschung nach § 123 BGB gleichgestellte Aufhebung des Vertrages kraft Schadensersatzes wegen Verhandlungsverschuldens sich weiterhin aufrecht erhalten lässt, ist stark umstritten. 48 Manche wollen sie unter Berufung auf § 241 Abs. 2 BGB und die dort genannten „Interessen“ als Schutz der rechtsgeschäftlichen Entscheidungsfreiheit verstehen und durch die Reform bestätigt sehen. 49 Richtiger ist aber daran zu erinnern, dass sie sich auch bisher schon allein aus einer als unzureichend erkannten Haftung für Leistungs46 47

BGHZ 156, 46, 50; ebenso schon BGHZ 133, 254, 261 ff.; 148, 201, 203. BGHZ 156, 46, 53.

48 Zum Streitstand: Lorenz/Riehm Lehrbuch zum neuen Schuldrecht, 2002, Rn. 381 ff. mwN. Kritisch neuestens B. Mertens AcP 203 (2003), 818. 49 Lorenz/Riehm Neues Schuldrecht (Fn. 48) Rn. 372; Canaris JZ 2001, 499, 519.

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mängel hat rechtfertigen lassen. Die Reform hat diese Unzulänglichkeit beseitigt. Daher ist für eine solche Rechtsprechung heute kein Platz mehr. 50 In §§ 241 Abs. 2 und 311 Abs. 2 und 3 BGB ist der schon allgemein bei gesteigertem sozialem Kontakt durch ein Rücktrittsgebot vorverlagerte gesetzliche – deliktische oder nichtdeliktische – Schutz gegen Eingriffe in die Integrität subjektiver Rechte 51 für seinen praktisch wichtigsten Fall, die tatsächliche Nähebeziehung der beteiligten Partner oder Sachwalter aus geschäftlichem Anlass, nunmehr besonders zusammengefasst worden. Um einen Schutz des negativen Interesses durch Schadensersatz nach § 311 i.V.m. §§ 241 Abs. 2, 276, 280 Abs. 1 BGB geht es vorliegend jedoch nicht. Die in § 241 Abs. 2 BGB genannten „Rechte, Rechtsgüter und Interessen“ umschreiben aber nur dieselben, zum Vermögen des Einzelnen zusammengefaßten subjektiven Rechte, die ihm auch die Dispositionsmacht zum Abschluss von Rechtsgeschäften verleihen. Der mit einem Vertrag ausgelöste, primäre und sekundäre Leistungsschutz dieser Rechte sichert durch verschuldensunabhängige Ansprüche auf den Ausgleich erlangter Vorteile und verschuldensabhängige Ansprüche auf den Ersatz erlittener Schäden das positive Interesse und damit die rechtsgeschäftliche Äquivalenz. 52 Die Reform trägt dem dadurch Rechnung, dass sie dem bei Geschäftsmängeln gegebenen Ausgleich durch Rückabwicklung einen bei Leistungsmängeln ebenso verschuldensunabhängigen Ausgleich kraft Rücktritts (§ 323 BGB ) zur Seite stellt, den Ersatz bei schuldhafter Verfehlung der vertraglichen Leistung zum Schadensersatz statt der Leistung zusammenfasst (§§ 280 Abs. 1 und 3, 281 ff. BGB ) sowie für Leistungsmängel im Kauf- und Werkvertragsrecht diesen Schutz mit weiteren Regeln ergänzt (§§ 434 ff., 633 ff. BGB ). Die hiernach im Schutz rechtsgeschäftlicher Äquivalenz bei Leistungsmängeln sonstiger Verträge – wie auch des vorliegenden (Dienst-)Geschäftsbesorgungsvertrages – noch verbleibende Lücke schließt § 311 a BGB : Anfängliche, auch die anfängliche qualitative Unmöglichkeit ist entgegen § 306 a.F. BGB kein Geschäftsmangel mehr, sondern wird als Leistungsmangel eines wirksamen Vertrages wiederum mit dem verschuldensunabhängigen Ausgleich kraft Rücktritts und, wenn der Schuldner die Übernahme der nicht oder nur mangelhaft erfüllbaren Verpflichtung zu vertreten hat, mit dem Schadensersatz statt der Leistung erfasst. Dem Vertrag auf den Erwerb einer Beteiligung nach § 675 BGB steht ein qualitatives, schon anfängliches Leistungshindernis entgegen, wenn wegen der „weichen“ Kapitalkosten auszuschließen ist, dass die Kapitalanlage jemals Gewinn abwirft. Wird der demungeachtet wirksam zustande gekommene Ver50 Eingehender Münchner Hdb. des Gesellschaftsrechts/Bälz (Fn. 5) § 100 Rn. 364 ff., § 101 Rn. 107 ff. 51 Vgl. Bälz Zum Strukturwandel des Systems zivilrechtlicher Haftung, 1991, S. 48 ff.; ausführlicher ders. in: FS Kübler, 1997, S. 355. 52 Eingehender Bälz Strukturwandel (Fn. 51) S. 13 ff., 18 ff., 48 ff.

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trag (§ 311 a Abs. 1 BGB) gemäß den allgemeinen rechtsgeschäftlichen Regeln vom Anleger wegen arglistiger Täuschung rechtzeitig angefochten (§ 123 BGB) oder als Haustürgeschäft noch wirksam widerrufen (§ 312 BGB) oder ist er aus anderen, aber noch nicht verwirkten Gründen nichtig oder unwirksam, kann der Anleger die Fondsgesellschaft auf Grund des Geschäftsmangels nach §§ 346 ff., 357 bzw. 812 ff. BGB auf Ausgleich durch Rückabwicklung in Anspruch nehmen. Dieser Ausgleich richtet sich auf das Abfindungsguthaben, das sich bei Rückgängigmachung der Beteiligung unter anteiliger Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Gewinne und Verluste der Gesellschaft und etwa auch noch einer restlichen Einlagepflicht des Gesellschafters ergibt. Aber dieses Guthaben kann der Anleger nur beanspruchen, wenn er nach den eigenen sachlichen und zeitlichen Voraussetzungen der Regeln der fehlerhaften Gesellschaft mit einer fristlosen Kündigung die Mitgliedschaft in der Gesellschaft und damit seine Beteiligung einseitig beenden kann. Das ist nicht selbstverständlich: Man denke nur an den Widerruf einer „an der Haustür“ vereinbarten Geschäftsbesorgung nach schon erfolgter, fehlerfreier Aufnahme in die Gesellschaft53 oder umgekehrt an eine fehlerhaft begründete Mitgliedschaft, deren Kündigung längst verfristet ist, während die vorangegangene Geschäftsbesorgung mangels ausreichender Belehrung möglicherweise noch nach Jahren widerrufen werden kann (§ 355 Abs. 3 Satz 3 BGB). Hat der Anleger kein Kündigungsrecht, muss er mit dem Anspruch auf Rückabwicklung zunächst die Zustimmung der Fondsgesellschaft zu seinem Ausscheiden erzwingen, um das Abfindungsguthaben freizusetzen. Neben diesem Äquivalenzschutz kommt, was für frustrierte Finanzierungskosten erheblich werden kann, ein gesetzlicher Integritätsschutz wegen eines Schadens im sonstigen Vermögen des Anlegers aus Verhandlungsverschulden der Gesellschaft nach § 311 Abs. 2 i.V.m. § 241 Abs. 2, 276, 280 Abs. 1 BGB in Betracht; insoweit ist der Fondsgesellschaft ein Verschulden der Betreibergesellschaft nach § 31 BGB zuzurechnen, ein Verschulden der Vermittler hat sie nach § 278 BGB zu vertreten. Nicht zuzugeben ist nun aber der vom Senat erneut bestätigten herrschenden Meinung, dass es bei einem solchen Ausgleich mit dem Abfindungsguthaben bleiben muss und ein Ersatz des vollen Schadens des Anlegers durch die ungeschmälerte Rückzahlung der Einlage weder möglich noch mit den Regeln der fehlerhaften Gesellschaft vereinbar ist.54 Anders als die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung bezieht sich die Verletzung der „Aufklärungspflicht“ seitens der Gesellschaft nicht auf einen Geschäftsmangel des mit dem Anleger geschlossenen Geschäftsbesorgungsvertrages, sondern auf ein schon bei dessen Abschluss vorhandenes, qualitatives Leistungshindernis und damit auf einen Mangel der vertraglichen Leistung (§ 311 a Abs. 1 BGB): Die Gesellschaft hat 53 54

BGHZ 148, 201. BGHZ 156, 46, 51 f. unter Bezugnahme auf Westermann ZIP 2002, 240, 243, 245.

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kein vorvertragliches, sondern ein vertragliches – und vom Gesetz (§ 311 a Abs. 2 Satz 2 BGB) schon vermutetes – (Übernahme-)Verschulden zu vertreten. Die Umstände, auf welche sich die Aufklärungspflicht bezieht, beschreiben in Wahrheit nur die Beschaffenheit der Kapitalanlage, die der Anleger nach dem konkreten Geschäftsbesorgungsvertrag oder doch bei sonst gleichartigen Verträgen über den Erwerb einer Kapitalanlage erwarten kann (vgl. §§ 434, 633 BGB). Soweit noch keine Verjährung eingetreten ist, hat der Anleger die Wahl: Er kann vom Vertrag zurücktreten (§ 323 BGB). Dann steht er vermöge des Ausgleichs durch Rückabwicklung gemäß § 346 BGB – einschließlich eines hier auf § 311 a Abs. 2 Satz 1 Fall 2 i.V.m. § 284 BGB zu stützenden Ersatzes für frustrierte Finanzierungskosten – nicht anders, als wenn die Rückabwicklung wegen eines Geschäftsmangels des Vertrages erfolgt. Aber er kann stattdessen vor allem auch Schadensersatz statt der vertraglichen Leistung nach § 311 a Abs. 2 Satz 1 Fall 1 i.V.m. §§ 249 ff. BGB verlangen und durch eine solche Abrechnung des Vertrages nach Schadensersatzregeln die volle Erstattung der Einlage erreichen. Die Regeln der fehlerhaften Gesellschaft stehen dem nicht entgegen. Auch wenn er sich nach diesen Regeln nicht oder doch inzwischen nicht mehr durch eine Austrittskündigung von seiner Beteiligung einseitig lösen kann, hat er gegen Aufgabe seiner Beteiligung Anspruch auf Zustimmung der Gesellschaft zu seinem vertraglichen Ausscheiden und Erstattung der gesamten von ihm – bzw. für ihn von Dritten – der Gesellschaft zur Bestreitung seiner Einlagepflicht zugeflossenen Mittel.55 Die für Geschäftsmängel des Schuldvertrages mit dem Anleger auf Erwerb der Beteiligung und namentlich für die Arglist i.S.v. § 123 BGB erforderliche Zurechnung des Wissens des „Fondsvertreibers“ und seiner „Vertriebsbeauftragten“ bei der von ihnen vertretenen Fondsgesellschaft erfolgt nach § 166 Abs. 1 BGB . Auf eine Kenntnis auch der Fondsbetreiber kommt es insofern – anders als für den gesellschaftsrechtlichen Aufnahmevertrag – nicht einmal an. Die nach § 276 BGB schuldhafte Übernahme der schon anfänglich mangelhaften Vertragsleistung durch den Vertreiber und seine Agenten hat die Fondsgesellschaft nach § 278 BGB zu vertreten. b) Einwendungsdurchgriff des Anlegers gegen die Bank bei Finanzierung der Beteiligung durch einen verbundenen Verbraucherkredit Dieselben Voraussetzungen gelten, wenn der Anleger die Beteiligung nicht selbst, sondern mit einem „verbundenen“ Verbraucherkredit einer Bank finanziert. Demgegenüber trennt der Senat zwischen Geschäftsbesorgungs55 Eingehender Münchner Hdb. des Gesellschaftsrechts/Bälz (Fn. 5) § 101 Rn. 104 ff., 111. Zur Berechnung des Schadensersatzes „statt der Leistung“ näher Lorenz/Riehm Neues Schuldrecht (Fn. 48) Rn. 206 ff., 216 ff. mwN. Die Untersuchung von Geibel Der Kapitalanlegerschaden, 2002, nimmt auf die Regeln der fehlerhaften Gesellschaft noch nicht Bezug.

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und Aufnahmevertrag weiterhin auch nicht, wenn er den hier möglichen Einwendungsdurchgriff des Anlegers gegen den von der Bank eingeklagten Anspruch auf Rückzahlung des Darlehens (§ 359 BGB ; § 9 Abs. 3 und 4 VerbrKrG 1990) prüft.56 „Verbundene“ Geschäfte (§ 358 Abs. 3 BGB ; § 9 Abs. 1 VerbrKrG 1990) sind aber nicht der personenrechtliche Aufnahmevertrag und der vermögensrechtliche Kreditvertrag. „Verbunden“ sind vielmehr dieser als „Verbraucherdarlehensvertrag“ (§ 491 BGB ; § 1 VerbrKrG 1990) zur Finanzierung der Beteiligung von der Bank und der ebenfalls vermögensrechtliche, durch Vermittlung derselben Fondsvertreiber von der Fondsgesellschaft mit dem Anleger geschlossene und auf Verschaffung der Beteiligung gerichtete Geschäftsbesorgungsvertrag (§ 675 BGB).57 Das – fehlerfrei oder fehlerhaft – geschlossene Organisationsgeschäft der Aufnahme als Mitglied in die Gesellschaft hat aber für die von diesen beiden Verträgen gebildete „wirtschaftliche Einheit“ Tatbestandswirkung und begrenzt so auch die Tragweite des Einwendungsdurchgriffs. Davon abgesehen irritiert, dass der Senat als „Gegenstand“ des Einwendungsdurchgriffs nicht Einwendungen, sondern Abfindungs- und Schadensersatzansprüche des Anlegers erörtert und so tatsächlich schon dem davon zu unterscheidenden Rückforderungsdurchgriff in nicht sehr förderlicher Weise vorgreift.58 Die Bank hat die Kreditsumme zur Erfüllung der Pflicht des Anlegers aus dem Geschäftsbesorgungsvertrag mit der Fondsgesellschaft – Vorschuss des Aufwands für die Einlage zur Verfügung des Treuhänders – für Rechnung des Anlegers an den Treuhänder ausbezahlt. Daher soll nach dem Zweck des § 359 BGB der Anleger den Einwand gegenüber der Fondsgesellschaft, dass er ihr nicht hätte leisten müssen, auch der Bank entgegenhalten und mit diesem Einwendungsdurchgriff den Rückzahlungsanspruch der Bank (§ 488 Abs. 1 Satz 2 BGB ; § 607 a.F. BGB) entkräften können.59 Ob dies der Fall ist, hängt entgegen dem Senat aber nicht von einem Abfindungsanspruch des Anlegers gegen die Gesellschaft ab,60 sondern allein von möglichen Einwendungen des Anlegers gegen die Gesellschaft aus dem Geschäftsbesorgungsvertrag. Ein dem entsprechender Geschäftsmangel ergibt sich außer dem Widerruf als Verbraucher (§ 355 BGB),61 wie der Senat im Ergebnis nunmehr ergänzt, auch aus einer Anfechtung wegen arglistiger Täuschung (§ 123 BGB).62 Weiter lässt sich dem unbedenklich auch die schon anfängliche Nichtigkeit oder Unwirksam56 57

BGHZ 156, 46, 51 ff. Umfassend zur Fragestellung Westermann ZIP 2002, 189, 240. BGHZ 156, 46, 50 f. Die Entscheidungsgründe sprechen im Folgenden abwechselnd

vom Vertrag über den Erwerb einer Gesellschaftsbeteiligung oder vom Gesellschaftsbeitritt, unterscheiden beide aber sachlich nicht. 58 BGHZ 156, 46, 51 ff. 59 BGHZ 156, 46, 52. 60 So aber BGHZ 156, 46, 51. 61 BGHZ 148, 201. 62 BGHZ 156, 46, 53.

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keit des Vertrages, also etwa seine Nichtigkeit wegen Gesetzes- oder Sittenverstoßes (§§ 134, 138 BGB), hinzufügen. Dabei kann der Anleger den Widerruf oder die Anfechtung, statt zuvor gegenüber der Gesellschaft, auch unmittelbar gegenüber der Bank erklären.63 Entschieden abzulehnen ist dagegen, dass er mit Wirkung gegenüber der Fondsgesellschaft auch eine gesellschaftsrechtliche Austrittskündigung wegen Fehlerhaftigkeit seiner Aufnahme schon dadurch soll ausüben können, dass er lediglich gemäß § 359 BGB der Bank mitteilt, er sei durch Täuschung zum Erwerb der Beteiligung veranlasst worden, und ihr seinen Gesellschaftsanteil anbietet.64 Für sein Ausscheiden aus der Mitgliedschaft in der Fondsgesellschaft als einer rechtsfähigen Personengesellschaft ist die Ausübung des Kündigungsrechts gegenüber der Gesellschaft selbst unabdingbar.65 Und auch dann hat er keinen Gesellschaftsanteil, sondern allein einen schuldvertraglichen Rückabwicklungsanspruch auf das Abfindungsguthaben anzubieten. Auch eine von ihm noch geschuldete Resteinlage hat mit alledem nichts zu tun,66 sondern schlägt sich von selbst nur in einem entsprechend geringeren Abfindungsguthaben nieder. Auch der mit dem Einwendungsdurchgriff gegen den Rückzahlungsanspruch der Bank bewirkte Schutz des Anlegers davor, dass der von der Fondsgesellschaft vermöge der Geschäftsbesorgung zu verschaffenden Beteiligung die vertragsgemäße Werthaltigkeit fehlt, greift allein insoweit, als der Anleger wegen dieses Leistungsmangels aus dem Geschäftsbesorgungsvertrag seinerseits nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre. 67 Das ist der Fall, wenn er wegen der nicht vertragsgemäß erbrachten Leistung, also der fehlenden oder eingeschränkten Tauglichkeit der Beteiligung als Kapitalanlage, nach § 311 a Abs. 1 i.V.m. § 323 BGB von dem Vertrag zurücktritt, da damit seine eigene Verpflichtung zur Beschaffung der Mittel für seine Einlage als Gesellschafter rückwirkend entfällt. Dann gilt insoweit wieder dasselbe, wie wenn er einen Geschäftsmangel geltend macht. Insbesondere kann er den Rücktritt vom Geschäftsbesorgungsvertrag wegen des Leistungsmangels – aber nicht einen Austritt aus der Gesellschaft wegen Fehlerhaftigkeit seines Beitritts – statt gegenüber der Gesellschaft auch gegenüber der Bank erklären. Mit dieser Maßgabe ist die vom Senat vorgenommene Erstreckung des Einwendungsdurchgriffs nach § 359 BGB auch auf Leistungsmängel wiederum in sich stimmig und folgerichtig. Eine Geltendmachung von Schadensersatz gegen die Fondsgesellschaft wegen desselben Leistungsmangels würde den Anleger dagegen nicht schon von BGHZ 156, 46, 53. So aber BGHZ 156, 46, 53; anders (aber aufgegeben) noch BGH ZIP 2000, 1430, 1432 f. und 1483, 1485 f. ( XI . ZS ). 65 Wie hier OLG Karlsruhe ZIP 2003, 202, 203; Hdb. Personengesellschaften/Wester63 64

mann (Fn. 3) Rn. I 178 b. 66 So aber BGHZ 156, 46, 53 f. 67 Vgl. BGHZ 156, 46, 53.

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seiner eigenen Leistungspflicht gegenüber der Gesellschaft befreien. Demgemäß folgt aus einer solchen Möglichkeit keine Einwendung, die er auch wiederum dem Rückzahlungsanspruch der Bank entgegensetzen könnte. Auch die Bank muss sich nur mögliche Weiterungen aus ihrer Leistung für Rechnung des Anlegers gefallen lassen, nicht aber Folgen eines Verschuldens der Gesellschaft. Daher ist es verfehlt, wenn der Senat auch im Zusammenhang mit einem möglichen Schadensersatzanspruch des Anlegers gegen die Gesellschaft den Einwendungsdurchgriff nach § 359 BGB überhaupt in Erwägung zieht, um dann freilich einen solchen Anspruch als mit den Regeln der fehlerhaften Gesellschaft unvereinbar abzulehnen.68 Vielmehr ist, wie dargelegt, sehr wohl auch ein Anspruch des Anlegers gegen die Fondsgesellschaft auf Schadensersatz statt der Leistung möglich, ohne dass man dadurch mit den Regeln der fehlerhaften Gesellschaft in Konflikt gerät. Nur lässt sich daraus schon von vornherein kein Einwendungsdurchgriff gegen die Bank ableiten. c) Rückforderungsdurchgriff gegen die Bank oder Anspruch auf Schadensersatz gegen die Gesellschaft Nicht um Einwendungen, sondern um Ansprüche des Anlegers gegen die Fondsgesellschaft geht es dagegen beim Rückforderungsdurchgriff des Anlegers gegen das Kreditinstitut nach § 358 Abs. 4 Satz 3 BGB (§ 9 Abs. 2 Satz 4 VerbrKrG 1990), den der Senat folgerichtig in gleicher Breite erweitert. 69 Allerdings handelt es sich dabei genauer wieder nur um einen Anspruch des Anlegers aus dem – mit dem Kreditvertrag allein verbundenen – vermögensrechtlichen Geschäftsbesorgungsvertrag und nicht aus seinem mit dem personenrechtlichen Aufnahmevertrag begründeten Gesellschaftsverhältnis. Davon abgesehen geht der Senat mit einem zweiten Analogieschritt noch entscheidend weiter: Um die mit der Widerklage des Anlegers von der Bank zurückgeforderten Zinsen zu erfassen, dehnt er „in entsprechender Anwendung des Gesetzes“ den Rückforderungsdurchgriff auf eine Gesamtabrechnung des verbundenen Geschäfts aus. 70 Hat die Bank sich für ihr Kreditgeschäft mit dem Anleger, wie hier, den gleichzeitigen Abschluss von dessen Geschäftsbesorgungsvertrag mit der Fondsgesellschaft zu Nutze gemacht und die Kreditsumme diesem Vertrag entsprechend an den Treuhänder ausbezahlt, wäre der Vorschuss auf die Einlage aber gar nicht zu leisten gewesen, weil der Anleger den Geschäftsbesorgungsvertrag widerruft, tritt die Bank in ihrem Verhältnis zum Anleger in die Rechte und Pflichten der Fondsgesellschaft ein. Mit dem Widerruf (§ 355 So BGHZ 156, 46, 51 und 52. BGHZ 156, 46, 54 ff. Zum Fragenkreis insgesamt vor allem wieder Westermann ZIP 2002, 189, 240 ff. 70 BGHZ 156, 46, 55 ff. 68 69

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BGB) kann der Anleger die Gesellschaft auf Rückabwicklung der Geschäftsbesorgung in Anspruch nehmen (§ 357 i.V.m. § 346 ff. BGB). Ob dieser ver-

mögensrechtliche Rückabwicklungsanspruch des Anlegers gegen die Gesellschaft aus dem Geschäftsbesorgungsvertrag sich schon unmittelbar auf das durch den personenrechtlichen Abfindungsanspruch dargestellte Abfindungsguthaben aus dem Gesellschaftsverhältnis richtet oder zunächst nur auf die Verpflichtung der Gesellschaft, dem Wiederausscheiden des Anlegers aus der Gesellschaft zuzustimmen, hängt davon ab, ob für den organisationsgeschäftlichen Aufnahmevertrag die Regeln der fehlerhaften Gesellschaft eingreifen.71 Der Widerruf des Geschäftsbesorgungsvertrages mit der Fondsgesellschaft lässt, wie seit der Schuldrechtsreform nunmehr ausdrücklich geregelt ist, auch den mit ihm verbundenen Kreditvertrag des Anlegers mit der Bank entfallen (§ 358 Abs. 1 BGB). An die Stelle der vertraglichen Pflichten der Partner des Kreditvertrages treten Rückabwicklungsansprüche: Die Bank kann die Kreditsumme und eine Nutzungsentschädigung ab deren Auszahlung, der Anleger die schon gezahlten Zinsen und Tilgungsprämien zurückfordern (§ 358 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. §§ 357, 346 ff. BGB ; § 7 Abs. 4 VerbrKrG 1990 i.V.m. § 3 HWiG 1986).72 Dasselbe gilt über den Widerruf (§ 355 BGB ) hinaus mit dem in der Sache folgerichtigen Ergebnis des Senats auch, wenn der Anleger den Vertrag wegen arglistiger Täuschung anficht (§ 123 BGB ) oder wenn er wegen nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung vom Vertrag zurücktritt (§§ 311 a Abs. 1, 323 BGB ). 73 Auch insoweit geht es, wie dargelegt, nicht um den fehlerhaften Beitritt zur Gesellschaft, sondern um Geschäfts- oder Leistungsmängel des schon zuvor vom Anleger mit der Gesellschaft geschlossenen Geschäftsbesorgungsvertrages nach § 675 BGB auf Verschaffung einer Beteiligung. Demgemäß tritt die Bank im Verhältnis zum Anleger aufgrund des erweiterten § 358 Abs. 4 Satz 3 BGB nicht hinsichtlich der Rechtsfolgen aus dem mit dem Beitritt begründeten mitgliedschaftlichen Organisationsverhältnis, sondern allein der Rechtsfolgen von Geschäfts- oder Leistungsmängeln des Geschäftsbesorgungsvertrages in die Rechte und Pflichten der Fondsgesellschaft ein. Zugleich ist der nach dem – ebenfalls erweiterten – § 358 Abs. 1 BGB eingetretene Wegfall des Kreditvertrages zu berücksichtigen. Die Gesellschaft ist kraft des Rückabwicklungsanspruchs des Anlegers nach §§ 123, 323, 355 i.V.m. §§ 346 ff. bzw. §§ 812 ff. BGB verpflichtet, seinem Wiederausscheiden aus der Gesellschaft zuzustimmen und ihm das Abfindungsguthaben auszukehren. Daraus wird mit dem Rückforderungsdurchgriff des Anlegers gegen die Bank die Pflicht der Bank, diesen An71 Die Entscheidung spricht jetzt vom Abfindungsguthaben des Anlegers; BGHZ 156, 46, 56 f. 72 BGHZ 156, 46, 55 ff. 73 Der Senat geht hier freilich nur auf die arglistige Täuschung als solche ein; BGHZ 156, 46, 54 ff.

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spruch zu seinem nach dem Abfindungsguthaben bemessenen Wert und ihren eigenen Rückzahlungsanspruch gegen den Anleger zum Wert der ausgezahlten Kreditsumme zu saldieren. Darüber hinaus werden aber auch der Anspruch der Bank gegen den Anleger auf Nutzungsentschädigung und der Anspruch des Anlegers gegen die Bank auf Rückerstattung geleisteter Zinsen und Tilgungsprämien in diese Saldierung einbezogen (Saldierungspflicht). 74 Da in einer solchen Saldierung zugleich eine Entlastung der Gesellschaft zu Lasten der Bank in Höhe des Abfindungsguthabens des Anlegers liegt, ist dieser zur Abtretung seines Rückabwicklungsanspruchs aus dem Geschäftsbesorgungsverhältnis mit der Gesellschaft an die Bank verpflichtet (Zessionspflicht). 75 Im Ergebnis gelangt der Senat so zu einer Gesamtabrechnung von Geschäftsbesorgungs- und Kreditvertrag mit nur noch nach ihrem Wert bemessenen Ansprüchen als unselbständigen Einzelposten, wobei die Bank die Darlegungs- und Beweislast für einen ihr hiernach noch zustehenden Anspruch gegen den Anleger sowie das Risiko der Uneinbringlichkeit des Abfindungsguthabens trägt. 76 Hinsichtlich eines von der Fondsgesellschaft zu vertretenden und dem Anleger zu ersetzenden Schadens des Anlegers wegen nicht vertragsgemäßer Leistung, wie er hier näher verfolgt wird, tritt die Bank dagegen in die Rechte und Pflichten der Gesellschaft nicht ein. Das liegt aber nicht daran, dass es entgegen § 675 i.V.m. § 311 a Abs. 2 Satz 1 BGB die Pflicht zum Ersatz eines solchen Schadens nicht gibt oder doch wegen der Regeln der fehlerhaften Gesellschaft nicht geben kann, mag der Anleger, um den Aufwand für die Einlage voll zurückerstattet zu bekommen, sich mit diesem Anspruch auf Schadensersatz gegebenenfalls auch erst aus der Gesellschaft „herausklagen“ müssen. Ein solcher Ersatzanspruch des Anlegers gegen die Gesellschaft ist auch nicht wegen der mit dem Rückforderungsdurchgriff gegen die Bank eröffneten Gesamtabrechnung von Kredit und Geschäftsbesorgung entbehrlich, da das saldierungsfähige Abfindungsguthaben eben gerade in den kritischen Fällen meist weit unter der geleisteten Einlage liegen wird. Andererseits sagen niedrige Abfindungswerte von Beteiligungen der Gesellschafter noch nichts über eine Uneinbringlichkeit vollen Schadensersatzes bei der Gesellschaft aus. Vor allem aber geht es hier nicht um ein Risiko des Anlegers als Gesellschafter, sondern als Schuldvertragspartner der Fondsgesellschaft, das nur bei der Haftung auf Ausgleich durch Rückabwicklung, aber nicht bei der Haftung auf Ersatz statt der vertragsgemäßen Leistung von der Wertentwicklung der Beteiligung abhängig ist. Allerdings muss sich der Anleger ebenso, wie wenn er die Beteiligung selbst finanziert hat, zwischen Ersatz und Ausgleich entscheiden: Kann er 74 75 76

BGHZ 156, 46, 56; dazu schon Westermann ZIP 2002, 240, 248. BGHZ 156, 46, 56. BGHZ 156, 46, 57.

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dort nur entweder Ausgleich mit dem Abfindungsguthaben und zusätzlich noch schuldhaft frustrierte Finanzierungskosten oder aber Ersatz statt der Leistung durch volle Rückerstattung der Einlage gegenüber der Gesellschaft geltend machen, so hier gegenüber der Bank im Rahmen der Gesamtabrechnung das Abfindungsguthaben und schon geleistete Zins- und Tilgungszahlungen oder gegenüber der Gesellschaft wieder die volle Erstattung seiner Einlage. Damit handelt die Bank für den Ausgleich an Stelle und nicht neben der Gesellschaft. 77 Umgekehrt handelt für den Ersatz ebenso ausschließlich die Gesellschaft. 4. Haftung Dritter Die vertragliche Haftung der Fondsgesellschaft auf Schadensersatz wird auch durch die gesetzliche Schadenshaftung der Bank oder sonstiger Dritter gegenüber dem Anleger nicht entbehrlich: Der auf §§ 823 Abs. 2, 826 BGB oder – spezieller und umfassender – auf §§ 311 Abs. 2 und 3 i.V.m. §§ 241 Abs. 2, 276, 280 Abs. 1 BGB zu stützende, gesetzliche Integritätsschutz zielt nicht, wie der Schutz rechtsgeschäftlicher Äquivalenz, auf den Vertragsschaden, sondern auf einen Schaden im sonstigen Vermögen des Anlegers. Davon ist wiederum die Prospekthaftung zu unterscheiden. Die Bank hat, wie die Entscheidung erneut bestätigt, nicht die „vorvertragliche Aufgabe“, die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit des von ihr finanzierten Geschäfts zu prüfen. Sie haftet aber dem Anleger wegen Verschuldens beim Vertragsschluss auf Schadensersatz, wenn sie ihn über – anders als im vorliegenden Fall – ihr bekannte Risiken nicht aufklärt, obwohl sie in Bezug auf diese Risiken einen konkreten Wissensvorsprung gegenüber dem Anleger hat und dies auch erkennen kann: Dann soll nach Auffassung des Senats die Bank den Anleger so zu stellen haben, als wäre der Kreditvertrag mit ihr und der Vertrag über den Erwerb der Beteiligung mit der Gesellschaft nicht geschlossen worden. 78 Dem entgegen ist jedoch auch hier wieder mit Entschiedenheit darauf zu bestehen, dass die „Vertragsaufhebung wegen Verhandlungsverschuldens“ als Notnagel der Praxis mit der Schuldrechtsreform ausgedient hat und, wie dargelegt, als vertraglicher, das positive Interesse wahrender Äquivalenzschutz im neu geregelten Recht der Leistungsstörungen aufgegangen ist. Wie bei der dem Anleger von der Fondsgesellschaft mit einer Geschäftsbesorgung (§ 675 BGB ) angebotenen Beteiligung geht es auch bei dem ihm von der Bank angebotenen Kredit (§§ 488, 491 BGB ; § 607 a.F. BGB ), wenn der Vertrag erst geschlossen ist, schon um Mängel der ihm geschuldeten Leistung: Die Umstände, über die der Anleger vorvertraglich von der Bank 77 78

So schon BGHZ 131, 66, 72 ff. BGHZ 156, 46, 49. Ebenso jetzt wieder BGH ZIP 2004, 1394, 1400 ff.

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aufzuklären gewesen wäre, bestimmen umgekehrt auch die Sollbeschaffenheit der Kreditbedingungen, die er, wenn er sich gegenüber der Bank selbst rechtsgeschäftlich bindet, bei einem solchen Vertrag üblicherweise erwarten kann. Ein hieran zu messender Leistungsmangel berechtigt ihn zum Rücktritt vom Vertrag und bei Verschulden zum Schadensersatz statt der Leistung, der, wie gegenüber der Gesellschaft die Erstattung seiner Einlage, so gegenüber der Bank die Erstattung der von ihm erbrachten Zinsen und Tilgungen einschließt. 79 Nur soweit die Bank über ihre Rolle als Kreditgeberin hinausgeht und – in eigener Sache oder als Sachwalterin der Fondsgesellschaft – die gebotene Rücksicht auf das sonstige Vermögen des Anlegers versäumt, ist für den im Zeichen der Reform ebenfalls neu zu präzisierenden und von einem wirksamen Vertrag zwischen den Beteiligten unabhängigen, gesetzlichen Integritätsschutz nach § 311 Abs. 2 und 3 BGB i.V.m. §§ 241 Abs. 2, 276, 280 Abs. 1 BGB noch Platz. 80 In das insoweit allein geschützte negative Interesse des Anlegers fallen demgemäß nur Aufwendungen, die er für den Erhalt der erwarteten vertraglichen Leistungen der Bank oder der Fondsgesellschaft anderweit gemacht hat, oder Gewinne, die ihm im Vertrauen auf diese Verträge anderweit entgangen sind. Für die Rechtsbeständigkeit sowohl des Darlehensvertrages des Anlegers mit der Bank als auch seines Geschäftsbesorgungsvertrages mit der Fondsgesellschaft ist dagegen im vorliegenden Zusammenhang schon vorrangig, ob beide Verträge ein i.S. von § 358 Abs. 3 BGB (§ 9 Abs. 1 VerbrKrG 1990) „verbundenes Geschäft“ bilden. Wenn ja, ist – in nochmaliger Erweiterung von § 358 Abs. 1 BGB – nicht nur bei Widerruf, Anfechtung oder durch Rücktritt bewirkter Auflösung, sondern auch schon bei anfänglicher Nichtigkeit oder Unwirksamkeit des Geschäftsbesorgungsvertrages ein gleichzeitig oder nachträglich geschlossener Darlehensvertrag als ebenfalls hinfällig anzusehen. 81 Umgekehrt muss dann nach demselben Grundgedanken in entsprechender Erweiterung von § 358 Abs. 2 BGB nicht nur bei Widerruf, sondern auch bei Anfechtung, auf Rücktritt gestützter Auflösung und auch schon bei anfänglicher Nichtigkeit oder Unwirksamkeit des Darlehensvertrages der gleichzeitig oder nachträglich geschlossene Geschäftsbesorgungsvertrag ebenfalls dahinfallen.82 Am Einwendungs- und Rückforderungsdurchgriff des Anlegers und so auch an der Gesamtabrechnung des verbundenen Geschäfts zwischen Bank und Anleger auf der Grundlage der Ausgleichshaftung ändert sich dadurch nichts: An die Stelle der besonderen Rückabwicklungsansprüche zwischen Anleger und Gesellschaft bzw. Anleger und Bank Dazu oben unter 3a und Fn. 47 ff. Vgl. BGHZ 156, 46, 49; BGH ZIP 2004, 1394, 1401 mwN. 81 Str.; vgl. dazu OLG Dresden ZIP 2000, 180, 183. 82 Etwa: Formmangel des Kreditvertrages nach §§ 492, 494 BGB oder unwirksame Bevollmächtigung des Treuhänders zu seinem Abschluss. Dazu sowie zum Widerruf nach § 312 oder 495 BGB : BGH ZIP 2004, 1394, 1395 ff.; 1402, 1403 f. 79

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nach §§ 346 ff. BGB tritt – sofern nur die Bank den Kredit bereits ausbezahlt hat – die allgemeine Rückabwicklungshaftung mit der Leistungskondiktion nach §§ 812 ff. BGB . 83 Demgegenüber nimmt der Senat mit einer erneut aufsehenerregenden Serienentscheidung zu gleich gelagerten Fällen eine solche Gesamtabrechnung zwischen Bank und Anleger mittlerweile auch mit Hilfe von Schadensersatzansprüchen des Anlegers gegen Initiatoren, Gründungsgesellschafter, Betreiber, Vermittler und sonstige Prospektverantwortliche vor. 84 Zunächst einmal soll, wenn „Fondsbeitritt und Kreditvertrag“ ein verbundenes Geschäft bilden, in nunmehr gemeinschaftsrechtlich gebotener Betrachtung der Anleger von der Bank mit der Auszahlung des Kredits an die Fondsgesellschaft oder einen Treuhänder schon von vornherein nicht die Darlehensvaluta und ihre Nutzung, sondern den Fondsanteil empfangen. Bei Fehlen oder Wegfall eines wirksamen Kreditvertrages habe der Anleger der Bank daher nur den Fondsanteil herauszugeben und könne seinerseits die geleisteten Zinsen und Tilgungsraten zurückfordern. 85 Ein beim Fondsbeitritt getäuschter Anleger könne aber darüber hinaus selbst bei Wirksamkeit des Kreditvertrages auch seine Schadensersatzansprüche gegen die Gründungsgesellschafter und sonst für die Täuschung Verantwortlichen aus Verhandlungsverschulden, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB oder Prospekthaftung gegenüber der Bank geltend machen. Da auch diese Dritten im Verhältnis zur Bank wie Verkäufer der Fondsanteile und Geschäftspartner anzusehen seien, hätten nicht nur sie, sondern in entsprechender Anwendung von §§ 358 Abs. 4 Satz 3, 359 BGB (§ 9 Abs. 2 Satz 4 und Abs. 3 Satz 1 VerbrKrG 1990) auch die Bank den Anleger so zu stellen, als ob er dem Fonds nicht beigetreten wäre und den Kreditvertrag nicht abgeschlossen hätte. Dabei schulde er der Bank wiederum nicht die Rückzahlung der Darlehensvaluta und eine Vergütung für deren Inanspruchnahme. Vielmehr habe er ihr nur seinen Fondsanteil als von ihr empfangen zu übertragen sowie seine Schadensersatzansprüche gegen die Gründungsgesellschafter und Prospektverantwortlichen abzutreten und könne seinerseits die eigenen Zins- und Tilgungsleistungen abzüglich der Erträgnisse und Steuervorteile aus dem Fondsanteil zurückfordern. 86 Dem ist nicht zuzustimmen. Die Bank hat vermöge des Einwendungsund Rückforderungsdurchgriffs des Anlegers nur mit der Hinfälligkeit von dessen Leistungspflicht gegenüber der Fondsgesellschaft zu rechnen und 83 Auch dann geht es nicht um „gesetzliche“, sondern um rechtsgeschäftlich begründete Ansprüche; dazu Bälz, in: FS Gernhuber, 1993, S. 3 ff., 45 ff. Anders: BGHZ 131, 82, 87 f.; 152, 331, 339. 84 BGH ZIP 2004, 1394 = NJW 2004, 2736; ZIP 2004, 1402 = NJW 2004, 2731; ZIP 2004, 1407 = NJW 2004, 2742. 85 So – in Abkehr von BGHZ 156, 46, 55 ff. (Fn. 72) – jetzt BGH ZIP 2004, 1394, 1397 ff.; 1402, 1404 f. 86 BGH ZIP 2004, 1394, 1399 f.; 1402, 1405 ff.; 1407, 1408 f.

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ihn demgemäß bei der Rückforderung der von ihr für seine Rechnung der Gesellschaft erbrachten, aber vertraglich nicht veranlassten Leistung zu entlasten. Nicht aber hat sie dem Anleger für einen von der Gesellschaft zu vertretenden Schaden, geschweige denn für ein schuldhaftes Verhalten Dritter einzustehen, wo sie für solche Personen nicht etwa schon gesetzlich nach § 311 Abs. 2 i.V.m. §§ 241 Abs. 2, 276, 278 BGB als ihre Verhandlungsgehilfen verantwortlich ist. Für eine entsprechende Ausweitung der §§ 358 Abs. 4 Satz 3, 359 BGB fehlen Grundlagen und Bedürfnis. Aus der allein entscheidenden Sicht des Anlegers sind Dritte wie Gründungsgesellschafter und Prospektverantwortliche nicht der Gesellschaft als Geschäftspartner und Verkäufer gleichzusetzen. Dem Anleger ist vielmehr schon wegen seiner Einlagepflicht klar, dass er sich mit seinem Beitritt zu einer Immobilienfonds-GbR an einer Gesellschaft neu beteiligt und Dritte nur hierauf hinwirken können. Den Fondsanteil erwirbt er nicht, wie vergleichsweise die Eigentumswohnung bei einem durch einen Haustürkredit finanzierten Kauf vom Bauträger, 87 derivativ von der Gesellschaft. Er erwirbt ihn originär als Mitglied einer rechtsfähigen Personenvereinigung durch einen Beitrittsvertrag mit der Fondsgesellschaft; dieser bleibt als personenrechtliches Aufnahmegeschäft von dem auf die Ermöglichung des Beitritts und damit der Beteiligung gerichteten und von der Bank finanzierten Geschäftsbesorgungsvertrag mit der Gesellschaft zu unterscheiden. 88 Unabhängig davon, ob finanziertes Geschäft und Finanzierungsgeschäft ein i. S. von § 358 Abs. 3 BGB „verbundenes Geschäft“ bilden oder nicht, ist die Auszahlung des Kredits an die Gesellschaft bzw. an den von ihr bestimmten Treuhänder eine Simultanleistung der Bank sowohl für Rechnung des Anlegers an die Gesellschaft bzw. wiederum für Rechnung der Gesellschaft an den Treuhänder als auch für eigene Rechnung der Bank an den Anleger. 89 Wie auf entsprechende Weise der Käufer der Eigentumswohnung allein die Darlehensvaluta und nicht das Wohnungseigentum von der Bank erhält, erhält auch der Anleger von der Bank nicht den Fondsanteil, sondern allein die Valuta und deren Nutzung. Mögliche Rückabwicklungsansprüche aus der Zahlung nach §§ 346 ff. oder 812 ff. BGB entstehen nicht zwischen Bank und Zahlungsempfänger, sondern zwischen Bank und Anleger, Anleger und Gesellschaft bzw. weiter auch zwischen Gesellschaft und Treuhänder. Wenn freilich – insbesondere bei Einschaltung der selben Vermittler90 – Kreditvertrag und Geschäftsbesorgungsvertrag ein verbundenes Geschäft bilden, kann der Anleger der Bank die Nichtigkeit, Unwirksamkeit, An87

BGHZ 150, 248 und 264.

Weiterhin ohne solche Unterscheidung BGH ZIP 1394, 13 99; 1402, 1405; 1407, 1408. In BGH ZIP 1402, 1405 wird der Beitritt zur Gesellschaft so vollends im Gegensatz zum Beitritt zu einem Verein oder einer Genossenschaft (BGH ZIP 1997, 511) gesehen. 89 Grundsätzlicher zur Simultanleistung Bälz FS Gernhuber (Fn. 83), S. 45 ff., 77 ff. 90 Dazu jetzt wieder BGH ZIP 2004, 1394, 1396 ff.; 1402, 1405; 1407, 1408. 88

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fechtbarkeit, Widerruflichkeit oder auf Rücktritt gestützte Auflösbarkeit nicht nur des Finanzierungsgeschäftes, sondern mit dem Einwendungsdurchgriff nach § 359 BGB auch des finanzierten Geschäfts entgegenhalten. 91 Hierbei ersetzt die Erhebung der Einwendung des Anlegers gegenüber der Bank, sofern der Geschäftsbesorgungsvertrag mit der Gesellschaft nicht schon nichtig oder unwirksam ist, dessen Anfechtung, Widerruf oder Auflösung durch Rücktritt gegenüber der Gesellschaft. 92 Damit fällt, wenn seinerseits nicht ohnehin nichtig oder unwirksam, zugleich auch der Kreditvertrag mit der Bank dahin. Nicht aber ersetzt der Einwendungsdurchgriff des Anlegers gegenüber der Bank bei Fehlerhaftigkeit seines Beitrittsvertrages mit der Gesellschaft auch dessen Kündigung, so dass seine Mitgliedschaft in der Gesellschaft und mit ihr auch sein Fondsanteil bestehen bleiben. 93 Mit der sachgerechten Erweiterung von § 358 Abs. 1 und 2 BGB fällt die Rückabwicklung von finanziertem Geschäft und Finanzierungsgeschäft immer zusammen. Daher besteht kein Anlass, von der vom Senat dafür schon entwickelten Gesamtabrechnung 94 wieder abzurücken: Im Kreditverhältnis stehen den von der Bank einschließlich einer Nutzungsvergütung rückforderbaren Darlehensvaluta nicht nur die Zins- und Tilgungsleistungen des Anlegers gegenüber. Die Bank muss kraft des Rückforderungsdurchgriffs des Anlegers nach § 358 Abs. 4 Satz 3 BGB – gegen Abtretung seines Anspruches auf Rückabwicklung des Geschäftsbesorgungsvertrages mit der Fondsgesellschaft – in die Saldierung dieser Posten auch das mit seinem Wiederausscheiden aus der Gesellschaft entstehende Abfindungsguthaben einbeziehen.95 Vermöge dieser Gesamtabrechnung des verbundenen Verbrauchergeschäfts auf der Grundlage der Ausgleichshaftung wird, wenn das finanzierte Geschäft gestört ist, der Schutz des Anlegers vor der sofortigen, vollen Rückzahlung des Darlehens in der gemeinschaftsrechtlich gebotenen Weise schon vollständig gewährleistet. 96 Einer analogen Erstreckung von § 358 Abs. 3 Satz 4 BGB auf die Schadensersatzansprüche des Anlegers gegen Dritte be91 Ebenso wie die „Verbundenheit“ des Finanzierungsgeschäfts mit dem finanzierten Geschäft entscheidet auch die Art seiner Sicherung nicht darüber, was der Anleger mit Auszahlung des Kredits an Dritte von der Bank empfängt; vgl. aber noch BGH ZIP 2004, 1394, 1399. Zur Verbundenheit klarstellend jetzt § 358 Abs. 3 Satz 3 BGB . 92 Fn. 63. Im Ergebnis ebenso wieder BGH ZIP 2004, 1394, 1400; 1402, 1406 f.; 1407, 1408 f. 93 Fn. 64 und 65. Anders mit BGHZ 156, 46, 53 aber auch jetzt wieder BGH ZIP 2004, 1394, 1400; 1402, 1406 f.; 1407, 1408 f. 94 BGHZ 156, 46, 55 ff. 95 Entgegen dem Senat nicht erst ein Rückforderungsdurchgriff (d. h. ein Durchgriff auf die Bank mit einer Forderung gegen die Fondsgesellschaft), sondern eine schon ursprüngliche eigene Rückforderung gegen die Bank nach §§ 346 ff. oder 812 ff. BGB liegt im Anspruch des Anlegers auf Erstattung der Zinsen und der Tilgungsraten, die er oder für seine Rechnung die Fondsgesellschaft der Bank geleistet hat. Anders BGH ZIP 2004, 1402, 1406 und 1407, 1408. Richtiger aber BGH ZIP 2004, 1394, 1399. 96 Vgl. BGH ZIP 2004, 1394, 1399; 1402, 1405.

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darf es daher nicht, während eine Gesamtabrechnung mit der Gesellschaft nach den Regeln des Schadensersatzes die Gesamtabrechnung mit der Bank nach den Regeln des Ausgleichs, wie schon dargelegt, ausschließen würde. Dass der Verbraucher bei der Rückabwicklung des verbundenen Geschäfts der finanzierenden Bank nicht die volle Kreditsumme, sondern wie beim Kauf vom Bauträger das Wohnungseigentum, so hier den Fondsanteil schuldet, 97 ist demgegenüber nicht schon Voraussetzung, sondern erst Folge des Rückforderungsdurchgriffs: Sofern der Anleger nicht selbst auch den Beitrittsvertrag schon wirksam gekündigt hat, 98 muss er mit seinem Rückabwicklungsanspruch aus der Geschäftsbesorgung auf Wiederausscheiden aus der Gesellschaft auch seinen Fondsanteil an die Bank abtreten. Denn nur so kann die Bank gemäß § 358 Abs. 4 Satz 3 BGB auch in seine eigene Rückabwicklungspflicht aus dem finanzierten Geschäft gegenüber der Fondsgesellschaft eintreten. Im übrigen verpflichtet die gesetzliche Haftung der Gründungsgesellschafter und sonst für eine Täuschung des Anlegers Verantwortlicher auf Schadensersatz aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB oder schon allein aus Verhandlungsverschulden entgegen dem Senat wiederum richtigerweise gesehen auch diese Dritten nicht, den Anleger so zu stellen, als habe er den Beteiligungsvertrag mit der Fondsgesellschaft und den Kreditvertrag mit der Bank nicht geschlossen. 99 Gleichviel, ob sie dem Anleger – etwa als von ihm bevollmächtigter Treuhänder – außerdem auch selbst als Vertragspartner gegenübertreten oder ob sie ihm allein als Sachwalter der Fondsgesellschaft oder der Bank zur Rücksichtnahme nach § 311 Abs. 2 und 3 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB verpflichtet sind: Sie haften ihm mit dem gesetzlichen Integritätsschutz nicht für Vertragsschäden, sondern nur für Schäden in seinem sonstigen Vermögen, also für vergeblich aufgewendete weitere, eigen- oder fremdfinanzierte Kapitalkosten der Beteiligung oder für den Entgang steuerlicher Vorteile oder von Vorteilen einer anderweitigen Anlage oder einer günstigeren Finanzierung. Sollen demgegenüber Gründungsgesellschafter, Initiatoren, Projektgestalter, Betreiber, Vermittler, Treuhänder oder auch die Bank dem Anleger auf Rückgängigmachung des Erwerbs und Ersatz der verlorenen Aufwendungen durch Übernahme des vom Anleger mit seiner Beteiligung an der Gesellschaft originär erworbenen und fortbestehenden Fondsanteils verpflichtet sein, ist das nur mit der von der Rechtsprechung für den „Grauen Markt“ entwickelten Prospekthaftung „im engeren Sinne“ zu begründen.100 So gesehen geht es in der jüngsten Wendung der RechtBGHZ 133, 254, 259 ff.; BGH ZIP 2004, 1394, 1399. Insoweit differenzierend auch BGH ZIP 2004, 1402, 1404. 99 So aber BGH ZIP 2004, 1394, 1399 f.; 1402, 1406; 1407, 1408 f. 100 BGHZ 71, 284; 79, 337, 340 ff.; 83, 222, 223 f.; 123, 106. Auf diese Prospektverantwortlichkeit tatsächlich durchgängig Bezug nehmend BGH ZIP 2004, 1394, 1399 f.; 1402, 97 98

1406 f.; 1407, 1408.

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sprechung in Wahrheit nicht um die Fortbildung des Verbraucherschutzes gemäß §§ 358, 359 BGB , sondern des reinen Anlegerschutzes. Wird so aber die Rückabwicklung des zwischen Anleger und Fonds geschlossenen Geschäftsbesorgungsvertrages auf das Verhältnis zwischen dem Anleger und einem „prospektverantwortlichen“ Dritten verlegt, enthüllt sich die höchstrichterlich geschaffene und nur noch auf ein typisiertes Prospektvertrauen gestützte „zivilrechtliche Prospekthaftung“ auch ihrerseits als Schutz rechtsgeschäftlicher Äquivalenz.101 Demgemäß ist sie im Unterschied zur gesetzlichen Haftung aus culpa in contrahendo, aus der man sie ursprünglich hergeleitet hat, als quasivertragliche Garantiehaftung zu verstehen. Doch auch insoweit muss der Anleger frei bleiben, statt alledem die Gesellschaft bei Verschulden auf Schadensersatz aus dem Geschäftsbesorgungsvertrag in Anspruch zu nehmen und von ihr gegen Aufgabe seiner Beteiligung die volle Einlage zurückzuverlangen.102

III. Ergebnis: Voller Ersatz durch ungeschmälerte Erstattung der Einlage Als Ergebnis ist festzuhalten, dass dem arglistig getäuschten oder unter Verletzung der gebotenen Aufklärung zum Erwerb einer Beteiligung veranlassten Kapitalanleger der Ersatz seines vollen Schadens durch die Fondsgesellschaft auch unter Berufung auf die Regeln der fehlerhaften Gesellschaft nicht länger versagt werden darf. Der Anleger kann die kraft eines Geschäftsbesorgungsvertrages zur Verschaffung der vereinbarten Beteiligung verpflichtete Fondsgesellschaft unter den Voraussetzungen der Anfechtung oder des Rücktritts vom Vertrag im Wege der Rückabwicklung auf das Abfindungsguthaben in Anspruch nehmen. Er hat aber – jedenfalls seit der Schuldrechtsreform – im Wege des Schadensersatzes statt der Leistung auch Anspruch auf die ungeschmälerte Erstattung der für seine Einlage aufgewandten Mittel, es sei denn, die Gesellschaft habe ihre nicht vertragsgemäße Leistung nicht zu vertreten. Er kann Anfechtung und Rücktritt vom Geschäftsbesorgungsvertrag statt gegenüber der Gesellschaft auch gegenüber einem Kreditinstitut erklären, das den Erwerb der Beteiligung mit einem verbundenen Kredit finanziert hat, und so den Anspruch des Instituts auf Rückzahlung der Kreditsumme entkräften sowie das Kreditinstitut auch zur einheitlichen Rückabwicklung des Geschäftsbesorgungs- und des Kreditvertrages durch eine Gesamtabrechnung 101 So im Ergebnis auch schon BGHZ 115, 213, 220 f. Zur bevorstehenden Einführung der Prospektpflicht für den Grauen Markt und die Haftung bei fehlendem Prospekt (§§ 8 f., 13 VerkProspG) BT-Drs. 15/3493. 102 Dagegen aber mit BGHZ 156, 42, 52 f. ausdrücklich auch jetzt wieder BGH ZIP 2004, 1402, 1406 und 1706, 1707.

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veranlassen. Der alternative Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung durch volle Rückerstattung der Einlage richtet sich dagegen immer allein gegen die Fondsgesellschaft. Die Regeln des fehlerhaften Gesellschaftsbeitritts stehen dem nicht entgegen. Vertragspartner der Geschäftsbesorgung für den Anleger ist die rechtsfähige Fondsgesellschaft bürgerlichen Rechts als juristische Person. Der in Ausführung der Geschäftsbesorgung dem Anleger ermöglichte Beitritt ist kein vermögensrechtlicher Vertrag zwischen alten und neuen Gesamthändern mit An- und Abwachsung von gemeinsamem Vermögen, sondern ein ebenfalls zwischen der Fondsgesellschaft als juristischer Person und dem Anleger als ihrem neuem Mitglied geschlossenes, personenrechtliches Organisationsgeschäft. Die Regeln der fehlerhaften Gesellschaft betreffen ausschließlich diesen personenrechtlichen Aufnahmevertrag. Sofern ihre selbständig zu bestimmenden Voraussetzungen in den vorliegenden Fällen gleichzeitig gegeben sind, führen sie nur dazu, dass der Anleger sein Wiederausscheiden aus der Gesellschaft mit der Folge seiner Abfindung durch eine gegenüber der Gesellschaft zu erklärende Austrittskündigung selbständig herbeiführen und nicht zunächst nur schuldvertraglich die Zustimmung der Gesellschaft zu seinem Ausscheiden beanspruchen kann. Erst der – bei einem von der Gesellschaft zu vertretenden Verschulden – hier neben dem Ausgleich mit dem Abfindungsguthaben stehende Ersatz der gesamten Einlage stellt den Schutz rechtsgeschäftlicher Äquivalenz als Zweck der schuldvertraglichen Störungshaftung vollständig her. Aber er beeinträchtigt die „geordnete Auseinandersetzung der Fondsgesellschaft nach dem Regelwerk über die fehlerhafte Gesellschaft bzw. den fehlerhaften Gesellschaftsbeitritt“ selbst nicht.103 Der mit diesen Regeln der Sicherung der Gesellschafter und der Gläubiger vor Ungleichbehandlung und Schädigung dienende Bestands- und Verkehrsschutz der rechtsfähigen Personenvereinigung 104 ist seinerseits auch bei einer Vielzahl fehlerhafter Beitritte zur Gesellschaft voll gewährleistet, wenn mit zumutbarer Beschleunigung jeder betroffene Neugesellschafter sein Wiederausscheiden aus der Gesellschaft unter anteiliger Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Gewinne und Verluste selbst bewirken kann. Die Gesellschafter der in Gestalt einer (Außen-)Gesellschaft bürgerlichen Rechts organisierten „Fondsgesellschaft der Anleger“ sitzen – anders als Gesamthänder mit gemeinsamem Vermögen – 103 Bei stillen Kapitalbeteiligungen der Anleger entscheidet neuestens auch der Senat auf Schadensersatz durch volle Rückgewähr der Einlage: BGH ZI P 2004, 1706, 1707 f. Ebenso schon OLG Schleswig ZI P 2003, 74, 77 f. (Vorinstanz) und 121, 125 f.; OLG Jena ZI P 2003, 1444, 1446 ff.; Bayer/ Riedel NJW 2003, 2567, 2571. Insoweit ist jedoch richtiger gesehen das Sonderrecht der fehlerhaften Gesellschaft schon von vornherein nicht einschlägig; näher Münchner Hdb. des Gesellschaftsrecht/ Bälz (Fn. 5), § 100 Rn. 364 ff. 104 BGHZ 148, 201, 208.

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nur als Mitglieder einer juristischen Person, der das Fondsvermögen allein gehört, „im selben Boot“. Ihre jeweiligen, allein ihrem eigenen Vermögen zugehörigen Beteiligungen setzen solche Mitgliedschaft dagegen schon voraus. Als Gläubiger demgemäß auch schon ganz unterschiedlicher vermögensrechtlicher Ausgleichs- und Ersatzansprüche gegen die Gesellschaft unterscheiden sie sich wiederum von sonstigen, außenstehenden Gläubigern vermögensrechtlicher Ansprüche gegen die Gesellschaft nicht. Zudem wird der durch ein Übernahmeverschulden der Gesellschaft geschädigte Anleger schon mit dem Abschluss des Vertrages über den Erwerb einer Beteiligung an der Gesellschaft deren Ersatzgläubiger, also bevor er durch seine Aufnahme in die Gesellschaft überhaupt auch deren Mitglied geworden ist. Die Besorgnis, die über das bloße Abfindungsguthaben hinausgehende volle Erstattung der Aufwendungen für die Einlage könne ein „Windhundrennen“ unter den Anlegern auslösen, ist daher ganz abgesehen davon, dass die zu fordernde Abfindung auch höher liegen kann als ein solcher Ersatz,105 keine Frage der fehlerhaften Gesellschaft, sondern ein insolvenzrechtliches Problem. Dieses ist vor Ort mit den dafür vorgesehenen Mitteln zu lösen.106 Der in der jüngsten Rechtsprechung des Senats statt dessen noch einmal verstärkt bei der gesetzlichen Schadenshaftung der sonstigen Träger des Anlagegeschäfts gesuchte Ausweg ist demgegenüber weder erforderlich noch – wiederum zumindest seit der Reform des Schuldrechts – weiterhin gangbar. Mit dem Integritätsschutz der gesetzlichen Haftung lassen sich, anders auch als mit der als quasivertragliche Garantiehaftung zu begreifenden „zivilrechtlichen Prospekthaftung“, keine Vertragsschäden, sondern nur sonstige Vermögensschäden des Anlegers kompensieren. Als Mithafter für die Verbindlichkeiten der bürgerlichrechtlichen Fondsgesellschaft – und das heißt: einer juristischen Person ohne nachzuweisendes Haftungskapital – geraten damit neben dem Betreiber-Gesellschafter die Anleger selbst ins Visier. Der Senat hat sich dieser Konsequenz zunächst gestellt, will aber daran jetzt nicht mehr festhalten.107 Dafür wird man angesichts der Schwierigkeiten, längst vor BGHZ 146, 341 konzipierte Verträge für GbR-Fonds der gewandelten Rechtsprechung zu unterwerfen, Verständnis aufzubringen haben.108 In der Sache ist aber nichts daran zu ändern, dass die Verpflichtung der Gesellschaft zur Auskehrung eines Abfindungsguthabens mit dem schuldvertraglichen Rückabwicklungsanspruch und zur Erstattung des vollen Aufwands für die Einlage mit dem schuldvertraglichen Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung, im Unterschied zum personenrechtlichen Abfindungsanspruch des Gesellschafters gegen die 105

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Dazu OLG Schleswig ZIP 2003, 2821, 2824. BGHZ 156, 46, 56 gegen BGHZ 148, 201, 206. 108 BGHZ 148, 201, 206 stellt diese Frage dahin; BGHZ 156, 46, 56 beruft sich auf die vermeintlich nicht in Betracht kommende Haftung auf Schadensersatz. 106 107

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Gesellschaft, keine Sozialverbindlichkeiten, sondern Drittverbindlichkeiten der Gesellschaft darstellen. Eine Mithaftung der Anleger für Ansprüche ihrer Mitanleger gegen die Gesellschaft – und nach Zession der Rückforderung gegen die Gesellschaft an die vom Anleger mit dem Rückforderungsdurchgriff konfrontierte Bank sogar für ursprünglich eigene Ansprüche des Anlegers selbst – ist so nicht zu vermeiden. Der kautelarjuristische Ausweg liegt in der nur mittelbaren Beteiligung der Anleger über einen Treuhandgesellschafter.109 Als Kommanditisten einer nur vermögensverwaltenden Publikums- KG steht ihnen auch eine unmittelbare Beteiligung „gefahrlos“ offen (§§ 105 Abs. 2, 161 Abs. 2 HGB). Die höchstrichterliche Konkretisierung der Schuldrechtsreform steht noch in den Anfängen. Der konzeptionelle Umbruch im Recht der Personengesellschaften und der Gesellschaft bürgerlichen Rechts im Besonderen ist weiterhin in vollem Gange. Die im hier verfügbaren Rahmen freilich nur unter Beschränkung auf eine zentrale Entscheidung beleuchteten, im Schnittfeld von personenrechtlichen Organisationsgeschäften und vermögensrechtlichen Schuldgeschäften stehenden Verträge von Anlegern mit einer bürgerlichrechtlichen Außengesellschaft zeigen exemplarisch die Schlüsselrolle, die bei der praktischen Integration dieser Grundform aller „Gruppen“ und „Verbände“ in die rechtsfähigen Personenvereinigungen einer erneuerten Theorie der juristischen Person zufällt. Damit bestätigen sie nur in besonderer Weise auch die Grundlagenarbeiten, die Thomas Raiser für ein solches Neuverständnis vorgelegt hat.

109 Diesen Ausweg bedroht freilich BGHZ 148, 201, 204 ff. mit einer wirtschaftlichen Betrachtung, derzufolge auch dann nicht der Treuhandgesellschafter, sondern die Fondsgesellschaft Vertragspartner der Anleger sein soll. Dem ist nicht zuzustimmen: Der von allen Beteiligten gewollte Anlagegeber ist in solchen Fällen der (regelmäßig als selbständige Gesellschaft organisierte) Treuhandgesellschafter selbst.

Ausnahmebereich Krankenversicherung? Volker Emmerich

Inhaltsübersicht Seite

I. II. III. IV.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . Zur Rechtswegproblematik . . . . Zur Auslegung des § 69 SGB V . . 1. Ausnahmebereich? . . . . . . . 2. Folgerungen für den Rechtsweg

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I. Einleitung Anlass zu der auf den ersten Blick vielleicht verblüffenden Frage: „Ausnahmebereich Krankenversicherung?“ geben zwei Urteile des BSG aus den Jahren 2000 und 2001, in denen der 3. Senat dieses Gerichts die Auffassung vertreten hat, das Fünfte Buch des SGB „Gesetzliche Krankenversicherung“ regele seit seiner Änderung durch das Gesundheitsreformgesetz ( GRG ) vom 22. Dezember 19991 die Rechtsbeziehungen der gesetzlichen Krankenkassen zu den Leistungserbringern – von den Ärzten über die Apotheker bis zu den Heil- und Hilfsmittellieferanten – in dem Sinne „abschließend“, dass auf diese Rechtsbeziehungen seit dem Inkrafttreten des GRG am 1. Januar 2000 das private Wettbewerbsrecht, also gleichermaßen das UWG wie das GWB , generell keine Anwendung mehr fänden. Dafür sprächen auch die gleichzeitigen Änderungen des GWB (s. die §§ 87 Abs. 1 Satz 3 und 96 Satz 2 GWB ) sowie des SGG (s. den neuen § 51 Abs. 2 SGG ). Unberührt bleibe lediglich das europäische Kartellrecht; jedoch seien für dessen Anwendung fortan gleichfalls allein die Sozialgerichte unter Ausschluss der ordentlichen Gerichte zuständig. 2 Diese Stellungnahmen des 3. Senats des BSG waren um so überraschender, als noch wenige Wochen vor dem ersten der beiden genannten Urteile 1

BGBl . I S. 2626.

BSG, Urt. v. 31. 8. 2000, BSGE 87, 95, 99 = SozR 3–2500 § 35 Nr. 1 = MedR 2001, 530 (für das GWB); insbes. Urt. v. 25. 9. 2001, BSGE 89, 24, 30–34 = NJW- RR 2002, 1691, 1692 f. = NZS 2002, 480 (für UWG und GWB). 2

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der 6. Senat desselben Gerichts aus den erwähnten Gesetzesänderungen von 1999 den genau entgegengesetzten Schluss gezogen hatte, dass nämlich der Gesetzgeber damit allein eine Änderung des Rechtsweges, nicht dagegen auch eine solche des materiellen Rechts beabsichtigt habe, dass mit anderen Worten – entgegen dem 3. Senat – nach wie vor Raum für die Anwendung des Wettbewerbs- und Kartellrechts auf die Beziehungen der Krankenkassen zu den Leistungserbringern sei, nur, dass für hieraus resultierende Rechtsstreitigkeiten fortan die Sozialgerichte zuständig seien. 3 Diese widersprüchlichen Stellungnahmen aus dem Schoße eines und desselben Gerichts werfen die (ernste) Frage auf, ob durch das GRG von 1999 tatsächlich – im Wesentlichen unbemerkt von der juristischen Öffentlichkeit – ein neuer umfassender Ausnahmebereich (zumindest) für den weiten Bereich der Beziehungen der gesetzlichen Krankenkassen zu den privaten Leistungserbringern begründet werden sollte oder ob es sich „nur“ um eine (partielle) Rechtswegänderung handelt. Denn sollte das erstere zutreffen, so hätten wir hier einen weiteren Rückschlag für die Bemühungen um die Deregulierung dieser traditionell total verkrusteten Märkte vor uns, als solcher freilich durchaus passend in den Rahmen vieler bedenklichen Entwicklungen aus jüngster Zeit. 4

II. Überblick Die gesetzlichen Krankenkassen nehmen eine eigenartige Zwitterstellung zwischen Privatrecht und Sozialversicherungsrecht ein. Je nach Blickwinkel erscheinen sie mehr als Versicherungsunternehmen oder als behördenähnliche Sozialversicherungsträger. Letztlich darauf beruht der nun schon seit Inkrafttreten des GWB im Jahre 1958 andauernde Streit über die Anwendbarkeit des (privaten) Kartellrechts auf die gesetzlichen Krankenkassen als Sozialversicherungsträger. Die Situation ist insoweit auch durch das GRG von 1999 nicht geklärt worden. Ein deutlicher Hinweis darauf ist nicht nur die bereits eingangs angedeutete widersprüchliche Praxis des BSG , sondern auch die der anderen Gerichte aus jüngster Zeit zu dem ganzen Fragenkreis. Der Streit betrifft dabei gleichermaßen die Frage des Rechtswegs wie die der materiellen Anwendbarkeit des Wettbewerbs- und Kartellrechts auf die gesetzliche Krankenversicherung. Deshalb ist im Folgenden zunächst ein Überblick über den verwirrenden Meinungsstand in Literatur und Rechtsprechung zu geben. 3 BSG, Urt. v. 28. 6. 2000, BSGE 86, 223, 229 = Breithaupt 2001, 101 = DStR 2001, 39 = SozR 3–2500 § 138 Nr. 1. 4 Ebenso in der Tendenz aus der Sicht des öffentlichen Rechts Hufen NJW 2004, 14.

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Zu beginnen ist mit einem Blick auf die keineswegs einheitliche Praxis des BGH zur Rechtswegfrage. Während er nämlich noch in einem Urteil vom 14. März 2000 aus dem GRG die Zuständigkeit der Sozialgerichte auch für

etwaige kartellrechtliche Ansprüche eines Hilfsmittellieferanten gegen eine gesetzliche Krankenkasse folgerte, 5 ging er bereits ein halbes Jahr später in einem Urteil vom 21. September 2000 ohne weiteres davon aus, dass die ordentlichen Gerichte weiterhin in Wettbewerbssachen zur Entscheidung der Frage berufen seien, ob Apotheken nach dem Sozialversicherungsrecht bestimmte Hilfsmittel vertreiben dürfen oder nicht. 6 Auf demselben Standpunkt beruht das Urteil des Kartellsenats vom 24. Juni 2003, das den Streit zwischen einer Handwerksinnung und einer gesetzlichen Krankenkasse über die Zulassungspraxis der letzteren betraf. Der Senat erwähnt hier zwar die Auseinandersetzung über die Konsequenzen des GRG , entscheidet dann aber selbst in der Sache, wozu er bei Annahme der ausschließlichen Zuständigkeit der Sozialgerichte wohl schwerlich befugt gewesen sein dürfte.7 Das OLG München hat sich durch das GRG gleichfalls nicht daran gehindert gesehen, nach § 1 UWG über die Befugnis des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen zum Erlass von Arzneimittelrichtlinien (§ 91 SGB V) zu entscheiden.8 Ebenso zurückhaltend zu den Auswirkungen des GRG hat sich das Bundeskartellamt geäußert.9 Im Schrifttum herrscht in der Rechtswegfrage dieselbe Meinungsvielfalt wie in der Rechtsprechung. Wohl überwiegend wird zwar die Frage bejaht, ob die Änderungen des SGG (§ 51 Abs. 2) und des GWB (§§ 87 Abs. 1 Satz 3 und 96 Satz 2) durch das GRG von 1999 tatsächlich, wie vom BSG angenommen, zur Folge haben, dass nunmehr für Rechtsstreitigkeiten zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und den Heil- und Hilfsmittellieferanten ausschließlich die Sozialgerichte zuständig sind, auch soweit die Klagen auf das UWG , das GWB oder die Wettbewerbsregeln des EGV gestützt werden.10 Zugleich wird dabei jedoch häufig deutliche Kritik an dieser Rechtswegänderung geäußert, vor allem, weil dadurch der Schutz Dritter gegen 5 6

LM Nr. 34 zu § 51 SGG = NJW 2000, 2749 = WuW/E DE -R 469 – Hörgeräteakustik. LM Nr. 5 zu ApothBetrO = NJW 2001, 3411 = GRUR 2001, 352; vom BSG ( BSGE 89,

24, 33) ausdrücklich als Ausrutscher gerügt, um die sonst nötige Anrufung des Gemeinsamen Senats der Obersten Bundesgerichte zu vermeiden; ebenso aber wieder BGH NJW-RR 2004, 547, 548. 7 WuW/E DE -R 1139, 1140 f. = WuW 2003, 053 = GRUR 2003, 979; vgl. auch den Vorlagebeschluss v. 3. 7. 2001, LM Nr. 1 zu Art. 81 EG = GRUR 2001, 554 = VersR 2001, 1361. 8 Urt. v. 20. 1. 2000, NZS 2000, 457. 9 Tätigkeitsbericht 1999/2000, S. 50; 2001/2002, S. 215 „Gesundheitswesen“. 10 S. Bechtold GWB , 3. Aufl., 2002, § 87 Rn. 9 f., § 96 Rn. 3; Bornkamm in: Langen/Bunte, Kartellrecht, 9. Aufl., 2001, § 87 Rn. 6a ff., § 96 Rn. 4a f.; Engelmann VSSR 1999, 167; ders. NZS 2000, 213; Gassner VSSR 2000, 121, 127 ff.; Knispel NZS 2001, 466, 468; K. Schmidt in: Immenga/Mestmäcker GWB , 3. Aufl., 2001, § 87 Rn. 34 ff., § 96 Rn. 11; Meyer-Lindemann in: Frankfurter Kommentar (FK ) zum GWB , 2000, § 87 Tz. 17 ff.

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die üblichen wettbewerbsbeschränkenden Vertragssysteme in der gesetzlichen Krankenversicherung ohne Not erheblich verkürzt wurde (und wohl auch verkürzt werden sollte).11 Aus demselben Grund gibt es nach wie vor auch abweichende Stimmen, wobei zu berücksichtigen bleibt, dass die Zuständigkeit des BKartA und damit der ordentlichen Gerichten im Beschwerderechtszug (§§ 63 Abs. 4, 74 Abs. 1 GWB ) durch das GRG ohnehin nicht tangiert wurde, so dass die (angeblich) angestrebte Konzentration aller Rechtstreitigkeiten bei den Sozialgerichten von vornherein verfehlt wurde.12 Von der Rechtswegfrage zu trennen ist die Frage nach den Auswirkungen insbesondere der Änderung des § 69 SGB V durch das GRG auf der materiell-rechtlichen Ebene. Satz 1 dieser Vorschrift bestimmt, dass das Vierte Kapitel des SGB V zusammen mit den §§ 63 und 64 SGB V (über Modellvorhaben) „abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände“ zu den Leistungserbringern und ihren Verbänden regelt. Satz 4 der Vorschrift fügt hinzu, dass das auch gelten soll, „soweit durch diese Rechtsbeziehungen Rechte Dritter betroffen sind“. § 69 SGB V wird unterschiedlich interpretiert. Ein Teil des Schrifttums folgert aus ihm in Übereinstimmung mit der eingangs skizzierten jüngsten Praxis des BSG , dass durch ihn tatsächlich ein neuer umfassender Ausnahmebereich für die gesetzlichen Krankenkassen eingeführt werden sollte.13 Nach anderen beschränkt sich dagegen die Funktion des neuen § 69 SGG V auf eine Klarstellung der Rechtsnatur der Leistungsbeziehungen zwischen den Krankenkassen und ihren Verbänden mit den Leistungserbringern und deren Verbänden, ohne im Übrigen etwas an der herkömmlichen Anwendbarkeit des Wettbewerbs- und Kartellrechts auf diese Leistungsbeziehungen ändern zu wollen oder auch nur ändern zu können.14 Voreilige Schlüsse sind hier in der Tat unangebracht, da aus einer etwaigen öffentlich-rechtlichen Qualifizierung der Leistungsbeziehungen zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringern keineswegs mit Notwendigkeit auf die Unan-

11 S. Bumiller GRUR 2000, 484; Bill SGb 2000, 359; Bechtold (Fn. 10) § 87 Rn. 9 f.; Bornkamm in: Langen/Bunte (Fn. 10) § 87 Rn. 6a ff., § 96 Rn. 4a f.; Chr. Koenig/Sander EuZW 2000, 716; D. Neumann WuW 1999, 961; Peikert/Kroel MedR 2001, 14, 18; Schwerdtfeger PharmazIndustrie 2000, 105, 185; Wigge NZS 2000, 533. 12 Bill SGb 2000 359. 13 So Boecken NZS 2000, 269; Bechtold (Fn. 10) § 86 Rn. 9; Bornkamm in: Langen/Bunte (Fn.10) § 87 Rn. 6b (sehr kritisch); Gassner VSSR 2000, 121, 128 ff.; Knispel NZS 2001, 466, 468 ff.; Peikert/Kroel MedR 2001, 14, 19; FK /Meyer-Lindemann (Fn. 10) § 87 Tz. 17–19; FK / Weisser (Fn. 10), 2000, § 130 Abs. 1 Tz. 93, 112, 135 ff. 14 Bill SGB 2000, 359; Engelmann NZS 2000, 213, 220; Hänlein/Kruse NZS 2000, 165, 172; Knispel NZS 2000, 441, 444; Lindemann in: Wannagat SGB V, 2002, § 69 Rn. 17 ff., bes. 21; D. Neumann WuW 1999, 961; dies. Kartellrechtliche Sanktionen von Wettbewerbsbeschränkungen im Gesundheitswesen, 2000, S. 114 ff.; Steinmeyer Wettbewerbsrecht im Gesundheitswesen, 2000, S. 82 ff.; wohl auch Chr. Koenig/Sander EuZW 2000, 716, 719.

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wendbarkeit des Wettbewerbs- und des Kartellrechts zu schließen ist.15 Aus vergleichbaren Überlegungen heraus ist in jüngster Zeit auch die Frage streitig geworden, ob das Vergaberecht des GWB (§§ 97 ff.) auf die Krankenkassen Anwendung findet.16 Eine wieder andere Frage ist die nach der Bedeutung der Wettbewerbsregeln des EGV für die deutsche gesetzliche Krankenversicherung.17 Die Auseinandersetzung entzündete sich hier in erster Linie an der Festsetzung von Festbeträgen durch die Spitzenverbände der Krankenkassen (s. § 35 Abs. 3 SGB V), an dem Ausschluss der Erstattungsfähigkeit bestimmter Arzneimittel durch die Arzneimittelrichtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen aufgrund der §§ 91 und 92 SGB V sowie an der Budgetierung von Laborleistungen durch den Einheitlichen Bewertungsmaßstab ( EBM ) der zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und der Ärzte vereinbart wird (s. § 87 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Die Stellungnahmen der Gerichte zu der Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln des EGV auf diese Regulierungsinstrumente des Sozialversicherungsrechts waren unterschiedlich ausgefallen. Das OLG Düsseldorf hatte in mehreren Urteilen in der Festsetzung von Festbeträgen durch die Krankenkassenverbände einen Verstoß gegen Art. 81 EGV gesehen, wobei es die Krankenkassen als Unternehmen im Sinne der Wettbewerbsregeln einstufte.18 Dagegen hatte sich der BGH in seinem diesen Fragenkreis betreffenden Vorlagebeschluss deutlich zurückhaltender geäußert,19 während das KG unter Betonung der ausschließlichen Zuständigkeit der Sozialgerichte für Anfechtungsklagen gegen die Festsetzung von Festbeträgen eine eigene Entscheidung sogar ganz abgelehnt hatte.20 Klagen gegen den Ausschluss einzelner Arzneimittel von der Erstattungsfähigkeit durch Arzneimittelrichtlinien hatten gleichfalls wiederholt Erfolg vor den ordentlichen Gerichten.21 15 Ebenso BKartA , Tätigkeitsbericht 1999/2000, S. 50; Boecken VSSR 2001, 65 f.; Emmerich/J. Hoffmann in: FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 527, 532 ff.; D. Neumann WuW 1999, 961. 16 S. zu dieser hier nicht weiter zu verfolgenden Frage ausführlich Kunze/Kreikebohm NZS 2003, 5, 62 mwN. 17 S. hierzu Axer NZS 2002, 57; Bieback EWS 1999, 361; Boecken NZS 2000, 269; Engelmann VSSR 1999, 167; Hänlein/Kruse NZS 2000, 165; Heiduk/Emmerich Arzneimittelmarkt und europäisches Wettbewerbsrecht, 1985, S. 175 ff.; Chr. Koenig/Sander WuW 2000, 975; Chr. Koenig/Chr. Engelmann/Ulrike Steiner NZS 2002, 288; Kunze/Kreikebohm NZS 2003, 62; Steinmeyer (Fn. 14) S. 70, 101 ff. 18 Urt. v. 29. 7. 1997, NZS 1998, 290; v. 28. 8. 1998, EuZW 1999, 188 = NJW- RR 2000, 193 = NZS 1998, 567 m. Anm. Emmerich JuS 1999, 1025; v. 27. 7. 1999, PharmaR 1999, 283. 19 Beschl. v. 3. 7. 2001, LM Nr. 1 zu Art. 81 EG (Bl. 5 ff.) = VersR 2001, 1361 = GRUR 2001, 554. 20 Beschl. v. 19. 11. 1999, WuW/E DE -R 427 f.; vgl. in diesem Zusammenhang auch die befristete Verordnungsermächtigung in § 35a SGB V. 21 OLG München NZS 2000, 457; OLG Hamburg EuZW 2001, 637, 639 f.; wegen der Einzelheiten s. Steinmeyer (Fn. 14) S. 65, 102 ff., 107; zur Budgetierung von Laboruntersuchungen s. außerdem noch Chr. Koenig/Chr. Engelmann/Ulrike Steiner NZS 2002, 288; zu der

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Im Schrifttum ist das Meinungsspektrum ebenso breit wie in der Rechtsprechung. Die Stellungnahmen reichen von der Annahme eines ungeschriebenen Ausnahmebereichs für die Krankenkassen unter Berufung auf die fortbestehende Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Systeme sozialer Sicherung 22 bis zur partiellen oder sogar vollständigen Unterstellung der Krankenkassen unter die Wettbewerbsregeln, 23 wobei dann wieder umstritten ist, welche Rolle in diesem Zusammenhang dem Art. 86 Abs. 2 EGV (= ex Art. 90 Abs. 2) zukommt. 24 Die Rechtsprechung des EuGH zu diesem Fragenkreis ließ bis 2004 kein abschließendes Urteil zu. Soweit erkennbar, scheint der Gerichtshof in der Frage der Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln auf die Sozialversicherungsträger in erster Linie darauf abstellen zu wollen, ob bei den letzteren der Charakter einer Versicherung oder der eines aus öffentlichen Mitteln alimentierten Erbringers von Sozialleistungen im Vordergrund steht.25 Insbesondere das Urteil „CISAL“ vom 22. Januar 2002 ließ dabei bereits restriktive Tendenzen erkennen, da der Gerichtshof hier die Frage in den Vordergrund rückte, ob die Höhe der Beiträge – in dem fraglichen Fall zu einer Unfallversicherung – proportional zu den versicherten Risiken und ob die Leistungen proportional zu den Einkünften und Beiträgen der Versicherten sind.26 Sind diese Fragen zu verneinen, so tendiert der Gerichtshof, jedenfalls, wenn noch weitere Umstände wie eine umfassende Staatsaufsicht hinzukommen, zur Verneinung der Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln.27 In dieselbe Richtung weist die Zurückhaltung des Gerichts bei der Anwendung der Wettbewerbsregel auf Tarifverträge, selbst wenn in solchen Verträgen einer Krankenversicherung der Arbeitnehmer ein Monopol eingeräumt wird.28 Die genannten Kriterien für eine Unanwendbarkeit der Wettbewerbsregeln erfüllen auch die deutschen gesetzlichen Krankenkassen, so dass es nicht verwundert, dass zunächst das Gericht erster Instanz in einem Urteil Problematik der gesetzlich nicht geregelten Arzneiverordnungs-Reports der Krankenkassen s. Steinmeyer (Fn. 14) S. 86 ff. 22 U. Becker JZ 1997, 534, 539 ff.; V. Neumann NZS 2002, 561; Engelmann VSSR 1999, 167, 174 f.; J. Möller VSSR 2001, 25, 34 f.; in der Tendenz auch Bieback EWS 1999, 361. 23 Axer NZS 2002, 57; Boecken NZS 2000, 269, 272; Gassner VSSR 2000, 121, 131 ff.; Hähnlein/Kruse NZS 2000, 165, 168; Chr. Koenig/Chr. Engelmann/Ulrike Steiner NZS 2002, 288; Chr. Koenig/Sander EuZW 2000, 716; dies. WuW 2000, 975; Kunze/Kreikebohm NZS 2003, 5, 62, 64; Pitschas VSSR 1999, 221, 234 ff.; Steinmeyer (Fn. 14) S. 70, 103 ff. 24 S. zu dieser Frage außer den Genannten noch N. Reich EuZW 2000, 653. 25 EuGH Slg. 1993, I-637 – Poucet; 1995, I-4022, 4028 f. – Fed. franc. des Soc. d’Assurances; 1997, I-3422, 3433 ff. – Sodemare; 2001, I-8137, 8146 Tz. 20 – Glöckner; insbes. 2002, I-717, 730 ff. – CISAL. 26 EuGH Slg. 2002, I-717, 731 Tz. 37–40 – CISAL. 27 EuGH Sgl. 2002, I-717, 732 Tz. 42–45 – CISAL. 28 EuGH Slg. 1999, I-5863, 5882 ff. Tz. 60 ff. – Albany; 1999, I-6029, 6048 f. Tz. 57 ff. – Brentjens; 1999, I-6125, 6142 f. Tz. 47 f. – Drijvende Bokken; insbes. 2000, I-7129, 7139 f. Tz. 22, 26 – Hendrik van de Woude.

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vom 4. März 2003 die Anwendung der Wettbewerbsregeln auf den Ankauf medizinischer Erzeugnisse durch das staatliche spanische Gesundheitssystem abgelehnt hat29 und dass sofort am 16. März 2004 der E u GH ebenso für die deutschen Krankenversicherungen entschieden hat. 30 Zur Abrundung des Meinungsbildes ist noch nachzutragen, dass das BVerfG mittlerweile durch Urteil vom 17. Dezember 2002 auf Vorlage des BSG hin 31 entschieden hat, dass gegen die Vorschriften der §§ 35 und 36 SGB V über die Ermächtigung der Krankenkassenverbände zur Festsetzung von Festbeträgen für Heil- und Hilfsmittel keine verfassungsrechtliche Bedenken bestehen, 32 weil es sich dabei um bloße als solche unbedenkliche Allgemeinverfügungen handele, gegen die die Sozialgerichte umfassenden Rechtschutz böten. 33 Durch die parallele Vorlage des BGH an den EuGH 34 sah sich das Gericht nicht an einer eigenen Entscheidung gehindert. 35 Aufgrund dieses Urteils ist die Verordnungsermächtigung des § 35a SGB V, die ohnehin bis Ende 2003 befristet war, nicht mehr verlängert worden.

III. Zur Rechtswegproblematik36 Die gesetzlichen Krankenkassen erscheinen aufgrund ihrer eigenartigen Regelung früher in der RVO und heute im SGB V je nach Blickwinkel mehr als Versicherungsunternehmen oder mehr als behördenähnliche Sozialversicherungsträger. Die Folge sind seit Inkrafttreten des GWB im Jahre 1958 nicht zuletzt erhebliche Probleme bei der Abgrenzung der Zuständigkeiten der ordentlichen Gerichte und der Sozialgerichte für Klagen der Leistungserbringer gegen die Krankenkassen. Rückt man den Unternehmenscharakter der Krankenkassen als Versicherungsunternehmen in den Vordergrund, so liegt es seit jeher nahe, für Klagen gegen sie, die auf das UWG oder das GWB gestützt sind, den ordentlichen Rechtsweg zu eröffnen, während der Rechtsweg zu den Sozialgerichten als gegeben erscheint, wenn man in den WuW/E EU -R 688, 689 f. Tz. 36 ff. – FENIN. EuZW 2004, 241 Tz. 47 ff. m. Anm. Emmerich Jus 2004, 712. 31 NZS 1995, 502. 32 BVerfGE 106, 275, 297 ff. = NJW 2003, 1232. 33 BVerfGE 106, 275, 307 ff. (Fn. 32). 34 LM Nr. 1 zu Art. 81 EG . 35 BVerfGE 106, 275, 294 ff. (Fn. 32). 36 S. zum Folgenden insbes. Emmerich, Das Wirtschaftsrecht der öffentlichen Unternehmen, 1969, S. 269 ff.; ders. in: Immenga/Mestmäcker (Fn. 10) § 130 Abs. 1 Rn. 17 ff.; Engelmann VSSR 1999, 167; ders. N ZS 2000, 213; Gassner VSSR 2000, 121; Chr. Koenig/ Sander EuZW 2000, 716; Th. Kunze/ Kreikebohm N ZS 2003, 5, 62, 68 ff.; FK /Meyer-Lindemann (Fn. 10) § 87 Tz. 15 ff.; Peikert/ Kroel MedR 2001, 14; K. Schmidt in: Immenga/ Mestmäcker (Fn. 10) § 87 Rn. 34 ff., § 96 Rn. 11; Steinmeyer (Fn. 14) S. 75 ff.; Wigge N ZS 2000, 533. 29 30

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Krankenkassen in erster Linie behördenähnliche Sozialversicherungsträger mit öffentlichem Auftrag sieht (§ 17 GVG ; § 51 SGG ). Die ordentlichen Gerichte haben lange Zeit den Charakter der gesetzlichen Krankenkassen als Versicherungsunternehmen in den Vordergrund gerückt und deshalb ungeachtet der öffentlich-rechtlichen Beziehungen der Krankenkassen zu den Versicherten deren Rechtsbeziehungen zu den Leistungserbringern, insbesondere den Heil- und Hilfsmittellieferanten privatrechtlich qualifiziert, wodurch sie sich vor allem die Möglichkeit zur Anwendung des Diskriminierungsverbots (§ 20 GWB = § 26 Abs. 2 a.F.) auf die Leistungsbeziehungen der Krankenkassen eröffneten. Die Folge war ein spürbarer Beitrag, wenn vielleicht auch nicht zur Öffnung, so doch jedenfalls zur Auflockerung der verkrusteten und geschlossenen Heil- und Hilfsmittelmärkte.37 Trotz des Widerstandes der Sozialversicherungsträger und der Sozialgerichte haben in den Folgejahren an der geschilderten Abgrenzung der Rechtswege zunächst auch der Große Senat des BGH 38 sowie der Gemeinsame Senat der Obersten Bundesgerichte festgehalten, 39 und zwar selbst nach Änderung des § 51 SGG im Jahre 1988, mit der der Gesetzgeber erstmals den Versuch unternommen hatte, die genannten Rechtsstreitigkeiten nach Möglichkeit den Sozialgerichten zuzuweisen. Der BGH stützte sich dabei in erster Linie auf die fortbestehende spezielle Rechtswegzuweisung des § 87 GWB a.F.. 40 Das BSG ging dagegen seit 1988 von seiner eigenen Zuständigkeit auch für kartellrechtliche Vorfragen aus. 41 Die daraus notwendigerweise resultierenden Konflikte spitzten sich zu, als die ordentlichen Gerichte nicht zögerten, mittels des Kartellrechts auch gegen die Festsetzung von Festbeträgen und den Ausschluss von Arzneimitteln durch die Arzneimittelrichtlinien zu intervenieren (s. o. II .). Es war daher nur folgerichtig, dass sich die Sozialversicherungsträger, die sich durch die Praxis der ordentlichen Gerichte in ihrer Regulierungspraxis behindert sahen, jetzt erneut mit nachdrücklichen Hilfeersuchen an den Gesetzgeber wandten 42 – der auch prompt wieder eingriff, diesmal mit dem bereits erwähnten GRG von 1999. § 51 SGG bestimmt seitdem, dass die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit auch über privatrechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung entscheiden, selbst wenn durch diese AngelegenheiGrdlg. BGHZ 36, 91, 100 ff. = NJW 1962, 196 – Gummistrümpfe. BGHZ 66, 229, 235 f. = NJW 1976, 1794; BGHZ 67, 81, 86 ff. = NJW 1976, 2941. 39 Gemeinsamer Senat, BGHZ 97, 312, 313 ff. = NJW 1986, 2359; BGHZ 102, 280, 282 ff. = NJW 1988, 2295; LM Nr. 179 zu § 13 GVG = NJW 1988, 2297. 40 Wegen der Einzelheiten s. Emmerich in: Immenga/Mestmäcker (Fn. 10) § 130 Abs. 1 Rn. 18 m. Nachw. 41 BSGE 72, 148, 150 ff. = SozR 3–2500 § 15 Nr. 1; BSG NJW 1995, 1575 = SozR 3–1500 § 51 Nr. 15 = NZS 1995, 142 = MDR 1995, 728. 42 Nachw. bei Chr. Koenig/Sander EuZW 2000, 716, 719 (r.Sp.). 37 38

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ten Dritte betroffen werden (§ 51 Abs. 2 Satz 1 SGG ). Satz 2 der Vorschrift fügt noch hinzu, dass die §§ 87 und 96 GWB keine Anwendung finden. Zusammen mit der Änderung des § 69 SGG V sollte dadurch klargestellt werden, dass alle genannten Rechtsbeziehungen sozialversicherungsrechtlicher Natur seien, so dass die Zuständigkeit für daraus resultierende Entscheidungen allein bei den Sozialgerichten liege. 43 In den Ausschussberatungen sind sodann noch die bereits erwähnten Änderungen der §§ 87 Abs. 1 Satz 3 und 96 Satz 2 GWB hinzufügt worden, wiederum zu dem Zweck, unmissverständlich klarzustellen, dass für alle Rechtsstreitigkeiten aus den in § 69 SGB V genannten Rechtsbeziehungen die Sozialgerichte zuständig seien, auch soweit Rechte Dritter betroffen sind oder die Klagen auf die Wettbewerbsregeln des EGV gestützt werden. 44 Im Schrifttum sind gegen diese umfassende Zuweisung der Rechtsstreitigkeiten aus Leistungsbeziehungen der Krankenkassen an die Sozialgerichte zunächst nicht zuletzt deshalb erhebliche Bedenken geäußert worden, weil seinerzeit das SGG noch keinen einstweiligen Rechtsschutz vorsah. 45 Dieses Manko ist jedoch mittlerweile durch die Einfügung des § 87b Abs. 2 in das SGG durch das Änderungsgesetz vom 17. August 2001 mit Wirkung seit dem 2. Januar 2002 behoben. 46 Bedenken gegen die neue Regelung des Rechtswegs bleiben gleichwohl, weil, um es vorsichtig auszudrücken, die Bereitschaft der Sozialgerichte zur Anwendung des Kartellrechts offenkundig „unterentwickelt“ ist, wie die eingangs erwähnten Urteile des BSG aus den Jahren 2000 und 2001 belegen, die einfach die gesamte gesetzliche Krankenversicherung unter Berufung auf § 69 SGB V zu einem neuen umfassenden Ausnahmebereich hochstilisiert haben, wobei zugleich das europäische Kartellrecht, unter unzutreffender Berufung auf die Zwischenstaatlichkeitsklausel, als quantité négligeable abgetan wurde, 47 – womit denn endlich der Traum von einem völlig geschlossenen System, ungestört durch das ungeliebte Kartellrecht, verwirklicht wäre. Aus dem Gesagten kann man nur den Schluss ziehen, dass die Rechtswegproblematik ihrerseits von der Auslegung des § 69 SGB V abhängig ist. Denn nur, wenn danach überhaupt noch Raum für die Anwendung des deutschen Kartell- und Wettbewerbsrechts auf die Leistungsbeziehungen der gesetzlichen Krankenkassen ist, stellt sich überhaupt die Rechtswegfrage.

S. die Begr. BT-Drucks 14(1999)/1245, S. 68 (l.Sp. 2. und 5. Abs.). Ausschussbericht BT-Drucks 14(1999)/1977, S. 189 „Zu Art. 10a“. 45 S. Chr. Koenig/Sander Eu ZW 2000, 716, 720 ff.; Gassner VSSR 2000, 121, 145 ff. 46 BGBl . I S. 2144. 47 S. die enthüllenden Bemerkungen in BSGE 89, 24, 34 = NJW-RR 2002, 1691, 1692 (r.Sp.u.) = NZS 2002, 480; ganz anders BMWi, Eckwerte v. 24. 2. 2003, WuW 2003, 379, 381 (unter IV 6). 43 44

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IV. Zur Auslegung des § 69 SGB V 1. Ausnahmebereich? Das BSG stützt seine These von der Unanwendbarkeit des deutschen Wettbewerbs- und Kartellrechts auf die Rechtsbeziehungen der gesetzlichen Krankenkassen und ihrer Verbände zu den Leistungserbringern und deren Verbänden in erster Linie auf den neuen § 69 SGB V.48 § 69 Satz 1 und 4 SGB V bestimmt, dass das Vierte Kapitel des SGB V, d. h. die §§ 69 bis 140h SGB V „abschließend die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände“ zu den Leistungserbringern und deren Verbänden regelt, und zwar auch, soweit dadurch Rechte Dritter betroffen sind. Ergänzend bleibt jedoch das BGB anwendbar (§ 69 Satz 3 SGB V). Zur Begründung dieser Vorschrift haben die Gesetzesverfasser ausgeführt, die in § 69 Satz 1 SGB V genannten Rechtsbeziehungen seien allein sozialversicherungsrechtlicher und nicht privatrechtlicher Natur. Denn die Krankenkassen und ihre Verbände erfüllten einen öffentlich-rechtlichen Versorgungsauftrag „und handeln deshalb nicht als Unternehmen im Sinne … des Wettbewerbs- und Kartellrechts“. Für Klagen Dritten gelte nichts anderes. 49 Erst in den Ausschussberatungen sind dann auch die Modellvorhaben der §§ 63 und 64 SGB V in diese „abschließende“ Regelung einbezogen worden. 50 Es mag sein, dass die Gesetzesverfasser bei den zitierten Ausführungen tatsächlich an so etwas wie an einen neuen kartellrechtlichen Ausnahmebereich für die gesetzliche Krankenversicherung gedacht haben; gesagt haben sie es aber jedenfalls nicht. Und es darf wohl als ausgeschlossen angesehen werden, dass eine so weitreichende Regelung wie ein neuer Ausnahmebereich für die gesetzliche Krankenversicherung in Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung vom Gesetzgeber ohne ein Wort der Begründung eingeführt wird. Schon deshalb verbietet sich diese Annahme. Die in der Begründung zu dem Gesetzentwurf aufgestellte Behauptung, die Krankenkassen und ihre Verbände seien keine Unternehmen im Sinne des Kartellrechts, ist zudem schlicht falsch und zielte wohl auf eine (vorsätzliche) Irreführung des Parlaments. 51 Betrachtet man einmal unbefangen den Wortlaut des § 69 SGB V, so steht dort in der Tat nichts, was auf die Einführung eines neuen Ausnahmebereichs zu Gunsten der gesetzlichen Krankenversicherung hindeuten könnte. 48 S. BSGE 87, 95, 99 = SozR 3–2500 § 35 Nr. 1; BSGE 89, 24, 30–34 = NJW- RR 2002, 1691, 1693 = NZS 2002, 480; ebenso BGH NJW-RR 2004, 547, 548; anders noch kurz zuvor BSGE 86, 223, 229 = Breithaupt 2001, 101 = DStR 2001, 30. 49 S. die Begr. zu dem RegE BT-Drucks 14(1999)/1245, S. 68 (l.Sp.). 50 S. den Ausschussbericht BT-Drucks 14(1999)/1977, S. 163 (l.Sp.o.). 51 So zutreffend Bornkamm in: Langen/Bunte (Fn. 10) § 87 Rn. 6b (am Ende) (S. 1370); wie hier auch Wannagat/Lindemann (Fn. 14) § 69 SGB V Rn. 21.

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Die Vorschrift bestimmt vielmehr im Grunde nur, dass die §§ 69 bis 140h SGB V vorrangig auf die Beziehungen der gesetzlichen Krankenkassen zu den Leistungserbringern anzuwenden sind. Im Mittelpunkt des Interesses stehen dabei die §§ 124 bis 134 SGB V über die Beziehungen der Krankenkassen zu den Heil- und Hilfsmittellieferanten, zu den Apotheken und zu den sonstigen Leistungserbringern einschließlich der Haushaltshilfen, der Krankentransportunternehmen und der Hebammen. Keine der genannten Regelungen ist jedoch in irgendeiner Hinsicht „abschließend“. Die erwähnten Vorschriften beschränken sich vielmehr durchweg auf die Regelung der „Zulassung“ der Leistungserbringer zur Versorgung der gesetzlich Versicherten durch Verwaltungsakt sowie auf die Ermächtigung der Spitzenverbände zum Abschluss von Rahmenverträgen über die Versorgung, insbesondere über die dabei zugrundezulegenden Preise. Weitergehende Regelungen finden sich nahezu nirgends, weshalb § 69 Satz 3 SGB V folgerichtig im Übrigen auf das BGB verweist, d. h. in erster Linie auf das Kauf-, Dienst- und Werkvertragsrecht der §§ 433, 611 und 631 ff. BGB . Kein Mensch käme auch wohl auf die Idee, irgendwelche anderen Vorschriften z. B. auf den Kauf von Arzneimitteln oder die Anwendung von Massagen anzuwenden. Das erfordert schon zwingend den Schutz der Versicherten. Bei Lichte besehen konnte und wollte das SGB daher gar nicht in die Regelung dieser Rechtsbeziehungen eingreifen, weil sie sich seit jeher ausschließlich nach dem BGB richten. Bei den Leistungsbeziehungen handelt es sich daher nach wie vor um normale schuldrechtliche, d. h. aber eben privatrechtliche Verträge, die dann auch dem (privaten) Wettbewerbs- und Kartellrecht unterliegen. Davon geht im Übrigen der Gesetzgeber selbst aus, wie durch § 51 Abs. 2 Satz 1 SGG in der Fassung des GRG von 1999 belegt wird, der ausdrücklich von den „privatrechtlichen Streitigkeiten in Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung“ spricht und die Zuständigkeit dafür den Sozialgerichten überträgt. Einzuräumen ist lediglich, dass der Einfluss des öffentlichen Rechts auf die Leistungsbeziehungen der Kassen von Fall zu Fall unterschiedlich stark ausgeprägt ist. 52 Im Einzelfall mögen sich daraus auch tatsächlich einzelne Schranken für die Anwendbarkeit des Wettbewerbs- und Kartellrechts ergeben, mehr aber auch nicht. 53 Für die in § 69 Satz 4 SGB V angesprochenen Rechtsbeziehungen zu „Dritten“ folgt dies schon daraus, dass das ganze SGB V an keiner Stelle solche Rechtsbeziehungen regelt. Von einem „abschließenden“ Charakter des SGB V (s. § 69 Satz 1 SGB V) kann insoweit von vornherein keine Rede sein, so dass diese Rechtsbeziehungen weiterhin wie bisher (nur) dem Privatrecht und damit auch dem Wettbewerbs- und Kartellrecht unterliegen. Die Annahme, der Gesetzgeber habe durch die genannte Vorschrift den 52 53

S. Bieback EWS 1999, 361, 367 f. Ebenso Steinmeyer (Fn. 14) S. 82 ff.

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Volker Emmerich

Dritten den bisherigen Rechtsschutz über das Wettbewerbs- und Kartellrecht ohne jede Ersatzregelung entziehen wollen, verbietet sich von selbst. 54 Ohnehin ist unklar, welche „Dritten“ der Gesetzgeber hier überhaupt im Auge hat. Es lässt sich durchaus auch die Auffassung vertreten, dass damit nicht etwa dritte Leistungserbringer, sondern lediglich die Patienten gemeint sind. 55 Selbst wenn § 69 Satz 1 SGB V die Bedeutung haben sollte, die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen zu den Leistungserbringern (auch) dem öffentlichen Recht zu unterstellen, würde dies doch nichts an dem Ergebnis ändern. Denn auch dann bliebe es zumindest bei der ergänzenden Anwendbarkeit des BGB (§ 69 Satz 3 SGB V) und damit bei der der Sache nach ohnehin gebotenen, in erster Linie privatrechtlichen Qualifizierung dieser Leistungsbeziehungen, die nur deshalb partiell ins öffentliche Recht verwiesen wurden, um die Zuständigkeit der Sozialgerichte abzusichern. An der Anwendbarkeit des Wettbewerbs- und Kartellrechts kann dies jedoch nichts ändern. 56 Wäre es anders, so hätte es zudem gar nicht der Änderung der §§ 87 und 96 GWB durch das GRG von 1999 bedurft, weil dann ohnehin – mangels Anwendbarkeit des Privatrechts, des Wettbewerbs- und des Kartellrechts – keine Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte mehr gegeben gewesen wäre. Dass der Gesetzgeber gleichwohl eine Änderung des GWB (§§ 87 Abs. 1 Satz 3 und 96 Satz 2) sowie des SGG (§ 51 Abs. 2) für erforderlich hielt, belegt, dass er selbst von der Fortgeltung des Wettbewerbs- und Kartellrechts für die gesetzliche Krankenversicherung ausgegangen ist, weshalb, um es zu wiederholen, in § 51 Abs. 2 Satz 1 SGG in der Fassung des GRG von 1999 nach wie vor ausdrücklich von „privatrechtlichen Streitigkeiten in Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung“ die Rede ist. 2. Folgerungen für den Rechtsweg Wenn somit das Wettbewerbs- und das Kartellrecht weiterhin im Kern auf die Leistungsbeziehungen der gesetzlichen Krankenkassen anwendbar ist, so sollte für deren Durchsetzung an sich auch weiterhin der ordentliche Rechtsweg eröffnet sein (§ 17 GVG ). 57 Das gilt jedenfalls unbestritten für den Rechtsweg gegen Beschlüsse des Bundeskartellamts in Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung (§§ 62 Abs. 4, 73 Abs. 1 GWB ). So54 Ebenso D. Neumann WuW 1999, 961, 965; Steinmeyer (Fn. 14) S. 82 f.; anders freilich Knispel NZS 2001, 466 (unter Hinweis auf öffentlich-rechtliche Ersatzinstitute) sowie BGH NJW-RR 2004, 547. 55 So Wannagat/Lindemann (Fn. 14) § 69 SGB V Rn. 14. 56 Ebenso Wannagat/Lindemann (Fn. 14) § 69 SGB V Rn. 21; D. Neumann WuW 1999, 961, 965 f.; Steinmeyer (Fn. 14) S. 82 ff.; Wigge NZS 2000, 533. 57 Ebenso Kunze/Kreikebohm NZS 2003, 5, 62, 68; Steinmeyer (Fn. 14) S. 84.

Ausnahmebereich Krankenversicherung?

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weit Rechtsstreitigkeiten auf die Artt. 81, 82 und 86 EGV gestützt werden, sollte dasselbe gelten. § 96 Satz 2 GWB lässt solche Auslegung ohne weiteres zu. 58 In den restlichen Fällen führt aber heute wohl angesichts der Formulierung des § 87 Abs. 1 Satz 3 GWB und des § 51 Abs. 2 SGG kein Weg mehr an der Zuständigkeit der Sozialgerichte vorbei, die aufgerufen bleiben, endlich auch das deutsche Kartell- und Wettbewerbsrecht zur Kenntnis zu nehmen.

58

Ebenso im Ergebnis Gassner VSSR 2000, 121, 145 ff.

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Beteiligungserwerb eingetragener (Börsen-)Vereine und Gruppenbildungen durch Finanzdienstleister – Eine Fallstudie – Horst Hammen

Inhaltsübersicht Seite

I. II. III. IV. V.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgrenzung von wirtschaftlichem und nichtwirtschaftlichem Verein Externe wirtschaftliche Tätigkeit eines Vereins . . . . . . . . . . . Finanzierung einer Tochtergesellschaft und Nebentätigkeitsprivileg Ausblick: Gruppenbildung im deutschen Börsenwesen und Eigenmittelkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

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I. Einführung Die Wertpapierbörse desjenigen Bundeslandes, aus dem der Jubilar stammt, ist wie folgt aufgebaut: Der Börsenhandel wird von der betreffenden Börse veranstaltet. Diese Börse ist, wie sich aus den Vorschriften des Börsengesetzes ableiten lässt, eine teilrechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts.1 Sie wird von einem Börsenträger getragen, 2 der als Aktiengesellschaft organisiert ist. Einziger Aktionär dieser Aktiengesellschaft ist ein eingetragener Verein, der die Börse bis vor einiger Zeit getragen hat und dessen Zweck es nach seiner Satzung ist, unmittelbar oder mittelbar Börsen zu tragen und die Stellung der Region zu fördern. Zur Verfolgung dieser Ziele kann sich der Verein nach der Satzung auch an Kapitalgesellschaften beteiligen. Dieser Verein war längere Zeit auch Träger eines speziellen Segments für Derivate innerhalb des an besagter Börse zugelassenen Frei-

1 Vgl. nur Kümpel/Hammen Börsenrecht, 2. Aufl., 2003, S. 125, 129; Kümpel, Bank- und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl., 2004, Rn. 17.318. 2 Zu den Einzelheiten der Arbeitsteilung zwischen Börse und Börsenträger bei der Veranstaltung des Börsenhandels vgl. Kümpel BKR 2003 S. 3 ff.

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Horst Hammen

verkehrs. 3 Im Jahre 2002 hat der Verein die Trägerschaft an diesem Segment an die Börsenträgeraktiengesellschaft abgegeben, 4 die auch Träger des allgemeinen Freiverkehrs an dieser Börse ist. 5 Im Frühjahr 2003 hat er sodann etwas mehr als 75 Prozent der Anteile an einer Börsenmakleraktiengesellschaft übernommen, die als Skontroführer in den öffentlichrechtlichen Handelssegmenten der betreffenden Börse und in dem Derivate-Segment tätig ist. Die Übernahme der Börsenmakleraktiengesellschaft durch den eingetragenen Verein und die im Zuge dieses Vorgangs erfolgten Umstrukturierungen werfen nicht nur gesellschaftsrechtliche Fragen auf, sondern lösen auch eine Fülle kreditwesengesetzlicher und börsenrechtlicher Folgewirkungen aus. 6 Beispielsweise unterfällt der Verein nunmehr – und zwar gleich in zweifacher Hinsicht – einer Anteilseignerkontrolle nach dem Börsengesetz und nach dem Kreditwesengesetz. Die zuständige Börsenaufsichtsbehörde führt eine Anteilseignerkontrolle nach der durch das 4. Finanzmarktförderungsgesetz vom 21. Juni 2002 7 in das Börsengesetz eingefügten Bestimmung in § 3 BörsG 8 durch, weil der Verein als Alleinaktionär der Börsenträgeraktiengesellschaft eine wesentliche Beteiligung an dem Börsenträger hält. Über die Beteiligung an der Börsenmaklergesellschaft wacht die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Die Börsenmakleraktiengesellschaft, die der Börsenverein übernommen hat, ist nämlich ein Finanzdienstleistungsinstitut, 9 weshalb der Verein als Inhaber einer bedeutenden Beteiligung (§ 1 Abs. 9 KWG : mindestens 10 vom Hundert des Kapitals des Instituts) an einem „Institut“ (vgl. § 1 Abs. 1b KWG ), nämlich an der Börsenmaklergesellschaft, der Anteilseignerkontrolle nach § 2b KWG unterworfen ist. Die meisten dieser Fragen sollen im Folgenden unbeantwortet bleiben. Mit Blick auf die Interessenschwerpunkte des Jubilars soll zunächst ein Aus3 Zu dieser Segmentierung vgl. die Präambel der Richtlinien für die European Warrant Exchange – EUWAX , abgedruckt bei Kümpel/Hammen/Ekkenga Kapitalmarktrecht, Kennziffer 468. 4 Vgl. § 1 der EUWAX-Richtlinien. 5 § 1 der Richtlinien für den Freiverkehr an der Baden-Württembergischen Wertpapierbörse. 6 Zu Oligopolisierungen durch ein Zusammenwirken von miteinander verknüpften Börsenträgern und skontroführenden Börsenmaklern vgl. Hammen, Beteiligungen an Börsenmaklergesellschaften, Arbeitspapier Nr. 3 des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Deutsches und Europäisches Bank- und Kapitalmarktrecht der Universität Gießen, 2002; das Arbeitspapier ist abrufbar auf der Homepage des Lehrstuhls Hammen: http://www.uni-giessen.de/~g11079/. 7 BGBl . I, S. 2010. 8 Zum Für und Wider dieser Bestimmung vgl. Hammen AG 2001, 549, 566; Kümpel/ Hammen, Börsenrecht, S. 120 f. einerseits, Beck BKR 2002, 662, 665 andererseits. 9 Jung BB 1998, 649, 651; Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Fülbier KWG , 2. Aufl. 2004, § 1 Rn. 122; Reischauer/Kleinhans in KWG , Erg.-Lfg. 4/02, § 1 Rn. 180; Hammen WM 2001, 929, 932.

Beteiligungserwerb eingetragener (Börsen-)Vereine

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schnitt aus der gesellschaftsrechtlichen Problematik dieser Übernahme behandelt werden. Es soll untersucht werden, ob das zuständige Regierungspräsidium (§ 44 Abs. 1 BGB ) 10 dem Börsenverein wegen des Erwerbs der Anteile an der Börsenmaklergesellschaft nach § 43 Abs. 2 BGB die Rechtsfähigkeit – mit deren Bedeutung im Gesellschaftsrecht der Jubilar sich bekanntermaßen grundlegend beschäftigt hat 11 – entziehen kann, beispielsweise mit der Folge, dass das Vermögen des Vereins an die in der Satzung bestimmten Personen fällt (§ 45 Abs. 1 BGB ).12 Sodann soll in einem abschließenden Kapitel ein Blick auf die kreditwesenrechtliche Eigenmittelkontrolle von Gruppen im Börsenwesen geworfen werden.

II. Abgrenzung von wirtschaftlichem und nichtwirtschaftlichem Verein Die Behörde hat nach Maßgabe der Vorschrift in § 43 Abs. 2 BGB den Entzug der Rechtsfähigkeit in Betracht zu ziehen, wenn der Verein, dessen Zweck nach der Satzung nicht auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet ist, einen solchen Zweck verfolgt. Dieser Entziehungsgrund gilt – nur – für den eingetragenen Verein im Sinne von § 21 BGB . Nicht unwesentlich ist es, darauf hinzuweisen, dass das der Behörde nach dem Wortlaut des Gesetzes („kann“) zustehende Ermessen im Anwendungsbereich von § 43 Abs. 2 BGB eng begrenzt ist. Im Regelfall sind keine Gesichtspunkte denkbar, die bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen dafür sprechen könnten, von der Entziehung der Rechtsfähigkeit abzusehen.13 Entscheidend für die Beurteilung der Behörde ist, ob der eingetragene Verein nach seinem tatsächlichen Erscheinungsbild als wirtschaftlicher Verein anzusehen ist, ob er sich also nach seinem Gesamtgebaren unternehmerisch betätigt und dieses sein Hauptzweck geworden ist.14 Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen müssen demnach die Vorschriften in §§ 21, 22 BGB sein, in denen die Unterscheidung von wirtschaftlichem und nichtwirtschaftlichem Verein angelegt ist. Einigkeit besteht darin, dass – etwas anders als es der Wortlaut der §§ 21, 22 BGB besagt – der Vereinszweck die Zielsetzung für das Handeln des wirtschaftlichen Vereins bildet, während der Geschäftsbe10 Vgl. Hadding in Soergel, Kommentar zum bürgerlichen Gesetzbuch Bd. 1, 13. Aufl. 2000, § 44 Rn. 2. 11 Vgl. nur Raiser AcP 199 (1999), 104 ff.; derselbe, Recht der Kapitalgesellschaften, 3. Aufl. 2001, S. 12 ff., 50. 12 Zu den Haftungsfolgen, wenn der Verein seine Tätigkeit fortsetzt, K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., 2002, § 24 VII , S. 725, § 25 III , S. 747. 13 BVerwG NJW 1998, 1166, 1168; K. Schmidt NJW 1998, 1124, 1125; Heermann ZIP 1998, 1249, 1257; Wagner NZG 1999, 469, 471; Soergel BGB -Hadding (Fn. 10) § 43 Rn. 6. 14 Soergel BGB -Hadding (Fn. 10) § 43 Rn. 4.

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trieb als Mittel zur Zweckverfolgung nur die Art und Weise betrifft, wie diese Zielsetzung verwirklicht wird. Der Idealverein kann von dem wirtschaftlichen Verein nur negativ abgegrenzt werden.15 Ob ein wirtschaftlicher oder ein nichtwirtschaftlicher Vereinszweck verfolgt wird, ist aus dem Gesamtinhalt der Satzung und unter Berücksichtigung der tatsächlichen Betätigungen des Vereins zu ermitteln, die Rückschlüsse auf den eigentlichen Vereinszweck zulassen.16 Freilich herrscht Übereinstimmung, dass sich keine einheitlichen tatbestandlichen Merkmale für die Abgrenzung des wirtschaftlichen vom nichtwirtschaftlichen Verein finden lassen. Vielmehr versucht die überwiegende Meinung, dem Problem durch Fallgruppenbildung Herr zu werden.17 Die Hauptgruppe des wirtschaftlichen Vereins bildet demnach der unternehmerisch tätige Verein, der an einem äußeren Markt planmäßig und auf Dauer Leistungen gegen Entgelt anbietet. Dies ist im Grundsatz unstreitig. Probleme bereitet es indes, wenn nicht der Verein selbst solche Leistungen anbietet, sondern eine Gesellschaft, an welcher der Verein beteiligt ist (sog. externe wirtschaftliche Tätigkeit). Soll, so ist zu fragen, der Verein das Konzessionserfordernis in § 22 BGB umgehen können, indem er dieses andere Rechtssubjekt für sich tätig werden lässt? 18 Diese Frage muss in zwei Schritten beantwortet werden. Zunächst ist zu prüfen, ob die externe wirtschaftliche Tätigkeit dem Verein zugerechnet werden muss (unten III .). Sodann ist zu klären, ob diese Tätigkeit bzw. eine hierauf bezogene Tätigkeit des Vereins vom Nebentätigkeitsprivileg für nichtwirtschaftliche Vereine gedeckt ist mit der Folge, dass eine Einordnung des betreffenden Vereins als wirtschaftlicher Verein ausscheidet 19 (unten IV.).

III. Externe wirtschaftliche Tätigkeit eines Vereins Für die Frage, ob eine externe wirtschaftliche Tätigkeit dem Verein zugerechnet werden muss, ist zunächst bedeutsam, dass der Verein und die Gesellschaft, an der dieser Verein beteiligt ist und die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, verschiedene Rechtssubjekte sind. Jede Rechtsperson muss, was ihre Einbettung in die Rechtsordnung angeht, im Ansatz für sich alleine betrachtet werden. Ebenso wenig wie etwa die Kaufmannseigenschaft einer Personenhandelsgesellschaft gleichsam automatisch die Kaufmannseigenschaft ihrer Gesellschafter begründet, 20 kann von der wirtschaftlichen BetäSoergel BGB -Hadding (Fn. 10) §§ 21, 22 Rn. 19. Soergel BGB -Hadding (Fn. 10) §§ 21, 22 Rn. 18. 17 Soergel BGB -Hadding (Fn. 10) §§ 21, 22 Rn. 23. 18 K. Schmidt Gesellschaftsrecht, § 23 III , S. 671. 19 Vgl. Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch, I. Bd. 1899, S. 604; Soergel BGB -Hadding (Fn. 10) §§ 21, 22, Rn. 33. 20 Zum Diskussionsstand Canaris, Handelsrecht, 23. Aufl., 2000, § 2 S. 29 f. 15 16

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tigung einer Gesellschaft auf eine wirtschaftliche Zielsetzung eines Vereins geschlossen werden, der an dieser Gesellschaft beteiligt ist. Erfolgt die Beteiligung beispielsweise ausschließlich zu Zwecken der Vermögensanlage, handelt es sich lediglich um die Verwaltung des Vereinsvermögens, die die Eigenschaft eines wirtschaftlichen Vereins nicht zu begründen vermag, solange sie nicht der Hauptzweck des Vereins ist 21 (vgl. § 105 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. HGB ). Es geht also um das Problem, ob dem Verein die wirtschaftliche Betätigung der Tochtergesellschaft als eigene so zuzurechnen ist, dass er zum wirtschaftlichen Verein wird. Manche wollen eine solche Zurechnung vornehmen, wenn der Verein die Gesellschaft, an der er beteiligt ist, im Sinne des Konzernrechts beherrscht. 22 Will man diese Sichtweise auf den in Rede stehenden Börsenverein anwenden, wäre seine Rechtsfähigkeit nicht ungefährdet. Lässt sich der Verweis auf die durch die Beteiligung zu 100 Prozent vermittelte Herrschaft über die Börsenträgeraktiengesellschaft vielleicht noch mit dem Argument beiseiteschieben, 23 der Börsenträger übe, obgleich Aktiengesellschaft (vgl. § 3 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbs. AktG), keine anbietende Tätigkeit an einem äußeren Markt aus, die ihn einem Marktrisiko aussetze, das einerseits einen erhöhten Mitgliederschutz, andererseits zu Gunsten der Abnehmer einen erhöhten Gläubigerschutz erfordere, 24 weil der Börsenträger die Börsenleistungen nicht selbst anbiete, sondern lediglich die Börse mit personellen und sächlichen Mitteln ausstatte, so führt an der Annahme einer wirtschaftlichen Betätigung der nach der Übernahme durch den Börsenverein durch diesen beherrschten Börsenmaklergesellschaft kein Weg vorbei. Denn der Börsenmakler bietet den an der Börse zugelassenen Handelsteilnehmern als Vermittlungsmakler planmäßig, auf Dauer und entgeltlich Finanz- bzw. Wertpapierdienstleistungen an. Marktkreise sprechen davon, angesichts der erheblichen Bedeutung dieses Maklers für den betreffenden Börsenplatz 25 werde der Eigentümer zum Skontroführer an der von ihm mittelbar getragenen öffentlich-rechtlichen Börse; die Übernahme bedeute eine Diversifizierung der „Konzernmutter“, des Börsenvereins, hin zum Finanzdienstleistungsinstitut. 26 Gleichwohl muss der Verein keineswegs den sofortigen Entzug seiner Rechtsfähigkeit durch das zuständige Regierungspräsidium befürchten. Denn der BGH will einem Idealverein die unternehmerische Tätigkeit einer von dem Verein betriebenen Aktiengesellschaft selbst dann nicht zurechnen, wenn die Gesellschaft

Soergel BGB -Hadding (Fn. 10) §§ 21, 22, Rn. 27, 40. Vgl. Soergel BGB -Hadding (Fn. 10) BGB , §§ 21, 22 Rn. 41. 23 Vgl. aber Kümpel BKR 2003, 3, 6 f., wonach sich der Börsenträger zur Veranstaltung des Börsenhandels der Börse bedient. 24 Vgl. Soergel BGB -Hadding (Fn. 10) §§ 21, 22 Rn. 25. 25 80 % aller Aufträge würden von diesem Broker betreut. 26 A. Schmidt AG 2003, R 53. 21

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im Sinne von § 17 AktG von dem Verein beherrscht wird. 27 Zur Begründung hat das Gericht in seiner ADAC -Entscheidung angeführt, die Interessenlage der Gläubiger der abhängigen Gesellschaft fordere diese Zurechnung nicht, weil 1. die abhängige Gesellschaft als Aktiengesellschaft ihren Gläubigern alle Sicherheiten biete, die mit der Rechtsform einer solchen Gesellschaft verbunden seien und weil 2. gegebenenfalls nach § 317 AktG bestehende Ansprüche der Gläubiger gegen das herrschende Unternehmen zwar möglicherweise mangels einer – für den Idealverein gesetzlich nicht vorgeschriebenen – Mindestkapitalausstattung nicht verwirklicht werden könnten, dieses aber dadurch ausgeglichen werde, dass die Ansprüche der Gläubiger der abhängigen Gesellschaft gegen den Verein ergänzt würden durch die persönliche Haftung des Vorstands des herrschenden und des abhängigen Unternehmens. 28 Roma locuta, causa finita? Wohl kaum. 29 Mehreres muss bedacht werden. Zunächst ist hervorzuheben, dass sich der BGH seiner Sache offenbar selbst nicht sicher gewesen ist. Weshalb sonst hat er seine vereins- und konzernrechtliche Ableitung um das im Gesellschaftsrecht unmaßgebliche Argument erweitert, die abhängige Gesellschaft unterliege, was sich ebenfalls zum Schutze ihrer Gläubiger auswirke, der Aufsicht des Bundesaufsichtsamtes für das Versicherungswesen? 30 Möglicherweise liegt der Grund für diese nach allen Seiten absichernde Argumentationsweise darin, dass das Gericht keinen vereinsrechtlichen, sondern einen wettbewerbsrechtlichen Rechtsstreit zu entscheiden hatte, in dem es darum ging, ob dem Verein wegen vereinsrechtlicher Regelverletzungen ein Gesetzesverstoß gemäß § 1 UWG vorgeworfen werden konnte, weshalb der – vornehmlich für das Wettbewerbsrecht zuständige – I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs und nicht der für das Vereinsrecht zuständige II . Zivilsenat entschieden hat. 31 Wie der II . Senat die vorliegende Rechtsfrage beurteilen würde, ist vollständig offen. 32 Namhafte Gesellschaftsrechtler haben jedenfalls dem I. Senat die Gefolgschaft versagt. Kritisiert wird, der Beurteilung der Frage, ob der betreffende Idealverein eine vereinsrechtlich unzulässige wirtschaftliche Betätigung ausübe, habe es gar nicht bedurft, weil eine solche wirtschaftliche Be27 BGHZ 85, 84, 90; unter Berufung auf Hemmerich, Möglichkeiten und Grenzen wirtschaftlicher Betätigung von Idealvereinen, 1982, S. 134 f.; vgl. dieselbe, BB 1983, 26 ff.; i.E. ebenso Heckelmann AcP 179 (1979), 1, 46 ff.; aus dem neueren Schrifttum – allerdings ohne Begründung – Sauter/Schweyer/Waldner, Der eingetragene Verein, 17. Aufl., 2001, S. 29 Rn. 46 und Stöber, Handbuch zum Vereinsrecht, 8. Aufl., 2000, S. 35 Rn. 53; Heinrichs in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 63. Aufl., 2004, § 21 Rn. 3. 28 BGHZ 85, 84, 90 f. 29 Vgl. Reuter ZIP 1984, 1052, 1053: „… noch nicht das letzte Wort gesprochen“. 30 Das durch Gesetz vom 22. 4. 2002 ( BGBl . I, S. 1310) in der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht aufgegangen ist. 31 Darauf weist z. B. Kübler ZHR 147 (1983), S. 454 hin. 32 Hadding in Lutter, Marcus (Hrsg.) Umwandlungsgesetz, 2. Aufl. 2000, § 149 Rn. 3 Fn. 5; Steinbeck/Menke NJW 1998, 2169, 2171.

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tätigung von vorneherein ungeeignet sei, einen Verstoß gegen § 1 UWG zu begründen, solange nicht besondere wettbewerbswidrige Umstände (z. B. Vorsprung durch Rechtsbruch) hinzuträten. 33 Denn es handele sich bei §§ 21, 22 BGB um „wertneutrale“ Regeln oder „bloße Ordnungsvorschriften“, deren Missachtung nicht zum Vorwurf der Unlauterkeit führen könne. 34 Im Mittelpunkt der Kritik stehen freilich die konzernrechtlichen und die vereinsrechtlichen Thesen des Bundesgerichtshofs. So ist insbesondere das zentrale, auf Ulmer zurückgehende Argument des Gerichts 35 angegriffen worden, das Fehlen einer wirtschaftlichen Haftungsgrundlage mangels einer für den eingetragenen Verein gesetzlich vorgeschriebenen Mindestkapitalausstattung werde dadurch ausgeglichen, dass die Ansprüche der Gläubiger der abhängigen Aktiengesellschaft gegen den Verein ergänzt würden durch die persönliche Haftung des Vorstands des herrschenden Unternehmens und der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der abhängigen Gesellschaft. Hiergegen ist vorgetragen worden, man könne nicht Schwächen der Haftung des herrschenden Unternehmens durch die persönliche Haftung der Mitglieder der Unternehmensleitung kompensieren, wenn das Gesetz – wie § 317 AktG – diese persönliche Haftung zusätzlich anordne. Da das Gesetz beides – Haftung des Unternehmens und der Unternehmensleitung – wolle, sei die These, eines reiche aus, ein Argument contra legem. 36 Andere bemängeln, der I. Senat habe die vereinsrechtliche Problematik der Mehrheitsbeteiligung an einer Kapitalgesellschaft nicht voll ausgeleuchtet. Der I. Senat habe nämlich die Interessen der Gläubiger des herrschenden Vereins unberücksichtigt gelassen, die bei ihren geschäftlichen Dispositionen darauf vertrauen dürften, dass ein Idealverein allenfalls in dem durch das Nebentätigkeitsprivileg begrenzten Umfang wirtschaftlich tätig werde. Deshalb gebiete es das den Gläubigern des Vereins aufgebürdete wirtschaftliche Risiko, das mit dessen Stellung als herrschendem Unternehmen verbunden sei (z. B. konzernrechtliche Verlustausgleichspflicht), die wirtschaftliche Betätigung der abhängigen Gesellschaft dem Verein zuzurechnen. 37 Diese Zurechnung fordere auch der beim Verein nur schwach ausgeprägte Mitgliederschutz – es fehle beispielsweise ein unabdingbarer Zuständigkeitsbereich der Mitgliederversammlung und eine Befugnis zur Anfechtung von Beschlüssen der Mitgliederversammlung38 –, andernfalls bestehe die Soergel BGB -Hadding (Fn. 10) BGB , §§ 21, 22 Rn. 8a. Kübler ZHR 147 (1983), S. 454, 456. 35 BGHZ 85, 84, 91. 36 Reuter ZIP 1384, 1052, 1056; vgl. auch Flume, Die juristische Person, 1983, § 4 II , S. 114; i.E. ebenso K. Schmidt AcP 182 (1982) S. 21, 21; ders. NJW 1983, 543, 545. 37 Soergel BGB -Hadding (Fn. 10) §§ 21, 22 Rn. 41; Reichert/van Look, Handbuch des Vereins- und Verbandsrechts, 6. Aufl., 1995, Rn. 112a; i.E. ebenso Reichert, Handbuch des Vereins- und Verbandsrechts, 9. Aufl., 2003, Rn. 112 a. 38 Soergel BGB-Hadding (Fn. 10) §§ 21, 22 Rn. 7. 33 34

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Gefahr, dass die Verwaltung des Vereinsvermögens dem Einfluss der Vereinsmitglieder entzogen werde. 39 Diese unmittelbar im Anschluss an den Erlass des ADAC -Urteils geäußerte Kritik hat keineswegs nachgelassen. Eine Zeitlang wurde die Ablehnung der Rechtsprechung des I. Senats in Lehrbüchern, 40 Kommentaren 41 und kurzen Beiträgen42 weitergetragen. Neu entfacht wurde die Diskussion dann, als vor bald zehn Jahren im Bereich des bezahlten Fußballs zunehmend diskutiert wurde, die Profiabteilungen der als eingetragene Vereine organisierten Bundesligaclubs auf Kapitalgesellschaften auszugliedern. Vieles wurde diskutiert. Manche vertieften die Kritik an der konzernrechtlichen Argumentation des I. Senats. 43 Andere fragten mit Blick auf diese Argumentation nach der konzernrechtlichen Unternehmensqualität eines Vereins, der nur an einer einzigen Gesellschaft maßgeblich beteiligt ist 44 – eine Frage, die hier nicht weiterverfolgt werden muss, weil der in Rede stehende Verein nicht nur mehr als 75 Prozent der Anteile an der Börsenmaklergesellschaft hält, sondern auch Alleinaktionär der Börsenträgeraktiengesellschaft ist. Ferner wurde untersucht, ob sich der Streit über die Zulässigkeit unternehmerischer Betätigung von Idealvereinen durch das Inkrafttreten des Umwandlungsgesetzes im Jahre 1994 erledigt hat. 45 §§ 149 Abs. 1, 123 Abs. 3, 124 Abs. 1 Satz 2, 3 Abs. 1 Nr. 4 UmwG erlauben nämlich seither eingetragenen Vereinen, aus ihrem Vermögen Teile auszugliedern zur Aufnahme oder zur Neugründung durch Übertragung dieser Teile auf einen bestehenden oder den neu gegründeten Rechtsträger. Wesentlich ist dabei, dass diese Ausgliederung „gegen Gewährung von Anteilen … dieses Rechtsträgers … an den übertragenden Rechtsträger“ geschieht (§ 123 Abs. 3 UmwG a. E.). Da solche Rechtsträger nach §§ 124 Abs. 1 Satz 2, 3 Abs. 1 Nr. 2 UmwG Kapitalgesellschaften sein können, ist in § 123 UmwG vorausgesetzt, dass ein eingetragener Verein Aktionär einer Aktiengesellschaft sein darf. Insoweit kann die seit jeher überwiegend vertretene Auffassung, nicht jede gesellschaftsrechtliche Beteiligung eines eingetragenen Vereins sei eintragungshindernd, vielmehr sei auch dem nichtwirtschaftlichen Verein der Beteiligungserwerb grundsätzlich erlaubt, nunmehr auf eine sichere gesetzliche Grundlage gestützt werden. Dieses erlaubt freilich keineswegs den weiteren Schluss, eingetragenen Vereinen sei Soergel BGB -Hadding (Fn. 10) §§ 21, 22 Rn. 41; Reuter ZIP 1984, 1052, 1058. Emmerich/Sonnenschein Konzernrecht, 6. Aufl., 1997, § 29a S. 461; jetzt Emmerich/Sonnenschein/Habersack, Konzernrecht, 7. Aufl. 2001, § 37 S. 535 f. 41 Weick in Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 13. Bearb. 1995, § 21 Rn. 8. 42 Eyles NJW 1996, 1994. 43 Heermann ZIP 1998, 1249, 1257, 1258; Schießl, Die Ausgliederung von Idealvereinen auf Kapitalgesellschaften, 2003, S. 146 ff. 44 Segna ZIP 1997, 1901, 1906; Wagner NZG 1999, 469, 474; Balzer ZIP 2001, 175, 182 f. 45 Segna ZIP 1997, 1901, 1907. 39 40

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der Erwerb von Anteilen an wirtschaftlich tätigen Kapitalgesellschaften uneingeschränkt erlaubt. 46 Das Umwandlungsgesetz hat nämlich die Vorschriften in §§ 21, 22 BGB nicht geändert und nicht ändern wollen. Was ein Verein ist und unter welchen Voraussetzungen er seine Rechtsfähigkeit verliert, bestimmt sich mithin ausschließlich nach diesen Regelungen. Das Umwandlungsgesetz stellt, ohne sich mit der Struktur der von ihm in § 3 UmwG erfassten Rechtsträger zu befassen, lediglich rechtliche Formen für Umwandlungen zur Verfügung. Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn die Annahme, der Erwerb einer Mehrheitsbeteiligung an einer Kapitalgesellschaft – auch durch Ausgliederung – führe zum Verlust der Rechtsfähigkeit des Vereins, die Bestimmungen in §§ 149, 123, 3 UmwG stets leer laufen lassen würde. Denn dann müsste angenommen werden, dass der Gesetzgeber diese Vorschrift gerade auf solche Vorgänge zugeschnitten und damit ihre Unbedenklichkeit vorausgesetzt hat. Freilich steht dieser Annahme entgegen, dass § 149 UmwG ungeachtet vereinsrechtlicher Betrachtungen seine Funktion in vollem Umfang behält. Es sind nämlich viele Fälle einer Ausgliederung denkbar, bei denen der Erhalt der Rechtsfähigkeit des übertragenden Idealvereins außer Frage steht. § 149 UmwG unterfällt es beispielsweise, wenn ein nichtwirtschaftlicher Verein auf einen Idealverein ausgliedert. 47 Selbstverständlich wird dabei der übertragende Verein nicht zum wirtschaftlichen. Genauso liegen die Dinge, wenn der Idealverein zwar auf eine Kapitalgesellschaft ausgliedert, diese Gesellschaft aber, was die Vorschrift in § 3 Abs. 1 AktG bekanntermaßen ausdrücklich erlaubt, 48 gemeinnützige Ziele verfolgt. Raum für die Anwendung von § 149 UmwG bleibt selbst dann, wenn der übernehmende Rechtsträger eine Kapitalgesellschaft ist, die wirtschaftlich tätig ist. Insbesondere mit Blick auf die Ausgliederung einer nach wirtschaftlichen Grundsätzen betriebenen Abteilung aus einem eingetragenen Verein auf einen gewerblichen Rechtsträger ist diese Bestimmung geschaffen worden. 49 Mit dem Vereinsrecht kollidiert eine solche Spaltung beispielsweise dann nicht, wenn der Verein an der übernehmenden Gesellschaft lediglich eine Minderheitsbeteiligung erwirbt, weil der Erwerb einer derartigen Beteiligung nach überwiegender Meinung die Rechtsfähigkeit des Vereins nicht bedroht. Nicht einmal der Erwerb einer Mehrheitsbeteiligung an einer wirtschaftlich tätigen Kapitalgesellschaft macht einen Verein zum wirtschaftlichen Verein. Vielmehr bleibt er Idealverein, solange die Mehrheitsbeteiligung vom Nebentätigkeitsprivileg gedeckt ist. Selbst wenn der Mehrheitserwerb zu einem konzernrechtlichen Sachverhalt führt, mithin die Rechtsfähigkeit des Vereins bedroht, unterfällt 46 47 48 49

Richtig Segna ZIP 1997, 1901, 1907. Lutter UmwG-Hadding (Fn. 32), § 149 Rn. 9. Vgl. nur Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, § 10 S. 81 Rn. 9. Vgl. Lutter UmwG-Hadding (Fn. 32) § 149 Rn. 4.

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die Ausgliederung den Vorschriften des Umwandlungsgesetzes. Die Rechtsfähigkeit des betreffenden Vereins endet nämlich wegen einer solchen Ausgliederung keineswegs automatisch, sondern nur durch einen Verwaltungsakt der zuständigen Behörde gemäß § 43 Abs. 2 BGB . Solange die Behörde untätig bleibt, behält der Verein seine Rechtsfähigkeit und es besteht deshalb kein Anlass, den beschriebenen Vorgang der Ausgliederung aus dem Anwendungsbereich der Regelung in § 149 UmwG herauszunehmen. Hieraus wird deutlich, dass die vereinsrechtlichen und die umwandlungsrechtlichen Vorschriften zwei unterschiedliche, nur lose miteinander verbundene Regelungskreise bilden, mithin das Umwandlungsrecht zur Klärung der Frage, ob sich ein Idealverein erlaubtermaßen extern wirtschaftlich betätigt, nichts beitragen kann. Von wieder anderer Seite ist schließlich vorgetragen worden, die konzernrechtliche, auf den Schutz der Gläubiger der abhängigen Gesellschaft abstellende Argumentation des I. Senats gehe am Kern des Problems vorbei. Der Schutzzweck der §§ 21, 22 BGB umfasse allein den Schutz der Gläubiger des Vereins, also des herrschenden Unternehmens, nicht hingegen den Schutz der Gläubiger der abhängigen Gesellschaft. Deshalb müsse die wirtschaftliche Betätigung der Kapitalgesellschaft dem Verein zugerechnet werden, wenn sie zugleich das Vereinsvermögen gefährde und damit die Vereinsgläubiger bedrohe.50 Diese Zusammenhänge scheint auch der I. Senat nicht übersehen zu haben. Denn er hat es, worauf sogleich einzugehen sein wird, nicht bei seinen Überlegungen zum konzernrechtlichen Verhältnis des Vereins zu seiner Tochtergesellschaft belassen. Vielmehr hat er im zweiten Teil seiner Entscheidung auch den Verein selbst und seine „eigenunternehmerischen Tätigkeiten“ in den Blick genommen, „die auf die Verschaffung vermögenswerter Vorteile zugunsten des Vereins oder seiner Mitglieder abzielen“.51

IV. Finanzierung einer Tochtergesellschaft und Nebentätigkeitsprivileg Der Grund dafür, dass der BGH im den vergangenen 22 Jahren nicht noch einmal Gelegenheit erhalten hat, über die wirtschaftliche Betätigung von Idealvereinen in Tochtergesellschaften zu befinden, dürfte darin liegen, dass sich die nach § 44 Abs. 1 BGB zuständigen Behörden von der Rechtsauffassung des I. Senats leiten lassen und zudem vielleicht darin, „dass man aus Gründen des Rechtsgefühls ‚Fünfe gerade sein‘ und manchen Verein trotz evidenter Wirtschaftstätigkeit noch als e.V. ‚durchrutschen‘ lässt“. 52 Gleich50

Steinbeck/Menke SpuRt 1998, 226, 228; vgl. ferner Wagner NZG 1999, 463, 474.

51

BGHZ 85, 84, 92.

52

K. Schmidt Gesellschaftsrecht, § 23 III , S. 674.

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wohl dürfen sich Börsenvereine, die Mehrheitsbeteiligungen an Kapitalgesellschaften halten, nicht in Sicherheit wiegen. Der BGH hat es nämlich, was in der wissenschaftlichen Diskussion fast vollständig ausgeblendet worden ist, 53 keineswegs bei der Erörterung des Problems belassen, ob die wirtschaftliche Betätigung der Tochtergesellschaft dem Verein aufgrund konzernrechtlicher Beherrschung zugerechnet werden müsse. Vielmehr hat das Gericht ganz unabhängig hiervon zusätzlich die Frage geprüft, ob der Verein andere Tätigkeiten entfaltet hat, die als wirtschaftliche Betätigung einzustufen sind. Der Kläger hatte vorgetragen, der Verein betätige sich unter anderem 54 deshalb wirtschaftlich, weil er das Aktienkapital der Tochtergesellschaft von 2 Millionen DM übernommen habe. Hierzu äußerte sich der BGH wie folgt: „Richtig ist …, dass diese … Tätigkeiten … in den Rahmen eines eigenen, rechtlich nicht verselbständigten Geschäftsbetriebs fallen und damit die Voraussetzungen für das Vorliegen eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs im Sinne der §§ 21 und 22 BGB erfüllen“. Mithin befasse sich der Verein „mit Aufgaben, die für sich genommen Gegenstand einer eigenunternehmerischen, selbständigen und wirtschaftlichen Betätigung sein können“. 55 Einen Verstoß dieser Betätigung gegen den Schutzzweck der §§ 21, 22 BGB verneinte der BGH nur deshalb, weil er sie als vom Nebentätigkeitsprivileg gedeckt ansah. 56 Diese Rechtsprechung ist zu Recht als „unklar“ bezeichnet worden. 57 Denn der BGH hat nicht erklärt, wieso es einerseits vereinsrechtlich unschädlich sein soll, wenn sich der Verein an einer Kapitalgesellschaft beteiligt, andererseits aber – vorbehaltlich des Nebentätigkeitsprivilegs – der Verlust der Rechtsfähigkeit droht, wenn der Verein das Kapital der Gesellschaft übernimmt. Ein näheres Hinsehen ergibt indes, dass diese Argumentation jedenfalls nicht in sich widersprüchlich ist. Im ersten Teil seiner Entscheidung hat sich der BGH nämlich nur mit den konzernrechtlichen Fragen einer Beteiligung befasst, während es im zweiten Teil des Urteils um Zahlungsvorgänge geht. Dem Gericht ist darin rechtzugeben, dass man diese beiden Tatbestände getrennt voneinander betrachten kann. Das sei an folgendem Beispiel erläutert: Die Anteile an einer Börsenträgeraktiengesellschaft hält eine GmbH & Co KG , die ihrerseits einem Verein gehört; der Verein stellt der Aktiengesellschaft Kapital über die zwischengeschaltete Gesellschaft zur Verfügung. Hier hält der Verein keine Anteile an der Aktiengesellschaft, sodass die vom BGH angestellten kon53 Ausnahmen bilden etwa Soergel BGB -Hadding (Fn. 10) §§ 21, 22 Rn. 43 Fn. 205 und Wagner NZG 1999, 469, 473. 54 Andere Tätigkeiten des Vereins für die Tochtergesellschaft waren: Beratung, Überlassung einer EDV -Anlage, Zurverfügungstellung von Mitgliederkarteien, Werbetätigkeiten, Marktsondierungsmaßnahmen, Zahlung weiterer 5 Millionen DM . 55 BGHZ 85, 84, 92 f. 56 BGHZ 85, 84, 94. 57 Soergel BGB -Hadding (Fn. 10) §§ 21, 22 Rn. 43.

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zernrechtlichen Überlegungen nicht unmittelbar einschlägig sind. Und die Zahlung an die Personengesellschaft ist keine Leistung auf das Aktienkapital, weil diese Leistung erst durch die Personengesellschaft erfolgt. Deshalb bleibt es hier wie stets den Gerichten unbenommen, solche Zahlungen als „eigenunternehmerische Tätigkeiten“ zu beurteilen, „die auf die Verschaffung vermögenswerter Vorteile zugunsten des Vereins … abzielen“.58 Für die bei Übernahme einer Aktiengesellschaft erfolgende Zahlung des Kaufpreises kann nichts anderes gelten. Dafür spricht, dass die Zahlung des Kaufpreises der Leistung auf das Aktienkapital funktional gleich stehen kann. Wollte man letzteres anders sehen, könnte der Schutzzweck der §§ 21, 22 BGB allzu leicht dadurch umgangen werden, dass ein Ausgliederungswilliger zunächst eine Strohmanngründung veranlasst, um anschließend dem Strohmann die Anteile an der neu gegründeten Gesellschaft abzukaufen. Deshalb ist in einem letzten Schritt zu fragen, ob der Erwerb von 75 Prozent der Anteile an einer Börsenmaklergesellschaft durch einen Börsenverein vom vereinsrechtlichen Nebentätigkeitsprivileg erfasst wird. Feste Kriterien für die Beantwortung dieser Frage sind schwer fassbar. Überwiegend wird darauf abgestellt, ob die wirtschaftliche Betätigung der Verfolgung des nicht wirtschaftlichen Hauptzwecks funktional dient, wobei man es nicht ausreichend sein lässt, wenn die Verbindung von Nebentätigkeit und Hauptzweck nur in der Mittelbeschaffung besteht, und darauf hinweist, dass zur effektiven Zweckverfolgung eines Großvereins eine wirtschaftliche Tätigkeit erheblichen Umfangs gegebenenfalls notwendig sein könne, während der gleiche Umfang unternehmerischer Betätigung bei einem kleineren Verein den Rahmen des Nebentätigkeitsprivilegs deutlich überschreiten könne. 59 Wie nun die Dinge bei besagtem Börsenverein mit seinen rund vierzig Mitgliedern liegen ist Tatfrage. Jedenfalls dürfte ins Gewicht fallen, dass der Verein einen erheblichen Betrag, nämlich einen mittleren zweistelligen Millionenbetrag in Euro, für den Erwerb der Anteile an der Börsenmaklergesellschaft aufgewendet hat und die Erträge aus dieser Beteiligung wohl auch dem Börsenträger zugute kommen, 60 der die Beträge für den Anteilserwerb zu einem großem Teil durch Veräußerung seiner Beteiligung an einem anderen Börsenträger aufgebracht hat. 61 Legt man mithin der Betrachtung den zweiten Teil des ADAC -Urteils des BGH zugrunde, ist es nicht ausgeschlossen, dass ein Börsenverein, der eine solche Übernahme tätigt, als wirtschaftlicher Verein betrachtet werden muss, folglich der Verlust der Rechtsfähigkeit drohen kann. Vgl. BGHZ 85, 84, 92. Soergel BGB -Hadding (Fn. 10) §§ 21, 22 Rn. 35, 36. 60 Der Börsenmakler hat es sich zur Aufgabe gemacht, zusammen mit dem Börsenträger den Ausbau des lokalen Finanzplatzes voranzutreiben, Börsenzeitung v. 20. 9. 2003, S. 7. 61 Vgl. A. Schmidt AG 2003, R 53; Börsenzeitung vom 15. 8. 2003, S. 3. 58 59

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V. Ausblick: Gruppenbildung im deutschen Börsenwesen und Eigenmittelkontrolle 1. Die Welt der deutschen Wertpapierbörsen ist vielschichtiger geworden, auch in rechtlicher Hinsicht. Die Frage nach der vereinsrechtlichen Zulässigkeit der Mehrheitsbeteiligung eines Börsenvereins an einer Kapitalgesellschaft bildet lediglich einen Ausschnitt aus einem ständig wachsenden Problemfeld. Seit einigen Jahren ist nämlich eine Konsolidierung im europäischen Börsenwesen zu beobachten, die auch bei den deutschen Börsen zunehmend zu Gruppenbildungen führt. Was das europäische Ausland angeht, ist an erster Stelle auf das Börsenbündnis Euronext hinzuweisen, das die Börsen in Paris, Brüssel und Amsterdam eingegangen sind und dem sich auch die Börse in Lissabon angeschlossen hat. Dieses Bündnis hat vor einiger Zeit zudem die englische Terminbörse Liffe übernommen. In Spanien haben sich die Börsen in Barcelona, Bilbao, Madrid und Valencia sowie MF Mercados Financieros und Iberoclear zur Bolsas y Mercados Espanoles Group zusammengeschlossen. Die isländische Börse, die Börse in Kopenhagen, Oslo Börs und Stockholmsbörsen haben die strategische Allianz NOREX begründet. Schließlich haben sich auch die Helsinki Stock Exchange, zu der die Börsen in Finnland, Estland und Lettland gehören, mit den Betreibern der Stockholmer Börse, OM , zusammengeschlossen. In Deutschland erfolgte die Gruppenbildung in so unterschiedlicher Form, dass hier nur einige grobe Linien gezeichnet werden können. Am einfachsten strukturiert ist die Gruppe um die Börse Düsseldorf. Sie besteht aus eben dieser Börse und einer nicht börsennotierten Börsenträgeraktiengesellschaft, die aus der Auflösung des vormals börsentragenden Börsenvereins hervorgegangen ist. 62 Gleichwohl gibt es hier eine interessante Besonderheit. Während früher an den deutschen Börsen häufig der Vorstand des Trägers und die Geschäftsführung der Börse personenidentisch waren (Personalunion), finden wir bei der Börse Düsseldorf eine Personenidentität des Vorsitzenden des Börsenrats der Börse, der zugleich Aufsichtsratsvorsitzender des Trägers ist, mit einem persönlich haftenden Gesellschafter eines Handelsteilnehmers, der an der Börsenträgeraktiengesellschaft beteiligt ist und eine Personenidentität des Geschäftsführers der Börse und Vorstands des Trägers mit einem Syndikus eben dieses Handelsteilnehmers. Etwas komplexer ist der Verbund der Börsen in Hamburg und Hannover, weil hier nur ein Börsenträger vorhanden ist, der also zwei öffentlichrechtliche Börsen trägt. Genau umgekehrt lagen die Dinge bei den ursprünglich selbständigen Börsen in Bremen und Berlin, welche zu einer einzigen öffentlichrechtlichen Börse zusammengeführt worden sind, die von zwei Trägern getragen wird. 62

Hierzu und zum Folgenden A. Schmidt AG 2003, R 53 f.

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Die Börse in München wird von einer Aktiengesellschaft getragen, auf die der Börsenbetrieb ausgegliedert worden ist und deren Anteile vollständig einer GmbH & Co KG gehören. Einziger Gesellschafter der GmbH und alleiniger Kommanditist der Kommanditgesellschaft ist ein Börsenverein.63 Eine ähnliche Konstruktion ist auch bei der Börse in Stuttgart gewählt worden, allerdings mit dem Unterschied, dass der Börsenverein unmittelbar Alleinaktionär der Börsenträgeraktiengesellschaft ist und dass er mit der Übernahme von etwas mehr als 75 Prozent der Anteile an einem Börsenmakler einen Skontroführer in die Gruppe einbezogen hat, der 80 Prozent aller Aufträge an diesem Börsenplatz betreut. Die komplexeste Gruppe im deutschen Börsenwesen ist die Deutsche Börse in Frankfurt. Die Trägerin der Frankfurter Wertpapierbörse, eine börsennotierte Aktiengesellschaft, hält unter anderem ganz oder teilweise unmittelbar oder mittelbar Anteile an dem Träger der Terminbörse Eurex, an der Wertpapiersammelbank Clearstream, an zwei außerbörslichen Handelsplattformen, an einer Gesellschaft, die das elektronische System der Börse pflegt, und an einer Software-Firma. Die rechtlichen Fragen, die solche Gruppenbildungen hervorrufen, sind vielfältig. Im Folgenden soll in einem Ausschnitt die Frage angerissen werden, unter welchen Voraussetzungen Gruppen, denen ein Börsenträger angehört, der Aufsicht über die Eigenmittelausstattung von Kreditinstitutsgruppen und Finanzholding-Gruppen durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht nach § 10a KWG unterfallen. § 10a Abs. 1 Satz 1 KWG bestimmt, dass die Unternehmen einer Institutsgruppe oder einer Finanzholding-Gruppe insgesamt ein angemessenes haftendes Eigenkapital haben müssen. Eine Institutsgruppe besteht aus einem übergeordneten Institut – also einem Kredit- oder Finanzdienstleistungsinstitut (§ 1 Abs. 1b KWG ) – und nachgeordneten Tochterunternehmen – also Unternehmen, die als Tochterunternehmen im Sinne des § 290 HGB gelten oder auf die ein beherrschender Einfluss ausgeübt werden kann (§ 1 Abs. 7 KWG ) –, die selbst Institute, Finanzunternehmen oder Unternehmen mit bankbezogenen Hilfsdiensten sind (§ 10a Abs. 2 KWG ). Solche Institute und Unternehmen sind auch dann in die Konsolidierung einzubeziehen, wenn sie Tochteroder Enkelunternehmen von gruppenangehörigen Tochterunternehmen sind.64 Eine Finanzholding-Gruppe besteht im Grundsatz, wenn einer Finanzholding-Gesellschaft (§ 1 Abs. 3a KWG ) Institute, Finanzunternehmen oder Unternehmen mit bankbezogenen Hilfsdiensten als Tochterunternehmen nachgeordnet sind (§ 10a Abs. 3 KWG ). Welche Bedeutung haben diese Festlegungen für das deutsche Börsenwesen? 63 Zur Beteiligung eines Vereins an einer Personenhandelsgesellschaft vgl. Sauter/Schweyer/Waldner, Der eingetragene Verein, S. 30 Rn. 46. 64 Reischauer/Kleinhans KWG , Erg.-Lfg. 2/03, § 10a S. 10.

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2. Anfänglich war die Börsenwelt überschaubar. Öffentlichrechtliche Einrichtungen (Industrie- und Handelskammern) und privatrechtliche Vereine trugen die deutschen Börsen. Der Freiverkehr an den Börsen wurde meist von Effektenhändlervereinigungen organisiert. 65 Da der Träger die Börse trägt, aber an ihr als Anstalt des öffentlichen Rechts keine Anteile hält (halten kann), schied eine Eigenmittelkontrolle nach § 10a KWG von vorneherein aus. Zudem war das Kreditwesengesetz nicht anwendbar, weil weder der Träger, noch die Börse selbst Bankgeschäfte im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 2 KWG betrieben. Die Rechtslage änderte sich freilich, als im Jahre 1997 die 6. KWG -Novelle 66 erlassen wurde, die nunmehr auch die Finanzdienstleistungsinstitute der Aufsicht durch die Bundesanstalt für das Kreditwesen (jetzt: Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht) unterstellte (§ 1 Abs. 1a KWG ). Bevor nun die durch diese Novelle veranlasste Änderung der Rechtslage näher dargestellt werden kann, ist zunächst kurz zu erläutern, wie sich das Börsengesetz zu Gruppenbildungen im deutschen Börsenwesen verhält. Aus den Vorschriften des Börsengesetzes ergibt sich, dass die Börse eine eigenständige, teilrechtsfähige (vgl. § 12 Abs. 2 BörsG)67 Einrichtung, nämlich eine Anstalt des öffentlichen Rechts ist. Über die Rechtsform des Trägers sagt das Gesetz, obwohl es ihn öfter erwähnt (§§ 1 Abs. 2, 3, 7 Abs. 1, 9 Abs. 2 Satz 4, 12 Abs. 2 BörsG), jedenfalls nichts Ausdrückliches. Freilich kann aus §§ 4 Abs. 1 Satz 2, 5 Abs. 2 Satz 2 BörsG a. F. („Sofern eine öffentlichrechtliche Körperschaft Träger der Börse ist“) erschlossen werden, dass es auch Börsenträger in anderer – mindestens in anderer öffentlichrechtlicher – Rechtsform geben kann. Diese Vorschriften sind, obgleich sie durch das 4. Finanzmarktförderungsgesetz gestrichen worden sind, auch gegenwärtig noch bedeutsam, weil der Gesetzgeber mit dieser Streichung keine inhaltliche Aussage über mögliche Börsenträger machen, sondern lediglich die ungerechtfertigte bevorzugte Stellung der öffentlichrechtlichen Börsenträger 68 beseitigen wollte. 69 Dass auch privatrechtliche Rechtssubjekte Börsen tragen können, ist in § 3 BörsG vorausgesetzt. Wenn in § 3 Abs. 1 Satz 6, Abs. 5 Satz 1, Abs. 6 BörsG vom Über- oder Unterschreiten bestimmter Schwellen von Beteiligungen am „Kapital“ eines Börsenträgers gesprochen wird, können damit nur Privatrechtssubjekte gemeint sein, weil es ein Kapital bei öffentlichrechtlichen Einrichtungen nicht gibt. Hieraus wird zugleich deutlich, dass Kapitalgesellschaften Börsenträger werden Kümpel, Bank- und Kapitalmarktrecht, Rn. 17.631. BGBl . I, S. 2518. 67 Die Vorschrift in § 12 Abs. 2 S. 1 BörsG, die den Geschäftsführern die Vertretung der Börse zuweist, belegt, dass es einen Vertretenen, also ein Rechtssubjekt gibt. 68 Solche Träger gibt es übrigens bei Warenbörsen immer noch. 69 Vgl. BT-Drucks. 14/8017, S. 205; Hammen AG 2001, 549, 554. 65 66

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können. Ein gewisses weiteres Indiz hierfür ergibt sich aus §§ 1 Abs. 3, 9 Abs. 2 Satz 4 BörsG. Nach § 1 Abs. 3 BörsG muss der Börsenträger bei der Auslagerung von börsenbetriebswesentlichen Funktionen sicherstellen, dass die ordnungsmäßige Durchführung des Handels an der Börse nicht beeinträchtigt wird. Nach § 9 Abs. 2 Satz 4 BörsG ist dem Börsenrat bei Fusionsabkommen des Börsenträgers zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Diese Vorschriften besagen zwar über die Rechtsform des auslagernden oder fusionierenden Trägers sowie über die Rechtsformen der Auslagerung oder der Fusion nichts unmittelbar. Sie haben gleichwohl indizielle Wirkung. Ihr Erlass ist nämlich eine Reaktion des Gesetzgebers auf Bestrebungen der Deutsche Börse AG , mit der London Stock Exchange zu fusionieren, und darauf, dass in der Gruppe Deutsche Börse Funktionen der Börsengeschäftsabwicklung auf eine Tochtergesellschaft ausgegliedert worden sind.70 Da es mithin Gestaltungen dieser Art waren, die der Gesetzgeber gesetzlich erfassen wollte, hat er die Trägerschaft durch Private auch durch den Erlass der Bestimmungen in §§ 1 Abs. 3, 9 Abs. 2 Satz 4 BörsG stillschweigend akzeptiert. 3. Im Folgenden kann es nicht darum gehen, jede einzelne der unter V. 1. geschilderten Gruppenbildungen eigenmittelrechtlich zu verorten. Angesichts der Vielfalt dieser Formen ist vielmehr eine Beschränkung auf Grundtypen angezeigt. Bankaufsichtsrechtlich irrelevant ist es, wenn statt eines Vereins oder einer Industrie- und Handelskammer eine Aktiengesellschaft, die sich hierauf beschränkt, eine Börse trägt. Das Tragen einer Börse ist nämlich für sich genommen weder Bankgeschäft, noch Finanzdienstleistung, noch kann es den Tätigkeiten zugeordnet werden, die ein Unternehmen zum Finanzunternehmen (vgl. § 1 Abs. 3 KWG ) und damit gegebenenfalls zur Finanzholding-Gesellschaft werden lassen. Soweit der Börsenträger auch den Freiverkehr in der Form der Vermittlungsmakelei betreibt, ist er zwar Finanzdienstleistungsinstitut nach § 1 Abs. 1a Satz 2 Nr. 1 KWG . 71 § 10a KWG ist gleichwohl unanwendbar, weil die Börse kein nachgeordnetes Unternehmen ist, mithin mit ihrem Träger keine Gruppe (Begriff in § 10a Abs. 1 Satz 1 KWG ) bildet. Ebenfalls unanwendbar ist diese Vorschrift in Fällen, in denen der Börsenträger einem Börsenverein gehört, ohne dass dieser Verein weitere Beteiligungen hält. Zwar reicht es für das Vorhandensein einer Gruppe hin, dass einem übergeordneten Unternehmen ein einziges Tochterunternehmen nachgeordnet ist. 72 Aber selbst wenn der Börsenträger den Kritisch zur Einführung dieser Bestimmungen Beck BKR 2002, 662, 666 f. Hierzu Hammen WM 2001, 929, 938 ff. Die nach dem Erlass des 4. Finanzmarktförderungsgesetzes, insbesondere nach der Einführung von § 59 BörsG noch einmal zu diskutierende Frage, ob auch der Betrieb des Freiverkehrs in der Form der Nachweismakelei Finanzdienstleistung ist (vgl. Hammen WM 2001, 929, 937 Fn. 79), bleibt hier und im Folgenden ausgeklammert. 72 Reischauer/Kleinhans KWG , § 10a, S. 11. 70 71

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Freiverkehr in der Form der Vermittlungsmakelei betreibt und deshalb Finanzdienstleistungsinstitut ist, liegt keine Institutsgruppe vor, weil der Börsenverein kein Kredit- oder Finanzdienstleistungsinstitut ist. Auch eine Finanzholding-Gruppe nach § 10a Abs. 3 KWG bilden der Verein und der Träger selbst dann nicht, wenn der Träger als Finanzdienstleistungsinstitut einzustufen ist. Zwar ist dem Verein dann ein Wertpapierhandelsunternehmen (§ 1 Abs. 3 d S. 2 KWG i.V.m. § 1 Abs. 1a Satz 2 Nr. 1 KWG ) als Tochtergesellschaft nachgeordnet. An einer FinanzholdingGruppe fehlt es gleichwohl, weil einer solchen Gruppe in jedem Fall zwei nachgeordnete Unternehmen angehören müssen. 73 Die Rechtslage ändert sich indes, wenn der Verein eine Börsenmaklergesellschaft erwirbt, weil ein solches Unternehmen ein Wertpapierhandelsunternehmen ist. Dann ist ausschlaggebend, ob der Börsenträger als Institut zu betrachten ist oder nicht. § 10 a Abs. 3 KWG verlangt nämlich eine Mehrzahl von Unternehmen i.S.v. § 10 a Abs. 2 Satz 2 KWG (Institute, Finanzunternehmen, Unternehmen mit bankbezogenen Hilfsdiensten). 74 Wieder anders liegen die Dinge, wenn dem Börsenträger keine Muttergesellschaft übergeordnet ist. Solches ist bei Börsen zu beobachten, bei denen die Handelsteilnehmer – und die Anleger – unmittelbar und nicht bloß über einen dazwischengeschalteten Verein an der Trägergesellschaft beteiligt sind. Zwar bestehen hier gelegentlich bedeutende Beteiligungen strategischer oder institutioneller Investoren nach § 1 Abs. 9 KWG , wenn nämlich mehr als 10 Prozent des Kapitals des Trägers gehalten werden. Die Schwellenwerte, die den Inhaber einer bedeutenden Beteiligung zum Mutterunternehmen (§ 1 Abs. 6 KWG ) werden lassen, werden indes in der Praxis nicht erreicht. Betreibt nun ein solcher Börsenträger den Freiverkehr über ein elektronisches Handelssystem (vgl. §§ 11 Abs. 1 Satz 2 BörsG a.F., 25 Satz 1 BörsG n.F.), also als Vermittlungsmakler, 75 ist er Finanzdienstleistungsinstitut. Mithin kann er, obwohl er nicht befugt ist, sich bei der Erbringung seiner Leistung Eigentum an Wertpapieren von Kunden zu verschaffen, eine Institutsgruppe nach § 10a Abs. 2 KWG bilden, weil die Vorschrift in § 2 Abs. 8 KWG solche Vermittler zwar von einer Reihe von Bestimmungen, nicht aber von der Regelung in § 10a KWG ausnimmt. 76 An dieser Stelle zeigt sich nun, wie bedeutsam die kreditwesenrechtliche Einordnung der Tätigkeit des Börsenträgers im Freiverkehr ist. Muss er wegen dieser Tätigkeit als Finanzdienstleistungsinstitut eingestuft werden, führt eine Beteili73 Boos/Fischer/Schulte-Mattler KWG , § 10a Rn. 34; Kokemoor Die Bankaufsicht auf konsolidierter Basis in Deutschland nach der 5. Novelle zum KWG , 1997, S. 73. 74 Boos/Fischer/Schulte-Mattler KWG , § 10a Rn. 34. 75 Vgl. Hammen WM 2001, 929, 934, 937. 76 „Die Vorschriften … der §§ 10, 11 … sind nicht anzuwenden“. Demgegenüber der Text von § 2 Abs. 7 KWG : „Die Vorschriften … der §§ 10 bis 18 … sind nicht anzuwenden“.

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gung des Trägers an einer Wertpapiersammelbank, die diese Bank zum Tochterunternehmen (§ 1 Abs. 7 KWG ) werden lässt, zur Bildung einer Institutsgruppe und damit zu der in § 10a Abs. 1 KWG bestimmten Konsolidierungspflicht. Lässt sich hingegen seine Einordnung als Finanzdienstleistungsinstitut vermeiden, ist er kein Institut und kann deshalb nicht an der Spitze einer Institutsgruppe nach § 10a Abs. 2 KWG stehen. Für die Bildung einer Finanzholdinggruppe fehlt es bereits daran, dass das Tochterunternehmen, die Wertpapiersammelbank, soweit es keine anderen relevanten Tätigkeiten entfaltet, kein Einlagenkreditinstitut und kein Wertpapierhandelsunternehmen (vgl. § 10a Abs. 3 Satz 1 KWG ) ist. Wertpapierhandelsunternehmen sind nämlich nach § 1 Abs. 3d Satz 2 KWG unter anderem nur solche Institute, die das Finanzkommissionsgeschäft und das Emissionsgeschäft (1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4, Nr. 10 KWG ), nicht aber solche, die wie die Wertpapiersammelbanken77 das Depotgeschäft (§ 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 KWG ) betreiben. Eine andere Rechtslage besteht allerdings, wenn der Gruppe weitere Unternehmen angehören, die als Finanzdienstleistungsinstitute einzustufen sind. Hierher gehören beispielsweise börsenähnliche Handelssysteme (§ 59 BörsG),78 wobei, wie sich aus §§ 1 Abs. 7 KWG , 290 Abs. 3 HGB ergibt, auch Töchter von Tochterunternehmen, die ihrerseits Mutterunternehmen (§ 1 Abs. 6 KWG ) sind, Tochterunternehmen des auf der höheren Stufe einzuordnenden, übergeordneten Mutterunternehmens sind. 79 In solchen Fällen kommt es für die Bildung einer konsolidierungspflichtigen Finanzholding-Gruppe darauf an, ob der Börsenträger als FinanzholdingGesellschaft eingestuft werden muss. Finanzholding-Gesellschaften sind Finanzunternehmen besonderer Art (vgl. § 1 Abs. 3a KWG ). Ein Börsenträger ist zum Beispiel ein – allerdings nicht als solches aufsichtspflichtiges (vgl. § 32 Abs. 1 Satz 1 KWG ) – Finanzunternehmen, wenn seine Haupttätigkeit darin besteht, Beteiligungen zu erwerben (§ 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 KWG ) oder zu halten. 80 Dies lässt sich um so eher annehmen, je mehr Beteiligungen der Träger an Instituten und Nichtbankunternehmen hält. Freilich macht die Einordnung eines Börsenträgers als Finanzunternehmen diesen nur dann zur Finanzholding-Gesellschaft, wenn seine Tochterunternehmen hauptsächlich Institute sind und er mindestens ein Wertpapierhandelsunternehmen zum Tochterunternehmen hat. Letzteres ist zu bejahen, soweit der Börsenträger – unmittelbar oder mittelbar – an einem börsenähnlichen Handelssystem beteiligt ist, weil dieses Handelssystem als Finanzdienstleistungsinstitut zugleich Wertpapierhandelsunternehmen ist, es sei denn, die Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Fülbier KWG , § 1 Rn. 65. Hammen WM 2001, 929, 931 f.; zum Begriff des außerbörslichen Handelssystems Kümpel in Festschrift für Walther Hadding, 2004, S. 915 ff. 79 Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Fülbier KWG , § 1 Rn. 210. 80 Vgl. Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Fülbier, KWG § 1 Rn. 174. 77 78

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Finanzdienstleistungen beschränken sich auf Derivate (§ 1 Abs. 3d Satz 2 KWG ). Das erstgenannte Tatbestandsmerkmal ist hingegen nur erfüllt, wenn unter den Tochternehmen, zu denen auch Softwareunternehmen, Informationsdienstleister und ähnliche gehören können, die Institute dominieren. Das ist anzunehmen, wenn die Hälfte der Bilanzsumme oder die Hälfte des Eigenkapitals aller Tochterunternehmen auf diese Institute entfällt. 81 Ist der Börsenträger wegen Fehlens dieses Tatbestandsmerkmals keine Finanzholding-Gesellschaft, bleibt eine Eingruppierung als gemischtes Unternehmen (§ 1 Abs. 3b KWG ). Dieses ist weit weniger einschneidend, weil gemischte Unternehmen keine nach § 10a KWG konsolidierungspflichtige Gruppe bilden können, sondern lediglich z. B. nach § 25 Abs. 2 Satz 2 KWG zur Übermittlung bestimmter Angaben verpflichtet sind.

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Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Fülbier KWG , § 1 Rn. 183.

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I. Die Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Meinungsstand in Judikatur und Schrifttum . . . . . . . . . . . . . III. Eigener Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kinder und Jugendliche als Werbeadressaten . . . . . . . . . . b) Die Stellung der Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten c) Beurteilungsmaßstab im Vergleich zum Verbraucherleitbild . . d) Verhältnis zum Rechtsbruchtatbestand . . . . . . . . . . . . . 2. Lösungskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) An wen richtet sich die Werbung oder das beworbene Produkt oder die beworbene Dienstleistung primär? . . . . . . . . . . b) Wer ist der Käufer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unlauterkeitsmomente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Autoritätsmissbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Unmittelbare Ansprache von Kindern und Jugendlichen . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Die Problemstellung In den zurückliegenden Jahren haben sich deutschlandweit die „Einkommen“ von Kindern und Jugendlichen in einem Ausmaß erhöht, das den Rest der Bevölkerung – von wenigen Ausnahmen abgesehen – vor Neid erblassen lassen könnte. Das dieser Gruppe hierzulande zur Verfügung stehende Geldvermögen stellt trotz des deutlichen Geburtenrückgangs einen nicht zu vernachlässigenden Wirtschaftsfaktor dar. Im Jahr 2003 (2001) verfügten die etwa 11,28 (11,45) Mio. Mädchen und Jungen im Alter von 6 bis 19 Jahren jährlich über 20,43 (16,44) Mrd. Euro.1 Dieser Betrag setzte sich zusammen

1 Die Daten sind entnommen der KidsVerbraucheranalyse 2003, im Internet abrufbar unter http://www.bauermedia.com/studien/markt_media_studien/kids_verbraucheranalyse/

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aus monatlich verfügbarem Geld i.H.v. 9,81 (7,72) Mrd. Euro, Geburtstagsgeld i.H.v. 0,95 (0,74) Mrd. Euro, Weihnachtsgeld i.H.v. 1,07 (0,81) Mrd. Euro sowie Sparguthaben i.H.v. 8,60 (7,16) Mrd. Euro. Die Einkommenssteigerung innerhalb von zwei Jahren betrug damit ca. 24 %! Es ist verständlich, dass insbesondere Unternehmen mit einer die jugendliche Zielgruppe ansprechenden Produktpalette in den vergangenen Jahren die Werbeaktivitäten zur Erschließung dieses lukrativen Marktes intensiviert haben. Überraschend ist deshalb die geringe Zahl von veröffentlichten Gerichtsentscheidungen zur lauterkeitsrechtlichen Beurteilung von Werbung gegenüber Kindern und Jugendlichen. Dies könnte sich aber nach dem In-Kraft-Treten der UWG -Reform zum 8. 7. 2004 geändert haben, weil seither die Problematik erstmalig im Gesetz ausdrücklich angesprochen wird. Gemäß § 4 Nr. 2 UWG handelt unlauter im Sinne von § 3 UWG , „wer Wettbewerbshandlungen vornimmt, die geeignet sind, die geschäftliche Unerfahrenheit insbesondere von Kindern und Jugendlichen, die Leichtgläubigkeit, die Angst oder die Zwangslage von Verbrauchern auszunutzen“. Dieser Hinweis des Gesetzgebers gibt Anlass, das bisherige Meinungsbild in Rechtsprechung und Schrifttum kritisch zu würdigen und zu fragen, ob nunmehr eine rechtliche Neuorientierung geboten ist. Anknüpfend an die genannte Vorschrift, ist in einem ersten Vorstoß bereits die Präsentation sog. „Quengelware“ im Bereich von Supermarktkassen, die auf minderjährige Besucher in bewusst kundenfreundlicher Griffhöhe besondere Anziehungskraft ausübt, als unlautere Wettbewerbshandlung eingestuft worden. 2 Bei einer solchen Sichtweise ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis man lauterkeitsrechtlich auch gegen die beliebten „Überraschungseier“ zu Felde ziehen wird. 3 Die Ausnutzung der geschäftlichen Unerfahrenheit von Kindern und Jugendlichen wird üblicherweise in drei Fallgruppen unterteilt: Einsatz von Kindern und Jugendlichen als Kaufmotivatoren, 4 Autoritätsmissbrauch durch den Werbenden 5 sowie die unmittelbare Ansprache von Kindern und Jugendlichen. Die erstgenannte Fallgruppe, die zu rechtlich überaus zweifelhaften Bewertungen mit weitreichenden Auswirkungen Anlass gegeben hat, kids_verbraucheranalyse.php (zuletzt besucht am 20. 8. 2004). Zu älteren Daten vgl. Eisenhardt WRP 1997, 283, 284 mwN. 2 Benz WRP 2003, 1160, 1164; vgl. zuvor bereits Brändel FS v. Gamm, 1990, S. 9, 20; Eisenhardt WRP 1997, 283, 290 Fn. 64. 3 Von deren genereller Unzulässigkeit bereits im Lichte des § 1 UWG aF ausgehend Brändel FS v. Gamm, 1990, S. 9, 21. 4 Vgl. hierzu stellvertretend Benz WRP 2003, 1160, 1161 ff.; Baumbach/Hefermehl Wettbewerbsrecht, 22. Aufl., 2001, § 1 UWG aF Rn. 199 spricht hingegen von einem „Unterdrucksetzen der Eltern“. 5 Vgl. zur Musterklage der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) gegen Kellogg’s wegen der Werbeaktion „Kellogg’s Frosties für den Schulsport“ die Pressemitteilung der Klägerin vom 7. 11. 2003, abrufbar unter http://www.vzbv.de/go/presse/312 (zuletzt besucht am 20. 8. 2004).

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steht im Zentrum der nachfolgenden Erwägungen (vgl. Abschnitte II . sowie III . 1.). Im Rahmen des hernach zu entwickelnden eigenen Lösungsansatzes werden sodann die beiden anderen Problemkonstellationen gewürdigt (vgl. Abschnitt III . 2.). Mag der Jubilar zusammen mit seiner Frau Sitta vier Kinder auch ohne derartige juristische Analysen überaus erfolgreich aufgezogen haben, so dürfte für ihn die Rechtsproblematik gleichwohl nach wie vor praktische Relevanz haben: Aus kleinen Kindern werden große Kinder, aus Eltern werden Großeltern – und diese hüten von Zeit zu Zeit gerne die Enkel, gehen mit ihnen spazieren, unternehmen Ausflüge und stoßen hierbei mit den Kleinen sicherlich auch auf Kioske, Geschäfte, Gaststätten, Eiscafés …

II. Meinungsstand in Judikatur und Schrifttum Den Ausgangspunkt der BGH -Rechtsprechung zur Werbung gegenüber Kindern und Jugendlichen bildet die Puppenservice-Entscheidung, 6 die im Schrifttum vielfach kritisiert worden ist. 7 Die Hersteller von Kaffee-Ersatzmischungen hatten ihren Erzeugnissen Puppenserviceteile hinzugefügt. Das Gericht lehnte sowohl einen Verstoß gegen die – inzwischen aufgehobene – Zug abeVO als auch gegen § 1 UWG aF wegen Ausnutzens des Spiel- und Sammeltriebs der Kinder ab. Das Urteil verdient im Ergebnis Zustimmung, weil die Kinder als Käufer der Hauptware überhaupt nicht in Betracht kamen. Zweifelhaft sind jedoch die vagen Ausführungen des BGH zu einem mittelbaren Kaufzwang der Eltern. 8 – Die Entscheidung Kindergarten-Malwettbewerb9 ist hingegen auf breite Zustimmung gestoßen.10 Der Sachverhalt betraf eine Ausnahmesituation, so dass bei der Formulierung allgemeiner Schlussfolgerungen Vorsicht geboten ist. Über ihre einen Kindergarten besuchenden Kinder waren die Eltern einem moralischen Druck ausgesetzt worden; sie wurden zwar nicht veranlasst, die Produkte des im Kindergarten mit einem Malwettbewerb werbenden Spielzeugherstellers zu erwerben, mussten sich jedoch nolens volens in den Dienst seiner Werbemaßnahmen BGH GRUR 1957, 40 – Puppenservice. Kritisch Brändel FS v. Gamm, 1990, S. 9, 19 f.; Eisenhardt WRP 1997, 283, 290 („realitätsfern“); Engels WRP 1997, 6, 12; ders. Das Recht der Fernsehwerbung für Kinder – Rechtliche Regulierung der Fernsehwerbung unter Aspekten des Kinder- und Jugendschutzes, 1997, S. 284 f. 8 BGH GRUR 1957, 40, 41 – Puppenservice („… daß die Zugabeartikel … auch in der Hand der Kinder ihren Werbewert behielten, indem die Kinder ihretwegen auf den Einkauf der gleichen Ware drängten, so ist diese Auffassung nicht zu beanstanden; sie steht auch mit der Lebenserfahrung durchaus in Einklang.“). 9 BGH GRUR 1979, 157 – Kindergarten-Malwettbewerb. 10 Baumbach/Hefermehl (Fn. 4) § 1 UWG aF Rn. 199; Brändel FS v. Gamm, 1990, S. 9, 22; Bülow FS Piper, 1996, S. 121, 128; Eisenhardt WRP 1997, 283, 292; Kicker GRUR 1979, 159. 6 7

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stellen, um die Chancen der gesamten Kindergartenkinder auf einen Gewinn zu erhöhen. Hierin erblickte der BGH einen Verstoß gegen § 1 UWG aF.11 Nunmehr käme ein Verstoß gegen § 4 Nr. 2 UWG in Betracht. Ein Ausnutzen der geschäftlichen Unerfahrenheit von Kindern und Jugendlichen scheidet zwar aus, erwägenswert ist allerdings ein Ausnutzen der Zwangslage, in die die Eltern durch den im Kindergarten durchgeführten Malwettbewerb geraten sind. Wirtschaftlich vertretbare Alternativhandlungen bestehen nicht, insbesondere könnten Eltern durch eine Verweigerungshandlung dem moralischen Druck, ausgeübt von den Kindergartenkindern sowie den anderen Eltern, nicht ausweichen. Auch die Obergerichte haben sich bereits mehrfach mit dem Einsatz von Kindern und Jugendlichen als sog. Kaufmotivatoren auseinandergesetzt. In der Entscheidung Family-Pass des Hanseatischen OLG Hamburg ging es um einen in der Werbung angekündigten Kindermalwettbewerb im Restaurant eines Möbel-Abholgeschäfts.12 Zu Recht lehnte das Gericht einen Verstoß gegen § 1 UWG aF ab. Der Schutz der Kinder ist hier nicht betroffen, so dass hinsichtlich eines etwaigen moralischen Kaufzwanges allein auf die Eltern oder die sonstigen Erziehungsberechtigten abzustellen ist.13 Dabei ist dem Wandel des Verbraucherleitbilds vom „flüchtigen Verbraucher“ hin zum „durchschnittlich informierten, (situationsadäquat) aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher“14 Rechnung zu tragen. Es ist lebensfremd, aus der Teilnahmemöglichkeit der Kinder an dem Malwettbewerb auf einen Kaufzwang der erwachsenen Begleiter zu schließen, da bereits die Kosten für die Anfahrt den geldwerten Vorteil übersteigen dürften. Nur in besonderen Konstellationen kann eine lauterkeitsrechtlich relevante Zwangssituation entstehen.15 – Der Entscheidung Kinder-Gewinnspiel des OLG München16 lag ein Gewinnspiel zugrunde, bei dessen Teilnahme die berechtigten Kinder (bis zu zwölf Jahren) die Spielwarenabteilung betreten und einen lediglich an der Information des Geschäfts ausliegenden Wunschzettel ausfüllen mussten, um Aussicht auf einen Gewinn im Wert von 100,– DM zu erhalten. Der Entscheidung ist hinsichtlich des psychischen Kaufzwangs der angesprochenen Kinder zuzustimmen, weil sie beim Zwang zum Aufsuchen der Spielwarenabteilung zwecks Teilnahme an einem Gewinnspiel zur TätiBGH GRUR 1979, 157, 158 – Kindergarten-Malwettbewerb. OLG Hamburg NJW- RR 1991, 1328 – Family-Pass; vgl. in diesem Zusammenhang auch OLG München WRP 2000, 1321, 1323 – Kinder-Gewinnspiel. 13 Im Hinblick auf den konkreten Fall jedoch a.A. Benz WRP 2003, 1160, 1167 mit zweifelhafter Begründung. 14 Vgl. stellvertretend BGH GRUR 2000, 619, 621 – Orient-Teppichmuster; GRUR 2000, 1106, 1108 – Möbel-Umtauschrecht; GRUR 2003, 163, 164 – Computerwerbung II; GRUR 2002, 182, 183 – Das Beste jeden Morgen; GRUR 2002, 715, 716 – Scanner-Werbung; GRUR 2003, 626, 627 – Umgekehrte Versteigerung II jeweils mwN. 15 Vgl. BGH GRUR 1979, 157 f. – Kindergarten-Malwettbewerb. 16 OLG München WRP 2000, 1321 – Kinder-Gewinnspiel. 11 12

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gung von – andernfalls unterbliebenen – Gelegenheitskäufen verleitet werden können.17 Die Ausführungen zur Gefahr des mittelbaren Kaufzwangs der Eltern 18 sind hingegen reine Spekulation und lassen die von den Eltern regelmäßig ausgeübte Filterfunktion außer Betracht. Soweit bei einem vergleichbaren Gewinnspiel eine Datenerhebung zu Werbezwecken erfolgen soll, ist von einem Verstoß gegen § 4 Nr. 2 UWG auszugehen.19 – Eine besondere Konstellation betraf die Entscheidung Werbeschreiben an Jugendliche des OLG Nürnberg. 20 Kinder und Jugendliche bis 14 Jahre, die ein Sparbuch bei einer Sparkasse unterhielten, waren automatisch Mitglieder in einem Kinderclub. In dem Clubrundschreiben wurde ihnen beim Aufsuchen der Sparkassenfiliale ein Begrüßungsgeschenk (Rucksack) versprochen, sie wurden in dem Rundschreiben zum Erwerb einer Freizeit-Unfall-Versicherung sowie zur Eröffnung eines Girokontos animiert, wobei auf die erforderliche Zustimmung der Eltern beiläufig im Kleingedruckten hingewiesen wurde. Das Gericht beanstandete nicht das Begrüßungsgeschenk, weil es nicht zum Abschluss weiterer Verträge veranlasste. 21 Die beiden übrigen Maßnahmen wurden indes nach § 1 UWG aF untersagt, weil die Kinder gezielt und bewusst als Absatzhelfer der beklagten Sparkasse eingesetzt worden waren. Die Hinweise auf die zwingenden – dies ist die Besonderheit des Falles – Zustimmungserfordernisse der Eltern waren zu undeutlich, die mit der Eröffnung eines kostenlosen Girokontos einhergehenden rechtlichen Gefahren blieben zudem unerwähnt. 22 Im Schrifttum steht man der Ansprache von Kindern als Kaufmotivatoren im Hinblick auf das Unlauterkeitsrecht überaus kritisch gegenüber. 23 Die weitgehend ungeklärte Frage lautet, wann Werbende in Fällen des Einsatzes von Kindern als Kaufmotivatoren die Grenze des lauterkeitsrechtlich Zulässigen überschreiten. Die verfolgten Ansätze sind entweder zur Problemannäherung ungeeignet oder rechtlich unhaltbar. So soll nach einer Auffassung der Missbrauch erst dort beginnen, wo Eltern und Kinder absichtlich

17 So OLG München WRP 2000, 1321, 1322 f. – Kinder-Gewinnspiel; der BGH hat die Revision mangels Aussicht auf Erfolg nicht angenommen, vgl. Pressemitteilung in WRP 2001, 986 f. 18 OLG München WRP 2000, 1321, 1323 – Kinder-Gewinnspiel („… wird der Erwachsene bedrängt und gezwungen, mit dem Kind die Spielwarenabteilung der Beklagten nochmals zu besuchen und dort den gewünschten Artikel oder „etwas anderes Schönes“ zu erwerben.“). 19 Begründung zu § 4 Nr. 2 UWG -E, BT-Dr.15/1487 v. 22. 8. 2003, S. 17. 20 OLG Nürnberg GRUR- RR 2003, 315 – Werbeschreiben an Jugendliche. 21 OLG Nürnberg GRUR- RR 2003, 315, 315 f. – Werbeschreiben an Jugendliche. 22 OLG Nürnberg GRUR- RR 2003, 315, 316 – Werbeschreiben an Jugendliche. 23 Brändel FS v. Gamm, 1990, S. 9, 16, 20; Bülow BB 1974, 768, 769; Eisenhardt WRP 1997, 283, 290; a.A. Benz WRP 2003, 1160, 1164.

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gegeneinander ausgespielt werden.24 Diese Problemanknüpfung ist zu allgemein, die maßgeblichen Kriterien werden nicht herausgearbeitet. Mit drastischen Situationsbeschreibungen wendet man sich verbreitet auch dagegen, dass Kinder – insbesondere im Kassenbereich von Supermärkten – sog. „Quengelware“ ausgesetzt werden.25 Diese Ansicht vermag in dieser Allgemeinheit gleichfalls nicht zu überzeugen. Denn die Werbung gegenüber Kindern und Jugendlichen ist zunächst einmal grundsätzlich erlaubt, § 4 Nr. 2 UWG zielt nach Gesetzeswortlaut und -zweck nicht auf den Schutz der Eltern ab. Als generell unzulässig ist auch das Ausnutzen der kindlichen Spielleidenschaft beispielsweise durch das Angebot sog. „Überraschungseier“ oder bei sog. „Chancenkäufen“ (z. B. Sammelbilder in undurchsichtigen verschlossenen Papiertüten) eingestuft worden.26 Dieser Rechtsansicht ist gleichfalls entgegenzuhalten, dass Werbung gegenüber Kindern und Jugendlichen grundsätzlich zulässig ist. Ob im Einzelfall tatsächlich eine Ausübung unangemessenen unsachlichen Einflusses oder eine unlautere Ausnutzung kindlicher Spiel- und Sammelleidenschaft vorliegt, erscheint zweifelhaft. Bereits kleine Kinder wissen vielfach sehr genau den Zweitnutzen der Schokoladeneier von anderen Süßigkeiten abzugrenzen. Und ob das Ansprechen der Sammelleidenschaft ein Ausnutzen geschäftlicher Unerfahrenheit darstellt, ist angesichts der vielfach zu beobachtenden hohen Tauschbereitschaft innerhalb der Zielgruppe, die pädagogisch wertvoll sein kann, ebenfalls unsicher. Zudem ist zu berücksichtigen, dass Eltern durch erzieherische Maßnahmen das Verhalten ihrer Kinder durchaus steuern können.

III. Eigener Ansatz 1. Grundlagen a) Kinder und Jugendliche als Werbeadressaten Kinder und Jugendliche werden als Gruppe, die der Gesetzgeber ob ihrer geschäftlichen Unerfahrenheit als besonders schutzbedürftig einstuft, aus der Gesamtheit der Verbraucher sprachlich herausgehoben. Denn Kinder und Jugendliche neigen – wie die Rechtsprechung wiederholt betont hat27 – im Gegensatz zu Erwachsenen sehr viel stärker zu spontanen Kaufentschei24 So Benz WRP 2003, 1160, 1164, die die Relevanzschwelle sodann aber sehr niedrig ansetzt. 25 Benz WRP 2003, 1160, 1164; Brändel FS v. Gamm, 1990, S. 9, 20; Eisenhardt WRP 1997, 283, 290 Fn. 64. 26 Brändel FS v. Gamm, 1990, S. 9, 21. 27 Vgl. stellvertretend OLG Düsseldorf GRUR 1975, 267, 268 f. – Milky Way; OLG Frankfurt GRUR 1994, 522, 523 – LEGO-Hotline; OLG Hamburg GRUR 2003, 317 – BRAVOGirl; OLG Stuttgart WRP 1978, 151 ff. – Formularschreiben.

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dungen und lassen sich leichter durch sie ansprechende Werbung überrumpeln. Dementsprechend haben Kinder und Jugendliche nicht nur im neuen UWG , sondern auch in zahlreichen Gesetzen sowie verschiedenen Verhaltensrichtlinien eine Sonderbehandlung erfahren. 28 Von anderen Personengruppen unterscheiden sich Kinder und Jugendliche dadurch, dass sie nur in begrenztem Umfang rechtlich wirksame Bindungen eingehen können und als umworbene Werbeadressaten ihre Konsumwünsche vielfach nur durch Einschaltung voll geschäftsfähiger Personen – etwa der Eltern, der sonstigen Erziehungsberechtigten oder auch der Verwandten – erreichen können. Aufgrund dieser rechtlichen und tatsächlichen Zusammenhänge werden Kinder und Jugendliche vielfach nicht unmittelbar als potentielle Käufer angesprochen, sondern gegenüber ihren Eltern oder anderen Erwachsenen als Kaufmotivatoren eingesetzt. Zudem sind Kinder und Jugendliche regelmäßig auch außerhalb des familiären Haushalts entweder im Kindergarten oder in der Schule weiteren Autoritätspersonen unterstellt. Wenn diese in die Werbeaktivitäten integriert werden, kann die Gefahr des Missbrauchs der Autorität entstehen.29 b) Die Stellung der Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sind Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. 30 Dieses Erziehungsrecht der Eltern kann nunmehr in ein Spannungsverhältnis mit der Kommunikationsfreiheit der werbenden Unternehmen treten. 31 Ob sich Werbung langfristig schädigend auf die Psyche der Kinder auswirkt, so dass eine Störung des Elternrechts zumindest erwogen werden könnte, 28 Werbebeschränkungen gegenüber Kindern und Jugendlichen enthalten insbesondere die folgenden Vorschriften: § 11 Nr. 12 HWG und § 22 Abs. 2 Nr. 1 b) LMBG , die aus dem Kreis der Produkte, die vor Kindern beworben werden dürfen, Heilmittel und Tabakwaren ausnehmen; die Regelungen des Jugendarbeitsschutzgesetzes, des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit sowie des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften; § 131 StGB (Gewaltdarstellung) und § 184 StGB (Verbreitung pornografischer Schriften); die Regelungen zur Alkoholwerbung in Art. 15 Fernsehrichtlinie; § 7 Abs. 1 Satz 2 RStV zur Fernsehwerbung; die Verhaltensregeln des deutschen Werberats für die Werbung mit und vor Kindern in Werbefunk und Werbefernsehen in der Fassung von 1998; die Gemeinsamen Richtlinien der Landesmedienanstalten für die Werbung, zur Durchführung der Trennung von Werbung und Programm und für das Sponsoring im Fernsehen in der Neufassung vom 10. 2. 2000; die Gemeinsamen Richtlinien der Landesmedienanstalten für die Werbung, zur Durchführung der Trennung von Werbung und Programm und für das Sponsoring im Hörfunk in der Neufassung vom 10. 2. 2000; Kriterien und Verhaltenskatalog Telefonmehrwertdienste der Netzbetreiber. 29 Vgl. hierzu nachfolgend Abschnitt III . 2.c) aa). 30 Ausführlich zum Kinder- und Jugendschutz in der Verfassung Engels (Fn. 7) S. 55 ff. 31 Ausführlich hierzu Benz WRP 2003, 1160, 1162 ff. mwN.; speziell zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen der Fernsehwerbung Engels (Fn. 7) S. 106 ff.

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ist seitens der werbepsychologischen Wissenschaft bislang nicht nachgewiesen worden. 32 Der Gesetzgeber hat sich nicht dagegen gewendet, Werbung direkt an Kinder zu richten, sondern insoweit nur vereinzelt Verbote ausgesprochen, die durch Verhaltensregeln der Werbewirtschaft und Richtlinien der Medienanstalten ergänzt werden. 33 Auf diese Weise können der Gesetzgeber sowie die in Werbemaßnahmen involvierten Unternehmen flexibel auf neu aufgetretene oder erst nachträglich erkannte Missstände reagieren. Im Hinblick auf die Auslegung und Anwendung von § 4 Nr. 2 UWG spielen die speziell auf Werbung gegenüber Kindern und Jugendlichen abzielenden Regelungen eine maßgebliche Rolle, wenngleich nicht jeder Regelverstoß trotz seiner Indizwirkung pauschal mit einer Verletzung von § 4 Nr. 2 UWG gleichgesetzt werden kann. 34 Mag auch der Kinder- und Jugendschutz durch die Verankerung im Beispielkatalog des § 4 UWG eine besondere Hervorhebung erfahren haben, so gilt doch auch insoweit die Erheblichkeitsschwelle i.S.d. § 3 UWG . 35 Deshalb bedarf es zur Feststellung eines Verstoßes gegen § 4 Nr. 2 UWG regelmäßig einer Bewertung der gesamten Umstände des Einzelfalls. Durch diese gesetzliche Anknüpfung ist im Grundsatz eine Wertung zugunsten der Werbeindustrie vorgenommen worden, die bei der Auslegung und Anwendung der Vorschrift des § 4 Nr. 2 UWG angemessen zu berücksichtigen ist.36 In der bisherigen wissenschaftlichen Diskussion zur Ausnutzung der geschäftlichen Unerfahrenheit von Kindern und Jugendlichen sind hingegen aus ihrer Beziehung zu den Eltern und sonstigen Erziehungsberechtigten in eine andere Richtung weisende, teils weitreichende rechtliche Konsequenzen abgeleitet worden. Verbreitet ist das Bild von Kindern, die aufgrund effektiver Werbemethoden ihre – anscheinend willenlosen – Eltern zum Kauf bestimmter Waren drängen und stets quengelnd ihren Willen durchzusetzen verstehen.37 Ausgehend von dieser – zumindest in dieser Allgemeinheit über32 Baacke/Sander u. a. Kinder und Werbung, 1993, S. 11, 102 f., 105, 109, 135, 139, 164, 223; Böckelmann/Huber Werbefernsehkinder, 1979, S. 60 ff., 227, 233, 236; Rosenstiel/Neumann Einführung in die Markt- und Werbepsychologie, 2. Aufl., 1991, S. 38 f.; Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft ZAW-Essenzen Kinder und Werbung, 1999, S. 3. 33 Vgl. die Nachweise in Fn. 28. 34 KG GRUR 1992, 632 – Kinderwerbung stufte die Nichtbeachtung der Verhaltensregeln des deutschen Werberats für die Werbung mit und vor Kindern in Werbefunk und Werbefernsehen als einen Verstoß gegen § 1 UWG aF ein; zustimmend Beckmann AfP 1992, 300; a.A. Bülow FS Piper, 1996, S. 121, 129; Ring Wettbewerbsrecht der freien Berufe, 1989, S. 571 f. 35 Zur Erheblichkeitsschwelle vgl. Heermann GRUR 2004, 94 ff. mit einem ersten Bewertungsversuch. 36 In diesem Sinne auch Benz WRP 2003, 1160, 1163. 37 BGH GRUR 1957, 40, 41 – Puppenservice; KG GRUR 1992, 632, 633 – Kinderwerbung; OLG München WRP 2000, 1321, 1323 – Kinder-Gewinnspiel; Brändel FS v. Gamm, 1990, S. 9, 16; Bülow BB 1974, 768 f.; Eisenhardt WRP 1997, 283, 290; vgl. auch Engels WRP 1997, 6, 12 f.

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aus zweifelhaften – Einschätzung werden sodann erhebliche rechtliche Folgerungen gezogen: Es könne keinen Unterschied machen, ob ein Kind selbst dazu veranlasst werde, seiner augenblicklichen Vorstellung nachzugeben, oder ob es einen Erwachsenen dazu veranlasse; die Ausnutzung der Unerfahrenheit und Beeinflussbarkeit des Kindes bleibe die gleiche, ebenso wie der hierdurch angestrebte Verkaufserfolg; eine solche Werbeaktion, die auf Kinder oder mittels ihrer auf die Erwachsenen einen psychologischen Kaufzwang ausübe, verstoße daher regelmäßig gegen § 1 UWG aF.38 Dieser Ansatz bedarf der Kritik. Die Leichtigkeit, mit der die Filterfunktion der Entscheidungsmacht der durch Kinder zum Kauf motivierten und zudem voll geschäftsfähigen Erwachsenen ausgeblendet wird, muss überraschen. Zwar bleibt die Ausnutzung der geschäftlichen Unerfahrenheit des Kindes in der Tat die gleiche, dies gilt jedoch keineswegs für den hierdurch angestrebten Verkaufserfolg. Rechtlich kann ein solcher von den Eltern oder Erziehungsberechtigten abgeschlossener Kaufvertrag nicht wegen einer beschränkten Geschäftsfähigkeit eines minderjährigen Käufers schwebend unwirksam sein (§ 108 Abs. 1 BGB ), der sog. Taschengeldparagraph (§ 110 BGB ) greift nicht ein, schließlich ist der für die Bestimmung der Unlauterkeit i.S.d. § 3 UWG maßgebliche Beurteilungsmaßstab ein anderer. An die Stelle der geschäftlichen Unerfahrenheit der Kinder kann aber auch aus weiteren Rechtsgründen nicht die – angebliche – Hilflosigkeit der Eltern gesetzt werden, um diese somit als schutzbedürftig und -würdig einzustufen. Hiergegen spricht bereits der Wortlaut des § 4 Nr. 2 UWG , der lediglich die geschäftliche Unerfahrenheit „insbesondere von Kindern und Jugendlichen“ – nicht jedoch diejenige ihrer Eltern oder Erziehungsberechtigten – anspricht. Zwar könnte man stattdessen geneigt sein, angesichts quengelnder Kinder eine Zwangslage der Eltern i.S.d. § 4 Nr. 2 UWG anzunehmen. Es ist aber überaus fraglich, ob zum einen der Gesetzgeber einen derartigen Elternschutz tatsächlich beabsichtigt hat und ob zum anderen ein solcher Ansatz mit dem im Laufe der letzten Jahre modifizierten Verbraucherleitbild vereinbar wäre. So geht die Judikatur39 vom Verständnis des durchschnittlich informierten, verständigen und in der Situation, in der er mit der Aussage konfrontiert wird, entsprechend aufmerksamen Durchschnittsverbrauchers aus, dessen Schutzbedürftigkeit gegenüber subtilen Werbemethoden allmählich deutlich eingeschränkt worden ist. Deshalb ist nicht nachvollziehbar, wie ein solcher Durchschnittsverbraucher in seiner Elternrolle plötzlich zum nahezu willenlosen Werkzeug, gleichsam zum „manipulierten und hilflosen Opfer habgieriger Kinder“40 werden soll.41 Vielmehr strahlt das geänderte 38 So Eisenhardt WRP 1997, 283, 291; vgl. auch Baumbach/Hefermehl (Fn. 4) § 1 aF Rn. 198; Brändel FS v. Gamm, 1990, S. 9, 16, 20; Bülow BB 1974, 768, 769. 39 Vgl. Nachweise in Fn. 14. 40 Diese Formulierung geht zurück auf Benz WRP 2003, 1160, 1161.

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Verbraucherleitbild auch auf das Verhältnis gegenüber den eigenen Kindern aus,42 wodurch letztlich unauflösbare Wertungswidersprüche vermieden werden. Eine andere rechtliche Beurteilung kann freilich geboten sein, wenn die Kinder und Jugendlichen vom Werbenden gezielt als Absatzhelfer eingesetzt werden, die ihre Eltern und Erziehungsberechtigten zu Vertragsabschlüssen mit dem Werbenden motivieren sollen, sofern diese Verträge ohnehin nur mit Zustimmung der Eltern oder Erziehungsberechtigten wirksam werden können und/oder auf Leistungen gerichtet sind, die für Minderjährige wenig sinnvoll sind oder mit erheblichen rechtlichen Risiken einhergehen.43 c) Beurteilungsmaßstab im Vergleich zum Verbraucherleitbild Der Gesetzgeber hat – wie bereits dargelegt – kein generelles Verbot der Werbung gegenüber Kindern und Jugendlichen ausgesprochen, sondern in zahlreichen Gesetzesvorschriften ihre Fähigkeit zur aktiven Teilnahme am Geschäftsverkehr vorausgesetzt. Sie sind im Allgemeinen nicht nur zur freien Willensbildung, sondern auch zum Abschluss von Verträgen in der Lage. Allerdings sind Kinder und Jugendliche aufgrund ihrer geringeren rechtsgeschäftlichen Erfahrungen in stärkerem Maße als der Durchschnittsverbraucher empfänglich für unsachliche Kaufbeeinflussungen. Deshalb sind die hierbei anzusetzenden Aufgreifschwellen bei Kindern und Jugendlichen niedriger als beim Durchschnittsverbraucher. 44 Den Beurteilungsmaßstab bilden insoweit nicht nur die durchschnittlichen, in ihrer Persönlichkeitsentwicklung weitgehend gefestigten Kinder und Jugendlichen, sondern auch Minderjährige, die der Beeinflussung stärker ausgesetzt und damit gefährdungsgeneigter sind. 45 Wie sich dies in der Judikatur niedergeschlagen hat, wird nachfolgend noch zu erörtern sein. 46 41 In diesem Sinne KG WRP 1981, 25, 27 – Bastel-Spaß; Benz WRP 2003, 1160, 1161; vgl. auch Plaß in: Ekey/Klippel/Kotthoff/Meckel/Plaß (Hrsg.), Heidelberger Kommentar zum Wettbewerbsrecht, 2000, § 1 UWG aF Rn. 251. 42 Anlässlich verschiedener Diskussionsveranstaltungen wurde diese Auffassung des Verfassers, selbst Vater dreier noch nicht schulpflichtiger Kinder, insbesondere von Teilnehmern mit eigener (Groß-)Elternerfahrung überwiegend in Zweifel gezogen. Die Gegenargumente waren zumeist eher emotionaler als juristischer Natur und man prophezeite dem Verfasser, dass er spätestens während der Schulzeit der eigenen Kinder seine Meinung ändern würde. Sollte es tatsächlich hierzu kommen, wird sich Verfasser zu seinem Irrtum im (demnächst als Erstauflage erscheinenden) Münchener Kommentar zum Lauterkeitsrecht (oder ggf. in einer Folgeauflage) bekennen. 43 Vgl. im Hinblick auf die Eröffnung eines Girokontos OLG Nürnberg GRUR- RR 2003, 315, 316 – Werbeschreiben an Jugendliche. 44 Bülow FS Piper, 1996, S. 121, 128. 45 BVerwGE 39, 197, 205; Brändel FS v. Gamm, 1990, S. 9, 11; Eisenhardt WRP 1997, 283, 287; vgl. auch OLG Nürnberg GRUR- RR 2003, 315 – Werbeschreiben an Jugendliche. 46 Vgl. Abschnitt III . 2. c) bb).

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d) Verhältnis zum Rechtsbruchtatbestand Unklar ist im Hinblick auf die Werbung gegenüber Kindern und Jugendlichen das rechtliche Verhältnis zwischen § 4 Nr. 2 UWG und dem Rechtsbruchtatbestand i.S.d. § 4 Nr. 11 UWG . Verstößt eine solche Werbemaßnahme gegen gesetzliche Vorschriften, die speziell dem Jugendschutz dienen wie z. B. § 22 Abs. 2 Nr. 1 b) LMBG , 47 sollte im Interesse einer einheitlichen Anwendung des Sondertatbestandes zum Vorsprung durch Rechtsbruch § 4 Nr. 11 UWG als lex specialis vorgezogen werden. Bei der Anwendung dieser Norm ist sodann den Besonderheiten des Schutzes von Kindern und Jugendlichen im Wettbewerb Rechnung zu tragen. Bei Verstößen gegen sonstige nichtgesetzliche Regelungen wie z. B. die Verhaltensregeln des Deutschen Werberates für die Werbung mit und vor Kindern in Werbefunk und Werbefernsehen 48 ist die rechtliche Bewertung über die Vorschrift des § 4 Nr. 2 UWG vorzunehmen, die ihrerseits durch die betreffenden Regelungen konkretisiert wird. 2. Lösungskonzept Ausgehend von den vorgenannten Prämissen und damit von der generellen Zulässigkeit von Werbung gegenüber Kindern und Jugendlichen, lässt sich deren rechtliche Vereinbarkeit mit § 4 Nr. 2 UWG in folgenden Schritten überprüfen: a) An wen richtet sich die Werbung oder das beworbene Produkt oder die beworbene Dienstleistung primär? Zunächst ist zu fragen, an wen sich die Werbung oder das beworbene Produkt primär wendet. Denn nur wenn sich die beanstandeten Wettbewerbshandlungen zumindest auch an Kinder und Jugendliche wenden, ist der Anwendungsbereich des § 4 Nr. 2 UWG eröffnet. Allerdings nehmen Kinder spätestens mit einsetzendem Fernsehkonsum Werbung in den Medien ( TV , aber auch Zeitungen, Radio, Plakate, Kino etc.) unabhängig davon wahr, an wen sich die Werbemaßnahme primär richtet. So ist es beispielsweise unmöglich, Kinder der Zigarettenwerbung vollständig zu entziehen. Ausgehend von dieser Erkenntnis kann es für die Anwendbarkeit des § 4 Nr. 2 UWG also nur darauf ankommen, ob sich eine Wettbewerbshandlung unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände primär oder zumindest zu einem erheblichen Teil auch an Kinder und Jugendliche richtet. Hierbei 47 Vgl. hierzu etwa BGH GRUR 1994, 304, 305 – Zigarettenwerbung in Jugendzeitschriften; KG GRUR 1989, 851 – Tabakwerbung; KG GRUR 1989, 852, 853 – Zigarettenwerbung. 48 KG GRUR 1992, 632 – Kinderwerbung.

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kommt der Art und Weise der Werbemaßnahme (Medium, Ort oder Sendezeit etc.) sowie dem beworbenen Produkt oder der beworbenen Dienstleistung besondere Bedeutung zu. Sodann kann man das ermittelte Ergebnis anhand folgender Kontrollfragen überprüfen: Können die Kinder oder Jugendlichen das Produkt oder die Dienstleistung selbst erwerben oder in Anspruch nehmen? Hierbei sind wiederum die der betreffenden Zielgruppe üblicherweise zur Verfügung stehenden Geldmittel sowie die sonstigen tatsächlichen Umstände zu berücksichtigen, wie etwa die Zugänglichkeit des Produkts (z. B. Verbot der Abgabe von Alkohol an Minderjährige) oder der Dienstleistung (z. B. abgelegener, nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbarer Freizeitpark). Sollte die Frage bejaht werden können, bedarf es der Klärung einer weiteren Frage: Erwerben Kinder und Jugendliche typischerweise das betreffende Produkt oder die Dienstleistung? Dies mag etwa für folgende Waren gelten: Süßigkeiten; 49 alkoholfreie Getränke50 (jedoch Limonade eher als Tee oder Kaffee); Eiscreme (typisches Kindereis am Stiel oder in der Waffel, nicht jedoch Familienpackungen); Comic-Hefte; 51 Jugendzeitschriften; 52 Bücher für Kinder und Jugendliche; Audio- und Videomedien wie z. B. CDs (je nach Musikrichtung), Videofilme (je nach Gattung und Adressatenkreis) oder auch Computerspiele; Kommunikationsmittel wie z. B. Handys (jedoch zweifelhaft, soweit ein gekoppelter Vertrag mit dem Netzanbieter der Zustimmung der Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten bedarf). Aber selbst wenn die Antwort auf die vorgenannten Fragen letztlich negativ ausfallen sollte, kann sich die Werbung primär an Kinder und Jugendliche richten. Deshalb lautet die zweite Kontrollfrage: Würden Erwachsene insgesamt in stärkerem Maße als Kinder und Jugendliche das beworbene Produkt oder die Dienstleistung auch dann in Anspruch nehmen, wenn hierdurch eigene, verwandte oder bekannte Kinder und Jugendliche nicht unmittelbar oder mittelbar begünstigt würden? 53 Das mag vielleicht für Spielzeugeisenbahnen gelten, vermutlich aber nicht für teure Basketballstiefel einer bekannten Marke. Allgemeine Aussagen nach Produktgruppen lassen sich nicht treffen, vielmehr kommt es stets auf die Umstände des Einzelfalls an. Ingesamt besteht eine Wechselwirkung zwischen der Werbeintensität gegenüber Kindern und Jugendlichen und deren Bezug zu den beworbenen 49 BGH WRP 1976, 100 – Gewinnspiel; KG WRP 1981, 25 – Bastel-Spaß; OLG Düsseldorf GRUR 1975, 267, 268 f. – Milky Way. 50 Engels WRP 1997, 6, 10. 51 OLG München GRUR 1983, 678 – Sammelschnipsel-Aktion. 52 OLG Hamburg WRP 1992, 805; vgl. auch BGH GRUR 1994, 304, 306 – Zigaretten-

werbung in Jugendzeitschriften. 53 Auch Engels (Fn. 7) S. 226 stellt darauf ab, ob „der Anteil der Kinder bei den Konsumenten deutlich über dem Anteil anderer Altersgruppen“ liegt.

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Waren oder Dienstleistungen. Je intensiver sich die Werbung an Kinder und Jugendliche richtet, desto geringer muss deren tatsächlicher Bezug zu dem beworbenen Produkt oder der beworbenen Dienstleistung sein. So war bislang die Rechtsprechung im Hinblick auf Kommunikationsmittel zu Recht zurückhaltend und hat eine Werbemaßnahme für Klingeltöne, Logos, SMS Bilder und dergleichen nur beanstandet, wenn Kinder und Jugendliche in Jugendzeitschriften unmittelbar angesprochen werden. 54 b) Wer ist der Käufer? Wenn feststeht, dass sich die Werbung oder das beworbene Produkt bzw. die beworbene Dienstleistung in erster Linie an Kinder oder Jugendliche wendet, ist damit nicht notwendigerweise der Anwendungsbereich des § 4 Nr. 2 UWG eröffnet. Denn es bedarf nach dem Gesetzeswortlaut einer Ausnutzung der geschäftlichen Unerfahrenheit der genannten Personengruppe. Hiervon kann regelmäßig nur ausgegangen werden, sofern es sich bei den Käufern der beworbenen Produkte und Dienstleistungen tatsächlich um Kinder oder Jugendliche handelt. Ihr Einsatz als Kaufmotivatoren reicht hierfür – wie bereits dargelegt – regelmäßig nicht aus. c) Unlauterkeitsmomente Ein Ausnutzen der geschäftlichen Unerfahrenheit von Kindern und Jugendlichen kann letztlich aber nur in Betracht kommen, wenn weitere, die Unlauterkeit der Werbemaßnahme begründende Umstände vorliegen. Insoweit haben sich zwei Fallgruppen herausgebildet. aa) Autoritätsmissbrauch Ein beliebtes und bis in die Gegenwart umstrittenes55 Werbemittel gegenüber Kindern und Jugendlichen besteht darin, die Autorität von Ausbildungsinstitutionen (insbesondere Schulen und Kindergärten)56 sowie deren Angestellten und Mitarbeitern 57 oder Prominenten (natürliche oder fiktive OLG Hamburg GRUR- RR 2003, 317 – BRAVO-Girl. Vgl. zur Musterklage der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) gegen Kellogg’s wegen der Werbeaktion „Kellogg’s Frosties für den Schulsport“ die Pressemitteilung der Klägerin vom 7. 11. 2003, abrufbar unter http://www.vzbv.de/go/presse/312 (zuletzt besucht am 20. 8. 2004). 56 Vgl. hierzu Benz WRP 2003, 1160, 1167 ff.; Brändel FS v. Gamm, 1990, S. 9, 21 ff.; Eisenhardt WRP 1997, 283, 291 ff.; Engels WRP 1997, 6, 12 f. 57 In einem obiter dictum stellt BGH GRUR 1979, 157, 158 – Kindergarten-Malwettbewerb fest, dass auch die Autorität von Kindergärtnerinnen ausgenutzt werden kann; diesen Gedanken wird man auf Lehrer oder sonstiges Erziehungs- und Lehrpersonal, das gegenüber minderjährigen Kindern auftritt, übertragen können. 54 55

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Personen) 58 für eigene Werbezwecke einzusetzen. Soweit wiederum allein die Eltern oder Erziehungsberechtigten als Käufer in Betracht kommen, ist zu prüfen, inwieweit sie zum Schutze ihrer Kinder eine Filterfunktion auszuüben vermögen. 59 bb) Unmittelbare Ansprache von Kindern und Jugendlichen Die meisten Anwendungsfälle des § 4 Nr. 2 UWG werden sich vermutlich bei der unmittelbaren Ansprache von Kindern und Jugendlichen ergeben. Die hierzu bereits ergangene Judikatur kann indes nur unter Berücksichtigung der inzwischen geänderten Rahmenbedingungen im Lauterkeitsrecht auf die heutige Situation übertragen werden. Der BGH stufte in seinem Gewinnspiel-Urteil 60 ein Gewinnspiel (Gewinn: Reisen oder 10 000,– DM in bar), bei dem zehn Papierhüllen eines Schokoladenriegels oder der Name des Schokoladenriegels zehnmal in roten Blockbuchstaben auf Papier geschrieben einzusenden waren, als unzulässig ein. Gegenstand des BGH -Urteils Eiskalte Schlürfer 61 war eine in schlauchförmigen durchsichtigen PVC -Beuteln vertriebene Flüssigkeit in gefrorenem Zustand. Obwohl es sich nicht um Speiseeis handelte, lehnte der BGH eine Anwendbarkeit des alten Irreführungstatbestandes (§ 3 UWG aF) ab. Die UWG -Reform rechtfertigt keine abweichende Beurteilung der beiden Entscheidungen. – Gegenstand der Entscheidung Bastel-Spaß des Kammergerichts 62 waren Doppelpackungen der Kinderschokolade. Die Verpackung bestand aus einem Faltkarton, der auf der Innenseite mit einem sog. Bastel-Spaß bedruckt war. Das Gericht lehnte einen Verstoß gegen § 1 UWG aF im Hinblick auf einen unzulässigen Kundenfang, ein übertriebenes Anlocken sowie einen rechtlichen oder psychischen Kaufzwang – auch aus heutiger Sicht – zu Recht ab. 63 – Das OLG Düsseldorf hatte in seiner Entscheidung Milky Way 64 eine Verkaufsveranstaltung zu beurteilen, die gezielt Kinder zum Sammeln von (mindestens 12 und bis zu 36) Einwicklern eines Schokoladenriegels animierte; als Gegenleistung waren Flug-Ringe, eine Vgl. Benz WRP 2003, 1160, 1170 ff.; Henning-Bodewig BB 1983, 605 ff. Eine andere, hier nicht zu behandelnde Frage ist, ob etwa Schulleiter, die von Unternehmen durch Sponsoringangebote zur Zulassung von Werbemaßnahmen gegenüber Schülern und Eltern bewegt werden sollen, unsachlich beeinflusst werden (jetzt § 4 Nr. 1 i.V.m. § 3 UWG); vgl. hierzu BGH GRUR 1984, 665 – Werbung in Schulen mit krit. Anm. Volhard; OLG Brandenburg WRP 2003, 903 – Schulfotovertrieb; OLG Frankfurt WRP 2001, 294 – Schulprogramm als Werbeträger. 60 BGH WRP 1976, 100 – Gewinnspiel. 61 BGH GRUR 1978, 605 – Eiskalte Schlürfer; krit. Brändel FS v. Gamm, 1990, S. 9, 17 f. („Fehlentscheidung“); Engels WRP 1997, 6, 11; ders. (Fn. 7) S. 281. 62 KG WRP 1981, 25 – Bastel-Spaß. 63 KG WRP 1981, 25, 27 – Bastel-Spaß. 64 OLG Düsseldorf GRUR 1975, 267 – Milky Way. 58 59

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Siegerurkunde und eine Flugscheibe ausgelobt. Das Gericht erblickte hierin zutreffend 65 einen Verstoß gegen § 1 UWG aF, weil sich der Werbende die Unerfahrenheit und die mangelnde Beurteilungsfähigkeit der gezielt als Käufer angesprochenen Kinder und Jugendlichen zu Nutze gemacht hatte. 66 – Gegenstand des LEGO -Hotline-Beschlusses des OLG Frankfurt 67 war eine sog. umgekehrte Telefonwerbung eines bekannten Spielzeugherstellers; in Jugendzeitschriften wurden deren Leser aufgefordert, die „ LEGO -Hotline“ zu wählen, um zu erfahren, welche „tollen“ neuen Spielzeuge des Herstellers es gab. Soweit der Senat den Aspekt des Einsatzes von Kindern als Kaufmotivatoren ansprach, 68 können die Ausführungen aus den zuvor dargelegten Gründen nicht überzeugen. Zu Recht als bedenklich eingestuft wurde jedoch der Umstand, dass der Spielzeughersteller Telefongebühren erhob, die nach Ansicht des Gerichts von den letztlich nicht unmittelbar angesprochenen Eltern zu bezahlen waren. 69 Die Werbung für eine Telefon-Hotline beeinträchtigt durch die Zwischenschaltung der minderjährigen Adressaten die (Erziehungs-)Rechte der Eltern, 70 ohne dass sie – wie etwa bei der Werbung mit sog. „Quengelware“ – effektiv gegensteuern können; die Blockade des eigenen Telefons für die Kinder, gegebenenfalls durch entsprechende Umrüstungen bestehender Anlagen, ist insoweit unverhältnismäßig. – Nach Ansicht des OLG Hamburg 71 kann eine Kette mit Anhänger in der Zeitschrift „ BRAVO Girl“ im Hinblick auf die von der Wertreklame für die betroffenen jugendlichen Leserkreise ausgehende Anreizwirkung zu einem übertriebenen Anlocken führen. Die Entscheidung vermag heutzutage nicht mehr zu überzeugen. Es ist zu berücksichtigen, dass die Wertreklame sich nicht auf den Kaufpreis des einzelnen Heftes ausgewirkt hatte, dass auch wöchentliche Jugendzeitschriften über eine gewisse jugendliche Stammleser- und -käuferschaft verfügen und dass das einst restriktive Recht der Wertreklame zwischenzeitlich deutlich liberalisiert worden ist. – Mit einer in der gleichen Jugendzeitschrift erschienenen Werbung für Handyklingeltöne setzte sich das OLG Hamburg in seiner Entscheidung BRAVO -Girl auseinander. 72 In der Zeitschrift wurden Klingeltöne, Logos, SM S -Bilder und dergleichen beworben, die über eine kostenpflichtige 0190er Service-Telefonnummer (Gebühren pro MiZustimmend auch Baumbach/Hefermehl (Fn. 4) § 1 UWG aF Rn. 198. OLG Düsseldorf GRUR 1975, 267, 268 f. – Milky Way. 67 OLG Frankfurt GRUR 1994, 522 – LEGO-Hotline; zustimmend Benz WRP 2003, 1160, 1164 f.; Bülow FS Piper, 1996, S. 121, 128; Engels (Fn. 7) S. 286. 68 OLG Frankfurt GRUR 1994, 522, 523 – LEGO-Hotline. 69 Dies mag sich infolge der inzwischen erfolgten starken Verbreitung von Handys, deren Kosten mitunter auch vom Taschengeld bestritten werden, geändert haben. 70 Gleichfalls diesen Aspekt betonend LG Memmingen GRUR- RR 2001, 135, 137 – Gewinnspiel für Minderjährige im Hinblick auf ein Gewinnspiel mit 0190er-Nummer. 71 OLG Hamburg WRP 1992, 805, 806 f. 72 OLG Hamburg GRUR- RR 2003, 317 – BRAVO-Girl. 65 66

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nute 1,86 e) geladen werden konnten. Das Gericht erachtete die Werbung als sittenwidrig i.S.d. § 1 UWG aF, weil sie in Jugendzeitschriften geschaltet worden war und die von diesen Zeitschriften angesprochenen Kinder und Jugendlichen zum Erwerb der genannten Produkte verführt wurden, ohne dass sie sich hinsichtlich der insgesamt für die angesprochenen Verkehrskreise hohen Kosten hinreichend orientieren konnten. 73 Der Entscheidung ist auch auf der Basis der derzeitigen Rechtslage insbesondere im Hinblick auf § 4 Nr. 2 i.V.m. § 5 Abs. 2 Nr. 2 UWG zuzustimmen, weil die Kinder die anfallenden Gebühren nicht abschätzen konnten und damit die konkrete Gefahr von überteuerten Affektkäufen bestand. – Die Entscheidung Sammelschnipsel-Aktion des OLG München 74 betraf eine Werbemaßnahme, bei der Kindern für eine bestimmte Anzahl von Sammelschnipseln, jeweils einfach abgedruckt in bestimmten Comic-Heften, Gegenstände unentgeltlich versprochen wurden. Das Gericht erblickte hierin – auch aus heutiger Sicht – zu Recht einen Verstoß gegen § 1 UWG aF, weil sich die Maßnahme den Spieltrieb und die Sammelleidenschaft von Kindern zu Nutze machte. Besondere Bedeutung kommt dem Umstand zu, dass die Erlangung der Zugabe regelmäßig vom fortgesetzten Erwerb des Comic-Heftes abhängig war. – Eine Entscheidung des OLG Stuttgart 75 betraf die Teilnahme an einer Ferienverlosung beim Erwerb einer Schülermonatskarte während der Sommerferien. Das OLG sah hierin einen Verstoß gegen § 1 UWG aF wegen verbotener Wertreklame 76 sowie einen Verstoß gegen die inzwischen außer Kraft getretene ZugabeVO . 77 Unabhängig davon, ob durch die Werbemaßnahme primär Kinder und Jugendliche oder deren Eltern bzw. Erziehungsberechtigte als Käufer angesprochen werden und damit ein Verstoß gegen § 4 Nr. 2 UWG vorliegen kann, stellt die Maßnahme nunmehr einen Verstoß gegen § 4 Nr. 6 UWG dar.

IV. Fazit Werbung gegenüber Kindern und Jugendlichen ist grundsätzlich zulässig, sofern sie nicht gesetzlich oder durch Verhaltensrichtlinien untersagt wird. Die Tatsache, dass seit dem 8. 7. 2004 in § 4 Nr. 2 UWG die Ausnutzung der geschäftlichen Unerfahrenheit von Kindern und Jugendlichen als unlauter eingestuft wird und das Lauterkeitsrecht in den letzten Jahren deutlich liberalisiert worden ist, macht nunmehr bei der vorangegangenen einschlägigen Judikatur im Einzelfall Modifikationen erforderlich. Zudem sollte die 73 74 75 76 77

Ausführlich OLG Hamburg GRUR- RR 2003, 317, 317 f. – BRAVO-Girl. OLG München GRUR 1983, 678 – Sammelschnipsel-Aktion. OLG Stuttgart WRP 1987, 696. OLG Stuttgart WRP 1987, 696, 697. OLG Stuttgart WRP 1987, 696, 697 f.

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Rechtsprechung auch zukünftig – entgegen ebenso zahlreichen wie unberechtigten Forderungen des Schrifttums – von der grundsätzlichen Zulässigkeit des Einsatzes von Kindern und Jugendlichen als Kaufmotivatoren ausgehen. Denn § 4 Nr. 2 UWG schützt nur die geschäftliche Unerfahrenheit von Kindern und Jugendlichen, nicht die ihrer Eltern und Erziehungsberechtigten.

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Zur Unanwendbarkeit der Informationspflichten des WpHG auf Direkt(Selbst)emissionen und Investmentgesellschaften Siegfried Kümpel

Inhaltsübersicht Seite

I . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Erkundigungs- und Informationspflichten nach § 31 Abs. 2 WpHG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Begriff der Direktemission . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erscheinungsformen der Direktemission . . . . . . . . . . . . . . II. Direktemission von Schuldverschreibungen . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorzüge der Zwischenschaltung von Kreditinstituten (Fremdemissionen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anleiheemissionen im Rahmen von Kaufverträgen statt Darlehensverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Direktemissionen von Schuldverschreibungen als Parallele zum effektengeschäftlichen Eigenhandel für andere? . . . . . . . . . . a) Begriff des Eigenhandels für andere . . . . . . . . . . . . . . b) Die Dienstleistungskomponente der Eigenhändlergeschäfte . . c) Direktemissionen ohne Dienstleistungskomponente . . . . . . 4. Parallele zu den Eigen(Nostro)geschäften des Interbankenhandels . III. Direktemission von Aktien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abschluss eines Zeichnungsvertrages als korporationsrechtlicher Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fehlende Wertpapierdienstleistungen der emittierenden Gesellschaft IV. Direktemission von Investmentzertifikaten . . . . . . . . . . . . . . 1. Abschluss eines Investmentvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesetzlicher Erwerb von Anteilsrechten am Fondsvermögen . . . 3. Rechtsnatur der Investmentzertifikate . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ausgabe von Investmentzertifikaten keine Wertpapierdienstleistung V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Verwaltungstätigkeit der Investmentgesellschaften als Vermögensverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unanwendbarkeit der Verhaltenspflichten des Wertpapierhandelsgesetzes auf Investmentgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesetzesmaterialien zum Zweiten Finanzmarktförderungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siegfried Kümpel b) Gesetzesmaterialien zum Investmentmodernisierungsgesetz 2003 c) Investmentgesetz für aufsichtsrechtliche Verhaltenspflichten lex specialis gegenüber Wertpapierhandelsgesetz . . . . . . . . 2. Rechtspolitischer Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung Werden Wertpapiere im Rahmen einer Emission über Kreditinstitute erworben, so kommen die anlegerschützenden Informationspflichten des Wertpapierhandelsgesetzes ( WpHG) zum Tragen. 1. Die Erkundigungs- und Informationspflichten des § 31 Abs. 2 WpHG Die Kreditinstitute haben nach dem Wertpapierhandelsgesetz (§ 31 Abs. 2) ihren Kunden alle zweckdienlichen Informationen mitzuteilen, soweit dies zur Wahrung der Interessen der Kunden und im Hinblick auf Art und Umfang der beabsichtigten Geschäfte erforderlich ist. Die Informationspflicht lässt sich nur optimal erfüllen, wenn sich die Kreditinstitute zuvor über ihre Kunden ausreichend informiert haben. Dies entspricht dem angelsächsischen Rechtsgrundsatz: You must know your customer. Das Wertpapierhandelsgesetz (§ 31 Abs. 2 Nr. 1) verpflichtet deshalb die Kreditinstitute, den Kunden nach seinen Kenntnissen und 1 Erfahrungen in den einzelnen Anlageformen, nach den von ihm verfolgten Anlagezielen und seinen finanziellen Verhältnissen zu befragen. Diese Erkundigungspflicht, im Schrifttum auch als Explorationspflicht bezeichnet, tritt neben die Informationspflicht im Sinne einer Mitteilungspflicht gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 2 WpHG . Diese Erkundigungspflicht korreliert mit dem von der Rechtsordnung aufgestellten Grundsatz, wonach der konkrete Aufklärungsbedarf und damit der Inhalt und Umfang der Aufklärungspflicht im Sinne des § 31 Abs. 2 Nr. 2 WpHG im Wesentlichen durch den Kenntnisstand des Kunden über die Anlagemöglichkeiten, die damit verbundenen Risiken sowie durch sein Anlageziel bestimmt wird. 2 Zweck dieser Erkundigungspflicht ist nach der Rechtsprechung, dass sich die Bank die für eine sachgerechte Information gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 2 WpHG notwendigen Kenntnisse verschafft. Diese 1 Nach dem Gesetzeswortlaut braucht die Bank den Kunden nur nach seinen Erfahrungen „oder“ Kenntnissen zu befragen. Eine richtlinienkonforme Gesetzesauslegung gebietet jedoch, Angaben über die Kenntnisse „und“ Erfahrungen zu verlangen (Koller in: Assmann/ Uwe H. Schneider WpHG , 3. Aufl., 2003, § 31 Rn. 84; Bliesener Verhaltenspflichten, § 13 III 1; Lang Informationspflichten bei Wertpapierdienstleistungen, § 9 Rn. 2). 2 BGHZ 123, 126, 128; OLG Köln WM 1995, 697, 698; OLG Frankfurt ZIP 1998, 2148; Lang (Fn. 1) § 9 Rn. 2; Kümpel WM 1995, 689, 692.

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Erkundigungspflicht bezweckt also nicht, den Kunden vor einer objektiv ungeeigneten Anlage zu schützen. Der Kunde soll vielmehr durch die gesetzliche Informationspflicht in die Lage versetzt werden, auf der Grundlage einer möglichst vollständigen Information die Tragweite und Risiken seiner Anlageentscheidung einzuschätzen und sodann eine eigenständige Entscheidung zu treffen. 3 Die gesetzliche Erkundigungspflicht entfällt deshalb, wenn der Bank im konkreten Fall keine Informationspflicht im Sinne des § 31 Abs. 2 Nr. 2 WpHG obliegt, etwa weil der Kunde bereits hinlänglich informiert ist (sog. Professionals). 4 Das Gleiche gilt, wenn sich der Kunde weigert, auf Befragen entsprechende Angaben zu machen. 5 2. Der Begriff der Direktemission Bei der Direktemission werden bei der Anschaffung der Wertpapiere keine Kreditinstitute zwischengeschaltet. Hier vollzieht sich also der Erwerb der neu emittierten Wertpapiere unmittelbar (direkt) zwischen dem Emittenten und dem Anleger als Ersterwerber. Dabei gehören die Emittenten ganz überwiegend nicht zu dem Kreis der Wertpapierdienstleistungsunternehmen, auf die das Wertpapierhandelsgesetz mit seinen Informationspflichten ohnehin anwendbar ist. Die Rechtskonstruktion der Erwerbsvorgänge im Rahmen solcher Direktemissionen, die Anhaltspunkte für die Anwendbarkeit des Wertpapierhandelsgesetzes liefern könnten, ist unterschiedlicher Natur. Sie bestimmt sich weitgehend von der Art der emittierten Wertpapiere. So ist der Ersterwerb von (Teil-)Schuldverschreibungen nach herrschender Meinung als Kaufvertrag einzuordnen, während dem Erwerb neu emittierter Aktien ein so genannter Zeichnungsvertrag zugrunde liegt, der als Vertrag sui generis in Form eines korporationsrechtlichen Vertrages eingestuft wird. Hier zeigt sich insbesondere die enge Verknüpfung dieses Beitrages zum Gesellschaftsrecht, das einen Schwerpunkt des Forschens und Lehrens des Jubilars bildete. Bei der Direktemission von Investmentanteilscheinen erlangt der Anleger Rechte an den zum Fondsvermögen gehörenden Wertpapieren mit der Einzahlung des Ausgabepreises bei der Depotbank des betreffenden Fonds. Die Ausgabe der hierüber auszustellenden Anteilscheine (Investmentzertifikate) begründet also nicht die in ihnen verbrieften Rechte; diese Zertifikate stellen deshalb nur deklaratorische Wertpapierurkunden dar. 3 Lang (Fn. 1) § 9 Rn. 2 mwN.; Schwintowski/Schäfer Bankrecht, 2. Aufl., 2003, § 18 Rn. 13. 4 Schwintowski/Schäfer (Fn. 3) § 11 Rn. 73; Koller in: Assmann/Schneider WpHG (Fn. 1) § 31 Rn. 88; Köndgen ZBB 1996, 361, 363; Lang (Fn. 1) § 9 Rn. 2. 5 Nobbe in: Horn/Schimansky, Bankrechtshandbuch, 1998, 235, 242; Lang (Fn. 1) § 9 Rn. 2.

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3. Erscheinungsformen der Direktemissionen Die Entscheidung der Emittenten, die neuen Wertpapiere direkt an interessierte Anleger auszugeben, beschränkt sich keineswegs auf die so genannten Daueremittenten wie die Hypothekenbanken, die im Rahmen von Emissionstranchen laufend Schuldverschreibungen in Form von Hypothekenpfandbriefen emittieren. Auch die Kreditinstitute refinanzieren sich durch die laufende direkte Ausgabe von Schuldverschreibungen an ihre Kunden und sonstige Anleger. Solche Direktemissionen werden inzwischen auch bei Aktienemissionen durch Nutzung des Internets praktiziert, wenn die Aktien im Rahmen eines erstmaligen Börsenganges von Unternehmen (Going Public) angeboten werden – Initial Public Offering (IPO ). Zunehmende praktische Bedeutung gewinnt aber auch die Selbstemission bei den Investmentgesellschaften. In diesen Fällen werden regelmäßig Depots bei der emittierenden Gesellschaft zwecks Aufbewahrung der erworbenen Investmentzertifikate unterhalten. 6 In Anbetracht der zunehmenden Wertpapieremissionen ohne Zwischenschaltung von Kreditinstituten drängt sich die Frage auf, ob und inwieweit diese Erkundigungs- und Informationspflichten bei den Direktemissionen zum Tragen kommen. Mit Rücksicht auf die sehr unterschiedliche Rechtsnatur der den Emissionen zugrunde liegenden Vertragsbeziehungen zwischen Emittent und Anleger empfiehlt es sich, die Rechtslage bei Anleiheemissionen sowie bei der Ausgabe neuer Aktien und von Investmentzertifikaten getrennt darzustellen.

II. Direkterwerb von Schuldverschreibungen Neu emittierte Schuldverschreibungen werden regelmäßig unter Zwischenschaltung von Kreditinstituten erworben, die hierbei als dem Wertpapierhandelsgesetz unterworfene Marktintermediäre die Erkundigungs- und Informationspflichten dieses Gesetzes zu erfüllen haben. Diese zur begrifflichen Abgrenzung von den Selbstemissionen auch als „Fremd“-emissionen bezeichnete Aufnahme von Finanzierungsmitteln stellt in der Praxis den Regelfall dar.

6 Eine gewisse Parallele hierzu besteht bei den Anleihen der Bundesrepublik und der Länder, die seit 1972 Wertpapiere nicht mehr verbrieft und statt dessen im Schuldbuch registriert werden (sog. Schuldbuchforderungen). Auch hier kann der erworbene Anteil an der Schuldbuchforderung im Schuldbuchregister auf den Namen des Erwerbers eingetragen werden. Im Regelfall wird dagegen die Schuldbuchforderung auf den Namen der Wertpapiersammelbank (Clearstream Banking AG ) eingetragen, die sodann über diesen Gesamtforderungsbetrag einen Girosammelbestand bildet, über den die Kontoinhaber der Wertpapiersammelbank im Wege des Effektengiroverkehrs verfügen können.

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1. Vorzüge der Zwischenschaltung von Kreditinstituten (Fremdemissionen) Der Weg der Direktemission ist ungeeignet, wenn der Emittent solche finanziellen Fremdmittel zu einem bestimmten Zeitpunkt benötigt. Die Mitwirkung von Kreditinstituten im Rahmen solcher (Fremd)Emissionen hat im Übrigen eine Reihe weiterer Vorzüge. Sie liegen insbesondere in der besseren Vermittlung von interessierten Anlegern. Die Emittenten verfügen regelmäßig über kein eigenes Vertriebsnetz. Dagegen stehen die mitwirkenden Kreditinstitute im Rahmen der Geschäftsverbindung mit ihren Kunden im engen Kontakt mit anlagesuchenden Personen, die für die angestrebte dauerhafte Platzierung der Wertpapiere im Anlegerpublikum in Betracht kommen. Auch kann das zwischengeschaltete Bankenkonsortium aufgrund von Erfahrungen und genauer Kenntnis der jeweiligen Verfassung des Kapitalmarktes den Emittenten hinsichtlich der marktgerechten Ausstattung der Wertpapiere beraten. Dies gilt vor allem bezüglich des platzierungsfähigen Volumens der Emissionen, des marktgerechten Ausgabepreises für die Aktien und des Zinses bei Schuldverschreibungen. Auch bedarf es einer Beratung hinsichtlich des Zeitpunktes der Begebung. Das richtige „Timing“ entscheidet über den Erfolg einer Emission. Die Kreditinstitute verfügen schließlich über geschultes Personal für die Abfassung der erforderlichen Börseneinführungsprospekte, Verkaufsangebote und Bezugsaufforderungen bei Kapitalerhöhungen. Der Weg der Direktemission wird dagegen beschritten, wenn Hypothekenbanken zur Refinanzierung ihres Kreditgeschäfts Pfandbriefe und Kommunalobligationen emittieren. Diese Wertpapiere werden laufend ausgegeben (Daueremissionen). Die Ausgabe der Schuldverschreibungen erfolgt dabei entsprechend der Nachfrage interessierter Anleger. Für die Begebung dieser Wertpapiere ist somit eine besondere Situation gegeben, die die Einschaltung eines Emissionskonsortiums entbehrlich sein lässt. Außer diesen Spezialkreditinstituten verkaufen auch Banken an ihre Kunden oder sonstige interessierte Anleger eigene Schuldverschreibungen, um mit dem Erlös ihr Aktivgeschäft zu finanzieren. Schließlich kommt es bei Direktemissionen auch zur Ausgabe so genannter Commercial Papers (CP ), die in Deutschland als Schuldverschreibungen ausgestellt und im Rahmen von CPProgrammen von kapitalmarktfähigen Wirtschaftsunternehmen laufend an interessierte Anleger emittiert werden. 2. Anleiheemissionen im Rahmen von Kaufverträgen statt Darlehensverträgen Der Ausgabe neuer Schuldverschreibungen liegt wirtschaftlich gesehen eine Kreditgewährung der Anleger an den Emittenten zugrunde. Deshalb wird auch von einer „Anleihe“ des Emittenten am Kapitalmarkt gesprochen. Die Ausgabe der neuen Schuldverschreibungen erfolgt jedoch nicht

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auf der Grundlage eines Darlehensvertrages im Sinne des § 488 BGB . Vielmehr ist der Erwerb der die Anleihe verkörpernden Wertpapiere nach allgemeiner Meinung als Kauf (§ 433 BGB ) einzuordnen. 7 Denn der Emittent hat wie ein Verkäufer dem Erwerber gegen Zahlung des Emissionspreises das (Mit-)Eigentum an den Schuldverschreibungsurkunden zu verschaffen. Mit diesem Eigentumserwerb wird der Anleger zugleich Gläubiger des in der Urkunde wertpapiermäßig verbrieften Zahlungsanspruchs, bei dem es sich nicht um einen darlehensrechtlichen Rückerstattungsanspruch im Sinne des § 488 BGB , sondern um einen abstrakten Zahlungsanspruch im Sinne eines Schuldversprechens (§ 780 BGB ) handelt. 8 Diese Übereignung der Schuldverschreibungsurkunde ist wesentlicher Bestandteil des wertpapierrechtlichen Begebungsvertrages, dessen Inhalt im Kern das Einverständnis des Emittenten ist, dass dem erwerbenden Anleger die in der Schuldverschreibungsurkunde verbrieften abstrakten Zahlungsansprüche zustehen sollen. 9 Diese abstrakte Rechtsnatur der korrespondierenden Zahlungsverpflichtung des Emittenten zeigt sich auch beim § 796 BGB , wonach der Emittent dem Inhaber der Schuldverschreibungsurkunden nur solche Einwendungen entgegensetzen kann, welche die Gültigkeit der Ausstellung betreffen oder sich aus der Urkunde ergeben oder dem Emittenten unmittelbar gegen den Inhaber der Urkunde zustehen. Der Inhalt des im Zuge der Emission geschlossenen Begebungsvertrages besteht in der Begründung der Zahlungsverpflichtung des Emittenten und der Übereignung der Wertpapierurkunde. Der wertpapierrechtliche Begebungsvertrag enthält also schuld- und sachenrechtliche Elemente.10 Bei der rechtstechnischen Verschaffung des verbrieften Zahlungsanspruches steht jedoch die Übereignung der diesen Anspruch verkörpernden Schuldverschreibungsurkunde im Vordergrund. Denn der Erwerb des verbrieften Forderungsrechts ist nur die rechtliche Folge des Urkundenerwerbs. Wirtschaftliche gesehen steht dagegen das verbriefte Recht im Vordergrund.11 Die Verknüpfung des Erwerbs dieses Rechts mit dem aus rechtlicher Sicht vorrangigen Erwerb des Eigentums an der Urkunde hat den großen Vorzug, dass die sachenrechtlichen Bestimmungen über den Gutglaubensschutz (§§ 932 ff. BGB ) anwendbar sind. Die wertpapiermäßige Palandt/Putzo BGB , 63. Aufl., 2004. Staudinger/Marburger BGB , 12. Bearbeitung, 1986, § 793 Rn. 6. Das abstrakte Schuldversprechen bildet das dogmatische Grundmodell zahlreicher wertpapierrechtlicher Verpflichtungen (Hüffer in: Münchener Kommentar zum BGB , Band Schuldrecht, Besonderer Teil, 3. Aufl., 1997, § 780 Rn. 23; Staudinger/Marburger aaO. § 780 Rn. 36) V § 488 Rn. 8. 9 Zöllner Wertpapierrecht 14. Aufl., 1987, S. 41. 10 Baumbach/Hefermehl Wechsel- und Scheckgesetz, 22. Aufl., 2000, WPR , Rn. 34, 86; Hueck-Canaris Recht der Wertpapiere, 12. Aufl., 1986, § 3 I; Palandt/Thomas (Fn. 7) § 793 Rn. 4; Staudinger/Marburger (Fn. 8) § 793 Rn. 13. 11 Baumbach/Hefermehl (Fn. 10) WPR , Rn. 3. 7 8

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Verbriefung dient also dazu, die Umlauffähigkeit des verbrieften Rechts zu ermöglichen. Diese den Erwerbsvorgang dominierende Verschaffung von Eigentum an den Wertpapierurkunden legt es nahe, in der Anschaffung von Schuldverschreibungen als bewegliche Sachen einen Kauf zu erblicken. Mit der Einordnung des schuldrechtlichen Vertragsverhältnisses zwischen Emittent und Erwerber bei Direktemissionen als Kaufvertrag ist aber noch nicht die hier interessierende Frage beantwortet, ob der Emittent zugleich auch eine Wertpapierdienstleistung im Sinne des Wertpapierhandelsgesetzes erbringt. Diese Frage kann nicht schon mit dem Hinweis beantwortet werden, dass zwischen Emittenten und Ersterwerber keine dienstvertraglichen Rechtsbeziehung begründet wird. Denn unter den Begriff der Wertpapierdienstleistungen im Sinne dieses Gesetzes fallen auch kaufrechtliche Beziehungen, wenn sie mit einer dienstvertraglichen Komponente verknüpft sind. Dies ist der Fall, wenn die Anschaffung von Wertpapieren „im Wege des Eigenhandels für andere“ (§ 2 Abs. 3 Nr. 2 WpHG ) erfolgt, wie es unter bestimmten Voraussetzungen auch im Effektengeschäft praktiziert wird. 3. Direktemission von Schuldverschreibungen als Parallele zum effektengeschäftlichen Eigenhandel für andere? Verlangt der Bankkunde von seiner Bank die Anschaffung bestimmter Wertpapiere, so liegt hierin regelmäßig die Erteilung eines Kommissionsauftrages (§ 383 HGB ), der durch ein entsprechendes Ausführungsgeschäft an den Kapitalmärkten abzuwickeln ist. Ein solches Kommissionsverhältnis verpflichtet die Bank zu einer Wertpapierdienstleistung, die vom Wertpapierhandelsgesetz und damit von den darin normierten Erkundigungs- und Informationspflichten erfasst wird (vgl. § 2 Abs. 3 Nr. 1 WpHG). Für ein solches kommissionsrechtliches Ausführungsgeschäft ist jedoch kein Raum, wenn die Bank mit ihrem Effektenkunden einen Kaufvertrag über die für ihn anzuschaffenden Wertpapiere abschließt. Hier wird dem Kundenverlangen nach Anschaffung bestimmter Wertpapiere im Wege des so genannten Eigenhandels für andere entsprochen. a) Begriff des Eigenhandels für andere Diese Eigenhändlergeschäfte stellen Wertpapierdienstleistungen im Sinne des Wertpapierhandelsgesetzes dar (vgl. § 2 Abs. 3 Nr. 2 WpHG). In der heutigen Praxis des Effektengeschäfts werden diese Eigenhändlergeschäfte als so genannte Festpreisgeschäfte getätigt, wie sie in den Sonderbedingungen für Wertpapiergeschäfte (Nr. 9) umschrieben sind. Diese AGB -Klausel lautet:

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Vereinbaren Bank und Kunde für das einzelne Geschäft einen festen Preis (Festpreisgeschäft), so kommt ein Kaufvertrag zustande; dementsprechend übernimmt die Bank vom Kunden die Wertpapiere als Käuferin oder liefert die Wertpapiere an ihn als Verkäuferin. Diese Festpreisgeschäfte tätigt die Bank wie auch sonstige „Eigen“-händlergeschäfte für „eigene“ Rechnung, wie es für den Abschluss von Kaufverträgen begriffstypisch ist. b) Die Dienstleistungskomponente der Eigenhändlergeschäfte Die Eigenhändlergeschäfte begründen aber aus der Sicht der Leistungspflichten der Bank keine ausschließlich kaufrechtlichen Beziehungen. Sie stellen vielmehr eine Unterart des Kaufvertrages dar mit der obligatorischen Besonderheit, dass die Bank hierbei nicht nur für eigene Zwecke tätig wird, sondern zugleich für ihren Kunden eine (Wertpapier-)Dienstleistung erbringt.12 Für die Dienstleistungskomponente solcher Eigenhändlergeschäfte ist es also nicht erforderlich, dass neben dem Kaufvertrag noch ein weiterer (Geschäftsbesorgungs-)Vertrag geschlossen wird.13 Entscheidend ist vielmehr, dass die Bank nicht wie ein schlichter Käufer oder Verkäufer nur „für sich selbst“, sondern auch für ihren Kunden handeln will, um dessen Verlangen nach Anschaffung oder Veräußerung der Wertpapiere Rechnung zu tragen. Die Einbettung einer Dienstleistung in das Eigenhändlergeschäft als primärer kaufrechtlicher Beziehung kommt dadurch deutlich zum Ausdruck, dass diese Wertpapiergeschäfte der Kreditinstitute als Eigenhandel „für andere“ bezeichnet werden. Mit Rücksicht auf diese Dienstleistungskomponente des Eigenhandels für andere hat der Gesetzgeber diese geschäftlichen Aktivitäten der Kreditinstitute den Wertpapierdienstleistungen im Sinne des Wertpapierhandelsgesetzes (§ 2 Abs. 3) zugeordnet. Auch finden die für die Einkaufskommission geltenden Vorschriften des Depotgesetzes (§§ 18–29) zum Schutze der Depotkunden auf den Eigenhandel sinngemäß Anwendung (§ 31 Depotgesetz), weil hierdurch der Dienstleistungskomponente des Eigenhändlergeschäfts angemessen Rechnung getragen werden kann.

12 Kümpel Bank- und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl., 2004, Rn. 17.157; ders. in: Kümpel/ Hammen Börsenrecht 2. Aufl., 2003, S. 73; Oelkers WM 2001, 340, 345. Auch nach den Materialien zum Gesetz zur Umsetzung von EG -Richtlinien zur Harmonisierung bank- und wertpapieraufsichtsrechtlicher Vorschriften vom 22. Oktober 1997 handelt es sich bei einem Wertpapiergeschäft, das die Bank im Wege des Eigenhandels für andere mit ihrem Kunden tätigt, um eine Wertpapierdienstleistung. Unerheblich sei, dass bei diesen Eigenhändlergeschäften lediglich ein Kaufvertrag abgeschlossen wird ( BT-Drucks. 13/7142, S. 66). 13 BT-Drucks. 13/7142, S. 66.

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c) Direktemission ohne Dienstleistungskomponente Wie der Eigenhandel im Effektengeschäft mit seiner kaufrechtlichen Grundlage veranschaulicht, steht die Einordnung der Vertragsbeziehungen zwischen Bank und Effektenkunde als Kaufvertrag, wie sie auch der Direktemission von Schuldverschreibungen zugrunde liegt, der Qualifizierung der Mitwirkung der Bank als Wertpapierdienstleistung nicht im Wege. Damit würde die Anwendbarkeit der Erkundigungs- und Informationspflichten des Wertpapierhandelsgesetzes ermöglicht. Voraussetzung ist jedoch, dass die Bank nicht nur als Verkäuferin der Wertpapiere fungiert, sondern zugleich auch eine Dienstleistung an ihren Kunden erbringen will. An einem solchen Geschäftswillen der Bank fehlt es jedoch bei der Direktemission von Schuldverschreibungen. Denn in diesen Fällen verfolgt der Emittent auch aus der Sicht eines objektiven Dritten erkennbar nur das Ziel der Aufnahme der benötigten Fremdmittel, wie dies auch beim Abschluss eines Darlehensvertrages (§ 488 BGB ) der Fall ist. Der wirtschaftliche Zweck der Emission von Schuldverschreibungen wie auch der anderen am Kapitalmarkt gehandelten Wertpapiere ist die Aufnahme mittel- oder langfristigen Kapitals. Wirtschaftlich gesehen wird also dem Emittenten bei der Ausgabe von Schuldverschreibungen von den Anlegern ein Kredit gewährt. Die Verbriefung des Rückzahlungsanspruches in einer Schuldverschreibungsurkunde, deren Übereignung an den Anleger die zivilrechtliche Einordnung solcher Emissionsvorgänge als Kaufverträge nahe legen, bezweckt lediglich, diesen Anspruch als ein wertpapiermäßig verbrieftes Recht auszugestalten. Hierdurch wird der für den Kapitalmarkt unverzichtbare Schutz des gutgläubigen Erwerbers durch Anwendbarkeit der sachenrechtlichen Schutzvorschriften (§§ 932 ff. BGB ) gewährleistet und damit die rechtlichen Voraussetzungen für die Umlauffähigkeit des Rückzahlungsanspruches am Kapitalmarkt geschaffen. Allein aus der Verschaffung von Wertpapiereigentum kann also bei den Direktemissionen nicht schon gefolgert werden, dass der Emittent mit der Ausgabe von Schuldverschreibungsurkunden über die Befriedigung seines Finanzierungsbedarfs hinaus auch eine Dienstleistung an die erwerbenden Anleger erbringen will, wie dies beim effektengeschäftlichen Eigenhandel für andere geschieht. Weist aber der Kaufvertrag, der der Direktemission von Schuldverschreibungsurkunden zugrunde liegt, keine Dienstleistungskomponente wie beim Eigenhändlergeschäft auf, so kann auch keine Wertpapierdienstleistung im Sinne des Wertpapierhandelsgesetzes vorliegen. Infolgedessen können dem Emittenten auch keine Erkundigungs- und Informationspflichten im Sinne des § 31 Abs. 2 WpHG obliegen.

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4. Parallelen zu den Eigen(Nostro)geschäften des Interbankenhandels Für die Frage, ob die Emittenten bei den Direktemissionen von Schuldverschreibungsurkunden zugleich eine Wertpapierdienstleistung erbringen, ergibt sich eine erhellende Parallele zu den Eigen(Nostro)geschäften der Kreditinstitute im Interbankenhandel (sog. Telefonverkehr). Die Kreditinstitute tätigen an den Kapitalmärkten in großem Umfang auch Wertpapiergeschäfte, ohne hierzu durch einen Kundenauftrag veranlasst worden zu sein. Diese Wertpapiergeschäfte für eigene Rechnung werden zur begrifflichen Abgrenzung von den Eigenhändlergeschäften als Eigen- oder Nostrogeschäfte bezeichnet.14 Mit solchen geschäftlichen Aktivitäten können unterschiedliche wirtschaftliche Zwecke verfolgt werden. So können diese Transaktionen der Aufstockung oder dem Abbau einer Beteiligung an den Emittenten dienen. Eigengeschäfte tätigt eine Bank auch, wenn sie als sog. Market-Maker oder Designated Sponsor im elektronischen XETRA-Handel der Frankfurter Wertpapierbörse15 zur Aufrechterhaltung der Marktliquidität verbindliche Kauf- und Verkaufskurse zu stellen hat. Solche Wertpapiergeschäfte für eigene Rechnung dienen insbesondere der Anlage eigener liquider Geldmittel und der Erzielung von Kursgewinnen. Die Erträgnisse aus den Eigengeschäften sollen neben den Provisionseinnahmen aus dem Dienstleistungsgeschäft einen substanziellen Beitrag zum Jahresergebnis der Bank leisten, nachdem die Zinsmarge aus dem traditionellen Kreditgeschäft seit langem die Personal- und Sachkosten nicht mehr abzudecken vermag. Diese Eigengeschäfte der Bank sind aber streng von den Eigenhändlergeschäften zu trennen, wie sie in der heutigen Praxis der Effektengeschäfte zwischen den Kreditinstituten und ihren Effektenkunden als Festpreisgeschäfte getätigt werden. Bei diesen Eigenhändlergeschäften verfolgen die Banken anders als bei den Eigengeschäften im Nostrohandel nicht nur ihr eigenes Interesse, sondern wollen zugleich dem Verlangen ihrer Effektenkunden nach Anschaffung oder Veräußerung von Wertpapieren nachkommen. Deshalb weisen die Eigenhändlergeschäfte im Unterschied zu den Eigengeschäften auch eine Dienstleistungskomponente auf. Dieser Dienstleistungscharakter veranschaulicht auch das MarketMaking der Betreiber der bilateralen elektronischen Handelssysteme, wie sie im § 58 BörsG geregelt worden sind, der durch das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz eingefügt worden ist.16 Typisches Merkmal dieser Handelssysteme ist, dass der Betreiber des Systems bei jedem darin abgeschlossenen Wertpapiergeschäft Vertragspartner wird. Hierbei tätigt der Systembetreiber bei jeder Transaktion mit den HanAssmann in: Assmann/Uwe H. Schneider Wertpapierhandelsgesetz, 3. Aufl., 2003, § 2 Rn. 49. Vgl. § 23 Börsenordnung der Frankfurter Wertpapierbörse, abgedruckt in: Kümpel/ Hammen/Ekkenga Kapitalmarktrecht, Kz. 438. 16 Kümpel Bank- und Kapitalmarktrecht (Fn. 12) Rn. 17.143; ders. in: Kümpel/Hammen Börsenrecht (Fn. 12) S. 73. 14

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delsteilnehmern für eigene Rechnung Verträge über den Ankauf und Verkauf von Wertpapieren.17 Dabei handelt es sich aber nicht nur um schlichte Kaufverträge (§ 433 BGB), wie sie im außerbörslichen Interbankenhandel abgeschlossen werden. Denn mit seinen Handelsaktivitäten schafft der Systembetreiber Liquidität für Geschäftsabschlüsse der Handelsteilnehmer und erbringt diesen damit Dienstleistungen. Im Unterschied zum traditionellen Interbankenhandel ist der Betreiber eines solchen Handelssystems bei seinem Market-Making nicht nur auf sein eigenes Geschäftsinteresse fokussiert. Er wird vielmehr zugleich im Interesse der Marktteilnehmer tätig, die seine Handelsplattform für den Abschluss von Wertpapiergeschäften nutzen wollen. Die Mitwirkung bei diesen Wertpapiergeschäften als Vertragskontrahent wird deshalb allgemein auch als Wertpapierdienstleistung eingeordnet.18 Damit erfüllt das Betreiben bilateraler Handelssysteme die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des „Eigenhandels für andere“, der eine Wertpapierdienstleistung im Sinne des Wertpapierhandelsgesetzes (§ 2 Abs. 3 Nr. 2) darstellt. Dieser Dienstleistungscharakter des Market-Makings des Systembetreibers schafft einen deutlichen Unterschied zu den Eigen(Nostro)geschäften des Interbankenhandels. Bei diesem außerbörslichen Telefonhandel bleibt es für jeden initiativ werdenden Wertpapierhändler höchst ungewiss, ob der kontaktierte Händler eines anderen Kreditinstitutes überhaupt am Abschluss eines Geschäfts interessiert ist. Dagegen kann der Teilnehmer an einem außerbörslichen Handelssystem aufgrund des liquiditätsschaffenden Market-Making des Systembetreibers regelmäßig davon ausgehen, dass eine Inanspruchnahme dieses Handelssystems zu dem gewünschten Geschäftsabschluss führt, wenn er die Preisangebote des Systems akzeptiert.19 Infolge dieser liquiditätsspendenden Tätigkeit werden die vom Systembetreiber auf eigene Rechnung abgeschlossenen Wertpapiergeschäfte zu einem Eigenhandel „für andere“. 20 Der Dienstleistungscharakter des MarketMaking der Systembetreiber grenzt also die hierbei zustande kommenden Wertpapiergeschäfte deutlich von den reinen Zweier-Austauschverhältnissen des traditionellen Interbankenhandels ab,21 denen es an einer Dienstleistungskomponente mangelt und die deshalb nicht vom WertpapierhandelsAssmann in: Assmann/Uwe H. Schneider WpHG (Fn. 1) § 2 Rn. 49. Koller in: Assmann/Uwe H. Schneider WpHG (Fn. 1) § 31 Rn. 63; Assmann in: Assmann/Uwe H. Schneider WpHG (Fn. 1) § 2 Rn. 49, Oelkers WM 2001, 340, 345. 19 Kümpel Bank- und Kapitalmarktrecht (Fn. 12) Rn. 17.162; ders. in: Kümpel/Hammen Börsenrecht (Fn. 12) S. 74. 20 Die Regierungsbegründung des Gesetzes zur Umsetzung von EG -Richtlinien zur Harmonisierung bank- und wertpapieraufsichtsrechtlicher Vorschriften vom 22. Oktober 1997, mit dem die Wertpapier- und Finanzdienstleistung des „Eigenhandels für andere“ in die deutsche Rechtsordnung eingeführt worden ist, erwähnt als ein praktisches Beispiel für diese Dienstleistungsvariante ausdrücklich das Market-Making (BT-Drucks. 13/7142, S. 101; zust. Oelkers WM 2001, 340, 345). 21 Bachmann WM 2001, 1793, 1796, 1797. 17 18

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gesetz mit seinen Erkundigungs- und Informationspflichten erfasst werden. Insoweit zeigt sich eine Parallele zu den Direktemissionen von Schuldverschreibungen, bei denen eine befristete Überlassung von Finanzierungsmitteln an den Emittenten gegen Übereignung der den Rückzahlungsanspruch verbriefenden Schuldverschreibungsurkunde erfolgt. Auch hier will der Emittent keinerlei Dienstleistungen im Sinne des Wertpapierhandelsgesetzes erbringen.

III. Direktemissionen von Aktien Während der Emission von Schuldverschreibungen an den Ersterwerber eine rein kaufvertragliche Rechtsbeziehung ohne Dienstleistungskomponente zugrunde liegt, kommt bei der Ausgabe neuer Aktien zwischen der Gesellschaft und den Anlegern ein so genannter Zeichnungsvertrag zustande. 1. Abschluss eines Zeichnungsvertrages als korporationsrechtlicher Vertrag Hierbei handelt es sich nach ganz herrschender Meinung um einen korporationsrechtlichen Vertrag über den Erwerb einer Mitgliedschaft, der einen Vertrag sui generis darstellt.22 Mit dem Zeichnungsvertrag ist gemeint, dass die Zeichnung der neuen Aktien eine Willenserklärung des Zeichnenden voraussetzt, zu der eine entsprechende Erklärung der Aktiengesellschaft hinzutreten muss.23 Ein solcher Vertrag mit der Aktiengesellschaft ist notwendig, weil die Aufnahme neuer Mitglieder allein Angelegenheit der Gesellschaft ist.24 Dieser Zeichnungsvertrag ist vergleichbar dem Beitrittsvertrag im Sinne des Rechts der Personengesellschaften gerichtet auf die Aufnahme in die Gesellschaft. Mit diesem Zeichnungsvertrag wird der Anleger freilich nicht schon Aktionär. Voraussetzung hierfür ist die Eintragung der Durchführung der Kapitalerhöhung (§ 189 AktG). Erst hierdurch entstehen die neuen Mitgliedschaftsrechte kraft Gesetzes. Diese können sodann vom Anleger aufgrund des zuvor abgeschlossenen Zeichnungsvertrags ohne weitere Mitwirkung der Gesellschaft erworben werden.25 Im Unterschied zur Emission von Schuldverschreibungsurkunden ist das Entstehen der Aktienrechte als Mitgliedschaftsrechte nicht von ihrer wertpapiermäßigen Verbriefung abhängig. Bei den Aktienurkunden handelt es sich deshalb um rein deklaratorische Wertpapiere.26 22 Lutter in: Kölner Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl., 1988, § 185 Rn. 5; ders. FS Schilling, S. 215; Hefermehl/Bungeroth Aktiengesetz, 1. Aufl., 1973 ff. Rn. 42 ff.; Hüffer Aktiengesetz, 5. Aufl., 2002, § 185 Rn. 23; Wiedemann in: Großkomm. Aktiengesetz, 4. Aufl., 1992 Rn. 1a; Krieger in: Münchener Handbuch zum Aktienrecht, Bd. 4, 2. Aufl., 2000 ff., S. 594. 23 Lutter in: Kölner Kommentar zum AktG (Fn. 22) § 185 Rn. 5. 24 Hefermehl/Bungeroth AktG (Fn. 22) § 185 Rn. 42. 25 Hüffer AktG (Fn. 22) § 185 Rn. 4; Hefermehl/Bungeroth AktG (Fn. 22) § 185 Rn. 48. 26 Canaris Recht der Wertpapiere (Fn. 10) § 28 II , 1.

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2. Fehlende Wertpapierdienstleistungen der emittierenden Gesellschaft Im Unterschied zur Emission von Schuldverschreibungsurkunden kommen bei Aktienemissionen keine kaufvertraglichen Beziehungen zwischen Emittent und Anleger zustande. Denn der Zeichner erwirbt mit der späteren handelsregisterlichen Eintragung der Durchführung der Kapitalerhöhung die neu geschaffenen Mitgliedschaftsrechte. Mit der handelsregisterlichen Eintragung läuft dieser Erwerbsvorgang aufgrund des Zeichnungsvertrages automatisch ab und bedarf seitens der emittierenden Gesellschaft und des Zeichners keiner weiteren Zustimmung.27 Der Zeichnungsvertrag begründet deshalb weder eine Pflicht der Aktiengesellschaft, die Mitgliedschaftsrechte „zu liefern“ oder „zuzuteilen“28 noch eine Verpflichtung des Zeichners, sie „zu beziehen“.29 Die emittierende Gesellschaft will zudem bei diesem Emissionsvorgang auch keine Wertpapierdienstleistung im Sinne des Wertpapierhandelsgesetzes erbringen. Zur Ausgabe der Aktienurkunde ist die Gesellschaft bereits gesetzlich verpflichtet. Denn regelmäßig besteht die Pflicht, an den Zeichner zwecks wertpapiermäßiger Verkörperung seiner Mitgliedschaftsrechte die hierzu erforderlichen Aktienurkunden auszugeben. 30 Etwas anderes gilt nur, wenn in der Satzung der Anspruch auf Verbriefung seiner Anteilsrechte ausgeschlossen oder eingeschränkt ist (§ 10 Abs. 5 AktG). Die Aktiengesellschaften bezwecken auch aus der Sicht eines objektiven Dritten mit der Ausgabe neuer Aktien die Verbreiterung ihrer Eigenkapitalbasis. Ähnlich dem Emittenten von Schuldverschreibungen verfolgt also die Gesellschaft lediglich die Aufnahme neuer (langfristiger) Finanzierungsmittel. Wie bei der Anleiheemission fehlt es deshalb auch bei der Emission von Aktienurkunden an einer Wertpapierdienstleistung, die eine Anwendbarkeit des Wertpapierhandelsgesetzes mit seinen Erkundigungs- und Informationspflichten rechtfertigen könnten.

IV. Direktemission von Investmentanteilen Vergleichbar der Emission von Aktien liegen auch der Ausgabe von Anteilsrechten an Sondervermögen im Sinne des Investmentgesetzes (§ 1) keine kaufvertraglichen Rechtsbeziehungen zugrunde.

Hefermehl/Bungeroth AktG (Fn. 22) § 185 Rn. 48. Lutter FS Schilling, S. 217; Döllerer ZGR 1983, 418; Hefermehl/Bungeroth AktG (Fn. 22) § 185 Rn. 48. 29 Hefermehl/Bungeroth AktG (Fn. 22) § 185 Rn. 48. 30 Hefermehl/Bungeroth AktG (Fn. 22) § 185 Rn. 48. 27 28

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1. Abschluss eines so genannten Investmentvertrages Im Zuge des Erwerbs von Anteilsrechten an den zu einem bestimmten Investmentfonds gehörenden Wertpapieren und Kontoguthaben kommt zwischen der Kapitalanlagegesellschaft (Investmentgesellschaft) als Fondsverwalter und den am Fonds beteiligten Anlegern ein so genannter Investmentvertrag zustande. 31 Dieser Investmentvertrag wird regelmäßig unmittelbar zwischen der Investmentgesellschaft und den Anlegern abgeschlossen, auch wenn bei der Ausgabe der Investmentzertifikate ein Kreditinstitut oder eine Vertriebsgesellschaft eingeschaltet ist. Diese treten dabei als offene Stellvertreter auf sei es, dass sie im Namen des Kunden handeln, sei es, dass sie die Investmentgesellschaft vertreten. 32 Der Investmentvertrag ist seiner Rechtsnatur nach ein entgeltlicher Geschäftsbesorgungsvertrag im Sinne des § 675 BGB . 33 Dieser Vertrag trägt deshalb nach allgemeiner Meinung keine kaufrechtlichen Züge, wie es für den Kauf von Schuldverschreibungen zutrifft. 34 Die den Investmentvertrag prägende Hauptpflicht der Investmentgesellschaft ist, die zu dem jeweiligen Fonds gehörenden Wertpapiere und Kontoguthaben im Interesse der am Fondsvermögen beteiligten Anleger zu verwalten (§ 10 Abs. 1 Investmentgesetz). 35 Die Investmentgesellschaft muss deshalb die Verwaltungsmaßnahmen ergreifen, die nach dem sachkundigen Urteil eines wirtschaftlich denkenden Vermögensverwalters zu erwarten sind. 36 Die Investmentgesellschaft kann sich daher nicht nur auf die Erhaltung des Sondervermögens beschränken. Sie muss sich vielmehr nach Maßgabe der Vertragsbedingungen um die Erzielung eines Wertzuwachses und/ oder möglichst hoher Erträge bemühen. Sie hat entsprechend einem umsichtigen und soliden Geschäftsführer zu handeln, der die Risiken und 31 Baur Investmentgesetze, 2. Aufl., 1997, § 15 Rn. 5 m.w.N; ders. in: Assmann/Schütze, Handbuch des Kapitalanlagerechts, 2. Aufl., 1999, § 18 Rn. 78. 32 Canaris Bankvertragsrecht, 2. Bearbeitete Aufl., 1981, Rn. 2362; Baur Investmentgesetze (Fn. 31) § 15 Rn. 10. Dagegen handelt es sich nach allgemeiner Meinung um einen Kaufvertrag, wenn bereits ausgegebene Investmentanteile weiterveräußert werden (Canaris aaO. Rn. 2380; Baur Investmentgesetze (Fn. 31) § 18 Rn. 9). 33 Baur Investmentgesetze (Fn. 31) § 15 Rn. 5 mwN. Dabei handelt es sich nach Köndgen um einen „Formularvertrag kraft gesetzlicher Anordnung“, weil die Investmentgesellschaft gesetzlich verpflichtet ist, das „Rechtsprodukt“ Investmentanteil in ihren allgemeinen Vertragsbedingungen vorweg zu definieren und diese Bedingungen dem Vertragsschluss zugrunde zu legen sind (Bankrechtshandbuch, 2. Aufl., 2001, § 113 Rn. 120; vgl. weiter Baur Investmentgesetze (Fn. 31) § 15 Rn. 5. 34 Baur Investmentgesetze (Fn. 31) § 15 Rn. 7; ders. in: Assmann/Schütze Kapitalanlagerecht (Fn. 31) § 18 Rn. 78. 35 Beckmann/Scholtz Ergänzbares Handbuch für das gesamte Investmentwesen, Kommentar Loseblattsammlung, § 10 Rn. 6. 36 Canaris Bankvertragsrecht (Fn. 32) Rn. 2423; Kümpel WM Festgabe Heinsius, S. 39 ff.; Baur Investmentgesetze (Fn. 31) § 10 Rn. 24.

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Chancen kalkuliert, um alle Möglichkeiten zur Erreichung eines optimalen Anlageerfolges auszuschöpfen. 37 Diese Verwaltungspflicht kommt nicht erst nach Erwerb der Wertpapiere zum Tragen, sondern bereits mit der Entgegennahme von Geldern der Anleger. 38 Die Investmentgesellschaft hat deshalb auch eine Anlagepflicht. Sie kann den vom Anleger gezahlten Ausgabepreis nicht nach eigenem Gutdünken auf dem von ihr bei der Depotbank geführten Sperrkonto (§ 12a Abs. 1 KAGG ) stehen lassen. 39 2. Gesetzlicher Erwerb von Anteilsrechten am Fondsvermögen Spätestens mit der Verbuchung des auf dieses Sperrkonto einzuzahlenden Ausgabepreises, der den Gegenwert der anschließend auszustellenden Investmentzertifikate darstellt, erwirbt der Anleger entsprechende Anteilsrechte an den zum Sondervermögen gehörenden Wertpapieren. Diese erworbenen Anteilsrechte werden sodann in den an den Anleger auszugebenden Investmentzertifikaten verbrieft. Denn das der Investmentgesellschaft angeschaffte Geld fällt nach allgemeiner Meinung kraft Gesetzes bereits in dem Augenblick in das Fondsvermögen, in dem diese Beträge dem Fondsvermögen zugeflossen sind. 40 Für diesen Zufluss genügt es, dass der Betrag bei der Depotbank eingegangen ist, selbst wenn dieser Betrag dem Konto des betreffenden Fonds noch nicht gutgebracht worden ist. Denn mit diesem Eingang erwirbt die Investmentgesellschaft einen Anspruch auf Gutschrift auf dem Fondskonto. Dieser Anspruch (§§ 675, 667 BGB) ist bereits Bestandteil des Fondsvermögens.41 Mit dem Eingang des Ausgabepreises bei der Depotbank erwirbt also der Anleger kraft Gesetzes einen entsprechenden Anteil am Fondsvermögen. Anderenfalls entstünde eine unerwünschte Inkongruenz zwischen der Zusammensetzung des Fondsvermögens und dem Kreis der daran beteiligten Personen.42 Die spätere Ausgabe des Investmentzertifikates bewirkt daher nur, dass die schon zuvor in der Person des Anlegers entstandenen Anteilsrechte wertpapiermäßig verbrieft werden. Die Investmentzertifikate sind daher wie die Aktienurkunden keine konstitutiven, sondern deklaratorische Wertpapiere. 37 Beckmann/Scholtz (Fn. 35) § 10 Rn. 13; zu den insoweit vergleichbaren Verwaltungspflichten eines Testamentsvollstreckers vgl. BGH WM 1987, 239 = NJW 1987, 1070 ff. 38 Baur Investmentgesetze (Fn. 31) § 10 Rn. 3. 39 Ohl Die Rechtsbeziehungen innerhalb des Investment-Dreiecks, 1989, S. 44. 40 Baur Investmentgesetze (Fn. 31) § 15 Rn. 7, § 18 Rn. 5; ders. in: Assmann/Schütze Kapitalanlagerecht (Fn. 31) § 18 Rn. 78; Canaris Bankvertragsrecht (Fn. 32) Rn. 2354; Klenk Die rechtliche Behandlung des Investmentanteils unter Berücksichtigung der Anteilsberechtigung des Investmentratensparers, 1967, S. 12; Reuter Investmentfonds und die Rechtstellung der Anteilsinhaber, Diss. Frankfurt, 1965, S. 108. 41 Canaris Recht der Wertpapiere (Fn. 10) § 29 II . 42 Canaris Recht der Wertpapiere (Fn. 10) § 29 II .

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3. Rechtsnatur der Investmentzertifikate Die Investmentzertifikate verbriefen nach allgemeiner Meinung nicht nur die Ansprüche der Anteilsinhaber gegenüber der Investmentgesellschaft aus dem Investmentvertrag auf Anlage und Verwaltung der Wertpapiere 43 sondern bei der üblichen Treuhandlösung für das Fondsvermögen (§ 30 Investmentgesetz) auch die Anteilsrechte an den zu diesem Vermögen gehörenden Wertpapieren und Kontoguthaben. 44 Die Investmentzertifikate stellen deshalb nach überwiegender Auffassung Wertpapiere eigener Art dar. 45 Ungeachtet dessen, dass die Investmentzertifikate die dingliche Teilhaberschaft am Fondsvermögen verkörpern, sind die Investmentzertifikate dennoch Schuldverschreibungen, weil sie auch die schuldrechtlichen Ansprüche gegen die Investmentgesellschaft wertpapiermäßig verbriefen. 46 4. Ausgabe von Investmentzertifikaten keine Wertpapierdienstleistung Bei der Ausgabe der Investmentzertifikate erbringt die Investmentgesellschaft keine Wertpapierdienstleistung, die eine Erkundigungs- und Informationspflicht im Sinne des § 31 Abs. 2 WpHG begründen würde. Bei der Ausgabe dieser Urkunden wird an den Anleger keine Dienstleistung im Sinne des Wertpapierhandelsgesetzes erbracht. Denn nach Investmentgesetz (§ 23 Abs. 1) ist mit dieser Urkundenausgabe nicht die Investmentgesellschaft, sondern durch gesetzliche Anordnung die Depotbank betraut. Zwischen der Depotbank und den Anlegern besteht aber nach heute herrschender Meinung kein Vertragsverhältnis, sondern ein gesetzliches Schuldverhältnis, weil ein geschäftlicher Kontakt besteht (vgl. auch § 311 Abs. 2 Nr. 3 BGB ). 47 Zu diesen gesetzlich normierten Pflichten aus diesem Schuldverhältnis gehört insbesondere die Pflicht zur Ausgabe der die Anteilsrechte verbriefenden Investmentzertifikate. Mit der Ausgabe dieser Urkunden erfüllt deshalb die Depotbank keine rechtsgeschäftlich begründete Leistungspflicht sondern eine gesetzliche Pflicht. 43 Insoweit war der Wortlaut des früheren § 1 Abs. 1 KAGG irreführend (Baur Investmentgesetze (Fn. 31) § 18 Rn. 2). 44 Canaris Bankvertragsrecht (Fn. 32) Rn. 2372; Baur Investmentgesetze (Fn. 31) § 18 Rn. 2 mwN.; Köndgen in: Schimansky/Bunte/Lwowski Bankrechtshandbuch, 2. Aufl., 2001, § 113 Rn. 136. 45 Baur Investmentgesetze (Fn. 31) § 1 Rn. 25; § 18 Rn. 2; Canaris Bankvertragsrecht (Fn. 32) Rn. 2372. 46 Canaris Recht der Wertpapiere (Fn. 10) § 29 Rn. 3; Zöllner Wertpapierrecht (Fn. 9) § 30 II 3. 47 OLG Frankfurt WM 1997, 364, 367; Canaris Bankvertragsrecht (Fn. 32) Rn. 2481; Baur Investmentgesetze (Fn. 31) § 12 Rn. 15; ders. in: Assmann/Schütze Kapitalanlagerecht (Fn. 31) § 18 Rn. 88; Köndgen in: Schimansky/Bunte/Lwowski Bankrechtshandbuch (Fn. 44) § 113 Rn. 134; Kümpel Bank- und Kapitalmarktrecht (Fn. 12) Rn. 12.161.

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V. Zwischenergebnis Die Erkundigungs- und Informationspflichten des § 31 Abs. 2 WpHG kommen bei Direktemissionen von Schuldverschreibungen, Aktien und Investmentzertifikaten nicht zum Tragen, weil der Emittent hierbei keine Wertpapierdienstleistung im Sinne des Wertpapierhandelsgesetzes (§ 2) erbringt. Bei einer Anleiheemission will der Emittent allein seine Finanzierungsbedürfnisse befriedigen. Mit einer Aktienemission wird lediglich die Verbreiterung der Eigenkapitalbasis des Emittenten und damit wiederum die Befriedigung eines Finanzierungsbedarfes verfolgt. Bei der Ausgabe von Investmentzertifikaten erfüllt die Depotbank des Investmentfonds eine gesetzliche Pflicht (vgl. § 33 Abs. 1 Investmentgesetz).

VI. Verwaltungstätigkeit der Investmentgesellschaften als Vermögensverwaltung Das Fehlen einer Dienstleistung bei der Ausgabe von Investmentzertifikaten zeigt sich auch darin, dass beim Erwerb dieser Zertifikate die von der Investmentgesellschaft geschuldete Fondsverwaltung ganz im Vordergrund steht. Diese Tätigkeit zielt zwar auf die interessenwahrende Anschaffung und Verwaltung von Wertpapieren, die das Fondsvermögen bilden. Diese Aktivitäten kommen den Fondsbeteiligten dadurch zugute, dass sich bei der Vermehrung des Fondsvermögens auch der Wert der Anteilsrechte an den darin befindlichen Wertpapieren entsprechend erhöht. Der Erwerb von Anteilszertifikaten gegen Zahlung des unverzüglich anzulegenden Ausgabepreises ist also nur die notwendige Voraussetzung, um an den mit der Fondsverwaltung verknüpften Dienstleistungen, insbesondere der Optimierung der Anteilsrechte, partizipieren zu können. Anders als bei der Ausgabe von Schuldverschreibungen z. B. der Hypothekenbanken steht bei Investmentzertifikaten also nicht die Ausgabe der Wertpapiere, sondern die geschuldete Dienstleistung in Form der Verwaltung der zum Fondsvermögen gehörenden Wertpapiere im Vordergrund. Diese Verwaltungstätigkeit erfüllt den gesetzlichen Tatbestand der Vermögensverwaltung im Sinne des § 2 Abs. 3 Nr. 6 WpHG , bei der einzelne in Wertpapieren, Geldmarktinstrumenten oder Derivaten angelegte Vermögen für andere mit Entscheidungsspielraum verwaltet werden. Deshalb hat die Investmentgesellschaft aufgrund ihrer Verwaltungspflicht die Maßnahmen zu ergreifen, die nach dem sachkundigen Urteil eines wirtschaftlich denkenden Vermögensverwalters zu erwarten sind. 48 48 Baur Investmentgesetze (Fn. 31) § 10 Rn. 24; vgl. auch Beckmann/Scholtz (Fn. 35) § 10 Rn. 13.

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Diese Verwaltung geschieht durch Wertpapiergeschäfte, aufgrund derer die Investmentgesellschaft Wertpapiere nach Maßgabe der Vertragsbedingungen für das Fondsvermögen anschafft oder hieraus veräußert. Dabei erfüllt die Investmentgesellschaft den gesetzlichen Tatbestand eines Kommissionsvertrages.49 Denn wie ein Kommissionär hat die Investmentgesellschaft hierbei im eigenen Namen für gemeinschaftliche Rechnung der Fondsbeteiligten zu handeln.50 Zur Vermeidung einer Gesetzeskonkurrenz von Investmentgesetz und Depotgesetz mit seinen Vorschriften über die Einkaufskommission (§§ 18 ff.) ist deshalb die Anwendbarkeit des Depotgesetzes ausdrücklich ausgeschlossen worden (§ 9 Abs. 7 KAGG). 1. Unanwendbarkeit der Verhaltenspflichten des WpHG auf Investmentgesellschaften Wenngleich die Verwaltungspflichten als die Hauptleistung der Investmentgesellschaft (§ 8 Abs. 1 Investmentgesetz) den gesetzlichen Tatbestand der Vermögensverwaltung als eine vom Wertpapierhandelsgesetz erfasste Dienstleistung (§ 2 Abs. 3 Nr. 6 WpHG) erfüllt,51 kommt nach herrschender Auffassung dieses Gesetz auf die Tätigkeit der Investmentgesellschaft nicht zur Anwendung. Hiernach stellt die Geschäftstätigkeit der Investmentgesellschaft keine Wertpapierdienstleistung im Sinne des Wertpapierhandelsgesetzes dar. Infolgedessen sind die Verhaltenspflichten der §§ 31 ff. WpHG und damit der die Erkundigungs- und Informationspflicht begründende § 31 Abs. 2 WpHG auf die Tätigkeiten der Investmentgesellschaft nicht anwendbar.52 a) Gesetzesmaterialien zum Zweiten Finanzmarktförderungsgesetz Diese rechtliche Beurteilung steht im Einklang mit den Gesetzesmaterialien zum Zweiten Finanzmarktförderungsgesetz, mit dem die VerhaltensVgl. auch Köndgen (Fn. 33) § 113 Rn. 44. Nach Köndgen handelt die Investmentgesellschaft dagegen nicht als Kommissionär, sondern im Wege des Eigenhandels für andere (Bankrechtshandbuch (Fn. 33) § 113 Rn. 44). 51 Vgl. auch Köndgen (Fn. 33) § 113 Rn. 44. 52 Assmann in: Assmann/Schütze Kapitalanlagerecht (Fn. 31) § 2 Rn. 17, 47, 48; Baur Investmentgesetze (Fn. 31) vor § 1 Rn. 58, § 2 Rn. 106. Dagegen müssen nach Köndgen Investmentgesellschaften als Wertpapierdienstleistungsunternehmen im Sinne des Wertpapierhandelsgesetzes angesehen werden, wenn sie eigene Handelsabteilungen unterhalten und dabei den Handel nicht nur über ihre Gesellschafterbanken, sondern im Wege des Eigenhandels für Rechnung des Sondervermögens abwickeln (Bankrechtshandbuch (Fn. 33) § 113 Rn. 44 f.). Deshalb seien auf Investmentgesellschaften grundsätzlich und soweit sinngemäß anwendbar auch die besonderen Verhaltenspflichten der §§ 31 ff. WpHG . Diesen Regelungen geht zwar der frühere § 9 KAGG als spezieller Verhaltensstandard für Investmentgesellschaften vor. Den §§ 31 ff. WpHG bliebe aber angesichts ihres höheren Detaillierungsgrades eine wichtige Auffangfunktion, insbesondere im Bereich des Compliance-Wesens (Bankrechtshandbuch (Fn. 33) § 113 Rn. 45). 49 50

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pflichten der EG -Wertpapierdienstleistungsrichtlinie umgesetzt worden sind. Danach sind Kapitalanlagegesellschaften keine Wertpapierdienstleistungsunternehmen im Sinne der Legaldefinition des § 2 Abs. 4 WpHG , „da die Anlage der bei ihnen eingelegten Gelder im eigenen Namen für gemeinschaftliche Rechnung der Anteilsinhaber keine Wertpapierdienstleistung im Sinne des § 2 Abs. 3 WpHG ist“. 53 Dies hat auch das im Gesetzgebungsverfahren federführende Bundesministerium der Finanzen in seinem Schreiben vom 6. Juli 1994 unter ausdrücklichem Hinweis auf die Gesetzesmaterialien klargestellt. 54 Die Auffassung des deutschen Gesetzgebers steht auch im Einklang mit den europäischen Vorgaben durch die Wertpapierdienstleistungsrichtlinie, die die Geschäftstätigkeit der Investmentgesellschaften ausdrücklich aus ihrem Anwendungsbereich ausgenommen hat (Art. 2 Abs. 2 Buchst. H). b) Gesetzesmaterialien zum Investmentmodernisierungsgesetz 2003 Die lege lata bestehende Unanwendbarkeit des Wertpapierhandelsgesetzes auf die Geschäftstätigkeit der Investmentgesellschaften lässt sich auch aus dem Investmentmodernisierungsgesetz 2003 erschließen. Hierdurch sind in das neue Investmentgesetz Regelungen eingefügt worden, mit denen einzelne der in den §§ 31 ff. WpHG enthaltenen Bestimmungen nunmehr auch für die Investmentgesellschaften vorgeschrieben worden sind. Dies gilt insbesondere für die Verpflichtung der Investmentgesellschaft, ihre Tätigkeit wie die Wertpapierdienstleistungsunternehmen (§ 31 Abs. 1 Nr. 1 WpHG) mit der gebotenen Sachkenntnis, Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit im besten Interesse der von ihr verwalteten Sondervermögen auszuüben (§ 8 Abs. 2 Nr. 2 Investmentgesetz). Auch hat sich die Investmentgesellschaft entsprechend dem § 31 Abs. 1 Nr. 2 WpHG um die Vermeidung von Interessenkonflikten zu bemühen und, wenn diese sich nicht vermeiden lassen, dafür zu sorgen, dass unvermeidbare Konflikte unter der gebotenen Wahrung des Interesses der Anleger gelöst werden (§ 8 Abs. 2 Nr. 3 Investmentgesetz). Die dritte dem Wertpapierhandelsgesetz entlehnte Regelung betrifft die Organisationspflicht im Sinne des § 33 Abs. 1 Nr. 2 WpHG . So muss nach Investmentgesetz (§ 8 Abs. 3) eine Investmentgesellschaft so organisiert sein, dass das Risiko von Interessenkonflikten zwischen der Gesellschaft und den Anlegern, zwischen verschiedenen Anlegern, zwischen einem Anleger und einem Investmentvermögen oder zwischen zwei Investmentvermögen möglichst gering ist. Nach der Begründung des Diskussionsentwurfes des neuen Investmentgesetzes sollte mit der Regelung des § 8 53

BT-Drucks. 12/7918, S. 100.

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Zitiert bei Baur Investmentgesetze (Fn. 31) vor § 1 Rn. 58, § 2 Rn. 106.

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Investmentgesetz „eine gesetzliche Lücke“ geschlossen werden, bei der sich die Aufsichtsbehörde bisher im Wege der Auslegung helfen musste. Denn das WpHG sei für das Betreiben des Investmentgeschäfts nicht ausdrücklich anwendbar. Die teilweise Anwendbarkeit der Verhaltensregeln der §§ 31 ff. WpHG auf Investmentgesellschaften hatte die Aufsichtsbehörde damit begründet, dass dies zum Schutze der Integrität des Kapitalmarktes erforderlich sei und dieser Schutz einen wesentlichen Bestandteil der Anlegerinteressen darstellt, die die Investmentgesellschaft zweifelsfrei zu wahren haben. Der in das Investmentgesetz neu integrierte § 8 Abs. 2 Nr. 1 verpflichtet deshalb die Investmentgesellschaft nunmehr ausdrücklich, bei der Ausübung ihrer Tätigkeit im ausschließlichen Interesse ihrer Anleger und der „Integrität“ des Marktes zu handeln. 55 Diese gesetzgeberische Konzeption des aufsichtsrechtlichen Rahmens für die Geschäftstätigkeit der Investmentgesellschaften bestätigt die schon bislang von der herrschenden Meinung vertretene Auffassung, dass es sich bei dem KAGG als Vorläufer des Investmentgesetzes um ein Aufsichts-, Organisations- und Vertriebsgesetz handelt, 56 das ein die Anwendbarkeit des Wertpapierhandelsgesetzes ausschließendes Spezialgesetz darstellt. 57 Dies spricht dafür, dass diese beiden für den Anwendungsbereich des Wertpapierhandelsgesetzes zu beachtenden Verhaltenspflichten auch nach neuem Recht auf die Tätigkeit der Investmentgesellschaften nicht anwendbar sind. c) Investmentgesetz für aufsichtsrechtliche Verhaltenspflichten als lex specialis gegenüber Wertpapierhandelsgesetz Schließlich spricht auch § 5 Investmentgesetz dafür, dass das Investmentgesetz lex specialis gegenüber dem Wertpapierhandelsgesetz ist. Danach hat die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht die Aufsicht über die Investmentgesellschaften (nur) „nach den Vorschriften des Investmentgesetzes und des Kreditwesengesetzes“ auszuüben.58 Nach dieser gesetzgeberischen Grundkonzeption darf die Aufsichtsbehörde die Einhaltung der im Wertpapierhandelsgesetz enthaltenen Verwaltungspflichten, soweit sie nicht in das InvestmentgeDiskussionsentwurf zum Investmentmodernisierungsgesetz, S. 25. Baur in: Assmann/Schütze, Handbuch des Kapitanlegerechts, 2. Aufl., 1997, § 18 Rn. 1 f. 57 Baur Investmentgesetze (Fn. 31) vor § 1 Rn. 59; ders. in: Assmann/Schütze Kapitalanlagerecht (Fn. 31) § 18 Rn. 112a. 58 Diese Regelung entspricht dem bisherigen § 2 Abs. 1 KAGG (Diskussionsentwurf des Investmentmodernisierungsgesetzes 2003, S. 33). Im übrigen stellt § 5 Satz 2 Investmentgesetz ausdrücklich klar, daß die Bundesanstalt auch die Aufsicht und den WpHG (nur) ausübt, wenn die Investmentgesellschaft die individuelle Vermögensverwaltung nach § 7 Abs. 2, Nr. 1 des Gesetzes betreibt. 55 56

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setz als spezielles Aufsichtsgesetz integriert worden sind, gar nicht überwachen. Ohne eine solche Überwachungsbefugnis können aber die Vorschriften über die Erkundigungs- und Informationspflichten des § 31 Abs. 2 WpHG nicht auf die Geschäftstätigkeit der Investmentgesellschaften angewendet werden. Denn bei diesen Verhaltenspflichten handelt es sich primär um aufsichtsrechtliche Normen,59 deren Einhaltung von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht zu überwachen ist (§ 35 Abs. 1 WpHG). Eine solche für die Verhaltenspflichten des WpHG begriffswesentliche Kontrollbefugnis ist aber durch § 2 des Investmentgesetzes als einem speziellen Aufsichtsgesetz für das Investmentwesen gerade ausgeschlossen worden. Nach alledem lässt sich feststellen, dass die Investmentgesellschaften die Erkundigungs- und Informationspflichten des Wertpapierhandelsgesetzes (§ 31 Abs. 2) bei ihrer Geschäftstätigkeit nicht zu beachten haben, obwohl es sich wirtschaftlich gesehen um die Dienstleistungen eines Vermögensverwalters handelt. Dies zeigt, dass nicht alle Unternehmen, die Wertpapierdienstleistungen erbringen, per se Wertpapierdienstleistungsunternehmen im Sinne des Wertpapierhandelsgesetzes sind. 60 Eine gewisse Parallele zeigt sich bei der professionellen Verwahrung und Verwaltung von Wertpapieren durch Kreditinstitute. Diese Geschäftstätigkeit stellt aus tatsächlicher Sicht Wertpapierdienstleistungen dar, die aber nicht vom Wertpapierhandelsgesetz erfasst werden. Denn nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 WpHG sind solche Tätigkeiten nur dann Wertpapierdienstleistungen im Sinne dieser Vorschrift, „sofern nicht das Depotgesetz anzuwenden ist“. Auf das Depotgeschäft der Kreditinstitute kommt aber das Depotgesetz gerade zur Anwendung. Diese Regelung wurde geschaffen, bevor die früheren eigenständigen Bundesaufsichtsämter für den Wertpapierhandel sowie für das Kreditwesen und das Versicherungswesen zu der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht zusammengeführt worden sind. Mit dieser Bestimmung, die das Depotgeschäft der Kreditinstitute aus dem Anwendungsbereich des Wertpapierhandelsgesetzes ausgrenzte, sollte erreicht werden, dass aufsichtsrechtlich das frühere Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen wie bislang für das bankmäßige Depotgeschäft zuständig blieb. Eine solche Ausgrenzung der depotgeschäftlichen Dienstleistungen aus dem Katalog der Wertpapierdienstleistungen ist aber nach der Zusammenfassung der drei Bundesaufsichtsämter obsolet geworden.

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Kümpel Bank- und Kapitalmarktrecht (Fn. 12) Rn. 8.453. Assmann in: Assmann/Schneider WpHG (Fn. 1) § 2 Rn. 21.

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2. Rechtspolitischer Ausblick Bei der Frage, ob eine Erkundigungs- und Informationspflicht im Sinne des Wertpapierhandelsgesetzes auch für Direktemissionen von Investmentgesellschaften de lege ferenda eingeführt werden sollte, wäre vor allem zu berücksichtigen, dass sich das Investmentgesetz durch einen besonders hohes Anlegerschutzniveau auszeichnet. Dies gilt auch für die Informationspflichten beim Vertrieb der Investmentzertifikate. So sind vor Vertragsschluss dem Erwerber eines Anteils der vereinfachte Verkaufsprospekt (§ 42 Investmentgesetz) und der detaillierte ausführliche Verkaufsprospekt der Kapitalanlagegesellschaft oder der ausländischen Investmentgesellschaft in der jeweils geltenden Fassung kostenlos und unaufgefordert anzubieten. Dem ausführlichen Verkaufsprospekt sind grundsätzlich die Vertragsbedingungen oder bei als Investmentaktiengesellschaften organisierten Kapitalanlagegesellschaften die Satzung sowie der zuletzt veröffentlichte Jahresbericht und der anschließende Halbjahresbericht beizufügen, sofern er veröffentlicht ist. Der einfache Verkaufsprospekt muss Angaben zu Art und Hauptmerkmalen der Anteile, insbesondere der Art der durch die Investmentzertifikate verbrieften Rechte und Ansprüche, haben (§ 42 Abs. 1 Nr. 6; bisher § 19 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 KAGG). Hierdurch soll es dem durchschnittlichen Anleger deutlich werden, dass es sich gegebenenfalls um riskante und spekulative, zumindest aber um volatile Anlagen handelt.61 Bei Dach-Sondervermögen mit zusätzlichen Risiken (Hedgefonds) sieht das Investmentgesetz (§ 117 Abs. 2) sogar folgenden zusätzlichen Warnhinweis vor, der an auffälliger Stelle druck-technisch hervorgehoben sein muss: „Der Bundesminister der Finanzen warnt: Bei diesem Investmentfonds müssen die Anleger bereit und in der Lage sein, Verluste des eingesetzten Kapitals bis hin zum Totalverlust hinzunehmen.“ Im Hinblick auf ein etwaiges Schutzbedürfnis wäre weiter zu bedenken, dass sich der Anleger den Schutz der Erkundigungs- und Informationspflichten des § 31 Abs. 2 WpHG durch Zwischenschaltung eines Kreditinstitutes sichern kann, die diese Pflichten als Wertpapierhandelsunternehmen im Sinne des Wertpapierhandelsgesetzes zu erfüllen haben. Hinzu kommt, dass auch im Anwendungsbereich des Wertpapierhandelsgesetzes die Informationspflichten auf das Notwendigste reduziert werden, wenn sich der Anleger bei dem Kauf von Wertpapieren nicht die Dienstleistung eines Kreditinstituts in Anspruch nimmt, sondern hiermit einen Discount(Direkt-)Broker beauftragt. In diesen Fällen hat der Direkt-Broker den Anleger spätestens vor Erteilung eines Auftrages grundsätzlich nur zu seinen Kenntnissen und Erfahrungen zu befragen. Die geschuldete Aufklärung soll 61 Assmann Prospekthaftung als Haftung für die Verletzung kapitalmarktbezogener Informationspflichten nach deutschem und US -amerikanischen Recht, 1985, S. 315 Fn. 25; Baur Investmentgesetze (Fn. 31) § 19 Rn. 26.

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sodann unter Zugrundelegung der Kenntnisse und Erfahrungen der vom Anleger beabsichtigten Geschäftsart erfolgen. 62 Sofern eine reduzierte Erkundigungs- und Informationspflicht rechtspolitisch dennoch für notwendig erachtet wird, müsste die Erfüllung in standardisierter Form möglich sein, wie dies auch für das vom Wertpapierhandelsgesetz erfasste Effektengeschäft gilt.63 Aus rechtssystematischen Gründen wäre eine solche Regelung im Katalog der allgemeinen Verhaltensregelungen des § 9 Investmentgesetzes einzufügen. Dies stünde im Einklang mit dem Charakter des Investmentgesetzes als einem aufsichtsrechtlichen Spezialgesetz für den Investmentbereich gegenüber dem Wertpapierhandelsgesetz als allgemeine aufsichtsrechtliche Kodifikation für Wertpapierdienstleistungsunternehmen. Auch sollte es den Investmentgesellschaften ausdrücklich erlaubt sein, generell von der Einholung von Kundenangaben im Sinne der Erkundigungspflicht des § 31 Abs. 2 Nr. 1 WpHG abzusehen, wenn sie unaufgefordert vor Vertragsschluss in standardisierter Form solche Informationen zur Verfügung stellen, die sie einem Anleger ohne jegliche Kenntnis und Erfahrungen hinsichtlich der Anlage in Investmentanteile zu geben hätte. Dies könnte zusammen mit dem Verkaufsprospekt 64 und den Vertragsbedingungen des Fonds geschehen, die ebenfalls dem Anleger im Zusammenhang mit dem Vertragsschluss zur Verfügung zu stellen sind (§ 121 Abs. 2 Investmentgesetz i.V.m. § 312b BGB ).

62 Richtlinie des früheren Bundesaufsichtsamtes für den Wertpapierhandel gem. § 35 Abs. 6 des Gesetzes über den Wertpapierhandel (WpHG) zur Konkretisierung der §§ 31 und 32 WpHG für das Kommissionsgeschäft, den Eigenhandel für andere und das Vermittlungsgeschäft der Wertpapierdienstleistungsunternehmen (Nr. 2.6), abgedruckt bei Kümpel/Hammen/Ekkenga Kapitalmarktrecht (Fn. 15) Kz 631/1, S. 9). 63 BGH WM 1999, 2300, 2302; OLG München für eine standardisierte Kundeninformation durch Discount-Broker bei Bandbreiten-Optionsscheinen mit der „Knockout“-Variante (WM 1998, 2367, 2371; Horn ZBB 1977, 139, 149 mwN.). 64 Nach dem neuen Investmentgesetz ist dem Anleger neben dem bisherigen ausführlichen ein einfacher Verkaufsprospekt zur Verfügung zu stellen. Dieser Prospekt muss in für Anleger leicht verständlicher Form eine Kurzdarstellung insbesondere des Sondervermögens, Anlageinformationen und wirtschaftliche Informationen sowie Angaben zum Erwerb und zur Veräußerung von Investmentanteilen enthalten (§ 42 Abs. 2 Entw InvestmentG).

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Verbraucherschutz auf dem grauen Kapitalmarkt – Private Kapitalanlagen in Immobilienfonds – Claus Ott*0 Inhaltsübersicht Seite

I. Verbraucherschutz bei Kapitalanlagegeschäften . . . . . . . . . . . . 1. Rechtliche und wirtschaftliche Aspekte der Immobilienfonds . . . 2. Der Schutz des Kapitalanlegers im System des Verbraucherschutzes . II. Das Instrumentarium des Anleger- und Verbraucherschutzes beim Beitritt zu einem geschlossenen Immobilienfonds . . . . . . . . . . . 1. Aufklärungspflichten der Immobilienfondsgesellschaft . . . . . . 2. Aufklärungspflichten der Bank beim drittfinanzierten Beitritt zu einem geschlossenen Immobilienfonds . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Schutz des Anlegers vor Überrumpelungen . . . . . . . . . . 4. Der Schutz des Anlegers durch das RBerG . . . . . . . . . . . . . III. Anlegerschutz durch Einwendungsdurchgriff . . . . . . . . . . . . . 1. Fondsbeitritt und Bankdarlehen als verbundenes Geschäft . . . . 2. Einwendungen aus dem Fondsbeitritt . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Rückabwicklung des Darlehensvertrags . . . . . . . . . . . . . 1. Rückabwicklung bei Nichtigkeit oder Unwirksamkeit des Darlehensvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rückabwicklung durch Rückforderungsdruchgriff bei verbundenen Geschäften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Entscheidung des II . Zivilsenats des BGH vom 21. 7. 20031 zum Einwendungs- und Rückforderungsdurchgriff des Kapitalanlegers gegenüber dem Darlehensgeber, der dessen Beitritt zu einem Immobilienfonds finanziert hat, hat eine starke Resonanz ausgelöst.2 Ob ihr wirklich der Rang einer Sen-

*0 Meinen Mitarbeitern Jens Biederer, Michael Klose und Mihai Vuia danke ich für wertvolle Zuarbeit. 1 II ZR 387/02 = NJW 2003, 2821 = ZIP 2003, 1592 = BB 2003, 2089 = JuS 2003, 1230 mAnm Emmerich = BKR 2003, 795 = BGH LMK 2003, 221 mAnm Bülow = JZ 2004, 255 mAnm C. Schäfer S. 258 ff. 2 Bülow LMK 2003, 221; Emmerich JuS 2003, 1230; Fischer DB 2003, 2062; Hoppe BB 2003, 2092; Lenenbach WM 2004, 501 ff.; Strube BKR 2003, 802; Terlau BGH -Report 2003, 1212; Tonner WuB I E 2. § 9 VerbrKrG 2.03; Wallner BKR 2003, 799.

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sation zukommt3, wird die weitere Untersuchung zeigen; jedenfalls hat sie weitreichende Bedeutung für den Schutz nichtgewerblicher Kapitalanleger auf dem grauen Kapitalmarkt und eröffnet dem Verbraucherschutz damit neue Dimensionen. Der II . Zivilsenat hat inzwischen seine Rechtsprechung fortgesetzt und den Schutz des Anlegers weiter verstärkt.4 – Der Jubilar, dem der Verfasser dieses Beitrags einst durch eigene wissenschaftliche Interessen in der Rechtssoziologie verbunden war, die u. a. Unternehmen und Juristische Personen zum Gegenstand hatten, hat sich in seinem weitgefächerten wissenschaftlichen Werk auch mit Fragen des Kapitalanlegerschutzes befasst. So mag der folgende Beitrag sein Interesse finden, wenngleich er nicht einen der wissenschaftlichen Schwerpunkte des Jubilars trifft.

I. Verbraucherschutz bei Kapitalanlagegeschäften 1. Rechtliche und wirtschaftliche Aspekte der Immobilienfonds a) Immobilienfonds als eine Art der Investmentfonds, bei denen die Kapitalanlage im wesentlichen aus Grundstücken und Gebäuden besteht, unterfallen, soweit sie als offene Fonds betrieben werden, den Vorschriften des Investmentgesetzes 5, das an die Stelle des KAGG und des Auslandsinvestmentgesetzes getreten ist. Die Kapitalanlagegesellschaften unterliegen daneben den für Kreditinstitute geltenden Bestimmungen. Während die offenen Immobilienfonds eingehenden Vorschriften zum Schutz der Kapitalanleger unterworfen sind, fehlt bisher noch eine entsprechende gesetzliche Regelung bei geschlossenen Immobilienfonds. Nunmehr liegt aber zur Umsetzung der sog. Marktmissbrauchsrichtlinie (2003/6/ EG ) 6 ein Gesetzentwurf der Bundesregierung für die Einführung einer gesetzlichen Prospekthaftung für Anlagen auf dem grauen Kapitalmarkt vor, der u. a. auch die Beteiligung an geschlossenen Immobilienfonds erfasst. 7 Der Bundesrat hat am 11. 6. So Bülow LMK 2003, 221; Lenenbach WM 2004, 501 spricht von einem Grundlagenurteil. Vgl. BGH WM 2004, 1518; BGH NJW 2004, 2742 = WM 2004, 1536; BGH NJW 2004, 2736 = ZI P 2004, 1394 = WM 2004, 1529 = EWiR 2004, 827 (Koller); BGH NJW 2004, 2731 = ZI P 2004, 1402 = WM 2004, 1521; BGH NJW 2004, 2735 = WM 2004, 1527; bestätigt von BGH ZI P 2004, 1543 = WM 2004, 1675; s. hierzu Edelmann BB 2004, 1648 ff.; Fischer DB 2004, 1651 f.; Nittel NJW 2004, 2712 ff.; A. Staudinger ZgS 2004, 241. 5 Investmentgesetz (InvG) (Art. 1 Investmentmodernisierungsgesetz) vom 15. Dezember 2003, BGBl . I S. 2676; in Kraft getreten am 1. 1. 2004. S. dazu Köndgen/Schmies WM 2004, Heft 11, Sonderbeilage Nr. 1/2004; Lang VuR 2004, 201 ff.; ders WM 2004, 53 ff.; Nickel ZBB 2004, 197 ff. 6 ABlEU 2003 Nr. L 96, S. 16. 7 Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Anlegerschutzes (Anlegerschutzverbesserungsgesetz – AnSVG) vom 24. 5. 2004, BT-Drs. 15/3174; Art. 2 – Änderung des Verkaufsprospektgesetzes, neuer IIIa. Abschnitt §§ 8f und folgende; Vgl. hierzu die Stellungnahme 3 4

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2004 hierzu Stellung genommen.8 Geschlossene Immobilienfonds sind in der Rechtsform der Publikums- KG oder der Gesellschaft bürgerlichen Rechts organisiert und vielfach auf die Investition in nur einem Grundstücksobjekt beschränkt. Hier findet, anders als bei den vorgenannten Immobilienfonds, nach bisher geltendem Recht keine präventive institutionelle Kontrolle im Rahmen der sta.A.tlichen Aufsicht, sondern nur eine nachträgliche Kontrolle durch die Rechtsprechung im Rahmen von Haftungsprozessen geschädigter Anleger und nach Maßgabe allgemeiner schuldrechtlicher Regeln und Kriterien statt.9 Das Fehlen einer institutionellen Kontrolle und spezialgesetzlich geregelter Zulassungsbedingungen und zwingender gesetzlicher Anlagevorschriften hat dazu geführt, dass sich hier ein „grauer“ Kapitalmarkt mit hohen Risiken für die Anleger entwickelt hat. b) Als Motive privater Anleger für die Beteiligung an geschlossenen Immobilienfonds werden genannt die private Vermögensbildung und die Erwartung, mit einer relativ geringen Beteiligung an hohen Investitionsvolumen und an der erwarteten Wertsteigerungsentwicklung insbesondere von Büro- und Gewerbeimmobilien zu partizipieren.10 Hinzu kommt die Erwartung steuerlicher Vorteile, die zumeist auch als Verkaufsargument dienen. Eine Rolle spielt vielfach auch die Erwartung, die Beteiligung an einem Immobilienfonds ohne eigenen Kapitaleinsatz in der Weise durch Kredite finanzieren zu können, dass die Zins- und Tilgungsleistungen aus den anteiligen Mieteinnahmen gedeckt werden. Derartige Investitionen sind einer Vielzahl von Risiken ausgesetzt.11 Diese beziehen sich zum einen auf die Entwicklung der Nachfrage nach dem jeweiligen Objekt des Immobilienfonds (Büro- und Gewerbeflächen, Wohnungen), die von allgemeinen konjunkturellen Faktoren wie auch von regionalen und lokalen Umständen beeinflusst wird. Hinzu kommen objektbezogene Risiken, die sich auf den Erhaltungszustand des Objekts und das Vorhandensein von Investitionsstaus beziehen. Mit diesen Faktoren hängt auch das Risiko von Mietausfällen bis hin zur Unvermietbarkeit des Objekts zusammen. Zu der „Schieflage“, in die Anleger häufig geraten, trägt vielfach auch bei, dass die erwarteten Steuervorteile, die in die Anlagekalkulation aufgenommen wurden, erst bei Grenzsteuersätzen erreicht werden, die private Kapitalanleger vielfach nicht erreichen.12 des Handelsrechtsausschusses des DAV in NZG 2004, 703, 707 ff.; s. ferner Duhnrack/Hasche DB 2004, 1351 ff.; Heisterhagen DStR 2004, 1089 ff.; Kuthe ZIP 2004, 883, 888. 8 BR-Drs. 341/04. 9 Köndgen in Schimansky/Bunte/Lwowski Bankrechtshandbuch, 2. Aufl. 2001, § 113 Rn. 36 ff.; zum Anlegerschutz bei der Publikumspersonengesellschaft K. Schmidt Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 57 IV (S. 1681 ff.). 10 Wagner in Assmann/Schütze Handbuch des Kapitalanlagerechts, 2. Aufl. 1997, § 22 Rn. 121. 11 Hierzu näher Wagner NZG 2000, 169, 170; ders NZG 1999, 868; Wagner/v. Heymann WM 2003, 2257 f. 12 Eingehend zu besonderen steuerlichen Problemen Wagner NZG 1999, 868, 869; zur Auswirkung der Rechtsprechung des BFH zur Überschusserzielungsabsicht auf notleidende Fondsbeteiligungen Wagner/v. Heymann WM 2003, 2222, 2229.

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2. Der Schutz des Kapitalanlegers im System des Verbraucherschutzes a) Verbraucherschutz dient wie der Schutz der Anleger der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des einzelnen. Das Prinzip der Privatautonomie besagt, dass maßgeblich die individuellen Präferenzen der Verbraucher sind, und es beruht auf der Annahme, dass jeder für sich selbst am besten beurteilen kann, welches seine Bedürfnisse sind und wie er seinen Nutzen maximiert. Aus ökonomischer Sicht ist Verbraucherschutz begründet als Reaktion auf ein Marktversagen, das durch Informationsasymmetrien zwischen Unternehmen und Verbrauchern ausgelöst wird. Informationsasymmetrien zulasten des Verbrauchers bewirken, dass dieser nicht in der Lage ist, die Qualität eines Produkts, zu der außer den physischen Qualitätsmerkmalen auch die Nebenleistungen wie die Risikoverteilung durch Vertragsbestimmungen gehören, richtig zu beurteilen und eine seinen Präferenzen entsprechende Entscheidung für oder gegen die Annahme dieses Angebots zu treffen. Verbraucherschutz ist aus ökonomischer Sicht auch in den Fällen geboten, in denen ein Vertrag unter Bedingungen zustande kommt, die keine Gewähr dafür bieten, dass der Vertrag den Präferenzen des Verbrauchers entspricht. Das betrifft die Fälle der Täuschung und Drohung und insbesondere auch der Überrumpelung des Verbrauchers durch Vertragsabschluss in Situationen, in denen er nicht unbefangen überlegen kann. Das ist die klassische Situation der „Haustürgeschäfte“, die durch Widerrufsrechte neutralisiert wird. b) Der Schutz der Anleger deckt sich mit den Erfordernissen des Verbraucherschutzes. Private Kapitalanleger, die in Immobilienfonds investieren, würde man im allgemeinen Sprachgebrauch freilich nicht als Verbraucher, sondern als Kapitalisten – ggf. als Kleinkapitalisten – bezeichnen. Gleichwohl sind sie im Rechtssinne Verbraucher, soweit sie ihre Kapitalanlage nicht zu einem Zweck tätigen, der ihrer gewerblichen oder ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann (§ 13 BGB). Sie unterfallen damit auch den Vorschriften des Verbraucherschutzrechts, insbesondere über Haustürgeschäfte (§§ 312 ff. BGB) und über Verbraucherdarlehensverträge (§§ 491 ff. BGB).13

13 Lenenbach WM 2004, 501, 503; a.A. mit eingehender Begründung Wagner NZG 2000, 169 ff.: Vorschriften des HausTWG und des VerbrKrG bei richtlinienkonformer Auslegung auf mittelbare und unmittelbare Beteiligungen an Fonds inkl. Immobilienfonds generell nicht anwendbar.

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II. Das Instrumentarium des Anleger- und Verbraucherschutzes beim Beitritt zu einem geschlossenen Immobilienfonds 1. Aufklärungspflichten der Immobilienfondsgesellschaft a) Spezialgesetzliche Vorschriften zum Schutz der Anleger bestanden in Bezug auf geschlossene Immobilienfonds vor Einführung der Prospektpflicht gem. §§ 8 f. folgende AnSVG nicht. Es galten vielmehr – und gelten weiterhin – die allgemeinen vorvertraglichen Aufklärungspflichten aus culpa in contrahendo (§ 311 Abs. 2 BGB ). Voraussetzung dafür ist, dass zwischen dem Anleger und der Fondsgesellschaft bzw. deren Initiatoren und Betreibern Vertragsverhandlungen oder ähnliche geschäftliche Kontakte aufgenommen worden sind. Daran fehlt es jedoch in aller Regel, weil die Kontakte und Vertragsverhandlungen mit dem potentiellen Anleger zumeist von einem Vermittler hergestellt und sodann von einem Treuhänder übernommen und zum Vertragsschluss über den Beitritt zur Fondsgesellschaft gebracht werden.14 Vertragspartner des Beitretenden ist aber nicht die Fondsgesellschaft, sondern sind die Mitgesellschafter.15 Da der Gesellschaftsvertrag zwischen den Gesellschaftern ohne Beteiligung der Gesellschaft zustande kommt, muss sich diese grundsätzlich auch nicht das Verhalten sonstiger Personen wie Gründungsgesellschafter oder Initiatoren zurechnen lassen.16 Da aber bei einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft der einzelne Gesellschafter keinerlei Einfluss auf den Beitritt neuer Gesellschafter hat, haften auch diese nicht für ein Aufklärungsverschulden der Initiatoren oder Gründungsgesellschafter.17 In diesem Fall haften lediglich die Handelnden selbst nach den Grundsätzen über das Verschulden bei Vertragsverhandlungen.18 Der Vermittler, der den Beitritt zu einer Abschreibungsgesellschaft vermittelt, ist aus Sicht der Fondsgesellschaft regelmäßig als Dritter zu betrachten.19 b) Selbst wenn sich im Einzelfall Ansprüche gegen die Fondsgesellschaft wegen Verletzung vorvertraglicher Aufklärungspflichten ergeben können, 14 Fuellmich in Festschrift für Deutsch S. 919, 920; Strohm in Assmann/Schütze (Fn. 10) § 20 Rn. 85 ff.; H. P. Westermann ZIP 2002, 189 ff. 15 H. P. Westermann ZIP 2002, 189, 199. 16 OLG München ZIP 2000, 2295, 2302; OLG Stuttgart ZIP 2001, 692, 697 f.; LG Bremen ZIP 2000, 1382, 1383 f.; für die Kommanditgesellschaft KG ZIP 2000, 268, 269; OLG München NJW- RR 2000, 624, 625; Faust EWiR 975, 976; insgesamt kritisch dagegen Loßack VuR 2001, 282, 285 ff. 17 BGH NJW 2003, 2821, 2822. 18 BGH NJW 2004, 2228 = ZIP 2004, 1104 = WM 2004, 928; BGH DStR 2003, 1494, 1495 f.; BGH NJW- RR 2003, 1054; BGH NJW 1995, 130. 19 Vgl. KG ZIP 2000, 268, 269; Immenga BB 1984, 5; Palandt/Heinrichs BGB , 63. Aufl. 2004, § 123 Rn. 14; Vgl. w v. Heymann NJW 1999, 1577, 1589; H. P. Westermann ZIP 2002, 240, 245 f.

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so steht einem Schadensersatzanspruch des Anlegers gegen die Fondsgesellschaft entgegen, dass der Anleger als Gesellschafter selbst einer Haftung wegen Aufklärungsverschulden unterliegen würde, so dass seinem Schadensersatzbegehren der dolo-agit-Einwand entgegensteht (§ 242 BGB ). Die Anleger sitzen bildlich gesprochen alle in einem Boot. 20 Ein der Gesellschaft zurechenbares Aufklärungsverschulden würde daher nicht zu einem Schadensersatzanspruch führen, sondern nach den Grundsätzen des fehlerhaften Gesellschaftsbeitritts lediglich zu einem außerordentlichen Kündigungsrecht. 21 Dem Anspruch des Anlegers kann ferner die sog. Durchsetzungssperre entgegenstehen, so dass der Anspruch so lange blockiert ist, bis der Anteil der Anleger mit der Gesellschaft insgesamt auseinandergesetzt und festgestellt ist, ob der Anleger nachschusspflichtig ist oder ihm ein Guthaben zusteht. 22 2. Aufklärungspflichten der Bank beim drittfinanzierten Beitritt zu einem geschlossenen Immobilienfonds a) Die Bank, die den Beitritt des Anlegers zu einem Immobilienfonds durch einen Kredit an den Anleger finanziert, trifft grundsätzlich keine Pflicht, den Darlehensnehmer über die Risiken des finanzierten Geschäfts aufzuklären. 23 Nur unter ganz besonderen Voraussetzungen ist die Bank zur Risikoaufklärung über das finanzierte Geschäft verpflichtet. Diese Voraussetzungen liegen vor, wenn die Bank im Zusammenhang mit der Planung, der Durchführung oder dem Vertrieb des Projekts über ihre Rolle als Kreditgeber hinaus geht oder einen zu den allgemeinen wirtschaftlichen Risiken hinzutretenden Gefährdungstatbestand für den Darlehensnehmer schafft oder dessen Entstehung begünstigt, oder wenn sie sich im Zusammenhang mit der Kreditgewährung sowohl an den Bauträger als auch an den 20 OLG Stuttgart ZIP 2001, 692, 697 f.; Lenenbach WM 2004, 501, 503; H. P. Westermann WuB I G 5. Immobilienanlagen 17.00; ders ZIP 2002, 240, 242 ff. 21 BGH NJW 2003, 2821, 2822; Lenenbach WM 2004, 501 f. mit Fn. 4, 508. 22 KG ZIP 2000, 268, 272; LG Stuttgart WM 2001, 140, 144 f.; Münscher WuB I G 5. Immoblienanlagen 3.01; Reich EWiR 2001, 449, 450. 23 Ständ. Rspr. und allg.M.; s. nur BGH NJW 2004, 2378, 2380 = ZIP 2004, 1188 = WM 2004, 1221; BGH WM 2004, 172 ff.; BGH ZIP 2003, 1741 ff.; BGH ZIP 2003, 160 ff.; BGH NJW 2003, 2821, 2822; BGH NJW 2000, 3065, 3066 f.; BGH NJW 2000, 3558 f.; BGH ZIP 2000, 1051, 1052; BGH WM 2000, 1287, 1289; BGH WM 1999, 678, 679; BGH NJW 1997, 1361, 1362; BGH NJW 1996, 663, 664; OLG Frankfurt aM WM 2000, 2135, 2137; OLG Karlsruhe WM 2001, 245, 247 f.; OLG München WM 2001, 252, 254; OLG Stuttgart WM 2000, 1190, 1191; LG München WM 2002, 285, 286 f.; Horn/Balzer WM 2000, 333, 335 f.; a.A. LG Hamburg Urt. v. 2. 9. 2000 – 322 0 138/97; LG Oldenburg VuR 2000, 73; Ahr VuR 2000, 263 f.; diesen Grundsatz stark einschränkend OLG Nürnberg WM 1999, 2305; Frisch VuR 1999, 432, 438 f.; Fuellmich/Rieger ZIP 1999, 465 ff.; Kulke EWiR 2001, 709, 710; ders EWiR 2001, 903, 904; ders ZfIR 2001, 989; Reich EWiR 2001, 449 f.; Singer WuB I G 5. Immobilienanlagen 2.01; Spickhoff/Petershagen BB 1999, 165, 166 ff.

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einzelnen Erwerber in schwerwiegende Interessenkonflikte verwickelt, oder wenn sie schließlich einen konkreten Wissensvorsprung vor dem Darlehensnehmer hat und dies auch erkennen kann. 24 b) Die Haftung der Bank wegen der Verletzung von Aufklärungspflichten gegenüber dem Anleger führt zu einer Verlagerung des Anlagerisikos auf die Bank. Der Anleger kann im Wege des Schadensersatzes die Rückzahlung bereits an die Bank erbrachter Leistungen und die Freistellung von weiteren Verbindlichkeiten gegenüber der Bank verlangen, ggf. auch von Ansprüchen der Fondsgesellschaft. Im Gegenzug kann die Bank Abtretung seiner Ansprüche gegen die Fondsgesellschaft verlangen. Das wirtschaftliche Risiko der Kapitalanlage, das letztlich im Insolvenzrisiko der Fondsgesellschaft besteht, trägt in solchen Fällen die Bank. 25 Die Voraussetzungen einer solchen Risikoverlagerung werden jedoch von der Rechtsprechung restriktiv gehandhabt. Dies zeigt sich symptomatisch in der Entscheidung des XI . Zivilsenats des BGH vom 18. 11. 2003 26: Ein 21-jähriger Mechaniker mit einem monatlichen Netto-Einkommen von 2370,– DM war von einem Anlageberater geworben worden, zu Steuersparzwecken eine Eigentumswohnung zu einem Gesamtkaufpreis von 119 750,– DM zu erwerben. Der zwischengeschaltete Treuhänder richtete einen Antrag auf ein Vorausdarlehen in Verbindung mit einer Lebensversicherung an die beklagte Bank. Das Berufungsgericht hatte eine Aufklärungspflicht der Bank in mehrfacher Hinsicht im Hinblick u. a. auf das enge Zusammenwirken der Bank mit dem Verkäufer bejaht und darauf abgestellt, dass die Bank 120 Eigentumswohnungen in dem Objekt finanziert hatte, das zudem bei Überprüfung der Unterlagen als Risikoobjekt erkennbar gewesen wäre. Die Bank hatte dem eingeschalteten Vertrieb die gesamte Darlehensanbahnung überlassen, ohne persönliche Kontakte mit dem Kunden. Der Senat hat – anders als die Vorinstanz – eine Aufklärungspflicht der Bank verneint, in Übereinstimmung mit den in ständiger Rechtsprechung entwickelten Kriterien zur Abgrenzung der Risikosphären von Bank und Darlehensnehmer. Vermittler und Treuhänder werden nicht dem Lager der Bank zugerechnet. Die Bank darf, wie der Senat unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des BGH weiter ausführt, regelmäßig davon ausgehen, dass die Kunden entweder selbst über die notwendigen Kenntnisse und Erfahrungen verfügen, oder sich der Hilfe von Fachleuten bedient haben. 27 Eine Aufklärungspflicht hinsichtlich der Nachteile einer Verknüpfung von Darlehen und Kapitallebensversicherung wird davon abhängig gemacht, ob 24 BGH NJW 2004, 2736, 2741 f. = ZIP 2004, 1394 = WM 2004, 1529; BGH WM 2004, 172, 173; BGH WM 2003, 1710, 1713; BGH WM 2003, 1370, 1371; BGH WM 2000, 1245, 1246, jeweils mN zu weiteren Entscheidungen. 25 Habersack in: Münchener Kommentar zum BGB , Band 2a, 4. Aufl. 2003, § 358 Rn. 40. 26 BGH WM 2004, 172. 27 BGH WM 2004, 172, 173.

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die Bank von sich aus diese Kreditart anstelle des vom Darlehensnehmen gewünschten üblichen Ratenkredits anbietet, was zu einer Aufklärungspflicht führt 28, oder ob diese Kreditart vom Kunden gezielt gewünscht wird. In diesem Fall – so der Senat – darf die Bank davon ausgehen, dass auf Seiten des Darlehensnehmers insoweit ein Informationsbedarf nicht vorlag. 29 Ein Überschreiten der Kreditgeberrolle sieht der Senat auch nicht in dem Umstand begründet, dass die beklagte Bank dauerhaft mit den Vertriebsfirmen zusammengearbeitet und etwa 120 Kaufverträge über Eigentumswohnungen in dem Objekt finanziert hat, denn darin allein liegt nach Ansicht des Senats kein Überschreiten der Kreditgeberrolle. 30 c) Im Ganzen gesehen ist festzustellen, dass Aufklärungspflichten, die das spezifische Instrumentarium des Verbraucherschutzes wie des Anlegerschutzes darstellen, nur eine sehr begrenzte Schutzwirkung beim finanzierten Beitritt zu einem geschlossenen Immobilienfonds entfalten. Effektiv werden Haftungssanktionen typischerweise nur, wenn sie die Bank als Darlehensgeber treffen; Ansprüche gegen die Fondsgesellschaft, soweit sie überhaupt in Betracht kommen, unterliegen einer faktischen Haftungsbegrenzung im Falle der Insolvenz der Fondsgesellschaft. Eine Haftung der Bank kommt dagegen von vornherein nur ausnahmsweise in Betracht. 3. Der Schutz des Anlegers vor Überrumpelungen a) Dem Anleger steht, soweit er Verbraucher ist und ein Vertrag in einer „Haustürsituation“ zustande gekommen oder angebahnt worden ist, ein Widerrufsrecht zu (§ 312 Abs. 1 BGB ). Das Widerrufsrecht setzt das Bestehen einer „Haustürsituation“ iSd. § 312 Abs. 1 Nr. 1–3 BGB sowie die Kausalität der „Haustürsituation“ für den fraglichen Vertrag voraus. Dafür genügt es, dass der Verbraucher die Willenserklärung ohne die Einwirkung durch den Unternehmer oder einen von ihm eingeschalteten bzw. ihm zuzurechnenden Vermittler nicht oder jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt oder in dieser Art abgegeben hätte. 31 Erfasst vom Widerrufsrecht wird nicht nur der in einer „Haustürsituation“ abgeschlossene Vertrag, sondern auch ein Vertrag, der in einer „Haustürsituation“ angebahnt, aber erst später und außerhalb einer solchen Situation abgeschlossen worden ist, sofern sich der Anleger im Zeitpunkt des Vertragsschlusses infolge der Haustürsituation 28 BGHZ 111, 117, 120; BGH ZIP 1990, 854, 855 f.; BGH WM 1989, 665, 666 f.; ebenso OLG Frankfurt aM ZfIR 2001, 982, 987 f.; OLG Stuttgart ZIP 2001, 692, 695; LG Augsburg VuR 2000, 62, 64; LG Nürnberg-Fürth WM 2000, 2153, 2155 f.; Fuellmich/Rieger ZIP 1999, 465, 476; Kulke ZfIR 2001, 989, 995; Singer ZBB 1998, 141, 149; für die Tilgung eines Darlehens aus den Mitteln eines Bausparvertrags BGH ZIP 2000, 2291, 2293. 29 BGH WM 2004, 172, 173. 30 BGH WM 2004, 172, 174. 31 MünchKomm/ BGB – Habersack (Fn. 25) § 312 Rn. 29.

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noch in einer Lage befindet, in der er in seiner Entschließungsfreiheit beeinträchtigt ist, den später abgeschlossenen Vertrag zu schließen oder davon Abstand zu nehmen. 32 b) Ob der Anleger als Verbraucher den Beitritt zur Fondsgesellschaft widerrufen kann, hängt zunächst davon ab, ob der Tatbestand des Vertrags über eine entgeltliche Leistung erfüllt ist (§ 312 Abs. 1 Satz 1 BGB ). Für den Darlehensvertrag ist das keine Frage. Für den Beitritt zu einem Immobilienfonds ist dies ebenfalls zu bejahen. Dies betrifft zum einen die Konstellation, in der ein Anleger mittelbar über eine Treuhandgesellschaft einem Immobilienfonds durch den Erwerb von Fondsanteilen beigetreten ist. 33 Nach der Rechtsprechung des BGH ist § 312 Abs. 1 Satz 1 BGB (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Haus TWG ) in derartigen Konstellationen anwendbar. 34 Ohne sich mit den in der Literatur vorgebrachten Bedenken auseinander zu setzen35, wird in dem zwischen Anleger und Treuhänder geschlossenen Treuhandvertrag ein „entgeltliches Geschäft“ iSv. § 312 Abs. 1 Satz 1 BGB (§ 1 Abs. 1 Satz 1 HausTWG ) gesehen. Begründet wird dies damit, dass sich der Anleger in der Hoffnung auf Gewinnerzielung zur Entgeltzahlung für den Erwerb eines für ihn von dem Treuhänder zu haltenden Gesellschaftsanteils verpflichtet hat. 36 Weitergehend wird in diesem Zusammenhang sogar als ausreichend erachtet, wenn den Verbraucher eine entgeltliche Verpflichtung, gleich welcher Art, trifft. 37 Da die Fondsgesellschaft als wirtschaftlicher Vertragspartner des Anlegers einzustufen ist, wird mit dem Widerruf des Treuhandvertrags, der gegenüber der Fondsgesellschaft erfolgen kann, ein Rückzahlungsanspruch gegen den Immobilienfonds selbst und nicht gegen den Treuhänder begründet. 38 Die Fondsgesellschaft ist „anderer Teil“ iSv. § 3 Abs. 1 Haus TWG (jetzt §§ 346 BGB ). 39 Allerdings ist damit kein Anspruch auf ungeschmälerte Rückerstattung der Einlagen verbunden. Vielmehr steht dem Anleger nach den Grundsätzen über die fehlerhafte Gesellschaft nur ein Abfindungsanspruch gemäß § 738 32 BGH NJW 2003, 2088; BGH NJW 2002, 1881; BGH NJW 2004, 2731, 2732; OLG Nürnberg BKR 2002, 946, 948. 33 BGH NJW 2001, 2718 ff. 34 BGH NJW 2001, 2718, 2719; ebenso OLG Rostock ZIP 2001, 1009; Allmendinger EWiR 2001, 919, 920; Erman/Saenger BGB , 10. Aufl. 2000, § 1 HausTWG Rn. 21; Kulke EWiR 2001, 965, 966; Mankowski WuB IV D. § 1 Haus TWG 1.01; Palandt/Heinrichs (Fn. 19) § 312 Rn. 7; Staudinger/Werner BGB , 13. Bearb. 2001, § 1 Haus TWG Rn. 66; MünchKomm/Ulmer BGB , 4. Aufl. 2003, § 312 Rn. 25; a.A. Wagner NZG 2000, 169 ff., der auch bei mittelbaren Fondsbeteiligungen mangelnde Richtlinienkonformität unterstellt; zweifelnd H. P. Westermann ZIP 2002, 189, 195 f. 35 Wagner NZG 2000, 169 ff. 36 BGH NJW 2001, 2718, 2719. 37 Mankowski WuB IV D. § 1 Haus TWG 1.01. 38 BGH NJW 2001, 2718, 2719. 39 Zustimmend Allmendinger EWiR 2001, 919, 920; Kulke EWiR 2001, 965, 966; F. A. Schäfer JZ 2002, 249, 251.

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Abs. 1 BGB zu. Dies liegt daran, dass die Verkehrsinteressen, insbesondere die der Mitgesellschafter des das Widerrufsrecht ausübenden Gesellschafters, höher zu bewerten sind als die Gläubigerinteressen. 40 Auch sofern der Anleger in einer Haustürsituation ohne Einschaltung eines Treuhänders den Fondsbeitritt erklärt, ist von der Anwendbarkeit des § 312 BGB (§ 1 Haus TWG ) auszugehen. 41 Die entscheidende Frage ist, ob es sich bei der Fondsbeteiligung um eine „entgeltliche Leistung“ iSv. § 312 Abs. 1 Satz 1 BGB handelt. Unter Bezugnahme auf den Wortlaut und die Entstehungsgeschichte des Haustürwiderrufsgesetzes wird dies teilweise verneint. 42 Da die Haustürwiderrufs-Richtlinie in Art. 3 Abs. 2 lit. a normiere, dass sie „nicht für Verträge über den Bau, den Verkauf und die Miete von Immobilien sowie Verträge über andere Rechte an Immobilien“ gelten solle, sollen gesellschafterliche oder schuldrechtliche Beteilungen an geschlossenen Immobilienfonds nicht in den Anwendungsbereich des Haustürwiderrufsgesetzes bzw. des § 312 BGB fallen können. 43 Mit dem Hinweis, dass Beitrittserklärungen zu Genossenschaften oder Vereinen nicht auf den Abschluss eines Vertrags über „entgeltliche Leistungen“ iSv. § 312 Abs. 1 Satz 1 BGB gerichtet seien, sondern ein auf den Erwerb der Mitgliedschaft gerichtetes organisationsrechtliches Rechtsgeschäft darstellen, wird diese Ansicht untermauert. 44 Gleichwohl wird in der Rechtsprechung 45 sowie der Literatur 46 die Einbeziehung des Beitritts zu einem Immobilienfonds in den Anwendungsbereich des § 312 Abs. 1 Satz 1 BGB überwiegend und zu Recht bejaht. Angesichts des von Art. 8 Haustürwiderrufs-Richtlinie eröffneten Regelungsspielraums, wonach die Mitgliedssta.A.ten günstigere Verbraucherbestimmungen vorsehen können, kann nicht auf die Beschränkungen des Art. 3 Abs. 2 lit. a Haustürwiderrufs-Richtlinie abgestellt werden. 47 40 BGH NJW 2001, 2718, 2720; ebenso OLG Stuttgart ZIP 2001, 692, 697; Allmendinger EWiR 2001, 919, 920; Lenenbach WM 2004, 501, 502 f.; F. A. Schäfer JZ 2002, 249, 251; H. P. Westermann ZIP 2002, 240, 249; für einen Vorrang des Verbraucherschutzes dagegen OLG Rostock ZIP 2001, 1009, 1011; Hahn/Brockmann VuR 2001, 164, 171 f.; Kulke EWiR 2001, 965, 966; Mankowski WuB IV D. § 1 Haus TWG 1.01; Staudinger/Kessal-Wulf (2001) § 9

VerbrKrG Rn. 45. 41 BGH NJW 2004, 2731, 2733 f. 42 OLG Karlsruhe WM 2003, 1218, 1221 f.; Edelmann BB 2004, 1648, 1649; Wagner NZG 2000, 169 ff. 43 Vgl. OLG Karlsruhe WM 2003, 1218, 1221 f.; Wagner NZG 2000, 169 ff. 44 OLG Karlsruhe WM 2003, 1218, 1221 unter Bezugnahme auf BGH NJW 1997, 1069, 1070. 45 BGH NJW 2001, 2718; BGH NJW 2004, 2731; OLG Hamm ZfIR 2003, 657 unter Bezugnahme auf BGH NJW 2001, 2718; BGH NJW 1996, 3414; OLG Stuttgart ZIP 2001, 322, 323; OLG Rostock ZIP 2001, 1009. 46 Edelmann DB 2001, 2434, 2435; Erman/Saenger (Fn. 34) § 1 HausTWG Rn. 21; Kulke EWiR 2001, 965, 966; Mankowski WuB IV D. § 1 HausTWG 1.01; Palandt/Heinrichs (Fn. 19) § 312 Rn. 7; F. A. Schäfer JZ 2002, 249, 250; Staudinger/Werner (Fn. 34) § 1 HausTWG Rn. 66; MünchKomm/Ulmer (Fn. 34) § 312 Rn. 25; zweifelnd H. P. Westermann ZIP 2002, 189, 195 f. 47 Vgl. MünchKomm/Ulmer (Fn. 34) § 312 Rn. 25; ablehnend Wagner NZG 2000, 169 ff.

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Vielmehr muss das Haustürwiderrufsgesetz bzw. § 312 BGB dann eingreifen, wenn der Verbraucher vor unüberlegt eingegangenen Verpflichtungen zu schützen ist. 48 Das ist auch hier bereits der Fall, wenn eine einfache Verpflichtung begründet wird. 49 Erst recht gilt dies, wenn die Beteilung aus Gründen der Gewinnerzielung stattfindet. 50 Da auch beim unmittelbaren Gesellschaftsbeitritt die Regeln über die fehlerhafte Gesellschaft anzuwenden sind, besteht ebenfalls nur ein Abfindungsanspruch des Anlegers gemäß § 738 Abs. 1 BGB . Ausnahmen davon finden sich lediglich in den Fällen, in denen der Beitritt zur Fondsgesellschaft notariell beurkundet wird. In diesen Fällen ist das Haustürwiderrufsgesetz bzw. § 312 BGB nicht anwendbar, wie § 1 Abs. 2 Nr. 3 Haus TWG und § 312 Abs. 3 Nr. 3 BGB in Übereinstimmung mit Art. 3 Abs. 2 lit. a Haustürwiderrufs-Richtlinie festlegen. 51 c) Weiter stellt sich die Frage, ob die „Haustürsituation“ bei der Vertragsanbahnung den Vertragspartnern des Anlegers zugerechnet werden kann, wenn sie – wie zumeist – von einem rechtlich unabhängigen Vermittler oder Treuhänder ausgeht. Wirkt ein unabhängiger Dritter in einer „Haustürsituation“ auf den Verbraucher ein, so ist dies dem Unternehmer in entsprechender Anwendung der zur Abgrenzung des Dritten iSd. § 123 Abs. 2 BGB entwickelten Kriterien zuzurechnen. 52 Entscheidend ist danach, ob der Vermittler oder Treuhänder Verhandlungsgehilfe des Unternehmers – Fondsgesellschaft bzw. Darlehensgeber – ist. Hinsichtlich der Fondsgesellschaft gelten die bereits im Rahmen der Haftung wegen Aufklärungsverschulden gemachten Ausführungen auch hier entsprechend. Bezüglich des Darlehensgebers ist der die Haustürsituation herbeiführende Vermittler dann als im Lager des Darlehensgebers stehend anzusehen, wenn der Darlehensgeber diesen selbst mit dem Abschluss des Darlehensvertrags beauftragt, diesem also etwa die Darlehensvertragsformulare ausgehändigt hat. 53 In diesem Fall muss sich der Darlehensgeber die durch den Vermittler herbeigeführte Haustürsituation unabhängig davon zurechnen lassen, ob er diese kannte oder hätte kennen können, da der Vermittler hier nicht Dritter iSd. § 123 Abs. 2 BGB , sondern Verhandlungsgehilfe des Darlehensgebers ist.

Mankowski WuB IV D. § 1 Haus TWG 1.01. Mankowski WuB IV D. § 1 Haus TWG 1.01; Staudinger/Werner (Fn. 34) § 1 Haus TWG Rn. 66. 50 OLG Rostock ZIP 2001, 1009; Erman/Saenger (Fn. 34) § 1 Haus TWG Rn. 21. 51 Wallner BKR 2003, 92, 93. 52 BGH NJW 2004, 2731, 2732 f. = ZIP 2004, 1402 = WM 2004, 1521; BGH NJW 2004, 2735 = WM 2004, 1527; BGH NJW 2003, 424; OLG Köln BKR 2003, 500; OLG Nürnberg BKR 2002, 946, 948; OLG Stuttgart ZIP 1999, 2005, 2007; Fischer/Machunsky Haus TWG , 2. Aufl. 1992, § 1 Rn. 56; Frings VuR 1997, 201, 204; MünchKomm/ BGB – Habersack (Fn. 25) § 312 Rn. 30; C. Möller IP 2002, 333, 335; Palandt/Heinrichs (Fn. 19) § 312 Rn. 6; Staudinger/Werner (Fn. 34) § 1 Haus TWG Rn. 32. 53 Dazu LG Bremen WM 2002, 1450, 1453. 48 49

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Abweichend hiervon wird vertreten, dass entscheidend nur sein könne, ob der Vertrag infolge von Verhandlungen in einer „Haustürsituation“ zustande gekommen ist. Ist das der Fall, so soll nach dieser Ansicht der Vertrag stets widerrufen werden können, ungeachtet der Person des Verhandlungsführers und seines Verhältnisses zum Unternehmer bzw. Darlehensgeber.54 Eine generelle Zurechnung der „Haustürsituation“ gegenüber den Partnern der aus einer „Haustürsituation“ heraus entstandenen Verträge erscheint jedoch nur dann als sachgerecht, wenn ein Erfahrungssatz nachzuweisen ist, wonach die Vertragsanbahnung durch Vermittler regelmäßig in einer „Haustürsituation“ erfolgt. Solange ein solcher Nachweis nicht geführt ist, ist dem BGH (XI . Zivilsenat) zuzustimmen, wenn er feststellt, dass sich aus der Einschaltung eines Vermittlers nicht der Schluss auf eine „Haustürsituation“ ziehen lässt.55 Ist die Bank jedoch in die Vertriebsorganisation der Fondsanteile einbezogen, so soll dies nach der Rechtsprechung des II . Zivilsenats stets die Kenntnis von einer etwaigen Haustürsituation oder jedenfalls eine allgemeine Erkundigungspflicht begründen.56 Dies läuft im Ergebnis auf eine abstrakte Zurechnung hinaus, die unter Verzicht auf konkrete Zurechnunsgkriterien an den nicht näher definierten Tatbestand der Einbeziehung in die Vertriebsorganisation anknüpft. 4. Der Schutz des Anlegers durch das RBerG a) Wie sich gezeigt hat, führt das Instrumentarium des Verbraucherschutzes auch in seinem eingeschränkten Anwendungsbereich nicht zu einem wirksamen Anlegerschutz, da dieser nur erreicht werden kann, wenn das Anlagerisiko der Bank angelastet wird. Dies ist jedoch grundsätzlich weder auf dem Wege von Aufklärungspflichten der Bank noch auf dem Wege der Erstreckung des Überrumpelungsschutzes gemäß § 312 Abs. 1 BGB auf den Darlehensvertrag möglich. Ein wirksamer Anlegerschutz ergibt sich jedoch, freilich abhängig von einer bestimmten Vertriebsstruktur, aus dem Rechtsberatungsgesetz. Zwar zielt dieses Gesetz nicht speziell auf Anlegerbzw. Verbraucherschutz ab, sondern bezweckt die Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Abwicklung von Rechtsangelegenheiten und den Schutz der Rechtspflege vor Störungen durch Personen, die unzuverlässig sind oder denen die erforderliche Sachkunde fehlt. 57 Die grundsätzliche Beschränkung des Markts für Dienstleistungen in Rechtsangelegenheiten auf Rechtsan54 OLG Bremen, Beschluß vom 27. 5. 2004 (Vorlage an den EuGH ), WM 2004, 1628, 1631; Weiler BB 2003, 1397; ähnlich Rörig ZIP 2003, 26, 27. 55 BGH NJW 2003, 424, 425. 56 BGH NJW 2004, 2731, 2732; BGH NJW 2004, 2735; krit. Edelmann BB 2004, 1648. 1649. 57 Chemnitz/Johnigk RBerG, 11. Aufl. 2003, Art. 1 § 1 Rn. 18; Rennen/Caliebe RBerG, 3. Aufl. 2001, Art. 1 § 1 Rn. 11; auf den Schutz des „Kunden“ abstellend BGH NJW 2004, 2742 = WM 2004, 1536 und BGH NJW 2004, 2736, 2737 = ZIP 2004, 1394 = WM 2004, 1529.

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wälte kommt aber auch Kapitalanlegern zugute, die sich aus einem Engagement in Immobilienfonds lösen möchten, sofern sie von Anlagevermittlern geworben und umfassend betreut werden, welche nicht der Anwaltschaft angehören oder keine Erlaubnis zur Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten haben. Wie der BGH entschieden hat58, geht ein Treuhandvertrag bzw. Geschäftsbesorgungsvertrag, durch den der Treuhänder mit der umfassenden Wahrnehmung aller den Erwerbsvorgang betreffenden Interessen und Rechtshandlungen wie insbesondere dem Abschluss des Erwerbsvertrags und aller Verträge mit Dienst- und Beratungserbringern sowie im Zusammenhang der Finanzierung betraut wird, über die bloße Wahrnehmung wirtschaftlicher Belange und über einfache Hilfstätigkeiten hinaus und stellt daher eine geschäftsmäßige Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten dar. Hat der Treuhänder hierfür keine Genehmigung, so ist der Geschäftsbesorgungsvertrag mit dem Anleger nichtig. 59 b) Die Nichtigkeit dieses Vertrags erfasst jedoch nicht unmittelbar den vom Treuhänder für den Anleger abgeschlossenen Darlehensvertrag, da dieser typischerweise keine Rechtsbesorgung umfasst. 60 Der sachliche Zusammenhang zwischen der unerlaubten Rechtsbesorgung und dem durch sie veranlassten Abschluss eines Vertrags mit einem Dritten reicht dazu nicht aus; vielmehr kommt es darauf an, ob der Dritte als Beteiligter der unerlaubten Rechtsbesorgung anzusehen ist. 61 Das kommt im Falle eines drittfinanzierten Beitritts zu einem Immobilienfonds dann in Betracht, wenn die Bank am nichtigen Treuhandvertrag oder bei dessen Erfüllung mitgewirkt hat. Dies setzt voraus, dass die Bank über ihre Rolle als Kreditgeberin hinausgehend auf die Ausgestaltung des Treuhandvertrags und auf dessen Abwicklung Einfluss genommen hat. 62 Letztlich bestimmt sich das wiederum nach den Kriterien, die auch für die Begründung einer Aufklärungspflicht über das Verwendungsrisiko des ausgereichten Darlehens maßgeblich sind. c) Die Nichtigkeit des Treuhandvertrags tangiert jedoch mittelbar die Wirksamkeit des vom Treuhänder für den Anleger abgeschlossenen Darlehensver58 BGHZ 145, 265 = NJW 2001, 70 = WM 2000, 2443; dazu BGH NJW 2004, 839; BGH NJW 2004, 841, 842; BGH NJW 2004, 844, 845; BGH NJW 2003, 1252; BGH ZIP 2003, 1644, 1645; Ganter WM 2001, 195. 59 BGHZ 145, 265 = NJW 2001, 70; BGH BB 2001, 2340, 2341. 60 BGH NJW 2004, 2090, 2091 f.; BGH NJW 2004, 2378, 2379 = ZIP 2004, 1188 = WM 2004, 1221; BGH WM 2004, 922; BGH NJW 2004, 2378 = ZIP 2004, 1188 = WM 2003, 1221; BGH NJW- RR 2003, 1203; offenlassend BGH NJW 2004, 2736, 2737 = ZIP 2004, 1394 = WM 2004, 1529; BGH NJW 2004, 2742 = WM 2004, 1536. 61 BGH NJW 2004, 2736, 2737 = ZIP 2004, 1394 = WM 2004, 1529; BGH NJW 2004, 2742 = WM 2004, 1536; BGH ZIP 2003, 1644; BGH NJW 2001, 3774; BGH NJW 1998, 1955; OLG Karlsruhe WM 2003, 1223; a.A. Fritz ZfIR 2001, 267, 268, der das RBerG auf den Abschluss des Kreditvertrags selbst anwenden will; unklar insoweit OLG Brandenburg ZIP 2002, 299, 300. 62 OLG Celle VuR 2003, 181; OLG Karlsruhe WM 2003, 1223.

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trags, da die dem Treuhänder im Rahmen des Geschäftsbesorgungsverhältnisses erteilten Vollmachten, darunter auch die Vollmacht zum Abschluss des Darlehensvertrags zur Finanzierung der Kapitalanlage, nichtig sind.63 Soweit die Auffassung vertreten wird, die Vollmacht selbst könne als einseitiges Rechtsgeschäft keine Rechtsbesorgung iSd. RBerG darstellen, wird die Nichtigkeit der Kreditvollmacht mit Hilfe des § 139 BGB begründet.64 Dagegen wird mittlerweile auch von der Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass die Kreditvollmacht selbst gegen Art. 1 § 1 Abs. 1 Satz 1 RBerG verstößt und damit gemäß § 134 BGB nichtig ist.65 Dem ist jedenfalls dann zu folgen, wenn sich aus der Vollmachtsurkunde selbst eine umfassende, über den Abschluss des Darlehensvertrags hinausreichende Vertretungsbefugnis ergibt.66 Ist der Darlehensvertrag schwebend unwirksam, kommt demnach allenfalls eine Genehmigung durch den Darlehensnehmer in Betracht (§§ 182, 184 BGB ). 67 Da die Genehmigung eine empfangsbedürftige Willenserklärung ist, kann eine solche (konkludente) Genehmigung – etwa durch die Entgegennahme der Darlehensvaluta oder durch Zahlung der Darlehensraten – bei Unkenntnis des Anlegers von der Unwirksamkeit allerdings nur dann angenommen werden, wenn man auf ein Erklärungsbewusstsein verzichtet oder dessen Notwendigkeit aus Gründen des Verkehrsschutzes einschränkt. 68 Da die Bank in den genannten Konstellationen jedoch nicht davon ausgehen kann, dass der Anleger die Unwirksamkeit des Darlehensvertrags kennt, wird sie in aller Regel nicht schutzwürdig sein und für eine Genehmigung daher kein Raum bleiben. 63 BGH NJW 2004, 2736, 2737 = ZIP 2004, 1394 = WM 2004, 1529; BGH NJW 2004, 2742 = WM 2004, 1536; BGH WM 2003, 918, 920 = ZIP 2003, 984; BGH ZIP 2003, 1082, 1083; OLG Karlsruhe WM 2003, 1223 1225; dasselbe gilt für Unterwerfungserklärungen in der Zwangsvollstreckung, Vgl. BGH NJW 2004, 844, 845; BGH NJW 2004, 839, 840; BGH NJW 2004, 59; BGH NJW 2004, 62; BGH NJW 2003, 1594. 64 BGH NJW 2001, 3774, 3775; BGH NJW 2002, 2325, 2326 = WM 2002, 1273, 1275; BGH WM 1985, 596, 597; OLG Karlsruhe WM 2001, 1210, 1212; Bruchner ZfIR 2001, 128; Derleder VuR 2000, 155, 164; Ganter WM 2001, 195; Hermanns DNotZ 2001, 6, 8 f.; Koch WuB I G 5. Immobilienanlagen 13.01; wegen des stellvertretungsrechtlichen Abstraktionsprinzips die Anwendbarkeit des § 139 BGB auf Vollmachten ablehnend Edelmann DB 2001, 687, 688; offengelassen von BGH NJW 2004, 2745, 2746; BGH BB 2001, 2497, 2498; BGH WM 1985, 10, 11. 65 BGH NJW 2004, 841, 843; BGH NJW 2003, 1252; BGH NJW 2003, 2091; BGH BB 2001, 2497, 2498; BGH NJW 2003, 1252; BGH NJW 2003, 2091, 2092; OLG Karlsruhe WM 2004, 176, 178; ebenso Reiter/Methner VuR 2001, 193, 196. 66 Vgl. OLG Karlsruhe WM 2003, 1223. 67 OLG München WM 1999, 1456, 1457; LG Mannheim BB 1999, 2049, 2050; Derleder VuR 2000, 155, 165; Edelmann/Hertel DStR 2000, 331, 339 f.; kritisch Reiter/Methner VuR 2001, 193, 197 f. 68 Vgl. dazu BGHZ 109, 171, 177 = NJW 1990, 454; BGH NJW 1995, 953; BayObLG NJW- RR 1998, 161, 162; OLG Dresden WM 1999, 949, 950 f.; allein aufgrund der Unkenntnis der Unwirksamkeit eine Genehmigung ablehnend BGH NJW 2004, 2745, 2747; BGH WM 2004, 922; BGH NJW 2004, 2736, 2738 = ZIP 2004, 1394 = WM 2004, 1529.

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Zur schwebenden Unwirksamkeit des Darlehensvertrags führt der vollmachtlose Abschluss durch den Treuhänder jedoch nur dann, wenn der zugunsten der Bank durch Vorlage einer vom Darlehensnehmer ausgestellten Vollmachtsurkunde begründete Rechtsschein einer Vollmacht nicht durch Kenntnis der Unwirksamkeit der Vollmacht oder deren fahrlässige Unkenntnis ausgeschlossen ist. Seit der Veröffentlichung der Entscheidung des BGH vom 28. 9. 2000 69 zur Nichtigkeit von Treuhandverträgen nach § 134 BGB iVm Art. 1 § 1 RBerG müssen Banken generell damit rechnen, dass die von Vermittlern als Stellvertreter von Anlegern vorgelegten Vollmachten nichtig sind, sofern diese im Rahmen eines umfassenden Geschäftsbesorgungsvertrags erteilt worden sind. Fraglich ist jedoch, ob aus der Einschaltung eines Dritten ohne weiteres der Schluss auf das Vorliegen einer „Treuhandsituation“ im dargelegten Sinne zu ziehen ist. Dies erscheint – ähnlich wie in Bezug auf das Vorliegen einer „Haustürsituation“ – nur dann gerechtfertigt, wenn ein Erfahrungssatz des Inhalts nachweisbar ist, dass die in den Vertrieb von Beteiligungen an Immobilienfonds eingeschalteten Vermittler bzw. Treuhänder so gut wie immer eine nicht genehmigte Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten vornehmen. Dafür könnte in tatsächlicher Hinsicht sprechen, dass jedenfalls bei geschäftlich unerfahrenen Anlegern nicht anzunehmen ist, dass diese die mit dem Erwerbsvorgang zusammenhängenden Maßnahmen selbst bestimmen und den Treuhänder nur mit den dazu erforderlichen Hilfstätigkeiten als Hilfsperson mit „gebundener Marschroute“ einsetzen. 70 Es erscheint jedoch zweifelhaft, ob die Bank ohne nähere Anhaltspunkte durchweg davon ausgehen muss, dass die ihr von einer Zwischenperson vorgelegte Vollmacht des Darlehensnehmers im Rahmen der geschäftsmäßigen Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten ohne entsprechende Erlaubnis gestellt wird und daher nichtig ist, sofern dem Kreditinstitut eine isolierte Vollmacht ohne Vorlage des Geschäftsbesorgungsvertrags präsentiert wird. 71 Eine allgemeine Überprüfungs- und Nachforschungspflicht besteht nicht. 72 Dem Vertrauensschutz der finanzierenden Bank kommt deshalb grundsätzlich Vorrang vor dem Schutz des Anlegers zu. 73 Eine andere Beurteilung kommt dann in Betracht, wenn die Bank derart in die Vertriebsorganisation eingebunden ist, dass sie die Modalitäten des Vertragsschlusses kennt und deshalb weiß, dass die Einschaltung des TreuhänBGHZ 145, 265 = WM 2000, 2443 = NJW 2001, 70. S. dazu BGH NJW 2004, 2736, 2737 = ZIP 2004, 1394 = WM 2004, 1529 71 Vgl. BGH NJW- RR 2003, 1203. 72 BGH WM 2000, 1247, 1250; Ganter WM 2001, 195, 196; anders aber neuerdings BGH NJW 2004, 2731, 2732 f. = ZIP 2004, 1402 = WM 2004, 1521 und BGH NJW 2004, 2735 = WM 2004, 1527 im Rahmen der vergleichbaren Frage, ob die Verträge in einer Haustürsituation zustande gekommen sind. 73 Vgl. BGH NJW 2003, 2088, 2089; BGH NJW- RR 2003, 1203; BGH NJW 2002, 2325 = WM 2002, 1273, 1275; BGH NJW 2001, 3774, 3775; a.A. Arnold/Gehrenbeck VuR 2004, 41. 69 70

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ders nicht durch den Anleger, sondern durch die Initiatoren und Gründungsgesellschafter des Fonds erfolgt; hier ist das Vertrauen der Bank auf den Rechtsschein einer wirksamen Vollmacht nicht schutzwürdig. 74 Unklar ist in diesem Zusammenhang auch, wann von einer Kenntnis bzw. einem Kennenmüssen der Bank iSd. § 173 BGB auszugehen ist. Während der XI . Zivilsenat die Auffassung vertritt, es sei erforderlich, dass die Bank auch Kenntnis von der fehlenden Genehmigung zur Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten habe 75, lässt es der II . Zivilsenat ausreichen, dass die Bank Kenntnis von den Umständen hat, die auf eine unerlaubte Rechtsbesorgung schließen lassen 76.

III. Anlegerschutz durch Einwendungsdurchgriff 1. Fondsbeitritt und Bankdarlehen als verbundenes Geschäft a) Nach den dargelegten Lücken des Anlegerschutzes im System des Verbraucherschutzes in Bezug auf den drittfinanzierten Beitritt zu einer Immobilienfondsgesellschaft stellt sich die Frage, inwieweit diese durch das Institut des Einwendungsdurchgriffs (§ 359 BGB ) geschlossen werden. Der Fondsbeitritt wird mittlerweile von der überwiegenden Ansicht als ein Vertrag über die Erbringung einer anderen Leistung iSd. § 358 Abs. 3 Satz 1 BGB bzw. § 9 Abs. 4 VerbrKrG angesehen. 77 Der BGH ist der Gegenansicht 78 nicht gefolgt und hat sich in seiner Entscheidung vom 21. 7. 2003 der überwiegenden Ansicht angeschlossen. 79 Bei Vorliegen einer wirtschaftBGH NJW 2004, 2736, 2737 = ZIP 2004, 1394 = WM 2004, 1529. BGH NJW 2004, 2378 = ZIP 2004, 1188 = WM 2004, 1221; BGH NJW 2004, 2090 f. 76 BGH NJW 2004, 2736, 2737 f. = ZIP 2004, 1394 = WM 2004, 1529; BGH NJW 2004, 2742 = WM 2004, 1536. 77 OLG Frankfurt aM WM 2002, 1275, 1278; OLG Karlsruhe BKR 2002, 593 ff. (11. Senat); OLG Karlsruhe WM 1999, 127, 129 (3. Senat); OLG München ZIP 2003, 338, 339; OLG München ZIP 1995, 1362, 1363; Faust EWiR 2001, 975, 976; Fischer DB 2004, 1651; Frisch VuR 1999, 432, 436; v. Heymann NJW 1999, 1577, 1581; Köndgen NJW 2000, 468, 473; Kulke EWiR 2001, 709, 710; Lenenbach WM 2004, 501, 504 f.; Ott in Bruchner/Ott/Wag74

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ner-Wieduwilt VerbrKrG, 2. Aufl. 1994, § 9 Rn. 188; Palandt/Heinrichs (Fn. 19) §§ 358, 359 Rn. 7; Staudinger/Kessal-Wulf (Fn. 40) § 9 VerbrKrG Rn. 45; Tonner WuB I E 2. § 9 VerbrKrG 2.03; H. P. Westermann WuB I G 5. Immoblienanlagen 17.00; offengelassen von BGH ZIP 2000, 1430 ff.; BGH NJW 1997, 1069, 1070; OLG Stuttgart ZIP 2001, 692, 696 f. 78 OLG Karlsruhe ZIP 2003, 202, 204; OLG Karlsruhe WM 2003, 182, 185; OLG Karlsruhe Urt. v. 28. 8. 2002 – 6 U 14/02; OLG Karlsruhe EWiR 2001, 709; Früh ZIP 1999, 701, 703; Habersack ZIP 2001, 327, 328; Horn/Balzer WM 2000, 333, 337; Wagner NZG 2000, 169, 172 ff.; Wallner BKR 2003, 92, 93 ff.; ders BKR 2003, 799; H. P. Westermann ZIP 2002, 189, 200. 79 BGH NJW 2003, 2821, 2822; bestätigt in BGH NJW 2004, 2731, 2733 f. = ZIP 2004, 1402 = WM 2004, 1521; BGH WM 2004, 1518.

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lichen Einheit stehen dem Anleger daher die Rechte der §§ 358, 359 BGB zu. Der Einwendungsdurchgriff gemäß § 359 BGB führt dazu, dass nicht der Verbraucher das Verwendungsrisiko hinsichtlich des ausgereichten Darlehens zu tragen hat, sondern dieses auf den Darlehensgeber abwälzen kann. 80 Die weitere Folge ist, dass der Bank auch solche Mängel des Beitrittsgeschäfts entgegengehalten werden können, die von Personen herrühren, deren Verhalten der Bank hinsichtlich der Verletzung von Aufklärungspflichten nicht zugerechnet wird. 81 Voraussetzung des Einwendungsdurchgriffs ist, dass der Darlehensvertrag mit dem Fondsbeitritt eine wirtschaftliche Einheit iSd. §§ 358 Abs. 3 BGB , 9 Abs. 1 VerbrKrG bildet: Von einer wirtschaftlichen Einheit ist dann auszugehen, wenn zwischen der Bank und der Anlagegesellschaft eine ständige Geschäftsverbindung besteht oder wenn der Prospekt einer Immobilienfondsgesellschaft den Hinweis darauf enthält, dass sie zum Zweck der Finanzierung der Erwerber von Fondsanteilen mit einer Bank zusammenarbeitet und ein Erwerber tatsächlich einen Kredit bei der vermittelten Bank in Anspruch nimmt.82 Eine wirtschaftliche Einheit wird grundsätzlich unwiderleglich vermutet, wenn sich der Kreditgeber bei der Vorbereitung oder dem Abschluss des Verbraucherdarlehensvertrags der Mitwirkung des Unternehmers bedient (§§ 358 Abs. 3 Satz 2 BGB , 9 Abs. 1 Satz 2 VerbrKrG).83 b) Die Rechtsprechung hat bei drittfinanzierten Immobiliengeschäften darauf abgestellt, dass eine wirtschaftliche Einheit grundsätzlich nicht vorliege, da selbst ein rechtsunkundiger Laie wisse, dass Erwerbs- und Darlehensvertrag getrennte Rechtsgeschäfte bildeten und nur ausnahmsweise unter ganz bestimmten engen Voraussetzungen von einer wirtschaftlichen Einheit der Geschäfte ausgegangen werden könne.84 Dem entspricht die Neuregelung des durch das Gesetz zur Änderung des Rechts der Vertretung durch Rechtsan-

80 Füller ZBB 2001, 157, 160; Gundlach Konsumentenkredit und Einwendungsdurchgriff, 1978, S. 142 f.; Heermann Drittfinanzierte Erwerbsgeschäfte, 1997, S. 214, 233; Kessal-Wulf EWiR 2000, 251, 252. 81 H. P. Westermann ZIP 2002, 189, 200. 82 BGHZ 133, 254, 259 = NJW 1996, 3414 (Securenta); LG Stuttgart VuR 2000, 179. 83 BGH WM 2004, 1518; BGH NJW 2004, 2736, 2740 = ZIP 2004, 1394 = WM 2004, 1529; BGH NJW 2004, 2731, 2734 = ZIP 2004, 1402 = WM 2004, 1521; BGH NJW 2004, 2742 = ZIP 2004, 1407 = WM 2004, 1525; BGH NJW 2004, 2735 = WM 2004, 1527; BGH ZIP 2004, 1543 = WM 2004, 1675; BGH NJW 2003, 2821, 2822; Lenenbach WM 2004, 501, 503. 84 Vgl. BGHZ 152, 331 = NJW 2003, 422, 423; BGH ZIP 2003, 160, 162 f.; BGH NJW 2003, 199 f.; BGH NJW 2002, 1881, 1884; OLG Karlsruhe ZIP 2003, 109 ff.; ebenso Freckmann BKR 2003, 30 f.; Knott WM 2003, 49, 52; Langenbucher in Dauner-Lieb/Konzen/K. Schmidt Das neue Schuldrecht in der Praxis, 2003, S. 586; dagegen etwa LG Bochum NJW 2003, 2612; LG Freiburg EWiR 2003, 1265; LG Hamburg BKR 2003, 32, 33; Fischer DB 2003, 83, 85 f.; eingehend Derleder ZfIR 2003, 177, 189. Vgl. hierzu auch die Stellungnahme der Europäischen Kommission zur Rückabwicklung kreditfinanzierter Immobiliengeschäfte, abgedruckt in NJW 2004, Heft 11, S. XXX ff.

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wälte vor den Oberlandesgerichten vom 23. 7. 2002 (OLGVertrÄndG)85 neu eingefügten § 358 Abs. 3 Satz 386: Wird mit dem Darlehen der Erwerb eines Grundstücks oder der Erwerb eines grundstücksgleichen Rechts finanziert, liegt eine wirtschaftliche Einheit iSd. Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 nur dann vor, wenn der Darlehensgeber selbst das Grundstück oder das grundstücksgleiche Recht verschafft (Var. 1) oder wenn er dem Verbraucher zu dem Erwerb rät87 (Var. 2), ihm den Eindruck vermittelt, er habe das Geschäft auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten geprüft (Var. 3) oder in sonstiger Weise über die Zurverfügungstellung von Darlehen hinaus den Erwerb des Grundstücks oder des grundstücksgleichen Rechts durch Zusammenwirken mit dem Unternehmer fördert (Var. 4). Insbesondere liegt demnach eine wirtschaftliche Einheit vor, wenn der Darlehensgeber seine Rolle als Darlehensgeber überschreitet.88 Die vorgenommenen Änderungen beruhen auf der Umsetzung der durch den EuGH in der sog. Heininger-Entscheidung ausgelegten Vorgaben der Verbraucherkreditrichtlinie.89 Der generelle Ausschluss der §§ 358, 359 BGB durch § 491 Abs. 3 Nr. 1 BGB a.F. war mit der Verbraucherkreditrichtlinie unvereinbar.90 Die Regelung ist als abschließende Sonderbestimmung zu verstehen, so dass nicht auf die allgemeinen Vermutungen des Satz 2 zurückgegriffen werden kann, wenn nicht die Voraussetzungen des Satz 3 vorliegen.91 Wird mit dem Darlehen der Erwerb von Fondsanteilen vermittelt, findet § 358 Abs. 3 Satz 3 BGB seinem Wortlaut nach keine Anwendung, da es sich bei dem Erwerb von Gesellschaftsanteilen, mag es sich dabei auch um einen Immobilienfonds handeln, nicht um den Erwerb eines Grundstücks oder eines grundstücksgleichen Rechts handelt. Ob dies auch gilt, wenn der Beitritt zu einer BGB -Gesellschaft mit direkter Eintragung der Gesellschafter in das Grundbuch erfolgt, ist fraglich.92 Die Bestimmung des § 358 Abs. 3 Satz 3 BGB ist auch nicht entsprechend anwendbar93, da die Bank bei Fondsanteilen bereits bei einem Zusammenwirken mit der Fondsgesellschaft iSd. § 358 Abs. 3 Satz 1 und 2 BGB die Risiken des finanzierten Geschäfts kostengünstiger einschätzen kann als der Verbraucher und daher nicht die strengeren Voraussetzungen des 85

BGB l. I, S. 2857.

Langenbucher (Fn. 84) S. 586 f. Vgl. hierzu BGH NJW 2004, 1868. 88 Vgl. BT-Drs. 14/9266, S. 46 f.; BGH NJW 2003, 3793, 3704; Langenbucher (Fn. 84) S. 587; Palandt/Heinrichs (Fn. 19) §§ 358, 359 Rn. 18. 89 EuGH NJW 2002, 281; hierzu eingehend Franzen JZ 2003, 321 ff.; Vgl. BT-Drs. 14/9266, S. 44. 90 EuGH NJW 2002, 281; LG Bremen WM 2002, 1450 ff. 91 BT-Drs. 14/9266, S. 46 f.; Palandt/Heinrichs (Fn. 19) §§ 358, 359 Rn. 18; Meinhof NJW 2002, 2273; Lauer BKR 2004, 92, 95. 92 Lauer BKR 2004, 92, 99. 93 Habersack (Fn. 25) § 359 Rn. 51; Lenenbach WM 2004, 501, 504; a.A. Früh ZIP 1999, 701, 702 f. Auch § 3 Abs. 2 Nr. 4 VerbrKrG, § 491 Abs. 3 Nr. 2 BGB finden keine analoge Anwendung, Vgl. überzeugend Lenenbach WM 2004, 501, 504. 86 87

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Satz 3 vorliegen müssen. Auch nach dem nunmehr geltenden Recht sind daher die oben genannten Grundsätze anwendbar. Von einer Mitwirkung der Fondsgesellschaft bei der Vorbereitung oder dem Abschluss des Darlehensvertrags ist auszugehen, wenn der Kreditnehmer sich nicht selbst um eine Kreditfinanzierung seines Beitritts bemüht, sondern wenn ihm vom Vermittler der Fondsbeteiligung ein Kreditantragsformular eines Kreditinstituts vorgelegt wird, das sich dem Fondsvertreiber gegenüber zur Finanzierung bereit erklärt hat.94 Durch die gesetzliche Regelung des Einwendungsdurchgriffs hat sich ferner die Rechtsprechung zum Ausschluss des Einwendungsdurchgriffs bei steuerlich motivierten Finanzierungen überholt.95 Ferner verwirklicht sich bei einem drittfinanzierten fehlerhaften Gesellschaftsbeitritt gerade das Risiko, vor dem der Einwendungsdurchgriff den Verbraucher schützen will.96 2. Einwendungen aus dem Fondsbeitritt Der Anleger kann der Bank nur solche Einwendungen entgegenhalten, die aus dem finanzierten Geschäft stammen. Dies ist in dem hier untersuchten Bereich der Beitritt zur Fondsgesellschaft. Aus der Fehlerhaftigkeit des Beitritts wegen arglistiger Täuschung des Anlegers oder wegen Verletzung einer ihm gegenüber bestehenden Aufklärungspflicht durch die Initiatoren oder die Gründungsgesellschafter der Fondsgesellschaft können keine Schadensersatzansprüche gegen die Gesellschaft abgeleitet werden, da solche Ansprüche letztlich zu Lasten der anderen Gesellschafter gehen würden, die sich als ebenfalls getäuschte Anleger in der gleichen Situation befinden und in gleicher Weise schutzwürdig sind. Aus dem Gebot der Gleichbehandlung ergibt sich eine „Durchsetzungssperre“ in Bezug auf die Ansprüche der einzelnen Gesellschafter gegen die Gesellschaft (s. o. II 1 b). 97

Zu § 9 Abs. 1 VerbrKrG ebenso BGH NJW 2003, 2821, 2822. BGHZ 133, 254, 262 = NJW 1996, 3414 mwN; OLG Karlsruhe WM 1999, 127, 129; Lenenbach WM 2004, 501, 505; Rösler WuB I G 5. – 1.99; Zeller EWiR 1998, 1003, 1004; iE ebenso Habersack ZHR 156 (1992), 45, 61; a.A. OLG Karlsruhe ZIP 2003, 202, 204 f.; OLG Karlsruhe WM 2001, 1210, 1213; OLG Stuttgart WM 2000, 292, 300; LG Ulm WM 2000, 825, 828; Edelmann/Hertel DStR 2000, 331, 341 f.; Horn/Balzer WM 2000, 333, 337; Münscher WuB I G 5. Immoblienanlagen 10.00; Pfeiffer ZBB 1996, 304, 315 ff.; H. P. Westermann ZIP 2002, 189, 199 f.; nach LG Bochum EWiR 1996, 475, 476 gelten diese Grundsätze sogar bei nicht steuerlich motivierten Kapitalanlagen; anders bereits vor Inkrafttreten des VerbrKrG BGHZ 93, 264 = NJW 1985, 1020; BGH NJW 1981, 389; BGH WM 1986, 671; BGH WM 1986, 6; BGH NJW- RR 1986, 1167, 1168; BGH WM 1988, 1891; BGH NJW- RR 1987, 523; BGH NJW 1988, 1583. 96 Vgl. hierzu mit zutreffender Begründung Lenenbach WM 2004, 501, 505; a.A. (Verwirklichung des Spekulationsrisikos) OLG Karlsruhe ZIP 2003, 202, 204; Habersack ZHR 156 (1992), 45, 57ff.; MünchKomm/ders (Fn. 25) § 359 Rn. 17; H. P. Westermann ZIP 2002, 240, 247. 97 KG ZIP 2000, 268, 272; LG Stuttgart WM 2001, 140, 144 f.; Münscher WuB I G 5. Immoblienanlagen 3.01; Reich EWiR 2001, 449, 450. 94 95

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Ansprüche des getäuschten Anlegers gegen Gründungsgesellschafter oder Initiatoren der Fondsgesellschaft aus vorvertraglichem Aufklärungsverschulden (§ 311 Abs. 2 BGB ) begründen grundsätzlich keine Einwendungen gegen die Bank, da die Gründungsgesellschafter bzw. Initiatoren nicht Vertragspartner des Anlegers aus dem finanzierten Geschäft sind und deren Verhalten der Fondsgesellschaft aus den schon genannten Gründen haftungsrechtlich nicht zugerechnet werden kann. 98 Der Anleger kann ferner seine Beitrittserklärung im Falle arglistiger Täuschung durch einen Gründungsgesellschafter anfechten bzw. die Mitgliedschaft aus wichtigem Grund kündigen, wenn sein Beitritt auf Aufklärungsverschulden eines Mitgesellschafters beruht und dies der Gesellschaft zurechenbar ist. 99 Um sich auf den fehlerhaften Beitritt gegenüber der Bank berufen zu können, muss er die Kündigung auch erklärt haben.100 Die Rechtsprechung ging zunächst von dem Grundsatz aus, dass die Kündigung gegenüber der Gesellschaft Voraussetzung eines auf den fehlerhaften Gesellschaftsbeitritt gestützten Einwendungsdurchgriffs ist.101 Dies entspricht auch einer Ansicht im Schrifttum.102 Seit der Entscheidung des BGH vom 21. 7. 2003 gilt aber, dass das Kündigungsrecht auch unmittelbar dem Kreditgeber gegenüber ausgeübt werden kann, und zwar in Form einer „Mitteilung“.103 Die Anfechtung des Beitritts wegen arglistiger Täuschung und die Kündigung der Mitgliedschaft aus wichtigem Grund führen gleichermaßen dazu, dass der Anleger mit Wirkung ex nunc aus der Gesellschaft ausscheidet und gegen diese einen Abfindungsanspruch erwirbt, der dem Wert seiner Beteiligung im Zeitpunkt seines Ausscheidens 98

BGH NJW 2004, 2731, 2734 = ZIP 2004, 1402 = WM 2004, 1521; OLG Stuttgart ZIP

2001, 692, 698. 99 BGH NJW 2003, 2821, 2822; BGH ZIP 2000, 1483, 1485; BGH NJW 2000, 3558 f.; OLG München ZIP 2000, 2295, 2301; OLG Stuttgart ZIP 2001, 692, 697; H. P. Westermann ZIP 2002, 240, 247. 100 BGH NJW 2000, 3558, 3560; MünchKomm/Habersack (Fn. 25) § 359 Rn. 37. 101 BGH NJW 2000, 3558, 3560; BGH ZIP 2000, 1483, 1485 f.; OLG Bamberg EWiR 2001, 449; OLG Stuttgart ZIP 2001, 692, 697; a.A. OLG Rostock BB 2001, 409 f.; Frisch EWiR 2001, 447, 448; Kulke EWiR 2001, 709, 710; Loßack VuR 2001, 131, 132 f.; ders VuR 2001, 282 ff.; Schwintowski EWiR 2001, 87, 88; ohne nähere Begründung ebenfalls a.A. LG Meiningen VuR 2001, 55, 58; kritisch Reich EWiR 2001, 449, 450. 102 Goette DStR 2000, 1881; MünchKomm/Habersack (Fn. 25) § 359 Rn. 37, 38; Lenenbach WM 2004, 501, 505; Staudinger/Kessal-Wulf (Fn. 40) § 9 VerbrKrG Rn. 80; Nielsen EWiR 2001, 155, 156; H. P. Westermann ZIP 2002, 240, 247 f., 249; Wallner BKR 2003, 799, 800. 103 BGH NJW 2003, 2821 (Mitteilung der Täuschung bei Erwerb der Beteiligung); bestätigt in BGH WM 2004, 1518; BGH NJW 2004, 2742 = WM 2004, 1536; BGH NJW 2004, 2736, 2740 = ZIP 2004, 1394 = WM 2004, 1529; BGH NJW 2004, 2731, 2734 = ZIP 2004, 1402 = WM 2004, 1521; BGH NJW 2004, 2742, 2743 = ZIP 2004, 1407 = WM 2004, 1525; BGH ZIP 2004, 1543 = WM 2004, 1675. Ebenso in der Sache schon Ott (Fn. 77) § 9 Rn. 114. An seiner abweichenden Rechtsansicht hält der XI . Zivilsenat (Urt. v. 27. 6. 2000 – XI ZR 174/99 und XI ZR 210/99 – BGH NJW 2000, 3558 und ZIP 2000, 1483) nicht mehr fest, Vgl. BGH NJW 2003, 2821, 2823.

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entspricht.104 Hieraus ergibt sich der Einwendungsdurchgriff des Anlegers gegenüber dem Anspruch der Bank aus Darlehensvertrag. Zwar führt die Kündigung nicht zu einem Leistungsverweigerungsrecht gegenüber der Fondsgesellschaft hinsichtlich der Einlage, da die Einlagepflicht beim fehlerhaften Beitritt zur Gesellschaft nicht entfällt.105 Der aus der Kündigung resultierende Abfindungsanspruch stellt sich aber als gesellschaftsrechtlich modifizierte Entsprechung des Rückzahlungsanspruchs des Käufers beim finanzierten Kauf dar; die Kündigung der Beteiligung wird wie die Rückabwicklung eines Kaufgeschäfts behandelt.106 Solange der Anteil des Anlegers mit der Gesellschaft noch nicht auseinandergesetzt und festgestellt ist, ob der Anleger nachschusspflichtig ist oder ihm ein Guthaben zusteht, greift gegenüber der Fondsgesellschaft dagegen die „Durchsetzungssperre“, die gegenüber dem Darlehensgeber dazu führt, dass gegenseitige Ansprüche solange nicht durchsetzbar sind (s. o. II 1 b).107 Der II . Zivilsenat hat in seinen bereits eingangs erwähnten Entscheidungen vom 14. 6. 2004 diese bisher geltenden Grenzen des Anlegerschutzes durchbrochen und dem Anleger einen alle Ansprüche gegen die Initiatoren und Gründungsgesellschafter umfassenden Einwendungsdurchgriff zugestanden.108 Dies begründet der Senat damit, dass im Verhältnis zu der den Gesellschaftsbeitritt finanzierenden Bank die Gründungsgesellschafter des Fonds und die Initiatoren, maßgeblichen Betreiber, Manager, Prospektherausgeber und sonst für den Anlageprospekt Verantwortlichen als Geschäftspartner auftreten und die Bank nur mit ihnen im Vorfeld der Anlegerwerbung zu tun habe, nicht dagegen mit der Gesellschaft. Nur diesen überlasse die Bank auch ihre Vertragsformulare. Als „Unternehmer“ iSd. § 359 Abs. 1 Satz 1 BGB werden mithin auch die Prospektverantwortlichen, Initiatoren und sonstigen maßgeblich Beteiligten angesehen.109

BGH NJW 2003, 2821, 2823 f. = BB 2003, 2089 = WM 2003, 1762. Vgl. nur H. P. Westermann ZIP 2002, 240, 247. 106 H. P. Westermann ZIP 2002, 240, 247. 107 KG ZIP 2000, 268, 272; LG Stuttgart WM 2001, 140, 144 f.; Münscher WuB I G 5. Immoblienanlagen 3.01; Reich EWiR 2001, 449, 450. 108 BGH WM 2004, 1518; BGH NJW 2004, 2742 = WM 2004, 1536; BGH NJW 2004, 2736, 2740 = ZIP 2004, 1394 = WM 2004, 1529; BGH NJW 2004, 2731, 2734 = ZIP 2004, 1402 = WM 2004, 1521; BGH NJW 2004, 2742, 2743 = ZIP 2004, 1407 = WM 2004, 1525; bestätigt in BGH ZIP 2004, 1543 = WM 2004, 1675; zustimmend Fischer DB 2004, 1651 f.; kritisch dagegen Edelmann BB 2004, 1648, 1649 f. 109 Vgl. BGH NJW 2004, 2742 = WM 2004, 1536; BGH NJW 2004, 2736, 2740 = ZIP 2004, 1394 = WM 2004, 1529; BGH NJW 2004, 2731, 2734 = ZIP 2004, 1402 = WM 2004, 1521; BGH NJW 2004, 2742, 2743 = ZIP 2004, 1407 = WM 2004, 1525. 104 105

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IV. Die Rückabwicklung des Darlehensvertrags 1. Rückabwicklung bei Nichtigkeit oder Unwirksamkeit des Darlehensvertrags a) Ist der Darlehensvertrag nichtig, weil er unter Verstoß gegen die Vorschriften des RBerG zustande gekommen ist, so entfällt der Rechtsgrund für die beiderseitigen Zahlungen. Der Darlehensnehmer kann folglich die bereits erbrachten Leistungen auf Zins und Tilgung gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB (Leistungskondiktion) zurückfordern. Die Bank kann grundsätzlich Rückzahlung der Darlehensvaluta verlangen. Auf einen Wegfall der Bereicherung wegen einer inzwischen eingetretenen Wertminderung oder Wertlosigkeit seiner Beteiligung am Immobilienfonds kann sich der Darlehensnehmer grundsätzlich nicht berufen; er trägt das Verwendungsrisiko, zu dem auch das Insolvenzrisiko bezüglich des von ihm ausgewählten Vertragspartners gehört.110 b) Unterliegt der Darlehensvertrag selbst einem Widerrufsrecht des Darlehensnehmers gemäß § 312 Abs. 1 BGB oder gemäß § 495 BGB , so bestimmen sich die Rechtsfolgen eines Widerrufs nach den Vorschriften über das gesetzliche Rücktrittsrecht (§ 357 Abs. 1 BGB ). Streitig ist, ob der Darlehensnehmer in diesem Fall die Darlehensvaluta an die Bank zurückzuzahlen hat, ohne sich darauf berufen zu können, dass die Zahlung direkt an die Fondsgesellschaft erfolgt ist.111 Für den Fall eines verbundenen Geschäfts hat der II . Zivilsenat nunmehr entschieden, daß die Bank vom Darlehensnehmer nicht die ausgereichte Darlehensvaluta zurückverlangen kann, sondern nur die Abtretung der Fondsbeteiligung.112 Dies folgt nach Auffassung des Gerichts aus den Grundsätzen des verbundenen Geschäfts sowie aus dem Gesichtspunkt eines wirksamen Verbraucherschutzes.

Lieb in: Münchener Kommentar zum BGB , Band 5, 4. Aufl. 2004, § 818 Rn. 125. So BGH NJW 2003, 422, 423 für einen Realkreditvertrag. Dag. OLG Bremen (Vorlagebeschluß v.27. 5. 2004 an den EuGH ) NJW 2004, 2238 = ZIP 2004, 1253 = WM 2004, 1628; LG Bochum NJW 2003, 2612 112 BGH NJW 2004, 2742 = WM 2004, 1536 und BGH NJW 2004, 2736, 2740 = ZIP 2004, 1394 = WM 2004, 1529 unter Hinweis auf die Stellungnahme der Kommission der Europäischen Gemeinschaft, NJW 2004, Heft 11, S. XXX; ebenso bei einem Widerruf des Darlehensvertrages nach § 1 Abs. 1 HausTWG , jedoch bei einem Realdarlehensvertrag wiederum ablehnend BGHZ 152, 331 ff. = BGH NJW 2003, 422, 423; BGH ZGS 2003, 476 (Beschluss vom 16. 09. 2003); BGH WM 1985, 221, 223; Derleder ZfIR 2003, 177, 187; Knott WM 2003, 49, 51; Schwesig ZGS 2003, 447; H. P. Westermann ZfIR 2003, 680, 681; ob diese Rechtsprechung mit der Verbraucherkreditrichtlinie vereinbar ist, hat das OLG Bremen NJW 2004, 2238 = ZIP 2004, 1253 = WM 2004, 1628 dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt. 110

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2. Rückabwicklung durch Rückforderungsdurchgriff bei verbundenen Geschäften a) Bei der Rückabwicklung verbundener Geschäfte stellt sich die Frage, ob der Darlehensnehmer für den Fall der Nichtigkeit bzw. Unwirksamkeit des finanzierten Geschäfts über den sich aus § 359 BGB (§ 9 Abs. 3 VerbrKrG) ergebenden Einwendungsdurchgriff gegen den Darlehensgeber hinaus von diesem auch Rückzahlung der auf das Darlehen bereits erbrachten Zins- und Tilgungsleistungen fordern kann. Ein solcher Rückforderungsdurchgriff, der im Gesetz nicht vorgesehen, aber auch nicht ausgeschlossen ist, wird teilweise bejaht 113, von der überwiegenden Ansicht im Schrifttum 114 und von Instanzgerichten 115 aber abgelehnt. Gegen die Versagung eines Rückforderungsdurchgriffs spricht, dass damit die von der Regelung der verbundenen Geschäfte zum Schutz des Verbrauchers intendierte Verlagerung des Insolvenzrisikos bezüglich des Unternehmers auf die Bank unterbliebe. Durch Urteil vom 21. 7. 2003 hat der II . Zivilsenat des BGH entschieden, dass dem Darlehensnehmer ein Rückforderungsdurchgriff gegen die Bank zusteht und dazu ausgeführt, es bestehe ein unabweisbares Bedürfnis, auch im Anwendungsbereich des § 9 Abs. 3 VerbrKrG eine Rückabwicklung bereits erbrachter Leistungen nach Maßgabe der für das finanzierte Geschäft geltenden Regeln zuzulassen.116 Dem Anleger soll dadurch aber nicht das volle Risiko seiner Anlage zu Lasten der Bank abgenommen werden, was dadurch erreicht wird, dass das Kreditinstitut bei der Rückabwicklung in die Rechte und Pflichten der Fondsgesellschaft eintritt und demzufolge die beiderseitigen Ansprüche saldiert werden.117 Das Kreditinstitut muss sich folglich den Abfindungsanspruch des Anlegers gegen die Fondsgesellschaft auf seinen Rückzahlungsanspruch anrechnen lassen mit der weiteren Folge, dass Rückzahlung des Darlehens nur in Höhe der Differenz zwischen Darlehen und Abfindungsanspruch verlangt werden kann. Weiterhin wird in der Entscheidung des Senats statuiert, dass der Anleger dem Kreditinstitut seinen Anspruch auf das Abfindungsguthaben „zur Verfügung stellen“, also abtreten muss, so dass das Kreditinstitut das Abfin113 Ott (Fn. 77) § 9 Rn. 128 ff.; zustimmend Lwowski/Peters/Gößmann VerbrKrG, 2. Aufl. 1994, S. 209 f. 114 S. nur Bülow VerbrKrG, 5. Aufl. 2002, § 495 Rn. 337; Fuchs AcP 199 (1999) 305, 332 ff.; Füller ZBB 2001, 157, 168; MünchKomm/Habersack (Fn. 25) § 359 Rn. 75; Palandt/ Heinrichs (Fn. 19) §§ 358, 359 Rn. 8; Staudinger/Kessal-Wulf (Fn. 40) § 9 VerbrKrG Rn. 98 ff. 115 OLG Frankfurt aM WM 2002, 1275; OLG Koblenz BB 2002, 1981, 1984; OLG Stuttgart ZIP 2001, 692, 698; OLG Stuttgart ZIP 2002, 1885; a.A. OLG Dresden ZIP 2000, 180. 116 BGH NJW 2003, 2821 = BB 2003, 2089 = WM 2003, 1762; daran anschließend die Entscheidungen vom 14. 6. 2004 BGH NJW 2004, 2742 = WM 2004, 1536; BGH NJW 2004, 2736, 2741 = ZIP 2004, 1394 = WM 2004, 1529; BGH NJW 2004, 2731, 2734 = ZIP 2004, 1402 = WM 2004, 1521. 117 BGH NJW 2003, 2821, 2824.

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dungsguthaben bei der Fondsgesellschaft einfordern kann.118 Erreicht wird dieses Ergebnis konstruktiv durch eine entsprechende Anwendung des § 358 Abs. 4 Satz 3 BGB (§ 9 Abs. 2 Satz 4 VerbrKrG), was freilich weder dem Wortlaut noch des Systematik des gesetzlichen Regelung entspricht 119. Über den engeren Anwendungsbereich des Rückforderungsdurchgriffs hinaus, der sich auf die Rückforderung von Zahlungen bezieht, die der Verbraucher an den Kreditgeber erbracht hat,120 hat der II . Zivilsenat nunmehr entschieden, dass die Bank im Rahmen des Rückforderungsdurchgriffs dem Anleger auch für alle Schadensersatzansprüche gegen die Prospektverantwortlichen und Gründungsgesellschafter haftet.121 b) Die Anerkennung des Rückforderungsdurchgriffs bei verbundenen Geschäften durch den BGH schließt eine Lücke im System des Verbraucherschutzes bei drittfinanzierten Geschäften. Hierauf bezieht sich offensichtlich auch der Senat, wenn er die Zulassung des Rückforderungsdurchgriffs auf ein „unabweisbares Bedürfnis“ stützt. Gleichwohl bleibt eine Reihe von Fragen offen. Aus Sicht der Praxis von eher geringer Bedeutung dürfte sein, dass der Senat eine nähere rechtliche Begründung für die Zulässigkeit des Rückforderungsdurchgriffs schuldig bleibt. Die Bestimmung der Rechtsgrundlage für einen Rückforderungsdurchgriff und dessen Reichweite hängt eng mit der Dogmatik zur Rechtsnatur des Einwendungsdurchgriffs zusammen.122 Die meisten Anhänger der Trennungstheorie nehmen einen Anspruch hinsichtlich bereits geleisteter Raten aus § 813 Abs. 1 Satz 1 BGB an.123 Der BGH wendet mit einem Teil des Schrifttums § 9 Abs. 2 Satz 4 VerbrKrG, § 358 Abs. 4 Satz 3 BGB entsprechend an.124 Ein Rückzahlungs118 119

BGH NJW 2003, 2821, 2824; zustimmend Lenenbach WM 2004, 501, 510 f. Ebenso LG Kleve FLF 1993, 228; Lenenbach WM 2004, 501, 508; Pietzcker Die Rück-

abwicklung der verbundenen Geschäfte beim Einwendungsdurchgriff nach dem Verbraucherkreditgesetz, 1994, S. 108 f. 120 Staudinger/Kessal-Wulf (Fn. 40) § 9 VerbrKrG Rn. 91. 121 BGH WM 2004, 1518; BGH NJW 2004, 2742 = WM 2004, 1536; BGH NJW 2004, 2736, 2740 f. = ZIP 2004, 1394 = WM 2004, 1529; BGH ZIP 2004, 1543 = WM 2004, 1675. 122 Fuchs AcP 199 (1999) 305, 323 ff.; Goebbels Der Rückforderungsdurchgriff des Verbrauchers im Rahmen der Rückabwicklung verbundener Geschäfte im Sinne des § 9 Verbraucherkreditgesetz, 2000, S. 50 ff. 123 OLG Dresden ZIP 2000, 180 f.; LG Leipzig NZM 2000, 725, 727; Coester Jura 1992, 617, 623; Emmerich/v. Westphalen/v. Rottenburg VerbrKrG, 2. Aufl. 1996, § 9 Rn. 184; Füller ZBB 2001, 157, 167 ff.; Fußbahn Die Rückabwicklung verbundener Geschäfte im Sinne des § 9 VerbrKrG, 1999, S. 180 ff.; Lenenbach WM 2004, 501, 507; Palandt/Heinrichs (Fn. 19) §§ 358, 359 Rn. 7; Lebek Rückabwicklung und Regress bei verbundenen Geschäften, 1996, S. 148 f.; van Look WuB I E 2. § 9 VerbrKrG 2.01; Loßack VuR 2001, 131; Reinking FLF 1993, 174, 176; A. Staudinger NZM 2000, 689, 691; Winkler NJ 2000, 380. 124 BGH WM 2004, 1518; BGH NJW 2004, 2742 = WM 2004, 1536; BGH NJW 2004, 2736, 2740 = ZIP 2004, 1394 = WM 2004, 1529; BGH NJW 2004, 2731, 2734 = ZIP 2004, 1402 = WM 2004, 1521; BGH NJW 2004, 2742, 2743 = ZIP 2004, 1407 = WM 2004, 1525; ZIP 2004, 1543 = WM 2004, 1675; BGH N JW 2003, 2821, 2823; Hänlein Jura 2000, 317, 322 in Fn. 42; G. Vollkommer NJW 2004, 818, 820 in Fn. 24. Nach Ansicht von Leser Hyung-

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anspruch des Verbrauchers für bereits geleistete Darlehensraten ergibt sich entgegen der überwiegenden Ansicht aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt.1 BGB , da der Darlehensvertrag die Geschäftsgrundlage des finanzierten Geschäfts bildet.125 Der BGH legt zwar überzeugend dar, dass die gesetzliche Regelung des Einwendungsdurchgriffs gemäß § 9 Abs. 3 VerbrKrG nicht als abschließende Regelung im Sinne einer negativen Entscheidung des Gesetzgebers gegen einen Rückforderungsdurchgriff zu verstehen ist. Eine positive Entscheidung des Gesetzgebers für einen Rückforderungsdurchgriff lässt sich daraus freilich ebenso wenig ableiten. Dem kann hier nicht näher nachgegangen werden. Es verbleiben aber auch Fragen, die die Bewertung des Ergebnisses betreffen. Der II . Zivilsenat bezeichnet es als Grundprinzip, dass das Verbraucherkreditgesetz nicht vor allen Folgen einer fehlerhaften Kapitalanlage schützen und den Verbraucher, der seine Beteiligung über einen Kredit finanziert, nicht gegenüber Anlegern, die die Fondsbeteiligung eigenfinanziert haben, privilegieren soll. Es ist aber zweifelhaft, ob die vom Senat entwickelte Lösung mit diesem Grundprinzip vereinbar ist. Zum einen ist festzuhalten, dass beim eigenfinanzierten Fondsbeitritt der Anleger das Risiko einer Insolvenz der Fondsgesellschaft und damit des vollständigen Verlustes seiner Kapitalanlage trägt. Dies entspricht dem allgemeinen Grundsatz, dass das Insolvenzrisiko stets dem zuzurechnen ist, der sich den insolvent gewordenen Schuldner als Vertragspartner ausgesucht hat.126 Die Verlagerung des Insolvenzrisikos hinsichtlich des Anspruchs auf das Abfindungsguthaben gegenüber der Fondsgesellschaft auf das Kreditinstitut bedeutet also eine wesentliche Besserstellung des Anlegers bei der fremdfinanzierten gegenüber der eigenfinanzierten Kapitalanlage. Dies rechtfertigt sich daraus, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen eines verbundenen Geschäfts iSd. § 358 Abs. 3 BGB die Bank die Risiken des finanzierten Geschäfts mit einem geringeren Kostenaufwand als der Anleger abschätzen kann.127 Im übrigen verbleibt das Anlagerisiko nach materiellrechtlichen Kriterien beim Anleger, denn in Höhe der bis zum Ausscheiden des Anlegers mit Wirkung ex nunc eingetretenen Verluste der Fondsgesellschaft reduziert sich der Wert des Abfindungsguthabens, der dem Rückzahlungsanspruch der Bank entgegengesetzt werden kann. Demgegenüber Bae Kim- FS , S. 263, 268 ff. soll sich ein Anspruch dagegen aus § 346 Satz 1 BGB aF ergeben; LG Braunschweig NJW 1994, 2701, Fuchs AcP 199 (1999), 305, 332 f. und Michel WiB 1995, 398 f. stützen den Rückforderungsanspruch generell auf § 242 BGB . 125 OLG Düsseldorf NJW- RR 1996, 1265; Goebbels (Fn. 122) S. 83 ff.; Loßack VuR 2001, 282, 283; Pietzcker (Fn. 119) S. 53 ff., 69 ff.; eingehend Ott (Fn. 77) § 9 Rn. 128 ff. 126 MünchKomm/Lieb (Fn. 110) § 818 Rn. 125. 127 Ähnlich Lenenbach WM 2004, 501, 508; entgegen Lenenbach WM 2004, 501, 509 f. lässt sich damit eine Begründung für die Verlagerung des Insolvenzrisikos anhand der gesetzlichen Bestimmungen und jenseits allgemeiner Billigkeitsüberlegungen finden.

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führt die Zulassung eines Einwendungsdurchgriffs sowie eines Rückforderungsdurchgriffs wegen möglicher Ansprüche des Anlegers gegen die Fondsinitiatoren, Gründungsgesellschafter, maßgebliche Betreiber und Manager aus Prospekthaftung oder aus anderen Gründen dazu, dass der Anleger im Ergebnis sein Anlagerisiko vollständig auf die Bank abwälzen kann. Dies ist mit dem vom Senat selbst aufgestellten Grundprinzip, dass das Verbraucherkreditgesetz nicht vor allen Folgen einer fehlerhaften Kapitalanlage schützen und den Verbraucher, der seine Beteiligung über einen Kredit finanziert, nicht gegenüber Anlegern, die die Fondsbeteiligung eigenfinanziert haben, privilegieren soll, kaum vereinbar.128 Hinter dieser neueren Rechtsprechung des II . Zivilsenats steht die Prämisse, dass eine Abwälzung der mit dem Vertriebskonzept verbundenen Risiken auf den Anleger generell unangemessen ist.129 Insofern kann die neuere Rechtsprechung des II . Zivilsenats in der Tat als „kopernikanische Wende beim kreditfinanzierten Anteilserwerb an geschlossenen Immobilienfonds“ 130 bezeichnet werden. Der sich daraus ergebenden Risikoverteilung kann jedoch in dieser Allgemeinheit nicht zugestimmt werden, weil sie nicht danach fragt, inwieweit die Bank für das Verhalten der am Fondsprojekt im einzelnen mitwirkenden Personen bzw. Personengruppen verantwortlich gemacht werden kann, sondern der Bank eine pauschale Erfolgsgarantie auferlegt. Erreicht wird dieses Ergebnis durch eine Erstreckung des Begriffs des „Unternehmers“ iSd. § 359 Abs. 1 Satz 1 BGB auf alle, die am Vertrieb der Fondsanteile irgendwie beteiligt sind. Damit setzen sich diese Entscheidungen in Widerspruch zu den für die Haftung der Bank auf Schadensersatz wegen der Verletzung von Aufklärungspflichten geltenden differenzierten Voraussetzungen.

V. Fazit Die Entscheidung des II . Zivilsenats vom 21. 7. 2003131 und vom 14. 6. 2004132 setzen neue Akzente des Schutzes der Kapitalanleger beim drittfinanzierten Beitritt zu einer Anlagegesellschaft. Die Verteilung der Risiken zwischen dem den Beitritt finanzierenden Kreditgeber und dem Anleger, die sich aus diesen Entscheidungen und den in ihr vorgezeichneten Kriterien ergeben, erscheint insofern sachgerecht, als danach das eigentliche Anlagerisiko dem Anleger verbleibt, während der Kreditgeber mit dem Risiko der Ebenso Edelmann BB 2004, 1648. BGH NJW 2004, 2742 = WM 2004, 1536; BGH NJW 2004, 2736, 2737 = ZIP 2004, 1394 = WM 2004, 1529. 130 A. Staudinger ZgS 2004, 241. 131 BGH NJW 2003, 2821 (s.w. Fn. 1). 132 BGH NJW 2004, 2736 (s.w. Fn. 4). 128 129

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Uneinbringlichkeit der gegen die Fondsgesellschaft gerichteten Ansprüche belastet wird. Das Kernproblem des Anlegerschutzes auf dem Grauen Kapitalmarkt von Immobilienfonds und anderen Beteiligungsgesellschaften besteht jedoch, wie gerade auch der der Entscheidung des II . Zivilsenats vom 21. 7. 2003 zugrunde liegende Sachverhalt bestätigt, in der effizienten Zuordnung von Aufklärungspflichten. In dieser Hinsicht verbleibt es auch nach der genannten Entscheidung bei den bisherigen Kriterien. Auf Bedenken stoßen dagegen die Entscheidungen des II . Zivilsenats vom 14. 6. 2004, die auf eine pauschale Verlagerung des gesamten Anlagerisikos auf die Banken aus Gründen des Verbraucherschutzes abzielen.

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Konkurrenz der Öffentlichen Hand für privatwirtschaftliche Unternehmen aus der Perspektive des Vergaberechts Hans- Peter Schwintowski

Inhaltsübersicht Seite

I. II. III. IV. V. VI. VII.

Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Legitimation des Vergaberechts . . . . . . . . . . . Überregulierung durch Vergaberecht . . . . . . . . Public Private Partnerships . . . . . . . . . . . . . Inhouse- Geschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . Wettbewerbsbeschränkung durch Offenes Verfahren Wesentliche Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Ausgangslage Öffentliches Auftragsrecht findet Anwendung, wenn ein öffentlicher Auftraggeber am Markt nachfragt, wenn ein Beschaffungsvorgang vorliegt und wenn der jeweilige Schwellenwert überschritten ist.1 Öffentliche Auftraggeber müssen folglich ganz bestimmte, häufig sehr komplexe Regeln in festgelegten Verfahrensarten 2 einhalten. Verletzen sie die Vergaberegeln, so droht ein Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer (§§ 107 ff. GWB ), in dem geprüft wird, ob dem Unternehmen durch die behauptete Verletzung der Vergabevorschriften ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht. Dabei ist zu beachten, dass die Unternehmen Anspruch darauf haben, dass der Auftraggeber die Bestimmungen über das Vergabeverfahren einhält (§ 97 Abs. 7 GWB ). Daneben kommt sowohl der Ersatz des Vertrauensschadens als auch der Ersatz des positiven Interesses in Betracht (§ 126 GWB ). Öffentliches Auftragsrecht erweist sich somit als scharfes Schwert im Wettbewerb um den Auftrag und enthält eine Vielzahl von rechtlichen und 1 §§ 97 ff. GWB i.V.m. den Regeln der Vergabeverordnung (VgV) vom 11. Februar 2003 [ BGBl . I S. 169]. 2 Offenes Verfahren, nicht offenes Verfahren, Verhandlungsverfahren.

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bürokratischen Fallstricken, die sowohl den öffentlichen Auftraggeber als auch das nachfragende Unternehmen in beachtliche Schwierigkeiten, Zeitverluste und Kostenrisiken treiben. 3 Die zu beachtenden Formalien sind derart abschreckend, dass vor allem kleine und mittlere Unternehmen am Wettbewerb um öffentliche Aufträge erst gar nicht mehr teilnehmen, weil sie die Kosten und Mühen, die mit einer solchen Teilnahme verbunden sind, nicht mehr schultern.

II. Legitimation des Vergaberechts Daraus resultiert die Frage nach der Legitimation des öffentlichen Auftragsrechts. Warum müssen öffentliche Auftraggeber und umgekehrt die auf öffentliche Aufträge reagierenden Unternehmen die Regeln des öffentlichen Auftragsrechtes einhalten, während vergleichbare private Unternehmen diesen Regeln nicht unterworfen sind? Warum muss Eon, um ein Beispiel zu geben, die Erneuerung seiner PC -gestützten Steuerungszentralen für die Stromversorgung europaweit ausschreiben, während Daimler-Chrysler, VW oder Beiersdorf wettbewerblich völlig frei handeln können? Noch einfacher lautet die Frage: Warum müssen öffentliche Auftraggeber ausschreiben, während dies private nicht müssen? Welches ist also der innere Grund für diese Form der ex-ante-Regulierung gegenüber öffentlichen Auftraggebern, während vergleichbare private Unternehmen nur der ex-post-Kontrolle der Wettbewerbsregeln des GWB (§§ 1, 19, 20 GWB) und des EG -Vertrages (Art. 81, 82 EG ) unterworfen sind. Friedhelm Marx, der im BMWA für das Vergaberecht maßgeblich verantwortlich ist, schreibt, dass es oberstes Ziel der Regeln des öffentlichen Auftragswesens ist, die Verpflichtung der Auftraggeber auf den Einkauf nach dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit herzustellen. 4 Überall dort nämlich, wo von vornherein wettbewerbliche Strukturen fehlen, gibt es keinen Mechanismus, der den handelnden Institutionen den Maßstab der Wirtschaftlichkeit aufzwingt. Ökonomischer Zwang zu wirtschaftlichem Einkaufsverhalten besteht nur dort, wo unwirtschaftliches Verhalten letztlich mit dem Untergang, d. h. Konkurs bedroht ist. 5 Das ist bei steuer- und abgabefinanzierten öffentlichen Institutionen ebenso wenig der Fall wie bei öffentlichen Versorgungsmonopolen. Diesen Institutionen muss daher vorge-

3 So bereits der Titel von Kelman, Steven Procurement and Public Mangement: The fear of descrition and the quality of government performance, London 1990; David Medhurst EU Public Procurement Law, Oxford, London 1997, 60; Janet Newman What counts is what works? Constructing evaluations of market mechanisms, Public Adminstrations, 2001, 89. 4 Jasper/Marx Einleitung zur Textausgabe Vergaberecht, 6. Aufl., 2003, S. XVI . 5 Jasper/Marx (Fn. 4) S. XVI .

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schrieben werden, nach welchen Maßstäben sie einzukaufen haben. 6 Diese Regeln verkörpert das öffentliche Auftragsrecht. In der Regel wird dieser Gesichtspunkt unter dem Stichwort Hoflieferantentum eingeordnet; der Staat kauft bei seinen Spezies, koste es, was es wolle – der Steuerzahler richtet es. Kein Zweifel, wenn und soweit die Peitsche des Wettbewerbs ausfällt, wenn dem öffentlichen Auftraggeber selbst bei „miserablem Wirtschaften“7 kein Konkurs droht, so haben wir es ökonomisch gesprochen mit einem Fall von Marktversagen zu tun, der eine entsprechende ex-ante-Regulierung legitimiert. 8 Ergänzend verweist Marx zur Legitimation des Vergaberechts darauf, dass der Staat ein besonders starker Nachfrager sei, dass „richtige Preise“ nur bei funktionierendem Wettbewerb zustande kämen und dass der europäische Binnenmarkt ohne regulierende Eingriffe im Bereich der öffentlichen Beschaffungsmärkte nicht erreicht würde. 9 Genau besehen, sind die zuletzt genannten drei Argumente nur Ausprägungen des von Marx grundlegend beschriebenen Marktversagens auf öffentlichen Beschaffungsmärkten. Infolge des Marktversagens entstehen weder richtige Preise noch ein europäischer Binnenmarkt, eben weil der Auftraggeber in Ermangelung funktionsfähigen Wettbewerbs nicht zu effizientem und effektivem Verhalten gezwungen ist. Das Argument, der Staat sei in der Regel ein starker Nachfrager und müsse allein deshalb ex ante reguliert werden, geht aber fehl. Auch andere starke – selbst marktbeherrschende – Unternehmen oder Oligopole werden in ihrem Nachfrageverhalten weder vom GWB noch von Art. 82 EG ex ante reguliert. Sie unterliegen einer nachträglichen Missbrauchsaufsicht (§ 19 GWB /Art. 82 EG ) und sie müssen das Diskriminierungsverbot einhalten (§ 20 GWB /Art. 82 EG ). Aus der Tatsache, dass ein Unternehmen über eine marktbeherrschende Stellung verfügt, folgt also noch keine wettbewerbsrechtliche Legitimation für eine ex-ante-Regulierung im Sinne des öffentlichen Auftragsrechts. Grundlegend – und durchaus überzeugend – ist aber die These des Marktversagens als Erklärung der staatlichen Regulierung. Blankart bringt dies auf die griffige Formel: x Der Staat greift immer dort ein, wo Marktversagen herrscht und x wo er eingreift, arbeitet er besser als der Markt.10 Jasper/Marx (Fn. 4) S. XVI . Jasper/Marx (Fn. 4) S. XXI . 8 Vertiefend Schwintowski Gemeinwohl, öffentliche Daseinsvorsorge und Funktionen öffentlicher Unternehmen im europäischen Binnenmarkt, ZöGU 2003, 283, 286 ff.; Blankart Öffentliche Finanzen der Demokratie, 5. Aufl., 2003, S. 56 ff.; Frisch/Wein/Ewers Marktversagen, 2002, passim. 9 Jasper/Marx (Fn. 4) S. XV. 10 Blankart (Fn. 8) S. 67. 6 7

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Kritisch merkt Blankart an, dass sich hinter dem zweiten Punkt eine naive Sicht verbirgt. Der Staat beseitigt natürlich nicht mit einer Handbewegung mal eben das Marktversagen. Er selbst leidet unter Unvollkommenheiten und Kompromissen. Er benötigt eine schwerfällige Bürokratie. Er arbeitet häufig mit höheren Kosten und unterliegt manchmal der Korruption.11 Wichtiger ist aber die Beobachtung von Blankart, dass es Fälle gibt, in denen ein Marktversagen in Wirklichkeit nicht vorliegt, aber dennoch ein Staatseingriff stattfindet.12 Wir sprechen von Überregulierung oder von Wettbewerbsverzerrungen durch Recht. Dieser Fallgruppe ist hier noch etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen, weil die Frage zu stellen ist, ob das Vergaberecht wirklich immer nur dann eingreift, wenn ein Fall des Marktversagens vorliegt.

III. Überregulierung durch Vergaberecht Zweifel daran sind angebracht. Öffentliche Auftraggeber sind nämlich nicht nur die steuer- und abgabefinanzierten öffentlichen Institutionen und die öffentlichen Versorgungsmonopole, die in der Tat in der Regel nicht vom Konkurs bedroht sind. Daneben aber stehen die öffentlichen Unternehmen, die über § 98 Nr. 2 GWB erfasst und den Regeln des Vergaberechts unterworfen werden. Es handelt sich typischerweise um Unternehmen, an denen Bund, Land oder Kommunen eine höhere als 50 %-ige Kapitalbeteiligung halten. Gemeint sind die Stadtwerke, die Messegesellschaften oder Wirtschaftsförderungsgesellschaften. Selbst die bloße staatliche Rechtsaufsicht genügt bereits, um Anstalten, Stiftungen und Körperschaften des öffentlichen Rechts mit unabhängiger Rechtspersönlichkeit dem Vergaberecht zu unterwerfen. Hierzu gehören die Industrie- und Handelskammern, die Ärztekammern, andere Selbstverwaltungskörperschaften, Sparkassen oder öffentliche Banken. All diese Rechtspersönlichkeiten sollen dann dem Vergaberecht unterfallen, wenn sie Aufgaben im Allgemeininteresse nicht gewerblicher Art erfüllen. Beide Begriffe sind völlig schwammig und in ihrem Anwendungsbereich höchst unscharf. So soll die Gas- oder die Wasserversorgung einer Gemeinde, in öffentlich-rechtlicher Form von einer kommunalen Eigengesellschaft betrieben, auch dann im Allgemeininteresse liegen, wenn die Gemeinde damit Geld verdient und ein Privater dieselbe Versorgung auch als Geschäft betreiben könnte.13 Bei öffentlich-rechtlich verfassten Auftraggebern soll eine starke Vermutung dafür vorliegen, dass es sich um eine Einheit handelt, die zum Zwecke gegründet wurde, Aufga11 12 13

Blankart (Fn. 8) S. 67. Blankart (Fn. 8) S. 68 f. Jasper/Marx (Fn. 4) S. XX .

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ben im Allgemeininteresse wahrzunehmen.14 Eine im Allgemeininteresse liegende Aufgabe nicht gewerblicher Art ist z. B. angenommen worden bei einer Bekleidungsgesellschaft zur Versorgung der Bundeswehr,15 eines Wohnungsbauunternehmens,16 einer das U-Bahn-Netz betreibenden Stadtwerke GmbH,17 einer Parkraumbewirtschaftungsgesellschaft 18 und einer gesetzlichen Krankenkasse.19 Dagegen hat man – fast schon erstaunlich – im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nicht gewerblicher Art verneint bei einem regionalen Verkehrsunternehmen, 20 beim Bayerischen Roten Kreuz 21 und einer Ordensgemeinschaft sowie eines Diakoniewerks. 22 Aus der Perspektive einer modernen, funktional geprägten Gemeinwohldiskussion ist ein derart naiver, statischer Argumentationsansatz nicht nachvollziehbar. Wieso soll die Rechtsform, die ein Unternehmen hat, Auskunft darüber geben, ob die Aufgaben, die es erfüllt, mehr oder weniger im Allgemeininteresse liegen? Entscheidend kann doch nur sein, ob das Unternehmen gerade deshalb im Allgemeininteresse handelt, weil es Marktunvollkommenheiten ausgleicht. Denn nur wenn und soweit dies der Fall ist, versagt der Wettbewerb um die jeweils zu erbringenden Leistungen, so dass nun staatlich nachreguliert werden muss. 23 Im Allgemeininteresse wird ein Unternehmen also dann und nur dann tätig, wenn es Marktunvollkommenheiten ausgleicht. Dann nämlich ist sein Handeln nicht mehr durch funktionsfähigen Wettbewerb geleitet, das Unternehmen nimmt Gewinneinbußen in Kauf. In einem solchen Fall handelt dieses Unternehmen zugleich nicht gewerblich und erfüllt infolgedessen die zweite Tatbestandsvoraussetzung von § 98 Nr. 2 GWB . Die eigentliche Anwendungsschwierigkeit für § 98 Nr. 2 GWB entsteht deshalb, weil die Norm nicht zwischen Unternehmen gewichtet, die zum weit überwiegenden Teil ihrer Tätigkeit unter Bedingungen funktionsfähigen Wettbewerbs arbeiten und insoweit auch dem geltenden Insolvenzrecht unterworfen sind, die aber darüber hinaus in einigen wenigen Fällen auch einen Daseinsvorsorgeauftrag erfüllen. Im Bereich der Strom- und Gasversorgung dürfte Anschluss und Versorgung unter Marktbedingungen im Großen und Ganzen funktionieren. Die dennoch in § 10 EnWG statuierte Jasper/Marx (Fn. 4) S. XX . OLG Düsseldorf NZBau 2003, 400 = VergabeR 2003, 435 = WuW/E Verg 778. 16 KG NZBau 2003, 346 = VergabeR 2003, 355. 17 BayObLG NZBau 2003, 342. 18 VK Münster, Beschluss vom 17. 7. 2001 – VK 14/01. 19 BkartA, Beschluss vom 5. 9. 2001 – VK 1–23/01. 20 OLG Düsseldorf, Beschluss vom 8. 5. 2002 – Verg 8–15/01. 21 BayObLG NZBau 2003, 348 = VergabeR 2003, 94. 22 VK Nordbayern, Beschluss vom 24. 7. 2001 – VK 21/01, Beschluss vom 25. 7. 2001 – VK 35/01; weiterführend Byok Die Entwicklung des Vergaberechts seit 2002, NJW 2004, 198–206. 23 Grundlegend Schwintowski (Fn. 8) ZöGU 2003, S. 286 ff. 14 15

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Anschluss- und Versorgungspflicht wird möglicherweise gebraucht, um einige wenige Aussiedlerhöfe und vielleicht vier fünf Halligen in der Nordsee anzuschließen. Im Großen und Ganzen aber handeln unsere Energieversorgungsunternehmen unter Wettbewerbsbedingungen24 und müssten folglich dem Anwendungsbereich des § 98 Nr. 2 GWB entzogen sein. Unterstellt man diese Unternehmen trotzdem dem strengen Regime des öffentlichen Vergaberechts, so findet Regulierung ohne Marktversagen statt. Der Staat verzerrt den Wettbewerb durch Regulierung und verursacht bei den Unternehmen noch dazu unnötige Transaktionskosten für die Anwendung des Vergaberechts. Ähnliche Überraschungen erlebt man beim Blick auf § 98 Nr. 4 GWB . Gemeint sind Sektorenauftraggeber, genauer Unternehmen, die auf dem Gebiet der Trinkwasser- oder Energieversorgung oder des Verkehrs tätig sind. Erfasst werden Unternehmen wie Eon, Gelsenwasser, EnBW oder auch die Deutsche Bahn. Es ist richtig, dass diese Unternehmen weniger strengen Anforderungen des Vergaberechts unterliegen als die unter § 98 Nr. 2 GWB fallenden öffentlichen Unternehmen. 25 Aber die entscheidende Frage lautet, warum die Sektorenauftraggeber überhaupt dem strengen Regulierungsregime des Vergaberechts unterworfen werden. Wieso müssen RWE oder die Deutsche Bahn 26 die Anschaffung von Dampfturbinen oder Zugbauteilen öffentlich ausschreiben, während dies Unternehmen wie Siemens, BMW oder Mannesmann nicht tun müssen? RWE , Eon und auch die Deutsche Bahn sind heute im Wettbewerb tätig. 27 Sie müssen schwarze Zahlen schreiben, gelingt ihnen das über einen längeren Zeitraum nicht, so droht Insolvenz. Die Insolvenz eines großen Energieversorgers erscheint zurzeit nicht gerade naheliegend. Aber für den Fall, dass ein solches Ereignis einmal eintreten würde, gäbe es das Instrument der Sanierungsfusion. Der kürzlich viel diskutierte Fusionsfall Eon/Ruhrgas zeigt, dass die Rechtsordnung die Instrumentarien für das Zusammengehen von Energieversorgungsunternehmen auch im Falle einer Insolvenz bereithält. Es ist deshalb kaum nachvollziehbar, dass Unternehmen, die sich im Wettbewerb durchsetzen und bewähren müssen, nur deshalb den Vorschriften des öffentlichen Vergaberechts unterworfen sind, weil sie einem ganz bestimmten, von der europäischen Sektorenrichtlinie definierten Wirtschaftsbereich angehören. Kürzlich hat die EG -Kommission von Art. 8 der Sektorenrichtlinie Gebrauch gemacht und die Telekommunikation aus den besonderen Pflichten 24 Abgesehen von den Netzmonopolen; Erzeugung und Handel finden aber unter Wettbewerbsbedingungen statt. 25 Die Sektorenauftraggeber dürfen das Vergabeverfahren frei auswählen. 26 Bei der Bahn wird gestritten, ob sie unter § 98 Nr. 2 oder 4 GWB fällt, Werner in: Byok/Jaeger Kommentar zum Vergaberecht, § 98 Rn. 322 ff. 27 Dies gilt außerhalb der Netzmonopole, z. B. im Bereich der Energieerzeugung oder bei Güterwaggons.

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dieser Richtlinie entlassen. Es deutet einiges darauf hin, dass die Kommission auch in anderen Sektoren von Art. 8 Gebrauch machen müsste. Tut sie es nicht, so verletzt sie damit ihrerseits das europäische Primärrecht, nämlich die Artt. 4, 10 und 249 Abs. 3 EG . Zugleich würde die Richtlinie insoweit keine Wirkung mehr entfalten, weil sie mit den Primärzielen des europäischen Vertrages kollidieren würde. 28 In Konsequenz dessen würden zugleich die entgegenstehenden nationalen Regelungen, in diesem Falle § 98 Nr. 4 GWB , durch den Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts korrigiert sein. Die betroffenen Unternehmen können sich also mit Fug und Recht darauf berufen, dass bereits jetzt und unmittelbar keine Bindung an das öffentliche Auftragsrecht mehr vorliegt. Dies schließt nicht aus, dass die Unternehmen in einem Restbereich gemeinwohlorientierte Aufgaben wahrnehmen, wie etwa das Urteil des EuGH vom 17. September 2002 in Sachen Concordia Bus Finland mit Blick auf beschaffungsfremde Zuschlagskriterien zeigt. 29

IV. Public Private Partnerships Bei PPP-Projekten, die auf der Zusammenarbeit von Öffentlicher Hand und privaten Unternehmen aufbauen, sind verschiedene Formen der Zusammenarbeit denkbar. Denkbar ist die Übertragung einer Aufgabe der Öffentlichen Hand auf eine juristische Person des privaten Rechts, wie es beim Bekleidungseinkauf für die Bundeswehr geplant ist. 30 Denkbar und vielfach üblich sind Joint Ventures zwischen Öffentlicher Hand und privatem Partner. In der Regel hält die öffentliche Hand 51 % und der Private 49 %. Auf diese Weise entsteht ein gemischtwirtschaftliches Unternehmen. An diesem Unternehmen können auch mehrere Gesellschafter – öffentliche wie private – mit unterschiedlichen Beteiligungsquoten beteiligt sein. Bei diesen Formen gemischtwirtschaftlicher Unternehmen stellt sich im ersten Schritt die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen diese Unternehmen öffentliche Auftraggeber i. S. des § 98 Nr. 2 GWB sind. Bejaht man die Eigenschaft öffentlicher Auftraggeber, so stellt sich auf der zweiten Stufe die Frage, ob die Auf28 Vertiefend Schwintowski Informationspflichten und effet utile – auf der Suche nach einem effektiven und effizienten europäischen Sanktionensystem in: Schulze/Ebers/Grigoleit (Hrsg.), Informationspflichten und Vertragsschluss im acquis communautaire, 2003, S. 267–290. 29 http://curia.eu.int/jurisp/dgi-bin/…/oc=T&ouvert=T&seance= ARRET &where=(). Genau besehen geht es in diesen Fällen um das Beseitigen von Marktunvollkommenheiten durch das Internalisieren externer Kosten [Die Stadt Helsinki gab den städtischen Betrieben den Zuschlag, weil sie umweltfreundlichere Busse einsetzen wollte als der etwas billigere Konkurrenzanbieter.]. 30 OLG Düsseldorf NZBau 2003, 400 g.e.e.b.

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tragsvergabe einen Beschaffungsvorgang i. S. des § 99 Abs. 1 GWB darstellt oder ein Inhouse-Geschäft, 31 das der Anwendung des öffentlichen Auftragsrechts entzogen ist. Zunehmend sind auch privatwirtschaftliche Gründungen durch mehrere öffentliche Verwaltungsträger zu beobachten, die dann außerhalb ihres Territoriums ihren Dienst anbieten. Es geht etwa um die Gründung einer privaten Reinigungsfirma durch eine Stadt oder einen Kreis, die dann außerhalb des Stadt- und Kreisgebietes ganz allgemein als Marktteilnehmer tätig werden soll. Einschränkungen der zulässigen Wirtschaftstätigkeit bestehen auf Landes- und Bundesebene nur insoweit, als es gelegentlich spezifische Mittelstandsgesetze gibt. Das gemeinderechtliche Subsidiaritäts- und Örtlichkeitsprinzip findet auf dieser Ebene ebenfalls keine Anwendung. 32 Zunächst ist festzuhalten, dass der Abschluss eines Gesellschaftsvertrages selbst ebenso wenig die Veräußerung von Gesellschaftsanteilen nicht unter die in § 99 GWB aufgeführten Beschaffungsverträge der Öffentlichen Hand fällt. Insoweit fehlt es an einem Beschaffungsvorgang – Vergaberecht findet keine Anwendung. 33 Die Frage der Ausschreibungspflicht stellt sich aber, wenn die Öffentliche Hand zunächst einen – unstreitig nicht ausschreibungspflichtigen – Auftrag an eine 100 %-ige Eigengesellschaft vergibt und anschließend Gesellschaftsanteile an dieser Eigengesellschaft an einen privaten Investor verkauft. Besteht bei wirtschaftlicher Gesamtbetrachtung zwischen Auftragsvergabe und Anteilsverkauf ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang, so soll das Umgehungsverbot verletzt sein und Vergaberecht Anwendung finden. 34 Auch mehrfach gestufte Ausgründungen über Tochter- und Enkelgesellschaften werden als Umgehungsgeschäfte interpretiert, die die Ausschreibungspflicht nicht entfallen lassen. 35 Die juristische Kreativität und die daraus folgende Komplexität eines immer feiner ausdifferenzierten Vergaberechts sind beeindruckend. Die daraus resultierenden bürokratischen Hemmnisse und Transaktionskosten für teure Berater ebenfalls. Besinnt man sich, wie es oben geschehen ist, auf die Grundzwecke und Ziele des öffentlichen Auftragsrechts, so steht man fast staunend vor der Fülle an hochkomplizierter Rechtsprechung zu der doch im Grunde einfa31 Dazu Ortlieb Inhouse-Geschäft als Ausnahme zur Ausschreibungspflicht – zugleich eine Besprechung der Entscheidung des BGH vom 12. Juni 2001, ZNER 2002, 29 ff. 32 Schwintowski Überwindung des Örtlichkeitsprinzips in Energierecht in: FS Baur, 2002, S. 339–349. 33 Schröder NJW 2002, 1831; Jaeger NZBau 2001, 6, 7; Boesen Vergaberecht, § 100 Rn. 105; Opitz ZVgR 2000, 97, 106. 34 VK Düsseldorf NZBau 2001, 46; OLG Brandenburg NZBau 2001, 645 (Zeitraum von sechs Jahren zwischen Beauftragung und Anteilsverkauf schließt nicht per se den wirtschaftlichen Gesamtzusammenhang aus); Endler NZBau 2002, 125, 132 ff.; Jaeger NZBau 2001, 6, 10; Boesen Vergaberecht, § 100 Rn. 106; Otting VergabeR 2002, 11, 16 f.; kritisch Schröder NJW 2002, 1831, 1832. 35 VK Baden-Württemberg, Beschluss vom 24. 1. 2001, 1 VK 34/00, 1/01.

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chen Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Unternehmen angehalten werden muss, öffentlich auszuschreiben, unter welchen Voraussetzungen es also als öffentlicher Auftraggeber zu gelten hat. Die Antwort auf diese Frage ist verhältnismäßig einfach. Bloße Marktstärke rechtfertigt im deutschen und europäischen Wettbewerbsrecht noch keine ex-ante-Regulierung. Wettbewerbsordnungen unterwerfen marktbeherrschende Unternehmen im Fall externen Wachstums der Fusionskontrolle und ansonsten einer Missbrauchsaufsicht (§ 19 GWB /Art. 82 EG ). Darüber hinaus sind marktbeherrschende Unternehmen, zu denen auch Monopole rechnen, dem Diskriminierungsverbot unterworfen (§ 20 GWB /Art. 82 EG ). Eine weiter gehende ex-ante-Kontrolle kennt unsere Wettbewerbsordnung nur dann, wenn es um die Regulierung wesentlicher Einrichtungen, insbesondere also von Netzen, geht. In diesen Fällen wird vor allem der Netzzugang einer ex-ante-Regulierung durch eine Regulierungsbehörde unterworfen. Paradigmatisch gilt dies für den Bereich Telekommunikation und für Energie. Eine Unterwerfung marktstarker Unternehmen unter das öffentliche Auftragsrecht kennt unsere Wettbewerbsordnung jedoch nicht. Es gibt deshalb keinen sachlich gerechtfertigten Grund, ein marktstarkes öffentliches Unternehmen dem Vergaberecht zu unterwerfen, ein vergleichbares privates Unternehmen hingegen nicht. Anders sehen die Dinge aus, wenn wir es mit einem strukturellen und dauerhaften Marktversagen zu tun haben. Dann kann nur eine vorgeschaltete ex-ante-Regulierung als second best-Lösung helfen, weil der Wettbewerb als Ordnungsfaktor versagt. Klassische Beispiele sind die Netzmonopole wie die Strom- und Gasnetze. Aber auch viele Wasserwerke gehören hierher, ebenso wie all diejenigen öffentlichen Unternehmen, deren Aufgabe darin besteht, auch dann Leistungen im Allgemeininteresse (Daseinsvorsorge) zu erbringen, wenn die daraus resultierende Gegenleistung das Kosten- und Gewinninteresse des anbietenden Unternehmens nicht deckt. Typische Beispiele sind der öffentliche Nahverkehr, viele öffentliche Krankenhäuser, Theater, Museen, Schwimmbäder, Universitäten, Schulen, aber auch Sparkassen, jedenfalls solange die staatliche Gewährträgerhaftung verbunden mit der Anstaltslast noch bestehen. In all diesen Fällen sorgt die Öffentliche Hand durch eine bestimmte Art der Subvention dafür, dass Leistungen außerhalb wettbewerblich gesteuerter Angebots- und Nachfragevorgänge ausgetauscht werden. In diesen Fällen ist die Öffentliche Hand als Nachfrager von der Peitsche des Marktes abgekoppelt. Sie bewerkstelligt den Ausgleich ihrer Verluste, indem sie den Bürger zur Kasse bittet (Steuern). In Konsequenz dessen besteht nicht immer eine Neigung europaweit einen Preis – Leistungsvergleich durchzuführen, es können sich Korruption und Hoflieferantentum einschleichen. Hier liegt die entscheidende Legitimation für die ex-ante-Regulierung öffentlicher Aufträge. Öffentliche Unternehmen müssen dem strengen Regime des Vergaberechts unterworfen

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werden, wenn und soweit sie – anders als private Unternehmen – den wettbewerblichen Kräften des Marktes und dem daraus unmittelbar resultierenden Insolvenzrecht nicht oder nur sehr eingeschränkt unterworfen sind. Immer wenn dies der Fall ist, haben wir es mit Marktversagen oder mit Marktunvollkommenheiten zu tun. So gesehen, reduziert sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein öffentliches Unternehmen öffentlicher Auftraggeber ist, darauf, ob es seine Leistungen im Wettbewerb, verbunden mit der Gefahr der Insolvenz, anbietet oder ob stattdessen bei Eintritt von Verlusten der Rückgriff auf den Staatssäckel zumindest möglich ist. Dieser Rückgriff kann in ganz unterschiedlichem Gewand auftreten. Es können Steuererleichterungen sein, gesellschaftsrechtliche Nachschusspflichten, Gewährträgersysteme oder auch ein rechtlich vollständig abgesichertes Gebietsmonopol, wie etwa bei der Wasserversorgung, verbunden mit einem Anspruch auf immer auskömmliche Preise. So gesehen, erweist sich die Legitimation öffentlichen Auftragsrechts zugleich als entscheidendes Kriterium zur Definition dessen, wer öffentlicher Auftraggeber ist. Öffentliches Auftragsrecht dient dem Ausgleich von strukturell dauerhaften Funktionsstörungen im Wettbewerb, beseitigt also auf Nachfragemärkten der öffentlichen Hand Marktunvollkommenheiten oder Marktversagen. Öffentliche Auftraggeber sind folglich Unternehmen, die Leistungen auf Märkten nachfragen, die ihrerseits durch Marktunvollkommenheiten oder Marktversagen geprägt sind. Dies ist immer dann der Fall, wenn der Markt, auf dem öffentlich nachgefragt wird, nicht wettbewerblich strukturiert ist und/oder das nachfragende Unternehmen keinem Marktzwang und damit nicht dem Insolvenzrecht unterworfen ist. Testfrage ist in all diesen Fällen, ob ein privates Unternehmen bei funktionsfähigem Wettbewerb zu gleichen Bedingungen und Konditionen nachfragen würde. Besteht ein öffentliches Unternehmen diesen Markt- und Nachfragetest, so gibt es nicht den geringsten wettbewerbstheoretischen Anlass, es anders zu behandeln als den privaten Konkurrenten. Besteht das öffentliche Unternehmen den Test nicht, so muss es dem Vergaberecht unterworfen werden und alle Umgehungsversuche müssen strengstens unterbunden werden. Im Sinne dieser aus den Funktionen des Vergaberechts und der Wettbewerbsordnung entwickelten Ziele und Zwecke sind die in § 98 Nr. 2 GWB verwendeten Begriffe Allgemeininteresse sowie Aufgaben nicht gewerblicher Art auszulegen. Öffentliche Unternehmen, deren besonderer Zweck darin besteht, Liefer-, Bau- oder Dienstleistungen auf unvollkommenen Märkten nachzufragen, tun dies im Allgemeininteresse und nicht gewerblich i. S. des § 98 Nr. 2 GWB . Fragen öffentliche Unternehmen dagegen Leistungen auf wettbewerblich funktionsfähigen Märkten nach und sind sie auch sonst dem Marktzwang, also dem Insolvenzrecht in vollem Umfang ausgesetzt, so handeln sie nicht mehr im Allgemeininteresse und quasi automatisch zugleich nichtgewerblich, denn nun geht es – wie bei jedem anderen privaten

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Nachfrager auch – nur noch darum, angebot- und nachfragebestimmte Bedürfnisse bei gleichzeitiger Realisierung von Gewinninteressen zu verfolgen. Die Quintessenz aller dieser Überlegungen ist, dass wir die Begriffe Allgemeininteresse und Aufgaben nicht gewerblicher Art (§ 98 Nr. 2 GWB ) neu, nämlich funktional zu interpretieren haben. Eine solche, an den funktionalen Grundzielen einer Marktwirtschaft ausgerichtete Auslegung ist durch Art. 4, 98 EG zwingend geboten. Nach Art. 4 Abs. 1 EG sind die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet. Dies wiederholt Art. 98 EG . Dort heißt es „Die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft handeln im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert wird, und halten sich dabei an die in Art. 4 EG genannten Grundsätze.“ Dies sind keine bloßen Programmsätze, sondern rechtlich verbindliche Vorschriften. 36 Wendet man diese Grundsätze auf die zurzeit in der Praxis anzutreffenden Formen gemischtwirtschaftlicher Unternehmen an, so wird man im Einzelfall ganz andere Fragen zu stellen und zu beantworten haben als bisher. Ist die von der Bundeswehr geplante Versorgungsgesellschaft für Bekleidung37 Nachfragerin auf einem funktionsfähigen Angebotsmarkt für Kleidung und Dienstleistungen im Bereich Militär und ist sie darüber hinaus dem allgemeinen Marktzwang, nämlich dem Insolvenzrecht in vollem Maße ausgesetzt? Wenn und soweit das der Fall ist, ist sie nicht im Allgemeininteresse, sondern schlicht im Wettbewerb und folglich auch gewerblich tätig. Auf sie findet dann kein Vergaberecht Anwendung.38 Die Tatsache, dass die Bundeswehr als solche ihre Nachfrage nach Bekleidung zweifelsfrei hätte öffentlich ausschreiben müssen, steht dem nicht entgegen. Die Bundeswehr als solche ist steuerfinanziert und damit dem Wettbewerb entkoppelt. Wenn sie als Nachfragerin auftritt, muss sie dem Vergaberecht unterworfen werden. Wenn die Bundeswehr aber eine spezifische Aufgabe – nämlich die Versorgung mit Bekleidung – ausgliedert, und zwar auf ein Unternehmen, das nunmehr dem Wettbewerb und damit den Marktzwängen und dem Insolvenzrecht unterworfen ist, so findet die Nachfrage nunmehr wettbewerbsgesteuert und mit Gewinninteresse statt. Es gibt keinerlei Legitimation für eine Marktwirtschaft mehr, ein in dieser Weise agierendes Unternehmen einer ex-ante-Regulierung bei der Vergabe von Aufträgen zu unterwerfen. Darin läge eine Wettbewerbsstörung, die ihrerseits nach Artt. 4, 98 EG über den Vorrang des Gemeinschaftsrechts unmittelbar rechtswidrig und damit nichtig wäre. Das Gleiche gilt dann, wenn die öffentliche Hand selbst Gesellschaften privater Rechtsform gründet und mit diesen am wettbewerblichen Gesche36 37 38

Höde in: Callies/Ruffert Kommentar zum EU - und EG -Vertrag, Art.4 EG Rn. 8. G.e.e.b., OLG Düsseldorf NZBau 2003, 400. So hat das OLG Düsseldorf bisher nicht argumentiert, NZBau 2003, 400 ff.

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hen nunmehr so wie ein privates Unternehmen teilnimmt. Wichtig ist immer, dass das Unternehmen den Kräften des Marktes einschließlich der daraus resultierenden Insolvenz in vollem Maße ausgesetzt ist. Wenn dies durch Nachschusspflichten oder Gewährträgerleistungen außer Kraft gesetzt ist, muss auf das Nachfrageverhalten dieses Unternehmens Vergaberecht angewendet werden. Wenn der Handlungsspielraum des Unternehmens aber in gleicher Weise vom Wettbewerb kontrolliert wird, wie das bei einem Unternehmen ohne öffentlichen Anteilseigner in gleicher Weise der Fall ist, so wäre eine ex-ante-Regulierung der Auftragsvergabe nichts anderes als eine Wettbewerbsbeschränkung durch Recht. Diese würde gegen Artt. 4, 98 EG verstoßen und folglich nichtig sein. Die gleichen Grundsätze gelten mit Blick auf Gemeinschaftsunternehmen, die durch öffentliche und private Anteilseigner gegründet und betrieben werden. Die entscheidende Frage ist immer, ob das Gemeinschaftsunternehmen den Kräften des Marktes einschließlich der daraus resultierenden Gefahr der Insolvenz in vollem Umfang ausgesetzt ist. Wenn und soweit und solange dies der Fall ist, handelt dieses Unternehmen nicht im Allgemeininteresse, sondern sorgt nur dafür, dass Angebot und Nachfrage im Wettbewerb zu angemessenen Preisen führen und bei dieser Gelegenheit das Gewinninteresse von Angebot und Nachfrage realisiert wird.

V. Inhouse-Geschäfte Nach gefestigter Rechtsprechung liegt ein vergabefreies Eigengeschäft des öffentlichen Auftraggebers (sog. Inhouse-Geschäft) dann vor, wenn (1) der öffentliche Auftraggeber Dienstleistungen an eine GmbH vergibt, die in seinem alleinigen Anteilsbesitz ist, über die er (2) eine Kontrolle wie über eine eigene Dienststelle ausübt und (3) die ihre Tätigkeit im Wesentlichen für diesen öffentlichen Auftraggeber verrichtet. 39 Dies korrespondiert mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, die dieser in den Fällen Viano 40 und Teckal 41 entwickelt hat. Dort ging es um den Verbund mehrerer Gemeinden, um gemeinsam die öffentliche Aufgabe zu erfüllen. Diese Rechtsprechung stimmt mit den Grundsätzen, die oben für ein funktionszielgerechtes Vergaberecht entwickelt wurden, überein. Danach ist Vergaberecht erforderlich, wenn der öffentliche Auftraggeber vom Wettbewerb nicht oder nicht hinreichend kontrolliert wird, wenn also ein Fall des 39 BGH NZBau 2001, 517, 518 = VergabeR 2001, 286, 289; BayObLG NZBau 2002, 397, 400; OLG Brandenburg VergabeR 2003, 168, 171 f.; OLG Naumburg, Beschluss vom 13. 5. 2003–1 Verg 2/03, S. 14 f.; OLG Düsseldorf NZBau 2004, 58 ff.; zu allem auch: Dreher NZBau 2001, 360, 363 f.; Faber DVBl . 2001, 248, 254 f.; Ortlieb ZNER 2002, 29, 31 mwN. 40 EuZW 2000, 246. 41 EuZW 2000, 248.

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Marktversagens vorliegt. Umgekehrt findet öffentliches Auftragsrecht immer dann keine Anwendung, wenn der öffentliche Auftraggeber, wie ein privater Auftraggeber, am Wettbewerb teilnimmt und den Regeln des Marktzwanges, insbesondere dem Insolvenzrecht unterworfen ist. In diesen Fällen kann es auch keine Inhouse-Geschäfte geben, weil ein Unternehmen, das frei im Wettbewerb agiert, den Regeln des öffentlichen Auftragsrechts ohnehin nicht unterworfen ist. Die Problematik des Inhouse-Geschäfts ist also auf die Fälle beschränkt, in denen die öffentliche Hand oder die mit ihr verbundenen öffentlichen Unternehmen in privater Rechtsform dem Marktzwang gerade nicht ausgesetzt ist, wenn es also um im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nicht gewerblicher Art (§ 98 Nr. 2 GWB) geht. Museen, Theater, Universitäten, viele Krankenhäuser und Schulen sowie der ÖPNV und auch viele Teile der Wasserversorgung sind typische Beispiele. In diesen Fällen, die vom Phänomen des Marktversagens geprägt sind, ist die öffentliche Hand zur Ausschreibung verpflichtet, um das Marktversagen in seinen Auswirkungen zumindest abzumildern. In diesem Zusammenhang können Inhouse-Geschäfte eine wichtige Rolle spielen. Immer dann nämlich, wenn die öffentliche Hand nicht auf dem Markt, sondern bei sich selbst nachfragt, wenn also in Wirklichkeit ein interner Organisationsakt vorliegt, wäre es widersinnig, auf diesen Versorgungsvorgang von der linken in die rechte Tasche öffentliches Auftragsrecht anzuwenden. Genauso lagen die Dinge in all den Fällen, die von der Rechtsprechung bisher zu entscheiden waren. Die Öffentliche Hand verlagerte eine Aufgabe, die sie ebenso gut in einem Eigenbetrieb hätte erfüllen können, auf eine 100 %-ige Tochtergesellschaft. Dieser Vorgang, der nur einen schlichten Rechtsformwechsel darstellt, ändert nichts an der Tatsache, dass die Öffentliche Hand die in Frage stehende Aufgabe genau besehen im eigenen Haus abwickelt, dass es also an einem marktgerichteten Beschaffungsvorgang fehlt. Schwieriger werden die Dinge dann, wenn sich ein Privater an dem öffentlichen Unternehmen beteiligt, wenn beispielsweise die Öffentliche Hand 51 % und der Private 49 % halten. 42 Diese Fälle sind, das muss noch einmal betont werden, dem öffentlichen Auftragsrecht entzogen, wenn das gemischtwirtschaftliche Unternehmen wie jedes andere private Unternehmen auch, im Wettbewerb völlig autonom agiert, also dem Marktzwang und der daraus resultierenden Möglichkeit der Insolvenz in vollem Umfang unterworfen ist. Dies setzt die Tätigkeit des gemischtwirtschaftlichen Unternehmens auf wettbewerblich voll funktionsfähigen Märkten voraus. Beispiele sind etwa die Strom- oder die Telekommunikationsmärkte. In einem solchen Fall ist das Unternehmen schon kein öffentlicher Auftraggeber mehr i. S. des § 98 Nr. 2 GWB . Wenn es seinerseits Aufträge vergibt, ist Vergaberecht folglich nicht anwendbar. Nimmt es umgekehrt am Wettbewerb um 42

Fälle dieser Art sind von der Rechtsprechung noch nicht entschieden worden.

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öffentliche Aufträge teil, was es selbstverständlich darf, so muss es natürlich die Regeln des öffentlichen Auftragsrechts einhalten. Eine prinzipielle Begünstigung dieses Unternehmens durch die kommunale Mehrheitsgesellschafterin bei der Auftragsvergabe würde ausscheiden. Sollte man eine solche prinzipielle Begünstigung feststellen, so würde dies die Frage aufwerfen, ob wir es mit einem Fall prinzipiellen Marktversagens zu tun haben, ob also in Wirklichkeit die Anwendungsvoraussetzungen von § 98 Nr. 2 GWB auf das gemischtwirtschaftliche Unternehmen doch vorliegen. Mit dem Problem des Inhouse-Geschäfts hätte dies aber alles nichts zu tun. Problematisch werden Inhouse-Geschäfte immer erst dann, wenn es um die Wahrnehmung von Aufgaben im Allgemeininteresse nicht gewerblicher Art geht. In diesen Fällen haben wir es mit Marktversagen zu tun, d. h. das öffentliche Auftragsrecht findet Anwendung, damit der öffentliche Auftraggeber in seinem Handlungsspielraum angemessen kontrolliert wird. Wenn und solange der öffentliche Auftraggeber allerdings eine Aufgabe im eigenen Hause erfüllt, bedarf es dieser Kontrolle durch Vergaberecht nicht. Sie würde nur unnötige Transaktionskosten verursachen, weil der öffentliche Auftraggeber die Aufgabe ohnehin im eigenen Hause erfüllen darf. Welcher Rechtsformen er sich dabei bedient, ist letztlich gleichgültig. Dies ändert sich allerdings dann, wenn der öffentliche Auftraggeber private Anteilseigner mit an Bord nimmt. In diesen Fällen profitiert nämlich automatisch der jeweils beteiligte Private an der öffentlichen Auftragsvergabe. Er muss sich um den öffentlichen Auftrag nicht mehr bewerben, weil er an ihm über seine gesellschaftsrechtliche Beteiligung automatisch partizipiert. Zugleich sind alle anderen privaten Konkurrenten aus dem Feld geschlagen, weil jeder öffentliche Auftrag, wenn man ihn als Inhouse-Geschäft qualifiziert, automatisch bei der Eigengesellschaft landet. Das Problem besteht also darin, dass in diesen Fällen ein Privater, der gesellschaftsrechtlich beteiligt wird, an den vom Wettbewerb gerade nicht mehr kontrollierten (Monopol-)Renditen partizipiert. Damit sind zwei Konsequenzen verbunden: zum einen ist die disziplinierende Kraft des öffentlichen Auftragsrechts in all diesen Fällen zugunsten eines oder mehrerer privater beteiligter Unternehmen außer Kraft gesetzt und zum anderen sind alle ausgeschlossenen Konkurrenten automatisch diskriminiert. So gesehen, ist die Anwendung der Inhouse-Doktrin und damit die automatische Außerkraftsetzung des Vergaberechts bei Beteiligung Privater an echten öffentlichen Auftraggebern mit größter Vorsicht zu genießen. 43 Es ist deshalb kaum nachvollziehbar, dass in der Literatur auch die Auffassung 43 Wie hier Jaeger Public Private Partnership und Vergaberecht, NZBau 2001, 10; Faber Öffentliche Aufträge an kommunal-beherrschte Unternehmen – Inhouse-Geschäfte oder Vergabe im Wettbewerb, DVBl 2001, 248, 256; Ortlieb ZnER 2002, 29, 33; im Ergebnis auch Dreher Die Privatisierung bei Beschaffung und Betrieb der Bundeswehr, NZBau 2001, 360, 363, 366.

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vertreten wird, dass bei bloßer Mehrheitsbeteiligung der öffentlichen Hand an einem PPP ein sog. Inhouse-Geschäft vorliegen könne. 44 Der Verweis auf den beherrschenden Einfluss im konzernrechtlichen Sinne (§ 17, 18 AktG) ist zwar richtig, führt aber nicht weiter. Es kann im vorliegenden Zusammenhang nicht um die Frage der gesellschaftsrechtlichen Beherrschungsmöglichkeit gehen, weil der Inhouse-Tatbestand dann und nur dann die Ziele des öffentlichen Auftragsrechts in legitimer Weise außer Kraft setzt, wenn die Öffentliche Hand Aufgaben im eigenen Hause abwickelt, aber dabei die Rechtsform wechselt. In allen Fällen, in denen das Haus verlassen wird, in denen also Private beteiligt werden, muss öffentliches Auftragsrecht Anwendung finden, um die aus dem Marktversagen resultierenden Gefahren zumindest soweit wie möglich zu bändigen. Die beteiligten Privaten dürfen keinesfalls an den (Monopol-)Renditen, die beim Marktversagen naturgemäß entstehen, partizipieren und Konkurrenten dürfen nicht daran gehindert werden, um öffentliche Aufträge unter Beachtung der Prinzipien des Vergaberechts zu ringen. So gesehen, spielt der gesellschaftsrechtliche Einfluss eines an einem echten öffentlichen Auftraggeber beteiligten Privaten genau besehen gar keine Rolle. Es gibt schlicht gesagt überhaupt keinen Grund, dass ein privater Dritter an den möglichen aus Marktversagen resultierenden Profiten der Öffentlichen Hand partizipieren darf. Dabei ist es gleichgültig, ob der private Dritte 1 %, 10 %, 20 % oder 49 % hält.

VI. Wettbewerbsbeschränkung durch Offenes Verfahren Die öffentlichen Auftraggeber dürfen – anders als die privaten Sektorenauftraggeber – bei VOL- und VOB -Ausschreibungen kein Vergabeverfahren frei auswählen. Für sie gilt der Grundsatz der Hierarchie der Vergabeverfahren; das Offene Verfahren bzw. die öffentliche Ausschreibung haben Vorrang vor dem nichtoffenen Verfahren bzw. der beschränkten Ausschreibung. Diese wiederum gehen dem Verhandlungsverfahren, d. h. der freihändigen Vergabe vor. Beim strengen Offenen Verfahren befinden sich die Bieter in einem Dilemma. Wegen der Gefahr, unterboten zu werden, haben sie einen Anreiz, so niedrig wie möglich zu bieten. Sie wissen dabei nicht, was der Konkurrent bietet – eine freie Verhandlung über den Preis und die Leistungsbeschreibung findet nicht statt. Das muss auch so sein, weil in einem Markt, der durch Unvollkommenheiten geprägt ist, jedes Verhandeln zwangsläufig zu einem schlechteren Marktergebnis führen muss. Entweder die Öffentliche Hand zahlt durch Verhandeln zu viel oder aber der Bieter wird über den Tisch gezogen. Zur Lösung dieses Dilemmas hat 44 Heiermann/Riedel/Rusam, Handkommentar zur VOB , 9. Aufl., 2000, § 32 VOB /A Rn. 27; Portz in: Ingenstau/Korbion, 14. Aufl., 2001, § 32a VOB /A Rn. 13.

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der im Jahre 1996 mit dem Nobelpreis gewürdigte amerikanische Ökonom William Vickrey 1961 gezeigt, dass sich dieser Mangel überwinden lässt, wenn der Zuschlag zwar dem günstigsten Bieter, aber zum Preis des zweitgünstigsten Angebots erteilt wird. 45 Bei dieser sog. Vickrey-Regel erhält der Auftragnehmer eine Entschädigung, die zwar höher ist als sein Gebot, weil er das Gebot des Zweitbesten aber nicht beeinflussen kann, stellt er sich am besten, wenn er ein Gebot in der Höhe seiner Kosten – d. h. in der Höhe des ihm entgangenen Alternativprojekts – abgibt. 46 Durch diese Aufdeckung der wahren Kosten wird sichergestellt, dass der Bieter mit den niedrigsten Kosten den Zuschlag erhält. Ein wesentlicher Vorteil dieser Regel liegt darin, dass stets der kostengünstigste Bieter zum Zuge kommt. Das Problem, im Vergabeverfahren prinzipiell zu niedrig zu bieten, wird damit immerhin abgemildert. Problematisch ist, dass beim Vickrey-Verfahren ein starker Anreiz unter den Konkurrenten zur Kartellbildung besteht. Bieterkartelle sind unter der VickreyRegel bei geringer Kostenstreuung der Anbieter stabiler als unter der Niedrigstpreisregel. 47 Allerdings enthält auch das Vergabeverfahren nach VOB und VOL durchaus Kartell fördernde Elemente. So gesehen könnte die Vickrey-Regel durchaus eine erwägenswerte Alternative zum status quo sein. Ähnliche Eigenschaften wie die Vickrey-Regel weist die Lizitation48 auf. Bei diesem Verfahren legt ein Auktionator die Preise für den Auftrag in einer Bieterversammlung offen. Der letzte Bieter, der bei sukzessive fallenden Preisen noch bereit ist, den Auftrag zu übernehmen, erhält ihn dann zum aufgerufenen Preis. Hier findet also eine offene Auktion statt. Die Bieter können das Verhalten der anderen Bieter beobachten und sich während des Verfahrens ihre Kalkulation noch einmal überlegen. Da die Bieter besser informiert sind, werden sie mit geringeren Risikozuschlägen rechnen. Daher wird der Vergabepreis in der Regel niedriger sein, als wenn geschlossene Gebote abgegeben werden müssen. 49 Allerdings gibt es auch einen gegenläufigen Effekt. Durch das offene Bieten wird die Gefahr der Kartellierung noch größer. Kartellausbrecher lassen sich nämlich in der Bieterversammlung unmittelbar erkennen. 45 W. Vickrey Counterspeculation, Auctions and Competitive Seald Tenders, Journal of Finance, Vol. 16, March 1961, S. 8, 37. 46 Blankart (Fn. 8) S. 488. 47 Blankart (Fn. 8) S. 489. 48 Die so genannte englische Auktion geht anders als die Lizitation mit den Preisen von unten nach oben. Es handelt sich aber auch um ein offenes Verfahren; daneben gibt es in der Auktionstheorie auch die holländische Auktion. Der Auktionator beginnt im offenen Verfahren mit einem hohen Preis, den er sukzessive senkt. Den Zuschlag erhält, wer als erster die Hand hebt; zur Theorie der Auktionen vgl. Wolfstetter Auktionen und Ausschreibungen. Bedeutung und Grenzen des „linkage“-Prinzips in: M. Tietz (Hrsg.), Ökonomische Theorie der Rationierung, 1998, S. 139–161. 49 Blankart (Fn. 8) S. 491.

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Eine besondere Problematik des öffentlichen Vergabewesens liegt in den Kostensteigerungen. Diese sind ganz besonders schwer bei Entwicklungsprojekten, etwa im Verteidigungsbereich, im Vorfeld zu spezifizieren. Folglich werden Verträge häufig zu Selbstkostenerstattungspreisen geschlossen, was zu entsprechenden Kostensteigerungen führt. In den USA hat man zur Eindämmung solcher Entwicklungen begonnen, Anreizverträge zu schließen. Bei diesen Verträgen werden die eingereichten Gebote als Zielkosten festgelegt. Wenn der Lieferant sie überschreitet, wird er in einem bestimmten Verhältnis (z. B. 50:50) daran beteiligt, wenn er sie unterschreitet, kann er im gleichen Verhältnis daran profitieren. In diesem Zusammenhang hat Canes im Jahre 1975 vorgeschlagen, die Eigenbeteiligungsrate bei Anreizverträgen variabel zu gestalten. 50 Das Bieterverfahren muss dann in zwei Stufen ablaufen. Auf der ersten Stufe verschafft sich die Ausschreibungsbehörde aus den eingegangenen Angeboten einen Marktüberblick. Auf der zweiten Stufe erhöht die Vergabebehörde in Nachverhandlungen sukzessive die Eigenbeteiligungsrate. Das zwingt die Anbieter, neu zu kalkulieren. Blankart schlägt deshalb vor, dass bei Anreizverträgen die Eigenbeteiligungsrate variabel bleiben sollte. 51 Das impliziert allerdings die Notwendigkeit von Nachverhandlungen, die im bestehenden Vergaberecht nicht vorgesehen sind. 52

VII. Wesentliche Ergebnisse 1. Öffentliches Auftragsrecht ist dann und nur dann legitimiert, wenn ein Fall des Marktversagens vorliegt. 2. Öffentliche Auftraggeber sind folglich Unternehmen, die Leistungen auf Märkten nachfragen, die ihrerseits durch Marktunvollkommenheiten oder Marktversagen geprägt sind. Dies ist dann der Fall, wenn der Markt, auf dem öffentlich nachgefragt wird, nicht wettbewerblich strukturiert ist und/oder das nachfragende Unternehmen keinem Marktzwang und damit nicht dem Insolvenzrecht unterworfen ist. 3. Testfrage ist, ob ein privates Unternehmen bei funktionsfähigem Wettbewerb zu gleichen Bedingungen und Konditionen nachfragen würde. 4. Fragen Unternehmen dagegen Leistungen auf wettbewerblich funktionsfähigen Märkten nach und sind sie auch sonst dem Marktzwang, also dem Insolvenzrecht in vollem Umfang ausgesetzt, so handeln sie nicht im Allgemeininteresse, sondern notwendigerweise wettbewerblich 50 Canes The Simple Economics of Incentive Contracts: note American Economic Review, Vol. 65, 1975, S. 478–483; dazu ausführlich Lenz Kostensteigerungen bei öffentlichen Aufträgen – das Beispiel der Rüstungsgüter, 1990, S. 38 ff. 51 Blankart (Fn. 8) S. 493. 52 Blankart (Fn. 8) S. 493.

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und zugleich gewerblich. Sie sind folglich keine öffentlichen Auftraggeber nach § 98 Nr. 2 GWB . 5. Insoweit sind die Tatbestandsmerkmale des § 98 Nr. 2 GWB aus den Funktionszielen des Vergaberechts neu zu interpretieren. Auslegungshilfe ergibt sich aus den Artt. 4, 98 EG . 6. Die gleichen Grundsätze gelten mit Blick auf Gemeinschaftsunternehmen ( PPP ’s), die den Kräften des Marktes einschließlich der daraus resultierenden Gefahr der Insolvenz in vollem Umfang ausgesetzt sind. 7. Wenn und soweit das Merkmal „Öffentlicher Auftraggeber“ verneint werden muss, weil ein öffentliches Unternehmen am Wettbewerb wie ein privates teilnimmt, spielt das Problem der Inhouse-Geschäfte keine Rolle, weil Vergaberecht ohnehin keine Anwendung findet. 8. Ein Inhouse-Geschäft liegt dann vor, wenn der öffentliche Auftraggeber die Aufgabe ohnehin im eigenen Hause erfüllen darf. Welcher Rechtsform er sich dabei bedient, ist gleichgültig. 9. Beteiligt sich ein Privater an einem echten öffentlichen Auftraggeber – also einem Unternehmen, das dem Marktzwang und dem Wettbewerb nicht hinreichend ausgesetzt ist –, so liegt bei Auftragsvergabe an dieses PPP kein Inhouse-Geschäft vor. Dabei ist es gleichgültig, ob der private Dritte 1 %, 10 %, 20 % oder 49 % hält. 10. Im Offenen Verfahren sollte die Vickrey-Regel Anwendung finden und/ oder die Lizitation. Bei Anreizverträgen sollte die Eigenbeteiligungsrate variabel gehalten werden.

Unternehmenskooperationen als verbundene Verträge: Zur rechtsdogmatischen Rekonstruktion privater Ordnungen Gunther Teubner

Inhaltsübersicht Seite

I. II. III. IV. V.

Die Generalisierung von Vertragsverbindungen . . . . . . . . . . . Struktur- und Funktionsäquivalenzen . . . . . . . . . . . . . . . . Ein produktiver „unerträglicher Widerspruch“ . . . . . . . . . . . Tatbestand: Doppelkonstitution von Vertrag und Verbund . . . . . Rechtsfolgen: Selektive Doppelzurechnung auf Vertragspartner und auf Verbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auswirkungen des Verbunds auf die Einzelverträge . . . . . . . 2. Treupflichten zwischen vertraglich nicht verbundenen Netzteilnehmern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Außenhaftung der Netzteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

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I. Die Generalisierung von Vertragsverbindungen Die Rechtssoziologie soll nach Thomas Raiser eine „Brückenfunktion“ zwischen allgemeiner Soziologie und Jurisprudenz wahrnehmen. Raisers zentrales Forschungsfeld, das er nach diesem Programm neu vermessen hat, ist das „Unternehmen als Organisation“ – in der Sache ein sozialwissenschaftlich aufgeklärtes Unternehmensverfassungsrecht. Auch wenn die Profession der Gesellschaftsrechtler eher skeptisch blieb, wurde das Programm im Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts aufs Glänzendste bestätigt.1 Doch auch im Vertragsrecht folgt Raiser diesem methodischen Ansatz, besonders aufschlussreich in einer frühen Analyse des finanzierten Abzahlungskaufes, in der ihm die Diskrepanz zwischen der Trennungstheorie der Dogmatik und dem davon wenig beeindruckten Einwendungsdurchgriff der Rechtsprechung fasziniert. Seine provokative Empfehlung:

1

BVerfGE 50, 290, 327.

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„die Entscheidung unter Verzicht auf juristische Taschenspielertricks oder vage Billigkeitserwägungen nach § 242 unmittelbar aus dem Funktionszusammenhang des Wirtschaftslebens abzuleiten“.2 Raiser folgt damit der Methode, „die ökonomische und soziale Struktur des Geschäfts“ zu analysieren und aus der „Transformation des ökonomischen Sachverhalts in die Sphäre des Rechts“ unmittelbar das entscheidende Rechtsargument zu gewinnen. Der wirtschaftliche Funktionszusammenhang begründe auch eine rechtliche Zusammengehörigkeit der Verträge. 3 Später betont Raiser gegenüber solchen direkten Durchgriffen ökonomischer und soziologischer Funktionsanalysen auf das Recht stärker die Autonomie rechtsdogmatischer Begriffsbildungen. Sozialwissenschaftlicher Einfluss auf die Jurisprudenz wirkt dann eher indirekt, „indem die rechtssoziologischen Theorien im geduldigen Diskurs mit rechtsdogmatischen Lehren konfrontiert und verglichen werden. Auf diese Weise kann es der Rechtssoziologie gelingen, die Denkgewohnheiten der Juristen kritisch zu durchleuchten, ihre Aufmerksamkeit auf Zusammenhänge zu richten, die bislang nicht genügend beachtet wurden, und ihnen neue Argumentationsmuster zur Verfügung zu stellen.“ 4 Ich möchte diesen spannungsreichen Empfehlungen folgen und mit Hilfe eines Struktur- und Funktionsvergleichs der Frage nachgehen, ob die soziologischen und ökonomischen Besonderheiten von Netzwerken der Unternehmenskooperation – virtuelle Unternehmen, Franchising, Just-in-timeBeziehungen – dadurch angemessen erfasst werden, dass sie als Vertragsverbindungen qualifiziert werden. Dazu müsste die Rechtsinstitution des verbundenen Vertrags soweit generalisiert werden, dass sie nicht nur finanzierte Erwerbsgeschäfte, sondern auch netzwerkartige Verflechtungen in Tatbestand und Rechtsfolgen erfasst. 5 Bekanntlich hat sich die Rechtsinstitution der „verbundenen Verträge“ – mehrere selbständige Verträge, die trotz ihrer Trennung eine „wirtschaftliche Einheit“ formen – zunächst in der Kautelarpraxis zu den finanzierten Erwerbsgeschäften allmählich herausgebildet. Die Rechtsprechung formte sie in langen Rechtsprechungsreihen kasuistisch aus und intervenierte mit drastischen zwingenden Normen zugunsten außenstehender Dritter, ohne aber mit einer überzeugenden dogmatischen Konstruktion aufwarten zu können. 6 Diese fand erst die 2 T. Raiser Einwendungen aus dem Kaufvertrag gegenüber dem Finanzierungsinstitut beim finanzierten Abzahlungskauf, RabelsZ 33 (1969), 457–475, 473. 3 T. Raiser (Fn. 2) RabelsZ 33 (1969), 468 ff., 473. 4 T. Raiser Das lebende Recht, 3. Aufl., 1999, Nomos-Verlag, Baden-Baden, S. 5, 48. 5 Dazu monographisch Teubner Netzwerk als Vertragsverbund: Virtuelle Unternehmen, Franchising und Just-in-time in sozialwissenschaftlicher und juristischer Sicht, 2004. 6 Ausführliche Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung bei Heermann Drittfinanzierte Erwerbsgeschäfte, 1998, S. 200 ff.; ders. Geld und Geldgeschäfte, 2003, S. 426 ff.

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Rechtswissenschaft im Begriff des „Vertragsverbundes“. In langen Kontroversen über seine Rechtsnatur wurde der Vertragsverbund allmählich von Anlehnungen an überkommene Rechtsfiguren abgelöst und als eigenständige Institution begrifflich präzisiert. 7 Schließlich kodifizierte die Gesetzgebung die „verbundenen Verträge“, zunächst in den sonderprivatrechtlichen Normen des § 9 Verbraucherkreditgesetz, § 4 Fernabsatzgesetz, § 6 Teilzeitwohnrechtegesetz und nach der Schuldrechtsmodernisierung in § 358 BGB . Allerdings ist die allgemeine Idee des Vertragsverbundes am bloßen Sonderfall des „finanzierten Kaufes“ entwickelt und dann nur vorsichtig auf andere finanzierte Erwerbsgeschäfte übertragen worden. 8 Die missliche Konsequenz ist, dass die Spezialprobleme des finanzierten Kaufes die Institution des Vertragsverbundes stark, ja zu stark beeinflusst haben. Das gilt für seine tatbestandlichen Voraussetzungen ebenso wie für seine Rechtsfolgen des genetischen, konditionellen und funktionellen Verbundes, die zwar schon generell formuliert, aber in ihrer Ausformung doch speziell auf die Eigenheiten des finanzierten Kaufs zugeschnitten sind. Darin liegt eine gewisse Deformation der allgemeinen Kategorie durch einen einseitig gewählten Sonderfall, welche die allgemeine Problematik unzulässig verengt. Denn schon heute lässt sich ein Generalisierungsüberschuss erkennen. Nicht nur finanzierte Erwerbsgeschäfte werden in der Form eines Vertragsverbundes abgeschlossen. Eine „Morphologie“ verschiedenartiger Vertragsverbindungen ist zwar immer noch ein Desiderat, doch lassen sich mögliche Kandidaten identifizieren: Sponsorenverträge, Prospektverträge, projektbezogene Gutachtenverträge, Projektverträge, Engineeringverträge, Transportnetze, Gironetze, Kreditkartensysteme und eben die uns hier interessierenden Franchising, Just-in-time, virtuelle Unternehmen und andere Unternehmensnetzwerke. 9 Eine sorgfältige Generalisierung und Respezifizierung des 7

Hauptsächlich Gernhuber Austausch und Kredit im rechtsgeschäftlichen Verbund, in:

FS Larenz, 1973, S. 470 ff.; ders. Das Schuldverhältnis, 1989, S. 710 ff. 8 Dazu Roth in Münchener Kommentar zum BGB , Bd. 2, 4. Aufl., 2001, § 242 Rn. 365

mwN. 9 Den rechtlichen Verbundcharakter von Gutachtenverträgen stellen besonders heraus: Picker Gutachterhaftung, in: FS Dieter Medicus, 1999, S. 428 ff. und Teubner Expertise as Social Institution, in: Campbell/Collins/Wightman (Hrsg.), Implicit Dimensions of Contract, 2003, S. 333 ff. Zum Netzcharakter von Projektverträgen Larenz/M. Wolf Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 8. Aufl., 1997, S. 470; Nicklisch Vernetzte Projektverträge und vernetzte Streitbeilegungsverfahren, BB 2000, 2166 ff., 2167, von Engineeringverträgen Schluep Zusammengesetzte Verträge, in: FS Heinz Rey, 2003, S. 285–306 mwN.; von Gironetzen und Transportverträgen Rohe Netzverträge, 1998, S. 65 ff. und 323 ff.; von Kreditkartenverträgen und anderen Kreditverflechtungen Heermann Geldgeschäfte (Fn. 6) S. 426 ff. Zum „eigentlichen“ Verbundcharakter der Prospektbeziehungen Teubner Den Schleier des Vertrages zerreißen? KritV 1993, 372, ebenso trotz seines deliktsrechtlichen Ansatzes Assmann Prospekthaftung als unerlaubter Haftungsdurchgriff? in: Juristische Fakultät Heidelberg (Hrsg.), Richterliche Rechtsfortbildung, 1986, S. 299 ff., 307, 319.

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Vertragsverbundes müsste diese Deformationen beseitigen. Die offene Frage ist dann, ob die Konstruktion des Vertragsverbundes für virtuelle Unternehmen, Franchising, Just-in-time fruchtbar gemacht werden kann. Wie müsste man den adäquaten Tatbestand der Vertragsverknüpfung formulieren? Worin bestünden die adäquaten Rechtsfolgen?

II. Struktur- und Funktionsäquivalenzen Vergleicht man typische Strukturen der Unternehmensnetzwerke mit den finanzierten Erwerbsgeschäften, so ist das Bild ambivalent. Die Ähnlichkeit beider in Tatbestand und Rechtsfolgen ist zunächst frappierend. Das wird auch von manchen Autoren durchaus gesehen. Rohe will finanzierte Erwerbsgeschäfte als „kleine Netze“ innerhalb der Netzverträge behandeln.10 Für finanzierte Erwerbsgeschäfte hält auch Heermann das Netzwerkkonzept jedenfalls rechtspolitisch für „beifallswürdig“ und äußert Sympathien für den Vorschlag, finanzierte Erwerbsgeschäfte und Vertragsnetze in einem einheitlichen Vertragsorganisationsrecht zu integrieren.11 Die Ähnlichkeit besteht im Kern darin, dass in beiden Fällen ein rechtswirksamer „Verbund“ zwischen mehreren Beteiligten hergestellt wird, ohne dass diese eine genuin multilaterale Vereinbarung treffen. Die Multilateralität wird jeweils durch eine Mehrzahl von nur bilateralen Vereinbarungen hergestellt. Dennoch wird in beiden Fällen der Verbund nicht einfach von Gesetz oder Richterrecht oktroyiert, sondern konstituiert sich schon in Selbstorganisationsprozessen im Markt, an die dann das objektive Recht mit dispositiven und zwingenden Normen erst anknüpft. Wie in den finanzierten Erwerbsgeschäften wird auch in den Netzwerken privatautonom ein übergreifender „Finalnexus“ in den bilateralen Verträgen selbst konstituiert, der dann in eine normative (legislative oder judizielle) „Zweckstruktur“ des Verbundes und in für den Verbund geltende Normen des objektiven Rechts übersetzt wird.12 Zugleich sind aber die Unterschiede im Tatbestand unübersehbar. Sie zwingen zur Respezifizierung unterschiedlicher Typen von Vertragsverbindungen.13 Obwohl sowohl bei den finanzierten Erwerbsgeschäften als auch bei den Unternehmensnetzwerken dem Kunden ein Hybrid gegenübersteht, unterscheiden sie sich doch voneinander in den Kundenkontakten. In 10 Ohne allerdings sein stellvertretungsrechtliches Modell des Netzvertrags wirklich auf die kleinen Netze anzuwenden, Rohe (Fn. 9) S. 56 ff. 11 Heermann Erwerbsgeschäfte (Fn. 6) S. 75 ff.; ders. Geldgeschäfte (Fn. 6) S. 95 ff. 12 So Gernhuber FS Larenz 1973 (Fn. 7) S. 470 ff.; ders. Schuldverhältnis (Fn. 7) S. 710 ff. zum Vertragsverbund. 13 Eine rechtsrelevante Typisierung von Vertragsvernetzungen schlägt Rohe (Fn. 9) S. 356 f. nach den Kriterium hierarchisch/horizontal vor.

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finanzierten Erwerbsgeschäften wird ein vertraglicher Kontakt des Kunden zu allen Netzbeteiligten (Verkäufer, Bank, Leasinggeber, eventuell Garant), die ein gemeinsames Projekt eng koordiniert verfolgen, hergestellt. In Netzwerken dagegen ist der vertragliche Kontakt des Kunden auf nur einen Netzbeteiligten konzentriert, dessen Leistungen aber ihrerseits mit selbständigen Leistungen der anderen Netzbeteiligten eng koordiniert sind. Eine Morphologie der Vertragsverbindungen würde dann entsprechend der Vertragskonstruktion mit Außenkunden nach den Mustern „Stern“, „Gitter“ und „Fächer“ respezifizieren müssen.14 Franchising und Just-in-time sind als hierarchische Vernetzungen „sternförmig“ organisiert. Um das Netzzentrum herum gruppieren sich die Netzknoten. Der Kundenkontakt kommt beim Franchising über den einzelnen Netzknoten, bei Just-in-time über die Netzzentrale zustande, wobei die Kundenbeziehung zu den anderen Netzteilnehmern nur indirekt über die interne Vernetzung hergestellt wird. Finanzierter Kauf, andere finanzierte Erwerbsgeschäfte, ihre Kombination mit Garantieverträgen, aber auch Sponsoringverträge sind dagegen „fächerförmige“ Vernetzungen: Der Kunde schließt mit den jeweiligen Leistungsträgern getrennte Verträge bilateral ab, die ihrerseits miteinander vernetzt sind. Aus dieser unterschiedlichen Struktur erklären sich die Unterschiede in den Rechtsproblemen, die trotz der Gleichartigkeit des Vernetzungssachverhaltes entstehen. In fächerförmigen Konstellationen heißt die Frage, ob eine rechtliche Verbindung zwischen den selbständigen Kundenverträgen hergestellt werden kann, welche die bilateralen Vertragswirkungen (selektiv) auf das ganze Netz ausdehnt. In sternförmigen Konstellationen geht es darum, ob trotz fehlenden vertraglichen Bandes zwischen Kunde und Netzzentrum einerseits und zwischen vertraglich nicht verbundenen Netzknoten andererseits dennoch eine gegenüber bloßen deliktischen Beziehungen intensivierte Rechtsbeziehung besteht. In gitterförmigen Konstellationen wiederum stellt sich die gleiche Frage in Bezug auf andere nicht vertraglich verbundene Netzteilnehmer. Wenn demnach der Strukturvergleich den Vertragsverbund zu generalisieren nur zusammen mit seiner Respezifizierung auf verschiedene Verbundstypen erlaubt, was ergibt sich aus einem Funktionsvergleich von Netzwerken und finanzierten Erwerbsgeschäften? Die ökonomische Funktion ist in beiden Fällen die gleiche. Immer geht es um die Verselbständigung von ökonomischen Leistungselementen in autonomen Einheiten – Produktentwicklung, Zulieferung, Produktion, Marketing, Vertrieb, Finanzierung

14 Dazu von sozialwissenschaftlicher Seite Windolf/Beyer Kooperativer Kapitalismus: Unternehmensverflechtungen im internationalen Vergleich, KZfSS 1995, 1 ff., die die Typen „Clique“, „Stern“, „inverser Stern“ unterscheiden; von rechtwissenschaftlicher Seite Rohe (Fn. 9) S. 356 f., der von „Gitternetzen“, „Sternennetz“ und „Spinnennetz“ spricht.

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oder Service –, die aber zugleich funktional eng aufeinander bezogen sind.15 Besonders deutlich wird dies beim outsourcing von Kompetenzen an Zulieferer: Kernkompetenzen werden im eigenen Unternehmen konzentriert; andere Kompetenzen werden in selbständige Zulieferunternehmen hinausverlagert; die Beziehungen der Unternehmen untereinander sind nicht einfach marktgesteuert, sondern bleiben kooperativ koordiniert. Auch im Franchising findet sich die Verselbständigung des lokalen Vertriebs mit eigenem Risiko, aber zugleich der Aufbau eines Werbungs-, Image- und Aktionsverbundes.16 Angesichts solcher Struktur- und Funktionsäquivalenzen ist es für Netzwerke ebenso falsch wie für finanzierte Erwerbsgeschäfte, die „wirtschaftliche Einheit“ juristisch als ein Resultat von Missbrauch, Täuschung oder als einen bloßen Anschein zu behandeln und mit Kategorien des § 138 BGB , 123 BGB , Anscheinshaftung oder Aufklärungspflichten zu reagieren.17 Das für finanzierte Erwerbsgeschäfte übliche Argument, eine eigentliche und ursprüngliche wirtschaftliche Einheit sei „künstlich“ in verschiedene Verträge aufgespaltet worden,18 geht für beide Institutionen in die falsche Richtung. Der Nutzen der Vernetzung wird nicht durch den bloßen Schein, Rechtsformenmissbrauch oder gar durch Vortäuschung einer in Wahrheit nicht existierenden Einheit erlangt, sondern er resultiert für alle Beteiligten aus der tatsächlich erreichten hybriden Verbindung getrennter Einheiten. Die spezifischen Gefahren der Netzwerke haben dann auch gar nicht mit einer Täuschung über die Transaktion zu tun, sondern mit den neuen Koordinationsrisiken des Hybrids. Gegenüber Joerges muss aber betont werden, dass die verbundspezifischen Chancen und Risiken nicht bloß von fortschreitender Arbeitsteilung und Differenzierung ausgelöst werden, sondern eigentlich erst von ihrem 15 Präzise schon auf Rechtsprobleme hin formulierte Funktionsanalysen der finanzierten Erwerbsgeschäfte bei T. Raiser (Fn. 2) 468 ff.; Joerges Verbraucherschutz als Rechtsproblem, 1981, S. 59 ff.; Hopt/Mülbert Kreditrecht, 12. Aufl., 1989, vor § 607 Rn. 429 ff.; Esser/Weyers Schuldrecht: Ein Lehrbuch, BT 1, 8. Aufl., 1998, S. 108; Heermann Erwerbsgeschäfte (Fn. 6) S. 10 ff.; ders. Geldgeschäfte (Fn. 6) S. 78 ff. Funktionsanalysen des Franchising Martinek Franchising, 1987, S. 107 ff.; ders. Vom Handelsvertreterrecht zum Recht der Vertriebssysteme, ZHR 161 (1997), 84 ff.; Schimansky Der Franchisevertrag nach deutschem und niederländischem Recht, 2003, S. 26 ff., 104 ff.; des Just-in-time Nagel/Riess/Theis Der faktische Just-in-time-Konzern, DB 1989, 1505 f.; Lange Das Recht der Netzwerke, 1998, S. 41 ff.; der virtuellen Unternehmen ders. (2001a), Virtuelle Unternehmen, 2001, S. 25 ff.; ders. (2001b), Virtuelle Unternehmen, in: Noack/Spindler (Hrsg.), Unternehmensrecht und Internet, 2001, S. 169 ff.; ders. (2001c), Virtuelle Unternehmen für Finanzdienstleistungen, BB 2001, 1805 ff. jeweils mit ausführlichen Nachw. 16 Die wohl eindringlichste Darstellung immer noch bei Martinek Franchising, 1987, S. 121 ff. 17 So deutlich Joerges (Fn. 15) S. 59 ff. gegen die gängigen Formeln in Rechtsprechung und Literatur. 18 Heinrichs in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 63. Aufl., 2004, § 358 Rn. 2.

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Gegenteil: der zusätzlichen und neuartigen Qualität ihrer Wiederverknüpfung, in unserer Sprache dem re-entry von Organisationselementen in Marktstrukturen. Wenn beim outsourcing Kompetenzen nur in den Markt hinausverlagert würden, dann wären dies relativ einfach zu verarbeitende juristische Probleme. Denn der von Joerges angesprochene funktionale Bezug der Leistungen zueinander besteht auch im Markt. In reiner Marktkoordination gehört aber die Herstellung des funktionalen Bezugs, also die Koordination arbeitsteilig erbrachter Leistungen, zum Risiko der Marktgegenseite. Genau dies ist aber bei Netzwerken ebenso wie bei finanzierten Erwerbsgeschäften anders. Hier wird die Koordination der verschiedenen Leistungsanteile als Eigenleistung durch die Vernetzung selbst erbracht. Die gerade bei Wissensprodukten so schwierige Leistung des Zusammenfügens von arbeitsteiligen Spezialisierungen ist die Leistung, die „vom Netz“ als Einheit erbracht wird, die von Außenstehenden als Rechtsanspruch erwartet wird und für die auch die finanzielle Gegenleistung gewährt wird. Dieser „Mehrwert“ der Vernetzung, d. h. die netzwerkimmanente Leistungskoordination, hat Konsequenzen für die Risikoverteilung zwischen Netz und Kunden. Eine Außenhaftung des gesamten Netzes für die innere Koordination gerät dadurch überhaupt erst ins Blickfeld. Eine Externalisierung dieses Risikos wäre angesichts der Quasi-Internalisierung der Funktionen venire contra factum proprium. Denn der kritische Umschlag von bloßer Marktkoordination von Leistungen zur Netzwerkkoordination besteht darin, dass outsourcing nicht einfach eine Externalisierung aus der Unternehmung in den Markt bedeutet, sondern zugleich eine Re-internalisierung aus dem Markt (nun aber nicht in die formale Organisation, sondern) in den Verbund von autonomen formalen Organisationen darstellt.19

III. Ein produktiver „unerträglicher Widerspruch“ Kann nun die umstrittene juristische Kategorie der „wirtschaftlichen Einheit“, die in der Rechtsprechung und Dogmatik zu den finanzierten Erwerbsgeschäften entwickelt wurde, dann in diverse Verbraucherschutzgesetze, schließlich in § 358 BGB aufgenommen wurde, diese wirtschaftliche Funktion der Vernetzungen adäquat erfassen? Mit provozierender Schärfe hat E. Wolf den offenkundigen Widerspruch des Begriffs der wirtschaftlichen Einheit trotz Trennung herausgestellt. 20 „Dogmatisch nicht haltbar“ – so lautet das Verdikt. Wie kann man von „wirtschaftlicher Einheit“ sprechen, wenn man zugleich die Trennung forciert? Das Gesetz nimmt hier 19 Zum Zusammenhang von Externalisierung und (andersgearteter) Re-Internalisierung aus der Sicht der Organisationstheorie Sydow Strategische Netzwerke, 1992. 20 E. Wolf Lehrbuch des Schuldrechts, Zweiter Band: BT, 1978, S. 62 f.

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auch nur die widerspruchsgeladenen Formulierungen der Rechtsprechung auf. E. Wolf denunziert dies zu Recht als eine Antinomie: „Eine ‚Einheit‘ kann nicht ‚getrennt‘ sein.“ 21 Auch Oechsler nimmt hier ein „Paradoxon“ wahr. 22 Die Folgen des Widerspruchs sind nach E. Wolf Perplexität der ganzen Konstruktion. Das „vom BGH behauptete logisch undenkbare Nebeneinander“ von Trennung und Einheit ermögliche es, ohne juristisch haltbare Begründung einmal das eine, einmal das andere zu behaupten und daraus fehlerhafte Folgerungen abzuleiten. Damit hat E. Wolf den Nerv der hybriden Netzwerke getroffen. Doch entgegen seinen destruktiven Absichten kommt es darauf an, den unerträglichen Widerspruch produktiv zu wenden. Der unbestreitbare Widerspruch „wirtschaftliche Einheit getrennter Verträge“ ist kein auszumerzender logischer Fehler in der Rechtsbegriffsbildung, wie E. Wolf es gern hätte, sondern entspricht exakt der sozialen Realität der Hybride, die ihre Produktivität erst begründet und auf deren Risiken das Recht eine angemessene Antwort finden muss.23 Die Antinomien der „wirtschaftlichen Einheit“ getrennter Einheiten finden sich sowohl in finanzierten Erwerbsgeschäften als auch in Konzernen – und eben in Unternehmensnetzwerken. In allen drei Fällen handelt es sich um wirtschaftliche Vernetzungen, die Steigerungsformen von Markt und Organisation herausgebildet haben. Immer geht es darum, Profitabilität gerade aus einander widersprechenden Anforderungen zu erzeugen. Wie sollte aber eine rechtliche Güterabwägung ausfallen, die Widerspruchsfreiheit des Rechts und Profitabilität von Unternehmen gegeneinander verrechnet? Wir kommen damit auf die zentrale Frage der inneren Widersprüchlichkeit der Netzwerke zu sprechen. Es geht darum, genauer zu sehen, wie die für Netzwerke typische Art, externe Widersprüche intern zu verarbeiten in rechtliche Tatbestände und Rechtsfolgen umsetzbar ist. Wie die sozialwissenschaftliche Literatur immer wieder herausgearbeitet hat, stehen Netzwerke generell vor dem Problem, widersprüchliche Außenanforderungen in der Weise in Binnenstrukturen zu „übersetzen“, dass tragbare Verhaltenslasten entstehen. 24 Netzwerke lassen sich geradezu als „Such- und Changierprozesse von Unternehmen“ verstehen, die versuchen, durch ihre Organisationsform „gegenläufige Anforderungen auszuloten und abzustimmen, ohne sich auf spätere Strategien und Strukturen festzulegen.“ 25 Die entscheidende Innovation der Hybride ist nun, dass sie externe Widersprüche in eine zwar spannungsreiche, aber aushaltbare „DoppeloriE. Wolf (Fn. 20) S. 62. Oechsler Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag, 1997, S. 344, 359 ff. Kritisch auch Rohe (Fn. 9) S. 56 ff.; Heermann Geldgeschäfte (Fn. 6) S. 82 ff. 23 Dazu Teubner Netzwerk als Vertragsverbund (Fn. 5) 2. Kap. III . 24 Semlinger Effizienz und Autonomie in Zulieferungsnetzwerken, in: Staehle/Sydow (Hrsg.) Managementforschung 3, 1993, S. 332. 25 Hirsch-Kreinsen Unternehmensnetzwerke – revisited, ZfS 2002, 120. 21

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entierung“ innerhalb des Handlungssystems transformieren. Diese Doppelorientierung findet sich paradigmatisch in der offiziellen Definition des Franchisingverbandes. Franchising ist „ein vertikal-kooperativ organisiertes Absatzsystem rechtlich selbständiger Unternehmen auf der Basis eines vertraglichen Dauerschuldverhältnisses.“ 26 Als Antwort auf widersprüchliche Anforderungen reagieren Unternehmen mit einer Doppelantwort. Sie werden „immer feste Kopplungen und lose Kopplungen nebeneinander und im Verbund miteinander vorsehen müssen“. 27 Diese für Hybride typische Kombination aus festen und losen Kopplungen wird mit Hilfe der Doppelorientierung vollzogen. Ein und dieselbe Handlung wird gleichzeitig der Individualorientierung der Netzknoten und der Kollektivorientierung des Netzes ausgesetzt und mit der zugleich belastenden und entlastenden Anforderung versehen, situativ einen Ausgleich zu finden. 28 Um den hier auftretenden Paradoxien zu entgehen, muss das Unternehmen „enttotalisiert“, d. h. sowohl einer Deutung als totale Einheit als auch der einer totalen Vielheit entzogen, und uno actu als operative Einheit und als Vielheit autonomer Akteure konstruiert werden. 29 Anders als Verträge oder Organisationen, die entweder die einfache Individualorientierung oder die einfache Kollektivorientierung aufweisen, entwickeln sich Netzwerke als neuartige Handlungssysteme, indem sie die soziale Doppelorientierung von Handlungen konstituieren. Jede Handlung im Hybrid muss gleichzeitig den normativen Anforderungen der bilateralen Sozialbeziehung zwischen den individuellen Akteuren wie denen des Netzwerkes genügen. Konsequenz ist eine bemerkenswerte Deutscher Franchiseverband www.dfv-franchise.de. Luhmann Organisation und Entscheidung, 2000, S. 375. 28 Zum zentralen Konzept der Doppelattribution unter Auswertung der einschlägigen sozialwissenschaftlichen Literatur zu den Netzwerken Teubner ‚Verbund‘, ‚Verband‘ oder ‚Verkehr‘?, ZHR 154 (1990), 309 f.; ders. Die vielköpfige Hydra, in: Krohn/Küppers (Hrsg.), Emergenz, 1992, S. 197 ff.; ders. Das Recht hybrider Netzwerke, ZHR 165 (2001), 562 ff. Die netzwerktypische Doppelzurechnung wird aufgenommen für Projektverträge von Collins Regulating Contracts, 1999, S. 248 ff.; für Vertragsverbindungen von Schluep FS Heinz Rey (Fn. 9) S. 306; für arbeitsrechtliche Netzwerke von Kreuder Netzwerkbeziehungen und Arbeitsrecht, in: FS Simitis, 2000, S. 171 ff., 203 ff.; Supiot Les nouveaux visages de la subordination, Droit Social 2000, 131 ff., 135; für symbiotische Verträge Zwecker Franchising als symbiotischer Vertrag, JA 1999, 159, 163; für virtuelle Unternehmen von Ensthaler/Gesmann-Nuissl Virtuelle Unternehmen in der Praxis, BB 2000, 2268; Lange (2001a), (Fn. 15), S. 179 f., 185; Mendes In medio stat virtus: Außenhaftung von virtuellen Unternehmen, Magisterthesis, Frankfurt: Fachbereich Rechtswissenschaft, 2002, S. 13 f.; für Franchising von Pasderski Die Außenhaftung des Franchisegebers, 1998, S. 4. Kritisch zur Doppelzurechnung Bräutigam Deliktische Außenhaftung im Franchising, 1994, S. 47 ff.; Oechsler (Fn. 22) S. 382 f.; Rohe (Fn. 9) S. 417 f.; Bayreuther Wirtschaftlich-existentiell abhängige Unternehmen im Konzern-, Kartell- und Arbeitsrecht, 2001, S. 399. 29 In diesem Sinne aus organisationswissenschaftlicher Sicht Neuberger Dilemmata und Paradoxa im Managementprozess, in: Schreyögg (Hrsg.), Funktionswandel im Management, 2000, S. 209. Zur Entparadoxierung der unitas multiplex der Organisation Luhmann (Fn. 27) S. 30 ff. 26 27

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Selbstregulierung des Netzwerkes, die auf dieser zweifachen Orientierung jeder Handlung basiert. 30 Wir finden hier die schlüssige Erklärung für das von Ökonomen herausgestellte eigentümliche profit sharing zwischen Netzwerk und Knoten, die sich vom profit sharing in gesellschaftsrechtlichen Kontexten deutlich unterscheidet. Während im Gesellschaftsrecht der Gewinn zunächst beim Verband anfällt und dann nach Gewinnverteilungsregeln unter den Mitgliedern verteilt wird, wird im Netzwerk simultan auf Netz und Knoten zugerechnet. Ökonomisch ausgedrückt: alle Transaktionen sind sowohl auf den Profit des Netzwerkes als auch auf den des individuellen Akteurs ausgerichtet. Diese doppelte Ausrichtung wirkt als constraint, da alle Transaktionen den doppelten Test bestehen müssen. Gleichzeitig wirkt sie als incentive, da Vorteile für das Netzwerk immer mit individuellen Vorteilen verknüpft sind. Durch geschickt entworfene Anreize und Sanktionen versuchen die individuellen Vertragsklauseln sicherzustellen, dass die doppelte Ausrichtung auch tatsächlich die Motive der Akteure beeinflusst. 31 Der springende Punkt bei Netzwerken, im Vergleich mit unverbundenen Verträgen einerseits, integrierten Unternehmen andererseits, liegt im residual claim des Netzknotens. 32 Infolge eingesparter Überwachungskosten ist dieser regelmäßig höher als vergleichbare Anreize in integrierten Firmen. 33 Ökonomen analysieren diese zweifache Ausrichtung in Begriffen wie principal-agent incentives und information incentives. 34 Wie soll nun das Recht auf diese Transformation von externen Widersprüchen in eine interne Simultanorientierung an Individuum und Kollektiv antworten? Die Antwort heißt: durch Doppelkonstitution von Vertrag und Verbund im Tatbestand und durch selektive Doppelzurechnung der Rechtsfolgen auf Vertragspartner und Verbund. Für den zunächst zu behandelnden Tatbestand des Unternehmensnetzwerks als Vertragsverbund stellen sich dann zwei Fragen: Welche tatbestandlichen Voraussetzungen konstituieren den Vertragsverbund? Wo verläuft die Grenze zu nicht-vernetzten Vertragsbeziehungen?

30 Aufschlussreich zur Doppelorientierung der Netzwerke in anderen Zusammenhängen Scharpf Die Handlungsfähigkeit des Staates am Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts, Politische Vierteljahresschrift 1991, 621 ff. 31 Dnes The Economic Analysis of Franchising and its Regulation, in: Joerges (Hrsg.) Franchising and the Law, 1991, S. 136 ff. 32 Eine besonders anschauliche Studie auf empirischer Grundlage gibt Norton An Empirical Look at Franchising as an Organizational Form, The Journal of Business 1988, 197, 202 ff. 33 Brickley/Dark The Choice of the Organisational Form, Journal of Financial Economics, 1987, 401 ff., 411 ff.; Dnes (Fn. 31) S. 136 ff. 34 Norton (Fn. 32) S. 202 ff.; siehe auch Klein/Lester F. Saft The Law and Economics of Franchise Tying Contracts, Journal of Law and Economics 1985, 345 ff., 349 ff.

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IV. Tatbestand: Doppelkonstitution von Vertrag und Verbund Will man die rechtsgeschäftliche Mechanik eines Unternehmensnetzwerkes rekonstruieren, dann sollte man an Buxbaums apodiktische Aussage anknüpfen: „Network is not a legal concept“.35 Hier zeigt sich besonders deutlich, dass der Einfluss der Sozialwissenschaft auf das Recht, wie T. Raiser immer wieder betont hat, nur „indirekt“ wirksam werden kann. Das Recht kann nicht die Bedingungen sozialer Vernetzung einfach zum Nennwert übernehmen, etwa die einzelnen Voraussetzungen einer verdichteten Kooperationsbeziehung. 36 Ebenso wenig kann es die einzelnen Elemente sozialwissenschaftlicher Definitionen, etwa der ökonomischen Formel „Hybrid zwischen Markt und Hierarchie“ oder der soziologischen Formel „vertrauensbasiertes Handlungssystem“, schlicht in juristische Tatbestandsvoraussetzungen übersetzen, sondern muss die Konstitutionsbedingungen aus seiner eigenen pfadabhängigen Entwicklungslogik selbst rekonstruieren. Genau deshalb ist der Rechtsbegriff der „verbundenen Verträge“ des § 358 Abs. 3 Satz 2 BGB für unsere Netzwerke so attraktiv. Denn trotz aller Eigenständigkeit gegenüber anderen Rechtsbegriffen gewinnt er seine Merkmale aus einer engen Bindung an die Logik des synallagmatischen Vertrages. 37 Die Verknüpfung der Leistungen im Synallagma des gegenseitigen Vertrages dient als Modell für die Verknüpfung der Schuldverhältnisse im Verbund. Im Synallagma werden bekanntlich nicht nur die Leistungsverpflichtungen vereinbart, sondern ihre wechselseitige Verknüpfung wird zum zusätzlichen Vertragsinhalt. 38 An diesen doppelten Auslösetatbestand, genauer: an Leistungsverpflichtung plus „Finalnexus“ des Austauschzweckes, schließen die dispositiven und zwingenden Normen des objektiven Vertragsrechts an, welche dann die einzelnen Rechtsfolgen der Leistungsverknüpfung, auch ohne den Willen der Parteien oder sogar gegen ihn, festlegen. In genauer Parallele dazu muss nun beim Vertragsverbund nicht nur die Leistungsverpflichtung vereinbart werden, sondern auch ihre Verknüpfung mit anderen Verträgen muss selbst zum Vertragsinhalt werden. Und wiederum in genauer Parallele zum Synallagma schließen an diesen doppelten Auslösetatbestand, also an Leistungsverpflichtung plus „Finalnexus“ des Verbundzweckes, dann dispositive und zwingende Normen eines objekti-

Buxbaum Is ‚Network‘ a Legal Concept?, JITE (149) 1993, 698, 704. Besonders deutlich wird diese Differenz von Sozialsystem und Rechtssystem bei Amstutz Vertragskollisionen, in: FS Heinz Rey, 2003, S. 161, 164 ff. 37 Gernhuber FS Larenz 1973 (Fn. 7) S. 470 ff.; ders. Schuldverhältnis (Fn. 7) S. 710 ff. 38 Zu den Synallagmatheorien der Überblick bei Emmerich in Münchener Kommentar zum BGB , Bd. 2a, 4. Aufl., 2003, vor § 320 Rn. 12 ff. 35 36

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ven Rechts der Vertragsverbindungen, auch ohne den Willen der Parteien, oder sogar gegen ihn, an. 39 Die tatbestandliche Doppelkonstitution von Vertrag und Verbund bedeutet also, dass zusätzlich zur einfachen Leistungsverpflichtung eine „Verweisung“ auf den Verbund zum Vertragsinhalt der bilateralen Verträge geschehen muss, wenn eine rechtsrelevante Verknüpfung der Einzelverträge hergestellt werden soll. Der Ausdruck Verweisung ist bewusst gewählt, um die tatbestandliche Nähe zum Einbezug von privaten Normierungen, insbesondere von Allgemeinen Geschäftsbedingungen, Verkehrssitten, technischen und sozialen Normen in den Einzelvertrag hervorzuheben. Immer geht es darum, dass ein Vertrag sich nicht auf die expliziten bilateralen Vereinbarungen beschränkt, sondern kraft seiner Sinnstruktur auf andere „private“ Ordnungen verweist. Dieses unverzichtbare Erfordernis findet sich schon im Recht der finanzierten Erwerbsgeschäfte. Es hat dort zu einer umfangreichen Kasuistik geführt, welche die Bedingungen einer „wirtschaftlichen Einheit“ der getrennten Verträge genauer zu bestimmen suchte. 40 Die Rechtsprechung experimentierte zunächst mit einer Vielzahl von Kriterien und Indizien, bis sich allmählich eine einheitliche Linie herausbildete. Leitprinzip war stets, dass aus der Sicht der Gegenpartei zu beurteilen war, ob ihr das Unternehmen und das Kreditinstitut „gemeinsam wie eine Vertragspartei gegenüberstehen.“ 41 Entscheidend sind selbstverständlich nicht die subjektiven Intentionen der Parteien, auch nicht einmal der explizite Wortlaut der Verträge, mit dem die Formularpraxis als Reaktion auf die Rechtsprechung zunehmend häufig die Trennung der Verträge betont, um den Rechtsfolgen des Verbunds zu entgehen. 42 Immer muss Inhalt des Darlehensvertrags die Zweckbindung des Darlehens sein, wobei der Darlehensnehmer meist von der freien Verfügung über die Darlehenssumme ausgeschlossen ist. 43 Immer muss der Darlehensvertrag auf den Kaufvertrag verweisen, um die Einheit herzustellen. 44 Und es müssen im Prinzip Elemente einer engen Kooperation zwischen Verkäufer und Bank, etwa eine dauernde Geschäftsverbindung, die Mitwirkung des Verkäufers beim Darlehen oder die Sicherung des Darlehens durch Schuldbeitritt, Bürgschaft oder durch Sicherungsübereignung nachzuweisen sein. 45 39 So in wünschenswerter Deutlichkeit Gernhuber Schuldverhältnis (Fn. 7) S. 731 gegenüber den ständigen Versuchen der Finanzierungsinstitute, die ökonomisch verbundenen Verträge juristisch zu trennen. 40 Ausführlich zum neuesten Stand MünchKomm/Habersack (Fn. 38) § 358 Rn. 26 ff., 36 ff. 41 OLG Köln ZIP 1995, 21; Palandt/Heinrichs (Fn. 18) § 358 Rn. 15. 42 Gernhuber Schuldverhältnis (Fn. 7) S. 731. 43 BGH NJW 1983, 2250; Palandt/Heinrichs (Fn. 18) § 358 Rn. 14. 44 OLG Köln ZIP 1995, 21; Palandt/Heinrichs (Fn. 18) § 358 Rn. 15. 45 MünchKomm/Habersack (Fn. 38) § 358 Rn. 38; Palandt/Heinrichs (Fn. 18) § 358 Rn. 15.

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Als dann der Gesetzgeber den Vertragsverbund im Spezialfall des Verbraucherdarlehensvertrags positivierte, wurden diese Elemente als gesetzliche Tatbestandsmerkmale formuliert. Nach § 358 Abs. 3 Satz 2 BGB muss das Darlehen der Finanzierung des anderen Vertrages „dienen“. Darin steckt zweierlei: die Verweisung des Darlehens auf den anderen Vertrag und die Ausrichtung auf das Projekt des finanzierten Erwerbsgeschäfts. Zugleich müssen die Verträge eine „wirtschaftliche Einheit“ bilden. Diese wird nicht allgemein definiert, sondern nur durch den gewiss die Problematik nicht erschöpfenden Sonderfall illustriert, dass sich der Darlehensgeber der „Mitwirkung“ des Unternehmers bedient. 46 Versucht man nun, sich von den Besonderheiten der finanzierten Erwerbsgeschäfte zu lösen und zu einem allgemeinen Rechtsbegriff des Vertragsverbundes vorzustoßen, der auch unsere Unternehmensnetzwerke umfasst, dann lassen sich aus der Entwicklung von Rechtsprechung und Gesetzgebung drei Tatbestandsmerkmale herausschälen. Sie machen den „Mehrwert“ der Doppelkonstitution eines Vertragsverbundes gegenüber einer im Markt unverbundenen Vielheit von selbständigen Verträgen aus. Leitprinzip ist auch hier, dass die vernetzten Unternehmen „gemeinsam wie eine Vertragspartei“ auftreten. Die Merkmale müssen kumulativ vorliegen, womit eine eindeutige Abgrenzung genuiner Vernetzungen zu bloßen marktgesteuerten Leistungszusammenhängen möglich wird. Zum üblichen Tatbestand des bilateralen Vertragschlusses müssen die folgenden Elemente hinzukommen, wenn ein rechtlicher Vertragsverbund entstehen soll: (1)wechselseitige Verweisungen der bilateralen Verträge aufeinander, im Leistungsprogramm und/oder in der Vertragspraxis („Mehrseitigkeit“), (2)ein inhaltlicher Bezug auf das gemeinsame Projekt des Vertragsverbundes („Verbundzweck“), (3)eine rechtlich relevante enge Kooperationsbeziehung zwischen den Verbundbeteiligten („wirtschaftliche Einheit“).

V. Rechtsfolgen: Selektive Doppelzurechnung auf Vertragspartner und auf Verbund Was für die Tatbestandsvoraussetzungen der Netzwerke als Vertragsverbund gilt, wiederholt sich in ihren Rechtsfolgen. Auch hier muss die soziale Doppelorientierung des Netzwerkhandelns ihre Resonanz im Recht finden. Das gilt für das Binnenverhältnis der Verbundteilnehmer untereinander wie für die Außenbeziehungen des Verbundes. Eine adäquate Antwort des Rechts ist die selektive (!) Doppelzurechnung der Netzwerkakte auf Vertrag und Verbund. 46

Palandt/Heinrichs (Fn. 18) § 358 Rn. 15.

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1. Auswirkungen des Verbunds auf die Einzelverträge Der genetische Zusammenhang des Verbundes mit der inneren Erwartungsstruktur der Einzelverträge zeigt sich daran, dass durch das Zustandekommen des Verbundes innerhalb der Einzelverträge nicht-explizit vereinbarte „Verbundpflichten“ ausgelöst werden, welche die bipolaren Verträge wechselseitig aufeinander und auf das Gesamtsystem ausrichten. 47 Diese Umpolung zweiseitiger Verträge auf einen übergreifenden Verbundzweck ist eine der wichtigsten Folgen der Vernetzung und bewirkt eine durchgreifende Umstrukturierung der Vertragspflichten im Netz. Dies dürfte auch unter den juristischen Netzwerkspezialisten – unabhängig von der Rechtskonstruktion – konsentiert sein. 48 2. Treupflichten zwischen vertraglich nicht verbundenen Netzteilnehmern Hochkontrovers dagegen ist die Frage, ob zugleich ein „genetischer Verbund“ der bilateralen Einzelverträge mit den Rechtsbeziehungen zwischen vertraglich nicht miteinander verbundenen Netzteilnehmern entsteht. 49 Nach dem bisher Gesagten dürfte aber deutlich geworden sein, dass sobald durch den Abschluss der Einzelverträge ein Vertragsverbund zustande kommt, uno actu verbundbezogene Rechtsbeziehungen auch zwischen solchen Netzteilnehmern entstehen, zwischen denen kein bipolarer Vertrag geschlossen wurde. Wenn Vernetzung bedeutet, dass spezifische Kommunikationsbeziehungen zwischen allen Netzbeteiligten entstehen und wenn dies rechtlich bedeutet, dass die Partner der bilateralen Verträge im Detail auf die Erreichung der Netzwerkeffekte verpflichtet werden, dann kann sich diese Verpflichtung nicht auf sie beschränken, sondern muss auch für die nicht bi47 Teubner Netzwerk als Vertragsverbund (Fn. 5) 4. Kap. III -VI behandelt im Einzelnen die Auswirkungen des Netzzwecks auf bilaterale Verträge unter dem Titel von Treupflichten und AGB -Kontrollen. 48 Etwa für Franchising Schimansky (Fn. 15) S. 120 ff.; für Just-in-time Lange Netzwerke (Fn. 15) S. 425 f.; für virtuelle Unternehmen Lange (2001a), (Fn. 15) S. 180 f.; ders. (2001b), (Fn. 15), S. 169 ff.; ders. (2001c), (Fn. 15) S. 1805 ff.; für Netzwerke allgemein Rohe (Fn. 9) S. 204 ff., 397 ff., 437 ff., 466 ff. 49 Mit schneidender Strenge verneint dies für hierarchische Netze Rohe (Fn. 9) S. 356 f., 388, 430 f. für Franchising ähnlich streng Schimansky (Fn. 15) S. 117 ff. Dagegen bejahen die wechselseitige Pflichtbindung auch vertraglich nichtverbundener Netzpartner für Netzwerke allgemein Larenz/M. Wolf (Fn. 9) S. 470; Kulms Schuldrechtliche Organisationsverträge in der Unternehmenskooperation, 2000, S. 232 f. (mit Differenzierungen je nach Kooperationsdichte); Amstutz/Schluep Innominatverträge: Allgemeine Lehren und Besonderer Teil., 3. Aufl., 2003, S. 890 ff.; Schluep FS Heinz Rey (Fn. 9) S. 290, 302; für Just-in-time Zirkel Das Verhältnis zwischen Zulieferer und Assembler: Eine Vertragsart sui generis?, NJW 1990, 345, 349; Lange Netzwerke (Fn. 15) S. 195 ff.; für virtuelle Unternehmen Lange (2001a), (Fn. 15) S. 188 ff., 192; für Franchising Baumgarten Das Franchising als Gesellschaftsverhältnis, 1993, S. 169 ff.; Krebs Sonderverbindung und außerdeliktische Schutzpflichten, 2000, S. 381 ff.

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lateralvertraglich geregelten Beziehungen zwischen allen Netzbeteiligten gelten. Dies ist ein zwingendes Erfordernis der Handlungslogik der Netzwerke, die vom Recht zu beachten ist. Dieses bemerkenswerte Phänomen taucht schon in finanzierten Erwerbsgeschäften auf, auch wenn es dort angesichts der Dramatik der Einwendungsdurchgriffe bisher wenig Aufmerksamkeit erregt hat. Denn häufig besteht zwischen Verkäufer und Bank kein Vertragsverhältnis im technischen Sinne, sondern nur eine faktische Kooperation, eine „Mitwirkung“ beim Abschluss des Darlehensvertrages oder eine bloße dauernde Geschäftsverbindung. Gernhuber und Heermann haben mit wünschenswerter Klarheit herausgearbeitet, dass sie dennoch einander nach Vertragsgrundsätzen haften, wenn zwischen ihnen „Leistungsstörungen“ bestehen, bzw. dass zwischen ihnen zumindest eine bereicherungsrechtliche Leistungsbeziehung besteht. 50 Was konstituiert aber diese problematische Rechtsbeziehung? Gernhubers Antwort heißt in aller Deutlichkeit „Sonderverbindung“, die er mit der Rechtsqualität der culpa in contrahendo vergleicht. Sofern zwischen Verkäufer und Kreditinstitut kein ausdrücklicher Vertrag besteht, „ist eine rechtliche Sonderverbindung der Parteien anzuerkennen, die sie selbst einleiten, wenn sie den jeweiligen Vertrag mit dem Käufer bzw. dem Darlehensnehmer schließen. Da aus ihr lediglich weitere Verhaltenspflichten folgen, entspricht das als mittelbare Folge des Finalnexus entstehende Schuldverhältnis strukturell demjenigen aus Vertragsanbahnung.“ 51 Pflichtwidrig gegenüber der Bank wäre die willkürliche Aufhebung des Kaufvertrages durch den Verkäufer auch dann, wenn zwischen ihnen keine Vertragsbeziehungen bestehen. Heermanns Antwort heißt: „trilaterales Synallagma“. Aus der in den bloß bipolaren Verträgen intendierten Struktur eines do ut des ut det ergebe sich eine trilaterale Rechtsbeziehung, also auch eine rechtlich relevante Leistungsbeziehung zwischen Bank und Verkäufer, sei es durch Auslegung des Darlehens als berechtigender Vertrag zugunsten des Verkäufers, sei es durch andere Rechtskonstruktionen, auch dann wenn zwischen ihnen kein bilateraler Vertrag besteht. 52 Für Unternehmensnetzwerke ist dieser genetische Zusammenhang von bilateralen Verträgen mit den Rechtsbeziehungen zwischen vertraglich nichtverbundenen Netzteilnehmern geradezu konstitutiv. 53 Hier zeigt sich 50 Dagegen Hörter Der finanzierte Abzahlungskauf, 1969, S. 244 ff.; Gundlach Konsumentenkredit und Einwendungsdurchgriff, 1979, S. 283. 51 Gernhuber FS Medicus 1973 (Fn. 7) S. 493; ders. Schuldverhältnis (Fn. 7) S. 741 f. Hier besteht ein deutlicher Berührungspunkt zum Konzept der Sonderverbindung, das Picker (Fn. 9) S. 438 f. für vertragslose Beziehungen innerhalb von Netzwerken fruchtbar machen will. Ähnlich Larenz/M. Wolf (Fn. 9) S. 470. 52 Heermann Erwerbsgeschäfte (Fn. 6) S. 93, 96 ff., 106. 53 Zu diesem Ergebnis kommt auch Rohe (Fn. 9) S. 195 ff., allerdings nur aufgrund seiner fiktionalen Stellvertretungskonstruktion. Wie im Text für den genetischen Zusammenhang

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wie schon oben im Tatbestand, nun auch in den Rechtsfolgen, dass ein Unternehmensnetzwerk eine Kombination von mehreren bilateralen Verträgen und einer multilateralen Sonderverbindung zwischen allen Netzteilnehmern darstellt. Wie schon oben angesprochen kommt nach der institutionellen Eigenlogik der Sonderverbindung die „Vernetzung“, also die Beziehung aller zu allen im Netz, über bloße lokale bilaterale Einzelkontakte zustande und wandelt sich ständig auf diese Weise. 54 Bilaterale Kontakte lassen eine vernetzte Erwartungsstruktur entstehen, in denen jeder Netzteilnehmer mit jedem anderen intensiviert verbunden ist. 55 Allerdings dürfte sich die Vorstellung Heermanns, dies beruhe auf dem trilateralen Synallagma, das in größeren Netzen womöglich zu einem multilateralen Synallagma zu erweitern sei, kaum halten lassen. Die spezielle Struktur eines „do ut des ut det“, die genuin nur im Ringtausch verwirklicht ist und sich vielleicht noch sinnvoll auf finanzierte Erwerbsgeschäfte ausdehnen lässt, findet in größeren Vernetzungen schnell ihre Grenzen. 56 Denn dort wird die synallagmatische Verknüpfung der Einzelleistungen durch eine generalisierte Reziprozität ersetzt: Jeweilige Leistungen werden nicht in der Erwartung einer spezifizierten Gegenleistung erbracht, sondern es wird „an das Netz“ geleistet mit der unbestimmten Erwartung künftiger Netzvorteile. 57 3. Außenhaftung der Netzteilnehmer Die schwierigsten und umstrittensten Probleme aber stellen sich für die Rechtsfolgen im Außenverhältnis zu Kunden und Gläubigern des Netzwerkes. Ermöglicht das Prinzip der Doppelzurechnung, wie es hier als adäquate Reaktion des Rechts auf die Handlungslogik der Netze verstanden wird, den „Durchgriff“ von Außenstehenden auf den Vertragsverbund? Gibt es eine Zurechnung auf die Netzzentrale, auf ausgewählte andere NetzmitglieZirkel (Fn. 49) NJW 1990, 345, 349; Larenz/M. Wolf’(Fn. 9) S. 470; Lange Netzwerke (Fn. 15) S. 195 ff.; ders. (2001a), (Fn. 15) S. 188 ff., 192; Krebs (Fn. 49) S. 381 ff. 54 Zur dogmatischen Ausarbeitung im Einzelnen Teubner Netzwerk als Vertragsverbund (Fn. 5) 5. Kap. 55 Zu diesem Zusammenhang von Einzelverträgen und der Gesamtstruktur des Netzes, der für das Entstehen von Netzwerkeffekten verantwortlich ist, Lemley/McGowan Legal Implications of Network Economic Effects, California Law Review 86, 1998, 479–611. Zu dezentralen Anschlüssen in Vernetzungen allgemein die soziologischen Untersuchungen von Stichweh Adresse und Lokalisierung in einem globalen Kommunikationssystem, in: Stichweh (Hrsg.), Die Weltgesellschaft: Soziologische Analysen, 2000, S. 220 ff. 56 In seiner neuesten Monographie zu mehrseitigen Vertragsverhältnissen räumt Heermann Geldgeschäfte (Fn. 6) S. 160 ff. dies auch selbst ein. Doch stellt sich dann umso dringlicher die Frage nach ihrer adäquaten dogmatischen Konstruktion. 57 Semlinger (Fn. 24) S. 333 f. mwN.; Mahnkopf Markt, Hierarchie und soziale Beziehungen, in: Beckenbach/van Treeck (Hrsg.), Umbrüche gesellschaftlicher Arbeit: Soziale Welt. Sonderband 9, 1994, S. 65, 71 ff.; Powell Weder Markt noch Hierarchie, in: Kenis/Schneider (Hrsg.) Organisation und Netzwerk, 1996, S. 213, 225 ff.

Unternehmenskooperationen als verbundene Verträge

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der oder gar auf das Netz selbst? Die Rechtsprechung zu den Gironetzen der Banken hat hier bekanntlich Pionierarbeit geleistet, indem sie den „Durchgriff“ von Bankkunden auf mit ihnen vertraglich nicht verbundene zwischengeschaltete Banken zuließ und hierzu das Institut des Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte konstruktiv missbrauchte. 58 Die Bedeutung dieser Rechtsprechung ist wegen ihrer Fernwirkungen auf andere Netzwerke gar nicht zu überschätzen. Bei genauerem Hinsehen lässt sich aber auch die Rechtsprechung zu den finanzierten Erwerbsgeschäften als ein solcher Durchgriff im Außenverhältnis (und nicht bloß als Durchgriff im Binnenverhältnis eines Vertragsverbundes) interpretieren. 59 Die Dreieckskonstellation der finanzierten Erwerbsgeschäfte gibt sozusagen das Modell für umfassendere Vernetzungen ab, denn schon im Finanzierungsdreieck lässt sich die Vernetzung im engeren Sinne von den Außenkontakten des Netzes trennen. Die „wirtschaftliche Einheit“ zwischen Kreditinstitut und Verkäufer ist das eigentliche Kooperationsnetz, das gegenüber dem Kunden Außenkontakte aufbaut. In dieser Sicht erscheint dann der Einwendungsdurchgriff des Kunden als Außendurchgriff auf die wirtschaftliche Einheit des Netzes. Über die Rechtskonstruktion der wirtschaftlichen Einheit Lieferant-Kreditinstitut wird es möglich, dass das Verhalten des Lieferanten dem Kreditinstitut zugerechnet wird, und dass der außenstehende Kunde die Einwendungen gegenüber dem Lieferanten auch dem Kreditinstitut gegenüber geltend macht. Dieser selektive Zurechnungsdurchgriff von Außenstehenden bei finanzierten Erwerbsgeschäften kann als Vorbild für Vertragsverbünde allgemein dienen. 60 Es geht darum, einer durch die Verbundtechnik begründeten Risikoverlagerung auf Außenstehende mit juristischen Zurechnungstechniken zu begegnen. 61 Die Risiken stammen unmittelbar aus den negativen Synergien der Vernetzung und können nicht verharmlosend der bloßen Arbeitsteilung im Markt zugerechnet werden. 62 Vielmehr handelt es sich um das Gegenstück zu den positiven Netzwerkeffekten, das ebenso wie diese durch die bilateral begründete allseitige Kommunikationsstruktur zustande kommt. Aufgabe des Rechts ist es, solche negativen Externalitäten zu internalisieren. Zum gleichen Ergebnis kommt die Dogmatik der Sonderverbindung, die bei Ersetzung vertraglich vereinbarter Kooperation durch dessen vertragslose Organisation in einem zentralen Bereich des Wirtschaftslebens ein rechtliches Vakuum identifiziert, das dadurch zu füllen wäre, dass der faktischen Organisation der Zusammenarbeit eine entsprechende Organisa58

BGHZ 96, 9, 17; BGH WM 1988, 246, 247; BGHZ 108, 386, 390.

Larenz/M. Wolf (Fn. 9) S. 470. Larenz/M. Wolf (Fn. 9) S. 470. 61 Das Risikoverlagerungsargument für Sonderverbindungen allgemein und für Franchising im Besonderen bei Krebs (Fn. 49) S. 381 ff. 62 So aber implizit Rohe (Fn. 9) S. 418, der gegenüber solchen negativen Netzwerkeffekten jedenfalls in hierarchischen Netzen keinen Normierungsbedarf sieht. 59 60

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tion der Verantwortlichkeit gegenübergestellt wird. 63 In der Sache geht es darum, „rechtspolitisch bedenkliche Risikoverlagerungen im Vertragsnetz mittels Relativierung des Relativitätsprinzips zu korrigieren und zwar mit dem Ziel, die einzelnen Gliedverträge an die Rechtslage der Vertragsverbindung anzupassen.“ 64 Dass hier neuartige Risiken für Außenstehende auftreten, wird in hierarchischen Netzwerken, besonders im Franchising deutlich. Soll hier der Franchisee allein haften, nicht nur für die von ihm als autonomen Marktakteur zu verantwortenden Fehler, sondern auch für Systemfehler, denen er selbst hilflos ausgeliefert ist? Durch die Konstruktion des Franchising als Bündel von bloßen Einzelverträgen ist der Franchisor als Spitze der Vertriebsorganisation von einer vertraglichen Haftung für seine von ihm effektiv erbrachten Anteile an der Leistungserbringung befreit. Hier erscheint ein Durchgriff auf das System (Zentrale) erforderlich. Aber auch in heterarchischen Netzwerken ist der Individualakteur mit Kundenkontakt Systemzwängen ausgeliefert, während die Fehlerverantwortung innerhalb des Systems unsanktioniert bleibt. Hier gilt es Haftungsformen zu entwickeln, in denen die Außenhaftung letztlich die innere Verantwortlichkeitsstruktur widerspiegelt. 65 Picker (Fn. 9) S. 431 f. Ebenso Krebs (Fn. 49) S. 381 ff. Amstutz/Schluep (Fn. 49) S. 890 ff. 65 Für einen externen Haftungsdurchgriff in Unternehmensnetzen, besonders bei Franchising und Vertragshändlersystemen plädiert mit gründlichen Risikoverlagerungs- und Präventionsargumenten Krebs (Fn. 49) S. 316 f.; 381 ff. Ebenso schon für Netzwerke allgemein Möschel Dogmatische Strukturen des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, AcP 186 (1986), 211 ff., 223; Teubner (Fn. 28) ZHR 154 (1990), 319 ff.; ders. Die vielköpfige Hydra (Fn. 28) S. 209 ff.; ders. (Fn. 9) KritV 1993, 387; ders. (Fn. 28) ZHR 165 (2001), 566 ff.; ders. Netzwerk als Vertragsverbund (Fn. 5) 6. Kap. Zustimmend Wolf/Ungeheuer Vertragsrechtliche Probleme des Franchising, BB 1994, 1027 ff., 1033; Reich Garantien unter Gemeinschaftsrecht, EuZW 1995, 71, 76; Larenz/M. Wolf (Fn. 9) S. 470; Amstutz/Schluep (Fn. 49) S. 888, 890; Schluep FS Heinz Rey (Fn. 9) S. 290, 302 f. Ebenso für virtuelle Unternehmen Lange (2001a), (Fn. 15) S. 185. Mit konzernrechtlichen Parallelerwägungen sprechen sich ebenfalls für einen Haftungsdurchgriff unter bestimmten Bedingungen aus: Ehricke Gedanken zu einem allgemeinen Konzernorganisationsrecht zwischen Markt und Regulierung, ZGR 1996, 300, 319 f.; Oechsler Die Anwendung des Konzernrechts auf Austauschverträge mit organisationsrechtlichem Bezug, ZGR 1997, 464, 482 ff.; Pasderski (Fn. 28) S. 37 ff.; Bayreuther (Fn. 28) S. 295 ff., 399 f., 400, 530. Entsprechende Andeutungen bei Martinek Moderne Vertragstypen Band II , 1992, S. 75; ders. Buchbesprechung: Christian Joerges, Franchising and the Law, RabelsZ 1993, 577, 582. Für Just-in-time bejaht die Außenhaftung auch der vertraglich nicht verbundenen Mitglieder Zirkel (Fn. 49) NJW 1990, 345, 350. Für einen deliktischen Durchgriff auf die Netzzentrale über eine extensive Anwendung des § 831 Roth Anmerkung zu OLG Karlsruhe, NZV 1989, 435, 436; Bräutigam (Fn. 28) S. 138 ff. Aus ökonomischer Perspektive plädieren für eine Außenhaftung der Netzwerke unter bestimmten Bedingungen Gulati/Klein/Zolt Connected Contracts, University of California Los Angeles Law Review 2000, 887, 930; Noll Who Should Be Liable in a Virtual Enterprise Network, 2002, www.pages.ssrn.com. 63 64

Gläubiger und Schuldner der Nebenpflichten aus dem bankgeschäftlichen Darlehensvertrag Harm Peter Westermann

Inhaltsübersicht Seite

I. Fragestellung und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Anlass für die Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Theoretische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Plan der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte und Deliktshaftung . . . . . 1. Das Prinzip der Relativität des Schuldverhältnisses . . . . . . . 2. Die Lage im neuen Schuldrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Folgerungen für die Falllösung . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Schutzbereich der bankgeschäftlichen Verschwiegenheitspflicht; geheimhaltungspflichtiger Personenkreis . . . . . . . . . . . . . . 1. Drittschutzwirkung des Berufsgeheimnisses . . . . . . . . . . . 2. Zum Schuldnerkreis der Vertragshaftung . . . . . . . . . . . . IV. Übertragung auf andere Pflichten aus Darlehensverträgen . . . . . 1. Das Analogieproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Praktische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Fragestellung und Perspektiven 1. Der Anlass für die Untersuchung Es ist gute Tradition und entspricht dem heute sehr starken Gedanken des Verbraucherschutzes, dass man sich bei der Formulierung eines Themas klarmacht, an welchen Adressatenkreis, der einem – um es wieder in der Gedankenwelt unseres heutigen Allgemeinen Schuldrechts zu sagen – sein Vertrauen entgegenbringen soll, man sich wenden will. Die Dogmatiker unter den Lesern werden sich dabei nicht schwer tun: offensichtlich geht es darum, ob und inwieweit aus einem nach herkömmlichem Verständnis nur die Parteien, also Darlehensgeber und Darlehensnehmer, bindenden Vertrag auch andere Personen berechtigt und verpflichtet werden können, während

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die Kenner des Bankgeschäfts, die eine gute Vorstellung davon haben, in welchem Ausmaß etwa ein Überweisungsauftrag, ein Akkreditiv, die Hingabe eines Schecks, erst recht die Teilnahme an dem vielfältigen Verkehr mit Scheckkarten Drittwirkungen haben können,1 sich fragen werden, ob nun endlich die durch die Einschaltung mehrerer Banken in den bargeldlosen Zahlungsverkehr begründeten Schutzpflichten zugunsten des mit einer zwischengeschalteten Bank nicht vertraglich verbundenen Kunden auf eine sichere Grundlage gestellt werden können. 2 Beide Betrachtungen würden sich als Untersuchungsgegenstand trotz der Notwendigkeit zur Bewältigung eines fast unübersehbaren Schrifttums sicher noch lohnen, sie würden aber den Bezug gerade auf den Darlehensvertrag vermissen lassen, den das ausformulierte Thema behandeln zu wollen vorgibt. Hier aber setzt möglicherweise ein gewisses Erstaunen ein: Der Darlehensvertrag ist bisher tatsächlich immer als eine Angelegenheit zwischen Gläubiger und Schuldner, vielleicht auch: Kreditunternehmer und Kreditverbraucher, angesehen worden, vor allem wegen der Bindung einer Darlehenszusage an die Personen des Darlehensnehmers. 3 Zwar hat sich die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme für eine Entscheidung des EuGH über die bekannte Vorlage des LG Bochum 4 mit der Frage befassen müssen, ob die Auszahlung der Darlehensvaluta an den Verkäufer der mit dem Darlehensvertrag finanzierten Immobilie oder an den Schuldner der sonstigen Vertragsleistung nach §§ 362 Abs. 2, 185 BGB als Erfüllung der Valutierungspflicht angesehen werden kann. Aber bisher war doch ziemlich klar, dass die eigentlichen Erfüllungspflichten aus dem Darlehensvertrag, also: Valutierung, Rückzahlung, Verzinsung, nur die eigentlichen Vertragsparteien betrafen, und dass die Besicherung, in die nicht selten Dritte eingeschaltet sind, auf der Grundlage einer besonderen Sicherungsvereinbarung erfolgt, so dass im Übrigen dieser Vertragstyp wenig Neigung aufweist, Rechte und Pflichten anderer als der eigentlichen Vertragschließenden zu begründen. Indessen hat es den Anschein, als müsse dies demnächst anders gesehen werden, und in der Tat ist es für die Pflicht zur Wahrung des Bankgeheimnisses anders gesehen worden. 5 1 Übersicht bei MünchKomm/Gottwald, BGB , Band 2a, 4. Aufl., 2003, § 328 Rn. 47–50; auf den Bankvertrag bezogen Canaris, Großkommentar HGB , Bankvertragsrecht, 4. Aufl., 1988, Rn. 21 ff.; speziell zu den Geldkonten AG Frankfurt WM 1994, 1879. 2 Übersicht bei Erman/H.P. Westermann, BGB , 11. Aufl., 2004, vor § 328 Rn. 24; im Einzelnen Hellner ZHR 145 (1981), 109 ff.; Rümker ZHR 147 (1983), 27 ff. 3 Rümker Kurzkommentar EWiR § 328 BGB 1/85 zu OLG Zweibrücken ZIP 1984, 1334; s. auch OLG Hamm MDR 1999, 556. 4 ZfIR 2003, 676 m. Anm. H.P. Westermann = BKR 2003, 706 mit Anm. Edelmann; zu der im Text genannten Frage die Stellungnahme der Bundesregierung in der Rechtssache C-350/03 vom 3. 12. 2003, S. 16. 5 Siehe bereits Canaris (Fn. 1) Rn. 44 ff.; Bruchner in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechtshandbuch, Bd. I, 2. Aufl., 2000, § 39 Rn. 12; für echte Verträge zugunsten Dritter

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Der Anlass für diese Prognose ist ein praktischer Fall, hier sogar ein Geschehen, das ein erhebliches Echo vor allem in der Tagespresse, inzwischen aber auch in der Fachpresse, gehabt hat, 6 nämlich der Kirch-Breuer-Fall, von dem hier allerdings nur zwei Einzelaspekte betrachtet werden sollen. Bekanntlich ging es darum, dass der Vorstandssprecher der Deutschen Bank in einem in einem US -amerikanischen Sender ausgestrahlten Fernseh-Interview Äußerungen getan hatte, die der Kläger, Hauptinhaber der nach ihm benannten Unternehmensgruppe, als Verletzung des Bankgeheimnisses und damit als Verstoß der beklagten Bank gegen die Pflichten aus einem mit einer „seiner“ Gesellschaften bestehenden Bankvertrag empfand, was ihn und einzelne seiner Konzernunternehmen, die ihre diesbezüglichen Ansprüche allerdings an ihn abgetreten hatten, zur Behauptung von Schadensersatzforderungen gegen die Bank und den Vorstandssprecher persönlich veranlasste. Das erstinstanzlich entscheidende Gericht, das LG München I, 7 folgte der Klage darin, dass die Verletzung des Bankgeheimnisses, die es als gegeben ansah, auch den nicht in unmittelbaren Vertragsbeziehungen mit der Deutschen Bank stehenden Konzernunternehmen Rechte gebe, die aus der Schutzwirkung des Bankvertrages zu ihren Gunsten abgeleitet wurden. Das OLG München als Berufungsinstanz 8 hat diesen Punkt in seinem die erste Instanz in wesentlichen Teilen bestätigenden Urteil nicht vertieft, der BGH wird darauf erst im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde, die eingelegt ist, 9 einzugehen haben. Das OLG hat aber noch einen anderen hierher gehörigen Aspekt angesprochen, in dem der Kläger Dr. Kirch unterlag, hat diesen aber zum Inhalt einer – durch Zulassung der Revision – demnächst dem BGH vorliegenden Rechtsfrage gemacht. Dabei geht es darum, ob der beklagte Vorstandssprecher persönlich für die schließlich von ihm begangene Verletzung des Bankgeheimnisses entweder aus einer (deliktischen) Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Klägers oder des Rechts der Tochterunternehmen an ihrem eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb haftet – was im Ergebnis trotz einiger dafür sprechender Gesichtspunkte verneint wurde – oder ob der Vorstandssprecher nicht doch auch persönlich, also als Vertragsschuldner, in das die Geheimhaltungspflicht begründende Schuldverhältnis zwischen dem Kläger und der Bank eingebunden war. Das OLG verwarf diese letztere Überlegung mit dem Hinweis auf die nur die Vertragsparteien bindende Wirkung des Darauch Sichtermann/Feuerborn/Kirchherr/Terdenge Bankgeheimnis und Bankauskunft, 3. Aufl., 1984, S. 138. 6 Siehe nur: Petersen NJW 2003, 1570; ders. BKR 2004, 47 ff.; Siller Kurzkommentar EWiR § 280 BGB 2/2993; Tiedemann NJW 2003, 2213; ders. ZIP 2004, 294 ff.; Tröger Jura 2003, 824 ff.; Schwintowski NZG 2003, 810; Wagner ZInsO 2003, 485; Eckl DZWiR 2004, 221. 7 NJW 2003, 1046 ff. 8 NJW 2004, 224 ff. 9 FAZ vom 2. 1. 2004, S. 17.

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lehensvertrages und der Verpflichtung zur Wahrung des Bankgeheimnisses, und es ließ die Revision nicht unter diesem Gesichtspunkt, sondern nur im Hinblick darauf zu, dass der BGH vor einigen Jahren, im sogenannten Heberger-Urteil,10 öffentliche Äußerungen eines Professors der Wirtschaftswissenschaften, die auf der Grundlage eines veröffentlichten Jahresabschlusses die Bonität des betreffenden Unternehmens anzweifelten, als rechtswidrigen Eingriff in den Gewerbebetrieb dieser Gesellschaft angesehen hatte. Von diesem Aspekt soll hier nicht gehandelt werden,11 sondern mehr von dem, den der BGH in seiner Entscheidung vielleicht auch aufgreift, und der – noch untechnisch gesprochen – die Drittwirkung von Darlehensverträgen sowohl auf Schuldner- als auch auf Gläubigerseite betrifft. Man sollte sich dabei nicht allein von der eher zufälligen und nach dem Stand des Schrifttums anscheinend unbestreitbaren Drittschutzwirkung des Bankgeheimnisses 12 leiten lassen, obwohl diese natürlich eine große Rolle spielen kann und die, wenn die Deutsche Bank den Prozess verlieren sollte, ja auch ziemlich schadensträchtig sein könnte.13 Aber schaut man einmal auf die inzwischen weitgespannten Beratungs-, Informations- und Aufklärungspflichten, die sich um eine Darlehensgewährung und die dahin führende Vertragsanbahnung herum entwickelt und dazu geführt haben, dass zumindest bei „Kreditverbrauchern“ neben die Rückzahlung und Verzinsung der Darlehensvaluta die Aufrechnung mit Schadensersatzforderungen als gleichberechtigtes Tilgungsmittel getreten ist, so könnte es schon eine Untersuchung lohnen, inwieweit die Verletzung derartiger Pflichten nicht nur beim eigentlichen Darlehensnehmer, sondern auch bei mit ihm verbundenen Unternehmen Schadensersatzansprüche auslösen kann. Bekanntlich genügt ja nach der derzeitigen Dogmatik des Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte ein schädigender Reflex im Vermögen des Drittbegünstigten, und es bedarf nicht, wie einstweilen noch beim Eingriff in den Gewerbebetrieb, eines gegen den Betrieb als solchen gerichteten „betriebsbezogenen“ Eingriffs, so leerformelhaft dieses Merkmal inzwischen geworden sein mag.14 Dies beträfe dann nicht nur den Verbraucherkredit, bei dem man sich an Sondergesetzlichkeiten gewöhnt hat, sondern etwa auch die Finanzierung einer M & A-Transaktion durch eine Bank, die bei gehöriger Anspannung 10 11

NJW 1994, 1281 = WM 1994, 641. Dazu meinen Beitrag in: FS für Ulrich Weber, 2004, S. 623 ff. Es erscheint angebracht,

darauf hinzuweisen, dass das Interesse des Verf. an diesen Themen nicht durch eine „Anfrage aus der Praxis“ hervorgerufen ist. 12 Zu den in Fn. 5 Genannten siehe noch Tröger Jura 2003, 824, 827. 13 Der Rechtsstreit beruhte auf einer Feststellungsklage, so dass die Tatsacheninstanzen über die Schadenshöhe nicht zu urteilen hatten. Das könnte sich ändern, wenn die vom Kläger in New York eingereichte Schadensersatzklage (dazu Eckl DZWiR 2004, 221, 229) Erfolg hat. 14 Tröger Jura 2003, 824, 829.

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ihrer Informationsmöglichkeiten, speziell ihrer Geruchsnerven, die Leichen im Keller des gekauften und anschließend auf eine Tochter verschmolzenen Unternehmens hätte bemerken müssen, und deswegen von der Tochter in Anspruch genommen wird. Neben diese Arten von Pflichtverletzungen – so könnte man sich vorstellen – könnten Folgen der verzögerten Valutierung eines Kredits, der verweigerten Freigabe von Sicherheiten und der Verletzung ähnlicher neben den Hauptpflichten stehender Pflichten treten, und das Horror-Szenario wäre vollständig, wenn eines Tages die Kreditgewährung an eine Konzernspitze oder die im Konzern hierfür zuständige Finanzierungsgesellschaft 15 mit dem Makel behaftet würde, bei einer in besonderen Schwierigkeiten befindlichen Tochtergesellschaft einen Tatbestand der Konkursverschleppung verwirklicht zu haben, woraus sich weitere Schadensersatzpflichten ergeben könnten. Sollten schließlich entgegen dem OLG München die Vertragspflichten oder wenigstens einige herausragende von ihnen sich über die Bank als den eigentlichen Vertragspartner hinaus auf ihre „Bediensteten“ (Formulierung des OLG im Hinblick auf Dr. Breuer als den Vorstandsprecher der Deutschen Bank) erstrecken, so wäre es wohl endgültig an der Zeit, unseren Doktoranden und Habilitanden doch wieder die Laufbahn eines befristet angestellten Professors des Zivilrechts lieber als diejenige zum Bankdirektor zu empfehlen. 2. Theoretische Perspektiven Der Fragenkreis berührt eine theoretische Entwicklungslinie der Figur des Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte, der er vielleicht einige Aspekte hinzufügen kann. Bekanntlich ist man mit der Ausdehnung von Vertragspflichten und ihrer Schadensfolgen auf nicht direkt – etwa über § 328 BGB – in den Vertrag einbezogene Dritte in der heutigen Wissenschaft nicht mehr so forsch wie zu der Zeit, als dies nötig erschien, um Schwächen der deliktischen Gehilfenhaftung und die Beschränkung des Deliktsschutzes auf die absoluten Rechtsgüter des § 823 Abs. 1 zu überwinden.16 Die Kriterien des vertraglichen Drittschutzes – tatsächliche Leistungsnähe des Dritten, Interesse des Vertragspartners an der Einbeziehung des Dritten, schließlich die Erkennbarkeit und Zumutbarkeit dieses Drittschutzes für den Vertragsschuldner, nach verbreiteter Ansicht auch das Fehlen eigener Ansprüche des Geschädigten wegen der bei ihm auftretenden Einbußen (sogenannte Sub15 Zu diesem Problemkreis näher H.P. Westermann in: FS für Brandner, 1996, S. 579 ff.; Kühbacher Darlehen an Konzernunternehmen – Besicherung und Vertragsanpassung, 1982; neuestens – auf Grund neuer Rechtsprechung – Habersack-Schärnbrand NZG 2004, 689, 695 f. 16 Zum folgenden Köndgen Die Einbeziehung Dritter in den Vertrag, Karlsruher Forum 1998, 1999, S. 3 ff.; Canaris ebenda S. 85 ff.; Krebs Sonderverbindung und außerdeliktische Schutzpflichten, 2000, S. 399 ff.; Schlechtriem in: FS für Medicus, 1999, S. 532 ff.; H.P. Westermann in: FS für Honsell, 2002, S. 137 ff.

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sidiarität) – sind ein wenig in Auflösung begriffen, vor allem, seit die Rechtsprechung die Berufshaftung von Experten für die Richtigkeit von ihnen erstatteter Gutachten über den Gutachtenauftraggeber hinaus zugunsten solcher Personen ausgedehnt hat, von denen der Experte wissen musste, dass sie das Gutachten möglicherweise einsehen und daraus Schlüsse für ihre eigenen Dispositionen ziehen würden, ohne dem Gutachter ihrerseits einen entsprechenden Auftrag erteilt zu haben.17 Gelangen wir dahin, die Haftung wegen allgemeiner Vermögensschäden, um die es ja auch bei der Verletzung von Nebenpflichten des Darlehensgebers gehen würde, von der Existenz einer vertraglichen Sonderverbindung zu lösen und sie einfach nur auf die tatsächlich bestehende Sonderverbindung zu stützen – womit man zur Schaffung eines dies regelnden § 823 Abs. 3 BGB aufruft 18 –, so wäre wohl damit zu rechnen, dass die bisher als einigermaßen sicher geltende Beschränkung der Wirkungen des Darlehensvertrages auf die einzelnen Vertragsparteien zumindest bei Nebenpflichtverletzungen auf Gläubiger- wie auf Schuldnerseite fallen würde. Das ist dann mehr als die verstärkte Verantwortlichkeit von Experten für die Verletzung berufsbezogener Sorgfaltspflichten oder die Enttäuschung des dem im Rechtsverkehr entgegengebrachten besonderen Vertrauens, sondern würde einen großen Schritt in Richtung auf eine außervertragliche, nicht mehr die Voraussetzungen des bisherigen Deliktsrechts erfüllende Haftung für reine Vermögensschäden darstellen, für die dann das in Gesellschaftsform organisierte Unternehmen nach § 31 BGB , aber auch der zuständige „Bedienstete“ persönlich einzustehen hätte. Hier würde sich dann auch der Kreis zu den eingangs kurz erwähnten Problemen der Einbeziehung eines Teilnehmers am Zahlungsverkehr in ein faktisches Leistungsnetz schließen. 3. Plan der Darstellung Wenn man über die Erörterung der aufsehenerregenden Einzelheiten des mitgeteilten Rechtsfalls hinausgehen will, die natürlich auch nicht unterlassen werden soll, so empfiehlt es sich, zunächst doch das angedeutete theoretische Umfeld ein wenig auszuleuchten, d. h. also zugespitzt: die vertragliche Dritthaftung als Sonderdelikt. Dass das deutsche Recht gegenüber dem in den Nachbarländern stärker verfestigten System der deliktsrechtlichen Generalklausel sich insoweit wahrscheinlich auf eine für uns ungewohnte Entwicklung des europäischen Rechts einstellen muss,19 fügt dem Thema eine zusätzliche erweiternde Dimension hinzu, die einem Kenner des Kapi17 BGH NJW 1993, 944; BGHZ 127, 378; BGH WM 1997, 359; Übersicht bei Honsell in: FS für Medicus, 1999, S. 211 ff.; Erman/Ehmann (Fn. 2) § 675 Rn. 16. 18 Picker AcP 183 (1983), 369 ff.; ders. JZ 1987, 1041; ders. in: FS für Medicus, 1999, S. 397 ff. 19 Schlechtriem FS Medicus (Fn. 16) S. 533 ff.

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talgesellschaftsrechts wie dem Jubilar vertraut sein wird, auch wenn sie hier einen von ihm bisher literarisch weniger behandelten Fragenkreis betrifft.

II. Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte und Deliktshaftung 1. Das Prinzip der Relativität des Schuldverhältnisses Einen praktischen Fragenkomplex unter den angedeuteten Umständen allein mit dem Anspruch eines Nicht-Vertragspartners oder gegen einen Nicht-Vertragspartner aus Vertrags- und nicht aus Deliktsansprüchen anzugehen, ist ein Unterfangen, das sich auf Widerspruch, zumindest auf kritische Fragen dahin einrichten muss, ob die Vertragshaftung hierbei wirklich noch einer objektiv abgrenzbaren Personengruppe zugute käme, 20 oder ob die einzelnen Tatbestandsmerkmale noch genügend aussagekräftig sind, um für den in Anspruch genommenen Vertragsschuldner die Belastung in zumutbaren Grenzen zu halten. In der theoretischen Diskussion um den gegenwärtigen Entwicklungsstand hat Köndgen 21 den aus seiner Sicht etwas verwunderlichen Umstand hervorgehoben, dass die Haftungskanalisierung durch das Prinzip der Relativität der Vertragsschuldverhältnisse im Schrifttum nur ein „kümmerliches Dasein“ führe, so dass ein Gegengewicht gegen die vielfach befürchtete Ausdehnung des vertraglichen Drittschutzes zu einer quasi-deliktischen Haftung für reine Vermögensschäden fehle. Eine solche unter Umständen sehr weite, bei großen Unternehmensgruppen kaum noch überschaubare Zahl von möglichen „Dritten“, die mit den Vertragsleistungen der Darlehensgeber in Kontakt kommen, ist auch nicht auszuschließen, wenn man die Ansätze aus dem Kirch-Breuer-Fall weiterdenkt, nach denen die Bank auch gegenüber möglicherweise geschädigten Konzernunternehmen mit einem Haftungsrisiko belastet ist. Aber auch wenn man die Situation des beklagten Vorstandssprechers persönlich ins Auge fasst, der nach der Konstruktion des OLG München lediglich aus unerlaubter Handlung für den noch leidlich überschaubaren Eingriff in einen Gewerbebetrieb einzustehen hatte – was ihm am Ende wegen der hiermit verbundenen besonderen Anforderung an Rechtswidrigkeit und Schuld freilich erspart blieb –, so ließe sich seine Einbeziehung in das Vertragsschuldverhältnis vielleicht durch eine kühne Umkehrung des Gedankens der Expertenhaftung gegenüber einem am Gutachtenauftrag nicht beteiligten Interessenten begründen. Man könnte nämlich daran denken, die bei der Expertenhaftung stattfindende Ausdehnung der Wirkungen des Schuldverhältnisses auf die Gläubigerseite hier auf die Schuldnerseite zu übertragen. 20 21

Dazu näher Martiny JZ 1996, 19 ff. (Fn. 16) S. 3 ff., 22.

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Das würde allerdings eine sehr empfindliche Verschärfung seines Risikos mit sich bringen. Er könnte sich nämlich nicht, wie im Rahmen der Deliktshaftung, auf das Fehlen besonderer Rechtswidrigkeitsmerkmale seines Tuns berufen, sondern würde einfach nur für eine Pflichtverletzung i.S.d. § 280 Abs. 1 BGB einzustehen haben, die nach § 276 BGB bereits leicht fahrlässig begangen werden kann. Diese Perspektiven des Falles rechtfertigen es, die Frage nach den berechtigten Grundlagen des Relativitätsprinzips und den Voraussetzungen seiner Durchbrechung durch eine Dritthaftung erneut zu stellen, wobei es mehr eine Notlösung wäre, wenn man sich schließlich zur Begrenzung des Kreises der Drittberechtigten auf eine Fallgruppenbildung zurückziehen müsste, wie im Schrifttum empfohlen wird. 22 Klar ist zunächst, dass einem Vertragsschuldner nicht gegen seinen Willen ein Vertragsfremder als zusätzlicher Gläubiger zugemutet werden soll, 23 und dass der historische Gesetzgeber eine Haftung für fahrlässig verursachte primäre Vermögensschäden nicht wollte. 24 Dies führt verständlicherweise zu der willensabhängigen Konstruktion der vertraglichen Schutzwirkung, die sich aber, wie schon die Rechtsprechung zeigt, bis zu einem gewissen Grade verflüchtigt hat, 25 weil Dispositivität des Drittschutzes bedenklich wäre. 26 Diese Ansätze funktionieren nur dort, wo sich die Einbeziehung des Dritten in die Vertragswirkungen aus der typischen Interessenlage des Vertragsgläubigers ergibt, der seinerseits dem in die Vertragswirkungen einzubeziehenden Dritten vertraglich oder aufgrund gesetzlicher oder sonst anerkannter Sonderbeziehungen zur Interessenwahrnehmung verpflichtet ist. 27 Ein weiterer Schritt zu einer Ausdifferenzierung der Interessenbewertung geschieht, wenn die Schutzwirkung auf das Zusammenwirken aller Beteiligten an einer organisierten Abfolge von Vertragsverhältnissen im Rahmen von Kettenüberweisungen zurückgeführt wird. 28 Die Rechtsprechung stellt demgegenüber eher auf ein eigenes Schutzinteresse des Dritten ab, wenn sie auch ohne seine Zugehörigkeit zum Fürsorgebereich des Vertragsgläubigers (früher mit der berühmten „Wohl- und Wehe-Formel“ ausgedrückt) 29 eine 22 Dazu im Einzelnen Martiny JZ 1996, 19, 22 ff.; ähnlich Schlechtriem FS Medicus (Fn. 16) S. 543 ff.; s. auch schon Erman/H.P. Westermann (Fn. 2) vor § 328 Rn. 9, 10. 23 Köndgen (Fn. 16) S. 24. 24 Honsell in: Karlsruher Forum 1998, 1999, S. 99 ff. 25 Siehe die Kritik durch Gernhuber in: FS für Nikisch, 1958, S. 251; 261 f.; ders. Das Schuldverhältnis, 1989, § 21 II 2, 3; Köndgen (Fn. 16) S. 5 ff. 26 Siehe dazu Krebs (Fn. 16) S. 528 ff. 27 Siehe nur Soergel/Hadding BGB , Band 2, 12. Aufl., 1990, Anh. § 328 Rn. 6, 9; Erman/H.P. Westermann (Fn. 2) § 328 Rn. 12; zum letzteren Gesichtspunkt als berechtigter Durchbrechung (und zugleich Bestätigung) des Relativitätsprinzips Köndgen (Fn. 16) S. 24. 28 Hierzu Canaris in: Karlsruher Forum 1998, 1999, S. 85, 87; H.P. Westermann FS Honsell (Fn. 16) S. 141, jeweils zu den Urteilen BGHZ 69, 82, OLG Düsseldorf NJW 1982, 575. 29 BGHZ 55, 11, 18; 66, 51, 57 mit Anm. Kreuzer JZ 1976, 776; diese Lösung passt nach wie vor für einen nicht geringen Teil der einschlägigen Fälle (Canaris (Fn. 28) S. 95); zum

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culpa-Verantwortlichkeit auf Personen ausdehnt, die zum Geschädigten nicht in einer vertraglichen Bindung stehen. Hier ist eigentlich der Bereich des Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte verlassen, 30 und die Begründung für die Haftung kann nur noch in einer Vertrauenshaftung, 31 konkretisiert durch Berufspflichten oder persönliche Autorität, gefunden werden, 32 die von einer Verankerung im Parteiwillen absieht und, wenn auch nicht ausdrücklich, die Entwicklung einer Sonderdeliktshaftung ankündigt. 33 Übertrüge man diesen letzten Aspekt auf den Kirch-Breuer-Fall, so wird fast schon erschreckend deutlich, dass die auf den ersten Blick naheliegende Einbeziehung des Vorstandssprechers in die vertragliche Vertraulichkeitspflicht sich nicht mehr mit der bei den Gutachter-Fällen noch leidlich überzeugenden Inanspruchnahme von Vertrauen in die berufliche Korrektheit begründen lässt, sondern dass man darüber hinaus eine spezielle Verkehrspflicht anerkennen müsste, für die nach Vertragsgrundsätzen, also unter Einbeziehung allgemeiner Vermögensschäden, gehaftet wird. Ganz aus der Welt ist ein solcher Entwicklungsschritt bei der Begründung einer Drittwirkung vertraglicher Pflichtverletzung schon bisher allerdings nicht, 34 wie sich in den Fällen der Verantwortlichkeit von Anlagewerbern und Prospektverfassern am grauen Kapitalmarkt zeigen lässt, bei denen die Verkehrsanforderungen an die betreffenden Personen nicht aus ihrer Beziehung zu einem Vertragspartner des Geschädigten, sondern aus vertragsunabhängigen Verhaltensmaßstäben hergeleitet sind, die Ähnlichkeit mit deliktischen Verkehrspflichten haben (tatsächlich auch häufig mit Straftatbeständen einhergehen). Allerdings muss man sehen, dass sich Vorschläge zur Erhebung von bestimmten Berufspflichten zu Schutzgesetzen i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB bisher nicht durchgesetzt haben. 35 2. Die Lage im neuen Schuldrecht Es zeigt sich somit, dass eine einfache Subsumtion unter die gängigen Merkmale des Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte, obwohl die Rechtsfigur als solche nach wie vor zum etablierten Handwerkszeug des Juristen gehört, sowie auch die Berufshaftung eines Experten, den Bedenken bezügInteresse des Vertragsgläubigers an der Einbeziehung des Dritten siehe etwa BGH NJW 1996, 2927; schon früher BGH NJW 1969, 1676. 30 Erman/H.P. Westermann (Fn. 2) vor § 328 Rn. 10. 31 Dazu Canaris (Fn. 28) S. 85 ff. 32 Ebke/Scheel WM 1991, 389 ff.; Grunewald AcP 187 (1987), 285, 299 ff. 33 Köndgen (Fn. 16) S. 48. 34 Schlechtriem FS Medicus (Fn. 16) S. 532. 35 Siehe v. Bar, Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. II , 1981 ff., S. 1681 ff., 1971 ff; MünchKomm/Mertens, BGB , Band 5, 3. Aufl., 1997, § 823 Rn. 472 ff.

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lich einer uferlosen Ausweitung des Kreises der nach Vertragsgrundsätzen Beteiligten (und Verantwortlichen) nicht gerecht werden kann. Wenigstens ein Seitenblick sollte der Frage gelten, ob das neue Schuldrecht im Rahmen des § 311 Abs. 2 BGB , der bisweilen als Lösung oder gar Ersetzung des Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte angesehen wurde, insoweit Veränderungen gebracht hat. 36 Die erste Besonderheit des § 311 Abs. 2 ist die Auflösung des Begriffs des Schuldverhältnisses in vertragliche und aus vorvertraglichen Kontakten entstehende Pflichtenkomplexe, ersichtlich daraus, dass bei der hier aufgegriffenen – nicht: begründeten – Figur der culpa in contrahendo die Grundlage einer Verpflichtung nicht mehr von der Parteirolle an einem Vertrag abhängt, was bei der herkömmlichen Einordnung des Anspruchs aus einem Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte noch insoweit aufrechterhalten blieb, als die Position des Dritten aus dem Willen der Vertragsparteien abzuleiten ist. Aber der Sache nach gibt das Gesetz hiermit nichts wirklich Neues wieder. Es ist auch offen zugegeben worden,37 dass das Verhältnis des § 311 Abs. 2, also der culpa-Haftung im überkommenen Sinn, zu der Haftung eines nicht Vertragspartner gewordenen, nicht an einer Vertragsanbahnung beteiligten oder in ähnlichen geschäftlichen Kontakten zum später Geschädigten stehenden Dritten nicht Gegenstand von Reformüberlegungen im Gesetzgebungsverfahren war, sondern dass durch die Regelung in Abs. 3 nur das Problem gelöst werden sollte, das sich aus der Notwendigkeit einer Begründung der Dritthaftung aus dem Vertrag zwischen seinem Auftraggeber und einem anderen ergab, und das in den einigermaßen gewagten Versuchen gipfelt, die Vorschrift des § 334 BGB, die in das Konzept einer selbständigen Haftung des Dritten nicht hineinpasst, als schlüssig abbedungen anzusehen.38 Es ist daher verständlich, dass es im Schrifttum zu der Neuregelung geheißen hat, der eigentliche Inhalt des § 311 Abs. 3 sei jetzt der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte, der vom Erfordernis der Ausdehnung vertraglicher Schutz- oder gar Leistungspflichten auf einen einer Vertragspartei nahestehenden Dritten gelöst sei. 39 Ich habe mich an anderer Stelle 40 gegen diese Sichtweise ausgesprochen, weil ich einen Unterschied sehe zwischen der Bezugnahme auf § 241 Abs. 2 in § 311 Abs. 3 Satz 1 BGB und dem „insbesondere“-Passus, mit dem Abs. 3 Satz 2 beginnt. Daraus folgt zunächst, dass Schutzwirkungen eines Vertrages auch zugunsten solcher nicht an ihm beteiligter „Dritter“ in Betracht kommen, die nicht aufgrund des VertragsZum Folgenden schon H.P. Westermann FS Honsell (Fn. 16) S. 137, 148 ff. Begründung zum RegE BT-Drucks. 14/7052, S. 173, 190; s. auch RegE BT-Drucks. 14/6040, S. 163. 38 BGH NJW 1995, 392 = JZ 1995, 306 mit Anm. Medicus; BGH NJW 1998, 1059; krit. Erman/H.P. Westermann (Fn. 2) § 334 Rn. 3. 39 Eckebrecht MDR 2002, 425, 427; s. auch Krebs (Fn. 16). 40 In: FS Honsell (Fn. 16) S. 149. 36 37

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inhalts auf eine bestimmte Art der Vertragserfüllung oder eine bestimmte Qualifikation des Vertragsschuldners „vertraut“ haben. Dies ist dann der spezielle Gehalt des § 311 Abs. 3 Satz 2 BGB , während Abs. 2 die Ableitung der Schutzwirkung aus dem Inhalt vorvertraglicher Kontakte meint, so dass schließlich die altbekannten Fallgruppen der Drittschutzwirkungen aufgrund bestehender Verträge weiterhin nach den bisher anerkannten, wenn auch vielfach ausdehnend angewendeten Kriterien41 zu behandeln sind. 3. Folgerungen für die Falllösung Blickt man von hier aus auf die Lösung der konkreten Fälle, die im Thema angesprochen sind, so kann man sagen, dass der Gesetzgeber sich auf eine Lokalisierung der Schutzwirkungen zugunsten und zum Nachteil Dritter im „borderland of tort and contract“42 nicht eingelassen hat. Nicht umfassend beseitigt ist auch das Hindernis aus § 334 BGB , dem man nur entgeht, wenn die Voraussetzungen des § 311 Abs. 3 BGB vorliegen. Andernfalls kann eine Haftung für reine Vermögensschäden nur unter den tradierten Voraussetzungen des Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte einschließlich der in § 311 Abs. 2 BGB genannten Fälle angenommen werden, so dass in den „Gutachter-Fällen“ nicht entscheidend auf den Vertrag zwischen dem Auftraggeber des Gutachters und demjenigen abgestellt werden kann, der das vom Auftraggeber angebotene Gut im Vertrauen auf die Äußerungen des Gutachters erwerben soll. 43 Das bedeutet also auch, dass eine Entwicklung hin zu einem Sonderdeliktstatbestand ohne Bindung an eine Rechtsgutverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB im Gesetz noch nicht vollzogen oder auch nur angelegt ist. Was die Haftung eines Darlehensgebers für Verletzungen von Nebenpflichten anbelangt, die sich nicht beim eigentlichen Darlehensnehmer, sondern bei verbundenen Unternehmen niederschlagen, muss also entweder eine aus dem Darlehensvertrag abzuleitende Schutzwirkung oder das Vorliegen eines Delikts zum Nachteil der deliktisch geschützten Rechtsgüter der Geschädigten festgestellt werden. Weiterhin ist (im Kirch-Breuer-Fall, aber auch bei anderen Pflichtverstößen der Organe eines Darlehensgeber-Unternehmens) eine persönliche Haftung nach Deliktsregeln möglich und, wie durch das OLG München geschehen, zu untersuchen, während eine Vertragshaftung mit der Folge der Verantwortlichkeit auch für allgemeine Ver41 Übersicht zu den relevanten Leistungs- und Verhaltenspflichten bei Martiny JZ 1996, 19, 22; zum Kreis der begünstigten Dritten ebenda S. 22 f.; zum Drittbezug der Leistung ebenda S. 23 f.; zur „Erkennbarkeit“ aus der Sicht des Vertragsschuldners ebenda S. 24 ff.; zum Ausschluss der Drittwirkung bei eigenem Vertragsanspruch schließlich ebenda S. 25. 42 Schlechtriem FS Medicus (Fn. 16) S. 531, im Hinblick auf Überlegungen im US -amerikanischen Rechtsraum. 43 So aber schon Krebs (Fn. 16) S. 39.

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mögensschäden nur denkbar ist, wenn ein Tatbestand der Berufspflichtverletzung festgestellt werden kann, der in seiner Wertigkeit und seinem Gewicht den in § 311 Abs. 3 BGB genannten Fällen vergleichbar ist (zu diesem Vergleich s. bereits oben S. 797). Der BGH , der sich mit dem Anspruch des Klägers gegen den Vorstandssprecher der Bank nächstens befassen muss, ist also auch eingeladen, sich zu dieser kühnen Analogie zu äußern. Da er dies aber, weil er, nur im Rahmen der deliktischen Anspruchsgrundlagen auf die Auswirkungen der Heberger-rule angesprochen worden ist, nicht unbedingt tun muss und dann vielleicht auch nicht tun wird, soll im Folgenden der Versuch gemacht werden, ohne die Legitimation und Dignität eines Revisionsgerichts die genannten Fragen zu erörtern.

III. Der Schutzbereich der bankgeschäftlichen Verschwiegenheitspflicht; geheimhaltungspflichtiger Personenkreis 1. Drittschutzwirkung des Berufsgeheimnisses Die Pflicht einer Bank, das „Bankgeheimnis“ zu wahren, ergibt sich nach wohl überwiegender Ansicht aus den vertraglichen Beziehungen der Bank zu dem Kunden;44 sie ist Teil der allgemeinen Interessenwahrungspflicht der Bank, müsste also nicht ausdrücklich geregelt werden, was aber geschehen ist, indem sie in Nr. 2 Abs. 1 Banken-AGB unter den „Grundregeln für die Beziehung zwischen Kunde und Bank“ aufgeführt ist. Das bedeutet zunächst, dass Träger des Anspruchs auf ein dieser Pflicht gemäßes Verhalten „der Kunde“ ist.45 Überlegungen, ob auch die Belange anderer Personen relevant sind, müssen nun nicht unbedingt bereits bei der Figur des Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte ansetzen, sondern sollten fragen, welche Tatsachen und Umstände es sind, die der Kunde als Vertragspartner geheimzuhalten wünscht, also als Gegenstand der Pflicht zur Vertraulichkeit betrachtet. Die Erstreckung dieser Art von Schutzwirkung auf Dritte lässt sich, so gesehen, einigermaßen zwanglos auf den Willen des Vertragspartners zurückführen.46 Beim Darlehensvertrag liegt etwa auf der Hand, dass der Kunde nicht nur den Grund seiner Verschuldung und die Höhe des wirtschaftlichen Opfers vertraulich behandelt wissen möchte, sondern z. B. auch den Namen eines anderen Unternehmers, mit dem er durch Investition 44 BGHZ 27, 241, 246; OLG Karlsruhe WM 1971, 486 f.; Liesecke WM 1975, 247; s. auch LG München NJW 2003, 1046 ff.; Bruchner (Fn. 5) § 39 Rn. 7; abl. aber Canaris (Fn. 1) Rn. 42, der von einer gesetzlichen Pflicht ausgeht; zu grundgesetzlichen Fundierungen Claussen Bank- und Börsenrecht, 3. Aufl., 2003, § 6 I 1. 45 Zum Kunden als „Geheimnisträger“ auch Canaris (Fn. 1) Rn. 43; Sichtermann/Feuerborn/Kirchherr/Terdenge (Fn. 5) S. 152 ff. 46 Siehe die Formulierungen bei Bruchner (Fn. 5) § 39 Rn. 8.

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des geliehenen Geldes zusammenarbeiten will. Nun wäre bei einer solchen Konstellation zunächst nur der eigentliche Kunde der Bank bei einer Verletzung des Bankgeheimnisses anspruchsberechtigt; sollen die Dritten eigene Ersatzansprüche geltend machen können, so bedarf es schon einer Form des vertraglichen Drittschutzes. Der von Canaris gebildete Fall, dass die Bank im Zuge der Geschäftsverbindung ein Geheimnis des Ehepartners des Kunden oder – so geschehen in einem Fall zum Lastschriftverfahren – einer Personengesellschaft erfährt, an der der Kunde beteiligt ist,47 zeigt, dass durchaus ein Bedürfnis bestehen kann, diese Dritten in den Schutzbereich des Bankvertrages einzubeziehen. Im Überweisungsverkehr kann der Schaden, der sich durch ein Fehlverhalten eines der Glieder der Überweisungskette ergibt, auch bei einem anderen als dem eigentlichen Vertragspartner eintreten, so dass eine Drittschadensliquidation in Betracht kommt.48 Bedenken hinsichtlich einer zu starken Ausdehnung des vertraglichen Drittschutzes in Richtung auf einen dem Deliktsrecht vorbehaltenen Schutz allgemeiner Vermögensinteressen können hier kaum auftreten. Die, wie oben II . gezeigt, in den neueren Anwendungsfällen häufiger sichtbaren Schwächen des Ansatzes der Drittwirkung im Willen des eigentlichen Vertragspartners lassen sich hier, jedenfalls was die Wahrung des Bankgeheimnisses betrifft, weitgehend zerstreuen. Da das Erfordernis der persönlichen Fürsorgepflicht des Vertragspartners für den Dritten (das Wohl-und-WeheKriterium) aufgegeben ist, 49 kommt es auf die Art der Interessen, die dem Bankkunden eine Wahrung der Geheimnisse (auch) des Dritten als notwendig erscheinen lassen, nicht mehr an. Die tatsächliche Leistungsnähe des Dritten und ihre Erkennbarkeit für die Bank können allerdings Schwierigkeiten verursachen, weil der Kreis der Dritten nicht so weit gezogen werden darf, dass alle Vertragspartner des Kunden, von denen die Bank im Laufe der Geschäftsverbindung Kenntnis erlangt, hierher gehören. 50 Bei einem notwendig arbeitsteiligen Vorgang wie dem mehrgliedrigen Zahlungsverkehr ist die Zurückhaltung in der Annahme von Schutzwirkungen zugunsten eines über die jeweils zweiseitigen Verhältnisse hinaus Beteiligten bekanntlich geringer, zumal es dabei häufig gerade um den Schutz des Bankkunden selber geht. So war es in dem Beispiel, dass die im Rahmen des Lastschriftverkehrs als Zahlstelle fungierende Bank der Inkassobank (des Einreichers) verspätet mitteilte, dass der Bezogene die Einlösung der Lastschrift abgelehnt hatte51 – hier wurde der Kunde in den Schutzbereich des Canaris (Fn. 1) Rn. 44 unter Hinweis auf BGHZ 69, 88 f. BGHZ 27, 241, 247; Wolff DB 1968, 696; Canaris (Fn. 1) Rn. 45; Sichtermann/Feuerborn/Kirchherr/Terdenge (Fn. 5) S. 156. 49 BGHZ 69, 82, 86 gerade im Hinblick auf die Schutzpflichten im Lastschriftverfahren. 50 So ohne Bezug auf Darlehensverträge Canaris (Fn. 1) Rn. 24. 51 BGHZ 69, 82; zust. Canaris (Fn. 1) Rn. 25; entgegen der Kritik von Hadding in: FS für Werner, 1984, S. 198 f. 47 48

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Vertragsverhältnisses unter den Banken einbezogen. Gerade dies zeigt aber, dass ein Kriterium gefunden werden muss, von dessen Vorliegen – vielleicht auch seiner größeren oder geringeren Intensität – die Ausdehnung von Schutzpflichten aus dem Bankgeschäft abhängt. Kehrt man zu den Pflichten zur Wahrung des Bankgeheimnisses zurück, so weckt die Begründung Interesse, mit der das LG München I im KirchBreuer-Fall nicht nur das mit der beklagten Bank in Kreditbeziehungen stehende Unternehmen der Kirch-Gruppe, sondern auch dessen mittelbare Muttergesellschaft und den „Konzernchef“ persönlich in die Schutzwirkung des Darlehensvertrages einbezogen hat, dessen Ausgestaltung durch die Banken- AGB die Grundlage der Verschwiegenheitspflicht bildete. 52 Es ging im Ausgangspunkt um einen umfassenden Schutz des Bankgeheimnisses „für die Kunden“, worin die systematisch richtige Anknüpfung an den Parteiwillen deutlich wird. Dann aber folgt der Hinweis, dass auch die Muttergesellschaft, aus deren (abgetretenem) Recht Kirch vorging, im Rahmen des Kreditverhältnisses ihre wirtschaftlichen Verhältnisse hätte offen legen müssen, was auch den aufsichtsrechtlichen Gegebenheiten (§ 18 KWG ) 53 entsprach, zumal der Kredit, wie es ausdrücklich heißt, erkennbar der Konzernfinanzierung diente. Das den Streit begründende Interview hatte demgemäss auch die wirtschaftliche Situation und die Kreditwürdigkeit der ganzen Gruppe behandelt. Dass eine Indiskretion der Bank über das Kreditengagement der Konzernspitze oder einer für die Finanzierung des Konzern zuständigen Gesellschaft alle anderen Teile der Gruppe betreffen kann, leuchtet ein, auch wenn man die Formulierung des LG , im Bankverkehr entstehe ein weit verzweigtes Netz von gesetzlichen Schuldverhältnissen, das allenthalben die Anknüpfung von Schutzwirkungen erlaube, nicht ohne weiteres über den direkten Bezug auf einen umfassenden Schutz des Bankgeheimnisses wird ausdehnen wollen. Wie sich die Folgen einer so weitgespannten Ausdehnung von Drittwirkungen anderer Vertragspflichten als der Geheimhaltungspflicht ausnehmen könnten, soll aber noch gesondert betrachtet werden (unten IV.); für das Bankgeheimnis wird man dem LG München, das in diesem Punkt die volle Billigung des Berufungsgerichts fand, 54 weil der Kreis der geschützten Dritten abgrenzbar erscheint, wohl folgen können. Dass er auch den Konzernchef persönlich als – wie aus dem Handelsregister hervorging – alleinigen Kommanditisten der Vermögensverwaltungsgesellschaft einschließt, darf ebenfalls nicht verwundern. Dass die Schweigepflicht somit gegebenenfalls eine ganze Unternehmensgruppe erfasst, jedenfalls diejenigen Unternehmen, die auch aufsichtsrecht52 NJW 2003, 1046, 1051; krit. hierzu – wenn auch schwerpunktmäßig unter deliktsrechtlichen Gesichtspunkten – Wagner ZInsO 2003, 485, 488. 53 Zur Behandlung von Konzernverbindungen im Bankenaufsichtsrecht Werner ZHR 149 (1985), 236, 255 ff. 54 NJW 2004, 224, 228 r.Sp.

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lich zusammengefasst werden, hat den gesellschaftsrechtlichen Nebeneffekt, dass Konzernbeziehungen, sowohl auf Grund bloßen Anteilsbesitzes als auch über Unternehmensverträge, nicht durch Äußerungen oder Auskünfte 55 der informierten Banken über die gesetzlichen Publizitätspflichten hinaus offenbart werden dürfen. Man wird daraus freilich nicht schließen können, dass umgekehrt alles, was einer Publizitätspflicht, etwa durch das Handelsregister, unterliegt, nun auch von der Verpflichtung zur Wahrung des Bankgeheimnisses ausgenommen sei. Die Wirkung einer Registereintragung geht unter Umständen nicht so weit wie diejenige einer Äußerung der mit dem betreffenden Unternehmen in Kreditbeziehungen stehenden Bank, so dass nicht ganz ausgeschlossen erscheint, dass die vom BGH im sogenannten Heberger-Urteil angenommene, im Schrifttum allerdings auf fast einhelligen Widerspruch gestoßene Annahme, Aussagen eines Wirtschaftsexperten (anlässlich einer Fortbildungsveranstaltung) über eine publizierte Bilanz könnten einen Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb darstellen, 56 auch im hier untersuchten Zusammenhang einer Lockerung der Vertraulichkeitspflichten entgegensteht. 2. Zum Schuldnerkreis der Vertragshaftung Gewissermaßen die Kehrseite des vorigen bildet die Frage, ob auch der Vorstandssprecher persönlich nach vertraglichen Regeln verantwortlich war. Die Selbstverständlichkeit, mit der das LG von einer Verpflichtung des Vorstandssprechers „zu größtmöglicher Zurückhaltung“ sprach,57 darf nicht dahin missverstanden werden, dass Dr. Breuer persönlich einer vertraglichen Haftung unterlag; das LG bezieht die zitierte Äußerung auch sogleich im Anschluss auf die dadurch ausgelöste Organhaftung der beklagten Bank aus § 31 BGB (besser wäre wohl § 278 BGB gewesen). Mit der genannten Frage hat sich aber das OLG näher befasst und vor der Gefahr einer uferlosen Ausdehnung der Verschwiegenheitspflichten über das Schuldverhältnis hinaus gewarnt.58 Es sieht auch, dass die diesem Problem zugrunde liegende Relativität des Schuldverhältnisses möglicherweise durch Anwendung des § 311 Abs. 3 BGB durchbrochen werden könnte, dessen Voraussetzungen – Inanspruchnahme besonderen Vertrauens durch den „Bediensteten“ persönlich – aber nicht vorgelegen hätten. Die Möglichkeit einer Analogie zu dieser Haftung ist vielleicht der neuralgische Punkt dieses Problemkomplexes. 55 Zum Verhältnis von Bankgeheimnis und Bankauskunft, das hier nicht näher behandelt werden kann, s. Canaris (Fn. 1) Rn. 56 ff.; Claussen (Fn. 44) § 6 II 1; Sichtermann/Feuerborn/Kirchherr/Terdenge (Fn. 5) S. 144 ff. 56 BGH (Fn. 10) und dazu krit. besonders Hager ZHR 158 (1994) S. 679 ff.; Lutter AG 1994, 347; differenzierend jetzt Petersen BKR 2004, 47 ff. 57 NJW 2003, 1046, 1048 r.Sp. 58 NJW 2004, 224, 230 l.Sp.

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Die Unsicherheiten über die dogmatische Fundierung des Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte, die oben erörtert wurden, haben anstelle der bisher geläufigen Voraussetzungen einzelne – wenn man so will – mehr topische Aspekte in den Vordergrund treten lassen, wie etwa ein situationsbedingt starkes Schutzbedürfnis des „Dritten“, das nicht von dem Willen des eigentlichen Vertragspartners abhängt, von ihm also auch nicht abbedungen werden kann – das geht in die Richtung einer Vertrauens- oder Berufshaftung gegenüber einem nicht in einer vertraglichen Beziehung zum Handelnden stehenden Geschädigten. Ein anderer in der Entwicklung als Triebkraft mitwirkender Gesichtspunkt ist die Begründung eines Schutzbedürfnisses dessen, der einer nicht mit seinem Zutun organisierten Kette von Vertragsverhältnissen gegenübersteht, zu deren einzelnen Gliedern er nicht in einem Vertragsverhältnis steht – dieser Gedanke braucht hier aber offensichtlich nicht weiter verfolgt zu werden. Klar ist ferner auch, dass in den „Gutachter-Fällen“ der Vertrag zwischen dem Auftraggeber des Gutachters und dem Beauftragten für die Begründung der Haftung und ihre Einschränkung – man denke an die Ausschaltung des § 334 BGB – nicht mehr entscheidend ist. Gibt es Anhaltspunkte für eine neuerliche Erweiterung, etwa im Rahmen des neuen § 311 Abs. 3 BGB , obwohl der Gesetzgeber nicht meinte, mit dieser Vorschrift Neuland betreten zu haben? Das eher pragmatische Argument des OLG München,59 der Geschädigte habe ja einen Anspruch gegen seinen Vertragspartner, die Bank, und benötige daher einen selbständigen Vertragsanspruch gegen die Organperson nicht, erinnert ein wenig an die – allerdings nicht ganz unstreitige – Vorstellung, ein Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte komme nicht in Betracht, wenn der Geschädigte eigene Ansprüche gegen den Schädiger hat.60 Denkt man an das mögliche Interesse des Kunden an einem Widerruf einer das Bankgeheimnis verletzenden Äußerung oder an einem (vielleicht auch strafbewehrten) Unterlassungsversprechen, das in der Sicht des OLG nur bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Delikts der handelnden Organperson in Betracht kommt, überzeugt dieses Argument nicht vollständig. Auch die Befürchtung einer uferlosen Ausdehnung von vertraglichen Ersatzansprüchen auf „Bedienstete“ der vertraglich zur Geheimhaltung verpflichteten Bank ließe sich vielleicht ausräumen, wenn man im Rahmen einer Analogie zu § 311 Abs. 3 BGB , um die es ja geht, den Kreis der auch persönlich zur Einhaltung des Bankgeheimnisses verpflichteten Personen so eingrenzen kann, dass die erhöhte Verantwortlichkeit durch ein leicht abgrenzbares Kriterium bestimmt wird. Dies könnte – in Entsprechung zu dem besonderen Vertrauen, das eine Auskunftsperson für sich in Anspruch nimmt – die herausgehobene Stellung NJW 2004, 224, 230. BGH NJW 1987, 2510; Krause JZ 1982, 18; Vorbehalte aber bei Gernhuber Schuldverhältnis (Fn. 25) § 21 II 5. 59 60

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der das Bankgeheimnis verletzenden Person in der gesamten von Geldkredit und finanziellen Transaktionen bestimmten Szene sein. Das OLG hat diese Überlegung, der die spezielle Ausrichtung auf den beklagten Vorstandssprecher natürlich anzusehen ist, in Auseinandersetzung mit dem dahingehenden Klagevorbringen am Ende verworfen, und dies wohl letztlich zu Recht. Dabei war klar, dass der Beklagte weder mit einem Gutachter noch mit der ihrerseits trotz aller Erörterung in Rechtsprechung und wissenschaftlichem Schrifttum noch immer etwas diffusen Figur eines „Sachwalters“ 61 gleichgestellt werden kann. Die erhöhte Aufmerksamkeit, die die Öffentlichkeit ihm als Vorstandssprecher des größten deutschen Kreditinstituts und als Präsidenten des Bundesverbandes Deutscher Banken entgegenbrachte, und die sich bei der Beurteilung der Organhaftung „seiner“ Bank niedergeschlagen haben mag und auch seine eigene Deliktshaftung beeinflussen könnte, könnte möglicherweise eine eigene an den Vertrag angelehnte Verantwortlichkeit gegenüber einem Hörer oder Leser von positiven Äußerungen über die wirtschaftliche Verfassung eines zum Kundenkreis seiner Bank gehörenden Unternehmens begründen, wenn dieser auf die von ihm verkörperte Autorität vertraut hat. Eine solche Annahme, die über den gegenwärtigen Stand der Expertenhaftung noch deutlich hinausginge, würde aber nicht ähnlich weitgreifende Ausdehnungen des Relativitätsgrundsatzes auf der Schuldnerseite rechtfertigen. Der Bankkunde, der mit der Sicherheit, dass seine Daten geheimgehalten werden, mit einem Kreditinstitut in Beziehung tritt, vertraut hierbei auf das pflichtgemäße Verhalten jedes einzelnen Mitarbeiters, der von den Tatsachen Kenntnis erhält, nicht nur der – den Dingen im Einzelnen vielleicht gar nicht so nahestehenden – leitenden Organpersonen. Und weiter beruht die vertragliche Verantwortlichkeit eines privatautonom Gebundenen unter anderem auf der Vorstellung, dass er zumindest gewisse Möglichkeiten hat, die Konditionen und das Ausmaß seiner Haftung zu beeinflussen, während der in die Erfüllung von Pflichten Eingeschaltete, auch wenn er eine leitende Stellung innehat, den Vertrag (und seine nähere rechtliche Ausgestaltung, etwa durch AGB ) hinnehmen muss, wie er einmal ist. Und schließlich – das zeigt sich an der erheblichen Ausweitung des Kreises möglicher Anspruchsteller bei einem Fehlverhalten – wäre für den einzelnen Erfüllungsgehilfen eine über seine deliktische Verantwortlichkeit hinausgehende Haftung für allgemeine Vermögensschäden wahrlich untragbar und daher unzumutbar.

61 Zur „Sachwalterhaftung“ aus culpa in contrahendo umfangreiche Nachweise bei MünchKomm/Emmerich, Band 2a, 4. Aufl., 2003, § 311 Rn. 195 ff.

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IV. Übertragung auf andere Pflichten aus Darlehensverträgen 1. Das Analogieproblem Die verbreiteten Überlegungen zur Drittschutzwirkung von Bankverträgen sind konkret zunächst auf die Pflichten im mehrgliedrigen Zahlungsverkehr und, was den allgemeinen Bankvertrag anbelangt, in Bezug auf die Geheimhaltungspflicht ausgerichtet gewesen. Sie sind aber teilweise so weit und so allgemein formuliert, dass sie auch etwaige Aufklärungs-, Informations- und Interessenwahrungspflichten des Darlehensgebers gegenüber Dritten betreffen könnten. Diese über das nicht mehr unangefochtene Konstrukt eines Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte auf andere Interessenträger als den eigentlichen Vertragspartner auszudehnen, wird in mehrfacher Hinsicht auf Bedenken stoßen. Andererseits ist aber auch hier nicht auszuschließen, dass tatsächliche Nähe Dritter zur Erfüllung der Nebenpflichten aus dem Darlehensvertrag, Erkennbarkeit dieses Näheverhältnisses und des Interesses des eigentlichen Kreditnehmers an den Belangen der Dritten aus der Sicht der Bank, die etwa einer Konzernspitze oder einer Konzernfinanzierungs-Gesellschaft ein Darlehen gegeben hat, im Einzelfall durchaus zu bejahen sind. Manche Projektfinanzierungen beruhen, wie an anderer Stelle entwickelt wurde, 62 gerade auf der Konzeption einer Darlehensaufnahme durch eine einzelne Konzerngesellschaft mit der Maßgabe, dass diese über die Mittelverwendung in der Gruppe entscheidet, deren einzelne Mitglieder vielleicht Sicherheiten zu stellen haben, aber nicht selber Schuldner der Verbindlichkeit werden. Dass unter solchen Umständen die genannten Voraussetzungen einer Schutzwirkung etwa von Aufklärungs- und Informationspflichten zugunsten auch nicht in den Vertrag einbezogener Konzernunternehmen vorliegen könnten, wird nicht generell zu bestreiten sein. 63 Nimmt man das bereits oben genannte Beispiel der Finanzierung einer der Unternehmensgruppe zugutekommenden Akquisition eines Unternehmens, das anschließend auf eine bisher gesunde Tochtergesellschaft verschmolzen wird und in deren Vermögen Verheerungen anrichtet, so lässt sich als Gläubiger von Schadensersatzansprüchen wegen der Verletzung von Informationspflichten diese Gesellschaft, die Konzernspitze oder auch eine mit der Stellung von Sicherheiten für diese Kreditgewährung beauftragte Konzerngesellschaft vorstellen, ohne dass die derzeit zumeist genannten Kriterien für einen vertraglichen Drittschutz überspannt werden müssten. Ist das wirklich so? Einzelne Argumente, die die Drittschutzwirkung der Geheimhaltungspflicht begründen, könnten auch hier wieder auftauchen, so vor allem der H.P. Westermann FS Brandner (Fn. 15). In dem oben Fn. 3 genannten Fall war zweifelhaft, ob ein einer GmbH gewährtes Darlehen Schutzwirkungen zugunsten der Ehefrau des Gesellschafters auslösen konnte, die für den Kredit Sicherheiten gegeben hatte, abl. insoweit Rümker (Fn. 3). 62 63

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Umstand, dass bei der Kreditgewährung die Offenlegungspflichten, auch die aufsichtsrechtlichen, die gesamte Unternehmensgruppe erfassen. Das ist wohl deshalb gerechtfertigt, weil die Risiken einer Kreditgewährung an ein Konzernunternehmen, zumindest eine Konzernspitze, ebenso wie bei der Gewährung eines Kredits an den persönlich haftenden Partner einer Personengesellschaft, sich aus den wirtschaftlichen Verhältnissen der Gruppe und damit aus dem gesamten Bereich der wirtschaftlichen Aktivitäten zumindest eines solchen Darlehensnehmers ergeben, der alleiniger oder maßgebender Inhaber der betreffenden Gesellschaften ist. Dieser Aspekt ist auf Aufklärungs- und Informationspflichten, erst recht auf Hauptpflichten wie die zur rechtzeitigen Valutierung eines Kredits, nicht übertragbar, weil die Einzelheiten der Verwendung von Kreditmitteln in einer Unternehmensgruppe oder auch im Rahmen der wirtschaftlichen Aktivitäten eines Darlehensnehmers die darlehensgebende Bank jedenfalls nicht generell zu kümmern haben. Hier muss an die in letzter Zeit immer wieder, wenn auch schwerpunktmäßig im Hinblick auf Konsumentenkredite, betonte und gegen manche Angriffe aufrechterhaltene Judikatur64 erinnert werden, dass die Bank nicht verpflichtet ist, die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit und die Risikoträchtigkeit der Realisierung der mit den geliehenen Mitteln verfolgten unternehmerischen Aktivitäten zu prüfen oder diesbezügliche Bedenken deutlich zu machen, solange sie insoweit nicht über einen konkreten Wissensvorsprung verfügt oder bei der Vorbereitung und Durchführung des Geschäfts über die Rolle als reiner Darlehensgeber hinausgegangen ist. Das folgt weniger aus der Begründung eines Kredits ganz in den persönlichen Verhältnissen des Darlehensnehmers, die man schließlich bei Einbeziehung einer Unternehmensgruppe oder auch nur der Ehefrau des Darlehensnehmers in die Kreditwürdigkeitsprüfung auch überspielen könnte, als daraus, dass beide Parteien eines Darlehensvertrages ein berechtigtes Interesse daran haben, den Umfang und den Kreis der für das Geschäft relevanten Umstände überschaubar und – wenn möglich – beherrschbar zu gestalten. 2. Praktische Konsequenzen Dieser im Eingang etwas theoretisch klingende Satz bedeutet aber immerhin so viel, dass es durchaus Fälle geben kann, in denen Drittwirkungen diesbezüglicher Pflichtverletzungen doch in Betracht kommen, nämlich dann, wenn in dem Bankgeschäft, also im Beispiel einem Darlehensvertrag mit einem Konzernunternehmen, die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit einer bestimmten, ein anderes Unternehmen der Gruppe betreffenden Verwendungsart eine motivierende Rolle gespielt hat. Dasselbe gilt, wenn ein dem 64 BGH WM 1992, 601; 1992, 901, 904; 1992, 1355; BGH ZIP 2004, 211; Übersicht bei MünchKomm/H.P. Westermann, BGB , Band 4, 3. Aufl., 1997, § 607 Rn. 59 ff.

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Konzern gegebener Kredit einer Zweckbindung im Hinblick auf die Verwendung der Mittel an einer bestimmten Stelle der Gruppe unterliegt. Wirkt eine Bank, wie heute häufig und von den Banken, wenn ich recht sehe, in einer dem Darlehensgeschäft deutlich vorgezogenen Intensität an der Konzeption und Realisierung etwa von M & A-Transaktionen mit, so widerspricht es nicht der Interessenlage, wenn nicht nur der eigentliche Vertragpartner der Bank, sondern auch andere mit den Transaktionen befasste Gruppen-Unternehmen an der Schutzwirkung von Informations- und Aufklärungspflichten teilhaben. Deutlicher wird dies noch, wenn eine kreditgebende Bank die Besicherung des Kredits durch andere Unternehmen als den eigentlichen Darlehensnehmer fordert. Soweit hier ein Vertrag, nämlich die Sicherungsvereinbarung, zwischen Sicherungsgeber und Sicherungsnehmer geschlossen werden muss, ergibt sich das aus den allgemeinen Sorgfaltspflichten des Gläubigers, allerdings nur in dem Rahmen, wie sie etwa bei der Bürgschaft bei einem für den Gläubiger erkennbaren Irrtum des Bürgen über das von ihm übernommene Risiko anerkannt sind. 65 Die Rechtsprechung hat hier bekanntlich eine gewisse Zurückhaltung mit der Annahme von Pflichten an den Tag gelegt, durch deren Anerkennung das Risiko des Sicherungsgebers praktisch auf den Sicherungsnehmer verlagert werden würde. Andererseits belasten die Schutzwirkungen aus einem Vertrag, der mit einem mit dem eigentlichen Kreditnehmer verbundenen Unternehmen geschlossen werden muss, die Abwägung von Vorteilen und Risiken auf Seiten des Darlehensgebers nicht in unzumutbarer Weise, was bekanntlich auch zu den Kriterien einer „echten“ Drittwirkung von Verträgen gehört. Es gilt aber noch einen möglicherweise gegenläufigen Gesichtspunkt in die Abwägung einzubeziehen. Eine Konzernspitze, die im Konzerninteresse vertragliche Verpflichtungen eingeht, wird häufig anstreben, die Haftung für die Verbindlichkeiten auf einzelne Konzernunternehmen zu beschränken. Maßnahmen dieser Art, wenn sie vom Kreditgeber akzeptiert werden, stellen gerechterweise ein Hindernis dar, auf der anderen Seite die Schutzwirkungen der Vertragspflichten des Darlehensgebers auf nicht mithaftende Unternehmen zu erstrecken. Dies sollte auch dann gelten, wenn in die Überprüfung der Kreditwürdigkeit auch andere Konzerngesellschaften als die eigentliche Darlehensnehmerin einbezogen werden. Man kann dieses Element als Teil der Prüfung der Zumutbarkeit der Drittschutzwirkung eines Vertrages für den eigentlichen Vertragsschuldner nehmen, das also trotz Leistungsnähe und trotz eines für die Bank erkennbaren Interesses des Darlehensnehmers an der Einbeziehung des verbundenen Unternehmens in die Schutzwirkung des Darlehensvertrages diese verhindert. Dieser Ein65 BGHZ 106, 269, 272; BGH NJW 1995, 1886, 1898; BGH ZIP 1997, 1058, 1060; MünchKomm/Habersack BGB , Band 5, 4. Aufl., 2004, § 765 Rn. 89 f.; Erman/Seiler (Fn. 2) § 765 Rn. 11.

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wand gegen die Drittwirkung wird allerdings entkräftet, wenn die Bank von einem nicht als Mitschuldnerin fungierenden Unternehmen Sicherheiten für die Verbindlichkeit verlangt hat. Dass bei der soeben erwähnten Zweckbindung des einer Unternehmensgruppe gewährten Kredits das hierbei ins Auge gefasste Unternehmen nicht entweder als Mitschuldner oder als Sicherungsgeber herangezogen wird, ist freilich eine Frage der Konzernfinanzierungspraxis, die sicher nicht unter dem Gesichtspunkt möglicher Drittschutzwirkungen entschieden wird, die aber zur Bestimmung des Schutzbereichs eines Darlehens- oder sonstigen Finanzierungsvertrages wohl herangezogen werden darf. Wenn dieser Fragenkreis schließlich hier vorwiegend mit Blick auf die Verhältnisse einer Konzernfinanzierung erörtert wurde, was durch die Anschauung der den Anlass der Untersuchung bildenden cause célèbre erklärbar ist, so schließt dies nicht aus, dass ähnliche Kriterien auch zwischen einander nahestehenden natürlichen Personen oder auch einem Darlehensnehmer und einer ihm gehörigen Gesellschaft (GmbH oder GmbH & Co KG) zur Anwendung kommen.

V. Schlussbetrachtung Die theoretische Entwicklung des Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte – und Ähnliches könnte für die Drittschadensliquidation dargelegt werden – macht es notwendig, die Anwendungsfälle dieses rechtsfortbildend entwickelten Instituts in einer Zeit, in der manche seiner Funktionen vom Deliktsrecht übernommen werden können, mit zunehmender Zurückhaltung bezüglich der Auflockerung der Relativität des Schuldverhältnisses zu betrachten. Tut man dies, so muss allerdings auf der anderen Seite die Deliktshaftung, namentlich wegen Verletzung der Rechte am Gewerbebetrieb und des Persönlichkeitsrechts, aber auch wegen Verstoßes gegen wettbewerbsrechtliche, im Hinblick auf das Bankgeheimnis auch aufsichtsrechtliche Schutzgesetze, 66 auf ihre Praktikabilität in objektiver und subjektiver Beziehung geprüft werden. Das letztere könnte im Rahmen der Revision gegen das Urteil des OLG München im Kirch-Breuer-Fall geschehen. Auf den Ausgang dieses Verfahrens zu warten, ließ aber der Zeitplan der vorliegenden Festschrift nicht zu; der Jubilar, dem eine weitere Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Tätigkeit und bleibende fachliche Neugierde zu wünschen ist, wird die daraus dann vielleicht folgenden Rückschlüsse auf die vorstehenden vertragsrechtlichen Überlegungen durchaus selber zu ziehen wissen.

66 Eindrucksvolle Übersicht über das letztere im Hinblick auf den Kirch-Breuer-Fall bei Tiedemann ZIP 2004, 294 ff.

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D. Verfassungsrecht, Europarecht, Ausländisches Recht

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I. Organisationsrecht . . . . . . . II. Grundrechte . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . 2. Grundrechtsschutz kollektiver a) Koalitionsfreiheit . . . . . b) Tarifautonomie . . . . . . c) Arbeitskampf . . . . . . . 3. Berufsfreiheit . . . . . . . . . 4. Soziale Grundrechte . . . . . 5. Gleichheitsrechte . . . . . . . III. Schlussfolgerungen . . . . . . .

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Thomas Raiser ist vor dem Bundesverfassungsgericht in einer der zentralen verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Kapital und Arbeit für den Bundestag aufgetreten 1 und hat sich auch darüber hinaus mit Themen aus dem Spannungsfeld von Verfassungsrecht und Arbeitsbeziehungen beschäftigt. 2 Insofern ist es passend, wenn ich mich als für das Arbeitsrecht zuständiger Verfassungsrichter mit einem Beitrag zum Verfassungsrecht der Arbeit an dieser Festschrift beteilige. Dass das Thema dabei nicht das deutsche, sondern das europäische Verfassungsrecht ist, sollte nur auf den ersten Blick überraschen. Auch für das Bundesverfassungsgericht wird das Europarecht immer wichtiger. Die Rüge des Art. 101 GG , also des gesetzlichen Richters, mit der Begründung, das letztinstanzlich entscheidende Arbeitsgericht habe die Vorlagepflicht zum EuGH ver1 BVerfGE 50, 290, 318 – Mitbestimmung; vgl. auch Raiser Grundgesetz und paritätische Mitbestimmung: die Vereinbarkeit der Entwürfe eines Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer mit dem Grundgesetz, 1975. 2 Raiser Die Aussperrung nach dem Grundgesetz: unter welchen Voraussetzungen kann die Aussperrung durch Bundesgesetz für sich allein oder im Zusammenhang mit einer allgemeinen gesetzlichen Regelung des Arbeitskampfrechts verboten oder eingeschränkt werden?, 1975.

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letzt, nimmt inzwischen neben der Gehörsrüge nach Art. 103 GG einen zentralen Platz im Arsenal der arbeitsrechtlichen Anwälte ein. Das liegt zum einen daran, dass die Bedeutung des europäischen Arbeitsrechts ständig zugenommen hat, wie auch die wachsende Literatur zum Thema zeigt.3 Auf einer Reihe von Gebieten, vom Gleichstellungsrecht bis zum Arbeitszeitrecht, ist es heute die wichtigste arbeitsrechtliche Rechtsquelle. Zum anderen sind die deutschen Gerichte, und gerade auch die Arbeitsgerichte, zwar immer vorlagefreudiger geworden, haben aber wohl die sehr strengen Vorgaben der Rechtsprechung des EuGH4 noch immer nicht voll internalisiert. Wenn nach dieser Rechtsprechung die nationalen Gerichte einen acte clair nur dann annehmen dürfen, wenn sie nicht nur selbst von der Richtigkeit ihrer Auslegung des Europarechts überzeugt sind, sondern auch sicher sein können, dass ihre Auslegung vom EuGH und allen Gerichten der Mitgliedstaaten geteilt wird, dann müsste noch viel öfter der EuGH beteiligt werden. Wie jedes andere Recht ist auch Europarecht umstritten, von der eigenen Auffassung abweichende Auffassungen würde man bei wirklich gründlicher Forschung irgendwo in Europa also häufig finden. Die Art. 101-Rüge ist also selten offenkundig abwegig. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht die Verletzung der Vorlagepflicht nur eingeschränkt überprüft, betrifft dieser eingeschränkte Maßstab nur das Ergebnis, nicht die Arbeit, die sich das Gericht machen muss. Denn auch für die Frage, ob ein Gericht die Vorlagepflicht „in offensichtlich unhaltbarer Weise“ gehandhabt hat,5 muss das fallrelevante materielle Europarecht erarbeitet werden. Die Frage, welche Auswirkungen die zukünftige europäische Verfassung für das Arbeitsrecht haben wird, fällt zwiespältig aus. Einerseits könnte man sehr kurz feststellen, es würde sich überhaupt nichts ändern – nämlich dann, wenn man nur alte und neue Texte vergleicht, andererseits ändert sich aber Grundsätzliches. Die bisher nicht rechtsverbindliche GrundrechteCharta 6 soll verbindlicher Teil der Verfassung werden, und das wird für europäisches wie nationales Arbeitsrecht nicht ohne Folgen bleiben. Aber auch die Kompetenzvorschriften, die für das Arbeitsrecht im Prinzip unverändert aus dem EG -Vertrag in den Verfassungsentwurf übernommen worden sind, stehen in einem neuen Kontext. Natürlich muss die Verfassung dafür erst einmal in Kraft treten. Bei Annahme der Einladung zur Teilnahme an dieser Festschrift war ich mir da 3 Vgl. Fuchs/Marhold Europäisches Arbeitsrecht, 2001; Krimphove Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2001; Schmidt Das Arbeitsrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2001; Heinemann Das kollektive Arbeitsrecht in der Europäischen Gemeinschaft, 1991. 4 Grundlegend EuGH, Rs. 283/81 – CILFIT, Slg. 1982, 3415. 5 BVerfGE 82, 159, 195 ff.; vgl. aber Bryde Grundrechte der Arbeit und Europa, RdA 2003, 5ff. 6 ABl 2000 Nr. C 364/1; Callies Die Europäische Grundrechts-Charta, in: Ehlers (Hrsg.) Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2003; Wallrabenstein Die Grundrechte, der EuGH und die Charta, KJ 2002, 381 ff.; Barriga Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002.

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noch ziemlich sicher, das Scheitern des Gipfels von Brüssel im Dezember 2003 schien mein Thema zu gefährden. Inzwischen ist im für die europäische Einigung typischen Verhandlungsprozess doch noch ein Kompromiss, der sehr nahe am ursprünglichen Text liegt, erzielt worden. Der Erfolg des Projekts im nun beginnenden Ratifizierungsverfahren, insbesondere in den Mitgliedsstaaten, die Referenden vorsehen, ist damit natürlich noch nicht gewährleistet. Ich vermute allerdings, dass selbst bei einem Scheitern der Verfassung die Erhebung des Grundrechts-Charta in rechtliche Verbindlichkeit, die im Zentrum dieses Beitrags steht, erfolgen wird.

I. Organisationsrecht Die Regelung der für das Arbeitsrecht relevanten Rechtsetzungskompetenzen stellt sicher, dass die Bedeutung des europäischen Arbeitsrechts sich nicht verringern wird. Die Kompetenzen der EG zur Rechtsetzung auf dem Gebiete des Arbeitsrechts und der Sozialpolitik werden unter lediglich redaktioneller Anpassung mehr oder weniger unverändert als Unionskompetenzen in die neue Verfassung übernommen. Obwohl der Konvent im Rahmen seiner vom Europäischen Rat auf der Sitzung in Laeken erteilten Aufgaben eine bessere Aufteilung der Zuständigkeiten der Kommission und der Mitgliedstaaten als wichtiges Ziel ansah, 7 hat der Entwurf generell an der bisherigen Kompetenzausstattung so wenig wie möglich geändert, um den Verhandlungsprozess nicht zusätzlich zu belasten. Das entspricht der Natur der europäischen Rechtsentwicklung. Der jeweilige acquis communautaire wird gesichert, die Kompetenzen werden im nächsten Reformschritt ausgeweitet oder auch nicht, aber eigentlich werden sie nie zurückgefahren. Insofern waren Hoffnungen, der Verfassungsprozess würde zu einer entscheidenden Rückholung nach Brüssel verlorener Kompetenzen in die Mitgliedstaaten (oder ihrer Teile, insbesondere die deutschen Länder) führen, wohl immer illusorisch. Der Konvent hat auf dem uns interessierenden Gebiet neue, in ihrer Bedeutung noch nicht ganz klare Koordinierungskompetenzen geschaffen. Nach Art. I–15 Abs. 2 des Verfassungsentwurfs trifft die Union Maßnahmen zur Koordinierung der Beschäftigungspolitik der Mitgliedstaaten, insbesondere durch die Festlegung von Leitlinien für diese Politik, nach Abs. 3 kann sie Initiativen zur Koordinierung der Sozialpolitik der Mitgliedstaaten ergreifen. 7 Vgl. Schwarze Ein pragmatischer Verfassungsentwurf – Analyse und Bewertung des vom Europäischen Verfassungskonvent vorgelegten Entwurfs eines Vertrags über eine Verfassung für Europa –, EuR 2003, 535, 542 ff.

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Auch die bisher bereits bestehende Zuständigkeit zur Koordinierung hat der Entwurf in Art. III –207 auf „Initiativen …, die darauf abzielen, den Austausch von Informationen und bewährten Verfahren zu entwickeln, vergleichende Analysen und Gutachten bereitzustellen sowie innovative Ansätze zu fördern und Erfahrungen zu bewerten“, ausgedehnt. Damit sollen allerdings keine neuen Rechtsetzungskompetenzen verbunden sein. Wichtiger für die Zukunft der Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten dürfte jedoch die klarere Aufteilung der Kompetenzen in ausschließliche, geteilte und ergänzende Zuständigkeiten (Art. I–12) sein. Was ausschließliche Kompetenz ist, musste bisher durch Auslegung ermittelt werden und war ausgesprochen streitig, auch weil die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips davon abhing. Zum Teil wurde der Begriff sehr extensiv ausgelegt. Besonders strittig waren dabei Kompetenzen zur Harmonisierung, da es dabei einerseits um Rechtsgebiete ging, auf denen es offensichtlich auch, sogar vorwiegend Kompetenzen der Mitgliedstaaten gibt, andererseits aber Harmonisierung nur durch die Union erfolgen kann. 8 Hier ist nunmehr mit einer engen Umschreibung der ausschließlichen Zuständigkeiten in Art. I-13 Klarheit geschaffen. Die Entwicklung der arbeitsrechtlichen Kompetenzen ist ein gutes Beispiel für den erwähnten Prozess einer Kompetenzausweitung der EG . Die entscheidenden Kompetenzerweiterungen erfolgten zunächst durch das Sozialprotokoll des Maastrichtvertrages, 9 dann vor allem durch dessen Inkorporation in den EG -Vertrag durch Amsterdam mit der Folge seiner Geltung für die gesamte Gemeinschaft. Wenn ein Mitgliedstaat eine Kompetenzerweiterung nicht will, sollte er nie halben Schritten zustimmen, z. B. einem unverbindlichen oder zunächst nicht für alle verbindlichen Protokoll, es wird mit Sicherheit einmal für alle verbindliches Recht sein. Ebenfalls bereits durch die Verträge von Amsterdam und Nizza ist der überwiegende Teil der arbeitsrechtlichen Rechtsetzung in das Mitentscheidungsverfahren einbezogen worden. Auch das Arbeitsrecht nimmt daher teil an der symbolisch besonders wichtigen Neuerung der Verfassung, der Neubenennung der Rechtsquellen. Die von Rat und Parlament gemeinsam erlassenen grundlegenden Rechtssätze werden in Zukunft Gesetz (die ehemalige Verordnung) und Rahmengesetz (die ehemalige Richtlinie) heißen, abgeleitetes Recht Verordnung (Art. I-33). Damit wird bei nicht europarechtsgebildeten deutschen Juristen 8 Zur Frage der ausschließlichen oder konkurrierenden Harmonisierungskompetenz der Gemeinschaft siehe einerseits Taschner in: von der Groeben/Schwarze EUV / EGV – Kommentar, 6. Aufl. 2003, Art. 94 Rn. 17 f. sowie andererseits Herrnfeld in: Schwarze EU -Kommentar, 2000, Art. 94 Rn. 18; Kahl in: Callies/Ruffert EUV / EGV-Kommentar, 2. Aufl. 2002, Art. 94 Rn. 10. 9 Das Protokoll und das ihm beigefügte Abkommen waren Bestandteil des Maastrichter Vertrages, BGBl . 1992 II , S. 1313 f.; ABl EG 1995 Nr. L 1/1.

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eine nach wie vor zu beobachtende Verwirrung hinsichtlich des Verordnungsbegriffs endlich beseitigt. Mit dem Verfahren der Mitentscheidung als Regelfall tut das Europäische Verfassungsrecht einen weiteren Schritt im Abbau des Demokratiedefizits. Trotz vieler Kritik10 übernimmt die Verfassung aber das Verfahren der Rechtsetzung unter Beteiligung der Sozialpartner und unter Ausschluss des Parlaments im Sozialkapitel (Art. III –212).

II. Grundrechte 1. Allgemeines Wenn die Grundrechte-Charta nunmehr zum rechtsverbindlichen Grundrechtskatalog der Union wird, so ist das der Schlusspunkt einer langen Entwicklung. Die Erkenntnis, dass nicht nur nationale, sondern auch supranationale Regierungsgewalt der Grundrechtsbindung bedarf, setzte sich im europäischen Integrationsprozess, angestoßen auch durch die nationalen Verfassungsgerichte,11 erst allmählich durch. Da geschriebene Grundrechte weitgehend fehlten, füllte der EuGH die Lücke mit ungeschriebenen Grundrechten, die er richterrechtlich aus der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten und den von ihnen ratifizierten Menschenrechtsverträgen, insbesondere der EMRK , entnahm.12 Die vielfach als ungenügend empfundene Ausstattung bloß mit ungeschriebenen Grundrechten sollte die Grundrechte-Charta mit einem geschriebenen Dokument beenden. Dabei sollte die zu ihrer Ausarbeitung eingesetzte Kommission, die sich selbst Konvent nannte, eigentlich nur den bereits bestehenden Status quo der gemeinsamen Grundrechtstraditionen und Menschenrechtsverträge kodifizieren, also nicht neues Recht schaffen.13 Dieses Mandat hat der Konvent wohl nach allgemeiner Meinung und durchaus fruchtbar und innovativ überschritten. Möglich wurde solche Innovation gerade auch deshalb, weil das Ergebnis, die Charta, kein rechtsverbindliches Dokument war.14 Wenn diese Charta nunmehr ohne Änderung in die Verfassung übernommen wird, ge10 Britz/Schmidt Die institutionalisierte Mitwirkung der Sozialpartner an der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft: Herausforderung des gemeinschaftsrechtlichen Demokratieprinzips, EuR 1999, 467 ff.; Langenbucher Zur Zulässigkeit parlamentsersetzender Normgebungsverfahren im Europarecht, ZEuP 2002, 265 ff. 11 BVerfGE 73, 339, 374 ff. 12 Grundlegend EuGH Rs. 29/69 – Stauder, Slg. 1969,419; Rs. 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125; Rs. 4/73 – Nold, Slg. 1974, 491. 13 Barriga (Fn. 6), S. 20 ff.; Callies Die europäische Grundrechts-Charta, in: Ehlers (Hrsg.) Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2003, § 19 Rn. 3. 14 Wallrabenstein (Fn. 6), S. 387.

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winnen die politischen Formulierungskompromisse im Konvent einen völlig neuen Charakter. Das ist ein gutes Beispiel für eine typisch europäische Rechtsentwicklung. An die Folgenlosigkeit der Einigung auf bloß unverbindliche Dokumente sollte man nie glauben. Ein ausformulierter, rechtlich verbindlicher Grundrechtskatalog wird die Natur des Europarechts, gerade auch im Arbeitsrecht, verändern. Das gilt vor allem auch in rechtssoziologischer Sicht. Die richterrechtlichen Grundrechte werden in der europarechtlichen Lehrbuchliteratur meist nur kursorisch erwähnt und erfahren keine der deutschen Grundrechtsdogmatik auch nur annähernd vergleichbare Behandlung.15 Bei den Grundrechten der Charta wird, noch bevor man sich mit ihrem Gehalt richtig auseinandergesetzt hat, darauf verwiesen, dass sie ohnehin nicht rechtlich verbindlich sind. Rechtlich verbindliche Grundrechte werden den europarechtlichen Diskurs in ganz anderem Maße prägen. Dabei geht es nämlich nicht nur um ihre Funktion als Abwehrrechte gegen Akte der europäischen Organe: Insoweit dürfte die bisherige Rechtsprechung des EuGH sich nur wenig ändern. Wegen ihrer weitreichenden Formulierungen, die wahrscheinlich nur möglich waren, weil man kein rechtsverbindliches Dokument aufsetzte, werden die Grundrechte vielmehr als Auslegungsmaximen, als „Richtlinien und Impulse“, um mit dem Lüth-Urteil zu sprechen,16 die gesamte Rechtsordnung beeinflussen. Insofern ist auch die kodifikatorische Natur des Grundrechtskatalogs von Bedeutung. Das grundrechtliche Richterrecht des EuGH konnte aus der Natur der Sache nur punktuell sein, da ein neues Grundrecht immer nur dann erfunden zu werden brauchte, wenn es zur Kontrolle eines Gemeinschaftsaktes erforderlich war. Der Konvent entschloss sich demgegenüber, einen umfassenden Grundrechtskatalog zu entwerfen, einschließlich von Grundrechten, mit denen die Union kaum in Konflikt kommen kann, wie dem Verbot der Todesstrafe (Art. II –62 Abs. 2). Das hat zwar vor allem, aber nicht nur symbolische Bedeutung: Zum einen umschreibt der Grundrechtskatalog auch die Identität der Wertegemeinschaft der Union, zum Beispiel für Aufnahmekandidaten. Zum anderen gewinnen die EU -Grundrechte zunehmend auch Bedeutung für die Mitgliedstaaten, und zwar nicht nur als Kontrollmaßstab bei der Anwendung von Gemeinschaftsrecht, sondern auch zur Rechtfertigung von Einschränkungen der Marktfreiheiten. Gerade in dieser Hinsicht sind die Grundrechte, die für das Arbeitsrecht wichtig sind, relevant, wie zu zeigen sein wird.

15 Verdienstvoll nunmehr aber die vergleichende Darstellung bei Ehlers (Hrsg.) Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2003. 16 BVerfGE 7, 198, 205.

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2. Grundrechtsschutz kollektiver Tätigkeit Das gilt besonders für den Grundrechtsschutz kollektiver Tätigkeit. Hier bringt die rechtliche Verbindlichkeit wichtige Klärungen. a) Koalitionsfreiheit Die Koalitionsfreiheit ist in Art. 11 EMRK und allen europäischen Verfassungen außer Großbritannien garantiert und war daher als Teil der gemeinsamen Verfassungstradition auch bisher schon ein europäisches Grundrecht.17 Das wird in Art. II –72 Abs. 1, der die Vereins- und Versammlungsfreiheit garantiert, bestätigt. Er lautet: „Jede Person hat das Recht, sich insbesondere im politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich auf allen Ebenen frei und friedlich mit anderen zu versammeln und frei mit anderen zusammenzuschließen, was das Recht jeder Person umfasst, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.“ Das etwas redundante dreimalige Betonen gerade der gewerkschaftlichen Betätigung geht auf Drängen der Gewerkschaften zurück, was nur insofern bemerkenswert ist, als es in der Literatur als einziges Beispiel dafür angeführt wird, dass die Beteiligung der Zivilgesellschaft bei der Entstehung der Charta Folgen hatte: 18 Der Konvent hat einen Tag lang 70 Verbände angehört, nach Meinung vieler Beobachter eher lustlos. Die gewerkschaftsfreundliche Formulierung des Art. II –72 soll das einzige greifbare Ergebnis im Text der Charta gewesen sein. b) Tarifautonomie Die Einbeziehung der Tarifautonomie in den europäischen Grundrechtsschutz war bisher nicht im gleichen Maße sicher. Der EuGH hat aber bisher jedenfalls ausdrücklich kein Gemeinschaftsgrundrecht der Tarifautonomie anerkannt.19 In seinen Schlussanträgen zu Albany, 20 die an sich ein Plädoyer für den Tarifvertrag als Instrument der Regelung von Arbeitsbeziehungen sind, 21 unternimmt Generalanwalt Jacobs eine breite europarechtliche, internationalrechtliche und verfassungsvergleichende Bestandsaufnahme, die zu einem negativen Ergebnis kommt. 17 Britz Tarifautonomie in der Europäischen Union, in: Britz/Volkmann Tarifautonomie in Deutschland und Europa, 2003, S. 34, 39; Däubler Die Koalitionsfreiheit im EG -Recht, in: Arbeitsrecht und Sozialpartnerschaft, FS Hanau, 1999, S. 489, 494; Kittner/Schiek in: AK- GG , 3. Aufl. 2001, Art. 9 Abs. 3 Rn. 76. 18 Barriga (Fn. 6), S. 25. 19 Britz (Fn. 17), S. 39. 20 Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs Rs. C-67/96 – Albany, Slg. 1999, I-5751. 21 Britz (Fn. 17), S. 44.

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Hier bringt Art. II –88 eine eindeutige Klarstellung. Das Recht, Kollektivverhandlungen zu führen, ist als eigenes Grundrecht geschützt, allerdings mit einer eher weichen Formulierung, nämlich unter Bezug auf das Gemeinschaftsrecht und die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. In der Sache ändert sich dadurch allerdings nicht zu viel. Dass der EuGH bisher kein Grundrecht der Tarifautonomie anerkannt hat, liegt nämlich daran, dass es aus seiner Sicht nicht notwendig war. Das Gericht hatte es nämlich nicht mit der Berufung auf ein solches Grundrecht zu tun, sondern umgekehrt mit Angriffen auf Tarifvertragssysteme unter Berufung auf europäisches Wettbewerbsrecht 22 und Grundfreiheiten. 23 Für deren Zurückweisung reichte dem EuGH ein objektiv-rechtlicher Schutz der Tarifautonomie, den das Gericht auch bisher schon den Verträgen entnimmt. Er sieht in den Regelungen des Titels XI ein Bekenntnis zur Gestaltung der Sozial- und Arbeitsbeziehungen durch die Tarifpartner, das sowohl Mitgliedstaaten wie europäische Organe zur Förderung der Tarifautonomie verpflichtet. 24 Die nunmehr grundrechtliche Gewährleistung der Tarifautonomie ist in zwei Richtungen von Bedeutung. Soweit europäische Maßnahme zur Beschäftigungsförderung Arbeitsbedingungen regeln, sind sie künftig an diesem Grundrecht zu messen. Die Umschreibung des Rechts in Art. II –88 und die Beschränkungsvorschrift des Art. II –111 gibt dem europäischen Gesetzgeber aber einen Handlungsspielraum, der die im Augenblick kompetenzrechtlich überhaupt denkbaren Maßnahmen auf europäischer Ebene tragen dürfte. Wichtiger ist der Schutz nationaler Tarifvertragssysteme. 25 Deren vom EuGH bisher schon angenommener Schutz gegenüber europäischem Wettbewerbsrecht und den Marktfreiheiten wird grundrechtlich verstärkt. Nationale Maßnahmen zur Absicherung tariflicher Mindestbedingungen gegenüber ausländischen Unternehmen sind gegenüber den Grundfreiheiten wegen der Bedeutung des Tarifvertragssystems grundsätzlich gerechtfertigt. 26

EuGH, Rs. C-67/96 – Albany, Slg. 1999, I-5863 ff. EuGH, Rs. C-164/99 – Portugaia Construções, Slg. 2002, I-787 ff. und EuGH, Rs. C-49, 50, 52–54, 68–71/98 – Finalarte, Slg. 2001, I-7831. (Vorabentscheidungsverfahren über die Auslegung der Richtlinie 96/71/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen – ABl 1997, L 18, S. 1). 24 Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs (Fn. 20). 25 So auch Britz (Fn. 17), S. 42. 26 Vgl. auch Lakies in: Däubler Kommentar zum TVG , 2003, § 5 Anhang 2, § 1 AEntG Rn. 26 ff. 22 23

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c) Arbeitskampf Hinsichtlich des Arbeitskampfrechts ist in Art. II –88 unter den kollektiven Maßnahmen zur Durchsetzung in Interessenkonflikten der Streik ausdrücklich genannt. Wie man sich fast denken kann, war das einer der strittigeren Diskussionspunkte im Konvent. 27 Das Streikrecht wanderte in den Entwurfsstadien mehrmals in den Text hinein und wieder heraus. Kritisiert wurde einmal, dass nicht gleichzeitig die Aussperrung garantiert wurde, zum anderen wurde wegen der eindeutigen Unzuständigkeit der Union für das Arbeitskampfrecht (Art. 137 Abs. 5, künftig Art. III –210 Abs. 6) die Notwendigkeit der Regelung bestritten, ein Argument, das, wie bereits gezeigt, den Konvent auch sonst nicht besonders beeindruckt hat und in diesem Fall auch nicht berechtigt ist. Zum einen hat die Union selbst Bedienstete. Deren Streikrecht war schon bisher anerkannt. 28 Interessanter als dieses Spezialproblem ist der Grundrechtscharakter des Streikrechts aber wiederum wegen möglicher Konflikte mit den Grundfreiheiten. Streiks, z. B. im Transportgewerbe, können den Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten massiv beeinträchtigen. Versuche, eine Art europarechtliches Streikverbot zu konstruieren, 29 knüpfen an die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Kommission/Frankreich 30 an, in der aus der Warenverkehrsfreiheit die Pflicht der Mitgliedstaaten entnommen wird, diese Freiheit auch gegen Aktionen von Privaten durchzusetzen. Im konkreten Fall ging es um gewaltsame Aktionen französischer Bauern gegen italienische und spanische Obst- und Gemüseimporte. In der Rechtssache Schmidberger31 hat der EuGH hingegen die Brennerblockaden zwar als Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit angesehen, aber als durch das Grundrecht der Versammlungsfreiheit gerechtfertigt. Dabei bezieht er sich sowohl auf das österreichische wie das europäische Grundrecht, wobei aber letztlich entscheidend für die Rechtfertigung des Eingriffs in die Warenverkehrsfreiheit die Absicherung des Grundrechts auch auf europäischer Ebene sein dürfte. 32 Noch deutlicher stellen die Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs auf die Anerkennung der Versammlungsfreiheit als europäisches Grundrecht ab. 33 Insofern klärt also die Aufnahme des Barriga (Fn. 6), S. 118. Vgl. Däubler (Fn. 17), S. 496 f. und ders. Anmerkung zum Urteil in den Rechtssachen 44, 46, 49/74, AuR 1976, 222, 223. 29 Meier Anmerkung zu EuGH , Rs. C-265/95 – Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I-6959 ff., EuZW 1998, 84, 87. 30 EuGH, Rs. C-265/95 – Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I-6959 ff. 31 EuGH, Rs. C-112/00 – Schmidberger, Slg. 2003, I-5659 ff. 32 EuGH, (Fn. 31), Rn. 69 ff. 33 Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs Rs. C-112/00 – Schmidberger Slg. 2003, I-5659, Rn. 100 ff. 27 28

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Streikrechts in den Grundrechtskatalog, dass durch Streiks verursachte Behinderungen der Warenverkehrsfreiheit nicht europarechtswidrig sind. Die gleichzeitige Aufnahme der Aussperrung konnte nicht erreicht werden, weil angesichts der Verfassungs- und Rechtslage der Mitgliedstaaten insoweit die Behauptung einer gemeinsamen Verfassungstradition nicht nahe lag. Die Unternehmer wurden in dem für die Willensbildung im HerzogKonvent typischen Handel an anderer Stelle entschädigt: Sie erhielten in Art. II –76 ein eigenes aus der Berufsfreiheit ausgegliedertes, Recht der Unternehmensfreiheit. 34 3. Berufsfreiheit Für das individuelle Arbeitsverhältnis ist das zentrale Grundrecht das der Berufsfreiheit. Da sich sowohl Arbeitnehmer wie Arbeitgeber auf das Grundrecht berufen können, ist es in Deutschland in Verfassungsbeschwerdeverfahren aus dem Bereich der Arbeitsgerichtsbarkeit häufig auf beiden Seiten zu berücksichtigen. Im Parlamentarischen Rat wurde Art. 12 GG betont auch als Grundrecht der Arbeitnehmer, als Grundrecht der Arbeit, angesehen. 35 Die spätere Entwicklung dieses Grundrechts zur allgemeinen Freiheit wirtschaftlicher Betätigung war wohl nicht vorhergesehen. Aus der Perspektive von 1949 war Berufsfreiheit als Abwesenheit von Arbeitszwang und Arbeitslenkung noch ein zentrales Anliegen. 36 Aus heutiger Sicht ist dieser Aspekt in den Hintergrund getreten, aber als Schutz beruflicher Mobilität gegen vertragliche Berufsverbote nicht überholt, wie die HandelsvertreterEntscheidung37 gezeigt hat. Daneben hat die Berufsfreiheit für Arbeitnehmer vor allem in der Begründung einer staatlichen Schutzpflicht beim Schutz des Arbeitsplatzes Bedeutung. Insbesondere in der Rechtsprechung zum Arbeitsplatzverlust im Prozess der Wiedervereinigung38 und der Entscheidung zum Kündigungsschutz in Kleinbetrieben 39 hat das Bundesverfassungsgericht diese Dimension des Grundrechts entfaltet. Die Regelung in der Europäischen Verfassung ist ausdifferenzierter. Berufsfreiheit und Unternehmerfreiheit sind unterschiedlichen Grundrechten zugewiesen (Art. II –75/76). Die Kontroverse um ein „Recht auf Arbeit“ wurde symbolisch dadurch gelöst, dass Art. II –75 ein „Recht zu arbeiten“ beigefügt wurde, interessanterweise im Rahmen eines Freiheitsrechts und Barriga (Fn. 6), S. 118. Bryde Art. 12 GG – Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, NJW 1984, 2177, 2178 f., 2182 f. mwN. 36 Bryde (Fn. 35), 2179 mwN. 37 BVerfGE 81, 242, 253 ff. 38 BVerfGE 92, 140, 150 ff. 39 BVerfGE 97, 169, 175 ff. 34 35

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nicht als soziales Recht im Abschnitt „Solidarität“. Wie weit es sich trotzdem als soziales Recht im Sinne einer objektiv-rechtlichen Verpflichtung zur Vollbeschäftigungspolitik auslegen lässt, ist offen. Die Schutzdimension ist in einer eigenen Bestimmung über den Schutz von Arbeitnehmern vor ungerechtfertigter Entlassung (Art. II –90) geregelt, so dass man ihn nicht argumentativ aus der Berufsfreiheit abzuleiten braucht. Die Berufsfreiheit hat in der Praxis des EuGH bisher keine große Rolle gespielt. Sie tritt nämlich in der gerichtlichen Praxis ganz hinter die Grundfreiheiten zurück. Auch für die Arbeitnehmer hat die Grundfreiheit der Arbeitnehmer-Freizügigkeit grundrechtlichen Charakter und ist konsequenterweise in Abs. 2 von Art. II –75 aufgenommen worden. Besonders bedeutsam ist dabei, dass der EuGH den Personenverkehrsfreiheiten und insbesondere der Arbeitnehmerfreizügigkeit unmittelbare Drittwirkung zuspricht. 40 Gleichzeitig ist dies ein gutes Beispiel dafür, dass auf europäischer Ebene andere Instrumente – in diesem Falle die Grundfreiheiten – den Grundrechtsschutz funktional übernehmen können. 4. Soziale Grundrechte Die Verfassung enthält, anders als das Grundgesetz, einen umfangreichen Katalog von sozialen Grundrechten, vor allem – aber nicht nur – im Kapitel „Solidarität“. Damit wird neben Freiheit und Gleichheit auch Brüderlichkeit in eine moderne grundrechtliche Form gebracht. 41 Dabei ist der für diesen Teil des Grundrechtskataloges üblicherweise verwandte Begriff der sozialen Grundrechte missverständlich, wenn man unter solchen Rechten Leistungsrechte versteht, die nur bedingt justitiabel sind. Solche enthält die Verfassung zwar auch: Den Schutz von Familie (Art. II –93), sozialer Sicherheit (Art. II –94), Gesundheitsschutz (Art. II –95) und vorsichtig formulierte Leistungsrechte als Zugangsrechte zu bestehenden Systemen, die aber nicht völlig abgeschafft werden dürfen (Art. II –89 Arbeitsvermittlung). Die für das Arbeitsleben wichtigen Rechte sind viel konkreter auf eine bestimmte Mindestqualität des Arbeitsverhältnisses gerichtet und verlangen vom Gesetzgeber eine bestimmte Ausgestaltung des Arbeitsrechts. Hierzu gehört als Restposten des heftig umstrittenen Mitbestimmungsthemas 42 das Recht auf Unterrichtung und Anhörung (Art. II –87) sowie der bereits erwähnte Schutz vor ungerechtfertigter EntZuletzt EuGH, Rs. C-281/98 – Agonese, Slg. 2000, I-4139. Hirsch Soziale Grundrechte in der Europäischen Grundrechtscharta, in: Schriftenreihe der Otto Brenner Stiftung Soziale Grundrechte in der Europäischen Grundrechtscharta, 2002, S. 9, 14; vgl. auch Weiss Grundrechte-Charta der EU auch für Arbeitnehmer?, AuR 2001, 374 ff. 42 Barriga (Fn. 6), S. 116. 40 41

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lassung (Art. II –90), der Jugendschutz am Arbeitsplatz (Art. II –92 Abs. 2) und der Anspruch auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen (Art. II –91 Abs. 1). Anders als die klassischen Freiheitsrechte war dieser Teil der Charta äußerst umstritten, 43 was man auch seiner kompromisshaften Formulierung anmerkt. Gegenstimmen kamen insbesondere aus Großbritannien und der Bundesrepublik. Das ist insofern nicht erstaunlich, als die Charta ja ihrem Anspruch nach die gemeinsamen Grundrechtstraditionen der Mitgliedstaaten nachzeichnet, also nicht rechtssetzend, sondern nur beschreibend ist. Anders als bei den Freiheitsrechten, bei denen die Gewährleistungen in einem europäischen Verfassungsvergleich in den verschiedenen Verfassungsordnungen mit großer Ähnlichkeit sowohl untereinander als auch im Verhältnis zur EMRK normiert sind, ist die Art und Weise, wie soziale Rechte in den Verfassungen niedergelegt sind, eines der wichtigsten Felder für Unterschiede zwischen den europäischen Verfassungen, 44 so dass man nicht ohne weiteres behaupten kann, sie gehörten zur gemeinsamen Grundrechtstradition. Zu dieser Tradition gehören jedoch nicht nur die Verfassungen der Mitgliedstaaten, sondern auch die von ihnen übereinstimmend ratifizierten Menschenrechtsverträge. 45 Im Vordergrund steht hier natürlich die Europäische Menschenrechtskonvention, aber diese Wirkung von Menschenrechtsverträgen ist nicht auf sie beschränkt. Sie gilt vielmehr auch für die internationalen und europäischen Garantien sozialer Grundrechte. Schon der Beschluss des Europäischen Rates zur Erarbeitung der Charta von Köln vom 3./4. Juni 1999 forderte daher die Berücksichtigung wirtschaftlicher und sozialer Rechte „wie sie in der Europäischen Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer enthalten sind“. 46 Der Konvent ging über diese Dokumente hinaus, 47 hielt sich aber im Rahmen der international verbindlich für die Mitgliedstaaten geltenden sozialen Menschenrechte, wenn man insbesondere den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 48 und das ILO -Recht einbezieht. Dieses internationale soziale Menschenrechtsvölkerrecht ist in Deutschland vielleicht deswegen nicht hinreichend im Bewusstsein, weil diese Verträge generell nicht ernst genug genommen werden. Wegen ihrer weicheren Durchsetzungsmechanismen gegenüber der EMRK besteht eine Neigung, Barriga (Fn. 6), S. 116 ff.; Hirsch (Fn. 41), S. 16. Grewe/Fabri Droits constitutionnels européens, 1995, S. 158 ff.; Pieters Soziale Grundrechte in den Mitgliedstaaten der EG , in: von Maydell (Hrsg.) Soziale Rechte in der EG , 1990, S. 21 ff. 45 Seit EuGH Rs. 4/73 – Nold, Slg. 1974, 491, Rn. 13, std. Rspr. 46 Hirsch (Fn. 41), S. 16. 47 Hirsch (Fn. 41), S. 17. 48 GA Res. 2200A ( XXI ) ( BGBl . 1973 II , S. 1570). 43 44

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sie fälschlich für bloßes soft law zu halten, obwohl sie rechtlich bindend sind und ihre Erfüllung auch durch internationale Verfahren kontrolliert werden. 49 Ihre Aufnahme in eine rechtlich verbindliche und mit Anwendungsvorrang ausgestattete EU -Verfassung muss diese Ignorierung beenden. Auch so weit sie keine einklagbaren Ansprüche enthalten, sind sie objektivrechtliche Richtlinien für das Verhalten der Organe und Auslegungsmaximen für die Gerichte und sie sind für den Gesetzgeber Legitimation zur sozialen Abfederung der Marktprozesse. In dieser Funktion dürfen sie nicht unterschätzt werden. 5. Gleichheitsrechte Ein weiteres zentrales Grundrechtsanliegen im Arbeitsrecht sind schließlich Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung. Mit dem Verbot der Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit in Art. 12 EGV und dem Gebot der Lohngleichheit von Mann und Frau in Art. 141 EGV sind Diskriminierungsverbote die ältesten grundrechtlichen Verbürgungen des Gemeinschaftsrechts überhaupt. Art. 13 EGV hat das Antidiskriminierungsrecht ausgeweitet und den Rat ermächtigt, Vorkehrungen zur Bekämpfung von Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu treffen. Die eigentliche Bedeutung des europäischen Antidiskriminierungsrechts liegt aber im sekundärrechtlichen Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsrecht. Hinsichtlich der Gleichberechtigung von Mann und Frau war das Grundrecht von Art. 141 EGV bis zum Amsterdamer Vertrag auf gleiches Entgelt beschränkt. Schon in dieser Begrenzung ist es vom EuGH kräftig ausgebaut worden, insbesondere durch den Ausschluss von mittelbaren Diskriminierungen, zum Beispiel der Diskriminierung von typischerweise von Frauen wahrgenommenen Teilzeitbeschäftigungen. 50 Die eigentliche dynamische Entwicklung der Durchsetzung der Gleichberechtigung im Arbeitsleben erfolgte aber aufgrund von Richtlinien, welche die Mitgliedstaaten in umfassender Weise auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Arbeitsleben verpflichten. Die Richtlinie 76/207/ EWG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichberechtigung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum be49 Vgl. Simma Der Schutz wirtschaftlicher und sozialer Rechte durch die Vereinten Nationen, VRÜ 1992, 382 ff.; Böhmert Das Recht der ILO und sein Einfluss auf das deutsche Arbeitsrecht im Zeichen der europäischen Integration, 2002, S. 83 ff.; Harris The European Social Charter, 2. Aufl. 2001, S. 293 ff. 50 EuGH, Rs. C-102/88 – Ruzius-Welbrink, Slg. 1989, 4311.

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ruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen51 ist zur Magna Charta der Gleichstellung im Arbeitsrecht geworden und hat in den allermeisten Mitgliedstaaten weit über das jeweilige nationale Verfassungsrecht hinausgehende Wirkung für die Gleichberechtigung von Mann und Frau gehabt. Dem Gleichstellungsrecht tritt nunmehr ein umfassendes Antidiskriminierungsrecht zur Seite. Auf der Grundlage des neuen Art. 13 EGV , der den Rat ermächtigt, Vorkehrungen zur Bekämpfung von Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu treffen, sind inzwischen zwei Richtlinien erlassen worden, eine auf Rassendiskriminierung begrenzte, 52 eine auf alle Diskriminierungsmerkmale des Art. 13 EGV bezogene. 53 Über ihre Umsetzung wird in der Bundesrepublik heftig gestritten, allerdings wohl stärker für andere Rechtsgebiete wie das Mietrecht als im Arbeitsrecht. Die aufgeregten und leidenschaftlichen Proteste (z. B. Johannes Braun „Übrigens: Deutschland wird wieder totalitär“54) sind durch eine bemerkenswerte Unkenntnis bereits bestehender völkerrechtlicher Verpflichtungen der Bundesrepublik wie auch der internationalen Rechtsentwicklungen gekennzeichnet. Der älteste der UN -Menschenrechtsverträge ist die in der Bundesrepublik fast überhaupt nicht beachtete Konvention zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung. 55 Faszinierenderweise beschränkt sich gleich dieser frühe völkerrechtliche Menschenrechtsvertrag nicht auf die Abwehrdimension der Grundrechte, sondern enthält so moderne Konzepte wie Schutzpflichten gegen faktische und mittelbare Diskriminierung und Drittwirkung. 56 Fehlende rechtliche Sanktionen gegen solche Diskriminierung beim Zugang zum Arbeitsmarkt, Wohnungen oder öffentlichen Einrichtungen bringt die Bundesrepublik seit langem in Konflikt mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen. Da die Bundesrepublik inzwischen die Individual-

RL 76/207/ EWG des Rates vom 9. Februar 1976. RL 2000/43/ EG des Rates zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft vom 29. Juni 2000, ABl L 180/S. 22 ff. 53 RL 00/78/ EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirk51

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lichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf vom 27. November 2000 (Allgemeine Gleichbehandlungsrichtlinie), ABl L 303/S. 16 ff. 54 Braun Forum: Übrigens – Deutschland wird wieder totalitär, JuS 2002, 424 f. 55 GA Res. 2106 ( XX ) ( BGBl . 1969 II , S. 962). 56 Bryde Die Tätigkeit des Ausschusses gegen jede Form von Rassendiskriminierung ( CERD), in: Klein (Hrsg.) Rassische Diskriminierung – Erscheinungsformen und Bekämpfungsmöglichkeiten, 2002, S. 61 ff. und die Beiträge in Klein (ed.) The Monitoring System of Human Rights Treaty Obligations, 1998.

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beschwerde nach dieser Konvention eröffnet hat, werden wir nicht lange auf entsprechendes Fallmaterial warten müssen. 57 In rechtsvergleichender Perspektive sind gerade im Dialog des zur Überwachung dieser Konvention eingesetzten Ausschusses unter Anknüpfung an die amerikanische und britische Gesetzgebung in den meisten europäischen Staaten rechtliche Vorschriften zur Durchsetzung von Diskriminierungsverboten auch im Privatrechtsverkehr erlassen worden. Die Drittwirkung von Diskriminierungsverboten dürfte daher international heute weitgehend anerkannt sein, nur das Land, in dem die Drittwirkung von Grundrechten erfunden wurde, tut sich damit offensichtlich schwer. Die Verfassung knüpft an diese Entwicklung an und stellt in Art. II –81 einen ungewöhnlich umfangreichen Katalog von Diskriminierungsverboten auf, der Diskriminierung „wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung“ verbietet. Sowohl Art. 13 EGV wie Art. II –81 des Verfassungsentwurfs sind offensichtlich nicht nur, nicht einmal in erster Linie, gegen eine Diskriminierung durch Unionsorgane gerichtet, sondern entfalten horizontale Wirkung.

III. Schlussfolgerungen In der augenblicklichen Situation haben meine Ausführungen natürlich etwas von Rechtsfuturologie. Wir wissen noch nicht, ob die neue Verfassung in Kraft tritt. Und wir wissen auch noch nicht, wie sie ausgelegt werden wird und diese Ausführungen sind kein Versuch einer ersten Kommentierung. Als Beobachter der Verfassungsentwicklung (und dem Rechtssoziologen Thomas Raiser geht es wahrscheinlich ähnlich) fasziniert mich vor allem der Rechtsetzungsprozess, bei dem trotz größter Kontroversen immer wieder Konsens erzielt wird, auf den man dann für den nächsten Schritt aufbaut. Der Weg der Grundrechte aus der Charta, die deshalb konsensual beschlossen werden konnte, weil sie nicht rechtsverbindlich sein sollte, in eine wiederum konsensual beschlossene rechtsverbindliche Verfassung, die nur deshalb konsensual beschlossen werden konnte, weil man am zuvor erreichten Konsens nicht rüttelte, ist ein faszinierendes Beispiel. Die Erfahrungen mit der europäischen Rechtsentwicklung erlauben eine Vorhersage. Alle Vorsicht, mit der die Grundrechte mit Einschränkungen und 57 Britz Die Individualbeschwerde nach Art. 14 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, EuGRZ 2002, 381, 390 f.

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Verweisen auf Europarecht und nationales Recht versehen wurden, wird nichts daran ändern, dass sie, wenn sie erst einmal in ihrer ausformulierten Form in einer rechtsverbindlichen Verfassung stehen, von Rechtsprechung und Lehre dazu benutzt werden, das europäische Arbeitsrecht und im Konfliktfall auch nationales Arbeitsrecht mit ihrer Hilfe auszulegen. Ein auf den wirtschaftlichen Wettbewerb bezogener Charakter des europäischen Arbeitsrechts ist damit endgültig überholt. Seine Weiterentwicklung wird grundrechtlichen Prinzipien verpflichtet sein. Das kann ihm nur gut tun.

Die Unternehmensperspektive im europäischen Insolvenzrecht Axel Flessner

Inhaltsübersicht Seite

I. II. III. IV. V.

Schuldrecht oder Unternehmensrecht? Insolvenzgesetze . . . . . . . . . . . Europa . . . . . . . . . . . . . . . Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . Würdigung . . . . . . . . . . . . . .

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I. Schuldrecht oder Unternehmensrecht? Der Ausgangspunkt des Insolvenzrechts ist einerseits eine Person, die ihrer Schulden nicht mehr Herr wird, und andererseits sind es ihre Gläubiger, die nicht mehr die vollständige und rechtzeitige Befriedigung ihrer Ansprüche erwarten können. Das Insolvenzrecht greift ein, um für die Gläubiger zu retten, was (noch) da ist, und im übrigen unter die notleidende Gläubiger-Schuldner-Beziehung, das Schuldverhältnis, einen Strich zu ziehen, der vielleicht endgültig ist. Wenn der Schuldner ein Unternehmen betreibt, kann man statt der Gläubiger und des Schuldners das Unternehmen in den Mittelpunkt des Insolvenzrechts stellen. Im Insolvenzverfahren wird dann nicht in erster Linie über die Abwicklung von Schuldverhältnissen entschieden, sondern im Vordergrund des Interesses steht die Existenz, die Position, die Verfassung des schuldnerischen Unternehmens als einer wirtschaftlichen Aktionseinheit, in der Arbeit und Kapital und – bei grösseren Unternehmen – auch das öffentliche Interesse zusammenkommen. Bei dieser Sicht müsste man zum recht verstandenen Insolvenzrecht auch die von der Insolvenz veranlasste Neuordnung der Arbeitsverhältnisse zählen, im Fall von Handelsgesellschaften auch die der Beteiligungsverhältnisse sowie, besonders bei Grossunternehmen, die rechtlichen Bedingungen, unter denen das öffentliche Interesse an dem Unternehmen geltend gemacht werden kann. Das Insolvenzrecht wäre dann ein Teil des so genannten Unternehmensrechts.

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Die erstgenannte Betrachtungsweise kann man die schuldrechtliche nennen; sie ist überall die traditionelle. Die andere, die unternehmensrechtliche Betrachtungsweise hatte in Deutschland eine Chance, als in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Reform des Insolvenzrechts in Angriff genommen wurde. Die vom Bundesjustizministerium eingesetzte Unternehmensrechtskommission schloss ihre Arbeit gerade ab,1 Karsten Schmidt schrieb an seiner Lehre vom Handelsrecht als dem Aussenprivatrecht der Unternehmen, 2 forderte die Konzipierung des Insolvenzrechts nach dem Bild der Unternehmensinsolvenz, 3 und es wurde schon erwogen, das Insolvenzrecht jedenfalls für Grossunternehmen „als Schlußstein eines Systems der Unternehmensverfassung“ zu begreifen und nach dessen Strukturprinzipien zu formen. 4 In die damals einsetzende Arbeit an einer Insolvenzordnung hat die unternehmensrechtliche Perspektive aber keinen Eingang gefunden. Die Lehre vom Unternehmensrecht war auf Insolvenz nicht vorbereitet. Sie will in erster Linie „die Unternehmen nicht mehr lediglich als Veranstaltung der Anteilseigner zu ihrem privaten Nutzen … begreifen, sondern als Institutionen, welche die Allgemeinheit mit wirtschaftlichen Gütern versorgen … und die als privatrechtliche Herrschaftszentren öffentlichen und politischen Einfluss ausüben“. 5 Sie fordert deshalb eine wissenschaftliche Perspektive, die auch die rechtliche Position der professionellen Unternehmensführer (der „Manager“), der Arbeitnehmer und des öffentlichen Interesses mit dem Gesellschaftsrecht zu einem umfassenden Organisationsrecht integriert. 6 Ausgeblendet bleiben in dieser Theorie die Gläubiger 7 – obwohl sie nicht anders als die Anteilseigner dem Unternehmen die materielle Ausstattung, das Kapital, verschafft haben, meistens im Betrag sogar mehr als die Anteilseigner. 8 In der Betriebswirtschaftslehre haben sie als Fremdkapitalgeber unmittelbar neben den Anteilseignern, den Eigenkapitalgebern, ihren Platz, und es wird beobachtet, dass namentlich in jüngerer Zeit die Unterscheidung zwischen Eigenkapital und Fremdkapital fliessend zu werden beginnt. 9 Da die Theo1 Bericht über die Verhandlungen der Unternehmensrechtskommission, hrsg. vom Bundesministerium der Justiz, Köln, 1980. 2 Karsten Schmidt, Handelsrecht, 1. Aufl., 1980, besonders §§ 3–5. 3 Karsten Schmidt ZIP 1980, 233–238; ders., Wege zum Insolvenzrecht der Unternehmen, Köln, 1990. 4 Flessner, Sanierung und Reorganisation, Tübingen, 1982, S. 4 f, 204 f, 318–320. 5 Thomas Raiser, Das Recht der Kapitalgesellschaften, 3. Aufl., 2001, § 6 Rn. 2. 6 Raiser (Fn. 5) § 6 Rn. 3, 8; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., 2002, § 1 II 4 b. 7 Bei Raiser und Karsten Schmidt werden sie aaO. nicht erwähnt. 8 Die durchschnittliche Eigenkapitalquote der deutschen Unternehmen liegt bekanntlich weit unter 50 %. 9 Über die Einteilungen und Übergänge zB Hahn, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 2. Aufl., 1994, S. 304–327, bes. S. 307–309; weitere Hinweise bei Balz, Sanierung von Unternehmen oder von Unternehmensträgern?, 1986, S. 5 Fn. 14.

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rie des Unternehmensrechts aber dem Kredit keine Aufmerksamkeit widmete, brauchte sie sich aus ihrer Sicht auch mit der Insolvenz nicht zu beschäftigen. Entscheidend für die nicht unternehmensrechtliche Perspektive der Insolvenzordnung dürfte jedoch die Politik gewesen sein. Die Koalition aus SPD und FDP war 1982 von der Koalition aus CDU und FDP abgelöst worden. Die Theorie des Unternehmensrechts, indem sie die Interessen der Allgemeinheit und der Arbeitnehmer in die „Unternehmensverfassung“ einzuarbeiten versucht, steht mehr „links“ als die Auffassungen, die das Gesellschaftsrecht selbständig halten wollen; 10 sie konnte in der anstehenden Reform des Insolvenzrechts nicht mehr mit politischem Wohlwollen rechnen. Die Reform erhielt vielmehr ein gegensätzliches „ordnungspolitisches Leitbild“. Das neue Insolvenzrecht sollte „marktkonform“, „vermögensorientiert“, nicht auf Unternehmen, sondern allein auf Gläubiger und Schuldner ausgerichtet sein.11 Aus diesem Leitbild entstand § 1 der Insolvenzordnung, der programmatisch die Befriedigung der Gläubiger zum Hauptziel des Insolvenzverfahrens erklärt und als weiteres Verfahrensziel nur die Befreiung des Schuldners von seinen restlichen Verbindlichkeiten anerkennt. Die Erhaltung des schuldnerischen Unternehmens durch einen „Insolvenzplan“ wird in dieser Perspektive ausdrücklich als eine Form der Gläubigerbefriedigung dargestellt. Die schuldrechtliche Sicht des Insolvenzrechts, die sich damit im deutschen Reformgesetz durchgesetzt hat, kontrastiert mit neuerer Insolvenzgesetzgebung in manchen europäischen Ländern, die ausdrücklich dem Unternehmen gewidmet ist (im folgenden II ). Sie harmoniert dagegen mit Normsetzung und rechtswissenschaftlichen Bemühungen um Gemeinsamkeit im europäischen Rechtsraum, die den Blick auf den Schuldner und seine Gläubiger, auf sein Vermögen und auf die Verbindlichkeiten richten (im folgenden III ). Eine Erklärung und eine Würdigung dieses Befundes sollen diesen Beitrag abschliessen (im folgenden IV und V).

II. Insolvenzgesetze Der prominenteste Fall eines unternehmensbezogenen Insolvenzrechts ist Frankreich. Die Reform von 1984 und 1985 brachte zwei Gesetze: ein Gesetz vom 1. März 1984 „über die Vorbeugung und die gütliche Regelung von UnZum politischen Standort s. Raiser (Fn. 5) § 6 Rn. 7 und Karsten Schmidt (Fn. 6). Balz, Die Ziele der Insolvenzordnung, in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, 2. Aufl., 2000, S. 3, unter Hinweis auch auf rechtspolitische Aufsätze des Bundesjustizministers Engelhard ZIP 1986, 1287, und des FDP-Fraktionsvorsitzenden Graf Lambsdorff ZIP 1987, 809. 10

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ternehmenskrisen“ 12 und das eigentliche Insolvenzgesetz vom 25. Januar 1985 „über die gerichtliche Sanierung und Liquidation von Unternehmen“.13 Das erstgenannte Gesetz ermächtigte die Präsidenten der Handelsgerichte, über Unternehmen ihres Bezirks Informationen bei verschiedenen Stellen einzuholen, bei Anzeichen von finanziellen Schwierigkeiten die Unternehmensleiter einzubestellen und ihnen nahezulegen, einen vom Gericht zu bestellenden Vermittler in Anspruch zu nehmen. Wenn der Vermittler es beantragt, kann das Gericht eine Klage- und Vollstreckungssperre gegen die bestehenden Forderungen von höchstens vier Monaten aussprechen und, wenn eine entlastende Schuldenregelung mit den wichtigsten Gläubigern zustandekommt, den nichtzustimmenden Gläubigern Stundungen von bis zu zwei Jahren auferlegen. In Art. 1 des zweitgenannten Gesetzes wurde programmatisch verkündet: „Ein gerichtliches Sanierungsverfahren wird eingerichtet, welches dem Schutz des Unternehmens, dem Fortbestand des Betriebs und der Arbeitsplätze und der Bereinigung der Verbindlichkeiten dienen soll“.14 In diesem Verfahren muss das Gericht von Amts wegen die Aussichten für die Erhaltung des Unternehmens prüfen und darf erst dann, wenn die Erhaltung aussichtslos erscheint, die Liquidation des Unternehmens organisieren. Nach einer bedeutenden zwischenzeitlichen Novellierung (1994) wurden beide Gesetze später (2000) ohne weitere Veränderung ihres Wortlauts in den Code de commerce überführt.15 Die eben zitierte programmatische Bestimmung ist heute Art. L 620–1 des Gesetzbuchs. Nach französischer Auffassung bilden beide Verfahren zusammen ein System sich intensivierender gerichtlicher Intervention, wenn Unternehmen in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Lehrbücher werden nicht mehr über Insolvenzrecht – traditionell: droit de faillites –, sondern über das Droit des entreprises en difficultés geschrieben.16 Die Gläubiger haben Rechte nur insoweit, als sie das vorrangige Ziel, die Unternehmens- und Arbeitsplatzerhaltung, nicht stören.17 Italien hatte schon 1979 ein Gesetzesdekret bekommen, welches erlaubte, staatsfinanzierte Grossunternehmen in einer Krise unter eine schützende 12 Loi n° 184–148 relative à la prévention et au règlement amiable des difficultés des entreprises. 13 Loi n° 85–98 relative au redressement et à la liquidation judiciaires des entreprises. 14 „Il est institué une procédure de redressement judiciaire destinée à permettre la sauvegarde de l’entreprise, le maintien de l’activité et de l’emploi et l’apurement du passif.“. 15 Als Teil einer umfassenderen recodification à droit constant, s. darüber Licari/Bauerreis ZEuP 2004, 132–152. 16 S. die Literaturangaben bei Schödermeier/Pérochon, National Report for France, in: Principles of European Insolvency Law, edited by McBryde/Flessner/Kortmann, Law of Business and Finance Series, vol. 4, Deventer (NL ) 2003, S. 305 f. 17 Einzelheiten bei Schödermeier/Pérochon (Fn. 16) 233–304; Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Bd. 3, 2003, Art. 102 EGInsO , Anhang II : Länderbericht Frankreich, S. 957–967.

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„Ausserordentliche Verwaltung“ (Amministrazione straordinaria) zu stellen.18 Das Gesetz, vom damaligen Industrieminister Prodi für eine konkrete Krisensituation konzipiert, hatte nur 10 Artikel und sah zunächst nur ein Moratorium vor, in dessen Schutz das Unternehmen weiterwirtschaften und das Industrieministerium sich um eine Sanierung kümmern konnte.19 Es wurde 1999 verallgemeinert (unter anderem mit Rücksicht auf das europäische Gemeinschaftsrecht) zu einem Sanierungsgesetz für jegliche insolvente Unternehmen, die bestimmte Grössenkriterien erfüllen. 20 Aus Anlass des Zusammenbruchs des Parmalat-Konzerns wurde ihm kürzlich eilends ein weiteres Gesetzesdekret zur Seite gestellt, das für noch grössere Unternehmen eine noch schnellere Verfahrenseröffnung erlaubt. 21 Seit der Verallgemeinerung ihrer Voraussetzungen und einer besseren Verzahnung mit dem allgemeinen Insolvenzrecht ist die Amministrazione straordinaria (entgegen ihrem Namen) ein regulärer Bestandteil des italienischen Insolvenzrechts. Sie wird in den Lehrbüchern so dargestellt und hat auch noch rechtzeitig die Qualifikation für die Aufnahme in den Katalog der mitgliedstaatlichen Insolvenzverfahren erhalten, die nach der Europäischen Insolvenzverordnung 22 innerhalb der Europäischen Union anzuerkennen sind. 23 Die unternehmensrechtliche Sicht und die Sorge um den Weiterbestand von Unternehmen, die in Schwierigkeiten geraten, haben auch in anderen Ländern die Gesetzgebung inspiriert, allerdings nicht zu derselben Eingriffsintensität geführt wie in Frankreich und Italien. In Belgien wurden mit der Reform von 1997 Bestimmungen geschaffen, die den Handelsgerichten und namentlich ihren Präsidenten erlauben, Informationen über wirtschaft18 Decreto-legge n. 26 vom 30. Januar 1979 über „Provvedimenti urgenti per l’amministrazione straordinaria delle grandi imprese in crisi“. 19 In Italien wurde es Legge Prodi genannt. Einzelheiten bei Maffei Alberti, National Report for Italy, in: Principles of European Insolveny Law (Fn. 16) 375–437; Stefan Reinhart, Sanierungsverfahren im internationalen Insolvenzrecht, Berlin 1995, S. 56–60. 20 Decreto legislativo n. 270 vom 8. Juli 1999 über „Nuova disciplina dell’amministrazione straordinaria delle grandi imprese in stato di insolvenza“; Gazzetta Ufficiale 9. 8. 1999, n. 185. Dieses Gesetz wird Legge Prodi bis genannt. – Das Verfahren ist zulässig für Unternehmen (auch solche von Einzelpersonen) mit mindestens 200 Arbeitnehmern und Verbindlichkeiten im Betrag von mindestens zwei Dritteln des Wertes der Aktiven und des letzten Jahresumsatzes. Kurze Darstellungen: Braggion RIW 2000, 438 f; Münchener Kommentar zur InsO (Fn.17) Länderbericht Italien, S. 1000 f. 21 Decreto legislativo n. 347 vom 23. Dezember 2003 über „misure urgenti per la ristrutturazione industriale di grandi imprese in stato di insolvenza“, inzwischen umgewandelt in ein Parlamentsgesetz. Nach dem derzeitigen Industrieminister wurde das Gesetzesdekret Decreto Marzano genannt, das jetzige Gesetz nennt man auch Legge Prodi ter. – Die Anwendungskriterien sind: mindestens 1000 Arbeitnehmer und Verbindlichkeiten von mindestens 1 Milliarde Euro (Art. 1). 22 Dazu bei Fn. 34. 23 Nach dem voreuropäischen (autonomen) internationalen Insolvenzrecht war die Anerkennungsfähigkeit für die Urfassung nach der Legge Prodi teilweise bezweifelt worden, s. dazu (kritisch) Reinhart (Fn. 19) 152, 177 f.

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liche Schwierigkeiten von Unternehmen ihres Bezirks bei verschiedenen Stellen einzuholen. Auf solcher Grundlage können sie dann von Amts wegen anregen, das neue Vergleichsverfahren in Anspruch zu nehmen, welches die Unternehmenserhaltung begünstigen und erleichtern soll. 24 In Schweden wurde 1996 das bisherige Vergleichsverfahren in ein „Verfahren zur Unternehmensrekonstruktion“ umbenannt und entsprechend umgestaltet. 25 In Österreich gibt es seit 1997 ein „Unternehmensreorganisationsgesetz – URG “. 26 Es ermöglicht dem Unternehmer ein Verfahren, welches dem eigentlichen Insolvenzverfahren („Konkurs“ oder „Ausgleich“) vorgeschaltet ist. Er kann es beantragen, wenn er noch nicht insolvent, das Unternehmen aber in seinem Bestand gefährdet ist. Der so genannte „Reorganisationsbedarf“ wird beim Vorliegen bestimmter Kennzahlen vermutet. Die Wirkungen des eröffneten Verfahrens sind allerdings beschränkt. Sie bestehen darin, den Unternehmer, der im Verfahren einen positiv begutachteten Reorganisationsplan vorgelegt und entsprechende Rechtsgeschäfte vorgenommen hat, vor den Regeln über den Eigenkapitalersatz zu schützen und die Anfechtbarkeit solcher Rechtsgeschäfte einzuschränken, wenn später gleichwohl ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Ausserdem kann die Geschäftsleitung im späteren Insolvenzverfahren persönlich haftbar gemacht werden, wenn sie beim Offenbarwerden der genannten Kennzahlen das Reorganisationsverfahren nicht beantragt hat. 27 England und Schottland sind ein besonderer Fall. Das Insolvenzrecht hat sich dort einerseits für natürliche Personen und andererseits für Kapitalgesellschaften (in Schottland auch Kommanditgesellschaften) getrennt entwickelt. In England wurden beide Gebiete erst durch den Insolvency Act 1986 zusammengeführt, in Schottland dauert die Verteilung auf zwei Gesetze noch an. 28 Auch in der Literatur werden beide Bereiche noch deutlich getrennt behandelt. 29 24 Einzelheiten bei Dirix/Verougstraete, National Report for Belgium, in: Principles (Fn. 16) 93–146; Brüls-Dehin RIW 1999, 338–342; Münchener Kommentar (Fn. 17) Länderbericht Belgien, S. 923–927. 25 Lag om företagsrekonstruktion: Svensk Författningssamling 1996:764; Einzelheiten bei Hallberg/Jungmann RIW 2001, 337 (342–344); Münchener Kommentar (Fn. 17) Länderbericht Schweden, S. 1048 f. 26 Bundesgesetz über die Reorganisation von Unternehmen, BGBl . I Nr. 114/1997. 27 Einzelheiten bei Dellinger/Oberhammer, Insolvenzrecht – Eine Einführung, Wien 2002, Rn. 58–61, 849–859; MünchKomm InsO (Fn. 17) Länderbericht Österreich, S. 1028 f. 28 Einzelheiten bei Stevens, National Report for England, und Gretton/McBryde, National Report for Scotland, beide in: Principles (Fn. 16) 195–229 und 529–571; MünchKomm InsO (Fn. 17) Länderbericht England und Wales, S. 937–947. 29 Fletcher, The Law of Insolvency, 2d edition, London 1996, Part I: Personal Insolvency, Part II : Company Insolvency; Goode, Principles of Corporate Insolvency Law, 2d edition, London 1997; Muir/Briggs, Muir Hunter on Personal Insolvency, London 1987; Pennington, Corporate Insolvency Law, 2d edition, London 1997.

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Mit der gesetzgeberischen und rechtswissenschaftlichen Hervorhebung der Insolvenz der Kapitalgesellschaft besteht in England und Schottland eigentlich ein guter Boden für eine Sicht des Insolvenzrechts, die das Unternehmen, seine Binnenbeziehungen (Gesellschafter und Arbeitnehmer) und seine Beziehungen zur Aussenwelt (Gläubiger, Abnehmer, Lieferanten, Staat) insgesamt in den Blick nimmt. Solches ist bisher jedoch nicht geschehen. In einem Standardwerk zum Gesellschaftskonkurs wird vielmehr konstatiert: „Given the pragmatic way in which English law in general has developed it is perhaps unsurprising, but nevertheless disconcerting, to discover the lack of a clearly articulated philosophy of law in this field“.30 Erst allmählich gebe es Aufmerksamkeit für die ausserschuldrechtlichen Aspekte des Insolvenzrechts. 31 Allerdings ist vor kurzem ein Gesetz zur Novellierung mancher Regelungen des Kapitalmarkt-, Gesellschafts-, Wettbewerbs- und schliesslich auch des Insolvenzrechts der Gesellschaften beschlossen worden, das den Namen Enterprise Act 2002 trägt. 32 Es handelt sich aber um ein Gesetz, das verschiedene Behörden und Verfahren neu einrichtet, sowie Einzeländerungen an bereits bestehenden Gesetzen vornimmt, darunter im vorletzten, dem zehnten Teil, auch am Insolvency Act. 33 Eine neue, unternehmensrechtliche Auffassung vom Insolvenzrecht wird man in dem Gesetz trotz seines Namens nicht sehen können.

III. Europa Der kurze Überblick hat gezeigt, dass die unternehmensrechtliche Sicht des Insolvenzrechts bei der jüngeren Gesetzgebung und Rechtswissenschaft in Teilen Europas eine Rolle spielt – zentral (Frankreich), für Teilbereiche oder am Rand des Insolvenzrechts (Belgien, Italien, Österreich), woanders jedenfalls dem Namen nach (Schweden, England und Schottland). Blickt man dagegen auf die gesamteuropäische Ebene, so zeigt sich davon nichts. Das gesamteuropäische Recht ist die Verordnung ( EG ) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren. 34 Sie regelt Zuständigkeit und Anerkennung für Insolvenzverfahren in der Europäischen Union sowie das in Insolvenzsachen anzuwendende Recht. Sie redet von Verfahren, vom Goode (Fn. 29) 35. Goode aaO. 35 f. 32 Der Text ist abrufbar beim British and Irish Legal Information Institute unter http://www.bailii.org/. 33 Einzelheiten über diesen Teil bei Jungmann/Bisping RIW 2003, 930–938. 34 ABlEG L 160 vom 30. 6. 2000, in Kraft seit 31. Mai 2002. In Deutschland nennt man sie Europäische Insolvenzverordnung und kürzt sie meistens ab als EuInsVO. Abdruck in Jayme/ Hausmann, Internationales Privat- und Verfahrensrecht, 11. Aufl., 2002, unter Nr. 260, und in Kommentaren zur Insolvenzordnung, MünchKomm InsO (Fn. 17); Heidelberger Kommentar, 3. Aufl., 2003, Kap. VII . 30 31

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Schuldner, seinem Vermögen, den Gläubigern, den Forderungen, der Vermögensverwertung und der Erlösverteilung; das Unternehmen kommt in ihr nicht vor. Nur die Niederlassung des Schuldners spielt eine Rolle, jedoch lediglich als Ort für eine sekundäre Zuständigkeit (Art. 3 Abs. 2–4). Die Rechtswissenschaft hat neuestens „Grundsätze des Europäischen Insolvenzrechts“ erarbeitet. 35 Sie sind das Produkt einer aus eigener Initiative zusammengekommenen Arbeitsgruppe von Vertretern des Insolvenzrechts aus zehn europäischen Ländern und stehen damit in der Reihe schon bekannterer anderer Vorhaben zur Entwicklung europäischer Rechtsgrundsätze, namentlich zum Vertragsrecht und ausservertraglichen Haftungsrecht. 36 Diese Grundsätze des europäischen Insolvenzrechts stellen ebenfalls auf Gläubiger und Schuldner, Vermögen, Forderungen und Verbindlichkeiten ab, nicht auf ein insolventes Unternehmen. Das Ziel des Insolvenzverfahrens beschreibt § 1.1 der Grundsätze so: „Im Insolvenzverfahren („Verfahren“) wird das Vermögen des insolventen Schuldners gesammelt und in Geld umgewandelt, das an die Gläubiger verteilt wird („Liquidation“), oder es werden die Verbindlichkeiten des insolventen Schuldners umgestaltet mit dem Ziel, den Schuldner wieder in die Lage zu versetzen, seine Verbindlichkeiten zu erfüllen („Reorganisation“). In dem Verfahren können Liquidation und Reorganisation verbunden werden.“ Die Begründung erklärt ausdrücklich, warum die Arbeitsgruppe für die Grundsätze nicht die Unternehmensperspektive gewählt hat. 37

IV. Erklärung Warum der Gegensatz zwischen der Bereitschaft zur unternehmensrechtlichen Perspektive in manchen Staaten und dem Beharren auf der schuldrechtlichen Sicht auf der gesamteuropäischen Ebene? Für die Europäische Insolvenzverordnung liegt eine Erklärung nahe. Sie regelt für Insolvenzverfahren die Zuständigkeit und die europaweite Anerkennung, sie ist insofern selbst Verfahrensrecht. Das Verfahrensrecht muss aber die möglichen Beteiligten einfach und klar benennen, es darf nicht zulassen, dass über die Fähigkeit zur Teilnahme am Verfahren lange gestritten werden kann. Deshalb ist zu beobachten, dass auch in den Rechtsordnungen mit unternehmensrechtlicher Perspektive nicht die Organisation „Unternehmen“, sondern Personen (natürliche oder juristische, einzelne oder mehrere gemeinsam) die Beteiligten im Verfahren sind. Die Zuständigkeits35 Principles of European Insolvency Law, mit deutscher, französischer und spanischer Übersetzung, s. Fn. 16. Nähere Darstellung bei Flessner ZEuP 2004, 887–907. 36 Zusammenfassende Darstellung der verschiedenen anderen Vorhaben und Ergebnisse durch Wurmnest ZEuP 2003, 714–744. 37 McBryde/Flessner, General Commentary, in: Principles (Fn. 16) 19 f.

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und Anerkennungsregelung in der EuInsVO muss diese durch das Verfahrensrecht vorgegebene Struktur notwendig nachzeichnen. Die Verordnung enthält allerdings auch internationales Privatrecht, indem sie nämlich für die Einwirkung des Insolvenzrechts auf die materiellen Rechtsverhältnisse (Eigentumslage, Bestand und Gehalt von Forderungen, Sicherungsrechte, Aufrechnungsbefugnisse, Schicksal von Verträgen) die zu befragende Rechtsordnung bestimmt, vor allem in den Artikeln 4 bis 15. Aber auch insofern kann die Verordnung nicht über Strukturvorgaben hinausgehen: auch im materiellen Privatrecht sind Inhaber von Rechten und Adressaten von Pflichten überall in Europa nur Personen – natürliche oder juristische – oder Personenmehrheiten, nicht aber Organisationen. Was für die Europäische Insolvenzverordnung unausweichlich erscheint, muss es aber nicht auch für die europäische Wissenschaft sein, die aus dem vielfältigen Normenstoff, den sie vorfindet, übergeordnete Begriffe bildet und unter Umständen leitende Ideen für das künftige, noch nicht positiv vorhandene Recht entwickeln will. Warum wurde bei der Aufstellung der Grundsätze des Europäischen Insolvenzrechts nicht die doch moderner erscheinende unternehmensrechtliche Perspektive eingenommen, die sich in den letzten Jahren verbreitet hat? Hier ist zunächst festzustellen, dass auch im Insolvenzrecht derjenigen Länder, die der unternehmensrechtlichen Perspektive Raum geben, mit insolvenzrechtlichem Wasser gekocht wird. Die Instrumente, mit denen das Insolvenzrecht arbeitet, sind auch dort keine anderen als die überall verwendeten: Beschlagnahme des Vermögens des Schuldners oder wenigstens Beaufsichtigung des Schuldners in der Verwaltung seines Vermögens, Schutz dieses Vermögens gegen den individuellen Zugriff der Gläubiger, Befreiung des Schuldners von unerwünschten Verträgen, Verwertung des Vermögens, Auskehrung des Verwertungserlöses an die Gläubiger nach dem Verhältnis und dem Rang ihrer Forderungen, Umgestaltung, Herabsetzung oder Auslöschung der Verbindlichkeiten des Schuldners. 38 Nur wenige Rechte gehen darüber hinaus, indem sie bei Kapitalgesellschaften zusätzlich die Umwandlung von Forderungen in Anteilstitel erlauben, wobei aber nicht klar ist, ob dies von einer Gläubigermehrheit oder dem Gericht auch gegen den Willen der Gesellschafter oder der Gesellschaftermehrheit beschlossen werden kann. 39 Weitere Umgestaltungen der Binnenorganisation oder der rechtlichen Aussenbeziehungen des Unternehmens für die Zeit nach Abschluss des Verfahrens durch Rechtszwang im Verfahren sind nirgends vorgesehen. Es zeigt sich mithin, dass die Unternehmensperspektive im Insolvenzver38

Einzelheiten in den Lehrbüchern und den Landesberichten in den Principles (Fn. 16,

35). 39 So die Angaben über Belgien, Italien, Niederlande, Schottland in: Principles (Fn. 16, 35) 72. In Spanien erlaubt das neue Konkursgesetz (s. Fn. 45) ausdrücklich (Art. 100 Nr. 2 Abs. 1), im gerichtlichen Vergleich (convenio) Forderungen in Anteilsrechte umzuwandeln.

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fahren auch da, wo sie herrscht, vorwiegend das insolvenzrechtspolitische Klima, die Theorie des Insolvenzrechts und auch die Machtverteilung innerhalb des Verfahrens bestimmt; sie herrscht gewiss dort, wo der Justiz oder gar der Regierung gesteigerter Einfluss im Verfahren zugestanden wird, der zur Unternehmenserhaltung genutzt werden soll. Die rechtlichen Mittel, mit denen dann auf die Rechtsverhältnisse eingewirkt wird, sind aber im wesentlichen überall die gleichen. Die Rechtswissenschaft, die zu einem gemeineuropäischen Gesamtbild kommen will, das sich in Grundsätzen ausformulieren lässt, muss sich tunlichst an die juristischen Instrumente und Effekte halten, und zwar an solche, die überall in Europa leicht verstanden und angenommen werden können. Die Auffassungen über die ökonomischen, sozialen und politischen Funktionen und Zwecke können in verschiedenen Ländern oder zu verschiedenen Zeiten erheblich divergieren. So mag die Insolvenzrechtspolitik je nach Land und Zeit eher die Gläubiger oder die Schuldner begünstigen, eher die Erhaltung von Unternehmen und Arbeitsplätzen oder die Markt- und Strukturbereinigung anstreben, oder eine Kombination solcher Ziele versuchen, und dem entsprechend auch den Verfahrensgang und die Machtverteilung im Verfahren gestalten. Immer aber wird sie die beschriebenen Mittel für die beschriebenen rechtlichen Effekte einsetzen. Die Konzentration auf diese engere, juristische Sicht des Insolvenzverfahrens erleichtert die Herausarbeitung des gemeinsamen Rechtsbestandes in Europa. 40 Die unternehmensrechtliche Perspektive kann einem Gesetzesvorhaben ökonomische und politische Anziehungskraft verleihen, aber für die juristische Betrachtung bleibt doch zu konstatieren: die Insolvenz ist nicht die Schwäche einer Organisation, sondern einer Person mit Verbindlichkeiten, also einer Schuldnerin. Für das europaweite Verständnis der Grundsätze ist das nüchterne und präzise Konzept des Schuldners dem vielleicht moderneren, aber fliessenderen Begriff des Unternehmens vorzuziehen. Die Erläuterung der Grundsätze bekennt sich deshalb ausdrücklich zu dem Satz: „An enterprise (business) may be set up, managed, owned, sold or closed by a person being a debtor, but in the Principles is not meant to be a debtor itself; a debtor may have but not be an enterprise“. 41

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So die „General Introduction“ zu den Principles (Fn. 16, 35) 4 f. McBryde/Flessner, General Commentary, in: Principles (Fn. 16) 20.

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V. Würdigung Für Thomas Raiser mag dieser Bericht zunächst eine Enttäuschung sein. Die Theorie eines Unternehmensrechts, die er seit seiner grundlegenden Habilitationsschrift in Deutschland prominent vertritt, 42 erscheint für das europäische Insolvenzrecht zurückgewiesen. Aber es ist nur zum Schein so. Man bewegt sich auf verschiedenen Ebenen. „Theorie“ ist Betrachtungsweise. Aus ihr sollen sich hier ein System und eine Dogmatik ergeben, die umfassender und fruchtbarer sind als das Gesellschaftsrecht allein und die dem Unternehmen einen sichtbareren und „richtigeren“ Platz verschaffen. Dieses Theorieergebnis ist aber noch lange nicht erreicht, die Entwicklungen und Auffassungen sind noch im Fluss. 43 Grundsätze des europäischen Privatrechts in einer europäisch zusammengesetzten Arbeitsgruppe aufzuspüren und europaweit akzeptabel zu formulieren, erfordert dagegen eine Arbeitsweise. Diese muss sich zunächst an das Bestehende halten und die in ihm geborgenen Gemeinsamkeiten herausarbeiten. Sie darf das Recht zwar auch weiterentwickeln wollen, zumal dort, wo die Gemeinsamkeiten nicht evident, aber vielleicht doch herstellbar sind; sie muss aber Begriffe verwenden, die europäisch schon gängig sind oder doch annehmbar erscheinen und nicht schon beim ersten Hinsehen Fragen aufwerfen. Zu diesen zweifelsfreien Begriffen gehört das Unternehmen als systembestimmende Zentralfigur allen Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrechts in Europa noch nicht, die Einzelperson, die Gesellschaft und die juristische Person aber ganz gewiss. Die Formulierung von europäischen Grundsätzen aus dem bestehenden Recht und den herrschenden Rechtsanschauungen verringert andererseits nicht die Chance, die Theorie des Unternehmensrechts europaweit nun auch für das Insolvenzrecht vorzutragen. Unter III wurde gezeigt, dass normative und wissenschaftliche Ansätze und Grundlagen in manch einem europäischen Land dafür schon vorhanden sind. Allerdings muss auch gesehen werden, dass die jüngste Neukodifikation, das spanische Konkursgesetz vom 9. Juli 2003, ganz klar die traditionelle, die schuldrechtliche Auffassung weiter hochhält. 44 In einem konkreteren Punkt wird man Thomas Raiser wohl wirklich enttäuschen müssen. In seiner Habilitationsschrift hat er die Erwartung formuliert, das Unternehmen werde eines Tages auch ohne vorgeschriebene weitere Formalakte, sondern einfach kraft seiner Organisiertheit als Subjekt mit Rechtsfähigkeit, als juristische Person angesehen werden. 45 Dies ist jedenfalls für das Insolvenzrecht in Europa unwahrscheinlich. Die juristische Person, Th. Raiser, Das Unternehmen als Organisation, Berlin 1969; ders. (Fn. 5) § 6. Th. Raiser (Fn. 5) § 6 Rn. 7; Karsten Schmidt (Fn. 6) § 1 II 4. 44 Ley 22/2003 (Ley concursal), Boletin Oficial del Estado 2003 Nr. 164, S. 26 905, mit ausführlicher Exposición de motivos, S. 26 905–26 913. 45 Th. Raiser (Fn. 43) 171. 42 43

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die nach eindeutigen gesetzlichen Regeln und formalen Rechtsakten entsteht und als Inhaberin von Rechten, Adressatin von Pflichten und im Rechtsverkehr Handelnde anerkannt wird, ist so sehr europäische und, darüber hinausgehend, internationale juristische Elementarerscheinung, dass ihre Ersetzung durch den viel unbestimmteren Begriff des Unternehmens für die Entwicklung eines europäischen Privatrechts kontraproduktiv wäre. In Deutschland hat Karsten Schmidt, der Handelsrecht und Gesellschaftsrecht ebenfalls im Unternehmensrecht aufgehen sieht, hervorgehoben, dass für die Positivierung dieses Unternehmensrechts der neben dem Unternehmen zu denkende „Unternehmensträger“ unentbehrlich bleibt. 46 Der „Träger“ ist in der deutschen juristischen Diskussion und der Gesetzgebung heimisch geworden, aber sprachlich nicht ideal. Unternehmen kann man nach gegenwärtigem allgemeinen und juristischen Sprachgebrauch gründen, betreiben, schliessen, auch – wenn die Organisation aufgebaut ist – besitzen, veräussern, vererben, aber nicht „tragen“. Der Begriff hat auf Deutsch immerhin den politischen Charme, Besitz und Handlungsmacht als Last erscheinen zu lassen. In andere europäische Sprachen ist er nicht übersetzbar. Setzen wir an seine Stelle aber die Person, die natürliche und die juristische, als Betreiberin und Inhaberin des Unternehmens, dann ist das gemeinte Nebeneinander von Unternehmen und demjenigen, der die Rechte und die Pflichten hat, weiterhin die Konzeption, mit der praktisch und wissenschaftlich europaweit gearbeitet werden kann. Im Insolvenzrecht ist diese Zentralperson wohl unverrückbar der Schuldner oder die Schuldnerin.

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Karsten Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl., 1999, § 4 IV 1–2.

Die Organisationsverfassung der italienischen Aktiengesellschaft nach neuem Recht – aus der Sicht des deutschen Juristen Heribert Hirte

Inhaltsübersicht Seite

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wahlmöglichkeit zwischen den Organisationsverfassungen . . . . . III. „Klassische“ italienische Unternehmensverfassung . . . . . . . . . 1. Persönliche Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Interessenkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Niederlegung des Amtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Pflichten, Exekutivkomitee und Vertretungsmacht . . . . . . . 6. Anfechtung von Organbeschlüssen . . . . . . . . . . . . . . . 7. Haftung des Geschäftsführers und Geltendmachung von Ersatzansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Kontrollstelle (collegio sindacale) . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Dualistische Unternehmensverfassung . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorstand (consiglio di gestione) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufsichtsrat (consiglio di sorveglianza) . . . . . . . . . . . . . . V. Monistische Unternehmensverfassung . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verwaltungsrat (consiglio di amministrazione) . . . . . . . . . . 2. Ausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Der Jubilar hat sich Zeit seines Lebens besonders intensiv mit der Organisation der Aktiengesellschaft einschließlich der Einbeziehung der Arbeitnehmerinteressen (neuhochdeutsch: stakeholder) in ihre Verwaltung befasst.1 Die folgenden Überlegungen wollen daher einen Überblick über die Organisationsverfassung der italienischen Aktiengesellschaft nach neuem Recht aus 1 Vgl. Raiser Mitbestimmungsgesetz, 4. Aufl., 2002, Einl. Rn. 62 ff.; Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, 3. Aufl., 2001, § 13 Rn. 16 ff.

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der Perspektive des deutschen Juristen geben.2 Sie beschränken sich auf das Aktienrecht, nicht weil das GmbH-Recht mit seiner jetzt erfolgten stärkeren Trennung vom Aktienrecht uninteressant wäre, sondern weil dies Stoff für einen zweiten Beitrag böte. Auch klammern sie die Reformen in Bezug auf die Hauptversammlung und deren Verhältnis zur Verwaltung aus. Zunächst: die italienische Aktienrechtsreform des Jahres 2004, wie sie durch das Decreto Legislativo Nr. 6/2003 vom 17. Januar 2003 zum 1. Januar 2004 umgesetzt wurde, ist ein großer Wurf. 3 Denn in Deutschland hat man – zumindest im Gesellschaftsrecht – längst die Hoffnung aufgegeben, große Gesetzgebungswerke „aus einem Guss“ zu schaffen und sich stattdessen der „Patchwork“-Gesetzgebungstechnik verschrieben. 4 Das dürfte sicher zu einem erheblichen Teil daran liegen, dass die Überantwortung eines großen Teils der kodifikatorischen Arbeit an eine nicht-parlamentarische Kommission – wie beim Decreto Legislativo – in Deutschland nicht möglich wäre. Einen gewissen Ausgleich bildet in Deutschland inzwischen die „Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex“: Sie vermag aber gerade nicht, formelles Gesetzesrecht zu schaffen, zieht aber gleichwohl – nicht ganz zu Unrecht – Kritik auf sich, weil sie im Ergebnis Rechtsregeln schafft und mit Sanktionen belegt, ohne sich parlamentarischer Kontrolle stellen zu müssen. 5 Sachlich merkt man dem neuen italienischen Recht an vielen Stellen US -amerikanische Einflüsse an; insbesondere die Principles of Corporate Governance 6 haben ihre Spuren hinterlassen. Das soll und kann hier ebenfalls nicht weiter vertieft werden. 7 Rechtshistorisch – und zugleich systematisch – bedarf es allerdings an dieser Stelle des Hinweises, dass manche der jetzt im „allgemeinen“ Gesellschaftsrecht verankerten Regelungen schon Vorläufer im Testo Unico della Finanza (TUF), 8 dem italienischen Kapitalmarktgesetz aus dem Jahr 1998 (legge Draghi), hat und dass dieses – in2 Die Ausführungen gehen zurück auf einen im Rahmen des Seminars „Per una lettura europea della riforma del diritto societario italiano“ am 24. Oktober 2003 in Foligno/Umbrien gehaltenen Vortrag. Das italienische Originalthema des Vortrages lautet: „Corporate governance: modelli di bilanciamento dei poteri e controlli“. 3 Gazzetta ufficiale n. 17 vom 22. 1. 2003, supplemento ordinario, n. 8. Überblick über die Reform in deutscher Sprache bei Hartl NZG 2003, 667 ff. 4 So der Sache nach Seibert AG 2002, 417, 420 („schrittweises Vorgehen“); kritisch zur „Aktienrechtsreform in Permanenz“ Zöllner im so überschriebenen Beitrag, AG 1994, 336. 5 Dazu Ulmer ZHR 166 (2002), 150, 152 (ansatzweise), 158 ff. (ausführlich); Claussen/ Bröcker DB 2002, 1199; Schüppen ZIP 2002, 1269, 1278; Wilsing FAZ v. 9. 3. 2002, Nr. 58, S. 21; zur Verteidigung der verfassungsrechtlichen Legitimation Seibert BB 2002, 581, 582. 6 American Law Institute (Ed.), Principles of Corporate Governance: Analysis and Recommendations (St. Paul, Minn. 1994). 7 Vgl. nur die Hinweise bei Galgano Il Nuovo Diritto Societario, in: Trattato di Diritto Commerciale e di Diritto Pubblico dell’Economia, 2003, S. 41, 303; Ragusa Maggiore, Trattato delle società, Bd. II , 2003, S. 59. 8 Testo unico delle disposizioni in materia di intermediazione finanziaria, Decreto Legislativo Nr. 58/1998 vom 24. 2. 1998; Gazzetta ufficiale n. 71 vom 26. 3. 1998.

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zwischen an das neue Gesellschaftsrecht angepasste – Gesetz auch jetzt noch nach Art. 2325-bis Abs. 2 9 neben den Regelungen des Codice civile weiter anwendbar ist.10 Stattdessen soll das neue Recht mit der Brille des deutschen Juristen beleuchtet werden, was zugleich, aber auch angesichts noch fehlender praktischer Erfahrungen mit dem neuen Recht, eine Fokussierung auf den neuen Gesetzestext bedeutet. Das führt naturgemäß zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit den vorhandenen Regeln, während die fehlende gesetzliche Erfassung eines Problems unter Umständen nicht mit gleicher Deutlichkeit auffällt. Erstaunlich ist insoweit aber vor allem, dass keinerlei Regelungen zur „unternehmerischen Mitbestimmung“ eingeführt wurden, obwohl im Zusammenhang mit der künftigen Gründung einer Europäischen Aktiengesellschaft durchaus auch ein Export dieses vor allem deutschen Ansatzes denkbar ist.11

II. Wahlmöglichkeit zwischen den Organisationsverfassungen Zentrales Element der Neuregelung ist die Einführung einer Wahlmöglichkeit zwischen mehreren – insgesamt drei – verschiedenen Organisationsverfassungen für die Verwaltung der Aktiengesellschaft: Nach wie vor gibt es das „klassische“ italienische Modell, in dem neben den Geschäftsführern (amministratori) das collegio sindacale (die „Kontrollstelle“, um bewusst einen Parallelbegriff aus dem deutschen Recht zu vermeiden) steht. Daneben ist aber seit Anfang 2004 die Möglichkeit vorgesehen, entsprechend dem hergebrachten deutschen Modell eine dualistische Unternehmensverfassung mit Aufsichtsrat und Vorstand zu wählen; möglich ist aber auch die Wahl der anglo-amerikanisch inspirierten monistischen Verfassung mit einem einzigen integrierten Verwaltungs- und Kontrollorgan.12 Vorbilder für eine solche Systemwahl bieten das französische Recht (Art. 225–57 Code de Commerce 2001)13 und inzwischen auch Art. 38 b) der Verordnung über das Statut der Europäischen Aktiengesellschaft (SE).14 Artikel ohne Gesetzesbezeichnung sind solche des Codice civile. Hierzu Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 65; ders., Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 74, 76. 11 Hierzu Hirte NZG 2002, 1, 7; zur deutschen Mitbestimmung aus italienischer Sicht Galgano (Fn. 7), S. 39 sowie in italienischer Sprache ausführlich Hirte, arel [Agenzia di Ricerche e Legislazione]-informazioni 2/2002, S. 51 ff.; korrigierter Abdruck (einschließlich der Fn.) in arel-informazioni 3/2002, S. 129 ff. 12 Zur Wahlmöglichkeit zwischen den Systemen als Kernstück der Reform Fortunato Le società 2002, 1317, 1319 ff.; Salafia Le società 2002, 1465 ff. 13 Zustimmend zur Wahlmöglichkeit früher bereits Hopt ZGR 2000, 779, 815; zur Lage in Frankreich auch der Hinweis bei Raiser (Fn. 1) § 13 Rn. 15. 14 Hierzu auch Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 65, 66; ders., Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 91; Santosuosso, Vita notarile 2003, 622, 623. 9

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Der italienische Gesetzgeber geht dabei so vor, dass er im neu gefassten Abschnitt VI -bis „Dell’amministrazione e del controllo“ des 5. Titels des Codice civile zunächst in einem Art. 2380 als Teil der „Disposizioni generali“ die grundsätzliche Möglichkeit der Systemwahl eröffnet. Wichtig ist dabei zum einen, dass vorbehaltlich abweichender Satzungsregelung das „klassische“ italienische System (weiter) gilt (Art. 2380 Abs. 1) – was bestehende italienische Aktiengesellschaften der Notwendigkeit enthebt, infolge der Aktienrechtsreform zwingend die Satzung anzupassen. Zweitens ist wichtig, dass regelungstechnisch das „klassische“ System den weitaus größten Raum einnimmt: Es wird in den Unterabschnitten 2 bis 4 des Abschnitts VI -bis geregelt, während das dualistische und das monistische System jeweils nur in einem Unterabschnitt (Unterabschnitt 5 bzw. 6) beschrieben werden, wobei letzterer gar nur vier Artikel umfasst. Das wird erreicht durch eine ausufernde Verweisungstechnik, die den Umgang mit den neuen Systemvarianten nicht gerade leichter macht; es bleibt nur zu hoffen, dass sich einmal jemand der Mühe unterzieht, die „Verweisungen aufzulösen“ und einen Text der beiden neuen Strukturmodelle zu präsentieren, der das Regelwerk der beiden neuen Organisationsformen ohne Verweisungen enthält. Insbesondere werden durch einen Generalverweis die Regeln über die Geschäftsführer (amministratori) des klassischen Systems (sistema ordinario o tradizionale) auf den Vorstand (consiglio di amministrazione) des dualistischen System oder den Verwaltungsrat (consiglio di gestione) des monistischen System für grundsätzlich entsprechend anwendbar erklärt (Art. 2380 Abs. 3).15 Da die Zahl der im Codice civile zur Verfügung stehenden Artikelnummern begrenzt war, wollte man nicht den ganzen Codice civile neu numerieren, sah sich der italienische Gesetzgeber zudem gezwungen, diverse Artikel mit Zusatzziffern – in Deutschland würde man a), b) usw. nehmen – zu versehen, was bis hin zu Art. 2409-noviesdecies (im Bereich der monistischen Unternehmensverfassung) reicht. Auch das erleichtert nicht gerade den Umgang mit dem Text. Die nach wie vor große Bedeutung des klassischen Systems zeigt sich auch daran, dass etwa Galgano in seinem Lehrbuch den beiden neuen Organisationsformen der italienischen Aktiengesellschaft gerade einmal vier von 110 Seiten dieses Bereichs widmet.16 Nicht angesprochen im Gesetz ist der in der Zukunft unter Umständen extrem wichtige dritte Punkt, nämlich die Frage, ob es irgendwelche inhaltlichen Vorgaben für die Wahl des einen oder anderen Systems gibt. Dafür ist in 15 Kritisch hierzu, weil die Verweisungstechnik den Besonderheiten der unterschiedlichen Systeme nicht Rechnung trägt, Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 91, 92. 16 Galgano (Fn. 7) S. 300–304 einerseits, S. 197–300 andererseits; hinsichtlich der fortbestehenden großen Bedeutung des klassischen Systems ganz ähnlich Caselli Contratto e impresa 2003, 149, 159.

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Erinnerung zu rufen, dass die unterschiedlichen Organisationsverfassungen eine Folge verschiedener historischer Entwicklungen sind und dabei – vor allem – auf die unterschiedlichen sozio-ökonomischen Kontrollstrukturen der Wirtschaft zurückzuführen sind.17 Die (im angelsächsischen Vorbild seitens des Gesellschaftsrechts) ohne eingebaute interne Kontrolle funktionierende monistische Verfassung ist dabei etwa vor dem Hintergrund zu sehen, dass der Kapitalmarkt eine starke Stellung bei der Kontrolle der Gesellschaften hat, während umgekehrt die dualistische Verfassung dafür sorgt, dass bei geringer Kontrolle durch den Kapitalmarkt – insbesondere auch infolge geringen Streubesitzes – eine interne Kontrolle der Verwaltung im Interesse der stakeholder von Gesellschaften stattfindet.18 Bemerkenswert ist es vor diesem Hintergrund, dass das dualistische Modell von italienischen Wissenschaftlern als in erster Linie für Aktiengesellschaften mit Streubesitz oder jedenfalls ohne kontrollierenden Aktionär als geeignet angesehen wird,19 was aber nicht ganz dasselbe ist. Zum Teil wird es auch als „Streitschlichtungsmodell“ bei miteinander verfeindeten Gesellschafterstämmen oder zur vereinfachten Gestaltung einer Unternehmensnachfolge vorgeschlagen; alle drei Modelle sollen im Übrigen ausländischen Muttergesellschaften die Wahl eröffnen, eine aus der Heimat bekannte Organisationsform auch auf der Ebene der italienischen Tochtergesellschaft zu „spiegeln“.20 Dazu wird bemerkenswerterweise auch gezählt, dass man glaubt, vor dem Hintergrund des italienischen Corporate Governance Kodex (Codice di Autodisciplina) und der dort nach US -Vorbild vorgesehenen Verpflichtung zur Einführung eines „internen Rechnungsprüfungsgremiums“ auch zur Einführung des monistischen Systems verpflichtet zu sein. 21 Andererseits wird hervorgehoben, dass die Entscheidung des italienischen Gesetzgebers für die (im Zweifel; Art. 2380 Abs. 1) Fortgeltung des klassischen Systems nachdrücklich zu begrüßen sei, solange die alternativen Verwaltungsysteme ihre Überlegenheit nicht unter Beweis gestellt hätten – was bislang nicht der Fall sei. 22 Zudem werde vor allem das dualistische System auch zu Hause – also bei uns 17 Hierzu Rossi Riv. soc. 2001, 6, 7 f.; Schander, Die Europa- AG und ihre Organverfassung vor den Herausforderungen eines modernen Kapitalmarkts. Eine rechtsvergleichende Untersuchung des europäischen, deutschen und italienischen Rechts, Diss. Jena, 2003, S. 159 ff. 18 Montalenti Riv. soc. 2002, 802, 805 (der in diesem Zusammenhang vom „watch-dogPrinzip“ spricht); Schander (Fn. 17) S. 188; in diese Richtung auch Raiser (Fn. 1) § 13 Rn. 11. 19 Atlante, Rivista del notariato LVII (2003), S. 531, 534 f.; Galgano (Fn. 7) S. 301 f.; Santosuosso Vita notarile 2003, 622, 637. 20 Atlante, Rivista del notariato LVII (2003), S. 531, 534 f.; zu den Vor- und Nachteilen der verschiedenen Systeme aus italienischer Sicht auch Galgano (Fn.7) S. 37 f. 21 Montalenti Riv. soc. 2002, 802, 826; Rossi Riv. soc. 2001, 6, 14 f.; Santosuosso Vita notarile 2003, 622, 638; Schander (Fn. 17) S. 207; etwas differenzierter Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 100. 22 Caselli Contratto e impresa 2003, 149, 150; Fortunato Le società 2002, 1317, 1322.

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in Deutschland – kritisiert. 23 Schon diese Unsicherheiten sprechen zumindest dafür, die vom Gesetzestext eröffnete Wahlfreiheit zwischen den verschiedenen Modellen unter bestimmten Voraussetzungen – die hier allerdings nicht näher herausgearbeitet werden können – einzuschränken. 24

III. „Klassische“ italienische Unternehmensverfassung Die schon angesprochene Verweisungstechnik bringt es mit sich, dass auch hier zunächst die „klassische“ italienische Unternehmensverfassung im Mittelpunkt stehen soll und hierbei auch Fragen anzusprechen sind, die qua Verweisung auch für die beiden anderen Modelle Bedeutung erlangen. Zunächst zur Begriffswahl: der italienische Gesetzgeber bezeichnet die Geschäftsleiter 25 als amministratori (Art. 2380-bis Abs. 1), was in der Folge mit „Geschäftsführer“ übersetzt wird (im Falle nur eines Geschäftsführers spricht man vom amministratore unico); hat die Gesellschaft mehrere Geschäftsführer, wird dementsprechend von einem consiglio di amministrazione gesprochen (Art. 2380-bis Abs. 3). Für den deutschen Juristen fremd ist dabei zunächst die Vorstellung, dass der Geschäftsführer der Gesellschaft nur auf der Grundlage des Gesellschaftsvertrages verbunden ist. 26 1. Persönliche Voraussetzungen Sehr fortschrittlich erscheint die Regelung, dass die Satzung die Bestellung zum Geschäftsführer vom Besitz besonderer Rechtschaffenheit (onorabilità) (wozu das Fehlen von Vorstrafen gezählt wird, was in diesem Punkt in Deutschland hinsichtlich bestimmter Strafen allerdings Gesetz ist; vgl. § 76 Abs. 3 Satz 3 und 4 AktG, § 6 Abs. 2 Satz 3 und 4 GmbHG), besonderen beruflichen Fähigkeiten oder besonderen Anforderungen an seine Unabhängigkeit abhängig machen kann (Art. 2387 Abs. 1 Satz 1).27 Das deutsche Recht ist hier über sehr weiche Kodexregelungen bislang nicht hinausgekommen (vgl. Empfehlung Nr. 5.4.1 DCGK); eine Festlegung der Frage in der Satzung wäre zudem wahrscheinlich mit § 23 Abs. 5 AktG unvereinbar. Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 91. Das Problem wurde ansatzweise gesehen von Galgano (Fn. 7) S. 302, wenn er auf die Gefahr eines Missbrauchs der dualistischen Verfassung in Fällen verweist, in denen es einen einflussreichen Großaktionär gibt, der durch die Wahl der dualistischen Verfassung seinen Einfluss auf die Geschäftsleitung noch gegenüber dem klassischen Modell verstärken will. 25 In der deutschen Terminologie der Oberbegriff für ( AG -)Vorstand und (GmbH-)Geschäftsführer; dazu Hirte Kapitalgesellschaftsrecht, 4. Aufl., 2003, Rn. 3.2. 26 Hierzu Galgano (Fn. 7) S. 249 f., 253 ff. mwN.; zum deutschen Recht, wo neben die körperschaftliche Bestellung noch ein Anstellungsvertrag tritt bzw. treten kann, Hirte (Fn. 25) Rn. 3.10 ff.; Raiser (Fn. 1) § 14 Rn. 45 ff ( AG ), § 32 Rn. 43 (GmbH). 27 Dazu Galgano (Fn. 7) S. 41, 252. 23 24

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Nicht verallgemeinert hat das italienische Recht Forderungen zur Verankerung eines Vertreters von Minderheitsaktionären im Geschäftsführungsorgan oder zur Zulassung von juristischen Organen als Geschäftsführer; 28 die im TUF für börsennotierte Gesellschaften schon bislang enthaltene Pflicht, solche Minderheitsvertreter vorzusehen, wurde aber auf die neuen Organisationsverfassungen erstreckt. Durch die Satzung können zudem Entsenderechte für bestimmte Aktionärsgruppen festgeschrieben werden. Mit einer maximalen Bestelldauer von drei Rechnungsperioden (tre esercizi) (§ 2383 Abs. 2) bleibt das italienische Recht hinter dem deutschen (§ 84 Abs. 1 Satz 1 AktG) zurück. Was aus deutscher Sicht fehlt, ist eine Regelung, zu welchem Zeitpunkt eine (zulässige; Art. 2383 Abs. 3) erneute Bestellung stattfinden darf. Auch in Deutschland findet sich insoweit allerdings bislang – nach diversen leidvollen Erfahrungen – nur eine Regelung im Kodex (Empfehlung Nr. 5.1.2 DCGK ). 2. Vergütung Interessant ist auch ein Blick auf den die Vergütung der Geschäftsführer regelnden Art. 2389. 29 Zunächst einmal ist wichtig, dass sie sowohl im Bestellungsakt wie durch Hauptversammlungsbeschluss festgelegt werden kann (Art. 2389 Abs. 1). Da – wie ausgeführt (oben III. vor 1.) – im italienischen Recht kein gesonderter Anstellungsvertrag neben die körperschaftliche Bestellung tritt bzw. treten kann, dürften diese Maßnahmen auch Wirkung haben. In Art. 2389 Abs. 2 wird sodann ausdrücklich zugelassen, dass die Vergütung auch ganz oder in Teilen aus Gewinnbeteiligungen oder Optionsrechten bestehen kann. Dass der dafür erforderliche Ausschluss des Bezugsrechts durch einen im Gesellschaftsinteresse liegenden Grund gerechtfertigt sein muss (Art. 2441 Abs. 5) und die Mitglieder der Geschäftsleitung nicht zu den „Arbeitnehmern“ i.S.v. Art. 2441 Abs. 8 gezählt werden, 30 verdient jedenfalls aus Sicht des Unterzeichners Zustimmung, obwohl die herrschende Meinung zu Art. 41 Abs. 1 der Zweiten (Kapital-)Richtlinie im deutschen Recht im Zusammenhang mit der Emission von stock options (und damit in wirtschaftlich besseren Zeiten) überwiegend entgegengesetzt entschieden hat. 31 Bemerkenswert ist aber vor allem, dass nach 28 Hierzu Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 74, 79 mwN. zu früheren Forderungen; ders., Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 91, 95; Fortunato Le società 2002, 1317, 1323. 29 Zum deutschen Recht Hirte in: Abeltshauser/Buck (Hrsg.), Corporate Governance. Tagungsband der 1. Hannoveraner Unternehmensrechtstage (2004), S. 75 ff. 30 Galgano (Fn. 7) S. 251. 31 Vgl. etwa die Begr RegE zum KonTraG (§ 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG n.F.), BT-Drucks. 13/9712, S. 24 = ZIP 1997, 2059, 2068; wie hier Frey in Großkommentar zum Aktienrecht, 4. Aufl., 2001, § 192 Rn. 120 mwN. zur (herrschenden) Gegenansicht in Fn. 367; Hirte in

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Art. 2389 Abs. 3 Satz 1 eine Bewilligung zusätzlicher Vergütungen für besondere Aufgaben – Stichwort: Beratungsleistungen – nur vom Gesamtgremium nach Stellungnahme der Kontrollstelle erfolgen darf. Schließlich kann bei entsprechender satzungsmäßiger Ermächtigung die Hauptversammlung eine Obergrenze („cap“) für die Bezüge der Geschäftsführer einschließlich derer für besondere Leistungen beschließen. Das geht weit über die in Deutschland bislang üblichen Begrenzungsmöglichkeiten hinaus; hier gibt es – seit Mai 2003 – nur eine auf Nr. 4.2.4 DCGK beruhende Empfehlung zur Offenlegung der individuellen Bezüge. Ob ein solches cap die ihm zugedachte Funktion erfüllt, ist fraglich; mit Blick auf die Rechte der Aktionäre als Eigentümer sollte man es aber jedenfalls erlauben. 32 3. Interessenkonflikte Eine außerordentlich gelungene Regelung stellt Art. 2391 dar. 33 Er normiert in seinem Abs. 1 zunächst eine Offenlegungsverpflichtung gegenüber dem Gesamtorgan für den Fall, dass sich der Geschäftsführer bei einer Abstimmung in einem Interessenkonflikt befindet. Handelt es sich um einen qua Delegation (dazu näher unten 5.) tätig gewordenen Geschäftsführer, muss er sich eines weiteren Tätigwerdens in dieser Sache enthalten und die Verantwortung an das Gesamtorgan zurückgeben (Art. 2391 Abs. 1 Hs. 2). Im Übrigen hat das Gesamtorgan über solche Fragen zu entscheiden, muss dabei aber besonders begründen, worin das Interesse der Gesellschaft an einer Fassung des Beschlusses besteht (Art. 2391 Abs. 2). Verstöße gegen diese Vorgaben begründen die Anfechtbarkeit des Beschlusses (Art. 2391 Abs. 3; dazu näher unten 6.) und Schadenersatzpflichten der Beteiligten gegenüber der Gesellschaft (Art. 2391 Abs. 4). 4. Niederlegung des Amtes Aus deutscher Sicht interessant ist die Regelung über die Amtsniederlegung eines Geschäftsführers. Diese hat nämlich nach Art. 2385 Abs. 1 Satz 2 nur dann unmittelbare Wirkung, wenn eine Mehrheit der vorgesehenen Geschäftsführer im Amt bleibt; ansonsten wirkt sie erst, wenn neue Geschäftsführer in dem Umfang ihr Amt angenommen haben, als es erforderlich ist, damit eine Mehrheit der Geschäftsführerpositionen wieder besetzt ist. 34 Karsten Schmidt/Riegger (Hrsg.), Gesellschaftsrecht 1999 – RWS -Forum 15, Köln, 2000, S. 211, 239. 32 Ebenso bereits Hirte (Fn. 29), S. 75, 86 f. 33 Hierzu Caselli Contratto e impresa 2003, 149, 155 f.; Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 71, 72 ff.; Galgano (Fn. 7) S. 260 f.; Santosuosso Vita notarile 2003, 622, 628 ff. 34 Dazu Galgano (Fn. 7) S. 247 f.

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Eine vollständige Vertreterlosigkeit, wie sie in Deutschland teilweise missbräuchlich herbeigeführt wird, um Zustellungen an eine Gesellschaft zu erschweren oder unmöglich zu machen, kann es so nicht geben. 35 Interessant ist auch die Möglichkeit der verbleibenden Geschäftsführer, einen ausscheidenen Geschäftsführer durch Kooptation mit Zustimmung der Kontrollstelle zu ersetzen, solange nur die Mehrheit der Geschäftsführer von der Hauptversammlung bestimmt ist (Art. 2386 Abs. 1). Das wird ergänzt durch die Pflicht der Kontrollstelle, im Falle des Wegfalls des einzigen oder aller Geschäftsführer unverzüglich eine Hauptversammlung mit dem Ziel einzuberufen, einen neuen oder neue Geschäftsführer zu wählen; der Kontrollstelle wird für diese Übergangszeit zugleich das Ersatz-Geschäftsführungsrecht eingeräumt (Art. 2386 Abs. 5). 5. Pflichten, Exekutivkomitee und Vertretungsmacht Von erheblicher Bedeutung für den Pflichtenstandard der Geschäftsführer ist Art. 2381 Abs. 6, nach dem diese auf der Grundlage ausreichender Informationen handeln müssen. 36 Die darin liegende Konkretisierung der Geschäftsführerpflichten durch Statuierung eines bestimmten Verfahrens geht andererseits einher mit einer Reduktion des Pflichtenstandards, als diese nicht mehr „allgemein“ den gesamten Geschäftsgang zu überwachen haben (so Art. 2392 Abs. 2 a.F.). 37 Wichtig aus deutscher Sicht – aber keine Neuerung für Italien38 – ist sodann, dass Art. 2381 Abs. 2 den Geschäftsführern gestattet, ihre Aufgaben teilweise auf ein Exekutivkomitee (comitato esecutivo) zu übertragen, das sich aus einem oder mehreren Geschäftsführern zusammensetzt. Voraussetzung ist eine dies gestattende Satzungsbestimmung oder auch ein einfacher Hauptversammlungsbeschluss. Nach Art. 2381 Abs. 3 können die Geschäftsführer Inhalt, Grenzen und etwaige Änderungen der Delegation auf den Ausschuss bestimmen. 39 Bestimmte Geschäfte – wie etwa auf die Verwaltung übertragene Kapitalmaßnahmen (Art. 2420-ter [Ausgabe von Wandelanleihen], Art. 2443 [genehmigtes Kapital]) oder die Aufstellung des Jahresabschlusses (Art. 2423) – sind von einer Übertragung auf ein Exekutivkomitee ausgeschlossen (Art. 2381 Abs. 4). Der bereits erwähnte Art. 2381 Zur deutschen Reformdiskussion Hirte ZInsO 2003, 833, 834, 837 f. Galgano (Fn. 7) S. 257; Santosuosso Vita notarile 2003, 622, 626. 37 Gesamtschuldnerische Haftung, wenn die Geschäftsführer „non hanno vigilato sul generale andamento della gestione“; hierzu Campobasso, Diritto Commerciale. 2. Diritto delle società, 5. Aufl., 2002, S. 367; Caselli Contratto e impresa 2003, 149, 153 ff.; Santosuosso Vita notarile 2003, 622, 631. 38 Zum bislang geltenden Recht Campobasso (Fn. 37) S. 366 ff., 385 ff. 39 Hierzu Galgano (Fn. 7) S. 262 ff.; ausführlich Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 67, 68 ff.; Salafia Le società 2002, 1465, 1468 f. 35 36

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Abs. 6 räumt andererseits den Mitgliedern des Gesamtorgans auch ein Informationsrecht gegenüber den Ausschussmitgliedern ein. 40 Ein etwa gebildeter Ausschuss hat dafür Sorge zu tragen, dass die Organisation, die Verwaltung und die Rechnungslegung dem Charakter und Umfang des Unternehmens angemessen ist (das entspricht dem wichtigen deutschen § 91 Abs. 2 AktG, allerdings ohne dass damit auch eine allgemeine Pflicht jeder Aktiengesellschaft zur Einführung eines auch formalisierten controlling systems begründet würde), und regelmäßig in den von der Satzung bestimmten Fristen – mindestens aber zweimal jährlich – über den Geschäftsgang und seine voraussichtliche künftige Entwicklung sowie über Maßnahmen zu berichten, die hinsichtlich Art oder Umfang für die Gesellschaft und ihre Tochtergesellschaften von besonderer Bedeutung sind (letzteres entspricht dem neuen deutschen § 107 Abs. 3 Satz 3 AktG) (Art. 2381 Abs. 5). Entsprechend der Möglichkeit zur Ausschussbildung muss auch nicht allen Geschäftsführern Vertretungsmacht gewährt werden. Sie braucht vielmehr nur einzelnen Geschäftsführern (als Einzel- oder Gesamtvertretung) eingeräumt zu werden (Art. 2383 Abs. 4), wobei dies – angesichts einer fehlenden Regelung – nicht zwingend auch die Mitglieder eines etwaigen Exekutivkomitees sein müssen. Umgekehrt kann ein (vollständiger) Ausschluss von der Vertretungsmacht hinsichtlich einzelner Geschäftsführer auch Platz greifen, wenn gar kein Exekutivkomitee gebildet wurde. Soweit Geschäftsführer Vertretungsmacht haben, ist diese allerdings umfassend (Art. 2384 Abs. 1). Entsprechend der schon bislang in Deutschland geltenden Lage (§ 82 Abs. 1 AktG) haben auch in Italien aus dem Innenverhältnis, insbesondere einer Überschreitung des satzungsmäßigen Unternehmensgegenstandes, herrührende Beschränkungen keine Wirkung mehr gegenüber Dritten (Art. 2384 Abs. 2). 41 6. Anfechtung von Organbeschlüssen Beachtung verdient die neue Regelung des Art. 2388 Abs. 4 Satz 1, nach der auch Beschlüsse des consiglio di amministrazione der Anfechtung unterliegen. Sie steht normalerweise nur den abwesenden oder widersprechenden Mitgliedern des Organs sowie der Kontrollstelle zu. Nach Art. 2388 Abs. 4 Satz 2 Hs. 1 – und das ist das eigentlich interessante – können aber auch Aktionäre einen Beschluss des consiglio anfechten, wenn dieser ihre

Galgano (Fn. 7) S. 257. Hierzu Caselli Contratto e impresa 2003, 149, 151 ff.; Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 67 f.; Galgano (Fn. 7) S. 272 f.; Salafia Le società 2002, 1465, 1466; Santosuosso Vita notarile 2003, 622, 624 f.; für Deutschland Hirte (Fn. 25) Rn. 1.39; Raiser (Fn. 1) § 14 Rn. 19 ( AG ), § 32 Rn. 14 ff. (GmbH); zum bislang geltenden italienischen Recht Campobasso (Fn. 37) S. 389 ff. 40 41

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Rechte verletzt; 42 wegen der Einzelheiten, insbesondere auch der Zulässigkeit einer Geltendmachung der Anfechtung, verweist Art. 2388 Abs. 4 Satz 2 Hs. 2 auf die die Anfechtung von Hauptversammlungsbeschlüssen regelnden Artt. 2377, 2378. Völlig zu Recht weist Galgano in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Neuregelung ein spazio vuoto di diritto43 geschlossen hat. Eine derartige Regelung – wie sie bislang nur im spanischen Recht existierte 44 – würde auch im deutschen Recht manche der Probleme lösen, die bei Entscheidungen der Verwaltung vor allem im Rahmen genehmigter Kapitalerhöhungen auftreten. 45 Allerdings: die Neuregelung erscheint insoweit inkonsistent, als nicht sichergestellt ist, dass der Aktionär von derartigen Entscheidungen überhaupt erfährt und – wenn er davon erfährt – sie auch bezüglich ihres Inhalts ausgehändigt bekommt. Denn das „Auskunftsrecht“ des Art. 2422 Abs. 1 erfasst nur das Aktienregister und die Entscheidungen der Hauptversammlung. 7. Haftung des Geschäftsführers und Geltendmachung von Ersatzansprüchen Art. 2392 Abs. 1 Satz 1 regelt die grundsätzliche Ersatzpflicht von Geschäftsführern gegenüber der Gesellschaft, wenn sie die ihnen durch Gesetz oder Satzung auferlegten Pflichten verletzen und nicht „mit der nach der Sache und der Funktion erforderlichen Sorgfalt“ gehandelt haben. 46 Das stellt eine – ausdrücklich rechtsvergleichend inspirierte – Abkehr vom Verweis auf die Pflichten des Mandatars dar, wie sie Art. 2392 Abs. 1 a.F. enthielt. 47 Hervorzuheben ist dabei zunächst die in Art. 2392 Abs. 2 geregelte ausdrückliche Schadensverhinderungs- und -minderungspflicht; anders als bei den allgemeinen Organpflichten (dazu oben 5.) kann man sich hier nicht 42 Im Anschluss an Cass.civ. 28. 3. 1996 n. 2850, Foro it. 1997, I, 235 (La Rocca) = Le società 1996, 1397 (Ambrosini) (zum genehmigten Kapital; Nr. 4.1 der Gründe); hierzu Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 71 mwN. zum insoweit bislang geltenden Recht; Salafia Le società 2002, 1465, 1467. 43 So Galgano (Fn. 7) S. 258, zur Neuregelung S. 260 sowie Caselli Contratto e impresa 2003, 149, 155 f., 158; Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 71; Santosuosso Vita notarile 2003, 622, 628; zum bislang geltenden Recht (eine Anfechtungsmöglichkeit verneinend) zuletzt Cass. 24. 1. 1990 n. 420, Riv. dir. comm. 1990, II , 361 = Le società 1990, 750 (Carnevali); dem folgend Campobasso (Fn. 37) S. 383 ff. (allerdings abweichend für den Fall der direkten Verletzung des subjektiven Rechts eines Aktionärs). 44 Hierzu Hirte in Großkommentar zum Aktienrecht, 4. Aufl., 2001, § 202 Rn. 74. 45 Hierzu Großkomm AktG-Hirte (Fn. 44) § 203 AktG Rn. 84 ff. (mit dem Vorschlag, das Kontrollverfahren in diesem Fall im Wege einer „verlängerten Anfechtungsklage“ an die Anfechtungsklage gegen Hauptversammlungsbeschlüsse anzulehnen). 46 Zum erforderlichen berufsbezogenen Sorgfaltsmaßstab des Art. 2392 Abs. 1 Satz 1 Galgano (Fn. 7) S. 278; Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 74; Salafia Le società 2002, 1465, 1468; zum früheren Recht ebenso bereits Campobasso (Fn. 37) S. 393. 47 Hierzu, auch zur Kritik an der Verweisung, Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 74; Campobasso (Fn. 37) S. 368 f.

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durch Einhaltung eines korrekten Verfahrens von der Haftung für eine Verletzung freizeichnen. 48 Andererseits wird von der grundsätzlich gesamtschuldnerischen Haftung (Art. 2392 Abs. 1 Satz 2) derjenige Geschäftsführer ausgenommen, der ohne eigenes Verschulden unverzüglich seinen Widerspruch gegen eine schadenstiftende Entscheidung formell bekundet und davon sofort den Vorsitzenden der Kontrollstelle unterrichtet hat (Art. 2392 Abs. 3). 49 Die Geltendmachung von Ersatzansprüchen geschieht im allgemeinen durch Beschluss der Hauptversammlung (Art. 2393 Abs. 1). Originell – und deutlicher Zeuge der Bilanzskandale der letzten Jahre – ist Art. 2393 Abs. 2, nach dem die Geltendmachung von Ersatzansprüchen für Handlungen in dem Geschäftsjahr, auf das sich der Jahresabschluss bezieht, im Rahmen der Beschlussfassung über den Jahresabschluss auch beschlossen werden kann, wenn sie nicht ausdrücklich Gegenstand der Tagesordnung ist. Aktionäre, die mit mindestens einem Fünftel am Kapital der Gesellschaft beteiligt sind, können neuerdings eine Geltendmachung dieser Ansprüche nach Art. 2393-bis Abs. 1 erzwingen.50 Für Gesellschaften, die sich an den Risikokapitalmarkt (mercato del capitale di rischio i.S.v. Art. 2325-bis51) wenden (und bei denen nach Art. 129 TUF eine solche Klagemöglichkeit auch schon seit einiger Zeit besteht), wird diese Grenze durch Art. 2393-bis Abs. 2 auf fünf Prozent herabgesetzt und zugleich auf das – sich aus Art. 129 TUF ergebende und dem deutschen § 147 Abs. 1 Satz 2 a.F. AktG entlehnte52 – bislang bestehende Erfordernis verzichtet, dass die klagewilligen Aktionäre sechs Monate im Besitz ihrer Aktien gewesen sein müssen. Interessant (und mit Vorbildern aus dem US -Recht) ist, dass die klagenden Aktionäre mit Mehrheit einen oder mehrere gemeinsame Vertreter für die Prozessführung wählen müssen (Art. 2393-bis Abs. 4). Schließlich ordnet Art. 2393-bis Abs. 6 an, dass Klagerücknahme oder Vergleich gestattet sind, jeder dafür erlangte Gegenwert aber der Gesellschaft zusteht. Art. 2394 Abs. 1 statuiert auch eine Haftung der Geschäftsführer gegenüber den Gläubigern der Gesellschaft für den Fall, dass diese ihre Pflichten zur Erhaltung des Gesellschaftsvermögens verletzt haben. Ihre Geltendmachung setzt nach Art. 2394 Abs. 2 voraus, dass das Gesellschaftsvermögen zur Befriedigung der Verbindlichkeiten nicht ausreicht. Die genannte Haf-

Galgano (Fn. 7) S. 257. Galgano (Fn. 7) S. 257 f., 279. 50 Hierzu Caselli Contratto e impresa 2003, 149, 156 ff.; Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 74, 76; Salafia Le società 2002, 1465, 1469 f.; Santosuosso Vita notarile 2003, 622, 631 ff. 51 Hierzu Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 65. 52 Hierzu Campobasso in Campobasso (Ed.), Le riforme del diritto commerciale: Testo Unico della Finanza (2001), Art. 129 TUF Anm. 5. 48 49

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tung ist deliktischer Natur (im übrigen ist sie vertraglicher) und wird als Sonderfall der deliktischen Generalklausel des Art. 2043 angesehen. 53 Art. 2395 Abs. 1 stellt schließlich klar, dass jeder Aktionär und jeder Dritte (!) Schadenersatzansprüche gegen die Geschäftsführer hat, wenn er durch deren schuldhafte Handlungen geschädigt wurde. 54 8. Kontrollstelle (collegio sindacale) Die Kontrollstelle ist ein für den deutschen Juristen unbekanntes Gesellschaftsorgan. 55 Entscheidend ist zunächst, dass es interne Kontrollaufgaben wahrzunehmen hat, die (heute56) von der externen Kontrolle durch den Abschlussprüfer zu unterscheiden sind (zu letzterer Art. 2409-bis ff.). Insoweit wird es als „Hilfsorgan der Hauptversammlung“ bezeichnet, und hier naturgemäß vor allem der Minderheitsgesellschafter. 57 Das Gremium setzt sich aus drei oder fünf58 aktiven zuzüglich zweier weiterer stellvertretender Mitglieder zusammen (Art. 2397 Abs. 1). Alle Mitglieder müssen als Abschlussprüfer oder in einem festgelegten vergleichbaren Beruf zugelassen sein (Art. 2397 Abs. 2). Die passive Wählbarkeit setzt die in Art. 2399 beschriebene Unabhängigkeit von der Gesellschaft voraus, zu der (unter anderem) gehört, dass ein sindaco nicht aufgrund von (Dauer-)Beratungsmandaten von der Gesellschaft abhängig sein darf (Art. 2399 Abs. 1 c).59 Die Kontrollstelle hat die Einhaltung von Gesetz und Satzung durch die Verwaltung zu überwachen, aber vor allem auch deren ordentliche Geschäftsführung, Organisation und Rechnungslegung (Art. 2403 Abs. 1). Die eigentliche Kontrolle der Rechnungslegung obliegt ihm nur im Falle des Art. 2409-bis Abs. 3. Danach kann ihr durch die Satzung die Abschlussprüfung übertragen werden, wenn es sich nicht um eine Gesellschaft handelt, deren Aktien i.S.v. Art. 2325-bis Abs. 1 an einem Kapitalmarkt gehandelt werden, und die Gesellschaft keinen konsolidierten Abschluss aufzustellen hat. 53 Galgano (Fn. 7) S. 283 ff. mwN., auch zur Gegenansicht (in Fn. 96), die die Geltendmachung derartiger Ersatzansprüche – wie im deutschen Recht – als Frage der Prozessstandschaft qualifiziert; Salafia Le società 2002, 1465, 1470. 54 Hierzu Galgano (Fn. 7) S. 287 ff.; Salafia Le società 2002, 1465, 1473 f. 55 Ausführlich Salafia Le società 2002, 1465, 1471 f.; zum historischen Hintergrund Campobasso (Fn. 37) S. 455 ff.; Galgano (Fn. 7) S. 291 f. 56 Zur jetzt eingeführten Trennung von Rechnungslegungs- und Geschäftsführungskontrolle Fortunato Le società 2002, 1317, 1322; zur abweichenden Lage nach bislang geltendem Recht, unter dem der collegio sindacale auch die Abschlussprüfung zu übernehmen hatte, Hartl NZG 2003, 667. 57 Galgano (Fn. 7) S. 296. 58 Nach bislang geltendem Recht wurde insoweit Wahlfreiheit seitens der Gesellschaft angenommen; so etwa Di Sabato, Manuale delle Societá, 5. Aufl., 1995, S. 511 f.; Silvetti/Cavalli, Le Societè per Azioni, Tomo Secondo: Gli organi e il controllo giudiziario, 2. Aufl., 1983, S. 513. 59 Hierzu Galgano (Fn. 7) S. 292.

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Bei börsennotierten Gesellschaften obliegt der Kontrollstelle auch die Überwachung des bei diesen einzuführenden Kontrollsystems (Art. 149 Abs. 1 c) TUF, der – ebenso wie Art. 150 Abs. 4 TUF – dessen Existenz als selbstverständlich voraussetzt) wie die der Ad-hoc-Publizität (Art. 149 Abs. 1 d) i.V.m. Art. 114 TUF ). 60 Hinsichtlich etwaiger Verstöße besteht nach Art. 149 Abs. 3 TUF eine Meldepflicht gegenüber der CONSOB (Commissione nazionale per le società e la Borsa [italienische Börsenaufsichtsbehörde]). Zur Durchführung seiner Kontrollaufgaben gewährt das Gesetz der Kontrollstelle ein weitgehendes Einsichts- und Kontrollrecht, das sich auch auf verbundene Unternehmen bezieht (Art. 2403-bis). Art. 2405 Abs. 1 statuiert die Teilnahmepflicht der sindaci an den Sitzungen der Geschäftsführer und an der Hauptversammlung. Ganz entscheidend ist, dass sich nach Art. 2408 Abs. 1 jeder Gesellschafter an die Kontrollstelle wenden kann, wenn nach seinem Eindruck Tatsachen vorliegen, die eine Beanstandung der Kontrollstelle erlauben würden; die Kontrollstelle hat über derartige Eingaben der Hauptversammlung zu berichten. Stammt die Eingabe (denunzia) von einer Aktionärsminderheit, die mit 2 % am Kapital der Gesellschaft beteiligt ist (bei Gesellschaften, deren Aktien i.S.v. Art. 2325-bis Abs. 1 an einem Kapitalmarkt gehandelt werden, ansonsten 5 %), hat die Kontrollstelle unverzüglich Ermittlungen einzuleiten und über deren Ergebnis gegenüber der Hauptversammlung zu berichten (Art. 2408 Abs. 2). Neben diesem Recht und die Pflicht zum Einschreiten der Kontrollstelle tritt nach Art. 2409 die Möglichkeit einer 5 %-igen (bei Gesellschaften, deren Aktien i.S.v. Art. 2325-bis Abs. 1 an einem Kapitalmarkt gehandelt werden, ansonsten 10 %igen) Aktionärsminderheit, im Falle des Verdachts schwerwiegender Pflichtverletzungen seitens der Verwaltung beim Gericht die Durchführung einer Sonderprüfung (auf Kosten der Antragsteller!) zu beantragen.61 Wird der Antrag von der Kontrollstelle, dem Aufsichtsrat, dem Kontrollausschuss (unten V. 2) oder bei einer Gesellschaft, deren Aktien i.S.v. Art. 2325-bis Abs. 1 an einem Kapitalmarkt gehandelt werden, vom Staatsanwalt gestellt, gehen deren Kosten nach Art. 2409 Abs. 7 zu Lasten der Gesellschaft; gleiches gilt für die nach Art. 152 Abs. 2 TUF ebenfalls antragsberechtigte CONSOB für den Fall, dass die Kontrollstelle ihrerseits ihre Antragspflichten nicht erfüllt. Das alles erinnert an die deutsche Regelung in § 142 AktG und die Kostenregelung des § 146 AktG. Nach Art. 2409 Abs. 3 kann das Gericht die Durchführung der Sonderprüfung für eine bestimmte Zeit aussetzen, wenn die Hauptversammlung neue Geschäftsführer wählt. Galgano (Fn. 7) S. 299. Hierzu Fortunato Le società 2002, 1317, 1327; Galgano (Fn. 7) S. 304 f.; Salafia Le società 2002, 1465, 1475 f.; Santosuosso Vita notarile 2003, 622, 634 ff. Vorgänger – und zugleich Spezialregelung für börsennotierte Gesellschaften ist Art. 128 Abs. 2 TUF ; dazu Galgano (Fn.7) S. 305; Santosuosso Vita notarile 2003, 622, 635. 60 61

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IV. Dualistische Unternehmensverfassung Aus den schon vorgestellten Gründen (oben II.) ist die Regelung der in Italien neu eingeführten dualistischen Verfassung äußerst knapp gehalten. 1. Vorstand (consiglio di gestione) Zunächst zum consiglio di gestione, der hier mit Vorstand übersetzt werden soll. Bemerkenswert ist hier zunächst, dass dieser (immer) aus mindestens zwei Personen zu bestehen hat (Art. 2409-novies Abs. 2). Das soll offensichtlich „Alleingängen“ vorbeugen 62 und deutet zum anderen darauf hin, dass die dualistische Verfassung für größere Unternehmen vorgesehen ist. Bemerkenswert ist aber vor allem, dass der Gesetzgeber auch für den Vorstand die Möglichkeit einer Ausschussbildung wie bei der neu gefassten „klassischen“ italienischen Unternehmensverfassung vorgesehen hat (Art. 2409-novies Abs. 1 Satz 2, dessen Hs. 2 insoweit auf Art. 2381 verweist). Das entspricht der unternehmensrechtlichen Realität, die gesetzlich abzubilden der deutsche Gesetzgeber bislang keinen Mut hatte. Die HöchstBestelldauer entspricht mit drei Geschäftsjahren derjenigen der Geschäftsführer im klassischen System (Art. 2409-novies Abs. 4). Eine Kooptation wegfallender Vorstandsmitglieder wie im klassischen System kommt aber nicht in Betracht, da Art. 2409-undecies Abs. 1 nicht auf Art. 2386 verweist. Für die Haftung und die Geltendmachung von Ersatzansprüchen verweist Art. 2409-decies zunächst auf Art. 2393 und 2393-bis. Systemkonform wird sie ergänzt durch Art. 2409-decies Abs. 1 Satz 1, nach dem auch der Aufsichtsrat Ersatzansprüche im Namen der Gesellschaft geltend machen kann. Interessant ist, dass nach Satz 2 dieser Norm ein Beschluss zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen, der mit 2/3-Mehrheit des Aufsichtsrats gefasst wurde, automatisch auch den Widerruf der Bestellung des betreffenden Vorstandsmitglieds umfassen soll. Das überzeugt nicht: Denn nach der deutschen Praxis ist die Geltendmachung von Ersatzansprüchen eine Vorstufe zum Widerruf der Bestellung, die – insbesondere wenn es um kleinere bzw. versicherte Schäden geht – das Vorstandsamt nicht berühren muss und nicht berühren soll. Die italienische Regelung kann damit sogar kontraproduktiv sein, weil sie die Geltendmachung von Schäden verhindern kann, wenn bzw. weil man „nur“ die Folge des Widerrufs der Bestellung vermeiden will. Aus deutscher Sicht erscheint wiederum wichtig, dass auch die Beschlüsse des consiglio di gestione unter denselben Voraussetzungen wie diejenigen von Geschäftsführern angefochten werden können (Art. 2409-undecies Abs. 2 i.V.m. Art. 2388) und dass auch für diese die schon erwähnten Re62

In diese Richtung Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 91, 92.

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gelungen über Interessenkonflikte gelten (Art. 2409-undecies Abs. 2 i.V.m. Art. 2391). Dass das Anfechtungsrecht nach Art. 2409-undecies Abs. 2 zusätzlich dem Aufsichtsrat zusteht, liegt auf der Hand. 2. Aufsichtsrat (consiglio di sorveglianza) Gewählt wird der Aufsichtsrat von der Hauptversammlung (Art. 2409duodecies Abs. 2). Deren Rechtsstellung wird aber im Vergleich zum deutschen Recht einerseits dadurch gestärkt, dass diese auch den Präsidenten des Aufsichtsrats zu wählen hat (Art. 2409-duodecies Abs. 8), andererseits aber dadurch eingeschränkt, dass mindestens ein Aufsichtsratsmitglied zugelassener Abschlussprüfer sein muss (Art. 2409-duodecies Abs. 4). Das nähert den neuen italienischen Aufsichtsrat dem „klassischen“ italienischen Modell mit der für dieses charakteristischen Kontrollstelle an (dazu auch unten VI.). Auch für die (mindestens drei; Art. 2409-duodecies Abs. 1) Aufsichtsratsmitglieder sieht das Gesetz eine Höchstbestelldauer von drei Geschäftsjahren vor (Art. 2409-duodecies Abs. 3). Wie schon für Geschäftsführer und wegen des Generalverweises in Art. 2409-undecies Abs. 1 auch für Vorstandsmitglieder kann die Satzung auch für Aufsichtsratsmitglieder besondere persönliche Anforderungen statuieren (Art. 2409-duodecies Abs. 6). Ob diese Norm genutzt werden kann, um eine Art unternehmerischer Mitbestimmung im Aufsichtsrat (zum Fehlen einer gesetzlichen Regelung in diesem Punkt bereits oben I. a.E.) zu verankern (und entsprechendes müsste auch für die anderen Regelungen über besondere persönliche Anforderungen an Organmitglieder gelten), lässt sich im Moment nicht sicher beurteilen. Die Satzung kann daneben weitere Voraussetzungen für die Wählbarkeit von Aufsichtsratsmitgliedern aufstellen, insbesondere in Form von Inkompatibilitätsregelungen und Begrenzungen der zulässigen Mandatszahl (Art. 2409-duodecies Abs. 11). Hinsichtlich der Kompetenzen des Aufsichtsrats ragt seine Personalkompetenz für Bestellung und Abberufung der Vorstandsmitglieder heraus; diese umfasst – allerdings vorbehaltlich abweichender Satzungsregelung – auch die Kompetenz zur Festlegung der Vergütung (Art. 2409-terdecies Abs. 1 a). Die oben beschriebenen Kontrollrechte der Kontrollstelle (Art. 2403 Abs. 1 und 2409) gelten entsprechend für den Aufsichtsrat.

V. Monistische Unternehmensverfassung Der letzte Blick gilt der Regelung der monistischen Unternehmensverfassung, die erst während des Gesetzgebungsverfahrens als zusätzliche Option in das neue Aktienrecht aufgenommen wurde. 63 Hier ist zunächst die Be63

Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 91.

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schreibung dieses Modells durch den italienischen Gesetzgeber von Interesse: Danach handelt es sich um das Verwaltungssystem, „das durch einen Verwaltungsrat (consiglio di ammministrazione) und einen aus seiner Mitte gebildeten Ausschuss“ 64 charakterisiert ist (Art. 2409-sexiesdecies). 1. Verwaltungsrat (consiglio di amministrazione) Ausschließlich diesem Gremium steht nach Art. 2409-septiesdecies Abs. 1 die Geschäftsführung der Gesellschaft zu. Nach Art. 2409-septiesdecies Abs. 2 – hier merkt man den US -Einfluss und hier liegt zugleich der Unterschied zur deutschen GmbH – müssen ihm zu mindestens einem Drittel Personen angehören, die die für die Mitglieder der Kontrollstelle (i sindaci) aufgestellten Unabhängigkeitsvoraussetzungen (Art. 2399) erfüllen. 2. Ausschuss Der Verwaltungsrat hat vorbehaltlich abweichender Satzungsregelung die Zahl der Ausschussmitglieder für den aus seiner Mitte zu bildenden Ausschuss festzulegen und diese zu benennen (Art. 2409-octiesdecies Abs. 1 Satz 1). Nur für Gesellschaften, deren Aktien i.S.v. Art. 2325-bis Abs. 1 an einem Kapitalmarkt gehandelt werden, verlangt das Gesetz, dass der Ausschuss aus mindestens drei Personen bestehen muss (Art. 2409-octiesdecies Abs. 1 Satz 2). Die Mitglieder des Ausschusses selbst müssen sämtlich die Unabhängigkeitsanforderungen erfüllen, die hinsichtlich des Verwaltungsrates insgesamt für ein Drittel seiner Mitglieder gelten. Sie müssen zudem die besonderen persönlichen Anforderungen hinsichtlich Rechtschaffenheit und beruflicher Fähigkeiten (onorabilità e professionalità) erfüllen, die die Satzung vorgibt – bzw. (wohl) vorgeben muss. Und sie dürfen schließlich nicht einem etwaigen comitato esecutivo angehören, dessen Bildung nachArt. 2409-noviesdecies Abs. 1 i.V.m. Art. 2381 Abs. 2 auch bei monistischer Verfassung zulässig ist. Schließlich dürfen ihnen seitens der Gesellschaft keine sonstigen (auch unentgeltlichen) Geschäftsführungsaufgaben seitens der Gesellschaft oder der ihr verbundenen Unternehmen übertragen sein (Art. 2409-octiesdecies Abs. 2). Der Widerspruch, dass der Verwaltungsrat selbst seine eigenen Kontrolleure bestellt,65 wird dadurch freilich nicht beseitigt. Anders als bei Aktiengesellschaften, die einem der beiden anderen Systeme unterliegen (dazu oben III. 5), verlangt der italienische Gesetzgeber 64 Hierzu ausführlich Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 100 ff., 102 ff.; Fortunato Le società 2002, 1317, 1325 f.; Salafia Le società 2002, 1465, 1473. 65 Nachdrücklich kritisch hierzu Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 100, 102 f. Zu (angeblichen) Kontrolldefiziten im monistischen System auch Fortunato Le società 2002, 1317, 1325 f.

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bei Wahl des monistischen Systems aber zwingend die Einführung eines auch formalisierten controlling systems (ähnlich dem deutschen § 91 Abs. 2 AktG), selbst wenn die Gesellschaft nicht börsennotiert ist (zu diesen oben III. 8); das ergibt sich indirekt aus Art. 2409-octiesdecies Abs. 5b).

VI. Zusammenfassung und Bewertung Zusammenfassend hervorzuheben ist zunächst sicher die Einführung einer Wahlmöglichkeit zwischen den verschiedenen Verwaltungssystemen im Aktienrecht. Dabei überrascht die Leichtigkeit, mit der sich die in diesem Punkt doch jahrzehntelang unvereinbaren Positionen der Verfechter unterschiedlicher Kontrollsysteme aufeinander zu entwickeln, indem sie zumindest die Gleichwertigkeit der Systeme akzeptieren. 66 Das lässt den Schluss zu, dass die rechtliche Ausgestaltung der Organverfassung als „klassisch“, dualistisch oder monistisch jedenfalls für die Qualität der Kontrolle des Managements in der Aktiengesellschaft nicht entscheidend ist; erste italienische Stellungnahmen zum neuen Recht sehen denn auch den neuen Aufsichtsrat als nichts anderes als ein collegio sindacale in anderem Gewand und halten den Unterschied zwischen den Organisationsverfassungen nur noch für begrifflicher Natur („meramente nominalistica“). 67 Völlig zu Recht wird daher in der italienischen Diskussion der erweiterten Möglichkeit von Aktionärsklagen eine ebenso große Bedeutung beigemessen, und andererseits wird zu Recht darauf verwiesen, dass das deutsche Modell zwingend auch mit der unternehmerischen Mitbestimmung verknüpft sei, ein Ansatz der dem italienischen Recht andererseits fremd sei. 68 Als zweites Charakteristikum ist aber sicher die Stärkung der Verwaltung hervorzuheben, die mit einer Schwächung der Hauptversammlung einhergeht. Denn der italienische Gesetzgeber hat – was hier im einzelnen nicht aufgezeigt werden konnte – im Rahmen der Reform auch die bisherige (grundsätzliche) Allzuständigkeit der Hauptversammlung durch deren nur noch katalogmäßige Zuständigkeit (ähnlich dem deutschen § 119 Abs. 1 AktG) ersetzt. Im neuen dualistischen System tritt die darin liegende Machtverlagerung auf die Verwaltung – und hier liegt einer der wenigen Un66 Vgl. etwa Caselli Contratto e impresa 2003, 149, 159 ff. (im dualistischen System würden die Kontrollfunktionen gegenüber dem klassischen System nur „verdoppelt“, so dass im Ergebnis die Unterschiede gering seien); Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 65, 66 (freilich mit dem Hinweis, dass die Gleichwertigkeit der Systeme in ihrer gesetzlichen Ausgestaltung nicht zwingend auf eine Gleichwertigkeit auch in ihrer tatsächlichen Ausgestaltung schließen lassen müsse). 67 Fortunato Le società 2002, 1317, 1323, 1325 (auch unter Verweis auf R. Lener). 68 Cervio, Guida al Diritto Il Sole – 24 Ore, Febbraio 2003, S. 91, 95; Santosuosso Vita notarile 2003, 622, 636.

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terschiede zu den anderen Systemen – noch stärker zutage. Ob der Machtzuwachs der Verwaltung (einerseits allgemein und speziell bei Einführung des dualistischen Systems) durch effiziente(re) Kontrollmechanismen aufgefangen wird, lässt sich noch nicht beurteilen – für die Nicht-Aufdeckung der Machenschaften bei Parmalat ist überwiegend noch das alte Recht verantwortlich. Das neue italienische Gesellschaftsrecht konnte hier nur hinsichtlich einiger Aspekte angerissen werden. Nur erwähnt werden kann daher an dieser Stelle, dass der italienische Gesetzgeber jetzt erstmals Ansätze für ein geschlossenes Konzernrecht kodifiziert hat, 69 und dass der „Konzernbezug“ in einer ganzen Reihe von Normen aufgegriffen wird, wenn etwa die Rechtsoder Pflichtenstellung der Beteiligten „konzerndimensional“ erweitert wird.

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Hierzu in deutscher Sprache Hartl NZG 2003, 667, 668 f.

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Zu den angenehmen Erinnerungen des Verfassers an die gemeinsame Zeit der Arbeit in der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin zählt die Veranstaltung eines Seminars zum Thema „Soziologie der Verfassung“ zusammen mit dem Jubilar im Wintersemester 1998/99. Der nachfolgende Text – aus einem Beitrag für ein Deutsch-japanisches Symposion in Tokyo im März 2004 entstanden – knüpft an damalige Überlegungen an. Er möchte die Verfassung über die abstrakt-normative Betrachtung hinaus in ihrer Entwicklung auf seine Weise als „lebendes Recht“ 1 begreifen.

I. In den bisher rund 55 Jahren seiner Geltung hat das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 nicht weniger als 51 verfassungsändernde Gesetze und d. h.: über 200 Änderungen, Aufhebungen und Einfügungen erlebt. 2 Statt der ursprünglich etwa 480 Sätze und 146 Artikel umfasst das Grundgesetz heute – trotz etlicher Streichungen im anfänglichen Bestand – 183 Artikel mit rund 720 Sätzen. Das bedeutet ein quantitatives Wachstum von ca. 50 %. Dabei waren substantielle Eingriffe in den Grundrechtsteil vergleichsweise selten: Sie ergaben sich 1968 bei der Einführung einer Notstandsverfassung (siehe Art. 9 Abs 3, 10, 11, Abs. 2, 19 Abs. 4), in der Konsequenz eines politischen Kompromisses nach jahrelangem politischen Streit über das Asylrecht 1993 (siehe Art. 16 a) und 1998 zur Ermöglichung des sogenannten „großen Lauschangriffs“ bei der Bekämpfung organisierter Kriminalität (siehe Art. 13 Abs. 2 – 6). Die Masse der ÄnThomas Raiser Das lebende Recht. Rechtssoziologie in Deutschland, 3. Auflage, 1999. Dazu H. Hofmann Die Entwicklung des Grundgesetzes von 1949 bis 1990, in: Handbuch des Staatsrechts, hg. v. J. Isensee u. P. Kirchhof, 3. Aufl., Bd. I, 2003, S. 355 – 421; H. Bauer Die Verfassungsentwicklung des wiedervereinten Deutschlands, ebd. S. 699 – 789; ferner H. Hofmann Zur Verfassungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 6 (1995), S. 155 ff.; A. Bauer/M. Jestaedt Das Grundgesetz im Wortlaut, 1997. 1 2

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derungen und Neuregelungen in verhältnismäßig kurzen Zeitabständen betrifft demgegenüber jenen Gegenstandsbereich, dem von Anfang an die meisten Bestimmungen des Grundgesetzes gewidmet waren, und das sind die Fragen der Abgrenzung und Verteilung von Aufgaben, Zuständigkeiten und Finanzquellen zwischen dem Bund und den Ländern. Hier liegt offenbar der wunde Punkt dieser Verfassung. Der Umfang der jeweiligen Änderung des Verfassungstextes war sehr unterschiedlich. Sind bisweilen nur einzelne Worte oder Sätze betroffen gewesen, so hat der verfassungsändernde Gesetzgeber mitunter ganze Druckseiten eingefügt. Erinnert sei zum einen an die umfangreichen Änderungen, die 1956, 1968 und 1994 aus großen politischen Bewegungen resultierten – Aufrüstung, Ablösung der Besatzungsherrschaft, Reform nach der Wiedervereinigung –, andererseits z. B. an das 50. Änderungsgesetz von 2002, das den noch keine 10 Jahre alten Art. 20 a zur Erfüllung einer verbreiteten ethischen Forderung mit drei Worten („und die Tiere“) um das Staatsziel Tierschutz erweitert hat. 3 Höchst unterschiedlich waren also, wie man sieht, auch das politische Gewicht und die verfassungsrechtliche Tragweite der verschiedenen Änderungen. Man vergegenwärtige sich noch einmal der eben angesprochenen großen Eingriffe sowie auch der Finanzverfassungs- und Finanzreformgesetze von 1955 und 1969, ferner der durch die Wiedervereinigung bedingten Änderungen von 1990 und der zunehmenden „Europäisierung“ des Grundgesetzes seit 1992 auf der einen Seite und im Gegensatz dazu beispielsweise des 14. Änderungsgesetzes von 1965 oder des 26. Änderungsgesetzes von 1969. In dem einen Fall ging es allein um eine Zuständigkeitsänderung bei der Finanzierung der Kriegsfolgelasten gemäß Art. 120 GG . Das andere Verfassungsänderungsgesetz erschöpfte sich in einem Satz höherer Bundesstaatsphilosophie. Seit 1969 gibt es nämlich einen Art. 96 Abs. 5 GG , der zunächst folgendermaßen lautete: „Für Strafverfahren auf den Gebieten des Artikels 26 Abs. 1 (sc. Verbot des Angriffskriegs etc.) und des Staatsschutzes kann ein Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrats vorsehen, dass Gerichte der Länder Gerichtsbarkeit des Bundes ausüben.“ Diese systemwidrige Anordnung einer Organleihe sollte indes lediglich: 1. die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts auch bei der neu eingeführten erstinstanziellen Zuständigkeit der Oberlandesgerichte der Länder wahren und 2. für diese Fälle das bisherige Begnadigungsrecht des Bundespräsidenten erhalten; denn die Zuständigkeit für Gnadenentscheidungen richtet sich in der Regel nach der erstinstanziellen Gerichtszuständigkeit, wäre also sonst auf 3 Dass die Opposition dem von ihr lange blockierten Vorhaben im Jahr 2002 plötzlich zustimmte, war eine Folge der Schächtentscheidung des BVerfG v. 15. 1. 2002 (E 104, 337), die auch für Muslime die Möglichkeit der rituellen betäubungslosen Schlachtung eröffnete. Dazu F. Wittreck Religionsfreiheit als Rationalisierungsverbot, in: Der Staat 42 (2003), 519 ff. (531, 533).

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die Ministerpräsidenten der Länder übergegangen. 4 Als Folge der internationalen Entwicklung ist der Anwendungsbereich des Art. 96 Abs. 5 GG inzwischen durch ein eigenes, nämlich das 51. Änderungsgesetz von 2002 um das Völkerstrafrecht erweitert worden. Schon diese kurzen Hinweise umreißen die enorme Spannweite der 51 Gesetze zur Änderung des Grundgesetzes nach Inhalt, Umfang, Bedeutung und Gewicht. Die hohe Zahl dieser Änderungen hat materielle und formelle Gründe. Die sachlichen Gründe lagen zunächst in der besonderen Situation Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg, die formellen in der Verfassungskonstruktion selbst. Fand die Gründung der Bundesrepublik Deutschland doch in einem durch die Siegermächte geteilten Land unter besatzungsrechtlichen Beschränkungen, unter Zeitdruck und ohne die breite Basis einer repräsentativen verfassunggebenden Versammlung statt. Alles das verhinderte zunächst eine vollständige Verfassunggebung für einen souveränen Staat. Sie musste Jahre danach, insbesondere durch Einführung einer Wehrund Notstandsverfassung, nachgeholt und später aus Anlass der Vereinigung der beiden deutschen Staaten modifiziert werden. Weiter war die ganz zentrale bundesstaatliche Ordnung zunächst eine etwas labile ReißbrettKonstruktion. Denn weder waren die Länder – mit Ausnahme Bayerns und der Hansestädte – gewachsene staatliche Gebilde – „weniger originär als originell“ hat sie der nachmalige erste Bundespräsident Heuss genannt –, noch konnte sich die normative Ordnung des Verhältnisses von Bund und Ländern einfach auf die Weimarer Verfassung oder gar die Bismarcksche Reichsgründung stützen. Auf diesem Felde war folglich ein fortdauernder Prozess immer neuer Nachbesserungen und Austarierungen unvermeidlich. Und sie alle mussten im Text des Grundgesetzes verzeichnet werden. Denn aus Angst vor Verfassungsdurchbrechungen, oder vielleicht besser: vor „stillschweigenden“ Verfassungsänderungen, wie sie unter der Bismarckverfassung und der Weimarer Verfassung gang und gäbe gewesen waren,5 versperrt Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG den Weg zu Arrangements ohne ausdrückliche Änderung des Verfassungstextes. Dieser Auffassung des Grundgesetzes als des penibel zu führenden „politischen Grundbuchs“6 der Nation korrespondierte und korrespondiert ein Prozess der Juridifizierung der Politik, derzufolge politische Konflikte nicht selten als Kämpfe um die richtige Auslegung des Verfassungsgesetzes ausgetragen werden. Und dieser Prozess wiederum ist durch die verfassungsgeschichtlich herausragende Einrichtung eines Verfassungsge4 Dazu kritisch H. Schulze-Fielitz in: H. Dreier (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 2000, Art. 96 Rn. 33 f. 5 Siehe G. Anschütz Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl. 1933, Art. 76 Anm. 2, und jetzt umfassend H. Hufeld Die Verfassungsdurchbrechung, 1997, S. 39 ff., 46 ff. 6 W. Hennis Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, 1968, S. 17 (hier freilich im Blick auf die deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts).

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richts mit umfassenden Zuständigkeiten und deren intensive und extensive Nutzung durch das Bundesverfassungsgericht selbst gefördert worden. Im Folgenden möchte ich mich in einem ersten Versuch der Frage nähern, ob sich aus der skizzierten Entwicklung, die quantitativ so umfangreich und qualitativ so vielschichtig war, allgemeine Lehren gewinnen lassen. Untergliedert sei dieser Essay durch zwei Fragen. Die erste gilt dem Verhältnis von Verfassungsänderung und Verfassungswandel, die zweite den Auswirkungen, die das Verbot der Verfassungsdurchbrechung in Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG und der hohe Konsensbedarf für Verfassungsänderungen innerhalb der gesetzgebenden Körperschaften nach Art. 79 Abs. 2 GG gehabt haben.

II. Unter Verfassungsänderungen werden hier gemäß Art. 79 Abs. 1 GG nur Änderungen des Verfassungstextes verstanden. Alles, was die Bedeutung des äußerlich unveränderten Wortlauts der Verfassungsurkunde entgegen den Vorstellungen der Verfassunggeber oder über deren historischen Vorstellungshorizont hinaus abwandelt oder erweitert – sei es die Praxis der Verfassungsorgane oder förmliche Akte der Gerichte (vor allem, aber nicht nur, der Verfassungsgerichte), sei es die Tätigkeit des Gesetzgebers oder die Entwicklung der herrschenden Meinung in der Staatsrechtslehre –, alles das soll nach der Begriffsprägung Georg Jellineks dagegen „Verfassungswandel“ heißen. 7 Bisweilen wird nun zwischen solchem Verfassungswandel, also einem „Sinnwandel ohne Textänderung“, 8 und den förmlichen Verfassungstextänderungen ein Stufenverhältnis postuliert. 9 Danach soll das Problem der Verfassungsänderung erst dann beginnen, wenn der stille Verfassungswandel nicht mehr ausreicht, die notwendigen Anpassungen der Verfassung an die unaufhaltsam sich ändernden politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse zu bewirken. Historisch und systematisch ist ein solches generelles Stufenverhältnis indes kaum festzustellen. Vielmehr zeigen sich in der formellen bzw. informellen Verfassungsentwicklung zunächst schon große Unterschiede zwischen den Grundrechtsgarantien und dem organisatorischen Teil der Verfassung.

7 G. Jellinek Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, 1906. Siehe dazu aus der neueren Lit.: P. Badura Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsgewohnheitsrecht, in: Handbuch des Staatsrechts, hg. v. J. Isensee u. P. Kirchhof, Bd. VII , 1992, S. 57–77; H. Dreier in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 1998, Art. 79 I Rn. 37 ff. 8 Dreier ebd. Rn. 37. 9 Siehe etwa K. Hesse Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 39.

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Ein kurzer Rückblick mag das verdeutlichen. Zwar ist der Beitrag, den Lehre und Rechtsprechung in der Weimarer Zeit zur Entwicklung der Grundrechte beigesteuert haben, keineswegs so gering zu veranschlagen, wie das oft geschieht.10 Beispielhaft sei hier nur an die bleibende Bedeutung der Lehre von den institutionellen Garantien erinnert. Aber die Dynamik des Verfassungslebens dieser 14 mehr oder weniger krisenhaften Jahre hatte ihren Schwerpunkt doch eindeutig im Bereich der Staatsorganisation. Unter dem wachsenden Druck der desolaten politischen Verhältnisse verschoben Staatspraxis und Staatsrechtslehre die Gewichte allein durch extensive Verfassungsinterpretation immer mehr hin zur sog. Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 WRV als dem scheinbar festen, dem „eigentlichen“ Kern der Verfassung.11 So setzte sich am Ende die Auffassung durch, dass sogar das Haushaltsgesetz ohne die Mitwirkung des (politisch handlungsunfähigen) Parlaments durch sog. Notverordnung des Reichspräsidenten erlassen werden konnte.12 Eine Änderung der staatlichen Struktur durch eine förmliche Verfassungsänderung war in dieser Situation schlechterdings keine reale Alternative. Demgegenüber konnte dank der stabilen Regierungsverhältnisse der Bonner Republik – getragen von einem allgemeinen Bedürfnis nach Rekonstruktion werthafter Grundlagen des Staatslebens nach 1945 – eine „Grundrechtskultur“ in den Vordergrund treten, wie sie in Weimar unbekannt war und auch 1949 noch jenseits aller Vorstellungen lag.13 Allerdings eröffnete der knappe und unbestimmte Wortlaut der Grundrechtsgarantien im Unterschied zu der präziseren Sprache des organisatorischen Teils der Verfassung für die Wechselwirkung zwischen der neuen Institution eines hochaktiven und geradezu massenhaft mit Grundrechtsproblemen befassten Verfassungsgerichts mit einer werteorientierten Staatsrechtslehre einen solch’ weiten Spielraum, dass sich jede förmliche Verfassungsänderung auf diesem Felde zu erübrigen scheint.14 Man denke nur an die Diskussion um die grundrechtliche „Menschenwürde“ der befruchteten menschlichen Eizelle, die mit bloßem Auge niemand erkennen kann. Die vergleichsweise seltenen förmlichen Änderungen im Grundrechtsteil – erwähnt seien hier die Einschränkung des Brief-, Post- und Fern10 Dazu jetzt umfassend H. Dreier Die Zwischenkriegszeit, in: Handbuch der Grundrechte, hg. v. D. Merten u. J.-J. Papier, Bd. I, 2003, Rn. 8 ff., 38 ff. 11 Symptomatisch C. Schmitt Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 71 ff.; dazu H. Hofmann Legitimität gegen Legalität, 4. Aufl. 2002, S. 63 f. 12 Anschütz (Fn. 5), Art. 48 Anm. 14. 13 Dazu W. Schmidt Grundrechte-Theorie und Dogmatik seit 1946 in Westdeutschland, in: D. Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, 1994, S. 188 ff. (197 ff.); P. Häberle Verfassungslehre als Kulturwissenschaft am Beispiel von 50 Jahren Grundgesetz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16/1999, S. 20 ff. (25, 27 ff.). 14 Dazu M. Hilf Die sprachliche Struktur der Verfassung, in: Handbuch des Staatsrechts, hg. v. J. Isensee u. P. Kirchhof, Bd. VII , 1992, S. 79 – 102 (Rn. 58 f.) mit Hinweis auf die integrative Wirkung von Leerformeln.

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meldegeheimnisses (Art. 10 GG), die Zulassung des sog. großen Lauschangriffs (Art. 13 Abs. 3 GG) und die Einschränkungen des Asylrechts (Art. 16 a GG) – dienten denn auch nicht etwa einer weiteren, von Lehre und Praxis nicht mehr zu leistenden Entwicklung jener Grundrechtskultur, sondern – ganz gegen diesen Entwicklungstrend – deren Einschränkung im Namen der Staatsräson wegen gewandelter Verhältnisse und staatlicher Notwendigkeiten. Was den organisatorischen Teil des Grundgesetzes betrifft, so hat eine dem Grundrechtsteil vergleichbare extensive und intensive Entwicklung ohne förmliche Verfassungsänderung nur das eng damit zusammenhängende Rechtsstaatsprinzip erfahren. Zum Beispiel ist auf diese Weise ein ungeschriebener Grundsatz, nämlich der der Verhältnismäßigkeit, zur zentralen Maxime der ganzen Rechtsordnung aufgestiegen.15 Die seltenen förmlichen Verfassungsänderungen spielen auf diesem Felde eine noch geringere Rolle. Sie betrafen lediglich zwei Details der Gerichtsorganisation, zum einen die Schaffung des Bundespatentgerichts, zum anderen die schon erwähnte Modifikation des Art. 96 GG .16 Anders war und ist das, wie erwähnt, in allem, was die bundesstaatliche Ordnung angeht. Je technischer und detaillierter die Verfassungsregeln sind – wie etwa bei der Verteilung des Steueraufkommens zwischen Bund und Ländern oder bei den Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes –, desto eher werden förmliche Anpassungen an geänderte Verhältnisse erforderlich. Einen stillen Verfassungswandel verhindert Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG insoweit von vornherein. Am ehesten ist das postulierte Verhältnis von Verfassungswandel und förmlicher Verfassungsänderung, von dem wir ausgegangen sind, bei der administrativen Zusammenarbeit von Bund und Ländern zu beobachten. Im Namen des „kooperativen Föderalismus“ sind viele Verfahren und Institutionen offenbar nützlicher oder gar notwendiger Zusammenarbeit entstanden – genannt seien nur die Ministerkonferenzen –, die der geschriebene Verfassungstext weder anordnet oder erlaubt noch verbietet.17 Diese Kooperationen prägen die Funktionsweise der Verfassungsordnung aber sehr stark. Und der dadurch gewandelten Staatspraxis passt sich das Verständnis des Bundesstaatsprinzips i. S. des Art. 20 Abs. 1 GG an. Im Vordergrund steht nun nicht mehr die Pflege regionaler Besonderheiten, sondern die Gedanken einer Verstärkung des Gewaltenteilungsgrundsatzes, des Minderheitenschutzes und der politischen Konkurrenz, der Vervielfältigung der politischen Partizipation und der Kontrapunktie15 Dazu H. Hofmann Entwicklung (Fn. 2), Rn. 65. Versuch einer kategorialen Ordnung der enormen richterrechtlichen Ausdifferenzierung des Rechtsstaatsprinzips bei H. A. Wolff Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz, 2000. 16 Dazu Hofmann Entwicklung (Fn. 2), Rn. 36, 67 f. 17 Dazu P. Feuchte Die bundesstaatliche Zusammenarbeit in der Bundesrepublik Deutschland, in: AöR 98 (1973), 473 ff.; W. Rudolf Kooperation im Bundesstaat, in: Handbuch des Staatsrechts, hg. v. J. Isensee u. P. Kirchhof, Bd. IV , 1990, S. 1091 – 1132.

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rung der legislativen Entscheidungen des Bundes nach dem Mehrheitsprinzip durch das Konsensprinzip im Bereich der Administration. Inzwischen hat dieser Trend über die Zunahme der Kompetenzen des Bundesrats in höchst bedenklicher Weise die Ebene der Gesetzgebung erreicht und die Gefahr einer Politikblockade heraufbeschworen. Verfassungsrechtlichen Anstoß erregte es wegen der Verwischung der Grenze zwischen den Verantwortungsbereichen von Bund und Ländern jedoch schon in den 1960er Jahren, als der Bund sich über verschiedene Formen der Mischfinanzierung von Landesaufgaben wachsenden Einfluss auf die Verwaltungstätigkeit der Länder verschaffte.18 Sie mussten sich bei der Annahme von Bundeszuschüssen nämlich sogenannten Dotationsauflagen unterwerfen. Diese verlangten eine Selbstbeteiligung der Empfänger und banden damit lenkungswirksam Haushaltsmittel der Länder, betrafen bisweilen aber auch die Durchführung der geförderten Maßnahmen. Lange politische Auseinandersetzungen führten schließlich dazu, dass im 21. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes von 1969, dem sogenannten Finanzreformgesetz, solche Formen der Mischfinanzierung und Mischverwaltung durch die neuen Art. 91 a und 91 b GG unter dem Titel „Gemeinschaftsaufgaben“ in gewissem Umfang konstitutionalisiert wurden. Man mag darin die lehrbuchmäßige Stufenfolge einer progressiven Verfassungspraxis, die zunächst den Verfassungstext unterläuft, und der nachfolgenden förmlichen Anpassung des Verfassungstextes sehen. Es gibt aber auch ein Gegenbeispiel, wohl nicht zufällig gerade bei den Normen, die das Regierungssystem des Grundgesetzes konstituieren. Und dieses Gegenbeispiel sieht so aus: Da wird einer Bestimmung des Grundgesetzes zur kurzfristigen Lösung eines aktuellen politischen Problems ein neuartiger Sinn unterlegt, der das sachlich angezeigte und nach den Mehrheitsverhältnissen an sich mögliche, aber sehr langwierige, erst für die Zukunft wirksame und daher zur aktuellen Problemlösung untaugliche Verfahren der förmlichen Verfassungsänderung politisch entbehrlich macht. Die Rede ist von dem – angesichts der Einheitsfront von Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat und Bundespräsident, Regierungsparteien und Opposition durch das Bundesverfassungsgericht allerdings abgesegnete – Missbrauch der Vertrauensfrage nach Art. 68 GG durch den Kanzler Kohl im Jahre 1983.19 Wie erinnerlich, war Kohl im Jahr zuvor durch ein sogenanntes konstruktives Misstrauensvotum gemäß Art. 67 GG in das Kanzleramt gelangt. Er wünschte sich jedoch eine stärkere Legitimation auf der Basis einer Bundestagswahl anstelle des erfolgreichen parlamentarischen RegierungsDazu und zum Folgenden Hofmann Entwicklung (Fn. 2), Rn. 76 ff. Siehe BVerfGE 62, 1 und dazu Hofmann Entwicklung (Fn. 2), Rn. 94. Über die durch diesen Vorgang bewirkte Schwächung der verfassungsrechtlichen Stellung des Bundespräsidenten W. Heun Die Stellung des Bundespräsidenten im Licht der Vorgänge um die Auflösung des Bundestages, in: AöR 109 (1984), 13 ff. 18 19

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sturzes durch ein konstruktives Misstrauensvotum. Folglich verabredeten die Koalitionsparteien Monate im Voraus die Stellung der Vertrauensfrage nach Art. 68 GG , die vom Verfassunggeber für den Fall gedacht war, dass sich im Bundestag keine regierungsfähige, einen Kanzler tragende Mehrheit findet, für den Fall also, dass die Lösung der Krise über Art. 67 GG misslingt, nicht aber für den Fall, dass sie – wie hier geschehen – zum Erfolg führt. Da aber alle, auch (wenngleich aus anderen Gründen) die Opposition – Neuwahlen wollten, gab es an sich eine verfassungsändernde Mehrheit, die das im Grundgesetz damals schmerzlich vermisste Selbstauflösungsrecht des Bundestags durch verfassungsänderndes Gesetz hätte einführen können – aber eben nur mit Wirkung für die Zukunft, d. h. für die folgenden Legislaturperioden. Und auf eine solche zukunftsorientierte Vorsorge erstreckten sich die aktuellen Machtinteressen der Parteien nicht. Von weit größerer, weil grundsätzlicher Bedeutung ist das gewandelte Verständnis des Abgeordnetenmandats bei unverändertem Wortlaut des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG . Die Entwicklung vom „gesellschaftlichen Ehrenamt“ zum vollalimentierten Amt von Berufspolitikern drückte sich zunächst in der Diätengesetzgebung des Bundestags auf der Grundlage des Art. 48 Abs. 3 GG aus, das Bundesverfassungsgericht hat sie – seine eigene frühere Judikatur hinter sich lassend – in seinem berühmten Diäten-Urteil von 1975 (E 40, 296/314) sanktioniert. 20 Den besonderen Fall einer Art von Verfassungswandel durch einen langjährigen sozialen und politischen Prozess, verbunden mit förmlichen Verfassungsänderungen, bietet schließlich die Geschichte des Art. 29 GG . 21 Er zielte 1949 auf die Neugliederung des Bundesgebiets, das ja aus besatzungsrechtlich ziemlich willkürlich gebildeten Teilen zusammengesetzt war. Und unter demselben Titel der Neugliederung steht er noch heute im Grundgesetz. Aber durch seine förmlichen Änderungen, namentlich die von 1976, hat er, ohne dass dies in seinem Wortlaut in solcher Eindeutigkeit zum Ausdruck käme, seinen Charakter geändert. Ursprünglich enthielt die Vorschrift den Verfassungsauftrag, jene teilweise geschichtswidrigen und wenig rationalen Entscheidungen der Besatzungsmächte alsbald zu korrigieren. In ihrer heutigen Gestalt nähert sie sich indes einer Bestandsgarantie für die bestehenden Bundesländer mit einem Ausnahmevorbehalt. Daran hat auch die Modifikation durch das 42. Änderungsgesetz von 1994 in der Folge der Wiedervereinigung nichts Wesentliches geändert.

20 Dazu instruktiv Hesse (Fn. 9), Rn. 598 ff.; s. auch H. H. Klein Status des Abgeordneten, in: Handbuch des Staatsrechts, hg. v. J. Isensee u. P. Kirchhof, Bd. II , 1987, S. 367 – 390 (Rn. 6 f, 36), und jetzt H. Schulze-Fielitz in: Dreier (Fn. 7), Art. 48 Rn. 20 f. 21 Dazu Hofmann Entwicklung (Fn. 2), Rn. 87 ff.

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III. Nun zum zweiten Fragenkomplex. Das Bedürfnis, von den Normen der Verfassung abzuweichen, ergibt sich – wie schon angedeutet – besonders oft bei der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, namentlich im Bereich der Legislative, konkret: aus einem aktuellen Bedarf an einer bundesgesetzlichen Regelung. Da Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG den einfachen Weg, ein Bundesgesetz gegebenenfalls mit verfassungsändernden Mehrheiten zu beschließen, versperrt, die nötige Änderung des Verfassungstextes aber nicht einer auf die Zukunft gerichteten Vorsorge entspringt, sondern ganz projektbezogen ist, scheint sie insoweit zu einer Art Vorspann zu dem parlamentarischen Gesetzgebungsakt zu verkümmern. Dieser Legislativakt steht politisch im Mittelpunkt, nicht die Verfassungsänderung. Gegen Kritik aus der Wissenschaft bürgerte sich daher bezeichnenderweise die Praxis ein, das Bundesgesetz gleichzeitig mit der neuen, kompetenzbegründenden Verfassungsnorm zu verkünden (Atomgesetz, Soldatengesetz, Erstes Besoldungsvereinheitlichungsgesetz). Erst im Zusammenhang mit dem neuen Art. 74 a GG stellte das Bundesverfassungsgesetz klar, dass das Verfassungsänderungsgesetz wenigstens in Kraft getreten sein müsse, bevor das darauf gestützte Bundesgesetz nach Art. 82 Abs. 1 GG ausgefertigt werden dürfe, ordnete die Nichtigkeitsfolge bei Verstößen allerdings erst für die Zukunft an. 22 Verfassungstextänderungen sind aber auch noch in einem anderen Sinne zum Bestandteil der einfachen parlamentarischen Gesetzgebung geworden. Anders herum gesagt: die einfache Gesetzgebung ist immer wieder zu einem erheblichen Teil selbst in den Text der Verfassung eingegangen. Es ist dies eine Folge aus der notwendigen Förmlichkeit von Verfassungsänderungen, verbunden mit dem hohen parlamentarischen Konsensbedarf dafür nach Art. 79 Abs. 2 GG . Denn danach ist in der Regel eine Kooperation von Regierung und Opposition erforderlich, und das bedeutet: es muss ein Kompromiss gesucht werden. Folglich beginnt oft ein mühsames, zähes und langwieriges politisches Ringen darum, wie weit die Änderungen gehen dürfen und wie weit nicht, welche Positionen zu wahren sind und welche Interessen in welchem Umfang berücksichtigt werden müssen. Das allemal eher diplomatische als programmatische Ergebnis umreißt dann den Umfang der Verfassungsänderungen durch Fixierung der Grundzüge des geplanten Gesetzgebungswerks. Denn die Zustimmung dazu hängt für alle Beteiligten davon ab, dass die jeweils als kritisch angesehenen Punkte in der Verfassung rechtstechnisch exakt festgeschrieben und damit dem Zugriff der einfachen Parlamentsmehrheit der Gegenpartei entzogen werden. Die Ergebnisse dieser Aushandlungsprozeduren und politischen Friedens22

Vgl. BVerfG 34, 9 (21 ff.).

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schlüsse sind in den detaillierten Regelwerken der Art. 12 a, 13, 16 a, 23 n. F., 29 und 104 a ff. GG zu besichtigen. Sie dokumentieren die Auflösung des Verfassungsstils, wie er dem Grundgesetz eigen war und für das Verfassungsbewusstsein wichtig ist. 23 Dabei zeigen die Art. 23 n. F., 29 und 104 a ff. GG zugleich, in welchem Maße über die im Bundestag repräsentierten politischen Kräfte hinaus die Länder als Institutionen mit eigenem Gewicht an dieser Entwicklung beteiligt sind. Da Art. 79 Abs. 2 GG nicht nur im Bundestag, sondern auch im Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit verlangt, können auch die Länder Bedingungen stellen. Und das haben sie ganz egoistisch getan, als der Bund zunächst 1990 für den Einigungsvertrag zwischen Bundesrepublik und DDR – übrigens das exzeptionelle Beispiel einer förmlichen Verfassungsänderung durch völkerrechtlichen Vertrag 24 – und später, 1992, für den Vertrag von Maastricht über die Europäische Union die Zustimmung der Länder im Bundesrat brauchte. Im ersten Fall ließen sich die vier bevölkerungsstärksten der alten Bundesländer durch Veränderung der Stimmenverhältnisse im Bundesrat gemäß Art. 51 Abs. 2 GG ihre Sperrminorität gegen Verfassungsänderungen sichern. Das entsprach der bisherigen Rechtslage und mochte politisch wünschenswert erscheinen; notwendig, um den „Beitritt“ der DDR zu ermöglichen, also verfassungsrechtlich unumgänglicher Bestandteil des Zustimmungsgesetzes zum verfassungsändernden Einigungsvertrag, war es selbstverständlich nicht. 25 Im anderen Fall musste der Bund den Ländern in dem neuen Art. 23 (Abs. 1, 2 und 4 bis 6) GG Mitspracherechte für den weiteren Fortgang des europäischen Integrationsprozesses einräumen, obwohl es dafür kaum eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung gibt. 26 Die Neufassung des Art. 23 hatte ausweislich des Abs. 1 mit seiner Verweisung auf Art. 79 Abs. 2 und 3 GG allerdings noch eine andere Funktion. 27 Sie wird sichtbar, wenn man Folgendes bedenkt: Jahrzehntelang gab Art. 24 Abs. 1 GG die Möglichkeit, staatliche „Hoheitsrechte“ auf „zwischenstaatliche Einrichtungen“ zu übertragen – durch einfaches Bundesgesetz ohne Zustimmung des Bundesrats. Da eine derartige Übertragung von Hoheitsrechten die staatliche Kompetenzordnung und damit die Verfassung änderte, war hier ein Weg permanenter Verfassungsänderung ohne die Be23 Dazu H. Meyer Das ramponierte Grundgesetz, in: KritV 76 (1993), 399 ff. (399); D. Grimm Wie man eine Verfassung verderben kann, in: ders. Die Verfassung und die Politik, 2001, S. 126 ff. 24 Zur Kritik an der damit verbundenen Entmachtung des Parlaments Dreier (Fn. 7), Rn. 14. Zur Durchdringung von Verfassungsrecht und Völkerrecht in der deutschen Geschichte R. Wahl Deutsche Einigung im Spiegel historischer Parallelen, in: Der Staat 30 (1991), S. 181 ff. 25 Dazu Hofmann Zur Verfassungsentwicklung (Fn. 2), S. 169, 175 f. 26 Siehe die treffende Kritik bei T. Stein Europäische Union: Gefahr oder Chance usw., in: VVDStRL 53 (1994), S. 26 ff. (30 ff.). 27 Zum Folgenden Dreier (Fn. 7), Rn. 15, 25; Bauer (Fn. 2), Rn. 128 ff.

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schränkungen durch Art. 79 GG eröffnet. Auf ihm kam die deutsche Beteiligung an der europäischen Einigung ziemlich leicht voran. Mit dem neuen Art. 23 GG wurde eine den Art. 24 Abs. 1 GG verdrängende Spezialregelung für die europäische Integration eingefügt und ihr nunmehr durch eine Struktursicherungsklausel, die Mitwirkung des Bundesrats und die Verweisung auf die Schranken der Verfassungsänderung nach Art. 79 Abs. 2 und 3 GG Grenzen gezogen. Kehren wir zum Abschluss dieser Überlegungen noch einmal zu der Beobachtung zurück, wonach verfassungsändernde Gesetze zunehmend den wesentlichen Inhalt geplanter „einfacher“ Parlamentsgesetze vorwegnehmen und in Verfassungsrang erheben. Derselbe politische Mechanismus, der diese Erscheinungen hervorbringt, kann aber auch den genau gegenteiligen Effekt haben und eine bloß symbolische Verfassungsänderung möglichst ohne Regelungsgehalt zeitigen. Paradebeispiel ist der durch das 42. Änderungsgesetz von 1994 eingefügte Art. 20 a GG .28 Diese der Rechtsentwicklung hinterherlaufende Konstitutionalisierung des Staatsziels Umweltschutz eröffnet keineswegs eine neue Zukunftsperspektive, wie man das von einer Staatszielbestimmung erwarten möchte. Das demonstrieren die darin enthaltenen „Angstklauseln“: Nur „im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung“ soll der Gesetzgeber die natürlichen Lebensgrundlagen schützen dürfen und nur „nach Maßgabe von Gesetz und Recht“ auch Exekutive und Justiz. Die Erfüllung der Staatsaufgabe Umweltschutz soll sich also – das ist die Botschaft – ganz streng im Rahmen des Herkömmlichen halten. Die industriell-technische Eigentümergesellschaft fürchtet unberechenbare und unkontrollierbare, weil von ökologischen Begutachtungen des Einzelfalls bestimmte umweltrechtliche Gerichtsentscheidungen unmittelbar aus der Verfassung zu Lasten von Produktiveigentum und technischem Fortschritt. Von dieser Seite war die Zustimmung zu der von der öffentlichen Meinung immer dringender geforderten Verfassungsergänzung folglich nur um den Preis denkbar weitgehender normativer Neutralisierung zu haben.

IV. Im Rückblick erlauben die Erfahrungen mit den Verfassungsänderungen aus 50 Jahren vier Feststellungen. 1. Es ist nicht möglich, dem Verfassungswandel feste Grenzen zu setzen und ihn in ein bestimmtes systematisches Verhältnis zur Verfassungsänderung zu bringen. Die Grenze des Verfassungswandels wird von Fall zu Fall durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fixiert. Infolge 28 Hierzu H. Hofmann Technik und Umwelt, in: Handbuch des Verfassungsrechts, hg. v. E. Benda u. a., 2. Aufl. 1994, S. 1005 ff.; ders. in: Zur Verfassungsentwicklung (Fn. 2), S. 163.

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dieser gerichtlichen Interpretationsmacht, die den Sinn einer Grundgesetzbestimmung ohne Textänderung zu wandeln vermag, werden förmliche Fortschreibungen der Verfassung nicht selten entbehrlich. Verfassungsinterpretation und Verfassungswandel sind danach de facto nicht mehr unterscheidbar. 29 2. Entgegen dem ersten Anschein bildet das Erfordernis einer 2/3-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat keine hohe Hürde für Verfassungsänderungen. Da zusätzliche Erschwernisse fehlen, wie sie andere vergleichbare Verfassungen kennen – zu nennen sind beispielsweise eine besondere Regelung des Initiativrechts, ein vorgängiger Beschluss über die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung, vorherige Neuwahl des Parlaments, Sperrfristen, ein Volksentscheid 30 –, da die Verfassungsänderung nach dem Grundgesetz mit anderen Worten allein den gesetzgebenden Körperschaften Bundestag und Bundesrat obliegt, ist sie ganz im Gegenteil in kaum einem anderen Staat so leicht wie in der Bundesrepublik. Demgemäß sind sie hier besonders häufig und lassen das Grundgesetz als eine „flexible“ oder „bewegliche“ Verfassung erscheinen. 31 3. Häufige Verfassungsänderungen machen sie als bloße „Erscheinungsweise der Gesetzgebung“32 mehr oder weniger zur politischen Selbstverständlichkeit und unterwerfen sie den üblichen Gebräuchen parlamentarischer Kompromissfindung. 4. Die Dominanz des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens bei der Verfassungsänderung vertieft die Differenz zwischen Verfassungsänderung und Verfassungsgebung nach Anlässen, Zwecken, historischen Bedingungen, Umständen und politischer Bewusstseinslage. Gleichzeitig wird der Abstand zwischen der Textstruktur der Verfassungsgesetze und der Textstruktur einfacher gesetzlicher Regelungen immer geringer.

29 Dazu P. Häberle Zeit und Verfassung (1974), in: ders. Verfassung als öffentlicher Prozess, 2. Aufl. 1996, S. 59 ff. (82 f.). Auch der Wortlaut einer Verfassungsbestimmung setzt dem Verfassungswandel keine unübersteigbare Grenze (richtig BVerfGE 28, 66 [76 ff.]): So spricht Art. 142 GG nur von den „Artikeln 1 bis 18“ dieses Grundgesetzes, aber niemand zweifelt, dass er die grundrechtsgleichen Rechte (s. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 b GG ) einschließt. Manche sehen noch nicht einmal Schwierigkeiten darin, eine befruchtete Eizelle als „Mensch“ i. S. des Art. 1 GG zu begreifen. Wie könnte auch der Wortlaut einer Vorschrift, dessen Sinn innerhalb eines normativen Kontextes in Frage steht, dieser Frage eine Grenze setzen? Dazu müsste vorab die sog. grammatische Auslegung absolut gesetzt werden. 30 Zu diesen Möglichkeiten der Erschwerung von Verfassungsänderungen E. Menzel Rechtsformen der formalen Verfassungsänderung, in: FS Giese, 1953, S. 153 ff. (164 ff.); K. Loewenstein Über Wesen, Technik und Grenzen der Verfassungsänderung, 1961, S. 27 ff.; T. Schilling Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 194 ff. 31 Zu dieser Unterscheidung von „starren“ (schwer abänderbaren) und „beweglichen“ oder „flexiblen“ Verfassungen Hesse (Fn. 9), Rn. 36 ff.; auch G. F. Schuppert Rigidität und Flexibilität von Verfassungsrecht, in: AöR 120 (1995), 32 ff. 32 Badura (Fn. 7), Rn. 3, 20.

Konkurrenz, Konvergenz oder Uniformität im europäischen Privatrecht? Günter Weick

Inhaltsübersicht Seite

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erscheinungsformen der Konvergenz . . . . . . . . . . . . . III. Beispiele für „weiche Konvergenz“ im Privatrecht . . . . . . 1. Kreditsicherheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Privity of contract und Vertrag zugunsten Dritter . . . . . 3. Leistungsstörungen im reformierten deutschen Schuldrecht 4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Uniformität – ein Rückschritt . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Zur Zeit findet eine lebhafte und zum Teil hitzige Diskussion über die zukünftige Entwicklung des Rechts in der Europäischen Union statt. Sie treibt zum Teil kuriose Blüten. So warf der Verfasser eines Leserbriefs in der FAZ 1 den Rechtsvergleichern vor, sie würden in einer Art Hybris über ihre eigentliche Aufgabe, die Beschäftigung mit den Unterschieden der nationalen Rechtsordnungen, hinaus gehen und ein Einheitsrecht für Europa anstreben. Allerdings würden sie sich damit selbst überflüssig machen, denn wo alles einheitlich ist, gibt es nichts mehr zu vergleichen. Werden die Rechtsvergleicher in der EU also von einer Art Todestrieb beherrscht; sägen sie mit Besessenheit an dem Ast, auf dem sie sitzen? Diese Ansicht beruht auf einem doppelten Irrtum. Erstens ist Aufgabe der sog. Rechtsvergleicher längst nicht mehr nur, die bestehenden rechtlichen Regelungen oder Rechtssysteme zu vergleichen. Sie werden in wachsendem Umfang zu kreativen und konstruktiven Tätigkeiten herangezogen, und zwar nicht nur im akademischen Bereich, sondern von Regierungen, Gesetzgebern, internationalen Organisationen und der alltäglichen Praxis im Zivilrechts- und Wirtschaftsverkehr. Ich gebe hier nur als Stichworte: Vorberei1

Hackelöer FAZ vom 17. 11. 2001.

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tung von nationalen Gesetzen, internationalen Abkommen, europäischen Richtlinien und Verordnungen, Codes of Conduct, transnationalen Regelwerken (wie den Incoterms oder den ERG für Dokumentenakkreditive oder Vertragsgarantien), Gestaltung grenzüberschreitender Vertragswerke und wirtschaftlicher Zusammenarbeit, Gründung von Gesellschaften mit internationalen Partnern, Auslegung und Fortbildung nationaler und internationaler Rechtsnormen, internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit und andere Formen der internationalen Streitbeilegung. Das alles ist keineswegs neu, sondern gehört seit Jahrzehnten zum täglichen Geschäft der sog. Rechtsvergleicher.2 Man kann sagen, dass jedes ernsthafte Problem der modernen Gesellschaften heute nicht mehr im nationalen Alleingang, sondern nur in internationaler Zusammenarbeit lösbar ist; man denke nur an Internetprobleme, Gentechnologie, organisierte Kriminalität und Geldwäsche, Welthandel, Migration, Atommüll, Produkthaftung, Umweltschutz und Massenverkehr. Zuzugeben ist aber, dass der Begriff „Rechtsvergleichung“ zu eng geworden ist, dass er längst nicht mehr dem weiten Spektrum der Interessen und Aktivitäten international engagierter Rechtswissenschaftler und -praktiker gerecht wird. Der zweite Irrtum liegt darin, dass die sog. Rechtsvergleicher keineswegs alle fanatische Rechtsvereinheitlicher sind. Rechtsvergleichung führt meist zu einem tieferen Verständnis des Zusammenhangs von rechtlichen Lösungen mit anderen Systemen in der betreffenden Gesellschaft, also mit kulturellen, wirtschaftlichen, politischen oder religiösen Strukturen. Sie führt ferner zu der Erkenntnis, dass es für gegebene Probleme verschiedene Lösungen geben kann, die alle Sinn machen. Rechtvergleichung ist eine ideale Methode zum Abbau von Selbstgefälligkeiten, Vorurteilen und Borniertheit. Kann man von solchen Menschen ernsthaft ein Streben nach öder Gleichmacherei und schematischer Vereinheitlichung, zum Durchboxen eines rechtlichen Modells auf Kosten aller anderen erwarten? Freilich gewinnt man in der gegenwärtigen Diskussion manchmal den Eindruck, als seien die Unterschiede zwischen den europäischen Rechtsordnungen per se von Übel und als müsse zumindest in der EU eine Rechtsvereinheitlichung um jeden Preis erreicht werden. Solche Forderungen werden eher von Politikern oder in der Rechtsvergleichung unerfahrenen Juristen erhoben, welche die Mühe einer Beschäftigung mit fremdem Recht scheuen und die Vorteile der Vielfalt verkennen. Hier lohnt ein kurzer Blick über die engen Grenzen des Rechts: Über Jahrhunderte war eine Vielfalt von Kulturen, von Ideen über Staat und Gesellschaft, von Lösungen für grundlegende wirtschaftliche und soziale Probleme ein Charakteristikum unseres europäi2 Vgl. dazu z.B. Zweigert/Kötz Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, § 2 I, S. 12–31, die dies schon in der 1. Aufl. von 1971 festgestellt haben; ferner Weick in Groß (ed.) Legal Scholarship in International and Comparative Law, Frankfurt a.M. u. a., 2003, S. 249 f.

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schen Kontinents. Diese kulturelle Vielfalt wird allgemein als Vorzug, ja als Glücksfall verstanden. Auch Recht ist eine Kulturerscheinung. Was für Philosophie, politische Theorie, Kulturwissenschaften, Literatur, Theater und bildende Kunst richtig ist, kann für das Recht nicht falsch sein. Die Vielfalt der Rechtssysteme in Europa hat zu einem fruchtbaren Wettbewerb unter ihnen geführt. Die Diversität und Konkurrenz verschiedener juristischer Methoden und Ideen, die vielfältigen miteinander im Wettbewerb stehenden rechtlichen Lösungen für ähnliche wirtschaftliche und soziale Probleme sind entscheidend für den hohen Standard des Rechts und der Rechtswissenschaft in Europa sowie für ihre Vorbildfunktion und ihren Einfluss in der Welt. Allerdings führt die Verschiedenheit von Rechtssystemen nicht automatisch zu einer nützlichen Konkurrenz. Wenn Systeme streng voneinander getrennt sind, wenn es zwischen ihnen keine Möglichkeit oder Bereitschaft zur Kommunikation gibt, dann führt das Bewusstsein der Verschiedenheit oft zu Ressentiments und u. U. zu schroffer Ablehnung. Übrigens ist es typisch für Diktaturen, dass sie die Rechtsvergleichung scheuen, mitunter sogar verbieten oder behaupten, ihr eigenes System sei mit den anderen (feindlichen) nicht vergleichbar. Über die Gründe dieser Aversion braucht man nicht lange zu rätseln. Wenn man Wettbewerb als einen ständigen Prozess des Leistungsvergleichs und der Verbesserung der eigenen Leistung versteht, so hängt das von bestimmten Bedingungen ab: gute wechselseitige Information, Transparenz, geistige Aufgeschlossenheit und Flexibilität. Es liegt auf der Hand, dass dies nicht Eigenschaften sind, die bornierte Diktaturen auszeichnen. Diese Rahmenbedingungen waren aber – wenn man von einigen finsteren Epochen in unserer Geschichte absieht – überwiegend in Europa vorhanden. Dank seiner Geographie und seiner relativ guten Kommunikationsbedingungen waren sie in diesem Teil der Welt vielleicht besser als in anderen Kontinenten. Europa war jedenfalls über Jahrhunderte ein idealer Platz für einen derartigen ideellen Leistungswettbewerb; es war wie ein großes Labor, in dem kreative Gruppen in enger Nachbarschaft und im Wettbewerb miteinander Forschungs- und Entwicklungsarbeit leisten. Ferner darf Wettbewerb nicht in dem primitiven Sinn verstanden werden, dass die einzelnen Staaten z. B. die Gründung von Kapitalgesellschaften sehr einfach machen oder niedrigere Unternehmenssteuern erheben als andere. Das schafft zwar kurzfristig statistische oder fiskalische Erfolge, geht aber auf Kosten anderer, z. B. der Gläubiger, der Verbraucher oder der Sozialsysteme. Leistungswettbewerb unter Rechtsordnungen ist etwas anderes. Ich verstehe darunter einen Wettbewerb verantwortungsvoller und in sich schlüssiger Lösungen von Problemen zu vernünftigen sozialen Kosten, vor allem aber eine Konkurrenz von Ideen, methodischen Konzepten und Wertmaßstäben.

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Schließlich ist offensichtlich, dass Rechtsvergleichung als wissenschaftliche Methode und praxisorientierte Disziplin unentbehrlich ist für einen effektiven Wettbewerb der Rechtssysteme. Sie leistet einen wesentlichen Beitrag zur wechselseitigen Information und Verständigung, zum Austausch von Ideen und Lösungsmöglichkeiten und damit zu Innovationen. Auch hierbei war Europa nicht zufällig der führende Kontinent. Europäische Wissenschaftler und Praktiker haben die moderne Rechtsvergleichung begründet und maßgeblich entwickelt.

II. Erscheinungsformen der Konvergenz Meine positive Würdigung der Vielfalt und des Wettbewerbs könnte nun den Eindruck erwecken, dass das zweite Element meines Themas, die Konvergenz, in meinen Augen etwas Gefährliches oder Verwerfliches sei, das man möglichst bekämpfen müsse. Das ist keineswegs der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen. Zwar liegt in einer unausgereiften und schlecht durchgeführten oder sogar gegen den Willen der Betroffenen erzwungenen Rechtsvereinheitlichung eine größere Gefahr als in zuviel Wettbewerb zwischen Rechtsordnungen. Aber das schließt nicht aus, dass Konvergenz in manchen Bereichen des Rechts erforderlich ist und vielfach positive Wirkungen zeigt. Unter Konvergenz versteht man im allgemeinen einen Prozess der Annäherung bis hin zur weitgehenden Übereinstimmung. Wenn man von Konvergenz der Rechtsordnungen spricht, so meint man, dass sich diese im Laufe der Zeit ähnlicher werden, dass sie sich also allmählich annähern und möglicherweise sogar angleichen. In diesem Zusammenhang ist es interessant, an eine Äußerung von Savigny in seinem „System des heutigen Römischen Rechts“ aus dem Jahr 1849 zu erinnern. Er charakterisiert die Anwendung fremden Rechts aufgrund des Internationalen Privatrechts als Akt „freundlicher Zulassung“ und fährt dann fort: „Nur darf diese Zulassung nicht gedacht werden als Ausfluß bloßer Großmuth oder Willkür (…). Vielmehr ist darin eine eigenthümliche und fortschreitende Rechtsentwicklung zu erkennen, gleichen Schritt haltend mit der Behandlung der Collisionen unter den Particularrechten desselben Staates.“ 3 IPR wird ohne Umschweife charakterisiert als eine „Lehre, die ihrer Natur nach darauf ausgehen muß, die nationalen Gegensätze in einer anerkannten Gemeinschaft der verschiedenen Nationen aufzulösen.“ 4 Dies ist in doppelter Hinsicht überraschend: Savigny richtet in einer Zeit, in der jeder, der sich in Deutschland „progressiv“ dünkte, für einen Nationalstaat und ein einheitliches deutsches Recht kämpfte (man beachte in diesem 3 4

Von Savigny System des heutigen Römischen Rechts, Bd. VIII (1849), S. 28. Von Savigny a.a.O S. V.

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Zusammenhang Savigny’s beiläufige Bemerkung zur „Nationalität“ als „vorherrschende Richtung neuester Zeit“ 5), den Blick auf die internationale Aufhebung der Gegensätze, ja er stellt nationale Rechtseinheit und internationale Rechtskonvergenz fast auf eine Stufe. Und er sieht zweitens die Konvergenz gerade als Leistung des Kollisionsrechts, also einer Disziplin, die es doch eigentlich mit dem Zusammenstoß der Rechtsordnungen und der Entscheidung zugunsten eines der kollidierenden nationalen Rechte zu tun haben soll. Savigny galt in seinen späteren Jahren als verstockter Konservativer, heute könnte er Vordenker der europäischen Konvergenz sein! Gegenwärtig lässt sich ein Prozess der Konvergenz europäischer Rechtsordnungen auf mindestens vier Ebenen beobachten: Verschiedene Rechtsordnungen können sich durch zweiseitige oder mehrseitige völkerrechtliche Verträge annähern. Dies ist eine seit langem praktizierte Methode, etwa im Bereich des Internationalen Privatrechts durch die zahlreichen Haager Konventionen oder durch die Übereinkommen zum Verkehrs- und Transportrecht. Die zweite Methode ist die Schaffung von internationalem Einheitsrecht. Auch hier liegen völkerrechtliche Verträge zugrunde, zum Beispiel die Wiener Konvention von 1980 zum internationalen Warenkaufrecht (im Folgenden: CISG ). Innerhalb der Europäischen Gemeinschaft findet ferner eine ständige und zunehmende Angleichung des Rechts der Mitgliedstaaten durch Richtlinien und Verordnungen statt. Während die Richtlinien sich an die Mitgliedstaaten wenden und diese verpflichten, ihr Recht innerhalb bestimmter Fristen anzugleichen, setzen die Verordnungen unmittelbar geltendes Recht in allen Mitgliedstaaten, also eine Art Gemeinschafts-Einheitsrecht. In letzter Zeit hat man den Eindruck, dass die EG zunehmend auf diese schärfere Form der Vereinheitlichung setzt, z. B. im Bereich der Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung, wo das EuGVÜ durch die EuGVVO von 2000 ersetzt wurde. Die drei bisher genannten Methoden sind allgemein bekannt. Sie werden von Staaten und internationalen Organisationen angewendet, beruhen also letzten Endes auf Entscheidungen der Einzelstaaten oder überstaatlicher Organisationen, denen dafür die Kompetenz übertragen wurde, insbesondere der EG . Es handelt sich um eine Konvergenz durch „Befehl von oben“. Es gibt aber noch eine vierte Art von Konvergenz, deren Bedeutung oft gar nicht erkannt oder doch unterschätzt wird. Ich möchte sie in Anlehnung an einen Terminus aus der Rechtsquellenlehre „soft convergence“ nennen. Auf Deutsch könnte man von „weicher Konvergenz“ oder „behutsamer Annäherung“ sprechen. Sie beruht nicht auf staatlichen Entscheidungen oder der Normsetzung durch europäische Organe. Sie findet deshalb auch wenig 5

Von Savigny a.a.O S. V.

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Aufmerksamkeit in den Medien. Ihre Protagonisten sind Wissenschaftler oder Praktiker, internationale Arbeitsgruppen oder Forschungsinstitute, Konferenzteilnehmer und Austauschstudenten, ja unter Umständen sogar juristische Laien, die mit einer fremden Rechtskultur Erfahrungen machen. Diese Art von Konvergenz wächst aus dem Wettbewerb der verschiedenen Rechtsordnungen. Ihr Motor ist die Konkurrenz der Ideen, und ihr Medium ist die Überzeugung, nicht ein staatlicher oder suprastaatlicher Befehl. Das schließt nicht aus, dass sich in einer späteren Phase daraus Entscheidungen der Gesetzgeber oder sonstiges staatliches Handeln ergeben können. Soft convergence kann eine Rechtsangleichung oder Rechtsvereinheitlichung vorbereiten. Ich bin sogar der Ansicht, dass ohne eine solche Vorarbeit und Vorformung eine staatlich bzw. suprastaatlich befohlene Vereinheitlichung verfehlt ist und wenig Erfolgschancen hat. Wettbewerb und Konvergenz stehen also bei soft convergence in engem Zusammenhang. Ihr Inhalt und ihre Reichweite können sich auf einzelne Ideen und Kriterien beschränken, sie kann Lösungsmöglichkeiten für bestimmte Probleme betreffen, es kann um neue Rechtsinstitute oder sogar um eine völlig neue Methode gehen.

III. Beispiele für „weiche Konvergenz“ im Privatrecht Für die zuletzt beschriebene Art der Konvergenz sollen im folgenden einige Beispiele erörtert werden. 1. Kreditsicherheiten Mein erstes Beispiel kommt aus dem Bereich der Kreditsicherung in Frankreich und Deutschland, und zwar der Sicherheiten durch Rechte an beweglichen Sachen und Forderungen. Sowohl der Code Civil als auch das BGB gingen von einem sehr engen Standpunkt aus. Sie ließen für bewegliche Sachen praktisch nur das Besitzpfandrecht zu, d. h. die verpfändete Sache musste in den Besitz des Gläubigers übergehen oder sich bereits in dessen Besitz befinden (vgl. Art. 2076 franz. CC und § 1205 BGB ). Das ist wenig attraktiv und den Bedürfnissen einer modernen Wirtschaft nicht angemessen. Ähnlich unbeliebt und unüblich ist die Verpfändung einer Forderung. Hier stört die Sicherungsgeber vor allem die obligatorische Anzeige an den Schuldner der verpfändeten Forderung (§ 1280 BGB ). Beide Rechtsordnungen haben deshalb die Möglichkeiten, bewegliche Sachen und Forderungen für Zwecke der Kreditsicherung nutzbar zu machen, allmählich erweitert. Sie sind dabei aber ganz unterschiedliche Wege gegangen. Das französische Recht hat die zusätzlichen Sicherungsrechte an beweglichen Sachen detailliert in ungefähr zehn Sondergesetzen geregelt. Es handelt sich im Wesentlichen um Registerpfandrechte (nantissements) oder um vom Ge-

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richt ausgestellte Pfandscheine (warrants). So kann man etwa besitzlose Pfandrechte an Kraftfahrzeugen oder Betriebsausrüstungen begründen, aber diese müssen in bestimmte Register eingetragen werden. Bis ungefähr 1980 verfügte das französische Recht also schon über eine Reihe von Instrumenten, um Sachen von wirtschaftlichem Wert als besitzlose Kreditsicherheiten zu nutzen, aber die Gegenstände mussten unter eines der Sondergesetze fallen, und es musste das Instrumentarium der Registerpfandrechte oder der vom Gericht ausgestellten Pfandscheine verwendet werden. Dadurch erschien das System für ausländische Beobachter als ziemlich formalistisch und starr. Noch deutlicher wurde das bei der Abtretung von Forderungen, der die französischen Gesetzgeber ausgesprochen misstrauisch gegenüberstanden und die sie an strenge Formvorschriften banden. Die Wirksamkeit der Abtretung (ebenso der Verpfändung) gegenüber Dritten setzte eine förmliche Mitteilung an den Schuldner der abzutretenden Forderung voraus, wofür man auch noch den Gerichtsvollzieher bemühen musste, oder zumindest eine Annahme durch den Schuldner in einer notariellen Urkunde. Unter diesen Umständen überrascht es nicht, dass die Abtretung von Forderungen lange Zeit in Frankreich als Sicherungsmittel praktisch ungebräuchlich war. Ganz andere Wege ging das deutsche Recht. Zwar enthält das BGB nur gesetzliche Regeln über das Besitzpfandrecht, die Verpfändung von Forderungen und den einfachen Eigentumsvorbehalt. Diese wenigen gesetzlich ausgestalteten Formen sind jedoch von einer Vielfalt von Kreationen der Vertragspraxis überwuchert worden: die Sicherungsübereignung von beweglichen Sachen, die Sicherungsabtretung von Forderungen, verschiedene Erweiterungen des Eigentumsvorbehalts, z. B. der sog. verlängerte Eigentumsvorbehalt, bei dem der einfache Eigentumsvorbehalt mit der Sicherungsabtretung zukünftiger Forderungen aus dem Verkauf des Vorbehaltsgutes kombiniert wird, ferner die Verarbeitungsklauseln, die Verbindung von Sicherungsübereignung mit Sicherungsabtretung und anderes mehr. Das Erstaunliche ist, dass diese „Erfindungen“ weitgehend ohne Formvorschriften, Register oder sonstige Publizität auskommen. Ausländische Juristen sind immer wieder erstaunt über dieses Phänomen, das so gar nicht mit ihren Vorstellungen von deutscher Ordnungsliebe und Gründlichkeit übereinstimmt. Es gibt dazu auch keine Sondergesetze wie in Frankreich. Das BGB hat diese Rechtsformen jedenfalls nicht ausgeschlossen, sondern zum Teil sogar die Bausteine dafür zur Verfügung gestellt, z. B. durch die Zulassung der „stillen Zession“, also der drittwirksamen Abtretung ohne Benachrichtigung des Schuldners, oder durch die Möglichkeit der Übereignung ohne Übergabe der Sache (sog. Besitzkonstitut). Die deutsche Rechtsprechung hat in den letzten hundert Jahren diese Kreationen ebenfalls fast ausnahmslos abgesegnet. Charakteristisch für das gegenwärtige deutsche Recht der Mobiliarsicherheiten sind also eine große Variationsbreite, Flexibilität,

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Formfreiheit und erstaunlich wenig Publizität. Den Interessen der Kreditnehmer und der Kreditwirtschaft kam das entgegen, denn man kann in Deutschland praktisch alles, was wirtschaftlichen Wert hat, auch als Kreditsicherheit nutzbar machen. Dadurch wurde der wirtschaftliche Aufschwung nach 1948 rechtlich unterstützt. Freilich ging das nicht ohne „Risiken und Nebenwirkungen“. Leidtragende waren oft die ungesicherten Gläubiger. Die geringe Beachtung der Sicherheit des Rechtsverkehrs und vor allem der Publizität führte zum Teil zu ernsten Konflikten, z. B. den notorischen Kollisionen zwischen Geldkreditgebern und Warenkreditgebern, die sich beide die selben künftigen Forderungen im Voraus abtreten ließen, die ersten durch Globalzession, die zweiten durch verlängerten Eigentumsvorbehalt. Die ausländischen Beobachter sahen diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen. Einerseits beneideten Wirtschaftskreise die Deutschen um ihr reichhaltiges und flexibles Instrumentarium, das sich offenbar konjunkturfördernd auswirkte, andererseits machte es auf sie den Eindruck von „Wilder Westen“ (aus französischer Sicht natürlich „Wilder Osten“). Beide Systeme – wenn man bei dem deutschen überhaupt von einem System sprechen will – standen also in deutlichem Gegensatz und in Konkurrenz zueinander. Für beide Wege gab es gute Gründe, aber beide zeigten auch verschiedene Mängel und nachteilige Wirkungen. Der seit den sechziger Jahren unternommene Versuch, im Rahmen der EG ein europäisches besitzloses Pfandrecht zu schaffen, also eine Lösung durch „Befehl von oben“, verlief im Sande. Auf deutscher Seite bestand wenig Interesse an einem System begrenzter spezialgesetzlicher Sicherungsrechte nach französischem Vorbild. Zwar war man im deutschen Internationalen Privatrecht bereit, die französischen Registerpfandrechte anzuerkennen6 und nicht etwa am Faustpfandprinzip scheitern zu lassen; das wäre in Anbetracht der Zulassung der Sicherungsübereignung und anderer publizitätsarmer Sicherungsrechte auch heuchlerisch gewesen. Aber rezipieren wollte man die engen, formalisierten französischen Instrumente nicht. Interessant ist nun, wie die französischen Juristen in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft auf diese Wettbewerbssituation reagiert haben. Viele Wirtschaftsjuristen sahen – wie schon erwähnt – neidisch auf die großzügigen Kreditsicherungsmöglichkeiten beim Nachbarn im Osten. Manche gingen so weit, das sogenannte deutsche Wirtschaftswunder auch auf das liberale und flexible Kreditsicherungsrecht zurückzuführen. Das eigene System wurde als unnötig restriktiv und formalistisch empfunden. Andererseits sah man aber auch die Nachteile und Übertreibungen im Wildwuchs von Kreditsicherheiten beim deutschen Nachbarn. Rechtswissenschaftliche und rechtspolitische Arbeiten wiesen auf die positiven Elemente hin, aber auch auf die Fehler und Schwächen, die man vermeiden müsse. 6

Vgl. z. B. BGHZ 39, 173.

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Dem Druck von unten sind dann schließlich auch die französischen Gesetzgeber gefolgt. Nachdem die Konvergenz in den Köpfen bereits weit gediehen war, wurde die gesetzliche Annäherung in mehreren Schritten vollzogen. (1) Der Eigentumsvorbehalt (réserve de la propriété) hatte in Frankreich bis 1980 kaum praktische Bedeutung, weil die Rechtsprechung ihm die Wirkung im Konkurs des Vorbehaltskäufers verweigerte. Durch Gesetz vom 12. Mai 1980 wurde dann nach dem Vorbild des deutschen Rechts und anderer benachbarter Rechtsordnungen der Eigentumsvorbehalt zu einer konkursfesten Sicherheit umgestaltet. 7 Aber man versuchte in Frankreich, einige Fehler des deutschen Rechts zu vermeiden: Schriftform ist zwingend vorgeschrieben, andernfalls fehlt die „Konkursfestigkeit“. Eine „Verlängerung“ der Sicherheit auf Forderungen aus der Weiterveräußerung des Vorbehaltsgutes ist zwar nicht ausgeschlossen, aber erschwert. Die Erstreckung des Eigentumsvorbehalts auf Produkte, die aus der Verarbeitung der Vorbehaltsware entstehen, ist – anders als in Deutschland – ausgeschlossen. (2) In einem zweiten Schritt wurde 1981 durch die loi Dailly 8 die Abtretung gewerblicher Forderungen – jedenfalls die Abtretung an Kreditinstitute – wesentlich erleichtert und damit eine Sicherungsabtretung wie in Deutschland eigentlich erst ermöglicht. Als Form genügt nunmehr die Übergabe eines Verzeichnisses der abgetretenen Forderungen an den Zessionar. Ungewiss ist dagegen noch, ob auch zukünftige Forderungen zur Sicherheit abgetreten werden können. 9 Vor den dadurch in Deutschland ausgelösten Problemen schreckt man teilweise noch zurück. (3) Als nächster Schritt war unter der Premierministerin Cresson und dem Justizminister Nallet die Einführung eines der Sicherungsübereignung entsprechenden Instruments in Frankreich geplant. Der Gesetzentwurf zur „fiducie“ von 199210 wollte nicht nur der deutschen Idee der Sicherungsübereignung, sondern auch noch dem englischen Instrument des Trust die Tür ins französische Rechtssystem öffnen. Dieser kühne Vorstoß hatte bisher keinen Erfolg, aber es ist doch interessant, mit welchen Argumenten der Gesetzentwurf begründet wurde. Die Verfasser weisen in ihrem „exposé des motifs“ auf die Internationalisierung des wirtschaftlichen Lebens hin, die dazu geführt habe, dass die französischen Praktiker die ausländischen Rechtsformen kennen 7 Vgl. dazu Martina Schulz Der Eigentumsvorbehalt in europäischen Rechtsordnungen, Frankfurt a.M. u. a., 1998 (zugleich Diss. Gießen), S. 135 ff, 152 ff; Witz NJW 1982, 1897 ff, dort S. 1898 auch Nachweise zu den Reformforderungen vor 1981 in der französischen Wissenschaft und Wirtschaft. Nach Änderungen von 1985 und 2000 ist die entsprechende Regelung jetzt im neuen Code de Commerce (artt. L 621–122 ff) enthalten. 8 Loi no. 81–1 vom 2. Januar 1981, vgl. dazu Schulz aaO. (Fn. 7) S. 180 f; Mezger RIW / AWD 1981, 213 ff. 9 Vgl. Schulz aaO. (Fn. 7) S. 181 f und 178 f. Die h.M. in Frankreich lässt wohl grundsätzlich die Vorausabtretung zu, nicht aber in der Form eines verlängerten Eigentumsvorbehalts. 10 Projet de loi instituant la fiducie, Assemblée Nationale No 2583 v. 25. 02. 1992.

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und schätzen gelernt hätten, und dass die Einführung der fiducie eine Bereicherung des französischen positiven Rechts wäre.11 Das sind typische Überlegungen einer „soft convergence“. 2. Privity of contract und Vertrag zugunsten Dritter Das zweite Beispiel betrifft das Verhältnis des englischen Rechts zu den Rechtsordnungen auf dem europäischen Festland. Seit Jahrhunderten wurde im englischen Common Law das Prinzip der privity of contract streng verstanden und beachtet. Es bedeutet, dass durch einen Vertrag nur Rechte und Pflichten zwischen den beiden Vertragspartnern begründet werden. Ein echter Vertrag zugunsten Dritter, wie ihn das deutsche Recht in §§ 328 ff BGB oder das schweizerische Recht in Art. 112 OR kennt, war damit ausgeschlossen. Neben diesem Vertrag zugunsten Dritter hat das deutsche Recht noch als richterliche Rechtsfortbildung den Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte entwickelt. Auch in England besteht aber das Bedürfnis, durch Vertrag zwischen zwei Parteien einer dritten Person eine gesicherte Rechtsposition zu verschaffen. Das hat das englische Recht zunächst vor allem durch das Instrument des Trust zu erreichen versucht. Ganz ausreichend ist diese Lösung offenbar nicht, und sie ist auch ziemlich umständlich. In England gibt es nun mit der Law Commission ein Gremium, das ständig auf hohem Niveau an der Weiterentwicklung und Reform des Rechts arbeitet, in diesem Rahmen dem Gesetzgeber Vorschläge macht, ihn berät und so im günstigen Fall konkrete Gesetzesprojekte vorbereitet. In ihrem Signum steht „working for better law“. Ein ähnliches Gremium gibt es übrigens auch für Schottland. Die Law Commissions betreiben natürlich auch intensiv Rechtsvergleichung, bevor sie dem Parlament und der Öffentlichkeit Vorschläge zur Reform unterbreiten. Man kann sie als Katalysatoren der soft convergence ansehen. Im Fall der Verträge zugunsten Dritter hatte die englische Law Commission nach längeren Studien und Vorbereitungen vor ca. acht Jahren in einem für das englische Recht sehr weitgehenden Reformvorschlag die Einführung von „contracts for the benefit of third parties“, also echter Verträge zugunsten Dritter empfohlen.12 Nach beharrlicher Überzeugungsarbeit ist das Parlament dem Vorschlag gefolgt, und zwar mit dem Contracts (Rights of Third Parties) Act 1999. Damit wurde eine Bresche in die geheiligte englische Doktrin der privity of contract geschlagen.13 Das englische Recht hat sich in einem zentralen Bereich des Privatrechts den kontiA.a.O. (Fn. 10), S. 3. Law Commission ( LAW COM No 242), Privity of Contract: Contracts for the Benefit of Third Parties; Cm 3329, London 1996. 13 Vgl. dazu ausführlich M. F. Peter Verträge zugunsten Dritter im englischen und deutschen Recht unter Berücksichtigung des Contracts (Rights of Third Parties) Act 1999, Göttingen 2001 (zugleich Diss. Gießen). 11 12

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nental-europäischen Rechten angenähert. Allerdings konnten sich weder die Law Commission noch die englischen Gesetzgeber entschließen, auch die Grundsätze über die Verträge mit Schutzwirkung für Dritte zu übernehmen, was m. E. verständlich ist. 3. Leistungsstörungen im reformierten deutschen Schuldrecht Im dritten Beispiel geht es um eine Annäherung in umgekehrter Richtung. Vor etwa drei Jahren sind in Deutschland im Zuge der sog. Schuldrechtsmodernisierung das allgemeine Schuldrecht, das Kauf- und Werkvertragsrecht und das Recht zahlreicher anderer Vertragstypen sowie das Verjährungsrecht grundlegend reformiert worden. Darüber, dass das deutsche Schuldrecht und Verjährungsrecht reformbedürftig waren, bestand weitgehend Einigkeit. Die Geschichte der Reform ist paradox: Erst ging es sehr langsam, vielleicht etwas zu langsam, dann auf einmal sehr schnell, nach Meinung vieler Leute zu schnell. Ich will diesen Streit und das Für und Wider von Inhalten und Verfahren der Reform hier nicht erneut aufrollen. Bekanntlich reichen die Vorarbeiten bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück, als der damalige Bundesjustizminister Gutachten zur Reform des Schuldrechts und Verjährungsrechts einholte.14 1984 wurde die sog. Schuldrechtskommission eingesetzt, die immerhin acht Jahre brauchte, bis sie ihren Abschlussbericht mit Gesetzesvorschlägen vorlegte.15 Dann passierte fünf Jahre lang wieder wenig, bis drei europäische Richtlinien von 1999 und 2000 die Gesetzgeber unter Druck setzten, der noch dadurch verschärft wurde, dass man die Umsetzung der Richtlinien mit der großen Schuldrechtsreform und der Einarbeitung fast des ganzen Verbraucherschutzrechts ins BGB verbinden wollte. Das Ergebnis ist bekannt. Das neue Recht ist am 1. Januar 2002 in Kraft getreten und muss sich nun bewähren. Unter dem Gesichtpunkt der Konvergenz ist vor allem das neue Recht der Leistungsstörungen interessant. Wenn ich diesen Begriff verwende, stocke ich schon, denn bei der völligen Umgestaltung dieses zentralen Bereichs des Schuldrechts hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Das ursprüngliche System der vertraglichen Haftung war charakterisiert durch mehrere selbständige Typen von Leistungsstörungen (Unmöglichkeit mit verschiedenen Untertatbeständen, Schuldnerverzug, Gläubigerverzug, Sachmängel, Rechtsmängel sowie die später hinzu tretenden Rechtsfiguren positive Vertragsverletzung und Wegfall der Geschäftsgrundlage). Man kann diese Typen sicher unter dem Sammelbegriff „Leistungsstörungen“ zusammenfas14 Die Ergebnisse finden sich in: Bundesminister der Justiz (Hrsg.) Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Köln 1981–1983. 15 Vgl. Bundesminister der Justiz (Hrsg.) Abschlußbericht der Kommission zur Überarbeitung des Schuldrechts, Köln 1992.

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sen, der zunächst in Bezug auf die Verantwortung der Vertragsparteien neutral ist und erst bei den Rechtsfolgen der Störungen nach der Verursachung und dem Vertretenmüssen fragt. Allerdings deckte der Begriff auch nicht alle denkbaren Störungen des Schuldverhältnisses ab, z. B. nicht die Verursachung zusätzlicher Schäden nach ordnungsmäßiger Erbringung der versprochenen Leistung. Das reformierte Schuldrecht baut dagegen auf einem übergeordneten umfassenden Tatbestand der „Pflichtverletzung“ auf (vgl. z. B. §§ 280, 284 BGB). Die Pflichtverletzung soll aber entgegen dem Anschein, den das Wort erweckt, rein objektiv verstanden werden, dass der versprochene Leistungserfolg nicht eingetreten oder der Schuldner in anderer Weise hinter dem Pflichtenprogramm des betreffenden Schuldverhältnisses zurückgeblieben ist. Dieser Ansatz findet sich bereits bei den Gutachtern aus den achtziger Jahren und den Vorschlägen der Schuldrechtskommission.16 Er ist eindeutig auf den Einfluss des Common Law auf dem Umweg über das UN -Kaufrecht zurückzuführen, denn es ist kein Geheimnis, dass die Verfasser der CISG sich bei der Regelung der Vertragsverletzungen am Common Law orientiert haben.17 Das englische Recht geht ebenfalls nicht von einzelnen Typen der Leistungsstörungen aus, sondern von einem allgemeinen Tatbestand „breach of contract“. Im englischen Text des UN -Kaufrechts findet sich derselbe Begriff, im deutschen Text „Vertragsverletzung“ (z. B. Art. 25 oder 74 CISG).18 Das reformierte Schuldrecht ist dann zur Variante „Pflichtverletzung“ übergegangen, weil man ja nicht nur Störungen von vertraglichen Schuldverhältnissen, sondern von Schuldverhältnissen aller Art regeln wollte. Dieser Begriff ist unglücklich und hat u. a. die Schwäche, dass er für manche Leistungsstörungen einfach nicht passt, z. B. einen von keiner Partei zu verantwortenden Wegfall der Geschäftsgrundlage oder die Fälle, dass der Leistungserfolg wegen eines Fehlverhaltens des Gläubigers ausbleibt. Diese terminologischen Bedenken ändern aber nichts daran, dass das neue deutsche Schuldrecht hier ein zentrales Systemelement rezipiert hat, welches eindeutig aus dem Common Law stammt und die geistigen Väter der Reform nach sorgfältigen Vergleichen wegen seiner Einfachheit mehr 16 Insbes. bei U. Huber aaO. (Fn. 14) S. 647 ff (699), dort allerdings noch unter dem Begriff „Nichterfüllung“, wobei sich Huber ausdrücklich an das UN -Kaufrecht anlehnt. Erst in der Schuldrechtskommission wurde der Tatbestand dann unter Bezugnahme auf Diederichsen (AcP 182 [1982] 101, 117 ff) in „Pflichtverletzung“ umbenannt, vgl. Abschlußbericht, aaO. (Fn. 15), S. 130. 17 Vgl. dazu z. B. Huber in v.Caemmerer/Schlechtriem Kommentar zum Einheitlichen UN -Kaufrecht, 1. Aufl. 1990, Art. 45 Rn. 9; Stoll ebenda Art. 74 Rn. 4, 6; ferner die weitgehende Anlehnung der Regelungen der CISG in Bezug auf Vertragsgemäßheit der Ware und Sachmängelhaftung an den englischen Sale of Goods Act. 18 Allerdings verwendet das UN -Kaufrecht für den zentralen Tatbestand auch den Begriff „Nichterfüllung“ („failure to perform“, „inexécution“), z. B. in Art. 45, 79 CISG , doch ist dieser gleichbedeutend mit „Vertragsverletzung“; vgl. Stoll in v.Caemmerer/Schlechtriem aaO. (Fn. 17), 2. Aufl. 1995, Art. 79 Rn. 12 und Huber ebenda, Art. 45 Rn. 6.

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überzeugte als der Wildwuchs der einzelnen Leistungsstörungstypen mit ihren Abgrenzungsschwierigkeiten, Wertungswidersprüchen und Konkurrenzen. Die früheren Typen der Leistungsstörungen sind damit nicht alle irrelevant geworden, aber sie sind nicht mehr das beherrschende System, sondern gleichsam in die zweite Reihe getreten und darüber hinaus reduziert worden. Sie sind nur noch Unterfälle des allgemeinen Tatbestands der Pflichtverletzung. Auch in dieser Hinsicht entspricht das Schuldrecht des BGB jetzt dem Common Law und dem UN -Kaufrecht, denn auch dort werden ja nicht alle Vertragsverletzungen nach demselben Schema behandelt, sondern bei den konkreten Rechtsfolgen wird in gewissem Umfang zwischen Verzögerung der Leistung, mangelhafter Leistung, Rechtsmängeln etc. unterschieden. Nach Common Law ist die regelmäßige Rechtsfolge eines breach of contract Schadensersatz. Entsprechendes findet sich auch im neuen § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB : Pflichtverletzung des Schuldners führt grundsätzlich zum Schadensersatzanspruch des Gläubigers. Während es aber nach Common Law und CISG nicht auf Verschulden ankommt, hält das BGB formal daran fest, dass der Schadensersatzanspruch davon abhängt, dass der Schuldner seine objektive Pflichtverletzung zu vertreten hat. Entscheidend ist aber, dass die Beweislast insoweit jetzt allgemein dem Schuldner aufgebürdet wird (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB ). Damit ist der Unterschied zum UN -Kaufrecht und zum Common Law nicht mehr groß, denn auch dort hat der Schuldner trotz objektiver Vertragsverletzung noch die Möglichkeiten der Befreiung von der Verantwortlichkeit (exemptions), wenn der Hinderungsgrund außerhalb seines Einflussbereichs lag, also vor allem in den Fällen der force majeure, oder wenn die Nichterfüllung durch ein Verhalten der anderen Vertragspartei verursacht worden ist (vgl. z. B. Artt. 79, 80 CISG ). Im übrigen wird es dem Schuldner sehr schwer werden, den Gegenbeweis nach § 280 Abs. 1 BGB zu führen. Auch hier zeigt sich also eine deutliche Annäherung, die bereits durch die Vorarbeiten der Schuldrechtsreform eingeleitet worden war. Das reformierte deutsche Schuldrecht bietet zahlreiche weitere Beispiele für Konvergenz: Die Unmöglichkeit der Leistung, ein Lieblingskind der Pandektenwissenschaft, hat ihre zentrale Stellung im Leistungsstörungsrecht verloren. Auch hierbei hat man sich ausdrücklich am UN -Kaufrecht und am anglo-amerikanischen Recht orientiert. Wie im Common Law ist das Rücktrittsrecht nicht mehr vom Vertretenmüssen der Pflichtverletzung abhängig; die frühere Verkoppelung der Tatbestände für Rücktrittsrecht und Schadensersatz in zentralen Haftungstatbeständen (insbes. §§ 325 und 326 BGB a.F.) wurde aufgelöst. Statt dessen gibt es jetzt aber andere Einschränkungen: Nicht jede Pflichtverletzung führt zum gesetzlichen Rücktrittsrecht. Auch das entspricht den Grundsätzen im Common Law und UN Kaufrecht. Rücktritt und vertraglicher Schadensersatz schließen sich nicht mehr gegenseitig aus, wie es das alte deutsche Schuldrecht leider vorsah.

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Jetzt kann man, ebenso wie im Common Law und anderen europäischen Rechtsordnungen, trotz Rücktritts auch noch Schadensersatz aufgrund des Vertrages verlangen, insbes. für die Schäden, die dem Gläubiger trotz der Rückabwicklung des Vertrages verbleiben (§ 325 BGB n.F.). Das deutsche Recht hat sich hier endlich über formale Bedenken hinweggesetzt und ist der besseren Lösung ausländischer Rechte, die das Problem pragmatisch angingen, gefolgt.19 Auch bei der grundsätzlichen Gleichbehandlung der Falschlieferung (aliud) und der Schlechtlieferung hat das reformierte deutsche Schuldrecht überholte Positionen aufgegeben und sich an ausländische Standards angepasst. 4. Resümee Die drei Beispiele zeigen: Die geistigen Väter der jeweiligen Reformen haben nach sorgfältiger Prüfung und Abwägung bei bestimmten (und zwar sogar bei zentralen) Fragen die klareren Strukturen und die Überzeugungskraft der Lösungen eines anderen Rechtssystems vorgezogen, selbst wenn sie nicht im Einklang mit eigenen Traditionen und dogmatischen Vorprägungen standen. Sie waren offenbar auch nicht der Meinung, dass das Recht der Schuldverhältnisse bzw. der Kreditsicherheiten ein Produkt des „Volksgeistes“ ist, welches man nicht mit fremden Elementen vermischen dürfe. Die beiden letzten Beispiele zeigen noch ein Weiteres: Die Unterschiede zwischen dem englischen Recht als einem vom Fallrecht geprägten System und dem deutschen Recht als kodifiziertem System sind offenbar kein Hindernis für einen Wettbewerb der Rechtsordnungen und der Lösungsideen. Ein kodifiziertes Rechtssystem kann wichtige Elemente aus einem Fallrechtssystem adaptieren, und umgekehrt kann das Common Law – wie das Beispiel der Verträge zugunsten Dritter zeigt – Modelle aus kodifizierten Rechten übernehmen.

IV. Uniformität – ein Rückschritt Mit diesen grundsätzlich positiv zu bewertenden Beispielen einer Konvergenz in europäischen Privatrechtsordnungen soll nun keineswegs einer durchgängigen Rechtsvereinheitlichung im Zivilrecht oder sogar einem einheitlichen Zivilgesetzbuch der EU das Wort geredet werden, wie es im Jahr 1989 das Europäische Parlament in einer Resolution gefordert hatte. 20 Das Gegenteil ist gemeint. Es würde den fruchtbaren Wettbewerb zwischen den 19 Vgl. dazu Abschlußbericht, aaO. (Fn. 15), S. 172 f mit ausdrücklichem rechtsvergleichendem Hinweis. 20 ABl EG C 158/400; vgl. dazu auch Zweigert/Kötz, aaO. (Fn. 2), S. 30.

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europäischen Rechtsordnungen eliminieren und zugleich zu einer Erstarrung führen, denn eine europäische Kodifikation ließe sich natürlich nur schwerer und langsamer anpassen als Zivilrechte der Einzelstaaten. Es würde uns auch des unschätzbaren Vorteils berauben, der darin liegt, dass wir mit dem United Kingdom und Irland Case Law-Systeme in der Gemeinschaft haben, die über eine viel größere pragmatische Problemlösungskapazität und höhere Flexibilität verfügen als kodifizierte Systeme, und die dadurch geeigneter sind, neue Ideen und Beurteilungsmaßstäbe zu liefern. Statt einer flächendeckenden Gleichmacherei brauchen wir in Europa die Fähigkeit, den ständig neuen und vielfältigen Herausforderungen an das Recht, die oben in Abschnitt I. erwähnt wurden, mit entsprechend flexiblen und vielfältigen rechtlichen Instrumenten zu begegnen. Dazu bedarf es auch juristischer Phantasie und der Bereitschaft, neue, nicht ausgetretene Wege zu gehen. Warum sollten wir dafür nicht die Vorteile nutzen, die der Reichtum und die Konkurrenz der europäischen Zivilrechtsordnungen bieten? Die Alternative heißt nicht „Konvergenz oder Konfrontation“.21 Für die europäische Zukunft sollte es heißen: Konkurrenz und Konvergenz.

21 So der Titel einer neueren Publikation (Krawietz u. a. [Hrsg.], Konvergenz oder Konfrontation? Berlin 1998), die sich allerdings weniger auf europäische Rechtssysteme, sondern auf Kulturen und Zivilisationen in der Welt i.S.v. Huntington’s „clash of civilizations“ bezieht und damit eine ganz andere Dimension betrifft als die dieses Aufsatzes).

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Schriftenverzeichnis von Thomas Raiser I. Selbständige Schriften 1.

2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

10. 11.

12. 13.

14.

Haftungsbegrenzung nach dem Vertragszweck. Untersuchung über die Tragweite der Theorie von der Haftungsbegrenzung nach dem Schutzzweck der verletzten Norm im Vertragsrecht, Dissertation, Tübingen 1962 Das Unternehmen als Organisation. Kritik und Erneuerung der juristischen Unternehmenslehre, Habilitation, Berlin 1969 Wirtschaftliche Mitbestimmung, Privatdruck der Stuttgarter Privatstudiengesellschaft, Stuttgart 1972 Marktwirtschaft und paritätische Mitbestimmung. Zur Kritik des Berichts der Mitbestimmungskommission, Heidelberg 1973 Grundgesetz und paritätische Mitbestimmung. Rechtsgutachten, erstattet für den Bundesminister der Justiz, Berlin 1975 Mitbestimmungsgesetz. Kommentar, 1. Aufl., Berlin 1977, 2. Aufl., Berlin 1984, 3. Aufl., Berlin 1998, 4. Aufl., Berlin 2002 Die Aussperrung nach dem Grundgesetz. Rechtsgutachten erstattet für den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Berlin 1975 Die Aussperrung im Rahmen des Arbeitskampfrechts, Privatdruck der Privatstudiengesellschaft Stuttgart, 1982 Gesetz zur Regelung kollektiver Arbeitskonflikte – Entwurf und Begründung, Tübingen 1988 (zusammen mit Rolf Birk, Horst Konzen, Manfred Löwisch und Hugo Seiter; koreanische Übersetzung 1990) Rechtsschutzversicherung und Rechtsverfolgung, Köln 1994 (zusammen mit Wolfgang Jagodzinski und Jürgen Riehl) Das lebende Recht. Rechtssoziologie in Deutschland (1. Aufl. unter dem Titel Rechtssoziologie. Ein Lehrbuch, Frankfurt am Main 1987), 2. Aufl., Baden-Baden 1995, 3. Aufl., Baden-Baden 1999 Schicksalsjahre einer Universität. Die strukturelle und personelle Neuordnung der Humboldt Universität zu Berlin 1989–1994, Berlin 1998 Recht der Kapitalgesellschaften, 1. Aufl., München 1983, 2. Aufl., München 1991, 3. Aufl., München 2001 (unter Mitwirkung von Rüdiger Veil) Anwaltsklausuren. Klausurenlehre für Anfänger und Fortgeschrittene, München 2003 (zusammen mit Karl-Michael Schmidt und Peter Friedrich Bultmann)

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Schriftenverzeichnis von Thomas Raiser

II. Beiträge in Kommentaren, Büchern und Sammelwerken 1.

Einleitung zu Soergel-Siebert: Das Bürgerliche Gesetzbuch aus heutiger Sicht, in: Hans Theodor Soergel, Wolfgang Siebert (Hrsg.), Bürgerliches Gesetzbuch, 10. Aufl., Stuttgart 1967 (zusammen mit Reimer Schmidt) 2. Sozialer Wandel durch Recht, dargestellt am Beispiel der Aktiengesellschaft, in: Manfred Rehbinder, Helmut Schelsky (Hrsg.), Zur Effektivität des Rechts, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band 3, Düsseldorf 1972, S. 409 3. Prüfungsgespräch zur Problematik der Mitbestimmung, in: Reinhard Richardi (Hrsg.), Wahlfach Examinatorium (WEX ), Band 8: Kollektives Arbeitsrecht, Karlsruhe 1975, S. 207 4. Zum Problem der Klassenjustiz, in: Lawrence M. Friedman, Manfred Rehbinder (Hrsg.), Zur Soziologie des Gerichtsverfahrens, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band 4, Opladen 1976, S. 123 5. Der Weg zur Mitbestimmung. Erwägungen zum neuen Gesetz, Evangelische Kommentare 1976, S. 668 6. Einführung, in: Klaus Lüderssen, Elisabeth Noelle-Neumann, Thomas Raiser (Hrsg.), Generalklauseln als Gegenstand der Sozialwissenschaften, Baden-Baden 1978 7. Gerichtliches Überleitungsverfahren nach §§ 98 f. AktG, Anwendungsbereich des MitbestG, GmbH und Mitbestimmung, statuarische Eignungsvoraussetzungen für Geschäftsführer, in: Reinhard Richardi (Hrsg.), Recht der Betriebs- und Unternehmensmitbestimmung, Band 2: Examinatorium, Heidelberg/Karlsruhe 1979, S. 147 (zusammen mit K. F. Wiek) 8. Verschwiegenheitspflicht von Aufsichtsratsmitgliedern – Aufsichtsratsausschüsse, in: Reinhard Richardi (Hrsg.), Recht der Betriebs- und Unternehmensmitbestimmung, Band 2: Examinatorium, Heidelberg/ Karlsruhe 1979, S. 159 (zusammen mit K. F. Wiek) 9. Vom Gesellschaftsrecht zum Unternehmensrecht. Die neueste Entwicklung des Gesellschaftsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Jahrbuch der Japanisch-Deutschen Gesellschaft für Rechtswissenschaft, Bd. 5, 1981, S. 1 (in japanischer Übersetzung) 10. Die Aussperrung nach der neuen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, in: Klaus Chmielewicz u. a. (Hrsg.), Unternehmensverfassung, Stuttgart 1981, S. 80 11. Der Bericht der Unternehmensrechtskommission und die Probleme der Unternehmensverfassung, in: Kurt Bohr, Jochen Drukarczyk (Hrsg.), Unternehmensverfassung als Problem der Betriebswirtschaftslehre, Berlin 1981, S. 35 12. Die Verantwortlichkeit von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern einer Aktiengesellschaft, in: Otfried Kießler (Hrsg.), Unternehmensverfassung, Recht und Betriebswirtschaftslehre, Köln 1983, S. 39

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13. Korrekturbedürftigkeit des MitbestG nach dem Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts?, in: Wolfgang Rainer Walz (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Zivilrecht, Neuwied 1983, S. 24 (zusammen mit Matthias Pott) 14. Rechtstatsachenforschung und Rechtsfortbildung. Über die politische Verantwortung der wissenschaftlichen Beratung des Gesetzgebers, in: Konstanze Plett, Klaus A. Ziegert (Hrsg.), Empirische Rechtsforschung zwischen Wissenschaft und Politik, Tübingen 1984, S. 27 15. Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Neuwied 1981, Artikel 3/210, Lieferung 18 (1986) (Neuauflage 2001) 16. Norm und Sanktion, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Neuwied 1981, Artikel 3/140, Lieferung 18 (1986) (Neuauflage 2001) 17. Unternehmenskultur in Mitarbeiterunternehmen, in: Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der Partnerschaft in der Wirtschaft (Hrsg.), Unternehmenskultur in Deutschland, Menschen machen Wirtschaft, Gütersloh 1986, S. 268 18. Unternehmensrecht als Gegenstand juristischer Grundlagenforschung, in: Peter Eichhorn (Hrsg.) Unternehmensverfassung in der privaten und öffentlichen Wirtschaft, Baden-Baden 1989, S. 31 19. Kommentierung der §§ 13 und 14, in: Hachenburg, Großkommentar zum GmbHG , herausgegeben von Peter Ulmer, Band 1, 8. Aufl., Berlin 1990 ff. 20. Kommentierung des Anhangs zu § 47 (Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen), in: Hachenburg, Großkommentar zum GmbHG , herausgegeben von Peter Ulmer, Band 2, 8. Aufl., Berlin 1990 ff. 21. Kommentierung des § 52 (Aufsichtsrat und Beiräte bei der GmbH), in: Hachenburg, Großkommentar zum GmbHG , herausgegeben von Peter Ulmer, Band 2, 8. Aufl., Berlin 1990 ff. 22. Über die Beziehungen von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik, in: Wolfgang Hoffmann-Riem, K. A. Mollnau, H. Rottleuthner (Hrsg.), Rechtssoziologie in der Deutschen Demokratischen Republik und in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1990, S. 234 23. Plant Closure, in: Erwin Grochla (Hrsg.), Handbook of German Business Management, Band 2, Stuttgart 1990, S. 1743 24. Unternehmen und Unternehmensrecht, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Neuwied 1981, Artikel 17/1530, Lieferung 44 (1990) 25. Gewerbebetrieb, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Neuwied 1981, Artikel 17/680, Lieferung 44 (1990) 26. Wirksamkeit und Wirkung von Zivilrechtsnormen, in: Thomas Raiser, Rüdiger Voigt (Hrsg.), Durchsetzung und Wirkung von Rechtsentscheidungen. Die Bedeutung der Implementations- und der Wirkungsforschung für die Rechtswissenschaft, Baden-Baden 1990, S. 47

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27. Bericht zu den Referaten in der Abteilung I: Zivilrecht/Zivilprozeßrecht der Tagung: Durchsetzung und Wirkung von Rechtsentscheidungen, in: Thomas Raiser, Rüdiger Voigt (Hrsg.), Durchsetzung und Wirkung von Rechtsentscheidungen. Die Bedeutung der Implementations- und der Wirkungsforschung für die Rechtswissenschaft, BadenBaden 1990, S. 242 28. Mitbestimmung und Rechtsform, in: Waldemar Wittmann, Werner Kern (Hrsg.), Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, Band 2, 5. Aufl. 1993, S. 2876 29. Der Entschluß, Jura zu studieren, in: Dagmar Coester-Waltjen, Hans U. Erichsen, Klaus Geppert, Philip Kunig, Harro Otto, Klaus Schreiber (Hrsg.), Das Jura-Studium, 2. Aufl., Berlin 1993, S. 1 (zusammen mit Hans-Jörg Graf) 30. Hermann Ulrich Kantorowicz, in: Marcus Lutter, Ernst Stiefel, Michael H. Hoeflich (Hrsg.), Der Einfluß deutscher Emigranten auf die Rechtsentwicklung in den USA und in Deutschland, Tübingen 1993, S. 365 31. Wirkungen des Mitbestimmungsgesetzes, in: Hagen Hof, Gertrude Lübbe-Wolff (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht, Band 1: Wirkungen und Erfolgsbedingungen von Gesetzen, Baden-Baden 1999, S. 107 32. Rechtssoziologie als Grundlagenfach in der Juristenausbildung, in: Horst Dreier (Hrsg.), Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2000, S. 323 33. Vertrag, in: Martin Honecker, Horst Dahlhaus, Jörg Hübner (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart 2001, S. 1702 34. Ludwig Raiser, in: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Neue Deutsche Biographie, Band 21, Berlin 2003 35. Legal Insurance, in: Neil J. Smelser, Paul B. Baltes (Red.), International Encyclopedia of the Social and Behavioural Sciences, Amsterdam 2001 36. Rechtssoziologie, in: Hans Dieter Betz (Hrsg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Band 7, 4. Aufl., Tübingen 2004

III. Abhandlungen und Aufsätze 1. 2. 3. 4.

Adäquanztheorie und Haftung nach dem Schutzzweck der verletzten Norm, JZ 1963, S. 462 Verfassungswidrige Mindeststrafen, JZ 1963, S. 663 Die kartellrechtliche Beurteilung von Preisvorbehalten, WuW 1963, S. 691 Sozialistisches Familienrecht. Zum neuen Familiengesetzbuch der „ DDR“, JZ 1966, S. 423

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5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.

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Das Vertragsgesetz der „ DDR“ vom 25. Februar 1965, JZ 1967, S. 338 Einwendungen aus dem Kaufvertrag gegenüber dem Finanzierungsinstitut beim finanzierten Abzahlungskauf, RabelsZ 33 (1969), S. 457 Was nützt die Soziologie dem Recht?, JZ 1970, S. 665 Vertragsfreiheit im Gesellschaftsrecht. Besprechung von drei juristischen Monographien, AG 1971, S. 151 Paritätische Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den wirtschaftlichen Unternehmen der Gemeinden, RdA 1972, S. 65 Ökonomen im Bundeskartellamt und in den Kartellsenaten, BB 1972, S. 471 Die Preisbindung der zweiten Hand, JA 1972, S. 479 Das Arbeitsverhältnis aus der Sicht der Organisationssoziologie, ZRP 1973, S. 13 Klassenjustiz, JA 1973, S. 433 Some Remarks on the Present State of Sociology of Law in Western Germany and on the Possibility of International Cooperation, The North Carolina Law Review, Vol. 52 (1974), S. 1073 Paritätische Mitbestimmung in einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, JZ 1974, S. 273 Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung in mitbestimmten Aktiengesellschaften, in: Fritz Baur, Josef Esser, Friedrich Kübler, Ernst Steindorff (Hrsg.), Funktionswandel von Privatrechtsinstitutionen, Festschrift für Ludwig Raiser, Tübingen 1974, S. 355 Das Unternehmensinteresse, in: Fritz Reichert-Facilides (Hrsg.), Festschrift für Reimer Schmidt, Karlsruhe 1976, S. 101 Der neue Koalitionskompromiß zur Mitbestimmung, BB 1976, S. 145 Das neue Mitbestimmungsgesetz, NJW 1976, S. 1337 Aktien- und Unternehmensrecht im Spiegel der Festschrift für Carl Hans Barz, AG 1976, S. 266 (zusammen mit Georg Wiesner) Mitbestimmung im Betrieb und im Unternehmen, in: Hans-Martin Pawlowski (Hrsg.), Festschrift für Konrad Duden, München 1977, S. 423 Privatautonome Mitbestimmungsregelungen, BB 1977, S. 1461 Soziologie im Gerichtssaal, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zu „Das Parlament“ 1978, Nr. 11, S. 4 Soziologie im Gerichtssaal, DRiZ 1978, S. 161 Weisungen an Aufsichtsratsmitglieder?, ZGR 1978, S. 391 Der Kampf um die Aussperrung, ZRP 1978, S. 201 Aussperrung und Grundgesetz, BB 1979, S. 377 Die Zukunft des Unternehmensrechts, in: Marcus Lutter, Walter Stimpel, Herbert Wiedemann (Hrsg.), Festschrift für Robert Fischer, Berlin 1979, S. 561 Das Unternehmen in der verfassungsrechtlichen Ordnung nach dem Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, J Z 1979, S. 489

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30. Beherrschungsvertrag im Recht der Personengesellschaften. Anmerkung zu BGH , Urteil vom 5. Februar 1979 – II ZR 210/76 –, ZGR 1980, S. 558 31. Unternehmensziele und Unternehmensbegriff, ZHR 144 (1980), S. 206 32. Satzungsvorschriften über die Beschlußfähigkeit eines mitbestimmten Aufsichtsrats und über die Vertagung eines Aufsichtsratbeschlusses, NJW 1980, S. 209 33. Zur Lage des Wahlfachs „Mitbestimmungs-, Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsrecht; Grundzüge des Sozialversicherungsrechts“ im juristischen Studium und Referendarexamen, JuS 1980, S. 924 (zusammen mit Matthias Pott) 34. Die neuen Gründungs- und Kapitalerhöhungsvorschriften für die GmbH, in: Centrale für GmbH Dr. Otto Schmidt (Hrsg.), Das neue GmbHRecht in der Diskussion, Köln 1981, S. 21 35. Theorie und Aufgaben des Unternehmensrechts in der Marktwirtschaft, ZRP 1981, S. 30 36. Die Reaktion von Gesetzgebung und Rechtswissenschaft im Vertragsrecht auf den sozialen Wandel in Westdeutschland während der letzten zehn Jahre, Zeitschrift der Meij-Gakuin Universität Tokyo 1981, S. 175 (in japanischer Übersetzung) 37. Erfahrungen mit dem deutschen Mitbestimmungsgesetz von 1976, Comparative Law Review, Chuo University Tokyo, 1981, S. 1 38. Die Aussperrung nach der neuen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, DBW 41 (1981), S. 195 39. Stellungnahme von Hochschullehrern des Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrechts zum Fächerkatalog im Zwischenbericht des Reformausschuses der Justizministerkonferenz, JuS 1982, S. 227 (zusammen mit Claus-Wilhelm Canaris) 40. Gewerkschaftsvorschläge zum künftigen Unternehmensrecht, DBW 43 (1983), S. 17 41. Bindende Wirkung des Mitbestimmungsurteils?, in: Hermann Avenarius (Hrsg.), Festschrift für Erwin Stein, Bad Homburg 1983, S. 229 42. Mitbestimmungsvereinbarungen de lege ferenda, in: Walther Hadding, Ulrich Immenga, Hans Mertens, Klemens Pleyer, Uwe Schneider (Hrsg.), Festschrift für Winfried Werner, Berlin 1984, S. 681 43. Die Neutralitätspflicht der Bundesanstalt für Arbeit im Arbeitskampf, NZA 1984, S. 369 44. Wettbewerbsverbote als Mittel des konzernrechtlichen Präventivschutzes, in: Marcus Lutter, Hans J. Mertens, Peter Ulmer (Hrsg.), Festschrift für Walter Stimpel, Berlin 1985, S. 855 45. The Theory of Enterprise Law and the Hamonization of the Rules on the Annual Accounts and on Consolidated Accounts in the European Communities; EUI Working paper Nr. 85/197, Florenz 1985

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46. Rechtssoziologie in der Juristenausbildung, JuS 1985, S. 823 47. The Theory of Enterprise Law in the Federal Republic of Germany, American Journal of Comparative Law Vol. XXXVI (1985), S. 111 48. Richterrecht heute. Rechtssoziologische und rechtspolitische Bemerkungen zur richterlichen Rechtsfortbildung im Zivilrecht, ZRP 1985, S. 111 49. Richterrecht heute. Rechtssoziologische und rechtspolitische Bemerkungen zur richterlichen Rechtsfortbildung im Zivilrecht, in: Norbert Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre, Köln 1986, S. 627 50. Das Bundessozialgericht und die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit im Arbeitskampf, NZA 1986, S. 113 51. Der Rahmenplan für das Grundlagenfach Rechtssoziologie, JuS 1987, S. 93 52. Die arbeitsrechtlichen Grundlagen des Arbeitskampfes im Medienbereich, RdA 1987, S. 201 53. Die Treuepflichten im GmbH-Recht als Beispiel der Rechtsfortbildung, ZHR 151 (1987), S. 422 54. Les relations entre la sociologie du droit et les sciences juridiques, in: Droit et Société Nr. 11 – 12/1989, S. 117 55. Das Recht der Gesellschafterklagen, ZHR 153 (1989), S. 1 56. Klagebefugnis einzelner Aufsichtsratsmitglieder, ZGR 1989, S. 44 57. Wissenschaft und Politik im Arbeitskampfrecht, JZ 1989, S. 405 58. Otto Rudolf Kissel 60 Jahre, RdA 1989, S. 106 59. Wissenschaft und Politik im Recht, in: Meinhard Miegel (Hrsg.), Sentenzen am Wege. Festschrift für Kurt Biedenkopf zum Sechzigsten, Stuttgart 1989, S. 31 60. Führungsstruktur und Mitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft nach dem Verordnungsvorschlag der Kommission vom 25. August 1989, in: Jürgen F. Baur, Rolf O. Belke (Hrsg.), Festschrift für Ernst Steindorff, Berlin 1990, S. 201. 61. Staatsexamen oder Diplom? Richtige und falsche Alternativen in der Diskussion um die Reform der Juristenausbildung. 10 Thesen, JZ 1990, S. 741 62. Sind die Rechtsschutzversicherungen die Ursache für die „Prozeßflut“?, BRAK-Mitt 1990, S. 215 (zusammen mit Wolfgang Jagodzinski und Jürgen Riehl) 63. Auswirkungen der Rechtsschutzversicherung auf die Rechtspflege, ZfRSoz 1991, S. 287 (zusammen mit Wolfgang Jagodzinski und Jürgen Riehl) 64. Sind die Rechtsschutzversicherungen die Ursache für die Prozeßflut?, DriZ 1991, S. 189 (zusammen mit Wolfgang Jagodzinski und Jürgen Riehl) 65. Legal Problems in the United Germany, in: University of Tokyo, Institute of Social Science, Discussion Paper Series, Tokio 1991

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66. Die Einrede der Anfechtbarkeit von Gesellschafterbeschlüssen in der GmbH, in: Friedrich Kübler, Hans J. Mertens, Winfried Werner (Hrsg.), Festschrift für Theodor Heinsius, Berlin 1991, S. 645 67. Selling of State Enterprises or Returning Property to the Previous Owners in German Lands?, in: Grazyna Skapska u. a. (Hrsg.), Prawo. W Zmieniajacym Sie Spoleczenstwie. Festschrift für Maria BoruckaArctowa, Krakau 1992, S. 315 68. Nichtigkeits- und Anfechtungsklagen, in: Marcus Lutter, Peter Ulmer, Wolfgang Zöllner (Hrsg.), Festschrift 100 Jahre GmbH-Gesetz, Köln 1992, S. 587 69. Unternehmensverfassung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Institute of Social Science, University of Tokyo, Discussion Paper Series, 1992 (in japanischer Übersetzung) 70. Die Privatisierung volkseigenen Vermögens der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, in: Discussion Paper Series Institute of Social Science University of Tokyo, 1992 (in japanischer Übersetzung) 71. Die europäische Aktiengesellschaft und die nationalen Aktiengesetze, in: Marcus Bierich, Peter Hommelhoff, Bruno Kropff (Hrsg.), Festschrift für Johannes Semler, Berlin 1993, S. 277 72. Rechtsschutzversicherung und Streitverhalten, NJW 1993, S. 2769 (zusammen mit Wolfgang Jagodzinski und Jürgen Riehl) 73. Rechtsschutzversicherungen und Rechtsverfolgung im Verkehrsrecht, DAR 1993, S. 453 (zusammen mit Wolfgang Jagodzinski und Jürgen Riehl) 74. Aufgaben der Rechtssoziologie als Zweig der Rechtswissenschaft. Antrittsvorlesung an der Humboldt-Universität Berlin, ZfRSoz 1994, S. 1 75. The Challenge of Privatization in Former East Germany: Reconciling the Conflict between Individual Rights and Social Needs, in: Gregory Alexander, Grazyna Skapska (Hrsg.), A Fourth Way?, New York 1994, S. 3 76. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht und die Lehre von der juristischen Person, in: Ulrich Löwenheim, Thomas Raiser (Hrsg.), Festschrift für Fritz Traub, Frankfurt am Main 1994, S. 331 77. Gesamthand und juristische Person im Licht des neuen Umwandlungsrechts, AcP 194 (1994), S. 495 78. Rechtsanwälte in den neuen Bundesländern. Ergebnisse einer rechtssoziologischen Pilotuntersuchung, Anwaltsblatt 1994, S. 433 (zusammen mit Lutz Kirschner und Marc Lienau) 79. 25 Jahre Unternehmensrecht in Deutschland, in: Hans G. Leser (Hrsg.), Arbeitsrecht und Zivilrecht in Entwicklung, Festschrift für Hyung-Bae Kim, 1995, S. 167 80. Konzernhaftung und Unterkapitalisierungshaftung, ZGR 1995, S. 156 81. Pflicht und Ermessen von Aufsichtsratsmitgliedern. Zum Urteil des OLG Düsseldorf im Fall ARAG /Garmenbeck, NJW 1996, S. 552

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82. Osterfahrungen westlichen Rechts. Nachwort zu der gleichnamigen Tagung, in: Thomas Ellwein (Hrsg.), Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft, 1996, S. 99 83. Konzernverflechtungen unter Einschluß öffentlicher Unternehmen, ZGR 1996, S. 457 84. Die Haftung der Gesellschafter einer Gründungs-GmbH, BB 1996, S. 1344 (zusammen mit Rüdiger Veil) 85. Empfehlen sich gesetzliche Regelungen zur Einschränkung des Einflusses der Kreditinstitute auf Aktiengesellschaften?, NJW 1996, S. 2257 86. Immer wieder: Rechtssoziologie und Rechtswissenschaft, ZfRSoz 1996, S. 310 87. Geklärte und ungekärte Fragen der Konzernmitbestimmung, in: KarlHeinz Forster (Hrsg.), Aktien- und Bilanzrecht, Festschrift für Bruno Kropff, Düsseldorf 1997, S. 245 88. Aktuelle Probleme des deutschen Aktienrechts, Jurists’ Review (VR China) 1997, S. 82 89. Bewährung des Mitbestimmungsgesetzes nach zwanzig Jahren, in: Heinz-Dieter Assmann (Hrsg.), Wirtschafts- und Medienrecht in der offenen Demokratie, Festschrift für Friedrich Kübler, Heidelberg 1997, S. 477 90. Die Reform des Handelsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Jurists’ Review ( VR China) 1998, Heft 4 91. Gesamthandsgesellschaft oder juristische Person. Eine Geschichte ohne Ende?, in: Manfred Lieb, Ulrich Noack, Harm Peter Westermann (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Zöllner, Band 1, Köln 1998, S. 469 92. Rechtsgefühl, Rechtsbewußtsein, Rechtskenntnis, Rechtsakzeptanz. Einige begriffliche und methodische Bemerkungen zu den Grundlagen der Akzeptanzforschung, in: Johannes W. Pichler (Hrsg.), Rechtsakzeptanz und Handlungsorientierung, Wien 1998, S. 109 93. Die Entstehung der Vereinigung für Rechtssoziologie, in: Jürgen Brand (Hrsg.), Festschrift für Erhard Blankenburg, Baden-Baden 1998, S. 11 94. Der Begriff der juristischen Person. Eine Neubesinnung, AcP 199 (1999), S. 104 95. Unternehmen und juristische Person, in: Walther Hadding (Hrsg.), Festgabe Zivilrechtslehrer 1934/1935, Berlin 1999, S. 487 96. Kenntnis und Kennenmüssen von Unternehmen, in: Harm Peter Westermann, Klaus Mock (Hrsg.), Festschrift für Gerold Bezzenberger, Berlin 2000, S. 561 97. Unternehmerische Mitbestimmung auf dem Prüfstand, in: Theodor Baums, Klaus J. Hopt (Hrsg.), Corporations, Capital Markets and Business in the Law, Festschrift für Richard M. Buxbaum, London 2000, S. 415 98. Die Haftungsbeschränkung ist kein Wesensmerkmal der juristischen Person, in: Uwe H. Schneider, Peter Hommelhoff, Karsten Schmidt,

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Wolfram Timm, Barbara Grunewald, Tim Drygala (Hrsg.), Deutsches und europäisches Gesellschafts-, Konzern- und Kapitalmarktrecht, Festschrift für Marcus Lutter, Köln 2000, S. 637 99. Juristische Personen im deutschen Privatrecht, Peking University Law Journal 2001, S. 26 (in chinesischer Übersetzung) 100. Die Rechtsfähigkeit der Wohnungseigentümergemeinschaft, ZWE 2001, S. 173 101. Reform der Juristenausbildung, ZRP 2001, S. 418 102. Die Haftung einer Schwestergesellschaft für die Schulden einer anderen Schwester nach dem Urteil „Bremer Vulkan“ des BGH , in: Mathias Habersack, Peter Hommelhoff, Uwe Hüffer, Karsten Schmidt (Hrsg.), Festschrift für Peter Ulmer, Berlin 2003, S. 493 103. Anlegerschutz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Jens Ekkenga, Walter Hadding, Horst Hammen (Hrsg.), Bankrecht und Kapitalmarktrecht in der Entwicklung, Festschrift für Siegfried Kümpel, Berlin 2003, S. 437 104. Der Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft nach deutschem und chinesischem Recht im Vergleich mit dem angloamerikanischen Board of Directors. Beitrag zur Tagung Corporate Governance an der Tongji Universität in Schanghai, in: Schriftenreihe Rechtswissenschaft des Chinesisch-Deutschen Hochschulkollegs an der Tongji Universität in Shanghai, Shanghai 2003, S. 35 (in chinesischer Übersetzung) 105. Recht und Moral, soziologisch betrachtet, JZ 2004, S. 261 106. Die Zukunft der juristischen Profession auf europäischer und globaler Ebene, Hanse Law School Cahier Nr. 4, 2004

IV. Urteilsanmerkungen und Besprechungen 1. 2. 3.

4. 5. 6.

Anmerkung zu BGH , Beschluss vom 17. 12. 1970 – KRB 1/70 – „Teerfarben“, JZ 1971, S. 394 Besprechung von Josef Weis: Wirtschaftsunternehmen und Demokratie, 1970, RdA 1972, S. 308 Besprechung von Walter Ott: Die Problematik einer Typologie im Gesellschaftsrecht, dargestellt am Beispiel des schweizerischen Aktienrechts, 1972, JZ 1973, S. 72 Anmerkung zu BGH , Urteil vom 3. Juli 1975 – II ZR 35/73 –, ZGR 1976, S. 105 Besprechung von Klaus F. Röhl: Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, 1974, JR 1977, S. 527 Besprechung von Julius Stone: Lehrbuch der Rechtssoziologie in 3 Bänden, 1976, NJW 1978, S. 748

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14. 15. 16.

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Besprechung von Ulrich Drobnig, Manfred Rehbinder (Hrsg.): Rechtssoziologie und Rechtsvergleichung, 1977, NJW 1978, S. 749 Besprechung von Peter Ulmer: Die Anpassung der Satzungen mitbestimmter Aktiengesellschaften an das Mitbestimmungsgesetz 1976, 1980, BB 1980, S. 1167 Besprechung von Franz Gamillscheg, Xavier Blanc-Jouvan, Paul L. Davies, Peter Hanau, Ulrich Runggaldier, Clyde W. Summers: Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Frankreich, den USA und der Bundesrepublik Deutschland, 1978, NJW 1980, S. 502 Ein mißglücktes Urteil zum Mitbestimmungsgesetz. Zugleich Anmerkung zu OLG München, Urteil vom 29. April 1981 – 20 U 1464/80 –, NJW 1981, S. 2166 Besprechung von Adolf Großmann: Unternehmensziele im Aktienrecht, 1980, ZHR 145 (1981), S. 371 Besprechung von Werner Flume: Um ein neues Unternehmensrecht, 1980, AcP 181 (1981), S. 247 Besprechung von Lawrence M. Friedman, Das Rechtssystem im Blickfeld der Sozialwissenschaften (The Legal System. A Social Science Perspective), ZfRSoz 1982, S. 305 Besprechungsaufsatz zu Baumbach/Hueck, GmbHG , 14. Aufl., ZHR 150 (1986), S. 279 Zwischenprüfungsklausur im Zivilrecht. Fall aus dem Bürgerlichen Recht, Jura 1987, S. 44 (zusammen mit Uwe Hülsmann) Organklagen zwischen Aufsichtsrat und Vorstand. Anmerkung zu BGH , Urteil vom 28. November 1988 – II ZR 57/88 – „Opel“, AG 1989, S. 185 Anmerkung zu LG Stuttgart, Urteil vom 29. November 1988 – 2 AktE 1/88 –, EwiR 1989, S. 195 Anmerkung zu OLG Celle, Urteil vom 9. Oktober 1989 – 9 U 186/89 – „Pelikan“, EwiR 1990, S. 117 Anmerkung zu BGH , Urteil vom 17. Mai 1993 – II ZR 89/92 –, DZWiR 1993, S. 510 Anmerkung zu BAG , Urteil vom 23. August 1996 – 10 AZR 908/94 –, EwiR 1996, S. 13 Anmerkung zu BGH , Urteil vom 21. April 1997 – II ZR 175/95 – „ ARAG “, WuB 1997, S. 649 Anmerkung zu BVerfG, Urteil vom 2. 3. 1999 – 1Bvl. 2/91 – Zur Verfassungsmäßigkeit der Montanmitbestimmung in Konzernobergesellschaften, RdA 1999, S. 394

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Autorenverzeichnis Asendorf, Claus Dietrich, Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Bälz, Ulrich, Dr. iur., Universitätsprofessor i.R., Universität Tübingen Bayer, Walter, Dr. iur., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Privatversicherungsrecht und internationales Privatrecht der Universität Jena, Richter am Thüringer Oberlandesgericht und am Thüringer Verfassungsgerichtshof Blaurock, Uwe, Dr. iur., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht und Steuerrecht der AlbertLudwigs-Universität Freiburg Bryde, Brun- Otto, Dr. iur., Universitätsprofessor, Richter des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Wissenschaft von der Politik der Justus-Liebig-Universität Gießen Church, Lawrence, Dr. iur. h.c., Sherwood R. Volkman-Bascom Professor, University of Wisconsin, Law School Madison, USA Damm, Reinhard, Dr. iur., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Zivil-, Wirtschafts- und Verfahrensrecht der Universität Bremen Davis, Kenneth B., Jr., Dean and James E. & Ruth B. Doyle Professor, University of Wisconsin, Law School Madison, USA Drygala, Tim, Dr. iur., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht der Universität Leipzig Emmerich, Volker, Dr. iur., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Wirtschafts- und Handelsrecht der Universität Bayreuth, Richter am OLG Nürnberg a. D. Flessner, Axel, Dr. iur., LL .M., Universitätsprofessor (em.), HumboldtUniversität zu Berlin Grundmann, Stefan, Dr. iur. Dr. phil., LL.M., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für deutsches, europäisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht der Humboldt-Universität zu Berlin Grunewald, Barbara, Dr. iur., Universitätsprofessorin, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht der Universität zu Köln Habersack, Mathias, Dr. iur., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Wirtschaftsrecht der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Hadding, Walther, Dr. iur., Universitätsprofessor (em.), Johannes Gutenberg-Universität Mainz

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Autorenverzeichnis

Hammen, Horst, Dr. iur., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Deutsches und Europäisches Bankund Kapitalmarktrecht der Justus-Liebig-Universität Gießen Heermann, Peter W., Dr. iur., LL .M., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Rechtsvergleichung, Sportrecht der Universität Bayreuth, Richter am OLG Nürnberg Henze, Hartwig, Dr. iur., Richter am Bundesgerichtshof Karlsruhe a. D., Honorarprofessor der Universität Konstanz Hirte, Heribert, Dr. iur., LL .M., Universitätsprofessor, Direktor des Seminars für Handels-, Schiffahrts- und Wirtschaftsrecht der Universität Hamburg Hoffmann-Riem, Wolfgang, Dr. iur., LL.M., Universitätsprofessor, Richter des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft der Universität Hamburg Hofmann, Hasso, Dr. iur. Dr. h.c., Universitätsprofessor (em.), Humboldt-Universität zu Berlin Hüffer, Uwe, Dr. iur., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht (einschließlich Berg- und Energierecht) der Ruhr-Universität Bochum, Richter am OLG Hamm a. D. Kirchner, Christian, Dr. iur. Dr. rer. pol., LL .M., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für deutsches, europäisches und internationales Zivil- und Wirtschaftsrecht und Institutionenökonomik der Humboldt-Universität zu Berlin Kort, Michael, Dr. iur., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht, Gewerblichen Rechtsschutz und Arbeitsrecht der Universität Augsburg Kreuzer, Arthur, Dr. iur., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug der Justus-Liebig-Universität Gießen Kropff, Bruno, Dr. iur., Ministerialdirigent a. D., Honorarprofessor der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Kübler, Friedrich, Dr. iur., Universitätsprofessor (em.), Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Rechtsanwalt in Frankfurt am Main Kümpel, Siegfried, Dr. iur., Syndikus der Deutsche Bank AG Frankfurt am Main a. D., Honorarprofessor der Justus-Liebig-Universität Gießen Lautmann, Rüdiger, Dr. iur. Dr. phil., Universitätsprofessor (i.R.), Universität Bremen, Leiter des Instituts für Sicherheits- und Präventionsforschung ( ISIP ) in Hamburg Lutter, Marcus , Dr. iur. Dr. h.c., Universitätsprofessor (em.), Sprecher des Zentrums für Europäisches Wirtschaftsrecht der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Autorenverzeichnis

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Mülbert, Peter O., Dr. iur., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Bankrecht der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Ott, Claus , Dr. iur., Universitätsprofessor (em.), Universität Hamburg, Richter am Hanseatischen OLG Hamburg a. D. Priester, Hans- Joachim , Dr. iur., Notar in Hamburg, Honorarprofessor der Universität Hamburg Quack, Karlheinz, Dr. h.c., Rechtsanwalt, Notar a. D. in Berlin Rottleuthner, Hubert, Dr. phil., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Rechtssoziologie der Freien Universität Berlin S chmidt, Karsten, Dr. iur. Dres. h.c., o. Prof. em. der Universität Bonn, Präsident der Bucerius Law School in Hamburg S chneider, Uwe H., Dr. iur., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Zivilrecht, deutsches und internationales Wirtschaftsrecht und Arbeitsrecht der Technischen Universität Darmstadt S chulze- Osterloh, Joachim, Dr. iur., Universitätsprofessor (em.), Freie Universität Berlin S chwark, Eberhard, Dr. iur., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Handels- und Wirtschaftsrecht der Humboldt-Universität zu Berlin S chwintowski, Hans- Peter, Dr. iur., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts- und Europarecht der Humboldt-Universität zu Berlin Semler, Johannes , Dr. iur., Rechtsanwalt in Frankfurt am Main, Honorarprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien Teubner, Gunther, Dr. iur., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Theobald, Wolfgang, Dr. iur., Rechtsanwalt in Frankfurt am Main Ulmer, Peter, Dr. iur. Dr. h.c. mult., Universitätsprofessor (em.), Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Veil, Rüdiger, Dr. iur., Universitätsprofessor, Alfried Krupp-Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Deutsches und Internationales Unternehmensund Wirtschaftsrecht der Bucerius Law School Hamburg Weick, Günter, Dr. iur., Universitätsprofessor (em.), Justus-Liebig-Universität Gießen Westermann, Harm Peter, Dr. iur., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Rechtsvergleichung der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Wiesner, Georg, Dr. iur., Rechtsanwalt in Düsseldorf