Festschrift für Karl Lackner zum 70. Geburtstag am 18. Februar 1987 [Reprint 2018 ed.] 9783110906493, 9783110104615


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German Pages 1101 [1104] Year 1987

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Table of contents :
Inhalt
Karl Lackner zum 70. Geburtstag
Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis Die Aufhebung der abstrakten Straftheorie am Leitfaden der Hegelschen Rechtsphilosophie
Gesetzmäßige Bedingung und kausale Erklärung zur Fassung der Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung
Risikokonkurrenz - Schadensverlauf und Verlaufshypothese im Strafrecht
Zum begriff der Rechtfertigung im Strafrecht
Das Merkmal der „Nicht-anders-Abwendbarkeit" der Gefahr in den §§ 34, 35 StGB
Grund- und Grenzprobleme des sog. subjektiven Rechtfertigungselements
Gedanken zu einem sozialen Schuldbegriff
Zum Begriff des Vorsatzes
Einige Anmerkungen zu Irrtümern über den Irrtum
Die logische Tragweite des sog. Umkehrschlusses
Überlegungen zum sog. Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Fahrlässigkeitsdelikt
Die Verwirkung des Vertrauensgrundsatzes bei pflichtwidrigem Verhalten in der kritischen Verkehrssituation
Bemerkungen zur actio libera in causa
Grund und Grenzen der Strafbefreiung beim Rücktritt vom versuch von der Strafzwecklehre zur Schulderfüllungstheorie
Die Regeln der Technik im Strafrecht
Talion und Spiegelung im Strafrecht
Zur Indizwirkung der Regelbeispiele für besonders schwere fälle einer Straftat
Die Strafzumessung bei Vollrauschdelikten (§323 a StGB)
Zur Höchstpersönlichkeit der Geldstrafe
Zur strafrechtlichen Absicherung von Organisationsverboten
Die „Teilnahme" am Landfriedensbruch und der Landfriedensbruch durch Vermummung oder Schutzbewaffnung (§ 125 Abs. 1 und 2 StGB)*
Das unrecht der Volksverhetzung
Täuschung über einen Tatbeteiligten nach § 145 d Abs. 2 Nr. 1 StGB
Verdachtsgrundlage und Verdachtsurteil - zum begriff des „Verdächtigens" gemäß § 164 StGB -
Bedingter Tötungsvorsatz bei beabsichtigter Ermöglichung und Verdeckung einer Straftat (§211 StGB)?
Behandlungsabbruch und Sterbehilfe
Reform der Reform des §237 StGB?
Ein Plädoyer für die Verfassungsmäßigkeit des §240 StGB
Zwischen Nötigung und Wucher
Die Bedrohung mit Verbrechen
Eingehungs- und Erfüllungsbetrug
Der Kleinbetrug
Schadenseintritt und Verjährungsbeginn
Gründungs- und Sanierungsschwindel durch verschleierte Sacheinlagen
Der Amtsträgerbegriff
Probleme der Amtsdelikte
Die strafrechtliche Verantwortlichkeit Vollzugsbediensteter für den Mißbrauch von Vollzugslockerungen
Probleme der Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts, insbesondere im Umweltstrafrecht
Strafrechtliche Verantwortlichkeit der Bediensteten von betrieben für Gewässerverunreinigungen und ihre Begrenzung durch den Einleitungsbescheid
Probleme einer Revision des allgemeinen teils des schweizerischen Strafgesetzbuches
Das Strafensystem des Vorentwurfs zur Revision des allgemeinen teils des schweizerischen Strafgesetzbuches in rechtsvergleichender Sicht
Der forscher als „Täter" und „Opfer" Rechtsvergleichende Beobachtungen zu Freiheit und Verantwortlichkeit von Wissenschaft und Technologie
Gedanken zur „Normalität des Verbrechens" ein Beitrag zur Ethik des Strafverfahrens
Hauptverhandlungsreform - Reform des Strafverfahrens? Bemerkungen zum Alternativentwurf einer Novelle zur Strafprozeßordnung - Reform der Hauptverhandlung
Wird in der Bundesrepublik Deutschland zu viel verhaftet? versuch einer Standortbeschreibung anhand nationaler und internationaler Statistiken
Die neuere Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage eine kritische Betrachtung"'
Abolitionismus - Alternative zum Strafrecht? Was läßt der Abolitionismus vom Strafrecht übrig?
Über den Angleichungsgrundsatz des § 3 Abs. 1 StVollzG
Mehrere Straftaten in verschiedenen alters- und Reifestufen zur Problematik des § 32 JGG, namentlich in Fällen der Schwerkriminalität
Bibliographie Karl Lackner
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Festschrift für Karl Lackner zum 70. Geburtstag am 18. Februar 1987 [Reprint 2018 ed.]
 9783110906493, 9783110104615

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Festschrift für Karl Lackner zum 70. Geburtstag

U

IÈL·

Festschrift für KARL LACKNER zum 70. Geburtstag am 18. Februar 1987

herausgegeben von

Wilfried Küper

in Verbindung mit

Ingeborg Puppe und Jörg Tenckhoff

w DE

G

1987

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Redaktionelle Mitarbeit: Wilhelm R ö m e r und Gerhard Werle

Gedruckt mit Unterstützung des Ministeriums für Wissenschaft u n d K u n s t B a d e n - W ü r t t e m b e r g und der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg.

Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig - pH 7, neutral)

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Festschrift für Karl Lackner zum 70. [siebzigsten] Geburtstag am 18. Februar 1987 / hrsg. von Wilfried Küper in Verbindung mit Ingeborg Puppe u. Jörg Tenckhoff - Berlin ; New York : de Gruyter, 1987. ISBN 3-11-010461-X N E : Küper, Wilfried [Hrsg.]; Lackner, Karl: Festschrift

© Copyright 1987 by Walter de Gruyter & Co., 1000 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Ubersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, 1000 Berlin 36 Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Buchgewerbe GmbH, 1000 Berlin 61

KARL

LACKNER

zum 18. Februar 1987 dargebracht von

G U N T H E R ARZT, G Ü N T E R BEMMANN, HANS-JÜRGEN BRUNS, CHRISTOS DEDES,

EDUARD

DREHER,

UDO

EBERT,

ALBIN

ESER,

WOLFGANG

FRISCH, GERD GEILEN, ROLF DIETRICH HERZBERG, THOMAS HILLENKAMP,

HANS JOACHIM

HIRSCH,

G Ü N T H E R JAKOBS,

HANS-HEINRICH

JESCHECK, G Ü N T H E R KAISER, A R T H U R KAUFMANN, M I C H A E L K Ö H L E R , HERMANN

K R A U T H , JUSTUS K R Ü M P E L M A N N ,

KRISTIAN

KÜHL,

WIL-

FRIED K Ü P E R , W I N R I C H L A N G E R , H E I N Z L E F E R E N Z , T H E O D O R L E N C K NER, M A N F R E D M A I W A L D , W O L F G A N G N A U C K E , H A R R O O T T O , K A R L PETERS, I N G E B O R G P U P P E , P E T E R RIESS, C L A U S R O X I N , H A N S - J O A C H I M RUDOLPHI,

FRIEDRICH

R U D O L F SCHMITT,

HEINZ

SCHAFFSTEIN, SCHÖCH,

EBERHARD

SCHMIDHÄUSER,

FRIEDRICH-CHRISTIAN

SCHROE-

DER, H A N S S C H U L T Z , J O A C H I M S C H U L Z , B E R N D S C H Ü N E M A N N , G Ü N T E R S P E N D E L , W A L T E R STREE, F R A N Z S T R E N G , J Ö R G T E N C K H O F F , TIEDEMANN,

HERBERT TRÖNDLE, JÜRGEN W E L P ,

GERHARD

J O H A N N E S WESSELS, G Ü N T H E R W I L L M S

KLAUS WERLE,

Inhalt EDUARD DREHER, Dr. jur., Ministerialdirigent im Bundesministerium der Justiz a.D., Bonn: Karl Lackner zum 70. Geburtstag

MICHAEL KÖHLER, Dr. jur., o. Professor an der Universität Hamburg: Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis. - Die Aufhebung der abstrakten Straftheorie am Leitfaden der Hegeischen Rechtsphilosophie .

11

JOACHIM SCHULZ, Dr. jur., Professor an der Universität Heidelberg: Gesetzmäßige Bedingung und kausale Erklärung. - Zur Fassung der Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung

39

GÜNTHER JAKOBS, Dr. jur., o. Professor an der Universität Bonn: Risikokonkurrenz - Schadensverlauf und Verlaufshypothese im Strafrecht

53

EBERHARD SCHMIDHÄUSER, D r . j u r . , e m . o . P r o f e s s o r an d e r U n i v e r s i t ä t

Hamburg: Zum Begriff der Rechtfertigung im Strafrecht THEODOR LENCKNER, Dr. jur., o. Professor an der Universität Tübingen: Das Merkmal der „Nicht-anders-Abwendbarkeit" der Gefahr in den § § 3 4 , 3 5 StGB

77

95

WOLFGANG FRISCH, Dr. jur., o. Professor an der Universität Mannheim: Grund- und Grenzprobleme des sog. subjektiven Rechtfertigungselements 113 MANFRED MAIWALD, Dr. jur., o. Professor an der Universität Göttingen: Gedanken zu einem sozialen Schuldbegriff

149

GÜNTER SPENDEL, Dr. jur., o. Professor an der Universität Würzburg: Zum Begriff des Vorsatzes

167

A R T H U R KAUFMANN, D r . j u r . , D r . h . c . , o . P r o f e s s o r an d e r U n i v e r s i t ä t

München: Einige Anmerkungen zu Irrtümern über den Irrtum

185

Vili

Inhalt

INGEBORG PUPPE,

Dr. jur., Professor an der Universität Bonn:

Die logische Tragweite des sog. Umkehrschlusses

199

Dr. jur., o. Professor an der Universität Heidelberg: Überlegungen zum sog. Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Fahrlässigkeitsdelikt 247

WILFRIED KÜPER,

Dr. jur., o. Professor an der Universität Mainz: Die Verwirkung des Vertrauensgrundsatzes bei pflichtwidrigem Verhalten in der kritischen Verkehrssituation 289

JUSTUS KRÜMPELMANN,

CLAUS ROXIN,

chen:

Dr. jur., Dr. h. c., o. Professor an der Universität Mün-

Bemerkungen zur actio libera in causa

307

D I E T R I C H H E R Z B E R G , Dr. jur., o. Professor an der Universität Bochum: Grund und Grenzen der Strafbefreiung beim Rücktritt vom Versuch. Von der Strafzwecklehre zur Schulderfüllungstheorie 325

ROLF

BERND SCHÜNEMANN,

Dr. jur., o. Professor an der Universität Mannheim:

Die Regeln der Technik im Strafrecht

367 if.

UDO EBERT, Dr. jur., o. Professor an der Universität Mainz: Talion und Spiegelung im Strafrecht

399

Dr. jur., o. Professor an der Universität Münster: Zur Indizwirkung der Regelbeispiele für besonders schwere Fälle einer Straftat 423

JOHANNES WESSELS,

HANS-JÜRGEN BRUNS,

langen-Nürnberg :

Dr. jur., em. o. Professor an der Universität Er-

Die Strafzumessung bei Vollrauschdelikten (§ 323 a StGB)

439

Dr. jur., o. Professor an der Universität Osnabrück: Zur Höchstpersönlichkeit der Geldstrafe 455

THOMAS HILLENKAMP,

GÜNTHER WILLMS,

Dr. jur., Professor, Bundesrichter a.D., Ettlingen:

Zur strafrechtlichen Absicherung von Organisationsverboten

471

Inhalt

IX

GERHARD WERLE, Dr. jur., Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Heidelberg: Die „Teilnahme" am Landfriedensbruch und der Landfriedensbruch durch Vermummung oder Schutzbewaffnung (§ 125 Abs. 1 und 2 StGB) . 481 FRANZ STRENG, Dr. jur., Professor an der Universität Heidelberg: Das Unrecht der Volks Verhetzung

501

WALTER STREE, Dr. jur., o. Professor an der Universität Münster: Täuschung über einen Tatbeteiligten nach § 145 d Abs. 2 N r . 1 S t G B . . . .

527

WINRICH LANGER, Dr. jur., o. Professor an der Universität Marburg: Verdachtsgrundlage und Verdachtsurteil. - Zum Begriff des „Verdächtigens" gemäß § 164 S t G B

541

GERD GEILEN, Dr. jur., o. Professor an der Universität Bochum: Bedingter Tötungsvorsatz bei beabsichtigter Ermöglichung und Verdekkung einer Straftat (§211 StGB)? 571 HANS JOACHIM H I R S C H , D r . j u r . , o . P r o f e s s o r a n d e r U n i v e r s i t ä t z u K ö l n :

Behandlungsabbruch und Sterbehilfe

597

RUDOLF SCHMITT, Dr. jur., o. Professor an der Universität Freiburg i. Br.: Reform der Reform des § 237 S t G B ?

621

HERBERT TRÖNDLE, Dr. jur., Präsident des Landgerichts a. D . , WaldshutTiengen, Honorarprofessor an der Universität Freiburg i. Br.: Ein Plädoyer für die Verfassungsmäßigkeit des § 240 S t G B

627

GUNTHER ARZT, Dr. jur., o. Professor an der Universität Bern: Zwischen Nötigung und Wucher

641

F R I E D R I C H - C H R I S T I A N SCHROEDER, D r . j u r . , o . P r o f e s s o r an d e r U n i v e r s i -

tät Regensburg: Die Bedrohung mit Verbrechen

665

JÖRG TENCKHOFF, Dr. jur., Professor an der Universität Augsburg: Eingehungs- und Erfüllungsbetrug

677

WOLFGANG NAUCKE, D r . jur., Professor an der Universität Frankfurt a.M.: Der Kleinbetrug

695

HARRO OTTO, Dr. jur., o. Professor an der Universität Bayreuth: Schadenseintritt und Verjährungsbeginn

715

Inhalt

Χ

Dr. jur., Dr. h. c., o. Professor an der Universität Freiburg i. Br.: Gründungs- und Sanierungsschwindel durch verschleierte Sacheinlagen . 737

KLAUS TIEDEMANN,

Dr. jur., o. Professor an der Universität Münster: Der Amtsträgerbegriff

761

Dr. jur., o. Professor an der Universität Athen: Probleme der Amtsdelikte

787

JÜRGEN W E L P ,

CHRISTOS DEDES,

Dr. jur., em. o. Professor an der Universität Göttingen: Die strafrechtliche Verantwortlichkeit Vollzugsbediensteter für den Mißbrauch von Vollzugslockerungen 795

FRIEDRICH SCHAFFSTEIN,

Dr. jur., Dr. phil., o. Professor an der Universität Gießen: Probleme der Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts, insbesondere im Umweltstrafrecht 815

KRISTIAN K Ü H L ,

Dr. jur., o. Professor an der Universität Bonn: Strafrechtliche Verantwortlichkeit der Bediensteten von Betrieben für Gewässerverunreinigungen und ihre Begrenzung durch den Einleitungsbescheid . . . 863

H A N S - J O A C H I M RUDOLPHI,

Dr. jur., Dr. h. c., em. o. Professor an der Universität Bern: Probleme einer Revision des Allgemeinen Teils des schweizerischen Strafgesetzbuches 889

H A N S SCHULTZ,

Dr. jur., Dr. h. c. mult., em. o. Professor an der Universität Freiburg i. Br., em. Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg i. Br.: Das Strafensystem des Vorentwurfs zur Revision des Allgemeinen Teils des schweizerischen Strafgesetzbuches in rechtsvergleichender Sicht . . . . 901

H A N S - H E I N R I C H JESCHECK,

Dr. jur., M. C . J . , o. Professor an der Universität Freiburg i. Br., Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg i. Br. : Der Forscher als „Täter" und „Opfer". - Rechtsvergleichende Beobachtungen zu Freiheit und Verantwortlichkeit von Wissenschaft und Technologie 925

ALBIN ESER,

XI

Inhalt

K A R L PETERS, D r . j u r . , D r . h . c . , e m . o . P r o f e s s o r an d e r

Universität

Tübingen: Gedanken zur „Normalität des Verbrechens". - Ein Beitrag zur Ethik des Strafverfahrens 951 PETER RIESS, Dr. jur., Ministerialdirigent im Bundesministerium der Justiz, Bonn, Honorarprofessor an der Universität Göttingen: Hauptverhandlungsreform - Reform des Strafverfahrens? - Bemerkungen zum Alternativ-Entwurf einer Novelle zur Strafprozeßordnung Reform der Hauptverhandlung 965 HEINZ SCHÖCH, Dr. jur., o. Professor an der Universität Göttingen: Wird in der Bundesrepublik Deutschland zu viel verhaftet? - Versuch einer Standortbeschreibung anhand nationaler und internationaler Statistiken 991 H E I N Z LEFERENZ, D r . j u r . , D r . m e d . , e m . o . P r o f e s s o r an d e r U n i v e r s i t ä t

Heidelberg: Die neuere Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage. - Eine kritische Betrachtung 1009 GÜNTHER KAISER, Dr. jur., Professor an den Universitäten Freiburg i. Br. und Zürich, Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg i . B r . : Abolitionismus - Alternative zum Strafrecht? - Was läßt der Abolitionismus vom Strafrecht übrig? 1027 G Ü N T E R BEMMANN, D r . j u r . , D r . h. c., o . P r o f e s s o r a n d e r F e r n u n i v e r s i t ä t

Hagen: Über den Angleichungsgrundsatz des § 3 Abs. 1 StVollzG

1047

HERMANN KRAUTH, Dr. jur., Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe: Mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen. - Zur Problematik des § 32 J G G , namentlich in Fällen der Schwerkriminalität.. 1057

B i b l i o g r a p h i e K A R L LACKNER

1081

Karl Lackner zum 70. Geburtstag EDUARD D R E H E R

Noch war eine Aura von Jugendlichkeit um ihn, als ich den Mann, den es jetzt zur Vollendung seines 70. Lebensjahres zu feiern gilt, kennenlernte. Das war genau am 1.10.1951, als ich meinen Dienst im Bundesjustizministerium in Bonn antrat. Karl Lackner und Hermann Maassen, die beide schon dort tätig waren, jener schon fast ein Jahr, nahmen mich mit kollegialer Herzlichkeit in Empfang. In der Folgezeit haben wir in der strafrechtlichen Abteilung des Ministeriums, wo wir damals nur eine Handvoll Leute waren, vortrefflich zusammengearbeitet. Trotz seiner jugendlichen Ausstrahlung hatte Lackner damals schon ein ereignisreiches Stück seines Lebensweges hinter sich. Geboren ist er in Maikammer, wo Pfälzer Wein wächst, am 18.2.1917. Vom ersten Weltkrieg wurde er danach nur gestreift. Sein Vater war zuletzt Oberamtsanwalt. Der Sohn stand also schon im Zeichen des Strafrechts. Der junge Lackner besuchte Schulen in Bochum und Bonn und begann nach gut bestandenem Abitur 1936 mit dem Studium der Rechtswissenschaft. Sechs Semester studierte er in Bonn und München und es gelang ihm, die erste Staatsprüfung noch am Anfang des zweiten Weltkrieges mit „lobenswert" unter Dach und Fach zu bringen. Das war am 13.12.1939. Dann erfaßte ihn der Wehrdienst. Vom 10.1.1940 an war Lackner Soldat, seit 1942 als Leutnant. In Frankreich, aber vor allem in Rußland und zuletzt noch in Dänemark, tat er Dienst bei der Flakartillerie. Im Juli 1945 wurde er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Nach diesen bitteren Jahren, in denen Lackner formell Gerichtsreferendar und sogen. Assessor (K) wurde, begann er sofort mit dem Vorbereitungsdienst, den er am 12.2.1948 mit der zweiten Staatsprüfung abschloß. Die Note war „gut". Schon wesentlich früher, nämlich am 1.8.1946, also bereits nach einem Jahr seit seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft, promovierte Lackner in Bonn, und das „magna cum laude", eine erstaunliche Leistung. Mit seiner Dissertation über „Vermögen und Vermögensbeschädigung in der Betrugstheorie des Reichsgerichts" nahm der Doktorand schon ein Thema vorweg, das ihn später noch sehr intensiv beschäftigen sollte. Sein Doktorvater war der unvergessene Hellmuth von Weber, bei dem Lackner bis Mai 1948 zur besonderen Zufriedenheit seines Lehrers assistierte. Dann wurde er Gerichtsassessor und arbeitete

2

Eduard Dreher

bei den Landgerichten Bonn und Köln sowie am dortigen Oberlandesgericht. Aber schon am 1. November 1950 wurde er zum Landgerichtsrat ernannt und gleichzeitig an das Bundesjustizministerium abgeordnet. Kurz vorher, am 15.7.1950, hatte er geheiratet. Das waren seine äußeren Lebensdaten, als ich ihn zu gemeinsamer Arbeit traf. Es war das die Zeit, als das neue Jugendgerichtsgesetz im Entstehen war. Hier war Lackners Feld. Es gab Besprechungen mit den Landesjustizverwaltungen, laufend Beratungen in den Ausschüssen des Bundestages. Manche Vorschriften waren heiß umstritten, so der intrikate § 105, dessen weiterhin viel diskutierte Regelung im System des neuen Jugendstrafrechts kaum verzichtbar erschien, aber ideale Forderungen niemals erfüllen konnte. Im gesamten Entwurf war Lackner zuhause und es war ihm gelungen, bei den Bundestagsabgeordneten aller Parteien Vertrauen und Ansehen zu erwerben. Er erläuterte auch diffizile Materien klar und präzis und die Abgeordneten erkannten schnell, daß hier einer war, der niemals versuchte, sie mit taktischen Tricks zu überlisten. Das neue Gesetz vom 4. 8.1953 wurde ein im ganzen beachtlicher, nicht zuletzt auch im Ausland beachteter Erfolg. Zur wissenschaftlichen Krönung seiner intensiven Arbeit wurde der Kommentar, den Lackner dann gemeinsam mit Wilhelm Daliinger, dem damaligen Prozessualisten unserer strafrechtlichen Abteilung, schrieb. Er erschien 1955 im Verlag von C. H. Beck, der fast alle Autoren aus dem Bundesjustizministerium betreut, in großem Format mit einem eingehenden historischen Apparat. 1958 folgten noch zwei Nachtragsbände, die sich mit der inzwischen angefallenen Rechtsprechung zum Jugendgerichtsgesetz und dem neuen Wehrstrafrecht des Gesetzes befaßten. 1965 erschien die zweite Auflage des Kommentars, diesmal im Umfang verkürzt und in die Reihe der Beckschen Kurzkommentare eingefügt. Zu weiteren Auflagen ist es leider nicht mehr gekommen. Das war nicht Lackners Schuld, sondern lag an seinem Mitautor. Trotzdem blieb das nicht nur aus der intimen Kenntnis der Entstehungsgeschichte geborene, sondern mit wissenschaftlicher Akribie und kriminalpolitischem Impetus geschriebene Buch richtungsweisend für die reichhaltige spätere Literatur zum Jugendstrafrecht. Dieses blieb auch für den Autor weiterhin ein Bereich persönlicher Zuneigung und besonderen fachlichen Interesses. Ein ganz anderes Gebiet, mit dem sich einige Sachbearbeiter des Ministeriums, darunter auch Lackner und ich, zu befassen hatten, war das Wehrstrafrecht. Die Bildung der Bundeswehr machte es nötig, auch ein auf das Bild der neuen Truppe und ihre Funktionen zugeschnittenes spezifisches Wehrstrafgesetz zu schaffen, das auf der Grundlage des allgemeinen Strafrechts aufbaute, auf frühere gesetzliche Vorbilder aber nur beschränkt zurückgreifen konnte. Es war eine gemeinsame Arbeit

Karl Lackner zum 70. Geburtstag

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des Bundesjustiz- und des Bundesverteidigungsministeriums. Nach Anhörung von Experten wurde sehr zügig ein Entwurf des Gesetzes erarbeitet und in den parlamentarischen Ausschüssen verhältnismäßig glatt durchgebracht. Nach der Verkündung des Gesetzes am 30.3.1957 entschloß ich mich, gemeinsam mit einem Referenten des Verteidigungsministeriums einen Kommentar dazu zu schreiben. Ich machte mich fleißig an die Arbeit, aber, als ich mit meinem Teil schon fast fertig war, gestand mir mein Partner, daß er noch so gut wie nichts geschrieben habe und sich der Aufgabe nicht gewachsen fühle. In dieser Notlage wandte ich mich an meine Kollegen Lackner und Georg Schwalm, die sich auch bereit erklärten, eine Reihe von Vorschriften des noch ausstehenden Teils zu kommentieren. Beiden, die eine vorzügliche Arbeit geleistet haben, bin ich zu großem Dank verpflichtet. Denn nur ihrem kollegialen Einspringen war es zu verdanken, daß der Kommentar, ebenfalls bei C. H . Beck, 1958 erscheinen konnte. Zu einer zweiten Auflage kam es erst viel später, nämlich 1975 unter der alleinigen Bearbeitung durch Joachim Scholz. Im Ministerium hatten längst die Arbeiten an der großen Strafrechtsreform begonnen, an denen Lackner von Anfang an bis zum Beginn der Beratungen im Bundestag in vorderster Front beteiligt war. Ich kann mich nicht erinnern, daß er je bei einer der zahlreichen Tagungen der Großen Strafrechtskommission gefehlt hätte, die fünf Jahre, von 1954 bis 1959, in Anspruch nahmen. Gewichtige Themenkomplexe hatte er dabei zu betreuen. Ich möchte nur einige nennen, so das Verkehrsstrafrecht, das Lackner auch als Referent bearbeitete und das ihm stets ein Gegenstand besonderen Interesses geblieben ist, ferner das Recht der Beleidigung, dem u.a. der neue Tatbestand eines Indiskretionsdelikts eingefügt werden sollte, sowie das Sexualstrafrecht, das sich zwar in der Sache in überkommenen Bahnen hielt, aber doch neue systematische Ansätze brachte, die bei der späteren Reform verwertet werden konnten. Auch rein dogmatische Themen wurden Lackner anvertraut. So hielt er über die delikate Rechtsfigur der objektiven Strafbarkeitsbedingungen ein exzellentes Referat, das ihm bei den Theoretikern der Kommission höchstes Lob einbrachte. An deren Beratungen Schloß sich noch bis Januar 1962 die Arbeit einer von den Landesjustizverwaltungen ins Leben gerufenen eigenen Kommission an, die den vorläufigen Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches gründlich diskutierte. Auch dabei war Lackner in breitem Umfang beteiligt. Die Tätigkeit dieser Länderkommission brachte zwar manche wertvolle Erkenntnisse, bedeutete aber letztlich einen erheblichen Zeitverlust für das Reformwerk. So kam es auch, daß die Beratung des 1962 eingebrachten Entwurfs eines neuen Strafgesetzbuches, an dessen Begründung Lackner einen wesentlichen Anteil hatte, im Sonderaus-

4

Eduard Dreher

schuß für die Strafrechtsreform des Bundestages noch in ihren Anfängen stand, als den damaligen Ministerialrat der Ruf nach Heidelberg erreichte. Sein Weggang war auch für den Ausschuß, aber vor allem für das Ministerium selbst ein herber Verlust. Er war eine Spitzenkraft. Alle Minister, unter denen er gearbeitet hatte, von Thomas Dehler angefangen, schätzten ihn nicht nur als Juristen, sondern auch als Menschen sehr hoch. Diese Wertschätzung war auch in Lackners Karriere zum Ausdruck gekommen. Schon zweieinhalb Jahre nach seinem Eintritt in das Ministerium wurde er zum Oberregierungsrat ernannt; drei Jahre später folgte 1956 die Beförderung zum Regierungsdirektor und bereits 1957 die zum Ministerialrat. Diese Karriere war innerhalb des Ministeriums allenthalben von warmer Sympathie begleitet. Lackner war beliebt. So sah man ihn mit größtem Bedauern ziehen. Aber wir alle hatten Verständnis, daß er das reizvolle Angebot eines Lehrstuhls annahm, der durch so klangvolle Namen wie Gustav Radbruch, Eberhard Schmidt und Paul Bockelmann ausgezeichnet war. So wurde denn Lackner nach einer Tätigkeit von rund dreizehn Jahren im Bundesjustizministerium am 1.10.1963 zum ordentlichen Professor an der Universität Heidelberg ernannt. Damit begann in seinem Berufsleben der zweite große Abschnitt, der mit der Emeritierung am 1.10.1982, also fast zwanzig Jahre später, nur einen formalen Abschluß fand. Lackner hat Heidelberg über die ganze Zeit hinweg die Treue gehalten. Einen Ruf nach Hamburg, der 1970 an ihn erging, hat er abgelehnt. Als man Lackner nach Heidelberg holte, wußte man dort auch, wen man da gewann. In der Begründung seiner Berufung wurde schon das „hohe Ansehen" betont, das er sich „in den Kreisen der Strafrechtspraxis und Strafrechtswissenschaft des In- und Auslandes" verschafft habe. Das Fehlen der Habilitation hat bei der Berufung eines solchen Mannes mit Recht keine Rolle gespielt. Lackner hat denn auch die Erwartungen, die man in ihn setzte, nicht enttäuscht, sondern übertroffen. Sowohl als Lehrer als auch als Wissenschaftler hat er Hervorragendes geleistet. Ich habe zwar nie eine Vorlesung von ihm gehört, war aber anderweit und bis in die letzte Zeit oft genug dabei, wenn er sprach, und kann beurteilen, was er seinen Studenten zu bieten hatte. Lackner ist ein Redner und Darsteller von großem Format. Dabei besticht er nicht durch rhetorische Brillanz, sondern durch Präzision und Transparenz. Er versteht es, vor seinen Zuhörern ein dunkles dogmatisches Dickicht in einen lichten Garten mit wohlgebahnten Wegen zu verwandeln. Die Geheimnisse des Strafgesetzbuches konnte er mit verständlicher Klarheit vor seinen Hörern ausbreiten. Nicht genug mit den Vorlesungen. Auch in seinen Übungen und vor allem in seinen Seminaren mit vorgerückten Studenten bewies der Jubilar ein außergewöhnliches Engagement, wobei

Karl Lackner zum 70. Geburtstag

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er immer neue Methoden und Formen erprobte. Sowohl im materiellen als auch im prozessualen Recht veranstaltete er unter erheblichem Aufwand Planspiele verschiedener Art. Dabei beschränkte er sich häufig auf intensivste Vorbereitung und trat dann bei der Veranstaltung selbst zurück, um die Teilnehmer zu eigener Aktivität anzureizen. So ließ er einmal in seinem Seminar eine Gruppe von Studenten einen Gesetzgebungsausschuß bilden, der einen Reformentwurf für die Tötungsdelikte auszuarbeiten hatte. Die Arbeit fand auch ihren literarischen Niederschlag. Seminare solcher Art dauerten dann, bis das letzte Problem ausdiskutiert war und die Uhr auf Mitternacht ging. Auch sonst zeigte sich Lackner im Verhältnis zu seinen Mitarbeitern und Studenten als ein Mann, dem es nicht darauf ankam, selbst zu glänzen, sondern die ihm Anvertrauten zu fördern und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich in der Richtung ihrer Begabung zu entwikkeln. Gegenüber ihren Anliegen zeigte er sich aufgeschlossen und so waren seine Sprechstunden stets gut besucht. Auch in der Zeit, in der es manche Studenten für progressiv hielten, anstelle von Argumenten Eier und ähnliche Gegenstände zu verwenden, hielt sich Lackner unerschrocken. Für die Art, wie er den Studenten gegenübertrat, ist folgende Schilderung charakteristisch, die Ingeborg Puppe, Lackners spätere Habilitandin, von ihrem ersten Zusammentreffen mit dem Jubilar gegeben hat: „Ich war mit einer Komilitonin im Foyer der sog. .neuen Uni' verabredet und traf sie in einem angeregten Gespräch mit einem, aus meiner damaligen Perspektive, älteren Herrn. Der stellte sich dann als Prof. Lackner heraus, der gerade . . . sein neues Lehramt angetreten hatte. Es ging um die Situation der heutigen Jurastudenten, insbesondere die Schwierigkeiten und Nöte der Examenskandidaten. Ich schaltete mich unbefangen in das Gespräch ein. Herr Lackner verglich die heutige Situation mit seiner eigenen Studentenzeit und meinte, daß wir es in vieler Hinsicht schwerer hätten. Er berichtete aus seinen Erfahrungen als Prüfer, insbesondere im mündlichen Examen. Vor allen Dingen aber wollte er von uns, unseren Schwierigkeiten bei der Stoffbewältigung und unserer psychologischen Situation vor und im Examen hören. Es klingelte zur nächsten Vorlesungsstunde; als es dann zur nächsten Pause klingelte, standen wir drei immer noch am gleichen Platz. Prof. Lackner hatte sich eine volle Stunde mit den beiden Studentinnen unterhalten."

So hat der Jubilar auch als Lehrer schöne Erfolge aufzuweisen. Davon zeugen die zwei Habilitationen (Ingeborg Puppe und Jörg Tenckboff) und die zehn Promotionen zwischen 1968 und 1983, die unter seiner Leitung zustande gekommen sind. Ein hervorragender Lehrer, aber ein nicht minder erfolgreicher Mann der Wissenschaft. Was Lackner mit seinen schon erwähnten Arbeiten begonnen hatte, setzte er in Heidelberg fruchtbar und unermüdlich fort, so daß er im Jahre seines großen Geburtstages auf eine reiche Ernte an

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Eduard Dreher

Publikationen zurückblicken kann. Da ist zuerst das Buch zu nennen, das unter dem Namen „Der Lackner" von allen Juristen gekannt und geschätzt wird. Es ist aus einer Textausgabe des Strafgesetzbuches mit Erläuterungen hervorgegangen, die der spätere Staatssekretär im Bundesjustizministerium Hermann Maassen und ich im Jahre 1954 bei C. H. Beck herausgebracht hatten. Wir kamen aber über die 3. Auflage nicht hinaus, weil ich den Kommentar des verstorbenen Reichsgerichtsrats Schwarz übernahm und mich nicht länger an dem kleinen Buch beteiligen konnte. Maassen fand dann in Lackner einen neuen Partner, der ab der 6. Auflage die Arbeit allein besorgte und das Buch ab der 9. Auflage auch unter seinem alleinigen Namen weiterführte, weil Maassen infolge seiner wachsenden dienstlichen Inanspruchnahme die Mitarbeit aufgeben mußte. In der Folge hat Lackner aus dem bescheidenen Büchlein einen echten Kommentar gemacht, auch wenn er völlig verfehlt noch immer die ursprüngliche Bezeichnung trägt. Und was für ein Kommentar ist da entstanden! Theoretische Tiefe und praktischer Blick sind hier eine ideale Verbindung eingegangen. Auf einem verhältnismäßig engen Raum ist zu allen wesentlichen Fragen Fundiertes und Selbständiges in einer systematischen Klarheit gesagt, die das Buch nicht zuletzt zu einem erstklassigen Lehrinstrument für Studenten macht. Jeder, der weiß, wie schwer es ist, auf kleinem Raum das Wesentliche zu schreiben, kann Lackners Leistung nur bewundern. Ich selbst, dem im eigenen Kommentar ein um einiges größerer Raum zur Verfügung stand, habe oft mit solcher Bewunderung in einer Neuauflage des Lackner gelesen, was er da wieder mit wissenschaftlichem Tiefgang zustande gebracht hatte. Seine vierte große Leistung als Kommentator lieferte Lackner als Mitarbeiter an der 9. Auflage des wieder ins Leben gerufenen Leipziger Kommentars zum Strafgesetzbuch. Er bearbeitete für diese und die folgende Auflage zwischen 1970 und 1983 die Komplexe Betrug und Erpressung. Hier zeigte sich glänzend, was Lackner kann, wenn ihm unbeschränkter Raum zur Verfügung steht. Was er da allein zum Betrug schrieb, der ja schon Thema seiner Dissertation war, stellt mit mehr als 300 Seiten eine Monographie dar, die ihresgleichen sucht. Der scheinbar so klassische Tatbestand des Betruges liefert eine Überfülle an diffizilen und intrikaten, alten und neuen Problemen. Man braucht dafür nur einerseits die Stichwörter Täuschung, Vermögen, Schaden und andererseits die Scheckkarte und ähnliche Erscheinungen zu nennen. Lackner geht der gesamten Problematik bis in ihre letzten Verästelungen nach und weiß überall überzeugende oder doch beeindruckende Lösungen zu finden. Sehr zu Recht wird seine Arbeit, vor allem auch in der Rechtsprechung, immer wieder zitiert. Seine Ausführungen zu den §§253 ff StGB stehen denen zum Betrug in ihrer hohen Qualität keineswegs nach.

Karl Lackner zum 70. Geburtstag

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Um die vier Kommentare, die allein schon Lackners herausragenden Ruf hätten begründen können, rankt sich ein eindrucksvoller Kranz größerer und kleinerer Arbeiten, Aufsätze, Vorträge, Festschriftbeiträge, Urteilsanmerkungen, Buchbesprechungen und anderes mehr. Das dieser Festschrift beigefügte Schriftenverzeichnis nennt insgesamt mehr als 120 Titel. Thematisch geht es bei den Arbeiten vorwiegend einerseits um Jugendstrafrecht, Verkehrsstrafrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Recht der Ordnungswidrigkeiten, andererseits aber um Ehebruch, Sexualdelikte, Abtreibung und Tötungsdelikte. Ich kann diese Arbeiten nicht im einzelnen würdigen, möchte aber doch vier herausgreifen, die mich persönlich besonders beeindruckt haben. Da ist einmal das Plädoyer, das Lackner in der Festschrift für Gallas zur Verteidigung des §13 StGB gegen den scharfen Angriff von Stratenwerth gehalten hat. Da ist zweitens die fundierte Kritik, die er an der Neuregelung des Abtreibungsrechts durch das 15.StrAG 1976 übte. Drittens möchte ich den Beitrag zur Leferenz-Festschrift nennen, in dem Lackner anhand der Problematik der Aussetzung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe bei Mehrfachtätern eine Fehlleistung des Gesetzgebers in der Folge einer m. E. fragwürdigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit aller Klarheit aufdeckt. Schließlich möchte ich Lackners Beitrag zur Kleinknecht-Festschrift hervorheben, wo er sich mit neuen Strömungen um die Begriffe von Schuld und Zweck der Strafe eingehend und erhellend befaßt. Es kann nicht verwundern, daß ein Mann von Lackners Rang zu zahlreichen ehrenvollen Funktionen herangezogen wurde, Aufgaben, die er jeweils mit sorgfältigem Engagement erfüllte. So war er Dekan seiner Fakultät, war Mitglied und zeitweise stellvertretender Vorsitzender des Großen Senats seiner Universität, war Prüfer in verschiedenen Gremien. Er steht, nachdem er zunächst lange Zeit Mitglied gewesen war, dem Kuratorium und dem Fachbeirat des Freiburger Max-PlanckInstituts für ausländisches und internationales Recht mit allseitig anerkannter Energie seit vielen Jahren vor. Lackner ist seit langem Gast der Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes. In einer Reihe von Zeitschriften ist er ständiger Mitarbeiter. Es ließen sich noch mehr Funktionen nennen, die Lackner ausübte oder noch ausübt. Meine Aufzählung zeigt aber schon hinreichend, welch gesuchter und vielbeschäftigter Mann der Jubilar, auch über seine Emeritierung hinaus, ist. Geht man der Frage nach, was ihn besonders auszeichnet und wie er den Rang erreichte, der ihm zukommt, so meine ich, neben einem immensen Fleiß, ohne den solche Leistungen nicht möglich sind, vor allem zwei Aspekte hervorheben zu sollen. Der erste, den ich schon angedeutet habe, ist: Lackner verkörpert eine geglückte Harmonie zwischen Theorie und Praxis. Wie ein Blick auf seine Arbeiten zeigt, hat er

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sich nie für reine Dogmatik interessiert. Bloßes Abstrahieren ist ihm fremd. Doch ist er ein hervorragender Dogmatiker, und das nicht zuletzt deshalb, weil er immer die Praxis im Blick hat. Was ihn fesselt, ist, wie das Recht die Wirklichkeit bewältigt. Er ist ein hervorragender Praktiker, aber gerade deshalb, weil er seine Praxis mit einer in die Tiefe gehenden Dogmatik untermauert. Das zeigen alle seine Arbeiten, in denen sich mit dem Sinn für das Konkrete auch ein starkes kriminalpolitisches Engagement verbindet, etwa im Jugendstrafrecht oder bei der Abtreibungsproblematik. Der zweite Aspekt ist der folgende: Für Lackner ist es charakteristisch, das Pro und Contra einer Zweifelsfrage mit Gelassenheit und einem Höchstmaß an Objektivität und Gründlichkeit abzuwägen und schließlich zu entscheiden. Er ist kein leidenschaftlicher Dränger, der die Argumente seiner Gegner vom Tisch wischt. Mir sagte einmal ein prominenter Strafrechtslehrer von einem anderen prominenten, dieser halte seine Gegner nicht etwa nur für dumm, sondern für bösartig. Ganz anders Lackner. Er nimmt die Argumente Andersdenkender, auch wenn sie abwegig zu sein scheinen, stets ernst, sucht sich in die Position des anderen hineinzudenken und setzt sich sorgfältig mit ihm auseinander. Gerade diese Eigenschaft gibt seinem Votum dann am Ende besonderes Gewicht. Auch dabei geht Lackner vorsichtig und behutsam vor. Ein Beispiel ist bezeichnend für seine Arbeitsweise. Als das S.Strafrechtsreformgesetz die Neufassung des § 113 StGB mit ihrer komplizierten und ungewöhnlichen Regelung des Irrtums über die Rechtmäßigkeit einer Amts- oder Diensthandlung brachte, wollte sich Lackner in der schon allein von ihm bearbeiteten 6. Auflage seines Kommentars hinsichtlich der dogmatischen Deutung der neuen Regelung nicht festlegen, sondern beschränkte sich auf den Satz: Die „dogmatische Einordnung in den Verbrechensaufbau ist der Wissenschaft als neue, bisher noch nicht in Angriff genommene Aufgabe gestellt." Erst allmählich tastete sich der Autor in den folgenden Auflagen an diese Aufgabe heran. Heute kann man in der jüngsten Auflage eine ausführliche und kritische Darstellung aller bisher vertretenen Meinungen lesen sowie Lackners eigenen Standpunkt, wobei er aber betont, daß die Regelung des Gesetzes Friktionen mit allgemeinen strafrechtlichen Prinzipien bringe, jedoch nach den Zielsetzungen des Gesetzes zu akzeptieren sei. Der Praktiker stellt die Bedenken des Dogmatikers zurück. So rundet sich das Bild eines Mannes, der zu den führenden Köpfen der deutschen Strafrechtswissenschaft gehört, und man darf von ihm sagen: Er hat sich um das Recht verdient gemacht. Lackners wissenschaftliche Leistung verbindet sich mit einem glücklichen Naturell. Das eine ist ohne das andere nichit denkbar. Der Ausgeglichenheit seines Arbeitens entspricht die Harmonie seines Charakters. Er hält sich immer

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in Balance. Er ist aufgeschlossen und aufnahmefähig, teilnehmend und hilfsbereit, herzlich und liebenswürdig. Seine Frau ist dem Jubilar mit Weltoffenheit, Charme und Energie eine unentbehrliche Gefährtin. Zwei hochbegabte Söhne sind die Freude der Eltern. Alle Voraussetzungen für weitere glückliche Jahre, die man sich scheut, den Abend des Lebens zu nennen, sind gegeben. Mögen sie Früchte tragen und Freuden bringen.

Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis Die Aufhebung der abstrakten Straftheorie am Leitfaden der Hegeischen Rechtsphilosophie MICHAEL

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„Das Objektmachen: Ist es nicht die Hauptquelle von Gewalt?" (Christa Wolf, 1983).

Die Strafrechtspraxis ist für die mächtige Zeittendenz der Herabsetzung des Subjekts zum Zweckobjekt für andere besonders anfällig, provoziert doch die in der tätigen Verkehrung des Rechtsrichtigen aktualisierte Schwäche des endlichen Vernunftwesens Mensch die Selbstüberhebung der anderen in ausgezeichneter Weise. Dem entgegenzuwirken fordert, die Hauptbegriffe des Verbrechens und der Strafe in ihrem intersubjektiv-institutionellen Begründungszusammenhang zustandezubringen, damit die bloß abstrakt-formelle und auch nur subjektivmoralische Auffassung sowie entsprechenden praktischen Umgang zu überschreiten. „Wer von Euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie" (Joh. 8,7): Die geforderte Bereitschaft auch des neuzeitlich säkularisierten Strafjuristen, auf diesen Appell einzugehen, verlangt nach einem immanent praxisphilosophischen Begründungsgang. Hegels Rechts- und Strafrechtstheorie ist kritisch zum Leitfaden zu nehmen, da er doch in bisher nicht überbotener Weise das Dasein der (subjektiven) Freiheit in ihrer Ambivalenz und Entwicklungsgestuftheit gerade im Begründungszusammenhang mit intersubjektiven Formationen gedacht hat. I. Problemstellung Die hegelscbe Theorie formuliert eine ausgeprägt diesseitig-immanente Straf-(Zweck-)begrifflichkeit. Die Abfolge von Verbrechen (Verletzung des Rechts als Recht) und Strafe wird dem Grunde nach entwikkelt als Prozeß der Restitution wirklicher Freiheit, der Wiederfreisetzung von Allgemeinheit und Täter auf die Negation des Rechts im Verbrechen hin - ebensowohl Verlust an wirklicher rechtlicher Geltungsallgemeinheit wie Selbstverlust des Täters als Rechtssubjekt - per negationem der Strafe: Strafe also als bestimmte (inhaltserfüllte) Negation des Verbrechens, sowohl in der Objektivität allgemeiner Rechtsgel-

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tungsrealität, als auch in der Selbstbestimmtheit des Verbrechers. In dieser Hinsicht begreift sich Strafe als „zugleich sein an sich seiender Wille, ein Dasein seiner Freiheit, sein Recht", womit der Täter „als Vernünftiges geehrt" wird 1 . Der erinnerte (zunächst abstrakt-rechtliche, d.h. noch die vollständige Begründung im Ganzen des Systems voraussetzende) Strafbegriff versteht sich als durchaus kritischer 2 , als kategoriale Voraussetzung von Zweckbestimmungen auch der Besserung des rechtlichen Gesamtzustandes, sei es des Subjekts, sei es der intersubjektiven Allgemeinheit, kompromißlos kritisch (und einhellig mit Kant) gewendet gegen eine reduziert pragmatische, technische, das Subjekt instrumentalisierende Fassung der Strafrechtszwecke in so formulierten Präventionstheorien 3 , - kritisch freilich auch gegen ein in falscher Abstraktion sich als bloße Freiheitsnegation behauptendes Verständnis von „Vergeltung". Der solchermaßen kritische Strafbegriff affirmiert also nicht etwa jede in seinem Namen betriebene empirische Strafpraxis, ein bestimmtes Gefängniswesen usw., weshalb eine etwaige schlechte Realität auch nicht platt gegen jenen Begriff gewendet werden kann. Die freilich berechtigte Frage an die Straftheorie als Theorie lautet: O b sie im Recht der Allgemeinheit auf Geltungsrestitution nach Negation durch das Verbrechen auch das exponierte Recht des Verbrechers (moralitätslogisch: Das Recht seiner Subjektivität, kantisch reformuliert: Seine Selbstzweckhaftigkeit als rechtskonstitutive Regulierungsinstanz, also seine Würde als Rechtssubjekt - positiv verfassungsrechtlich Artikel 1 I des Grundgesetzes) wirklich systematisch durchsetzt. Davon hängt auch jene kritische Wirkmacht des Denkens gegen schlechtes Dasein ab. Damit ist zugleich nach dem eigenständig aktuellen Rang der hegelschen Straftheorie gefragt, sofern man richtigerweise bereits in Kants: „Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ" eine substantiell freiheitsgesetzliche Strafrechtsbegründung und in einem die Kritik aller Strafheteronomie sehen muß 4 . Was also kann insofern die hegelscbe Theorie - über die Explikation, stellenweise immanente Korrektur kantischer Bestimmungen hinaus 5 - lehren? Die Antwort soll sein: Die Begriffe von Verbrechen und Strafe auf den Konstitutionszusammenhang von moralischer Subjektivi-

Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie, §§95 ff, 99, 100 m. Anm. A. a. O. § 1 : „Alles, was nicht diese durch den Begriff selbst gesetzte Wirklichkeit ist, ist vorübergehendes Dasein, äußerliche Zufälligkeit, Meinung, wesenlose Erscheinung, Unwahrheit, Täuschung usf." 5 A . a . O . §§99, 100 Anm. 4 S. bes. E.A. Wolff, ZStW 97, 1985, S. 786 ff; s. auch Verf. Der Begriff der Strafe, Heidelberg 1986. 5 Z.B. die Kritik am materiellen Talion, Hegel, a . a . O . §101 Anm..; s. Oberer, in: Rechtsphilosophie der Aufklärung, Berlin, New York 1982, S.399, 414 ff. 1

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tät und intersubjektiv-institutionellen (in Hegels Systemterminologie: sittlichen) Verhältnissen zu beziehen, also die (im systembegrifflichen Sinne) „sittliche" Qualität der Verbrechens- und Straf(Maß)begründung einzusehen, dadurch zu begründen die systematische Durchsetzung einer Subjekt-Substanz für alle Normativität und ihres in der Individualität endlichen Grundseins gegen die sich verselbständigende Ubermacht überindividueller Formationen. Eine sich ideologiekritisch verstehende Referenz auf die hegelsche Straftheorie bestreitet ihr aktuelles Potential6. In der Realität sei die Strafe Repression des Delikts. Sie als Recht und Ehre des Verbrechers zu behaupten, übersehe, daß Unrecht und Strafe der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Widersprüchlichkeit angehörten. Als konkretes Glied der Gesellschaft und nicht nur abstrakte Personifikation des Begriffs Unrecht weigere sich der Verbrecher, daran zu glauben, daß die Strafe, als die äußere Gewalt der anderen, sein Recht und seine Freiheit seien, die Entfremdung zwischen ihm und der Gesellschaft aufhöben. Das wirkliche Subjekt in seiner (gesellschaftlichen) Defizienz wird hier gegen das (angeblich) abstrakte hegelsche Subjekt geltend gemacht. Wendete diese Kritik nur die schlechte Seite einer existierenden Strafpraxis gegen Hegels Begrifflichkeit, und teilweise klingt es danach, dann genügte dagegen der Hinweis auf Hegels auch daseinskritischen Strafrechtsbegriff der anerkannten Subjektivität7. Aber diese Replik genügte nicht der Entfremdungskritik als Strafttheoriekritik, will sagen dem Zweifel, ob das Verhältnis von moralischem Subjekt und institutioneller Formation - es bleibe zunächst offen, ob dies ein Problem der bürgerlichen Gesellschaft ist oder allgemeineren Status hat - von Hegel so begründet ist, daß im allgemeinen auch Deformationen zumindest implizit zureichend kritisiert sind, daher im besonderen konkret legitimes Strafen von seinem bloßen Schein geschieden werden kann. Die Fragestellung ist auch aus positiv-strafrechtlicher Sicht dringlich. Im eindrucksvoll existierenden Massenphänomen Kriminalität imponieren vor allem solche (habituellen) Formen, die ein ausgebildetes Erfahrungswissen, mit dem allgemeinen Vorverständnis vielfach übereinstimmend, als Entfremdungsphänomene - in deformierten Verhältnissen wurzelnd - identifiziert. Sozialpragmatisch-technisches Effizienzdenken fordert unmittelbare Problembewältigung und geht, bringt das eine Konzept (z.B. Resozialisierungsbemühung) nicht raschen Erfolg, unbedenklich zu anderen (Eliminierung, negative oder „positive" Generalprävention) über. Dagegen hat sich die Identität des Strafrechts als eines

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Vgl. Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie, 2. Auflage Berlin 1975, S. 91 ff, 113 ff. So Ottmann in seiner Flechtheim-Rezension, Hegel-Studien 13, 1978, S. 302 ff.

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Rechtsverhältnisses letztbegründet gerechter Reaktion auf Verbrechen zu behaupten; notwendiges Moment dessen ist es, die „Zuständigkeit" des Strafrechts und des Täterindividuums für jene Formen des Verderbens in Frage zu stellen. Das Konzept einer technisch-zweckrationalen Reaktion - der hervorstechende Zug der sog. modernen Schule, basierend auf einer begrifflich an sich schon überwundenen naturalistischen Unterbestimmung des Menschen - nahm und nimmt im Ganzen die Kompetenz des Strafrechts, verstanden als eines umfassenden Zwangsmotivierungsinstrumentes, an. Davon leiten sich gesetzesmächtig ab, sowohl die Milderung des Strafzwangs (z. B. gegen die präventiv „schädliche" sog. kurze Freiheitsstrafe), als auch - und dies vor allem gegenüber jenen Formen habitueller Delinquenz - die Verschärfung der Repression in abschreckender und/oder eliminierender Hinsicht (in Deutschland z . B . in den Maßnahmen nach dem Gewohnheitsverbrechergesetz von 1933). Die den Delinquenten radikal vergegenständlichende Seite dieses Konzeptes, seine Ungerechtigkeit ordnet sich in ihren praktischen Extremen der moralisch-rechtlichen Katastrophe unseres Jahrhunderts ein8, - übrigens in der auch faktisch-zweckrationalen Erfolglosigkeit, wenn nicht Verstärkung des bekämpften Übels die ideale Koinzidenz von Güte (Gerechtigkeit) und Glückseligkeit ex negativo bestätigend. Daß also nur in Wahrung der Rechtssubjektqualität des Täters die Verbrechensreaktion sich realisieren dürfe, dem positiven Juristen bestätigt in Verfassungsrechtssätzen (besonders Art. 1 I Grundgesetz), ist nun in abstracto anerkannt'. Im Besonderen aber sind Gesetzgebung und Praxis des Strafrechts weiterhin zwiespältig, ist der vergegenständlichende Umgang nicht wirklich aufgehoben. Eine ganze Reihe offen-unbestimmter gesetzlicher Normen des Strafbemessungsund des Vollzugsrechts ermöglichen ihn unter dem zweideutigen Gesichtspunkt spezialpräventiver Differenzierung; Milderung oder Verschärfung des Strafrechts, Hilfsangebote, Veränderung und Differenzierung von Vollzugsformen und -bedingungen schweben in unbestimmter Weise zwischen Gerechtigkeit und Zweckrationalität. Bezüglich jener habituellen Delinquenzformen läuft es auf die systemdurchgängige Realmöglichkeit eines fortgesetzt sich verschärfenden Strafzwangs, Freiheitsentzuges, Entzuges von Chancen zur Freiheitsrestitution hinaus, - nach pragmatischen und technischen Imperativen einer „Einwirkungs-" und

' S. kritisch besonders H. Mayer, Strafrechtsreform für heute und morgen, Berlin 1962. - Zum jüngeren internationalen Umschwung in dieser Richtung daher mit Recht bedenklich Jescheck, ZStW 91, 1979, S. 1037, 1050 ff. ' BVerfGE 45, 187 ff. Zsf. etwa Stratenwerth, Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips, Karlsruhe 1977, S.40ff. Oers. SchwZStrR 101, 1984, S.225ff.

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„Behandlungs"-intention10. Dieser praktische Mangel läßt sich auf eine Begründungsoffenheit der theoretischen Reflexion beziehen. Zwar wurde im Zuge der jüngeren Reformintention eine bereits von von Liszt geäußerte unbestimmte Vorstellung, die Gesellschaft trage „Mitschuld" an gewissen imponierenden Formen habitueller Verderbnis11, in Einbeziehung kriminologischen resp. kriminalsoziologischen Materials aufgenommen, so die institutionell vermittelte Schwäche des Subjekts als Verbrechensgrund thematisiert und in eine kriminalpolitische Programmatik zu übersetzen versucht, durchaus eingedenk der Kritik an Vergegenständlichung in den Präventionstheorien und an entsprechenden Eliminierungsmaßnahmen12. Was dies aber strikt Verbrechens- und strafbegrifflich bedeuten müsse, ist nicht zureichend geklärt worden. Insbesondere die durchgesetzte Tendenz, Bestimmungen jenseits gut begründeter Strafrechtsbegriffe zu treffen, den Begriffen Schuld und Strafe einen bloß abstrakten, anderwärts „präventiv" unterschiedene Inhaltsbestimmungen angeblich bloß begrenzenden Status zuzugestehen13, läßt auch in Anbetracht schreckender historischer Spuren zuviel offen: Was nämlich Resozialisierungs-, Präventionsbemühen in gerechter Rechtenund Pflichtenbestimmung der Rechtsgemeinschaft und des Täters zu Inhalten haben soll und was nicht, - also die spezifische Strafrechtsbegründungsfrage, kritisch gegenüber der als unrechtlich erkannten Möglichkeit vergegenständlichenden „Behandeins", unabhängig von ansonsten möglicherweise sozialstaatlich geforderten Hilfsangeboten, unabhängig auch von ethischen (aber nicht strikt rechtlichen, daher insofern unverbindlichen) Geboten des Wohlwollens und der Nächstenliebe. Jene Begründungsoffenheit entspricht dem unbestimmten Verhältnis von „Spezialprävention" und „Schuldstrafe" in den Zumessungsnormen und der Abkoppelung des Strafvollzuges.

10 Die Streichung der unmäßigen Rückfallschärfung nach dem bisherigen §48 StGB (23. StrÄndG v. 13.4.1986 BGBl. I, 393) ändert nichts an der Nichtbewältigung des allgemeinen Problems. 11 Von Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2, Berlin 1905, S.25, 63 ff, 230 ff; s. auch, freilich auf sein Lebensführungsschuldkonzept reduziert, Mezger, Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage, 2. Auflage, Stuttgart 1942, bes. S. 241 ff. 12 Vgl. Mayer, a. a. O. (Fn. 8), S. 122. Leitend für die Vorschläge des Alternativentwurfs Noll, Die ethische Begründung der Strafe, Tübingen 1962, bes. S. 14 ff. S. etwa auch Naegeli, in: St. Galler Festgabe zum Schweizerischen Juristentag, 1965, S. 263 ff, 305; Hassemer, in: Recht und Gesellschaft, 1971, S. 17ff; Stratenwerth, Schuldprinzip, S.41; ders. in: Festschrift für Bockelmann, 1979, S.901, 916 ff; Liiderssen, in: Hassemer/ Lüderssen/Naucke, Fortschritte im Strafrecht durch die Sozialwissenschaften? Heidelberg 1983, S. 75 ff. Eher abweisend Arthur Kaufmann, in: Festschrift für Lange, 1976, S. 27, 36. " S. Noll, a . a . O . S. 17ff; s. auch Stratenwerth, Tatschuld und Strafzumessung, Tübingen 1972, bes. S.28ff.

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Es bleibt also auch im Hinblick auf den Begründungsstand des positiven Strafrechts die Frage gestellt, wie die „Schwäche" des Subjekts begründet zu denken, und wie ihr daher, äußere sie sich auch in schwerhabituellen Delinquenzformen, gerecht zu werden sei.

II. Problemlösung Eine hinreichende Problemlösung muß resultieren aus einer Strafbegründungstheorie 14 , die vorpositiv-kritisch 1. objektivrechtlich die Rechtsstrafe als spezifische rechtsrestituierende Unrechtsreaktion auf Straftat und -täter hin identifiziert - im Gegensatz zu einer bloß empirischen Betrachtungsweise („Übel"), in spezifischer Differenz zu sonstigen Unrechtsreaktionen namentlich dem aktuell-unmittelbaren Rechtszwang gegenüber Unrechtsverhalten, 2. diese Identität auch durch (gegenüber) den (dem) Verbrecher als Rechtssubjekt begründet und 3. die vorausgesetzte Strafbegründung (1, 2) in den Bestimmungen des Strafmaßes, definiert als Einheit von Qualität und Quantität der Strafe, widerspruchsfrei durchsetzt. Diese Ansprüche an Strafbegründung entsprechen einer immanenten Verhaltensnorm- und Rechtsnormbegründung auf dem Stande der kantischen praktischen Vernunftkritik. Auch die begelscbe Theorie übernimmt diese Ansprüche. Sie identifiziert die Strafe im Unterschied zum unmittelbaren Rechtszwang als verbrechensaufhebende Rechtsgeltungsrestitution in der objektiven Allgemeinheit und im Tätersubjekt 15 , schließt daher ihre Auffassung als primäre Eliminierungsgewaltmaßnahme oder als Zwangsmotivierungsinstrument zu künftigen Verhaltensweisen a u s " und bezieht jene Identitätsbestimmung und die ihr entsprechende Kritik auf die Strafmaßgründe 17 . In der letzteren Hinsicht (zu 3) ist damit völlig ausgeschlossen, auf grundlegend schon kritisierte Identitätsbestimmungen wie die Zwecke der „Unschädlichmachung", „Besserung" und „Abschreckung" auf irgendeiner systematischen Ebene der Strafrechtsrealisation doch wieder zurückzugreifen. Das methodoloZu den folgenden Begründungsansprüchen s. Verf., a. a. O . (Fn. 4). S. zunächst Rechtsphilosophie, §§90-93, 94 ff - §99 Anm. (unsubstantielle Bestimmung der Strafe als „ Ü b e l " ) . 16 §§99 m. Anm., 100 A n m . : „Wenn er nur als schädliches Tier betrachtet wird, das unschädlich zu machen sei, oder in den Zwecken der Abschreckung und Besserung". 17 §101 A n m . : „Der Begriff selbst muß überhaupt das Grundprinzip auch für das Besondere enthalten". Die offengelassene Modalität der Strafe (§ 99 Anm.) bezieht sich auf Strafpragmatik, nicht das Maß der Strafe; zu dieser methodologischen Einheit, Verf., Strafbegründung und Strafzumessung, Heidelberg 1983, m. w. N . 14 15

Strafbegriindung im konkreten Rechtsverhältnis

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gisch eigentlich Selbstverständliche muß gegen strafrechtsdogmatisch fortexistierende Vorstellungen (Vereinigungs-, Spielraumtheorien usf.) erinnert werden, die sich auf hegelianisch genannte Strafrechtler im 19. Jahrhundert, besonders Berner, berufen und namentlich auf der Strafzumessungsebene solche Bestimmungsgründe doch wieder relativ eigenständig einmischen 18 . Auch für die darin enthaltenen richtigen Intentionen (insbesondere der „Besserung") gerade in bezug auf das hier exponierte Problem vermag nur methodische Schlüssigkeit das Lösungspotential der Straftheorie freizusetzen. 1. Der abstrakte

Strafrechtsbegriff

Der Zusammenhang Recht - Verbrechen - Strafe wird zunächst als eine Abfolge von personalen-interpersonalen Willenssetzungen im unmittelbar äußeren Dasein vorgestellt; deren Notwendigkeit hat freilich noch wesentliche und substantielle Voraussetzungen in der Selbstkonstitution von rechtlich-moralischer Subjektivität und ihrer wechselseitigen Konstitution in Intersubjektivität. So ist das Recht unmittelbar gesetzt als geltend anerkanntes äußeres personal-interpersonales, darin auch gegenständlich vermitteltes Dasein des freien Willens. Von der individuellen Person her gesehen handelt es sich hier zunächst um eine explizite Selbstaffirmation des freien Willens im Dasein, wohingegen die Momente der Selbstnegation (Selbstbeschränkung), der entsprechenden Affirmation bzw. Negation der anderen Personen nach einer begründet vorausgesetzten Allgemeingeltungsregel noch unausdrücklich impliziert sind". Erst in der gesetzten Kollision der Personen, im Unrecht werden der (voraus-)gesetzte Begründungszusammenhang der interpersonal bestimmt daseienden Freiheit und seine Notwendigkeit (wie auch deren Voraussetzungen) explizit. Vollständig entwickelt gesetzt ist das im spezifischen Unrecht des Verbrechens, definiert als Verletzung des Rechts als Recht 20 . Die Negativität des Verbrechens in der personalen Daseinsbestimmung des Verbrechers betrifft nämlich nicht bloß das besondere Dasein der Freiheit einer anderen Person, sondern die darin gesetzte interpersonale Geltungsallgemeinheit und damit aber zugleich die in ihrer freien Prozessualität rechtskonstitutive Personalität des anderen und jedes am Rechtsverhältnis Beteiligten (seine „Rechtsfähigkeit", das „Allgemeine, Unendliche " S. E.A. Wolff ( F n . 4 ) ; s. auch Verf. ( F n . 1 7 , 4). " Hegel, Rechtsphilosophie, § § 3 5 - 8 2 ; dazu Angehm, Freiheit und System bei Hegel, Berlin, N e w York 1977, S. 181 ff. 20 Rechtsphilosophie § 9 5 . Im Gegensatz zum „unbefangenen" Unrecht, worin die Geltungsallgemeinheit an sich respektiert wird, ist „das V e r b r e c h e n . . . das unendliche Urteil, welches nicht nur das besondere Recht, sondern die allgemeine Sphäre zugleich negiert" (Hegel, Logik, Bd. 2, Ausgabe Lasson, Hamburg 1934, S. 284 f).

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im Prädikate des Meinigen", daher „negativ-unendliches Urteil")21. Was man die „Rechtsgutsverletzung" durch das Verbrechen im eigentlichen Sinne nennen kann, bestimmt sich also als Einheit von Momenten einer (praxis-)logisch ausgezeichneten Geltungsnegation personal-daseienden freien Willens: Die Negation ist ein Verlust seiner Geltungswirklichkeit, sowohl im besonderen Willensdasein der Personen („des Verletzers, des Verletzten und aller"), als auch eben darin der idealen Geltungsallgemeinheit, insofern diese durch freie praktische Synthesis-Leistungen individueller Personen kontinuierlich verwirklicht wird. In Hinsicht auf die besondere Willenssetzung des Verbrechers hat die Negation des Rechts als Recht mithin den doppelten Bezug: Negation rechtlicher Geltungswirklichkeit und (bzw. durch) Negation seiner selbst als kontinuierlich-personaler Rechtsinstanz, also seiner wahrhaften Verallgemeinerungs-, Rechtsfähigkeit. Das Verbrechen definiert sich als gesetzter Wirklichkeitsverlust von allgemeingültiger Interpersonalität und Personalität in einem, insofern als doppelbezügliche Negation. Die positive Daseinsweise des Verbrechens hat dieselbe logische Struktur, ist eine unwahre, scheinbare Allgemeingeltung - Irritation des Rechtsfriedensverhältnisses - existierend im und durch den äußerlich gesetzten besonderen Willen des Verbrechers, sie behauptend und sich anmaßend22. Diese (doppelte) Existenzweise ist zwar zunächst nur partikulär, hat freilich die auch erfahrungsgemäße Tendenz, aus dieser Partikularität sich weiter schlüssig zu verallgemeinern in anderes und andere, würde sie nicht durch das Rechtsverhältnis aufgehoben, - abgeleitete Bedeutung von „Spezialprävention" und „Generalprävention". Die weiteren Bestimmungen des Verbrechens als „in sich nichtig" und der Strafe als die konsequent gesetzte Manifestation dessen23 definieren einen Widerspruch und einen bestimmt inhaltlich gerichteten Widerspruchsaufhebungsprozeß - der Geltungsrestitution - in eben jenem doppelten pesonalen-interpersonalen Setzungsbezug. Die Ausgangslage des Verbrechens, nach den gesetzten personalen Daseinsbestimmungen, ist zunächst ein grundsätzlicher Widerspruch von miteinander kontinuierlich unvereinbaren objektiven Geltungsansprüchen in der Allgemeinheit, im Dasein freier Personen, nicht wesentlich des womöglich ersetzbaren äußeren Schadens („Übels")24. Die im Verbrechen durch den Täter 21 S. Rechtsphilosophie §§95, 99; zur logischen Grundstruktur der Negationsbewegung besonders Henrich, in: Festschrift für Werner Marx, 1976, S. 208 ff (entscheidende Hinweise zur logischen Struktur verdankt Verf. Herrn Uwe Andreß, Hamburg). 22 Rechtsphilosophie § 99. 23 §§97 ff, zusf. § 101 Anm.: „Zusammenhang der Notwendigkeit, daß das Verbrechen als der an sich nichtige Wille, somit seine Vernichtung, - die als Strafe erscheint, - in sich selbst enthält". S. auch Randbemerkung S.366: „Wille der ein Nichtiges will". 24 Zu §§98-100.

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als freie Person gesetzte Verhaltensregel beansprucht kontinuierliche Existenz, d. h. auch weitere Verallgemeinerung - im Widerspruch zur (vorausgesetzt) wahren Geltungsallgemeinheit personalen Respekts. Dieser Widerspruch ist nach dem Gesagten präsent in der Ebene der rechtlichen Allgemeinheit (repräsentiert in anderen Personen) und ebenso als Selbstwiderspruch der besonderen Willenssetzungen des Täters. E r selbst setzt sich in zwei miteinander unvereinbare Daseinsweisen, nämlich sich als Mitträger gültigen rechtlichen Allgemeinwillens („sich als an und für sich seienden Willen") und in eine dieser vorgängig gültigen Bestimmung widersprechende äußerliche Existenzweise 25 . Er will selbst anerkannt allgemeingültig personal da sein und negiert zugleich diese Geltungsallgemeinheit in anderer Personalität. In Hinsicht auf die eigene Person ist damit eine Selbstaufhebung, Selbstentmächtigung als widerspruchsfrei-allgemeiner Rechtssetzungsinstanz im Dasein angesetzt, und zwar nicht bloß punktuell-statisch, sondern als prozeßhaft fortexistierender (Selbst-)Widerspruch. Dieser (doppelbezügliche) Widerspruch muß durch das Rechtsverhältnis allgemeiner gleicher personaler Freiheit - gegen dessen naturzuständliche Auflösung - so behoben werden, daß die partikulär widersprüchlich, nämlich sich selbst ausschließend gesetzte negative Allgemeinbestimmung auf die personale Freiheit des Täters gleichmäßig-allgemeingültig fortgesetzt wird. Insofern wird im Ansatz widerspruchsfreie Allgemeinheit des Rechts im interpersonalen Dasein restituiert. Denn dieser tat-partikulär widerspruchsbehebende Verallgemeinerungsschluß hat zwar inhaltlich ein negatives Moment, wirkt sich insofern freiheitsmindernd auf den Täter aus. Aber dies ist nur das notwendig negative Moment der positiven Restitution widerspruchsfrei-allgemeinen Daseins der Freiheit, Grundmoment für alle weiteren Freiheitsrestitutionsprozesse vernünftiger Personen („Versöhnung", „Resozialisierung" - notwendig vermittelt selbst durch mildeste Sanktionen etwa des Anerkennungsentzuges etc.) 26 . Diese Wirklichkeitsrestitution des Rechts in der Strafe hat wiederum die zwei Seiten des Gesetztseins in der Allgemeinheit und in der personalen Selbstsetzung des Täters. In diesem individuell-personalen (noch nicht subjektiven) Bezug wird das besonders gut ausdrücklich: „Denn in seiner als eines Vernünftigen Handlung liegt, daß sie etwas Allgemeines, daß durch sie ein Gesetz aufgestellt ist, das er in ihr für sich anerkannt hat, unter welches er also, als unter sein Recht subsumiert werden darf", Strafe als „argumentum ad hominem, aus seinen Prinzipien" 27 . §§ 40 c, 95, 99. " S. Verf. (Fn.4). 25

27 Hegel, Rechtsphilosophie §§ 100, 101 Anm. Zur Struktur der zweifach verdoppelten Negation im Selbstbezug s. Henrich, a . a . O . (Fn.21). Die praxislogische Pointe des

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Michael Köhler

Wie bemerkt, nimmt der so auseinandergesetzte Prozeß der Selbstnegation des Verbrechens und des besonderen Willens des Täters zunächst abstrakt personal-interpersonal gesetzt - Voraussetzungen moralisch-rechtlicher Selbstkonstitution, also von Subjektivität, in Anspruch. In sich nichtig sind Verbrechen und besonderer Wille des Täters durch die als begründet vorausgesetzte Wirklichkeit des Rechts, seine inhaltliche Schlüssigkeit und daher wirkliche Macht gegenüber dem gegensätzlichen Element im Dasein. Der kategorische Imperativ des Strafgesetzes (mit Kant zu sprechen) ist dem abstrakten (Straf-)Recht vorausgesetzt. Auch die Strafbegründung, wie das abstrakte Recht überhaupt, ist also in einem weiteren Schritt zunächst auf die moralische Selbstbestimmung angewiesen: Die in diesem Sinne wirkliche In-sichNichtigkeit (Selbstnegation) des Verbrechens gründet im subjektiven Rechts-, Richtigkeitswissen des Täters selbst. Vorerst muß aber noch festgehalten werden, daß die Geltungswidersprüchlichkeit des Verbrechens und der Geltungsrestitutionsprozeß der Strafe abstraktrechtlich sich in Momenten der Negation und negations-negierenden Selbstaffirmation, sowohl der Täterperson, als auch der rechtlichen Geltungsallgemeinheit (repräsentiert in den anderen Personen der Rechtsgemeinschaft), realisieren. Also auch das negative Moment im Restitutionsakt betrifft durch die Täterperson praxislogisch die Allgemeinheit, die darin also zugleich auch selbst gestraft wird (wie an ihr die negativen und existierend-positiven Momente des Verbrechens gesetzt sind). Die kritische Realität dieser logischen Bestimmungen am abstrakten Rechtsverhältnis wird erst in weiteren Begründungsvoraussetzungen sich entfalten. 2. Die subjektiv-moralische Verbrechen

Begründung und Strafe

von

Recht,

Moralisch, d.h. substantiell-subjektiv muß Strafe aus dem eigenen Vernunftschluß, dem bösen Willen des Verbrechers (in der Besonderheit des rechtlich-bösen, unrechtsbewußten Willens) und seiner Selbstaufhebungstendenz resultieren. Die abstraktrechtlich vorgestellte In-sich-Nichtigkeit des Verbrechens und ihre Manifestation bleiben nur dann kein bloß äußeres, objektivistisch verselbständigtes Setzungsverhältnis, wenn sie Selbstbestim-

unsinnigen negativ-unendlichen Urteils - der Grundwiderspruch des Verbrechens - ist die darin (subjektiv) positiv reflektierte Allgemeingültigkeitskategorie selbst, in deren Kontinuierlichkeit das Subjekt als praktisch-denkendes steht und geht (s. Hegel, Logik, Bd. 2, S. 285). Die reflexiv-selbstbezügliche Durch-Setzung der unendlichen Negation, inhaltlich negativ, restituiert positiv die Allgemeingeltung als solche: In-sich-Nichtigkeit der unendlichen Negation.

Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis

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mungsleistungen moralischer Subjekte, der substantielle Angelpunkt aller N o r m - und Rechtsnormbegründung, sind. Logisch und praxislogisch setzt sich das auf Geltungsallgemeinheit reflektierende Subjekt als Wesensgrund voraus 28 . Die abstraktrechtlich als besonderer Wille des Täters vorgestellte positive Existenz des Verbrechens und seiner Aufhebung muß sich daher in moralischen-subjektsubstantiellen Bestimmungen reformulieren. In dieser Hinsicht bestimmt sich der besondere Wille des Verbrechers moralisch vertieft als der böse Wille. Ganz entsprechend den personal-äußeren Setzungen der abstraktrechtlichen Verbrechens· und Strafbegrifflichkeit bestimmt sich auf der Ebene der subjektiven Selbstbestimmung das Böse a) als die Möglichkeit des Selbstbewußtseins, ebenso „das an und für sich Allgemeine, als die Willkür, die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Prinzip zu machen, und sie durch Handeln zu realisieren" 29 , und b) „als das, was notwendig nicht sein soll, - d.i. daß es aufgehoben werden soll, nicht daß jener erste Standpunkt der Entzweiung überhaupt nicht hervortreten solle, daß nicht auf ihm stehengeblieben, und die Besonderheit nicht zum Wesentlichen gegen das Allgemeine festgehalten, daß er als nichtig überwunden werde". Es ist also das freie Subjekt als Selbstsetzendes, das den dann tätig realisierten personalen-interpersonalen Gegensatz von Allgemeingeltungsansprüchen vor sich hat, den „Widerspruch in sich selbst" begründet 30 und die tätige Schlußbewegung zu seiner Behebung. Expliziert bezieht sich die Begründung nun auf das Recht des subjektiven Willens, nur das selbst Anerkannte für sich gelten zu lassen31. Das Recht der Einsicht besondert sich im Gewissen des guten und gegensätzlichen bösen Willens32. Im auseinandergesetzten subjektiven Reflexionsgegensatz 33 des Wissens des wahrhaft Allgemeinen, Wollen des widerstrebenden Besonderen, vergleichenden Wissens beider Momente ist „für das wollende Bewußtsein selbst sein besonderes Wollen als das Böse bestimmt"; und diese im Tatentschluß in verschiedenen Formen bloß verdunkelte anerkannt richtige Einsicht des moralischen Subjekts in Gut und Böse, Recht und Unrecht ist selbst die subjektiv-moralische Potenz der Selbstvernichtung des Verbrechens, die moralische Seite seiner abstraktrechtlich vorgestellten In-sich-Nichtigkeit. Auf diese subjektsubstantielle Legitimation ist die abstraktrechtlich-äußere Rechtsstrafe, 2" Zur Hegeischen Zurechnungslehre, Verf., Bewußte Fahrlässigkeit, Heidelberg 1982, S. 199 ff; dem Übergang vom Verbrechen zur Moralität in der Rechtsphilosophie entspricht der Ubergang zum logischen Reflexionsstandpunkt des Subjekts (s. Logik a. a. O.). 29 Rechtsphilosophie §139 mit Anm.: „Im Gegensatz sein". 30 A. a. O.; s. auch Randbemerkung zu § 140 S. 139. 31 §132 und öfter; s. auch Enzyklopädie von 1830, §503. 32 §§132, 139. 33 §140 Anm.

22

Michael Köhler

soll sie nicht ein bloß äußeres Verhältnis bleiben, in bestimmter Weise angewiesen. Die strafrechtlichen Zurechnungsbegriffe (Vorsatz - Tatbewußtsein, Unrechtsbewußtsein) sind darin unverfügbar letztbegründet34. Das moralische Recht der Einsicht, namentlich in Gut und Böse (Gewissen), ist so zwar ein notwendiges Moment der Begründung. Aber es ist insofern unzureichend, als es durch den nur individuell-subjektiven Standpunkt begrenzt ist und einer intersubjektiv konkret-substantiell entwickelten Norminhaltsbegründung noch ermangelt. „Der subjektive Wille unmittelbar für sich ist abstrakt, beschränkt und formell"35, das heißt eben nicht: konkret, entschränkt und substantiell. Formelle Subjektivität wird hier pejorativ gebraucht, formell nicht im Sinne von formal-formend-formgebend, inhaltsstrukturierend wie es richtig aufgefaßt die Formalität des kategorischen Imperativs ist, sondern formelle Verstandes- und Willkürsubjektivität und ein entsprechender Stand von gegenständlicher Wahlfreiheit. Das moralische Recht der Einsicht ist insofern nicht zureichend, als es reduziert ist um eine konkrete, entwikkelte, substantielle Norminhaltsbegründung. Insofern selbst begründungsbedürftig, läuft es absolut gesetzt darauf hinaus, daß das formell subjektive Gewissen sich auf den eigenen begrenzten Standpunkt kaprizieren kann, die Vernunfterweiterung durch andere, ihre intersubjektive Erweiterung ausschlagend. Hegel verdoppelt deshalb in der Konsequenz der allgemeinen Unterscheidung zwischen formell-subjektivem und substantiellem Willen den Gewissensbegriff, unterscheidet kritisch das formell-subjektive Gewissen (der Staat könne es nicht anerkennen) vom wahrhaften, auf das an und für sich Gute bezogenen Gewissen36. Alle Bestimmungen des subjektiv-moralischen Standpunktes sind von der Formalität erfaßt. Es kommt deshalb sehr darauf an, hier auch die 34 Legalität und Moralität sind auch straftheoretisch in der Rechtsphilosophie angemessener auseinandergesetzt als noch in der Jenaer Realphilosophie von 1 8 0 5 / 1 8 0 6 , Ausgabe J. Hoffmeister, Hamburg 1967, S . 2 4 0 f . Der moralisch autonome Schluß bleibt relativ selbständig nicht nur in der formellen Gegensatzmöglichkeit, sondern auch in der Unverfügbarkeit, Unerzwingbarkeit seiner Selbstaufhebungsbewegung. Aber die zunächst abstrakt-rechtlich äußere Strafsetzung hat dagegen keinen vergleichbaren, etwa durch die Sittlichkeit objektivistisch affirmierten Selbststand: In hier noch unexpliziert institutionell vermittelter Weise muß vielmehr die äußerlich strafende Rechtsrestitution durch moralische Subjektivität mitbegründet sein (ähnlich wie es auch der unmittelbare Rechtszwang sein muß). Die entwickelte Zurechnungsbegrifflichkeit für die Rechtsstrafe ist daher vermittelt moralisch.

Rechtsphilosophie § 108. § 1 3 7 mit A n m . Die Begründetheit dieser Unterscheidung hängt von zureichender Normbegründung ab. Das Vorrecht des Staates als idealen Begriffs setzt also eine vermittelte Identifikation mit Subjektivität, ihrem wahrhaften Gewissen voraus, das zugleich dessen subjektives Kriterium ist und den bloß formellen Gewissensstandpunkt kritisch erkennt; vgl. ebenso zum Recht der Einsicht „im Staate", § 132 A n m . 35 36

Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis

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Bestimmungen des Bösen als bloß formell, abstrakt, beschränkt, nicht konkret entwickelt zu erinnern. Das subjektive Im-Gegensatz-Sein, die Schuld des Bösen, sein Nicht-sein-Sollen sind allesamt zunächst formelle Bestimmungen 37 . Gesetzt ist im Begriff des Bösen zwar die Kenntnis des wahrhaft Allgemeinen im selbstgesetzten Gegensatz. Aber abstrahiert ist von der entwickelten Begründetheit subjektiven Richtigkeitswissens; und ebenso abstrakt bleibt die inhaltliche Schlüssigkeit des Selbstaufhebungsprozesses. Ebenso wie der Rechtsbegriff selbst sind auf diesem Stande also auch der Verbrechens- und Strafbegriff noch nicht vollständig begründet. Die Verbrechens- und Strafbegrifflichkeit im inkonkreten Formalismus zu belassen, heißt aber unvermittelten Problemauffassungen Raum zu geben. So tendiert einesteils die Strafrechtsdoktrin dazu, die Zurechnungsbegriffe bloß als formales Gegenstandswissen, Abspiegelung objektiv als gültig vorausgesetzter Bestimmungen zu bilden, damit wirkliche Unterschiede des Nichtwissens oder nicht entwickelten Wissens und der gerechten Reaktion darauf nach Grund und Maß zu verfehlen. Die allgemeinste Form der Unvermitteltheit ist die das bloß objektive Unrechtsurteil reformulierende „normative Schuldtheorie"; in bezug auf das exponierte Problem findet sie sich in einer Charakter- oder Dispositionsschulddoktrin, welche den „Schuldvorwurf" in das Sosein der gewordenen schlechten Grundhaltung setzt, abstrakt das „Einstehenmüssen für die Persönlichkeit" isoliert38. Diesen Ansätzen in der Strafrechtsdoktrin entspricht es, wie bereits vermerkt, die verbleibende wirkliche Problematik, die „Stärke und Schwäche" des konkreten Subjekts empirisch-kriminologisch in nur vergegenständlichender Weise zu erfassen, also abgekoppelt von strikter Verbrechens- und Strafbegrifflichkeit. Das „Böse" ist ein verpönter Begriff, in seiner unentwickelten Abstraktheit, Formalität mit gewissem Recht. Dieser Auffassung entspricht eine vergegenständlichende Reaktion, die das Recht des Subjekts daher nicht oder nur zufällig achtet. Im Ansatz dominieren technische Imperative der Verbrechensbekämpfung und -behandlung, bezugnehmend auf hypothetisch-pragmatische Imperative der Sozialnützlichkeit. Allenfalls daneben stehen ethische Erwägungen der Nächstenliebe, des Wohlwollens. Es handelt sich aber strikten Sinnes um das entwickelte und zu restituierende Rechtsverhältnis, um Strafgerechtigkeit. Darin ist 37 Vgl. die Entwicklung des Bösen aus der formellen Subjektivität, dem Willkürmoment in § 139. " V g l . Engisch, ZStW 61, 1942, S. 166, 172ff; ZStW 66, 1954, S.339, 359ff; MSchrKrim 50, 1967, S. 108ff, 117ff; Heinitz, ZStW 63, 1951, S.57, 73ff; Dohna, ZStW 66, 1954, S. 505, 508 f; Eh. Schmidt, ZStW 69, 1957, S. 359, 385 ff; zuletzt Figueiredo Dias, ZStW 95, 1983, S.220, 239 ff. Kritisch Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, 2. Aufl. Heidelberg 1976, S. 149 f; Stratenwerth, Tatschuld und Strafzumessung, S. 5 f.

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Michael Köhler

die e n t w i c k e l t e V e r m i t t l u n g v o n R e c h t und Strafrecht d u r c h das m o r a l i s c h e Subjekt u n i i b e r g e h b a r . G e g e n eine b l o ß o b j e k t i v - n o r m a t i v e o d e r f o r m e l l - m o r a l i s c h e V e r b r e chens· u n d Strafauffassung u n d gegen d e n ihr e n t s p r e c h e n d e n v e r g e g e n ständlichenden

A n s a t z ist es -

anderenteils -

prinzipiell

berechtigt,

Subjektivität und ihre N o r m h a l t u n g (gegebenenfalls in ihrer S c h w ä c h e ) selbst als h a n d l u n g s m ä ß i g

k o n s t i t u i e r t z u begreifen,

neoaristotelisch

H a n d l u n g u n d H a l t u n g ( H a b i t u a l i t ä t ) in einen vertieften B e g r ü n d u n g s z u s a m m e n h a n g z u bringen 3 9 . Indessen bleibt in bisherigen

Ansätzen

dieser B e g r ü n d u n g s z u s a m m e n h a n g einseitig f o r m e l l - m o r a l i s c h definiert. D a s e n t s p r i c h t einer n o t w e n d i g e n B e g r e n z t h e i t des g r o ß e n schen

aristoteli-

G e d a n k e n s , d e r die m o d e r n e W i r k l i c h k e i t des a u t o n o m e n Sub-

jekts in i m m a n e n t w i r k l i c h e r InterSubjektivität n o c h nicht mitenthielt. I m v o r a u s g e s e t z t e n G u t e n d e r Polis k a n n bei Aristoteles

d e r habituell

S c h l e c h t e n u r selbstverschuldet so g e w o r d e n sein, fällt i h m also alles z u r Last 4 0 . S o verhält es sich a u c h , bei allen U n t e r s c h i e d e n im einzelnen, n a c h jener n e u e r e n Aristoteles-Rezeption

in d e r Strafrechtsdoktrin 4 1 : Sie

ist teleologisch auf gültige institutionelle V o r a u s s e t z u n g e n

gerichtet,

f o r m u l i e r t eine e n t s p r e c h e n d e ( a b s t r a k t e ) Pflicht des I n d i v i d u u m s , d e r e n

" E.A. Wolff, Der Handlungsbegriff in der Lehre vom Verbrechen, Heidelberg 1964, S.24ff; s. auch Verf., a.a.O. (Fn.28), S.405ff m.w.N. 40 S. zunächst Aristoteles, Nikomachische Ethik III, 2 1110 b, der Nichterkenntnis des Guten und Bösen als besondere Form von Schlechtigkeit auszeichnet, freilich einen Begründungszusammenhang von Handlung und Haltung voraussetzt. Hegel, Rechtsphilosophie § 140 Anm. a) bezieht sich in zumindest zweideutiger Weise, wohl eher affirmativ i. S. des „Rechts der Objektivität" und gegen das zuvor betonte formelle Recht der Einsicht auf die zitierte Stelle: Schuld des vollständigen, gewissenlosen Sünders (Pascal). Es ist fraglich, ob die aristotelische Begründung bzw. das Erfordernis moderner kritischer Rekonstruktion aufgenommen wird. 41 S. bereits Erik Wolf, Vom Wesen des Täters, Tübingen 1932, bes. S. 14 ff und insbesondere Mezger, ZStW 57, 1938, S. 675 ff; ders., Deutsches Strafrecht, 3. Auflage Berlin 1943, S. 84 ff, dessen kritische Seite, die Freiheitsvoraussetzung in der Selbstbegründung der Person, „Täterschuld" herauszustellen, sich in einer den Prozeß bloß beschreibenden, auf das Subjekt reduzierten Betrachtungsweise verliert, so daß im Ausgang von naturhaft-normaler Subjektkonstitution alles Weitere zur Lebensführungsschuld zu werden droht; s. etwa Lange, ZStW 62, 1944, S. 175, 192 ff, 198 ff. Welzeis Theorie der Persönlichkeitsschuld (s. ZStW 60, 1941, S.429f, ders., Das deutsche Strafrecht, 11. Auflage Berlin 1969, S. 150 ff), die normativ auf einen Mangel an Haltungsbildung abstellt, ist im Ansatz noch weniger kritisch. Dagegen ist Bockelmann, Studien zum Täterstrafrecht, Teil 2, Berlin 1940, bes. S. 145 ff in der Folge des Mezgerschen Grundansatzes konzentriert auf den wirklichen Prozeß der „Lebensentscheidungsschuld"; aber weder der genauere Zusammenhang der Hangkonstitution noch das Intersubjektivitätsmoment sind zureichend erfaßt. Mayer (Fn. 8) bringt den Begriff der Lebensführungsschuld ohne weitere Ableitung in Zusammenhang mit kritischen Maßunterscheidungen, neigt aber in wesentlichen Fragen doch auch wieder zu bloßen Gefährlichkeitsunterscheidungen (a.a.O., S. 153 ff).

Strafbegriindung im konkreten Rechtsverhältnis

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Verfehlung ihm ausschließlich - und mit um so schwerer Strafe (etwa des Gewohnheitsverbrechergesetzes von 1933) - zur Last gelegt wird. So ist auch diese Konzeption in Strafbegründung und -legitimation gegenüber dem konkreten Subjekt eher affirmativ unkritisch, kommt im Resultat dem vergegenständlichenden Ansatz nahe42. 3. Der konkrete Begründungszusammenhang von Verbrechen und Strafe Das Verbrechen ist über den abstrakt-personal gesetzten und subjektiv-formellen Geltungswiderspruch hinaus die partikuläre Selbstnegation eines konkreten Rechtsverhältnisses. Dadurch begründet sich Strafrecht als Prozeß der (doppelt-negierenden) Selbstaufhebung des Verbrechens, sowohl durch das Subjekt, als auch durch das intersubjektive Verhältnis. a) Das konkrete Rechtsverhältnis" begreift sich, nicht als (antike) „verhältnislose" Identität von Individuum und Allgemeinheit 44 , sondern als Einheit von Subjekt und Substanz 45 . Das bedeutet eine subjektiv-intersubjektive Identität, Identifizierung zwischen Subjekt und Subjekt, dem einen und dem anderen als Grundform „sittlichen" Verhältnisses konkreter Allgemeinheit, sodann systematisch entwickelt in Objektivationen von Normensystemen vermittelter Identität der verschiedenen Subjekte, jeweils sich niederschlagend in Haltung und Handlung solcherart konkreter Subjektivität. Die „Sittlichkeit", „Idee der Freiheit", das „lebendige Gute" sind als Verwirklichungsprozeß moralischen Handelns und als dessen Resultat

42 Bezeichnend ist eine kriminalpolitisch-instrumental reduzierte Tätertypologie; s. etwa Mezger, Das Typenproblem in der Kriminologie, München 1955, bes. S. 13 ff; ders., Kriminologie, München und Berlin 1951, S. 150 ff. 43 Das Folgende beschränkt sich auf den allgemeinen Begriff der Hegeischen Sittlichkeit (§§ 142-155 Rechtsphilosophie) und blendet die institutionelle Entfaltung aus; Detailinterpretation bei Peperzak, in : Hegel-Studien 17, 1982, S. 113 ff. Zur intersubjektivitätstheoretischen Rekonstruktion von der Logik her vgl. Theunissen, Sein und Schein, Frankfun 1980, S.433ff; ders., in: Hegels Philosophie des Rechts, Stuttgart 1982, S.317, 324ff; Angehrn (Fn. 19), S.217ff; Fink-Eitel, Dialektik und Sozialethik, Meisenheim 1978, S. 193 ff; von Hegels Fichte-Rezeption her erhellend Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, Freiburg, München 1979. Wildt, Autonomie und Anerkennung, Stuttgart 1982, - letzterer mit einem der Rechtsproblematik nicht angemessenen Rekurs auf bloße Unmittelbarkeit; zutreffend Roth, in: Hegel-Studien 19, 1984, S. 368 ff. 44 Rechtsphilosophie §147 Anm.; dazu Rameil, in: Hegel-Studien 16, 1981, S.123, 139 ff. 45 Zu diesem Hegeischen Systemgrundsatz bes. Henrich, Hegels Logik der Reflexion, in: Hegel-Studien Beiheft 18, 1978, S. 204 ff.

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Michael Köhler

zu denken46: Konkrete Identität47 von subjektiv-besonderem Willen in seinem moralitätslogisch entwickelten Verallgemeinerungspotential und der objektiven Formation. Die beanspruchte Einheit - gegenüber moralischem Solipsismus (Hegels Motiv der Moralitätskritik) und gegen die Teleologie einer objektiven Struktur48 - besteht in begriffslogischer Gleichursprünglichkeit von moralischer Vernunftsubjektivität und intersubjektiven Objektivationen, welche sich wechselseitig handelnd und fortbestimmend aufeinander beziehen. Nach der Seite der Objektivation ist das objektiv Sittliche, anstelle eines nur abstrakten Guten, „die durch die Subjektivität als unendliche Form konkrete Substanz" ; sie - die subjekt-geformte konkrete Substanz - setzt daher Unterschiede in sich . . . durch den Begriff . . . , wodurch das Sittliche einen festen Inhalt hat, auch gegenüber bloß subjektivem Meinen (dem nur formellen Gewissen)4'. Die Formationen oder intersubjektiven Objektivationen und ihre Normgeltungsallgemeinheit bestimmen und differenzieren sich also nicht teleologisch, materialinhaltlich - das ist moralitätslogisch-freiheitsgesetzlich ausgeschlossen - , sondern nach der Logik des Willens, den Stufen der Freiheit, auf welchen er sich Wirklichkeit gibt und das bedeutet auch: sich zu anderen verhält. Resultierende objektive Verhältnisse sind also zunächst notwendig durch die notwendigen Momente des Willensbegriffs50. Nach der Seite des Subjekts legt sich die „Identität des allgemeinen und besonderen Willens"51 nicht in eine verhältnislose Unterwerfung aus. Vielmehr gründet das Verhältnis subjekt-substantiell im (wechselseitigen) Akt einer Momenten reflexiver Selbstnegation entsprechenden Freisetzung seiner selbst und des anderen52, - eine Erweiterung über die 44 Rechtsphilosophie § 142: „In dem Selbstbewußtsein sein Wissen, Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit, sowie dieses am sittlichen Sein seine an und für sich seiende Grundlage und bewegenden Zweck hat" - Resultat: „der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit". 47 S. §§141 a.E. 143, 155. §§ 145, 146 einseitig gelesen; vorzüglich Marquard, in: Philosophisches Jahrbuch 72, 1964/1965, S. 103 ff. S. zur Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit auch Siep, in: HegelStudien 17, 1982, S. 75, 94 ff; Peperzak, ebda. S. 113 ff. 49 §144; weitere Explikationen §§147ff. 50 S. Rechtsphilosophie §§ 5 ff, 10 ff, 157. Grobgliederung der Entsprechungen : Unmittelbare Intersubjektivität in der Familie, verständig-bedürfnis-orientierte Intersubjektivität in der gesellschaftlichen Beziehung, Gesamtorganisation der Wirklichkeit in umfassend vernünftiger Willensvermittlung im Staat. Die Verhältnisse bedingen und stabilisieren sich wie die Willensbegriffsmomente. 51 S. §§141, 143, 155. 52 In unzureichender Formulierung der furcht-angetriebenen wechselseitigen Selbstnegation im zweiten natürlichen Gesetz bei Hobbes, Leviathan 114. Kants freiheitsbegründeter Ubergang vom kategorischen Imperativ der Verallgemeinerungsform zur Materie der An-sich-Zweckhaftigkeit aller Vernunftsubjekte ist der das Rechtsverhältnis vorantrei-

Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis

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Begrenztheit der subjektiven Vernunft hinaus um die Daseinsregelungskompetenz des anderen (dem Vorverständnis einleuchtend an schlüssig gelungenen „sittlichen" Objektivationen - der Liebe, der Freundschaft, des guten Arbeitsverhältnisses usf.). Unter dieser Voraussetzung einer subjekt-substantiellen Verhältnisbegründung wechselseitiger Freisetzung im entwickelten System sittlicher Verhältnisse (also in idealer Entfaltung vorgestellt) definieren sich Recht und Pflicht - nicht des Subjekts, sondern des (konkreten) Menschen - auf spannende Weise korrespondierend: Die Rechtspflicht bezieht sich durch den abstraktpersonalen anderen Geltungsanspruch, durch die gleichfalls nur abstrakt-formelle moralische Selbstverpflichtung (das bloße Sollen) hindurch auf das substantiell Zugrundeliegende des wirklichen wechselseitigen Freisetzungsaktes und -prozesses. Pflicht bestimmt sich so zur Verbindlichkeit („für seinen Willen bindend"). Die substantielle Selbstberechtigung in wirklicher Freisetzung - „das Recht der Individuen für ihre subjektive Bestimmung zur Freiheit", das ist ebenso „das Recht der Individuen an ihre Besonderheit" - durch die intersubjektive Formation ist zugleich Grundbedingung der konkreten Rechtspflicht 53 . Es ist wesentlich einzusehen, daß die entwickelte subjektive Geltungsallgemeinheit oder das wahrhafte Normwissen, die Normhaltung 5 4 , woraus das Subjekt seine konkreten Handlungsmaximen erschließt, nach Konstitutionsprozeß und Resultat in jener begriffslogischen Gleichursprünglichkeit von Subjekt und intersubjektivem Verhältnis besteht, als subjektive Substanz eines Inbegriffs wirklicher Berechtigungs- und Verpflichtungsidentität seines praktischen Schließens. Die praktische Selbstkonstitution des Individuums im intersubjektiv-institutionellen Verhältnis ist nicht nur begriffen, sondern auch nach Bewußtseinsstufen und Gegenständlichkeit in eine der Willenstheorie entsprechende Bedeutungsfolge gebracht, - gelungener Formationen, ebenso bende Ansatz; s. GMS, Akademie-Ausgabe IV, S. 420 ff, 427 ff; aufgenommen in der MdS. Zur Entfaltung des rechtsbegründenden Anerkennungsverhältnisses bei Fichte und Hegel s. Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre J. G. Fichtes, Berlin 1981 bzw. Step, a.a.O. (Fn. 43). " Vgl. §§153-155: „Der Mensch hat durch das Sittliche insofern Rechte, als er Pflichten, und Pflichten, insofern er Rechte hat"; aufgenommen im institutionellen Zusammenhang s. bes. § 261 (zur Stärke des Staates aus der Freiheit der Individuen, ihrer Rechts-Pflicht-Identität). Pflichtenlehre ist definiert als Entwicklung „sittlicher" Verhältnisse dieser Einheit; s. § 148, als anderes Moment von Freisetzung, § 149, unterschieden vom abstrakt-rechtlichen Pflichtbegriff unmittelbar gegenüber der anderen Person (s. §§ 36, 38) und dem moralischen Pflichtbegriff aus dem einseitigen Recht des Subjekts (s. §§132 Anm., 134, 135); dazu auch Peperzak, a.a.O. (Fn.43). 54 Vgl. Rechtsphilosophie §142 a. E. und, in Überleitung von der (antiken) Tugendlehre, § 151 : „Gewohnheit als eine zweite Natur« der Individuen, ebenso wie das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, „als eine zweite Natur" ist (§ 4).

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wie m ö g l i c h e r D e f o r m a t i o n e n des Verhältnisses wie des individuellen H a b i t u s . W a s Aristoteles von

ethischer

Haltung

z u e r s t als einen B e g r ü n d u n g s z u s a m m e n h a n g und

Handlung

gefaßt hat 5 5 , in n e u e r e r

Zeit

z u n ä c h s t a b s t r a k t m o r a l i s c h u n d insofern einseitig rezipiert 5 6 , r e f o r m u liert sich so a n g e m e s s e n e r w e i t e r t auf das subjektiv-intersubjektive V e r hältnis 5 7 . M a n hat d a h e r „ M a c h t u n d S t ä r k e " e n t w i c k e l t e r I n s t i t u t i o n e n o d e r aber ihre „ S c h w ä c h e " Normhaltung

in k o n k r e t e r Identität m i t

d e r Individuen

substantieller

b z w . i m Verhältnis z u m je

einzelnen

I n d i v i d u u m z u sehen. D i e G e l t u n g s k r a f t der I n s t i t u t i o n ist ständig r ü c k b e z o g e n z u d e n k e n auf das M a ß an k o n k r e t

danach

gelungener

F r e i s e t z u n g d e r m o r a l i s c h e n Subjekte. G e g e n ü b e r d e m , w a s m a n in

55 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, III, 7, 8 1113 ff, wo die vorausgesetzte Selbstbegründung (Freiwilligkeit) richtigen Wissens, praktischen Entscheidens und seiner schuldhaften Verfehlung von der aktuellen Handlung auf die zugrundeliegende Haltung bezogen wird; ergänzend II, 1 1103 a zum Erwerb der Charakterhaltungen durch Gewöhnung; s. Gauthier/Jolif, L'éthique à Nicomaque, Bd. 2, 1 S. 212 ff, 215 ff; Loening, Die Zurechnungslehre des Aristoteles, Jena 1903, S. 254 ff; v. d. Meulen, Aristoteles, Meisenheim 1968, S. 255 ff; Müller, Praktisches Folgern und Selbstgestaltung nach Aristoteles, Freiburg, München 1982, S. 184 ff, 271 ff. Grundhaltungen der Person als Schlußgrund ihres Handelns sind, wie die Erfahrung zeigt, in entwickelter Form nicht im gleichen Sinne frei verfügbar, aber in ihrer handelnden Konstitution ihrerseits im grundlegenden Sinne einer praktischen Selbstbeziehung des Guten - durch Gewöhnung - frei erworben (S. 1114b; sehr schön auch V, 13 1137a); zur bewußtseinsphänomenologischen Vorprägung des Erfahrungsprozesses s. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana Bd. 1, Haag 1950, S. 41, 99 ff und öfter; Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Auflage Tübingen 1965, S. 329 ff; in bezug auf Verletzungswissen E.A. Wolff, Handlungsbegriff, S. 24 ff. Die Voraussetzung einer selbstkorrumpierten Grundhaltung kann man in ihrer moralischen Geschlossenheit aus der vorausgesetzten Güte der Polis verstehen; dadurch wäre der Ansatz begrenzt. Anderenteils trägt Aristoteles ihn selbst in einer davon gelösten Abstraktheit und Maßoffenheit vor („Ziel nicht von Natur . . . , sondern zu einem Teil auch durch ihn bedingt"). Naturfestgelegtheit des Charakters schließt schon er aus (s.o. Vgl. insoweit zur Unfestgelegenheit auch Gehlen, Der Mensch, 6. Aufl. Bonn 1958, S. 33 ff, 390 ff, 406 ff, auf dessen problematische Teleologie es hier nicht ankommt), weshalb hier keine begründete Einwendung gegen „Lebensführungsschuld" besteht (s. aber etwa Bokkelmann, Täterstrafrecht, 2. Teil, S. 135 f; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 150, 155 m. w. N.).

S.o. bei Fn.41. Rousseau hat neuzeitlich die gesellschaftliche Verderbnis des Individuums betont und analysiert; vgl. etwa den Anfang des „Emile" und dazu Cassirer, Das Problem J . J . Rousseau, Neudruck Darmstadt 1975, S. 29 ff. - Eindringlicher Uberblick über den Gedanken der Identitätskonstitution in intersubjektiver Vermittlung und seine Wendungen von der Philosophie des deutschen Idealismus bis in die moderne Sozialpsychologie bei Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, S. 151 ff, aufgenommen 212 ff, Abstraktion dann aber beim Schuld- und Strafproblem, S. 258 ff, 278 ff. Lau, Interaktion und Institution, Berlin 1978, versucht sozialpsychologische und soziologische Ansätze in einer Theorie von Handlung, Habitualität und Institution zusammenzuführen, hat aber an deren Mangel einer zu formalen, die normative Relevanz offenlassenden Fassung teil (bes. S. 164 ff; zur Verantwortung institutioneller Strukturen 200 ff). 56

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kritischer Wendung gegen teleologischen Objektivismus die Asymmetrie des h e g e l s c h e n Rechtsverhältnisses (Anerkennungsverhältnisses) genannt hat58, hält sich die subjekt-substantiell formende Gleichheit in der ursprünglich produktiven Freisetzungs- und Selbstnegationstätigkeit in das entwickelte Verhältnis hinein durch. Selbständigkeit, Festigkeit der Objektivität aus der Perspektive einer systematisch ideal konstituierten sittlichen Formation sind so subjekt-substantiell voraussetzungsreich und entsprechen immer einer freiheitsgesetzlich konstituierten Normhaltung der Subjekte. Ihre Präponderanz gegenüber dem Subjekt kann sich also nur aus dem fortgeschrittenen Entwicklungsstand vernunftschlüssiger Systematik des Verhältnisses ergeben (der vieltausendjährigen Arbeit der Vernunft, der Vernünftigkeit der Wirklichkeit, soweit sie es ist). In diesem Sinne hält und setzt sie sich durch gegen die Endlichkeit der individuell-subjektiven Vernunftanstrengung in ihrer prinzipiellen Schwäche, die deshalb selbst besten Willens nicht in einem Zuge die Wirklichkeit organisieren kann59 und auch im Einzelakt ihrer Materialbezogenheit immer wieder unterliegen mag. Das Maß konkreter Identität definiert den wirklichen Entwicklungsstand sittlicher Verhältnisse, sowohl nach der Seite des Bestandes einer freiheitlichen Formation überhaupt, als auch des gelungenen Einbezuges eines Subjekts. Negativ gewendet: Der Mangel konkreter Identität im Habitus des Subjekts bedeutet zugleich Mangel sittlichen Verhältnisses, in qualifizierter Weise: Deformation. Subjektiv moralisches Kriterium für den konkreten Stand des Verhältnisses ist das auf der explizierten Gleichursprünglichkeit der Subjekt-Substanz beruhende wahrhafte Gewissen der Subjekte60, ihre Gesinnung von der konkreten Identität, der grundsätzlichen Rechts-Pflicht-einheit oder aber Nichtidentität der Subjekte - das heißt sowohl des einen, als auch des anderen, der anderen, welche eine objektive Formation zu repräsentieren beanspruchen. In bezug auf die existierende Nichtidentität, also den Mangel einer substantiellen Rechts- und Pflichtbestimmung und wahrhaften Gewissens ist freilich ein relativ allgemeineres Verhältnis", ein Konstitutionsverhältnis hin zu entwickelten intersubjektiven Verhältnissen noch vor konkret gefestigten Resultaten auszuzeichnen. Insofern ist das tätige Eingehen auf den anderen, insofern er selbstnegierend-freisetzend eine 58 Siep (Fn.43), S. 278 ff; s. §155 und die besonders wichtige Aufnahme in §261 m. Anm. 59 Selbst wenn wir uns den Menschen, wie Kant, Metaphysik der Sitten § 44 sagt, so gutartig und rechtliebend wie möglich denken. 60 Von Hegel, Rechtsphilosophie §137 als absolut berechtigt, „ein Heiligtum" ausgesagt; zutreffend Siep, a . a . O . (Fn.48). 61 Impliziert in §§142 ff, 144.

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konkrete Identität zu entwickeln ansetzt, relativ allgemeinere substantiell freiheitsgesetzliche (sittliche) Pflicht, da sie einer gegenseitig intendierten Rechtseinräumung entspricht' 2 . b) Das konkrete Verbrechen ist Selbstwiderspruch, Selbstnegation von Geltungsallgemeinheit im und in bezug auf ein konkreten(s) Rechtsverhältnis. Konkrete Identität in ihrer jeweiligen Entwickeltheit ist daher vorausgesetzter Inhalt des (partikulären) Selbstverlustes. Das Verbrechen ist daher nach Realisationsprozeß und Resultat der zweiseitigwechselseitigen Konstitution des wirklichen Rechtsverhältnisses gemäß - in dieser Doppelbezüglichkeit - zu bestimmen. Von seiten des Subjekts aus ist der Prozeß der Verbrechensrealisation - die interpersonale Setzung der Verletzung des Rechts als Recht im formell-selbstwidersprüchlichen (unrechtsbewußten) Willen - inhaltserfüllt erst durch die verkehrende Negation eines vorgängig selbstschlüssig bezogenen Rechts-Pflicht-Verhältnisses, ursprünglich bestehend in der anerkannten Personalität des anderen und ihrer Vergegenständlichung, mit entwickelterem Stand intersubjektiver Verhältnisse fortbestimmt zu komplizierteren Rechtsgütern 63 . Erst durch den wirklichen Bestand des Verhältnisses, der konkreten Rechts-Pflicht-Identität wird der existierende verbrecherische Wille zum inhaltlich-wirklichen Identitätswiderspruch. D a s subjektive Kriterium dessen ist das wahrhafte (schlechte) Gewissen des selbstwidersprüchlich handelnden Subjekts; und die Begründung des konkreten Verhältnisses ist sein zureichender Grund. D a s bedeutet aber, daß man im Klärungsprozeß durch alle analysierten Verstellungsmöglichkeiten hindurch darauf auch wirklich stoßen muß und übrigens nur so die Verstellung als solche auszumachen vermag 64 . Andererseits ist das Verbrechen notwendig eine auch durch das Verhältnis selbst begründete Selbstnegation. Jegliche Tat auch des Freiesten ist nur unter formellem Betracht eine bloß individuell-selbstbegründete. Konkret begründet sie sich - ganz abgesehen von unwesentlichen äußeren Anlässen und Bedingungen - mit im Normhabitus des Subjekts und insofern, nach dem Gesagten, gleich-ursprünglich durch das Verhältnis und seinen Entwicklungsstand selbst. Die Negatiweränderung des Verhältnisses in Tat und Normhabitus des Subjekts ist so durch habituelle Voraussetzungen zweiseitig selbstbegründet. Der Standpunkt des konkreten Rechtsverhältnisses, der Subjekt-Objekt-Identifizierung gegenüber dem abstrakten Recht und der formellen Moralität nötigt also a In der kantischen Formel des kategorischen Imperativs der Anerkennung der Selbstzweckhaftigkeit eines jeden Vernunftwesens ist die Prozeßqualität wechselseitig freisetzender und einschränkender Verhältnisbildung grundlegend formuliert; s. o. Fn. 52. 63 Hegel, Rechtsphilosophie, §95 Anm. 44 Möglicherweise gegen die objektivistische Wendung in §140 Anm. a.

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dazu, die definierbare (sittliche) „Stärke" oder „Schwäche"' des Subjekts - und zwar nicht die konstitutionelle, auch nicht diejenige seiner Vernunftendlichkeit überhaupt, sondern im Entwicklungsstande seiner Normhaltung - und daher seinen Unrechtswillen zugleich als Qualität und Quantität, d. h. „Stärke" oder „Schwäche" des gesamten Verhältnisses zu begreifen. Demgemäß muß unterschieden werden: Der entwickelte Stand eines konkreten Verhältnisses in habitueller Rechts-Pflicht-Identität eines Subjekts - die „Stärke" einer Formation läßt Verbrechen und Strafe eine partikuläre, in Begründung und Maß relativ unproblematische Randerscheinung sein". D e r Prozeß der Selbstwiderspruchsbegründung fällt in seiner relativen Punktualität dem Maß nach wesentlich in das entwickelt freie Subjekt, das in voller Entwicklung seines wahrhaften Gewissens handlungs-, haltungs-, verhältnisorientiert sich fehlentscheidet. Zwar bleibt die Rekonstruktion des partikulär negierten Verhältnisses grundsätzlich auf die negierende, darin zugleich wieder freisetzende Tätigkeit des Strafens angewiesen. Aber gegenüber dem Freien im entwickelten Verhältnis reicht eine entsprechende partikuläre Negation zu; die darin liegende Bestimmtheit des schon entwickelten Verhältnisses genügt, ohne daß es noch weiterer Rechtsverhältniskonstitution bedürfte. Daraus erklärt und legitimiert sich die fortschreitende Tendenz zur Milderung, Rücknahme von Sanktionen gegenüber an sich „angepaßten" Tätern selbst im Bereich objektiv mittelschwerer Taten. Im vorgängigen bloßen Mangel konkreter Identität, subjektiv ausgewiesen im mangelnden schlechten Gewissen (Unrechtsbewußtsein), ist die Rede von Verbrechen, von Schuld insofern, d.h. im je konkreten Betracht, ohne Grund. Im Extrem kennzeichnet sich das als naturzuständliche Beziehung. In jeweils bestimmten Hinsichten bilden Beispiele der konkrete Identitätsmangel Schuldunfähiger, das Fehlen bestimmter Normkategorienbildung eines Kulturkreisfremden (ζ. B. fehlende Anerkennung des Tötungsverbotes in besonderen Hinsichten aufgrund gegensätzlicher Normhaltung), der Mangel an Einbeziehung des noch unentwickelten Rechtssubjekts in ein vernunftüberlegen schon konstituiertes Verhältnis von „Familie oder Staat"". Freilich kann - in einem Abstraktionsschritt konkreter Identität zurück - das jeweilige Handeln ein zugrundeliegendes Konstitutionsverhältnis (unrechtsbewußt-böse) negieren. Das kann sowohl im ursprünglichen Einbeziehungs-(Bil65 Die straftheoretische Bestimmung der Milderung infolge der Macht der Gesellschaft, §218, ist nicht einseitig, sondern im Kontext der zitierten Stellen §§ 155, 261 zu verstehen (s. o. bei Fn. 58). 66 Hegel, Rechtsphilosophie §93.

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dungs-)Prozeß des Individuums eintreten (d. h. bei der Erziehung des Kindes), als auch bei späterer Fortbildung von Rechtsverhältnissen (etwa mit dem zunächst Kulturkreisfremden). Die Geltendmachung der notwendigen Verhältnisbegründung und ihres relativen Vorrechtes (z.B. die bloße Erziehung, sei sie auch mit Zwang verbunden) geht hier fließend über in die strafende Reaktion auf die insofern abstrakter-böse Negation des Konstitutionsverhältnisses (im Beispiel: Erziehungsstrafe). Jener Mangel, als bestimmte Negation betrachtet, bedingt die Realmöglichkeit dieses abstrakteren Bösen. Insoweit es an substantiell-konkretem Halt in entwickelteren Verhältnissen, entsprechend entwickelter Normhaltung noch fehlt, wird formelles Agieren um so leichter möglich sein, also die Verletzung von Grundverhältnissen, die im konkreten Schlußzusammenhang mit der entwickelten Formation für das Subjekt in seiner Rechte-Pflichten-Identität sonst selbstverständlich aufgehoben sind. Beispiele sind die formelle Willkür kindlichen, jugendlichen Verletzens und, in historischem Betracht ungefestigt-jugendlicher Verhältnisse überhaupt, die Unberechenbarkeit des Heros. Die Mangelhaftigkeit, die relative Schwäche des Subjekts und des Verhältnisses zeigen sich als Voraussetzungen des Verbrechens. Das dem angemessene Moment der Strafe tritt hier im Ganzen zurück gegenüber der noch ausstehenden Konstitution konkreter entwickelter Verhältnisse. Weder Strafe, noch notwendiger Zwang dürfen die Bildungsoffenheit für deren Konstitution negieren. Die Bestimmtheit dieser Negation - also gerade nicht die bloße Negativität der Strafe - ist substantiell fortsetzende Befreiungstätigkeit in das noch Ausstehende. Auszuzeichnen ist schließlich die existierende Deformation, im Unterschied zum bloßen Mangel des noch ausstehenden konkreteren Verhältnisses, seine sich im Habitus des Subjekts niederschlagende Verkehrung. Eine gültige Form dessen ist, vom aristotelischen Ansatz ausgehend reformuliert, die reflexiv-selbstwidersprüchliche HandlungsHaltungsentscheidung und -bildung durch wiederholte Unrechtstaten des relativ Freien, - die institutionelle Realmöglichkeit dessen freilich auch hier immer vorausgesetzt. Tat-tätertypologisch ist hier zu denken etwa an Intensivtäter des von H. Mayer herausgestellten Typs („energischer aktiver Vermögensverbrecher"), wie sie sich in die gesamte Lebensführung umbildenden organisierten Kriminalitätsformen finden. Davon unterscheidet sich die wesentlich institutionell, verhältnisbedingte Normhaltungsdeformation. Durch Handlung und Haltung anderer - ein vorausgesetzt deformiertes intersubjektives Verhältnis - wird einem Subjekt die substantielle Berechtigung als notwendiges Begründungsmoment seiner konkreten Rechts-Pflicht-Identität und entsprechender Habitualität tätig negiert. Das Subjekt, dem so die Freisetzungsund Verbindlichkeitsidentität in bestimmter Hinsicht verschlossen wird,

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bleibt nicht nur vorübergehend in der Realmöglichkeit jenes (allgemeineren) Bösen; es bildet vielmehr eine gegensätzliche Identität als Gewohnheit („zweite Natur") negativer Intersubjektivität aus, wird bildhaft gesprochen - „aus der Bahn geworfen". Sein Verbrechen, wenn es dies in allgemeinerer Form überhaupt noch als eine freie Negation eines ursprünglich zugrundeliegenden Konstitutionsverhältnisses ist, und das Subjekt nicht auch darin zerstört ist (was bei bestimmten pathologischen Formen der Fall ist), - sein Verbrechen ist dann wesentlich dasjenige der De-formation, „Schuld der Gesellschaft" in einem freilich zu spezifizierenden, maßgerechten Sinne. Für die Haltungsdeformation durch Verkehrung der (sittlichen) Formation wird also das in Anspruch genommen, was zur Angewiesenheit des endlichen individuellen Subjekts auf die Freisetzungstätigkeit anderer - und zum zeitweiligen Ubergewicht der Formation (ihrer Asymmetrie) - gesagt wurde. Es ist also die relative, nicht bloß konstitutionelle, Schwäche des einzelnen endlichen Subjekts, seine noch unentwikkelte Vernunftwirklichkeit im Verhältnis zu anderen Subjekten, woran die Deformation anknüpft. Demzufolge müssen auch intersubjektive Verhältnisse in ihren Bedeutungsunterschieden für die wirkliche Freiheitshaltung des Subjekts bzw. ihre in Haltung sich niederschlagende Deformation vorgestellt werden. Das heißt vor allem, Familie und (bürgerliche) Gesellschaft - versteht sich im Sinne analytisch-systematischer Begriffe, nicht etwa als Unterscheidungsmerkmale gegenwärtig existierender sich gegensätzlich verstehender politischer Systeme - in ihren Bedeutungen für die Konstitution konkreter Subjektidentität zu unterscheiden, und zwar sowohl im direkten Verhältnis zu diesem, als auch - in mittelbarer Relevanz für das Subjekt - im Verhältnis zueinander. Letztendlich ist es der Stand bzw. die Verfehlung vernünftiger staatlicher Gesamtorganisation auch der unterstaatlichen intersubjektiven Verhältnisse - durchaus im Sinne handlungskategorialer Gesamtverantwortung des Ganzen - , wovon auch die Möglichkeit qualifizierter Deformationen mit abhängig ist67. Diese systematischen Zusammenhänge können hier nicht vollständig entwickelt werden. Herausgestellt sei jedoch der Unterschied zwischen einer konkreten Identitätsbildung in unreflektierter Unmittelbarkeit des Verhältnisses einerseits und in subjektiv reflektierenden Beziehungen andererseits; ihr entspricht ein unterschiedliches Maß von Freiheit bzw. Abhängigkeit des Individuums gegenüber der Formation. Allgemein geschärfter Erfahrung entsprechend kommt deshalb der unmittelbaren Habitusbildung im Verhältnis der (deformierten) „Primärgruppe" - Familie im Sinne des systematischen Begriffs - zum noch unentwickelt-„schwa67

Z u m umfassenden Handlungszusammenhang der Verhältnisbildung, s. § 2 6 1 .

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chen" Subjekt grundlegende Bedeutung zu. Das Übergewicht notwendiger Freisetzungstätigkeit anderer, d. h. zunächst unmittelbar gefühlsmäßig rechtsvernünftiger Mitglieder (der Familie), ist hier am größten, ebenso daher das ursprüngliche Verderben durch deren verkehrte Negation. Unmittelbare Einheit bzw. der unmittelbar-unreflektiert gesetzte (Selbst-)Widerspruch negierter Identität in der ursprünglichen praktischen Haltung ist schuldloser Grund einer dann reflektierten Selbstkonstitution in intersubjektiven Bezügen, - grundlegend also auch in dem Sinne, daß alle vermitteiteren Anerkennungsleistungen darauf basieren. Von Seiten des Subjekts ist es das abstrakteste Böse, sich dann reflexiv auf ein schon vorgängig unmittelbar-unreflektiert in Gewohnheit übernommenes, reflexiv durch andere Vernunftsubjekte gesetztes Negieren eines grundlegenderen Konstitutionsverhältnisses zu beziehen. In der Tiefe jener grundlegenden Deformation wird man, auch für deren reflexive Fortentwicklung, noch zu unterscheiden haben, ob sie sich auf das unmittelbare Anerkanntsein der Personalität im Übergang zu ihrer Vergegenständlichung (Ur-eigentum) oder interpersonal vermitteitere Weisen des Sich-verlassens auf den anderen (Ur-vertrag) beziehen. Danach begründen und unterscheiden sich spezifische Normhaltungsdeformationen im Ursprung und in der Verletzungsrichtung, und tätertypologische Unterscheidungen müßten dem entsprechen. Demgegenüber erscheint die Normhaltungsdeformation, welche auf mangelnder gesellschaftlicher Berechtigung (im Arbeits- und Eigentumsbildungsprozeß) wesentlich beruht, für sich genommen weniger grundlegend, - ihre mittelbare Auswirkung in depravierte Primärverhältnisse also ausgenommen. Freilich bleibt auch sie relativ selbständiger Anknüpfungspunkt für der Entfremdung entsprechende reflexiv-autonome Haltungsbildungen in bestimmten Richtungen (etwa der Vermögenskriminalität). Das konkrete Verbrechen hat auf diesem Stande in spezifischer Weise nicht bloß abstrakt-rechtliche und subjektiv-moralische, sondern „sittliche" Qualität. Die Negation des Rechts als Recht ist wohl zwar durch den besonderen Willen des Täters gesetzt, und insofern er überhaupt ein Vernunftsubjekt ist, handelt er in reflexiver Negation eines allgemeineren Konstitutionsverhältnisses überhaupt schuldhaft 68 , wiewohl bei rela-

68 Insofern bleibt der moralische Begründungszusammenhang erhalten; vgl. zum Schuldgefühl selbst des „verruchten Menschen" Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, Einleitung I, Akademieausgabe Bd. VI, S. 380; Hegel, Rechtsphilosophie §140 Anm. a; Arthur Kaufmann, a. a. O . (Fn. 12). Eine Auffassung, welche das Individuum nur als Durchgangsstelle einer Systemverantwortlichkeit ansetzte, ist also unberechtigt; übereinstimmend Kargl, Kritik des Schuldprinzips, Frankfurt/M. 1982, S. 375 ff, der mit seiner Kritik nur einen dogmatischen Schuldbegriff, nicht aber das Prinzip in seiner freiheitsgesetzlich entwickelten und freiheitswahrenden Bedeutung meinen kann.

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tiv geringerem zu überwindendem Normhaltungswiderstand in sich selbst wesentlich geringer gewichtig. Aber der Haltungsgrund der Tat ist - im Unterschied zur vornehmlich autonomen Selbstverderbnis - Entsprechung eines deformierten, durch anderer Handeln negierten „sittlichen" Verhältnisses; denn von Seiten anderer Vernunftsubjekte läßt sich die ursprüngliche Negation des konkreten Konstitutionsverhältnisses (ζ. B. die grundlegende Vernachlässigung des Individuums) als, sei es auch seinerseits habituell-institutionell vermittelt, böse begreifen. Insofern ist das Verbrechen als Haltungs-Handlungs-Resultat intersubjektivallgemein mitgesetzt69. c) Für die Strafe folgt daraus, daß die In-sich-Nichtigkeit, die Selbstnegation des Verbrechens sich auch auf die institutionelle Deformation zu richten hat. Strafe verwirklicht sich daher als wechselseitig bestimmte Negation des Unrechts, also eine zweiseitige Selbstnegation des Subjekts und der deformierten Intersubjektivität70. Einesteils, gegenüber dem Delinquenten, besteht Strafe nach Grund und Ausmaß seines Verbrechens, seiner (abstrakteren) Schuld zu Recht. Nur die abstrakt-moralisch gefaßte ausschließliche Bestimmung der „Lebensführungsschuld" - und ihre übermäßige Folge - erweist sich als verfehlt. Anderenteils, auf seiten des deformierten Verhältnisses, bedarf es, seiner Präponderanz gemäß, eines entsprechend hohen Maßes an Selbsteinschränkung der Allgemeinheit bzw. Freisetzungstätigkeit im Verhältnis zum Täter. Das ist keine ethische Wohltat, auch keine sozialstaatliche Hilfe gegenüber einer ursprünglicheren oder zufälligen Schwäche des Subjekts gleichsam neben dem Strafrecht - für moralische und pragmatische Handlungsintentionen bleibt ohnehin noch genug zu tun - , ist auch verschieden von der Bildungstätigkeit gegenüber noch unentwickelten Individuen. Es ist vielmehr eine strikt strafrechtliche Bestimmung gegenüber der Formation, ihr entsprechend ein Recht des

69 Auch kriminologische Tätertypologien, ausgehend von von Liszt instrumental als Behandlungstypologien gefaßt und danach Phänomenologie und Struktur ordnend (s. den Uberblick bei Göppinger, Kriminologie, 4. Auflage, München 1980, S. 438 ff; charakteristisch Mezger, Typenproblem; Kriminologie, S. 158 f; Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage S. 160 ff), müssen im freiheitsgesetzlichen Verbrechens- und Strafbegründungszusammenhang aufgenommen werden; Ansätze bei H. Mayer, a. a. O. (Fn. 8); H elimer, Verdirbt die Gesellschaft?, Zürich 1981, bes. S. 44 ff. - Zur normativ besonderen Relevanz der Primärgruppe s. etwa Eisenberg, Kriminologie, Köln usf. 1979, S. 531 ff; Liiderssen, Kriminologie, Baden-Baden 1984, S. 9/ff. 70 Die besondere Verwirklichungsweise des Strafrechts in der bürgerlichen Gesellschaft, s. Rechtsphilosophie §§218 ff, ist die reflexiv schlüssige Auseinandersetzung aller Momente, hat freilich die Verhältniskonstitution und ihre Unterscheidungen im Gesamten der Sittlichkeit zur (kritischen) Voraussetzung.

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Subjekts auf ein sittliches Verhältnis auch im reagierenden Restitutionsprozeß des Strafens71. Die Konsequenzen können nur der allgemeinen Tendenz nach bezeichnet werden. Im Bereich der geringfügigen Delinquenz der habituell deformierten „traurigen Schelme" (H. Mayer) muß die Zuständigkeit des Strafrechts überhaupt zurückgenommen werden. Integriert in eine materiellrechtlich angemessene Reaktionsweise auf Bagatelldelinquenz muß zusätzlich jener tätersubjektive Bagatellcharakter anerkannt werden. Der nicht nur zweckrational sinnlose, sondern vor allem ungerechte Verschärfungszirkel, der sich an Rückfälligkeit per se anknüpft, muß verlassen, die in der kürzlichen Aufhebung des bisherigen §48 StGB im Ansatz vorhandene Einsicht systematisch verallgemeinert werden (etwa auch für die Reduktion der offenen Ausnahme vom Verbot der kurzen Freiheitsstrafe nach §47 StGB, die Anwendung der §§153, 153 a StPO usf.). Mit weiter freiheits-vernichtenden Mitteln das Verderben anzugehen, welches präponderant aus nicht vernünftig geordneten Verhältnissen resultiert, ist eine grundsätzliche Fehlbestimmung des Strafrechts. Der Unbegriff der Kriminalpolitik, im Sinne von Instrumentalisierung des Strafrechts, muß in guter (aristotelischer) Politik aufgehoben werden. Im übrigen handelt es sich um spezifische Maßfragen. Grundsätzlich muß die erhöhte Freisetzungstätigkeit als Rechte-Pflichten-Bestimmung Qualität und Quantität der Strafe mitdefinieren, darf nicht als kategorial anderes neben herkömmlichen Qualitäts- und Quantitätsdifferenzierungen, etwa der zeitlichen Dauer von Freiheitsstrafe stehen. Im Bereich schwererer Haltungsdelinquenz ist also strafrechtlich, d. h. im Strafmaß strikten Sinnes, gefordert eine aus der institutionellen Mitbegründung resultierende um so intensivere Freisetzungstätigkeit in der Negation des Verbrechens, je größer das haltungsmäßige Verderben erscheint. Soweit bei schwersten Delikten und entsprechend deformierter Haltung des Subjekts das Freiheitsbedrohliche der Freiheitsstrafe nicht vermieden werden kann (insbesondere durch das Institut der Strafaussetzung zur Bewährung und seine freisetzende Ausgestaltung), muß die konkrete Vollzugsgestaltung - als Strafmaßbestimmung strikten Sinnes - der entwickelten Begründung entsprechen. Das notwendige negative Moment der Strafe in bezug auf schwere haltungsmäßig verfestigte Strafunrechtsneigung (und das darin implizierte Sicherungsmoment) darf sich nicht absolutsetzen und damit die Realmöglichkeit der Freiheitsrestitution eliminieren; ohnehin sind „Sicherungsstrafe", „Siche-

71

S. Rechtsphilosophie §§155, 261.

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rungsverwahrung" Un-rechtsbegriffe. Vielmehr muß diese Möglichkeit in einer rechtsgleich auf Freisetzung zielenden V o l l z u g s f o r m gewahrt werden, — in Unterscheidungen nicht nach G r ü n d e n instrumenteller Zweckrationalität 7 2 , sondern konkreter Strafgerechtigkeit.

72 Die Klassifizierungs- und Behandlungstechniken des modernen Vollzugssystems, die gravierende Freiheitschancenunterschiede nach bloß instrumentalen Kategorien ermöglichen vermittels offener Begriffe des Strafvollzugsgesetzes wie „Eignung" des Gefangenen etc. (Uberblick bei Kaiser/Kerner/Schöch, Strafvollzug, 3. Auflage, Heidelberg 1983, S. 79 ff, 86 ff, 137 ff, 147 ff) sind als Subjekt-Objekt-Vertauschung grundsätzlich unrechtlich (vgl. etwa die Argumentation von O L G Celle N S t Z 1984, 142; K G N S t Z 1984, 239 zur praktischen Beliebigkeit der Verlegung oder Nichtverlegung in eine sozialtherapeutische Abteilung; aufschlußreiches Material zur instrumentalen „Selektion" bei einer sozialtherapeutischen Einrichtung bei Dünkel/Nemec/Rosener, MSchrKrim. 69, 1986, 1 ff). Sie müssen durch vertiefte Tat-Täter-Schuldunterscheidungen und eine allenfalls darauf beruhende Typologie aufgehoben werden.

Gesetzmäßige Bedingung und kausale Erklärung Zur Fassung der Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung JOACHIM SCHULZ

Mit den folgenden Bemerkungen wird nicht das Ziel verfolgt, die Umrisse einer neuen Kausalitätstheorie vorzustellen. Vielmehr soll die gegenwärtige Fassung der Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung in einigen Punkten verbessert werden. In dieser Absicht sind sie dem Ethos des Jubilars verpflichtet, wonach dem Fortschritt in Wissenschaft und Praxis oft besser gedient ist, wenn man vorhandene Ansätze weiterdenkt und präzisiert, statt radikale Umorientierungen anzubieten. I. Nach der Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung ist ein Ereignis (Bedingung) für ein anderes zeitlich unterscheidbares und nicht logisch impliziertes Ereignis (Wirkung) dann kausal, wenn die beiden Ereignisse in ihrer Aufeinanderfolge (natur-)gesetzmäßig verknüpft sind1. Die Frage, wann eine solche Verknüpfung vorliegt, wird heute vorzugsweise mit einem Rückgriff auf die aus der Wissenschaftstheorie stammende Theorie der kausalen Erklärung beantwortet2. Deren übliche Formulierung lautet: Eine Gruppe von Einzelereignissen Aj, B,, C|,.. .N, erklärt dann ein Ereignis Ε,, wenn aufgrund allgemeiner Gesetze Ereignisse der Typen A, B, C , . . .N regelmäßig von einem Ereignis des Typs E begleitet werden3.

Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 21. So explizit oder durch Verweisung Bernsmann, ARSPh. 1982, S. 536 ff; Jescheck, AT, 3.Aufl. 1978, S.227 und in LK, Rdn.51 vor §13; Kindhäuser, GA 1982, S.477ff, 479ff; Jakobs, Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972, S.20ff und AT, S. 157; Lackner, StGB, 16. Aufl. 1985, Anm.3 I c vor §13; Puppe, ZStW 1980, S. 863 ff, 874 ff; Rudolphi in SK, Rdn. 41 ff vor § 1 ; Samson, Hypothetische Kausalverläufe im Strafrecht, 1972, S. 30 ff; Schönke/Schröder/Lenckner, 22.Aufl„ 1985, Rdn. 76 vor §13; Walder, SchwZStr. 1977, S. 113ff, 136ff; Wessels, AT, 15. Aufl. 1985, S . 4 6 f ; E.A. Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965, S. 13. 5 Hempel, Aspects of scientific explanation and other Essays in the Philosophy of Science, 1965, S.231 ff und 245 ff; Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd. 1, 1974, S. 86 f. In der juristischen Literatur finden sich Darstellungen bei Kindhäuser, Puppe, Walder (jew. Fn. 2) und Maiwald, Kausalität und Strafrecht, 1980, S. 64 ff, der allerdings den Erklärungscharakter des Modells bestreitet (S.66ff). 1

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Aufgeschlüsselt: a. Gegeben ist die Beschreibung einer Gruppe von Einzelereignissen A], B,, Q , . . .N, (Antecedensbedingungen). b. Gegeben sind L 1 ; L 2 ) .. ,Ln (allgemeine empirische Gesetze) c. Aus diesen Sätzen folgt logisch die Beschreibung eines Ereignisses des Typs E. Ist ein Ereignis vom Typ E bereits eingetreten, so wird es durch die Sätze unter a. und b. erklärt, wenn nicht, so kann es aufgrund derselben Sätze vorhergesagt werden. Logisch besteht kein Unterschied zwischen einer kausalen Erklärung und der Struktur einer Vorhersage4.

Auf dieser Basis läßt sich nun der genaue Inhalt der Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung formulieren. Dann, genauer: nur dann, wenn der Täter eine (Antecedens-)Bedingung gesetzt hat, die Bestandteil eines so aufgefaßten Schemas der kausalen Erklärung ist, kann er kausal für einen Erfolg gewesen sein. Das schwache „kann" ist deshalb gewählt worden, weil nicht notwendig mit der Realisierung einer gesetzmäßigen Bedingung schon die Kausalität feststeht5. II. Bereits diese Rohfassung läßt die entscheidenden Punkte hervortreten, die für eine Analyse der Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung von Bedeutung sind. Ihr hervorstechendes Merkmal besteht darin, daß die Lösung eines Zurechnungsproblems von einer Theorie der kausalen Erklärung abhängig gemacht wird, die ihrerseits mit einer Prognoseformel strukturgleich ist beziehungsweise die - in juristisch geläufigen Kategorien formuliert - nichts weiter darstellt als eine objektiv-nachträgliche Prognose. Plausibel ist diese Verknüpfung nicht. Zwar geht es jeweils um Kausalitätsfragen. Doch stellen sie sich dem Juristen anders als dem Wissenschaftstheoretiker oder Naturwissenschaftler, ja selbst anders als dem Historiker. Den Juristen interessiert vorrangig nicht, wie ein Erfolg zu erklären ist, sondern, ob er zugerechnet werden kann. Das hat schon Engisch6 betont, freilich im Zusammenhang mit der Verteidigung der Adäquanztheorie als Kausalitätstheorie. Bei der Behandlung der Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung7 dagegen formuliert er der Sache nach nichts anderes als das, was später von Wissenschaftstheoretikern das Hempel/Oppenheim-Schema genannt werden sollte8.

Vgl. Hempel, Aspects (Fn. 3); Stegmüller, Probleme (Fn. 3), S. 153ff. Vgl. unten IV. 6 Kausalität (Fn.l), S.48. 7 Ebenda, S. 32 f. s Vgl. Stegmüller, Probleme (Fn.3), S. 75, 86; aber auch Bernsmann, ARSPh. 1982, S. 536 ff, 540. 4 5

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III. Daß diese Verknüpfung von Zurechnungs-, Erklärungs- und Prognosefragen unplausibel genannt wurde, bedeutet freilich nicht, daß die erzielten Ergebnisse nicht zuträfen. In ausgeführter Form, die - jedenfalls, was die Begehungsdelikte angeht - weitestgehend mit dem von Puppe' erreichten Standard übereinstimmen dürfte, wird Kausalität korrekt festgestellt. Doch stellt die Theorie so hohe Ansprüche, daß sie beim Wort genommen - auch dann einen empirischen Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg verneinen müßte, wenn er wie selbstverständlich vorliegt. Im folgenden soll daher untersucht werden, ob diese Selbstverständlichkeit nur ein Trugbild darstellt oder ob auch dann, wenn man die Verknüpfung aufbricht, gesetzmäßige Bedingungen für den Erfolg festgestellt werden können, die mehr als eine rein temporale Beziehung beschreiben. 1. Am Anfang soll ein recht trivialer Beispielsfall stehen: A, ein bekannt schlechter Schütze, richtet in einem Schloßpark seine Pistole auf eine 30 m entfernte Statue und betätigt den •Abzug. Sekundenbruchteile später springt der Kopf der Statue auseinander. Zur Tatzeit befand sich keine andere Person in der Nähe.

Wendet man das Schema von der kausalen Erklärung strikt an, so war A für den Erfolg des §304 StGB nicht kausal. Statt eines allgemeinen Naturgesetzes, das eine sichere Prognose des Erfolges gestatten würde, läßt sich aus der Handlungssituation nur eine - geringe - Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts dartun. Es fehlt, und insofern ist der Fall durchaus typisch, nahezu alles, was die Anwendung allgemeiner Sätze ermöglichen würde. Weder ist die genaue Ausrichtung des Laufs bekannt noch etwa die genaue Windrichtung und Windstärke, von feineren Einflüssen auf die Geschoßbahn, die durchaus über den Erfolgseintritt entscheiden können, ganz zu schweigen10. Andererseits - so ließe sich einwenden - verläuft die Geschoßbahn spätestens mit Verlassen des Laufs im determinierten Bereich. Die Abgabe des Schusses muß somit sicher ein Teil der kausalen Erklärung der Sachbeschädigung sein. Mehr als das verlangt die Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung nicht. Aber diese Sicherheit ist nicht Folge der Theorie. Von dem prinzipiellen Einwand, daß streng genommen von der Determiniertheit eines ' ZStW 1980, S. 863 ff. Wenn Puppe (ebenda, S. 894 f, 898) in einem ihrer Beispiele voraussetzt, daß der Winkel, in dem ein Ball geworfen wurde, feststeht, so ist das zwar theoretisch berechtigt, praktisch aber in einem doppelten Sinne unrealistisch. Einmal darin, daß der Winkel auch im Strafverfahren bekannt sei, zum anderen darin, daß nicht noch viele andere Daten wie Drall, Anfangsbeschleunigung usw. benötigt würden. 10

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Verlaufs nur ausgegangen werden kann, wenn er mit deterministischen All-Sätzen tatsächlich vollständig beschrieben werden kann, sei hier abgesehen. Aber auch, wenn man den Determinismus im makrokosmischen Bereich als fruchtbare Forschungshypothese oder als notwendige Prämisse auffaßt, reichen die vorhandenen Informationen, eben weil eine sichere Prognose nicht möglich ist, günstigstenfalls für eine Erklärungsskizze. Dieser innerhalb der Theorie von der kausalen Erklärung geläufige Terminus 11 drückt immanent nur aus, daß der Forscher vermutet, daß die Skizze sich zu einer Erklärung vervollständigen lasse. Die Erklärungsskizze ist also keine valide Teil-Erklärung, sondern die Formulierung eines Forschungsprogramms 12 . Auf die theoretischen und praktischen Funktionen von Erklärungsskizzen im allgemeinen F o r schungsbetrieb braucht hier nicht eingegangen zu werden. Auf das letztlich uneingelöste und, weil zureichende Informationen auch in Zukunft nicht beschafft werden können, uneinlösbare Versprechen, eine vollständige Erklärung nachliefern zu können, kann im Strafrecht jedenfalls eine objektive Zurechnung nicht gestützt werden. Die immanent nicht begründbare, aber tatsächlich vorhandene Sicherheit einer Kausalbeziehung zwischen Handlung und Erfolg im Ausgangsfall tritt schlagartig ein, wenn man die Perspektive wechselt. An die Stelle der Prognose muß die Retrospektive 13 gesetzt werden 14 . Der Kausalverlauf ist vom Erfolg ausgehend rückwärts zu analysieren 15 . Hier liegt die berechtigte Grundidee des condicio-sine-qua-non-Gedankens. Deshalb hat er sich trotz aller Kritik nicht aus der Praxis entfernen lassen. N u r deshalb taugt er als heuristisches Prinzip 16 . Andererseits darf auf den eigentlichen Inhalt der Theorie der gesetzmäßigen Bedingung nicht verzichtet werden, der darin besteht, daß für uns die Kausalität nicht direkt und im Einzelfall zugänglich ist, sondern nur über das Vehikel von All-Sätzen, die Regelmäßigkeiten beschreiben. Für den Beispielsfall könnte ein solcher Erfahrungssatz in umgangssprachlicher Formulierung etwa lauten: „Köpfe von Statuen dieser Art (Materialbe" Vgl. Stegmüller, Probleme (Fn.3), S. 110 ff. 12 Stegmüller, ebenda, S. 348. 13 Nicht zu verwechseln mit der Retrodiktion, mit der ein unbekanntes Ereignis der Vergangenheit er-schlossen werden soll. 14 Vgl. auch Maiwald, Kausalität (Fn. 3), S. 80 f: die Retrospektive gestatte die Klärung der Frage, wie sich ein Umstand aus dem anderen entwickelt habe; wie sich das Geschehen ex ante hätte entwickeln können, interessiere zunächst nicht. 15 Die genetische Erklärung, die nach Puppe (Fn. 9), S. 890 „zweckmäßig vom Erfolg aus in der Zeit rückwärtsgehend entwickelt" wird, hat eine durchaus andere Funktion. Sie dient allein der Kontrolle der nach dem prognostischen Schema erzielten Ergebnisse daraufhin, ob Ersatzursachen wirksam geworden sind. 16 Vgl. Uckner, StGB, 16. Aufl. 1985, Anm. III 1 c vor § 13 StGB; Walder, SchwZStr. 1977, S. 113 ff, 138 ff.

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schaffenheit usw.) zerspringen nur (auf diese Weise), wenn kurz zuvor der Auslösemechanismus einer Schußwaffe betätigt wurde." Ein weiterer: „Schußwaffen für Projektile dieser Art entfalten nur bei einer Entfernung unter 100 m die erforderliche Aufschlagwucht." Außerdem taucht noch (mindestens) eine Einzelbehauptung des Musters auf: „Im Umkreis von 100 m von der Statue hat nur A eine Schußwaffe betätigt." Diese Beispielssätze sind natürlich nicht vollständig. Für eine tatsächlich erforderliche Begründung der Kausalität ließen sie sich sicherlich auch geschickter formulieren. Aber sie zeigen genau die allgemeinen Strukturelemente, die eine nicht quasi-prognostisch arbeitende Kausalitätsbegründung enthalten muß. Zunächst bedarf es allgemeiner Sätze, wonach Ereignisse einer bestimmten Art (Wirkungen) nur auftreten, wenn andere Ereignisse (Bedingungen) zuvor aufgetreten sind. Außerdem werden Sätze benötigt, die die Tathandlung unter eine der Bedingungen subsumieren. Im übrigen ist der Typus der sonst verwendeten Sätze beliebig. Es können also auch allgemeine prognostisch orientierte Erfahrungssätze verwendet werden, wie der über die Reichweite von Schußwaffen. Es muß nur gewährleistet sein, daß insgesamt der Schluß von den Wirkungen auf die Bedingungen trägt. Grundsätzlich bewältigt diese Vorgehensweise auch die Konstellation, daß außer der untersuchten Handlung noch andere Handlungen oder Naturereignisse eine Bedingung des retrospektiven Erfahrungssatzes erfüllen. Das ist dann problematisch, wenn nach der Art der Wirkung nicht alle Bedingungen kumulativ gewirkt haben können. Worum es geht, wird deutlich, wenn man den Ausgangsfall dahingehend ergänzt, daß außer A noch B, allerdings mit einem Gewehr, geschossen, aber nur ein Geschoß getroffen hat. Nach den Erfahrungssätzen, wie sie oben beispielhaft formuliert worden sind, hätten A wie Β eine Bedingung für die Beschädigung der Statue gesetzt. Nach der Wirkungsbeschreibung, die ihrerseits nur das Ergebnis der Anwendung von Erfahrungssätzen formuliert (Splitter dieser Art treten nicht auf, wenn zwei Geschosse einschlagen.) dagegen ist ausgeschlossen, daß hier ein Fall kumulativer Kausalität vorliegt. Abhilfe schafft z.B. eine genauere Beschreibung der Wirkung und, darauf aufbauend, der retrospektiven Erfahrungssätze. Im Beispielsfall etwa mag der Sachverständige bekunden, daß Splitter dieser Art nur auftreten, wenn ein Gewehrgeschoß einschlägt. Ein anderer Weg, der freilich im Beispielsfall mangels entsprechender Informationen wohl kaum zum Ziel führen würde, bestünde darin, möglichst ausreichend viele Zwischenwirkungen auf dem Weg vom Erfolg zur Bedingung in die Analyse einzubeziehen 17 . 17 Es handelt sich hierbei um nichts anderes als die - wegen der Retrospektive notwendigen - Umkehrung des von Puppe, ZStW 1980, S. 863 ff, 888 ff geschilderten Verfahrens.

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Daneben gibt es sicherlich noch andere Verfahrensweisen. Sich auf bestimmte festzulegen, besteht kein Anlaß, solange sie zu dem Ergebnis führen, daß die jeweils untersuchte Bedingung als einzige oder zusammen mit anderen Bedingungen gerade in ihrer Kumulation das System von Sätzen erfüllt. 2. Fehlten im Ausgangsfall die Fakten, die unter allgemeine prognostische Gesetze hätten subsumiert werden können, so kann auch umgekehrt die Situation auftreten, daß zwar allgemeine Gesetze bekannt sind, die Bedingung und Wirkung verknüpfen, die aber für eine (sichere) Prognose nicht ausreichen. In der Wissenschaftstheorie wird zu diesem Problem folgende Konstellation diskutiert18: Progressive Paralyse wird nur an Personen beobachtet, die zuvor an Syphilis gelitten haben. Andererseits bekommt nur ein sehr geringer Prozentsatz von Syphiliskranken progressive Paralyse".

Solange man im prognostisch orientierten Erklärungsschema verbleibt, liefert die Syphilis noch nicht einmal eine Teil-Erklärung für eine Erkrankung an progressiver Paralyse. Das Schema ist nur erfüllt, wenn relativ zum zu erklärenden Ereignis, die herangezogenen Erfahrungssätze vollständig sind, d. h. eine sichere Prognose gestatten. Gleichwohl ist die Syphilis mit Sicherheit eine Bedingung für die weitere Krankheit. Aber ebenso wie in der vorherigen Konstellation folgt diese Sicherheit nicht aus dem Schema, sondern aus dem Erfahrungssatz, daß progressive Paralyse nur bei Syphilitikern auftritt. Dieser Erfahrungssatz erklärt zwar nicht den Erfolg. Genau genommen erklärt er noch nicht einmal den Zusammenhang zwischen einer Bedingung und dem Erfolg. Mit seiner Hilfe läßt sich nur das Ob eines empirischen Zusammenhanges feststellen. Mehr nicht. Soweit es aber im rechtlichen Bereich um die Kausalität als Voraussetzung der objektiven Zurechnung geht, reicht eine solche Feststellung aus. Überdeutlich wird der Unterschied zwischen dem Kausalbegriff erklärender Wissenschaften und dem juristischen Kausalbegriff an einem weiteren, ebenfalls innerhalb der Wissenschaftstheorie diskutierten Fall: In einer Spielbank, in der für Männer Frackzwang herrscht, ereignet sich der seltene Fall, daß ein Mann die Bank sprengt.

Nach Stegmüller20 gelangt man unvermeidlich zu Absurditäten, wenn man behaupten dürfe, das Ereignis lasse sich damit erklären, daß der Vgl. Stegmüller, Probleme (Fn.3), S. 178 m.Nachw. " Vgl. auch das Beispiel von Maiwald, Kausalität (Fn. 3), S. 92. Das in diesem Zusammenhang vorgetragene Argument besagt freilich nur, daß bei unsicherer Prognose Kausalität nicht ausgeschlossen ist. 20 Ebenda, S. 179. 18

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Betreffende im Frack war. Das mag so sein. Aber gerade, wenn dies so ist, erweist sich die Notwendigkeit, die Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung aus ihrer Verknüpfung mit der kausalen Erklärung zu lösen. Denn der empirische Zusammenhang zwischen dem Erfolg und der Frackkleidung, der sich durch retrospektive Erfahrungssätze belegen läßt, genügt dem Juristen. Wandelt man den Fall dahingehend ab, daß die Bank durch betrügerische Manipulationen gesprengt wurde und daß X den Frack dem Täter in Kenntnis des Vorhabens zur Verfügung gestellt hatte, so hat X auch nach der Ansicht eine Beihilfe zum Betrug begangen, die hierfür Kausalität für den Erfolg verlangt 21 . 3. Solange man daran festhält, daß die Kausalität einer Bedingung nur im Rahmen einer Theorie der Erfolgserklärung festgestellt werden kann, läßt sich ein Problem nicht lösen: das der psychischen Kausalität. Die Schwierigkeiten treten dann auf, wenn das Herbeiführen eines bestimmten psychischen Zustandes oder einer menschlichen Handlung zu den tatbestandlich erfaßten (Zwischen-)Erfolgen gehört, wie etwa bei der Anstiftung, der Rathilfe oder dem Betrug 22 . Konsequenterweise müßte nämlich die Handlung der anderen Person durch die Bedingung erklärt werden. Unter der Voraussetzung, daß menschliches Handeln nicht vollständig determiniert 23 ist, scheidet für eine dem Erklärungsmodell verpflichtete Theorie der gesetzmäßigen Bedingung schon die Möglichkeit einer Kausalitätsfeststellung aus24. Andererseits besagt die indeterministische Hypothese nicht, daß menschliche Handlungen von Außenphänomenen unbeeinflußt vorgenommen werden und auch nicht, daß das O b solcher Einflußnahmen prinzipiell nicht feststellbar sei. Verlangt A in einem Geschäft 50 Schrauben einer bestimmten Größe und händigt der Verkäufer 50 Schrauben dieser Größe aus, so besteht intuitiv kein Zweifel, daß ein empirischer Zusammenhang zwischen dem Verlangen und der Aushändigung der Ware besteht. Gelingt es, das intuitiv gewonnene Ergebnis methodisch gesichert zu erzielen und diese Methode allgemein zu beschreiben, so sind auf theoretischer Ebene die Probleme der psychisch vermittelten Kausalität gelöst. Denn auch insoweit genügt

Vgl. Lackner, StGB, § 2 7 A n m . 2 ; Schönke/Schröder/Cramer, § 2 7 , Rdn. 10. Die Konstellationen, in denen das nicht der Fall ist, lassen sich ohne Schwierigkeiten nach dem Muster physischer Kausalität erfassen, auch für eine der kausalen Erklärung verpflichteten Betrachtungsweise. Vgl. Puppe, ZStW 1983, S. 287 ff, 294 f. Ähnlich Samson, Kausalverläufe ( F n . 2 ) , S. 184 ff. 21

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2> Für die deterministische Position taucht „nur" das praktische Problem auf, daß die entsprechenden Erfahrungssätze nicht zur Verfügung stehen. 24 Vgl. Engisch, Kausalität (Fn. 1), S. 28; Puppe, ZStW 1980, S. 863 ff, 902; Bernsmann, ARSPh. 1982, S.536ff, 542ff. Anders Samson, Kausalverläufe ( F n . 2 ) , S. 185f, dessen Beweisführung freilich genau genommen nur die oben in Fn. 22 beschriebene Konstellation umfaßt.

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als Voraussetzung der objektiven Zurechnung die Feststellung der Beeinflussung. Einer Erklärung des Beeinflussungsergebnisses (der anschließenden Handlung) bedarf es hierfür nicht. Grundsätzlich läßt sich der erforderliche empirische Zusammenhang mit Hilfe retrospektiver Gesetze feststellen, die vielfach noch dazu von außerordentlicher Trivialität sind. Umgangssprachlich formuliert handelt es sich um Sätze wie: „Die Verwertung einer Information setzt ihr Haben voraus" oder „Das Haben einer Information setzt ihr Erlangen voraus". Ausgearbeitet und richtig angewendet erlauben schon diese beiden Sätze eine zutreffende Erfassung der Beihilfe durch Rat. Das soll an einem Beispiel kurz skizziert werden. A erzählt B, daß er Schmuck aus einem näher beschriebenen Haus entwenden will. Β berichtet A, daß die Tür der zu diesem Haus gehörenden Garage nie verschlossen sei. Das gleiche gelte für die Verbindungstür zwischen Garage und Wohnhaus. A begeht den Diebstahl, wobei er den Weg durch die Garage benutzt.

So wie der Sachverhalt bislang geschildert ist, reicht er zur Bejahung der Kausalität des Ratschlages noch nicht aus. Benötigt werden noch Angaben über psychische Zustände des A, etwa die, daß er vor Betreten der Garage davon ausgegangen sei, ihre Tür und die Verbindungstür zum Haus sei nicht verschlossen, oder die, daß er vor dem Ratschlag über diese Informationen nicht verfügt habe usw. Wieviele Daten über die Psyche des A benötigt werden, hängt von der genauen Formulierung des jeweiligen Erfahrungssatzes ab und davon, ob andere Bedingungen dieselben Erfahrungssätze erfüllen. Es gilt hier nichts anderes als bei der physischen Kausalität. Auf prinzipiell gleiche Weise ist die Kausalität für den Handlungswillen festzustellen. Die Besonderheit dieser Fallgruppe liegt darin, daß auf der Basis des Indeterminismus die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, daß, wenn auch selten, sich der betreffende Wille spontan und ohne Außeneinflüsse bzw. ohne erkennbare Außeneinflüsse gebildet hat. Solange es sich aber im konkreten Fall um eine rein theoretische Möglichkeit handelt, bleibt sie prozessual ohne Bedeutung, da das Beweiswürdigungsrecht dem Richter untersagt, seine Feststellungen hierauf zu stützen 25 . Hat also A, der sich unsicher fühlt, ob er den Diebstahl begehen soll, kurz nach einem Zureden des Β den Diebstahlsentschluß gefaßt, so läßt sich prozessual gegen die Feststellung, daß das Zureden für den Entschluß kausal geworden ist, nichts einwenden. Zwar enthält der zur Begründung heranzuziehende allgemeine retrospektive Erfahrungssatz als alternative Bedingung auch, daß A schon unbewußt zur Tat entschlossen war und das Zureden keine Rolle gespielt hat, auch 25 Vgl. Löwe/Rosenberg, §261, Rdn. 7; KK, §261 Rdn.2f; Kleinknecht/Meyer, Rdn.2; jeweils mit weiteren Nachweisen.

§261,

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nicht die eines Auslösers. Ohne konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen dieser Bedingung, darf sie aber weder festgestellt, noch zugunsten des Β unterstellt werden. Bedenken gegen diese prozessuale Lösung der theoretischen Schwierigkeiten sind letztlich unberechtigt. Denn die Notwendigkeit, das NichtVorliegen einer Bedingung feststellen zu müssen, ergibt sich ganz allgemein für jede F o r m der Kausalitätsprüfung und bei jeder „Art" der Kausalität. Immer muß der Sache nach eine Ausschlußdiagnose hinsichtlich der Bedingungen gestellt werden, die, wenn sie vorlägen, unter den herangezogenen Erfahrungssatz subsumiert werden könnten 26 . Die Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung stützt auf diesen Befund sogar ihre Begründung eines einheitlichen Kausalbegriffs für Begehungsund Unterlassungsdelikte 27 . Aber auch wenn man diesen Rahmen verläßt, so ist jedenfalls der (meist stillschweigende) Ausschluß überholender Kausalität erforderlich. Eine weitere Schwierigkeit, daß nämlich - ceteris paribus - die Feststellung des NichtVorliegens eines Sachverhalts im allgemeinen 28 wesentlich problematischer ist als die Feststellung seines Vorliegens, trifft dementsprechend alle Kausalitätsfeststellungsverfahren, ist aber bei allen auch „nur" ein Problem des Beweiswürdigungsrechts. 4. N u r in Parenthese, da eigentlich außerhalb des Themas stehend, soll die Auffassung behandelt werden, die auch für die psychisch vermittelte Kausalität die Verknüpfung mit einer Theorie der Erklärung nicht aufgibt 29 . Eine fremde Handlung kann nur dann zugerechnet werden, wenn zwischen ihr und der eigenen Handlung ein Erklärungszusammenhang besteht. N u r wird an die Stelle der undurchführbaren kausalen eine handlungstheoretisch und hermeneutisch orientierte Erklärung gesetzt 30 . Warum es aber rechtlich darauf ankommen soll, daß die fremde Handlung durch die eigene (mit-)erklärt wird, wird freilich genausowenig begründet wie von der Gegenposition. Angesichts der außerordentlich hohen Ansprüche, die dieses Modell an die Erhebung der psychischen Befindlichkeiten stellt, und die weder das geltende noch sonst ein Strafverfahrensrecht erfüllen kann, ist eine spezifisch juristische Fundierung unerläßlich. Daß die Rechtswissenschaft Anschluß an Ausführlich Puppe, Z S t W 1980, S. 863 ff, S . 8 8 8 und ZStW 1983, S. 2 8 7 f f , 300ff. Vgl. Engisch, Kausalität ( F n . l ) , S . 2 9 f f ; Puppe, Z S t W 1980, S. 563 ff, S. 899 ff; Wessels, A T , 15. Aufl. 1985, S . 2 0 9 . 28 Beispiel: In einem von zwei sonst gleichen Heuhaufen sei eine Nadel versteckt, im anderen aber nicht. Betraut man zwei Personen damit, je einen Heuhaufen daraufhin zu untersuchen, so wird in aller Regel diejenige eher zum Ziel gelangen, in deren Heuhaufen sich die Nadel verbirgt. 26

27

29

Kindhäuser,

G A 1982, S. 4 7 7 ff; Bernsmann,

30

Kindhäuser,

ebenda, S. 4 9 8 kumuliert handlungstheoretische und kausale Erklärung.

ARSPh. 1982, S. 536 ff.

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den gegenwärtigen Stand der Wissenschaftstheorie suchen sollte31, reicht nicht aus. Bleibt nämlich als juristisch verwertbares Ergebnis auch nach eigener Einschätzung nur der resignierte Appell an den Richter, sich um Verständnis zu bemühen32, so überantwortet der Sache nach eine Theorie, die beansprucht, den höchsten Rationalitätsstandards zu genügen, die Praxis einer schrankenlosen Irrationalität. Ein solches Ergebnis müßte freilich hingenommen werden, wenn dieser Ansatz wirklich den einzigen Weg aufzeigte, psychische Vermittlungen festzustellen. Das ist aber schon immanent nicht der Fall. Wie auch immer man eine Theorie der Handlungserklärung faßt, so muß sie doch - und sei es an versteckter Stelle33 - eines voraussetzen: eine empirisch faßbare Handlungsbeeinflussung. Ohne dies laufen alle hermeneutischen Versuche, die (angeblich) beeinflußte Handlung in ihrer Rückführbarkeit auf den (angeblichen) Einflußnehmer zu verstehen, ins Leere und geben günstigstenfalls die Selbstinterpretation des Trägers der beeinflußten Handlung wieder. Daß und wie die Beeinflußtheit von Handlungen durch Handlungen festgestellt werden kann, wurde soeben aufgezeigt. Diesem Verfahren gegenüber erweist sich die Forderung nach Handlungserklärung als Zusatz, der nicht mehr wissenschaftstheoretisch abgeleitet, sondern nur noch dogmatisch begründet werden kann, und zwar als möglicher Teil einer Lehre von der objektiven Zurechnung, die aber, soweit es sich um Begehungsdelikte handelt, als Mindestvoraussetzung einen empirischen, nicht nur temporalen Zusammenhang zwischen den betreffenden Handlungen enthält, eben die Kausalität. IV. 1. So plausibel die Verwendung retrospektiver Erfahrungssätze auch scheinen mag, so ist doch ihre Brauchbarkeit zur Kausalitätsfeststellung in den bisherigen Ausführungen eher vorausgesetzt als theoretisch abgesichert worden. Auch wer zugesteht, daß von der rechtlichen Problemlage her eine Verknüpfung der Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung mit einer Theorie der kausalen Erklärung nicht notwendig sei, könnte darauf beharren, daß sie sich empirisch gesehen nicht vermeiden lasse, wolle man halbwegs sicher sein, Kausalität und nicht irgendetwas anderes, etwa ein regelmäßiges ante hoc, festzustellen.

" So Bernsmann und letztlich auch Kindhäuser, seiner Konzeption offen läßt. '2 Bernsmann, ebenda, S. 554. " Bernsmann, ebenda, S. 550.

der die dogmatischen Konsequenzen

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Der Rückgriff auf kausale Erklärungen weist einen - unter Umständen entscheidenden - theoretischen Vorteil auf. Gerade durch die prognostische Orientierung der von ihr verwendeten allgemeinen Erfahrungssätze wird die jedenfalls im makroskopischen Bereich bestehende Abfolge von Ursache und Wirkung reproduziert. Gut bestätigte Systeme solcher Erfahrungssätze können daher für sich in Anspruch nehmen, die Wirklichkeit tendenziell so wiederzugeben, wie sie ist. Zwar läßt sich wegen der prinzipiellen Unabgeschlossenheit jeder Forschung nie die Gewißheit erreichen, die Realität erfaßt zu haben. Doch ist die Vermutung gut begründet, daß das jeweils bestbestätigte System einer realistisch aufgefaßten Wahrheit näher kommt als die überwundenen Ansätze34. Fußt die rechtliche Kausalitätsfeststellung auf einer solchen Methode, so besteht die nach Lage der Dinge höchste Gewähr, daß ein als kausal bezeichnetes Verhalten auch wirklich kausal ist. Diese Vorzüge betreffen jedoch nur systematische, auf Erkenntnisgewinnung zielende Wissenschaften und entfallen sofort, wenn es um den Typ von Erfahrungssätzen geht, die regelmäßig in rechtlichen Verfahren zur Feststellung der Kausalität eingesetzt werden. Sie stehen in einem eher lockeren Zusammenhang zu den systematischen empirischen Wissenschaften, wenn es sich nicht ohnehin nur um Partialerkenntnisse handelt. Für den hier verfolgten Zweck, und wahrscheinlich für rechtliche Zusammenhänge überhaupt, genügt es daher, die angesprochene Problematik auf mittlerer Ebene anzugehen und erkenntnistheoretische wie wissenschaftstheoretische Grundlagenfragen auszuklammern. In diesem Kontext ist entscheidend, daß auch die getreue Befolgung des Schemas der kausalen Erklärung nicht garantiert, daß mehr als ein regelmäßiges post hoc festgestellt wird. Regelmäßig passiert ein Schienenfahrzeug die Schranke, nachdem sie vom Schrankenwärter geschlossen wurde. Sieht man von modernen Sicherungssystemen ab, ist jedoch das Verhalten des Schrankenwärters nicht Teil einer kausalen Erklärung der Vorbeifahrt einer Lokomotive, obwohl das Schema erfüllt ist. Nichts anderes gilt bei Krankheitssymptomen, die in bestimmten Fällen eine sichere Prognose des weiteren Krankheitsverlaufs gestatten. Daß eine gesetzmäßige Bedingung erfüllt ist, besagt mithin für sich gesehen weder wissenschaftstheoretisch bzw. naturwissenschaftlich noch juristisch irgendetwas über einen mehr als temporalen Nexus der Ereignisse35. Die Last, 3< Popper, Logik der Forschung, 7.Aufl. 1982, S.431, 433. Dagegen Keuth, Realität und Wahrheit, 1972, S. 112 ff. 35 Vgl. Stegmüller, Probleme (Fn.3), S. 153 ff, insbes. S. 175 f; Wolff, Kausalität (Fn.2), S. 18, Fn.24; Jakobs, AT, S. 162 u. 653, und Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972, S. 21 f.

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einen solchen zu gewährleisten, fällt dem Produzenten der allgemeinen Gesetze zu oder dem (Juristen/Sachverständigen), der unter den allgemeinen Gesetzen auswählt. Welche Methoden hierbei angewendet werden können, braucht nicht beschrieben zu werden. Daß eine Unterscheidung von post hoc und propter hoc prinzipiell möglich ist, zeigen die genannten Beispiele. Nichts anderes gilt für retrospektive Erfahrungssätze. Genausowenig wie bei prognostisch orientierten läßt sich aus ihnen selbst entnehmen, ob sie nur einen zeitlichen oder einen Wirkungszusammenhang beschreiben. Auch hier liefern erst Kontrollüberlegungen oder -versuche, die grundsätzlich den gleichen Mustern folgen, die Entscheidung. Einen Erfahrungssatz, der von einem Krankheitsbild ausgehend die regelmäßigen Frühsymptome beschreibt, von einem anderen zu unterscheiden, der auf die Ursachen zurückgeht, wirft keine fundamental anderen Probleme auf als der umgekehrte Fall eines prognostischen Paares von Erfahrungssätzen. Diese Übereinstimmung kommt nicht von ungefähr. Bei beiden Arten von Erfahrungssätzen handelt es sich zunächst einmal nur um Verallgemeinerungen von Erfahrungen, seien es die des Alltags, die von Spezialisten oder seien es solche, die in kontrollierten Untersuchungen gewonnen werden. Bedeutung für Kausalitätsfragen gewinnen sie beide erst durch den Rückgriff auf ein Vorverständnis von Kausalität, aus dem heraus Methoden entwickelt werden können, die das, was wir Kausalnexus nennen, von einer rein zeitlichen Reihenfolge abgrenzen. 2. Mit einem weiteren Einwand hat die Behandlung der psychisch vermittelten Kausalität zu rechnen. Durch die Einbeziehung psychischer Zustände des jeweils Beeinflußten werde letztlich doch mit einem Sonderbegriff der psychischen Kausalität gearbeitet, der den Rahmen einer Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung überschreite. Um diesem Mißverständnis vorzubeugen, wurde oben bewußt darauf verzichtet, Introspektionen über die Beeinflussung in die beispielhaft aufgezählten Bedingungen aufzunehmen, etwa nach dem Muster: „Der Ratschlag des Β hat mich bewogen, den Weg über die Garage zu nehmen." Grundsätzlich werden Sätze dieser Art nicht benötigt, um eine psychische Beeinflussung festzustellen36. Als Indiz können sie freilich dienen, aber genau genommen nicht so, daß sie bei Glaubwürdigkeit der Beweisperson ohne weiteres zum Beweis der Kausalität verwertet werden könnten. Denn die wahrhaftige Selbsteinschätzung, (nicht) beeinflußt gewesen zu sein, ist keine Bedingung der (Nicht-)Beeinflussung. Vielmehr sind sie

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Anders Bernsmann (Fn. 2), S. 547. Vgl. das Beispiel von Puppe, Z S t W 1980, S. 863 ff, 881 nach Fn.28.

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ein Beweiszeichen dafür, daß die betreffende Information vor dem Ratschlag nicht bekannt war, die Idee zur Tat sich noch nicht gebildet hatte usw. So gesehen fügen sich Introspektionen problemlos in eine Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung ein. Daß sich insoweit Beweiserhebung und Beweis Würdigung anders gestalten als bei Äußerungen über außerpsychische Sachverhalte oder als beim Sachbeweis, führt zu keinem Sonderbegriff der Kausalität. V. Das hier vorgeschlagene Verfahren ist sicherlich nicht neu. Sachverständige verwenden es vielfach. In den meisten Fällen dürfte es die unausgesprochene oder unbewußte Voraussetzung der Anwendung des condicio-sine-qua-non-Gedankens sein. Bisweilen taucht es sogar in Argumentationen von Autoren auf, die dem Erklärungsansatz 37 verpflichtet sind. Angesichts dessen bestand das Ziel der vorstehenden Ausführungen darin, die Konturen dieser Form der Kausalitätsprüfung nachzuzeichnen und aufzuzeigen, daß eine Theorie der gesetzmäßigen Bedingung nicht notwendig mit einer Theorie der kausalen Erklärung verknüpft ist.

Risikokonkurrenz - Schadensverlauf und Verlaufshypothese im Strafrecht GÜNTHER JAKOBS

In Lackners Kommentar1 heißt es zur Kausalität: „Die condìtio-sinequa-non-Formel ist nur ein methodisches Hilfsmittel. Sie erleichtert es, die gesetzmäßige . . . Verknüpfung der menschlichen Handlung mit dem Erfolg zu prüfen, hat aber keinen unmittelbaren Erkenntniswert für das Bestehen dieser Verknüpfung." Bei der objektiven Zurechnung, und zwar zur Frage, wann ein Erfolg seinen „Grund gerade in der Sorgfaltspflichtverletzung" hat, formuliert Lackner2, der Zusammenhang fehle, „wenn (der Erfolg) auch bei Beachtung gehöriger Sorgfalt eingetreten wäre". Nach der Darlegung, daß es sich bei diesem Risikozusammenhang nicht um ein Kausalproblem handle, (und nach einer Option für die Risikoerhöhungslehre) resümiert Lackner freilich: „Die Gesamtproblematik ist noch nicht abschließend geklärt." Hat die Hypothesenformel bei der objektiven Zurechnung den „Erkenntniswert", der ihr bei der Kausalität versagt ist, oder ist sie wiederum nur methodisches Hilfsmittel? — Am Beginn der nachstehenden Untersuchung, die helfen soll, das von Lackner konstatierte Defizit an Klarheit ein wenig zu verkleinern, steht die Unterscheidung zwischen mehreren konkurrierenden Risiken und den Bedingungen bloßer Verlaufsvariationen innerhalb eines Risikos (I). Es folgt die Behandlung konkurrierender trennbarer (II) und - zum Wirkungszeitpunkt - untrennbarer (III) Risiken; dabei erweist sich, daß die Hypothesenformel in diesem Bereich nur methodisches Hilfsmittel ist. Der Ausgestaltung dieses Hilfsmittels gilt der letzte Abschnitt (IV). I. 1. Jeder Schadensverlauf, den man nicht als quantité negligable abtun kann, desorientiert, solange er nicht erklärt5 ist. Die Erklärung, die das Strafgesetzbuch, 16. Auflage, 1985, Anm. III l c a a v o r § 1 3 . (Fn. 1) § 15 Anm. III 1 b mit aa bis cc. 3 Erklären heißt also: den Verlauf mit der Orientierung wieder verträglich machen; dies geschieht durch Benennung eines ausgewählten Bedingungskomplexes (eines Risikos), der zu einem der Modi der Vermittlung zwischen Schadensverlauf und Orientierung (Erklärungsmodus; besser wäre Reorientierungsmodus) paßt (etwa: Schuld eines Täters, Selbstverschulden, Unglück wegen eigener Anfälligkeit oder wegen fremder Unfähigkeit). 1

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Strafrecht leisten kann, geschieht durch Zurechnung des Schadensverlaufs. Dabei wird das Verhalten eines Täters oder Teilnehmers (oder mehrerer Beteiligter) als maßgeblicher Grund des Schadensverlaufs definiert. Auch der Ausschluß von strafrechtlicher Zurechnung trägt immer positiv zur Erklärung eines Schadensverlaufs bei: Da jeder Schadensverlauf auf die eine oder die andere Weise erklärt werden muß, verdichtet der Ausschluß eines Erklärungsstrangs die Chance, es in einem anderen Strang erfolgreich zu versuchen. Wegen der Notwendigkeit, für jeden Schadens verlauf eine plausible Erklärung zu finden, hat keine Aussage zur strafrechtlichen Zurechnung Bestand, die ohne Berücksichtigung der anderen Erklärungsmodi gewonnen wurde. Wird strafrechtlich zugerechnet, so heißt dies stets zugleich, daß kein Unglück vorliegt und daß das Opfer nicht oder doch nicht allein für den Schadensverlauf zuständig ist etc. Wird nicht zugerechnet, so kann dies nur richtig sein, wenn unter den bleibenden Erklärungsmodi mindestens ein Modus paßt. Grenzveränderungen bei der strafrechtlichen Zurechnung geschehen also nicht in einem „Niemandsland"; sie sind keine einseitige, zurechnungsinterne Angelegenheit, sondern zugleich auch immer gegenläufige Grenzveränderungen der anderen Erklärungsmodi. Das gilt auch, soweit sich die Erklärungsmodi überlappen. Eine Überlappung schwächt die Erklärungskraft der beteiligten Modi, und eine Rücknahme einer Überlappung ist nur möglich, wenn der bleibende Modus als alleinige Erklärung hinreicht. 2. An einem Schadensverlauf sind nicht alle Details erklärungsbedürftig, sondern nur diejenigen, auf denen die Schadensneigung beruht. Die anderen Details, die bloßen Begleitumstände, sind kein tauglicher Gegenstand strafrechtlich zu garantierender Erwartungen. Die Abgrenzung der eine Schadensneigung bewirkenden Umstände von den bloßen Begleitumständen ist so unsicher, wie der Kreis der bezeichneten Erwartungen vage ist. Jedenfalls ist mit der Erfolgskausalität eines Umstands nicht auch ausgemacht, daß der Umstand nicht Begleitumstand sein könnte. Es ist vielmehr möglich, daß bei einem Schadensverlauf Details der Entwicklung variiert werden, ohne die Schadensneigung zu beeinflussen. Der Kausalverlauf wird dann innerhalb eines identisch bleibenden Risikos 4 variiert. In diesen Fällen wird zwar der Erfolg verursacht, * Ein Risiko ist ein Komplex von Erfolgsbedingungen, die zu einem Erklärungszusammenhang gehören; die Grenze des Begriffs zieht also der Zweck: Erklärung von Schadensverläufen (siehe Fn. 3). Es fehlt nicht an Versuchen, das Risiko von den wirkenden Bedingungen zu lösen und stärker an einer Ex-ante-Betrachtung auszurichten. Der bekannteste Versuch ist die Risikoerhöhungslehre, zu der sich Verf. an anderer Stelle geäußert hat, zuletzt: Strafrecht AT, 1983, 7/98 ff mit Nachweisen. Die seit Anfang 1983 erschienene Spezialliteratur dafür wie dagegen ( B i n d o k a t , JuS 1985, S. 32 ff ; Arthur Kaufmann, Jescheck-Festschrift, 1985, S. 273 ff; Ranft, NJW 1984, S. 1425 ff; Scblüchter,

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J A 1984, S. 673 ff; Schünemann, StV 1985, S. 229 ff; ders., GA 1985, S. 341 ff; zu Krümpelmann sogleich in dieser Fn. ; zu Puppe siehe Fn. 17; siehe auch die Nachweise in Fn. 25) hat zahlreiche Detailpräzisierungen, aber nichts prinzipiell Neues gebracht. Der bislang letzte und subtilste Versuch stammt von Krümpelmann (Jescheck-Festschrift, 1985, S. 313 ff); ders., G A 1984, S. 491 ff, 503 f; schon ders., Bockelmann-Festschrift, 1979, S. 443 ff, 447ff). Sehr stark vergröbernd: Nach Krümpelmann sollen die „Pflicht" des Täters und ein ihr korrespondierender „Anspruch" des Opfers ex ante zu bestimmen sein (JescheckFestschrift, S. 318). Die Tatsachenbasis der Prognose der „Gefährlichkeit" (das vom Täter zu verantwortende Risiko) und „Gefährdetheit" (die - wie bestimmte? - Nachrangigkeit der vom Opfer selbst eingebrachten Risiken) sollen im Prozeß bewiesen werden müssen (S.322). Zur „Gefährdetheit" heißt dies, daß der „Status" des Patienten (etwa ob der Patient bei insgesamt dubioser Verlaufsprognose zur Gruppe der Risikopatienten oder derjenigen mit guten Chancen gehört) zu beweisen ist (S.322ff). Steht fest, daß die „Pflicht" und ein ihr korrespondierender „Anspruch" bestehen, soll es weder auf die Höhe einer Rettungschance („eine meßbare Chance muß ausreichen", S.333) noch auf die Verlaufshypothese nicht verwirklichter Verhaltensalternativen ankommen (S.326f, 329). Für die von Krümpelmann hauptsächlich behandelten Fälle unterlassener ärztlicher Hilfe heißt das: Bestehen „Pflicht" und „Anspruch" (ist der Status also nicht so sehr desolat, daß keine Hoffnung bleibt), so zählen nur Komplikationen, zu denen es auch gekommen ist (keine Berücksichtigung von Verlaufshypothesen), aber es zählen die Fehler, die gemacht wurden. Krümpelmann behandelt also den Schadensverlauf, der ohne fehlerhaftes Verhalten stattfände, unter der bezeichneten Voraussetzung als ein nicht verwirklichtes Aliud zu dem wirklichen Verlauf mit fehlerhaftem Verhalten. Daß der Verlauf ohne Verhaltensfehler auch zum Schaden geführt hätte, ist bei diesem Ansatz irrelevant: Hypothesen erklären nicht die Wirklichkeit. - Krümpelmanns Methode garantiert freilich nicht, daß der Verhaltensfehler das sich verwirklichende Risiko (mehr als in bloßen Begleitbedingungen) beeinflußt, daß also mit dem Fehler ein anderes Risiko wirkt als ohne den Fehler wirken würde. Gelingt es nicht, im Prozeß einen „Status" zu beweisen, der die Schadensvermeidung oder aber den Schadenseintritt gewiß macht, so handelt es sich um einen Pauschalstatus, bei dem man über Details nichts weiß. Schon deshalb (man weiß nichts!) läßt sich nicht garantieren, daß das fehlerhafte Verhalten mehr als Begleitbedingungen variiert. Zudem kann nicht ohne Willkür bestimmt werden, auf welchem Level dieser Status fixiert werden soll (etwa vor einer Operation: Robustheit insgesamt oder getrennt nach Herzstatus, Lungenstatus etc.). - Nun mag freilich eingewendet werden, es sei nicht notwendig, die Identität von Risiken naturalistisch nach dem wirkenden Bedingungskomplex zu bestimmen; auch eine bestimmte Pflichtenlage könne zum Identitätskennzeichen erklärt werden, wenn dies zweckmäßig sei. Dieser Einwand paßt trotz seiner Plausibilität nicht zu einem Strafrecht, das auf Erfolgsdelikte ausgerichtet ist: Diese zwingen per Definition des Erfolgs zu einem Mindestnaturalismus. Krümpelmann verkennt das auch nicht, was die Erfolgsprognose, wohl aber, was die Zurechnung des eingetretenen Erfolgs angeht: Die Suche nach der Beziehung zwischen Pflichtwidrigkeit und eingetretenem Erfolg soll eine „Kategorienverwischung" sein, S. 319; dazu auch Puppe, ZStW 95, S. 287ff, 290. Aber die Feststellung, daß ein Normbruch Folgen gezeitigt hat, verwischt nichts. Es geht bei Krümpelmann um etwas anderes (sonst müßte Krümpelmann auch die Beziehung zwischen Normbruch und Erfolgsprognose für eine Kategorienverwischung halten): Versuch wird gegen Vollendung ausgespielt. Die Logik des Unrechts eines Erfolgsdelikts verträgt aber keinerlei Beschneidungen der Ex-post-Betrachtung; sie ist mit der Logik des Handlungsunrechts nur bedingt verträglich. Beispielhaft gesprochen: Wer das wenig Wahrscheinliche bis zur Sicherheit steigert, haftet praktisch nicht für den Erfolg, solange nicht die Verwirklichung der spezifischen Steigerungsgefahr ausgemacht ist, aber wer ein Risiko durch ein kleines, in seiner Verwirklichung jedoch erkennbar anderes Risiko ersetzt, haftet - wegen der Erkennbarkeit der Verwirklichung - praktisch immer für den Erfolg: Der Naturalismus des Erfolgsdelikts konterkariert die Bewertungen der Pflichtenlage.

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nicht aber das Erfolgsrisiko. Beispiel5: Wird innerhalb eines brennenden Hauses ein Möbelstück herumgedreht, so bedingt dieses Verhalten den kommenden Verlauf zur Zerstörung und damit auch den Erfolg. Daß zuerst die linke Seite entzündet wird und das Feuer von dort aus nach rechts wandert und nicht umgekehrt, also was wirklich geschieht, hängt von der Lageveränderung des Objekts ab. Daß das Möbelstück, wäre es nicht herumgedreht worden, auch verbrannt wäre, nur in anderer Art und Weise, ist eine bloße Hypothese, also keine Erklärung für das, was wirklich geschieht. Dieses wirkliche Geschehen ist freilich nicht voll erklärungsbedürftig: Auf welchem Weg von mehreren äquivalenten Wegen sich ein identisches Risiko zum Erfolg entwickelt, ist kein tauglicher Erwartungsgegenstand bei Normen, die der Vermeidung von riskantem Verhalten dienen sollen. Die Haftungsfreiheit bei bloßer Verlaufsvariation läßt sich nur begründen, wenn man den hypothetischen Verlauf berücksichtigt: Die Haftung entfällt einzig im Blick darauf, daß ohne die Variation ein äquivalenter Verlauf des identischen Risikos stattgefunden hätte. Wegen der eingangs schon angeführten Notwendigkeit, jeden Schadensverlauf zu erklären, entsteht allerdings bei der Berücksichtigung hypothetischer Verläufe häufig folgendes Dilemma: Der wirkliche Verlauf wird zur Erklärung nicht herangezogen, und der hypothetische kann, weil er irreal ist, nicht herangezogen werden; der Schadenseintritt ist dann überhaupt nicht mehr erklärbar. Dieses Dilemma wird bei der Behandlung der Konkurrenz verschiedener Risiken noch genauer zu untersuchen sein - hier (bei einer Verlaufsvariation) bleibt das Dilemma aber aus; denn die Variation spielt sich innerhalb eines identischen Risikos ab, das sich jedenfalls (mit oder ohne Variation) realisiert. Beruht im Beispielsfall der Brand auf einer Brandstiftung, so ist dem Brandstifter auch die Zerstörung des Möbelstücks zuzurechnen, gleich ob der Verlauf variiert wurde oder nicht. Wenn das Risiko identisch bleibt, geht durch Berücksichtigung von Hypothesen keine Erklärungsmöglichkeit verloren6. - Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, daß diese Berücksichtigung von Hypothesen nur innerhalb eines Risikos angebracht, aber bei der Konkurrenz mehrerer Risiken falsch ist. II. 1. Die Anwendung des bislang simplen Modells für die Erklärung von Schadensverläufen wird bereichsweise verzwickt, wenn mehrere ErkläNach Samson, Hypothetische Kausalverläufe, 1972, S. 88 f. Die Eigenschaft als Begleitbedingung besteht nicht absolut, sondern immer nur in einem bestimmten Risikokontext. Wenn im Beispiel das Drehen des Möbelstücks Begleitbedingung bei der Sachbeschädigung ist, so kann es doch etwa beim Versuch, die Feuerwehr zu hindern, Personen zu retten, wesentlicher Verlaufsschritt sein. 5 6

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rungsmöglichkeiten konkurrieren. Dies kann in unterschiedlicher Weise geschehen. Dabei bedürfen diejenigen Fälle keiner weiteren Darlegungen, in denen mehrere Personen für ein Risiko, das sich verwirklicht, zuständig sind: Es handelt sich um die üblichen Fälle der Beteiligung mehrerer. Aber auch das Opfer kann mitzuständig werden, ohne daß die Zurechnung zum Täter enden müßte; Täter- und Opferzuständigkeit können sich also überlappen; Beispiel: Wer auf dem Mittelstreifen einer Bundesstraße wandert und wegen der eingeschränkten Aufmerksamkeit eines Autofahrers verletzt wird, muß die Verletzung - ungeachtet der Haftung des Fahrers wegen fahrlässiger Körperverletzung - auch sich selbst zuschreiben, und zwar wegen der Verletzung von Obliegenheiten zum Selbstschutz. Weniger selbstverständlich ist die Zurechnung in derjenigen Fallgruppe, in der mehrere Risiken konkurrieren (von denen sich dann immer nur eines verwirklichen kann; unten III). Die Hypothesenformel im üblichen Verständnis führt hier zu fehlerhaften Ergebnissen. Beispiel: Ein Motorradfahrer wird bei dichtem Nebel von hinten angefahren, fliegt durch die Luft und wird beim Aufprall auf den Boden verletzt; das Auffahren mit den geschilderten Folgen bewahrte ihn davor, selbst Sekundenbruchteile später auf ein Hindernis aufzufahren und sofort (genauer: geringfügig vor dem Eintritt der Verletzungen, die durch das Anfahren entstanden sind) getötet zu werden. Die Anwendung der Hypothesenformel führt zu dem befremdlichen Ergebnis, daß sich das Risiko des Anfahrens nicht verwirklicht haben soll, da die Körperintegrität des Motorradfahrers auch ohne Anfahren im Ergebnis nicht erhalten geblieben wäre. Aber auch das Risiko, selbst aufzufahren, bietet - ganz abgesehen davon, daß ohne dieses Risiko alles unverändert so abgelaufen wäre, wie es sich wirklich ereignet hat, - schon deshalb keine Erklärung, weil es zu einem Selbst-Auffahren nicht gekommen ist. Das Ergebnis wird vollends unverständlich, wenn sowohl das Risiko des Anfahrens als auch das Risiko des Selbst-Auffahrens vermeidbar waren: Dann soll für den Schadensverlauf niemand zuständig sein, obgleich sich alle falsch verhalten haben und obgleich bei allseits korrektem Verhalten der Erfolg auch ausgeblieben wäre, also kein unabwendbares Unglück vorlag. Der Grund für den Fehler liegt auf der Hand: Bei der Verwirklichung von Risiken kommt es - wie beim Parallelproblem der Differenzierung zwischen wirkenden und nicht wirkenden Bedingungen7 - nicht darauf an, was wäre, wenn die zu prüfenden Risikofaktoren fehlen 7 Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 16; ders., V o m Weltbild des Juristen, 2. Auflage, 1965, S. 130 mit F n . 2 8 8 ; ders., v. WeberFestschrift, 1963, S . 2 4 7 f f , 261; Lackner (Fn. 1), Anm. III l c a a vor § 1 3 mit weiteren Nachweisen.

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würden, sondern was sie bewirkt haben8. Weiß man nicht, was sie bewirkt haben, läßt sich auch die Frage nicht beantworten, was ohne sie wäre; weiß man, was sie bewirkt haben, braucht man die Frage nicht zu stellen. Selbst wenn man die Frage nach dem hypothetischen Verlauf richtig beantwortet, trägt sie zur Lösung nichts bei; denn die Wirklichkeit ist nicht davon abhängig, was wäre, wenn einiges an ihr anders aussähe. Freilich kann man aus dem Wissen, wie eine hypothetische Welt aussieht, und zudem dem Wissen, durch welche Variationen des Wirklichen die Hypothese gewonnen wurde, darauf zurückschließen, wie die Wirklichkeit gestaltet ist - aber es sind keine Vorteile dieses komplizierten und fehleranfälligen Verfahrens ersichtlich. Die Hypothesenformel produziert nicht stets, sondern nur in Fällen bereitstehender Reserverisiken fehlerhafte Ergebnisse; die Lösung der anderen Fälle ist freilich trivial. Die breite Verwendung der Hypothesenformel läßt die Vermutung zu, daß sie noch eine andere Funktion hat, als Selbstverständliches bei unkomplizierten Sachverhalten wiederzugeben. Zur Bestätigung dieser Vermutung soll kurz dargestellt werden, was die Formel überhaupt zu leisten vermag. Kann man an einem System alle Eingangsfaktoren (also auch eventuelle Ersatzbedingungen) und alle Ausgangsfaktoren kontrollieren, so läßt sich durch kontrollierte Variation der Eingangsfaktoren und Kontrolle der Ausgangsfaktoren ermitteln, welcher Input Bedingung für welchen Output ist. Das Ergebnis lautet etwa (in der einfachen Gestalt einer sowohl notwendigen wie hinreichenden Bedingung): Immer dann und nur dann, wenn im System S der Input i erfolgte, ereignete sich der Output o. Unter hier nicht weiter interessierenden Kautelen läßt sich daraus ein Zusammenhang ableiten, der praktisch nicht mehr angefochten werden kann: Im System S bedingt i notwendig und hinreichend o. Der Experimentator muß eine Hypothese im Sinn einer Vermutung aufstellen, um überhaupt beginnen zu können (etwa: Beim System S könnte der Input i einen bestimmbaren Output bedingen). Den Realitätsgehalt der Vermutung prüft der Experimentator freilich dadurch, daß er die Wirklichkeit das eine Mal mit dem ' So neuestens insbesondere auch Ranft, N J W 1984, S. 1425 ff, 1427 ff; Krümpelmann, Jescheck-Festschrift, 1985, S. 326 f, 329 f. - Daß einem Gut nicht durch Hypothesenberiicksichtigung die normative Garantie genommen werden darf, wird durchwegs jedenfalls für hypothetisches Unrecht (nicht aber auch stets gleichermaßen für eine hypothetische Obliegenheitsverletzung) anerkannt: B G H 30, S. 228 ff, 231; Kahn, Das Vermeidbarkeitsprinzip und die conditio-sine-qua-non-Formel im Strafrecht, 1968, S. 75 ff, 283; Niewenhuis, Gefahr und Gefahrverwirklichung im Verkehrsstrafrecht, 1984, S. 94 ff; Otto, Maurach-Festschrift, 1972, S. 91 ff, 103; Roxin, ZStW 74, S.411, 435; Samson (Fn.5), S. 125 f, 141; Puppe, JuS 1982, S. 660 ff, 664; Leipziger Kommentar-]escheck, 10. Auflage, Bd. 1, 1985, Rdn.63 vor § 1 3 ; Systematischer Kommentar-Rudolphi, 3. Auflage, Bd. 1, 1984, Rdn. 60 vor § 1 ; Stratenwerth, Strafrecht AT, 3. Auflage, 1981, Rdn. 227; in der Lösung wohl offen Arthur Kaufmann (Fn. 4), S. 274.

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Faktor i gestaltet und das andere Mal ohne i und so weiter wechselnd. Der Experimentator lernt also durch die Gegenüberstellung von Alternativen, und nur um diesen Umstand darf es bei juristischen Hypothesen gehen, die zu Bedingungskonkurrenzen gebildet werden. Um zu verdeutlichen, wie man die Verwirklichung bestimmter Bedingungen oder eines bestimmten Risikos erfahren kann, formuliert man eine Alternative zum wirklich geschehenen Fall; diese Alternative kommt natürlich - im Gegensatz zu den Varianten, die ein Experimentator anbringt - nie zur Verwirklichung und wird deshalb im casus irrealis formuliert. Der Satz: „Ein Risiko hat sich verwirklicht, wenn der Erfolg bei einer Lage ohne die Risikofaktoren ausgeblieben wäre", darf demnach9 nur wie folgt verstanden werden: „Die benannten Risikofaktoren haben den Erfolg bedingt; soll diese Erfahrungstatsache demonstriert werden, so muß der insgesamt kontrollierte Input des identischen Systems um die bestimmten Faktoren verkleinert werden..." etc. Es geht um die Erfahrbarkeit von wirklichen Zusammenhängen zwischen bestimmten Bedingungen und einem bestimmten Erfolg. Der Schwerpunkt der Information, die durch den Gebrauch der Hypothesenformel geleistet werden kann, muß nicht und dürfte auch meist nicht bei der Mitteilung der Erfahrbarkeit des behaupteten Zusammenhangs liegen, sondern bei der Bestimmung der Faktoren, die das Risiko ausmachen, und bei der Bestimmung des Systems, um dessen Output es geht. Inbesondere wenn Faktoren quantifiziert werden sollen (50 Stundenkilometer statt 70 Stundenkilometer), läßt sich die Bestimmung leichter durch Gegenüberstellung von Sachverhaltsvarianten treffen als durch eine isolierte Beschreibung der Differenz zwischen diesen Varianten. Jedenfalls geht es nicht um die Ermittlung einer Risiko Verwirklichung, sondern um die Benennung einer schon ermittelten Wirkung. Die - auch von Lacknerw verwendete - übliche Formulierung, es handle sich bei der Risikoverwirklichung nicht um ein Problem der Kausalität, ist nur in dem Sinn richtig, daß bei Verneinung einer Risikoverwirklichung nicht auch schon die Kausalität einer Handlung für den Erfolg verneint werden muß, so wie bei Verneinung der Kausalität einer Handlung nicht schon - etwa - die Kausalität eines Krampfanfalls oder der Befindlichkeit eines menschlichen Körpers an einer bestimmten Stelle verneint werden muß. Aber wie die Kausalität einer Handlung eine Spezifizierung des Umstands ist, daß ein Mensch irgendwie für einen Erfolg kausal wurde, so ist auch die Risikoverwirklichung ' N a c h Ausschaltung der auf einen Saldo, also auf eine Geschehensdifferenz abstellenden Lehre; dazu unten II 2. 10

(Fn. 1) § 15 A n m . III 2 b aa und bb.

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eine Spezifizierung der Kausalität: Nicht irgendwelche Eigenschaften der rechtswidrigen Handlung haben den Erfolg (unter anderem) bedingt, sondern (unter anderem) speziell diejenigen, die dem Urteil der Rechtswidrigkeit zugrundeliegen. Gewiß, bei fehlender Risikoverwirklichung fehlt die rechtliche Relevanz der vorliegenden Kausalität; aber diese Relevanz läßt sich innerhalb eines Zurechnungssystems nicht heranschaffen, ohne die Kausalität zu variieren. Fehlt die Risikoverwirklichung, so fehlt die relevante Kausalität. 2. Die bisherigen Ausführungen beruhen auf der Annahme, der Verlauf zum konkreten Erfolg sei die erklärungsbedürftige Störung. Reserverisiken mögen als Versuch oder Gefährdungen ihrerseits erklärungsbedürftig sein, aber dies trägt nichts zur Erklärung eines wirklichen Schadensverlaufs bei. Der Sinn einer Unterscheidung wirkender Risiken von Reserverisiken wird allerdings bestritten, und zwar soll nicht erst die Verwirklichung eines Risikos enttäuschen und der Erklärung bedürfen, sondern schon das Entstehen einer Lage, in der ein Gut nicht mehr zu retten ist. Es soll also auf den Rechtsgutschancensaldo ankommen, und dieser Saldo wird durch ein Risiko, das ein ansonsten unaufhaltsam wirkendes anderes Risiko verdrängt, nicht verschlechtert11. Diese Lehre scheint sich freilich dem schon angeführten Dilemma der Hypothesenberücksichtigung auszuliefern. Da für hypothetisches Geschehen nicht zu haften ist, ja überhaupt mit Hypothesen nicht die Wirklichkeit erklärt werden kann, scheinen die Erklärungsmöglichkeiten zu zerrinnen: Eines der Risiken scheidet aus, da das andere in Reserve steht, und dieses scheidet aus, da es sich nicht verwirklicht hat. Freilich ist die auf den Rechtsgutschancensaldo abstellende Lehre damit noch nicht widerlegt. Es geht nach dieser Lehre überhaupt nicht darum, den konkreten Verlauf zum Erfolg zu erklären, sondern erklärungsbedürftig ist die Vernichtung der Bestandschance des Guts; jede Steigerung der Gesamtschadensmenge zählt; alles dafür Irrelevante zählt nicht. Beispielhaft 11 Diese Lehre ist häufiger inoffizielles denn offizielles Programm. Bei der Lösung von Risikokonkurrenzen beruht jede Operation mit der Hypothesenformel, bei der die F o r m e l nicht nur heuristisches Mittel zur Darstellung des wirklichen Verlaufs ist, auf dieser Lehre. Ausdrücklich folgt ihr Arthur Kaufmann, Eb. Schmidt-Festschrift, 1961, S. 2 0 0 ff, 229 (siehe aber auch ders., F n . 4 , S. 273 ff); sie gibt auch den Grundgedanken bei Samson ab (Fn. 5), der auf die (Rechtsguts-),.Verkürzung" abstellt, S. 97 (das „Verkürzungsprinzip" wird freilich durch Sicherungen zur Erhaltung der normativen Garantien für ein Gut modifiziert, S. 125 ff, 141 ; ders., Peters-Festschrift, 1974, S. 121 ff, 132 ff). Soll es auf einen naturalistisch verstandenen Rechtsgüterschutz ankommen, so ist der Ansatz konsequent (Jakobs, Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972, S. 24 ff: „Erfolgsrelevanz"). Aber dieser Ansatz liest die Bedeutung eines Verhaltens zu einseitig aus dem Saldo der Effekte und vernachlässigt die Handlungsgestalt. - Z u m folgenden T e x t siehe zudem Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, 1969, S. 110 ff; E.A. Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965, S. 19 ff.

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gesprochen: Wenn ein Getreidefeld demnächst bei einem schon aufziehenden Gewitter verhageln wird, ist es gleichgültig, ob ein paar Buben vorher noch bei Kriegsspielen die Ernte zertrampeln. Das Beispiel ist freilich umkehrbar: Wenn die Buben die Ernte zertrampeln, ist es gleichgültig, ob ein Hagelgewitter aufzieht. Bei konkurrierenden Risiken muß also bestimmt werden, welches das frühere ist. Der Sieg in diesem Wettlauf der Risiken kann nicht vom Zeitpunkt der Genese der Risiken abhängen; denn diese läßt sich theoretisch - für alle Risiken beliebig weit vorverlagern. Es bleiben drei Möglichkeiten: Entweder erklärt man dasjenige Risiko zum früheren, das die Vernichtung des Guts bewirkt. Diese Entscheidung läßt sich plausibel begründen - das sich verwirklichende Risiko kommt jedem anderen insoweit zuvor, als diese sich nicht mehr verwirklichen können - , gibt aber die Rechtsgutschancensaldierung preis und stellt doch wieder darauf ab, welches Risiko sich im Erfolg realisiert. Oder man erklärt alle Risiken für gleichzeitig und kumulativ relevant, kommt freilich auch dann ohne die Berücksichtigung der Realisierung des Risikos im Erfolg nicht aus, weil allein die Chancenverminderung - auch wenn sie den Normverstoß richtig bezeichnen sollte - keinen Tatbestand verwirklicht. Schließlich kann man alle Risiken als gleichzeitig und sämtlich irrelevant definieren, kann dann freilich nicht nur den Schadensverlauf, sondern auch den schlechten Stand des Chancensaldos nicht mehr erklären. Die Lehre von der Verschlechterung des Chancensaldos läßt sich allerdings auch so wenden, daß die angeführte Kritik sie nicht trifft. Sie muß dazu von der Aufgabe freigestellt werden, das Verhältnis überhaupt aller möglichen Risiken für ein Gut untereinander zu regeln, und ist darauf zu beschränken, die Beziehungen zwischen einerseits den Risiken von Normverstößen und andererseits den nicht durch Normbefolgung beeinflußbaren Risiken festzulegen. Die Priorität von Risiken ist dann einfach festzulegen: Alles nicht mehr über Normen beeinflußbare Geschehen ist die - frühere - Basis, auf der - später - Normen wirken können. Wenn im genannten Beispiel die Buben die Ernte zertrampeln, erklärt dieses Risiko den Verlust, ist aber wegen des Gewitterrisikos nicht mehr normwidrig. Die Lösung kann noch verfeinert werden: U m dem Gut alle noch potentiell wirkungsmächtigen normativen Garantien zu erhalten, werden alle zukünftig erfolgenden Normbrüche aus dem Chancensaldo ausgeschieden; ein zukünftiges rechtswidriges Verhalten (oder eine Obliegenheitsverletzung des Opfers) hindert dann die N o r m widrigkeit eines aktuell stattfindenden riskanten Verhaltens nicht. Im Beispielsfall können sich also die Buben nicht entlastend etwa darauf berufen, einen Tag später hätten gewiß andere Personen die Zerstörung der Ernte bewirkt, wohl aber auf den Umstand, ein nachträgliches

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Hagelwetter habe demonstriert, daß sowieso nichts zu retten gewesen wäre. Eine solche Lehre ist durchführbar, freilich zum geltenden Recht mit bereichsweise wenig plausiblen Ergebnissen. Wenn die Erfolgsverursachung in einer Situation, in der vor einem anderen Risiko keine Rettung möglich ist, überhaupt kein Unrecht sein soll, so muß - will man den Güterschutz nicht abschwächen - das Bewirken einer solchen Situation volles Unrecht sein. Nach geltendem Recht ist dieses Bewirken aber jedenfalls soweit die konkurrierenden Risiken unabhängig voneinander bestehen12 - allenfalls als Versuchsunrecht faßbar (und somit bei Fahrlässigkeit keinesfalls). Deshalb geht bei diesem Verfahren Zurechnung verloren: Der Entlastung dessen, der in einer schon hoffnungslosen Situation einen Erfolg verursacht, entspricht keine Belastung des für die Situation Verantwortlichen. Beispiel: Wenn das Futter einer Viehherde vergiftet wird und sodann das Trinkwasser auch noch, und die Herde verendet wegen der Wasservergiftung, schiede Haftung für Vollendung überhaupt aus (und zwar sogar dann, wenn ein einziger Täter beide Risiken gesetzt hätte, falls er sich erst nach der ersten Tat zur zweiten entschlossen hat - sonst läge eine actio libera in causa vor). Im Ergebnis harmoniert also eine Lehre, die Unrecht als Verschlechterung des Chancensaldos definiert, nur schlecht mit einem Strafrecht, das Verletzungserfolgsdelikte13 formuliert. Die Lehre hat weitere Nachteile. Sie belastet das Erfolgsdelikt mit noch mehr Zufälligkeiten, als ihm konstitutionell eigen sind: Auch wenn sich ein Risiko verwirklicht, fehlt es an Vollendung, wenn der Gesamtsaldo nicht verschlechtert wurde (was nur in denjenigen Fällen nicht Zufall ist, in denen der Täter das schon bestehende Risiko erkannt und einen plausiblen Handlungsanlaß hatte). Noch schwerer wiegt, daß bei dieser Lehre ein riskantes Verhalten nicht mehr (außerhalb von Rechtfertigungslagen) per se verboten ist, sondern nur in Situationen, in denen es den Chancensaldo verschlechtert. Dies schwächt nicht nur die Eindeutigkeit des Verbots; es suggeriert zudem, alle Güter seien über Quantitäten sinnvoll zu ordnen. Bei 12 Wenn das spätere Verhalten vollzogen wird, um den Schaden der primären Gefahr gering zu halten, verwirklicht sich die primäre Gefahr. Beispiel: Erschießt ein Landwirt sein Vieh, weil er es bei einem Brand nicht retten kann und ihm Qualen ersparen will, so ist dies eine Verwirklichung der Brandgefahr, also, sofern der Täter den Tod des Viehs durch Feuer wenigstens für möglich gehalten hatte, vorsätzliche Sachbeschädigung. 13 Gewiß tragen auch diese Delikte ihren Sinn nicht in sich selbst. Aber ein Sinn läßt sich nicht nur im aktuellen Güterschutz finden, sondern auch in der Tabuierung von Handlungen mit bestimmten Folgen für ein Gut. Daß die zuletzt genannte Sicht das Erfolgsdelikt in die Nähe abstrakter Gefährdungsdelikte rücken kann (oder, wenn der Täter das hypothetische Risiko nicht kennt, in die Nähe des Versuchs), wird eingeräumt und muß Konsequenzen für die Strafzumessung zeitigen; dazu eingehender Jakobs (Fn. 4), 7/92 ff.

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einem tauschbaren Gut mag das durchgehen, aber bei einem höchstpersönlichen Gut dürfte das Ansehen des Guts leiden, wenn man es ohne vernünftigen Grund vernichten kann, nur weil es sowieso nicht mehr zu retten ist. Beispiel: Geht ein Schiff mit seiner Besatzung unrettbar unter, so mag zweifelhaft sein, ob die Löcher, die jemand aus dürftigem Anlaß in die Bordwand schießt, noch Sachbeschädigungen sind; - die sich Quantifizierungen entziehende Höchstpersönlichkeit des Lebens dürfte entsprechende Zweifel am Totschlag bei Schüssen in die Köpfe der Besatzungsmitglieder nicht aufkommen lassen14. Schließlich schleppt diese Lehre die Bindung an ein identisches Gut wie einen Atavismus mit sich herum. Wenn man schon danach fragt, welche Chancen ein Gut seinem Inhaber noch bietet, so gehört zu einer vollständigen Antwort eine Verrechnung im gesamten Gutsbestand eines Inhabers (und es ist nicht einmal ausgemacht, daß es dabei bleibt; es läßt sich auch eine Berechnung des überpersönlichen Gesamtschadens oder Gesamtnutzens ausmachen). Beispielhaft gesprochen: Wenn man eine Sache zerstören darf, die sowieso verloren ist, müßte auch die Zerstörung einer gesicherten Sache tatbestandslos sein, falls ansonsten eine wertvollere Sache desselben Inhabers (zudem: wieso nur desselben Inhabers?) oder gar dessen Leib und Leben verloren wären. Daß das geltende Recht solche Konflikte erst auf der Rechtfertigungsebene verrechnet (mutmaßliche Einwilligung als Unterfall des rechtfertigenden Notstands), zeigt erneut, daß die Lehre nicht paßt.

III. 1. Mehrere Risiken können sich nicht gemeinsam verwirklichen, da ein Erfolg nicht mehr als einmal bedingt werden kann 15 . Freilich können für ein Risiko mehrere Personen zuständig sein, und wenn dies in Gestalt der Nebentäterschaft geschieht, mag der Eindruck erweckt werden, es gehe um mehrere Risiken. Aber dieser Eindruck trügt. Beispielhaft gesprochen": Wenn ein Automobil beim Uberholen eines Radfahrers 14 Ganz entsprechend gibt es bei § 34 StGB den Unterschied zwischen verrechenbaren und nicht verrechenbaren Gütern. 15 Die abweichenden Darlegungen bei Jakobs (Fn. 4), 7/84 beruhen auf einer zu engen Definition identischer Risiken; es geht bei richtiger Definition um ein geteiltes Risiko (bei dem die Teile in unterschiedlicher Zuständigkeit stehen können) oder um mehrfache Zuständigkeit für ein Risiko. Siehe im Text.

" In Anlehnung an B G H 11, S. 1 ff; für die Entscheidung kommt es nach den im Text noch zu entwickelnden Grundsätzen darauf an, ob für den Radfahrer bei ordnungsgemäßem Abstand ein Zusammenstoß vermeidbar gewesen wäre, während irrelevant ist, ob er seine Vermeidechance genutzt hätte (bei Vermeidbarkeit jedenfalls Haftung des Lastwagenfahrers): Motivation zur Wahrnehmung der Obliegenheiten zum Selbstschutz ist zu unterstellen, bis das Gegenteil perfekt ist, unten IV 2.

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einen Sicherheitsabstand einhalten muß, so hat dies mehrere Gründe. Ein schnurgerades Radfahren ist unmöglich; schon deshalb ist ein Mindestabstand nötig, bei dessen Berechnung auch berücksichtigt werden muß, daß man von einem Radfahrer nicht unter lebensgefährlichen Umständen Millimeterarbeit erwarten kann. Weiterhin, und darauf kommt es hier an, führen erfahrungsgemäß selbst ubiquitär-leichte Unaufmerksamkeiten (und sonstige Gründe) zu erheblichen Richtungsänderungen; der Mindestabstand muß also noch um eine Sicherheitsmarge ergänzt werden. Radfahrer wiederum haben darauf zu achten, möglichst geradlinig zu fahren, jedenfalls aber nicht in den hier als Sicherheitsmarge bezeichneten Bereich zu geraten; denn Automobile können aus unterschiedlichen Gründen in die Marge eindringen. Bei beiden Bedingungskomplexen - das Automobil gerät in die Marge und der Radfahrer ebenso - handelt es sich nur um die Teile eines einzigen Risikos: Ohne den jeweils anderen Teil besteht keine Erfolgsgefahr. Ein einziges Risiko kann etwa aus Gründen besserer Anschaulichkeit (von verschiedenen Seiten zusammentreibende Wetter ergeben ein Risiko eines Wirbelsturms) oder - hier - unterschiedlicher Zuständigkeiten in Teile zerlegt werden; so sind der Radfahrer wie der Autofahrer je für sich dafür zuständig, nicht in den Bereich der Sicherheitsmarge zu geraten. Mehrere Personen können - ohne Zusammenwirken - auch je für das ganze Risiko zuständig sein, und zwar wenn es die Aufgabe einer Person ist, Risiken zu paralysieren, die von einer anderen geschaffen werden. Beispiel: Ein Vater muß rechtswidrige Angriffe auf sein Kind verhindern oder abwehren. Auch bei naturwüchsigen Risiken kann eine Person dafür zuständig sein, schon die Entstehung oder aber die Verwirklichung zu hindern, so etwa wenn im Beispielsfall ein wildes Tier angreift. Wiederum geht es nicht um mehrere Risiken; vielmehr wird ein einziges Risiko (die Verletzung durch einen Angriff) einmal positiv (durch ein rechtswidriges Verhalten, durch Unglück) und einmal negativ (durch Nicht-Hinderung) benannt und erklärt. Besondere Schwierigkeiten entstehen, wenn die Bedingungen eines Risikos mehrfach gegeben sind und sich schon theoretisch nicht feststellen läßt, welche wirken: Es handelt sich um die Fälle, in denen sich gleichgerichtete oder entgegengesetzte physische oder psychische17 " So wohl im Sachverhalt zu B G H 13, S. 13 ff; dazu Leipziger Kommentar-Lackner, 10. Auflage, 18. Lieferung, 1979, § 2 6 3 Rdn. 117 mit umfassenden Nachweisen; Puppe, Z S t W 95, S. 2 8 7 ff, 2 9 8 f. - Angebliche Besonderheiten der meist so genannten psychischen Kausalität haben dazu veranlaßt, den Ersatz der kausalen „Erklärung durch eine „Erklärung" mittels Wahrscheinlichkeiten vorzuschlagen, und zwar mit einer den Bereich der psychischen Kausalität übergreifenden Wirkung; Puppe, S. 2 8 7 ff, 293 ff, 2 9 9 ff. Die Berechtigung dazu ist zweifelhaft. Puppe behandelt zunächst Fälle der Anstiftung oder

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Kräfte mischen und die Erfolgsverursachung nur von einem Mindestoder Höchstquantum abhängig ist. Beispiel: Ein Fußgänger tritt schnell und unvorsichtig auf eine verkehrsreiche Straße; er wird von einem Auto überrollt und verletzt, das schneller als zulässig fährt. Die Anwendung (auch) der Hypothesenformel als Erfahrungsregel versagt hier, weil die Erfahrbarkeit an eine Grenze stößt. Es sei unterstellt, folgender (vergröberte) Erfahrungssatz gelte: Fußgänger, die schnell und unvorsichtig die Straße betreten, werden auch von einem ordnungsgemäß fahrenden Auto erfaßt. Dies scheint eine Risikoverwirklichung des Risikos „Geschwindigkeitsübertretung des Autofahrers" auszuschließen, ist aber keine zutreffende Lösung, sondern eine gewaltige Verkürzung der anstehenden Problematik. Man stelle sich vor, der Fahrer verlange von dem Fußgänger Schadensersatz für eine im Blech entstandene Beule. Es wäre zu fragen, ob es einen Erfahrungssatz gibt: Autos, die so schnell fahren, wie geschehen, erfassen auch langsam und vorsichtig die Straße betretende Fußgänger. Dies mag ohne Widerspruch zu den bisherigen Annahmen bejaht werden, so daß auch das Geschwindigkeitsrisiko auszuscheiden scheint. Für die Hypothesenformel als Erfahrungsregel stellt sich hier also ein entsprechendes Dilemma ein, wie es für die Hypothesenformel im üblichen Verständnis bei vorhandenen Ersatzbedingungen stets besteht (oben I a. Ε., II 1): Trotz allseitigen Fehlverhaltens und trotz Vermeidbarkeit des Schadens bei allseitig richtigem Verhalten lassen sich die Bedingungen einer Risikoverwirklichung nicht beschreiben. Wendet man einen Erfahrungssatz darüber an, was geschähe, wenn beide Beteiligten sich richtig verhielten, scheint das Ergebnis evident zu Anregung oder sonstigen Beeinflussung (S. 294 f). Hierbei kommt es aber nicht darauf an, ob der Täter sich „determiniert" auf den Vorschlag einläßt; vielmehr genügt, daß eine eventuell erfolgende Einlassung jedenfalls auch durch den Vorschlag bedingt ist (ähnlich auch Puppe, S. 295). Damit sind freilich nicht die Fälle zu erledigen, in denen der Täter fremdpsychische Vorgänge nicht-ermöglicht (etwa durch Vorenthalten einer Information) oder hindert (etwa durch Verstopfen einer Informationsquelle). Was hierbei die Fälle angeht, in denen eine Rechtspflicht des Informationsempfängers bestand, die Information zu nutzen, ist, um dem Opfer die normative Garantie zu erhalten, von der rechtmäßigen Motivation des Empfängers auszugehen (so auch Puppe, S. 296), oder, wenn es sich beim zu Informierenden um das Opfer selbst handelt, etwa beim Betrug, von seiner Motivation zur Erfüllung seiner Obliegenheiten zum Selbstschutz (anders Puppe, S. 296). Es bleiben die Fälle, in denen der zu Informierende weder durch Pflichten (auch nicht solche gemäß § 3 2 3 c S t G B ) noch durch Obliegenheiten gebunden ist. E r mag aber durch sonstige Vernunftgründe beeinflußbar sein (ein Defizit an nachweisbarer Determination im naturwissenschaftlichen Verständnis heißt nicht zwingend, der Ablauf geschehe regellos); auf dem kognitiven Venrauen in solche Bindungen beruht die Besorgung alltäglicher· Angelegenheiten. Ist die Beeinflußbarkeit aber zweifelhaft, so ist bislang kein Grund dargetan worden, dem Täter mehr anzulasten als einen Versuch, wenn man überhaupt an der Trennung zwischen Versuch und Vollendung festhalten will.

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sein: Der Erfolg bleibt dann aus, also müßten sich beide Risiken zusammen verwirklicht haben. Diese Lösung wäre aber falsch; denn es handelt sich nicht um zwei Risiken, sondern nur um eines: Ein Fahrzeug und ein Fußgänger treffen so zusammen, daß Ausweichreaktionen nicht mehr möglich sind. Die Berechtigung zur Zusammenfassung der beiden Risiken „Geschwindigkeitsüberschreitung" und „unvorsichtiges Betreten der Straße" in einem allgemeinen Risiko ist freilich erläuterungsbedürftig: Die Einzelrisiken sind nicht in jedem Kontext zutreffend beschrieben; vielmehr paßt die Beschreibung nur, wenn die Zustände ansonsten nicht vom Sollzustand abweichen. Im Beispiel: Für sowieso unrettbar schnell und unvorsichtig auf die Straße eilende Fußgänger bringt die Geschwindigkeitsüberschreitung eines Automobils kein Risiko, sondern allenfalls eine Variation der Begleitumstände, und für sowieso unbeherrschbar schnell fahrende Automobile gilt entsprechendes bei Fußgängern, die schnell und unvorsichtig die Straße betreten. Eine Situation, in der ein Zusammentreffen von Fahrzeug und Fußgänger ohne Ausweichchance sowieso unvermeidbar ist, degradiert alternativ jedes der beiden genannten Einzelrisiken zum bloßen Auslöser variierter Begleitbedingungen. Im Kontext des jeweils anderen Einzelrisikos verlieren also beide ihre Erklärungskraft. Als erklärungskräftiges Risiko bleibt das von beiden Einzelrisiken spezifizierte allgemeinere Risiko: Zusammentreffen ohne Chance eines Ausweichens. Aber wer ist dafür zuständig? Bevor eine Antwort versucht wird, soll an einem weiteren Beispiel gezeigt werden, daß die Problematik auch ohne Zeitgleichheit der risikoschaffenden Verhaltensweisen und auch bei unvermeidbarem Verhalten entstehen kann: Das Seil eines Aufzugs bricht, als eine Last in den Korb geworfen wird; der Korb stürzt ab und verletzt einen Menschen. Einige Drähte des Seils waren beschädigt; deshalb trug es nur noch erheblich weniger als die zugelassene Höchstlast. Die eingeworfene Last war freilich erheblich schwerer als diese Höchstlast. Für beide Defektgründe mögen zu unterschiedlichen Zeiten verantwortliche Personen unsorgfältig gehandelt haben (das Seil bei Wartungsarbeiten beschädigt; das Bedienungspersonal mißverständlich beraten), oder für einen oder für beide mag die Schadensneigung nicht erkennbar gewesen sein. Es können also zwei vermeidbare Verläufe konkurrieren oder aber zwei unvermeidbar unglückliche Verläufe, oder es trifft ein vermeidbarer Verlauf mit einem Unglück zusammen. Nun scheint bei der Schadensrealisierung die Uberlast auf den ersten Blick keine Rolle zu spielen; der eventuell für die Last Zuständige könnte vorbringen, als die in den Korb geworfene Last gemäß den Regeln der Schwerkraft das Seil belastete, sei dies nur bis zu einem Gewicht geschehen, das geringer war als die zugelassene Höchstlast (denn sodann brach das Seil). Die Uberlast sei

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also Reservebedingung geblieben. Das ist freilich eine einseitige Erklärungsweise. Dagegen wird der eventuell für das Seil Zuständige vorbringen, ihm werde vorgeworfen, daß er einen rettenden Verlauf geschwächt, seil, einzelne Drähte des Seils beschädigt habe. Der Verlauf habe freilich wegen der Uberlast überhaupt keine Rettungschance geboten. Also biete die Uberlast die Erklärung des Unglücks, und die Beschädigung sei Reservebedingung geblieben. Abstrakt: Ein Plus an zerstörender Kraft ist die Kehrseite eines Minus an rettender Kraft. Beide Argumentationen treffen insoweit zu, als jedes der Risiken im Kontext des gegebenen anderen Risikos nur Begleitbedingungen variiert; eine Überschreitung der Sollast ist nur riskant, wenn die Solltragfähigkeit erreicht wird und umgekehrt. Aber beide sind insofern unvollständig, als sich das von beiden spezifizierte allgemeinere Risiko: Last größer als Tragfähigkeit, verwirklicht. Erfahrung kann bei dieser Lage nicht helfen: Der Schadensverlauf bei „überbedingten" Erfolgen ist immer nur mehrdeutig erfahrbar. Erhöht man in einem Experiment zum eben genannten Beispiel die Tragkraft bis zum Sollwert, so erhält man dasselbe Ergebnis wie bei einer Verminderung der Last bis zum Höchstzulässigen. Eine Entscheidung kann nur nach dem Zweck strafrechtlicher Zurechnung erfolgen. Danach scheidet die Lösung aus, bei „überbedingten" Erfolgen überhaupt niemanden zuzurechnen; denn eine solche Lösung nähme den Gütern bezüglich derjenigen Risiken die normative Garantie, die von anderer Seite sowieso bedingt werden. In dem Beispielsfall eines abstürzenden Aufzugs würden also bei mangelnder Sorgfalt weder der für die Seile noch der für das Beschickungsgewicht Zuständige haften, wenn nur der jeweils andere gleichfalls unsorgfältig vorginge. Aber auch die Lösung, bei allseitigem Fehlverhalten alle Beteiligten zusammen haften zu lassen, ist nicht durchführbar. Dies wird in denjenigen Fallgestaltungen deutlich, in denen das Risiko schon perfekt bedingt ist (die Seile irreparabel beschädigt), wenn nochmals ein hinreichendes Maß an Bedingungen hinzugefügt wird (der Korb überladen). Eine N o r m kann bei solcher Lage kein Gut mehr schützen, auch nicht mehr ein ohnehin verlorenes Gut vor einem Austausch des Risikos, sondern kann nur noch Variationen innerhalb des Verlaufs eines identischen Risikos verbieten oder - bei Unterlassungsdelikten - gebieten. Auch wenn der zweite Bedingungskomplex ebenso gut wie der erste als der wirkende definiert werden kann 18 , ersetzt er doch allenfalls, was " Anders verhält es sich bei der Leistung vori Substanzen (Gift etc.); es kann dann zwar zu Vermischungen und dadurch zu einer gemeinsamen Verwirklichung kommen, aber die Anteile der einzelnen Leistungen am Schadensverlauf bleiben - zumindest in der Theorie immer trennbar. Beispielhaft gesprochen: Wird das Wasser eines Brunnens von mehreren

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schon geleistet ist. Wenn schon eine Unterscheidung der Bedingungen nach wirkenden und nicht wirkenden unmöglich ist, bleibt nur eine quantitative Ordnung, und bei dieser ist der einzig sachgerechte Ordnungsaspekt der Ubergang von einer nicht hinreichenden zu einer hinreichenden Quantität19. Liegt also schon eine hinreichende Quantität vor, ist alles, was hinzukommt, für die Risikoverwirklichung irrelevant. "Überbedingen" ist demnach nicht auch ein Bedingen im Sinn der objektiven Zurechnung, oder für Unterlassungsdelikte formuliert: Das Unterlassen, einen schon theoretisch untrennbaren Bedingungskomplex von einem Ubermaß auf ein immer noch hinreichendes Maß zu reduzieren, kann keine objektive Zurechnung der Erfolgsverwirklichung begründen. Im Beispielsfall heißt dies: Bei einem perfekt überladenen Aufzug haftet nicht, wer die sowieso schon zu schwachen Seile weiter schwächt, oder - bei Unterlassung - nicht bis zu einer sowieso zu geringen Sollstärke verstärkt; entsprechend verhält es sich bei perfekt zu schwachen Seilen, wenn das Gewicht erhöht oder nicht reduziert wird. 2. Es bleibt zu bestimmen, wann ein Bedingungsquantum perfekt ist. Da sich im Netz der Entstehungszusammenhänge mit Hilfe bloßer Kausalanalyse ohne Willkür keine Schnitte anbringen lassen, muß eine Entscheidung wiederum am Zweck der strafrechtlichen Zurechnung ausgerichtet werden. Sinnvolle Aussagen lassen sich also nur treffen, wenn ein Geschehen zumindest als zurechnungsrelevant denkbar ist, das heißt, es muß sich um ein vermeidbares Verhalten handeln oder aber um ein unvermeidbares von der Art, daß es eine nachfolgende Haftung (Ingerenz) begründen kann. O b beispielsweise beim selbstmörderischen Sturz eines Menschen von einem 25 m hohen Turm auf steinernen Boden das Risiko der Beschleunigung (die freilich bei halber Höhe auch zu einem tödlichen Schädelbruch geführt hätte) oder der Härte des Bodens (aber auch weiches Erdreich hätte wegen der Höhe einen Schädelbruch nicht verhindert) den tödlichen Schädelbruch erklärt, ist eine Frage, die strafrechtlich nicht sinnvoll beantwortet werden kann. Personen unabhängig voneinander in gleicher Art verschmutzt, mag bei einer Erkrankung derjenigen, die das Wasser getrunken haben, praktisch nicht zu ermitteln sein, welcher Täter für die aktuell wirkenden Krankheitserreger zuständig ist; in der Theorie ist die Zuordnung freilich immer eindeutig. Es wird nicht behauptet, diese an eine Substanz oder an eine Substanzart gebundene Betrachtung sei notwendig; sie ist aber üblich, wenn auch nicht unstreitig: für Kausalität aller Leistenden Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Auflage, 1969, § 9 II d; Tarnowski, Die systematische Bedeutung der adäquaten Kausalitätstheorie für den Aufbau des Verbrechensbegriffs, 1927, S. 45 ff. Ob sie überwunden werden könnte (etwa durch eine Konzeption, die auf die Richtung des Schadensverlaufs abstellt), wird hier nicht mehr untersucht. " Für den Rücktritt heißt das: Wer die Gesamtquantität an Bedingungen um das von ihm geleistete Maß reduziert, hat den eigenen Tatbeitrag paralysiert, auch wenn die Restmenge hinreichend bleibt.

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Weiterhin heißt eine Entscheidung nach dem Zurechnungszweck, daß von dem Zeitpunkt an, in dem das identische Risiko durch Normbefolgung nicht mehr beeinflußbar ist, auch keine Pflichten zur Vermeidung dieses Risiko mehr bestehen können (wohl aber noch Pflichten zur Vermeidung abstrakter Gefährdungen). Beispiel: Wer das Seil kappt, das zu schwach ist, den Abstürzenden aufzufangen, oder wer dem schon Abstürzenden noch einen Stoß gibt, haftet nicht für den kommenden Schadensverlauf. Nie durch Normbefolgung beeinflußbare Risiken schließen überhaupt strafrechtliche Haftung für dieses Risiko aus. Kein Statiker haftet also für den Einbruch eines schlecht konstruierten Daches unter einer extremen Schneelast, der auch ein Dach mit Sollwerten nicht gewachsen gewesen wäre. Unvermeidbar riskantes menschliches Verhalten schließt aus den genannten Gründen Haftung für das identische Gut immer dann aus, wenn nicht eine Ingerenzhaftung nachfolgt. Beispiel: Wer einem abgestellten Fahrzeug, das wegen eines unvorhersehbaren Defekts der Bremsen plötzlich auf eine Straße rollt, noch einen beschleunigenden Stoß gibt, haftet jedenfalls dann nicht für den kommenden Schadensverlauf, wenn der Sicherungspflichtige ansonsten das Fahrzeug auch nicht hätte anhalten können. Ein Risiko kann nicht nur - wie in den bisher genannten Fällen perfekt sein, weil die Kräfte des Menschen zur Beherrschung riskanter Verläufe von Natur aus beschränkt sind, sondern ihm kann von seinem Urheber auch die Bedeutung beigelegt werden, perfekt zu sein. Das ist der Fall, wenn ein Mensch das Risiko vermeidbar aus seinem Organisationskreis entläßt, ohne zugleich die Revokation des Risikos zu organisieren oder zuvor organisiert zu haben. Einzelheiten gehören zur Lehre von der materiellen Versuchsbeendigung, die hier nicht vorangetrieben werden kann20. Mit dem Entlassen aus der Organisation wird expressiv gemacht, daß der weitere Verlauf nicht in acht zu nehmen sein soll. Wenn also im schon mehrfach genannten Beispielsfall eines Unfalls mit einem Lastenaufzug der für die Montage der Seile Zuständige falsch montiert und sodann den Betrieb freigibt, ist das Risiko perfekt, auch wenn er sich jederzeit eines Besseren besinnen und den Betrieb sofort anhalten könnte und müßte; wird der Aufzug nach der Freigabe auch noch überladen, so ist dies nur eine Variation von Begleitbedingungen innerhalb des schon perfekten Risikos21. Tritt der erste dann doch noch Siehe Jakobs, Z S t W 97, S. 751 ff, 761 ff. Die Lösung gilt auch bei der Kausalität in der Gestalt des Abbruchs rettender Verläufe. Ein Verlauf ist nur rettend, solange nicht sein Abbruch perfekt bedingt ist. Es kommt nicht darauf an, ob ein als rettend gedachter Impuls oder etwas ähnliches irgendwo realiter aufgehalten wird, sondern ob die Bedingungen der Rettung oder die Bedingungen des Abbruchs der Rettung perfekt sind. Beispiel: W e r - ohne sich eine Revokation vorzubehalten - nach einem Verkehrsunfall einen Verletzten so verbirgt, daß ihn der 20 21

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zurück22, wird freilich das „Überbedingen" dadurch zum „Bedingen" im Sinn der Zurechnungslehre. Das ist keine Besonderheit der hier behandelten Risikokonkurrenzen; auch wer zu einem schon perfekten Risiko ein anderes Risiko als Äeicrwrisiko schafft, wird für den Fall, daß der für das zunächst perfekte Risiko Zuständige zurücktritt, zum Urheber des sich verwirklichenden Schadensverlaufs. Die Anwendung der genannten Regeln wird in der Praxis häufig an der Unmöglichkeit eines exakten Beweises scheitern, insbesondere in Straßenverkehrssachen mit nahezu zeitgleichen Verhalten verschiedener Personen. Auch dies ist freilich keine Besonderheit dieser Fallgruppe, sondern von allen Risikokonkurrenzen her bekannt.

Notarzt nicht finden kann, schafft ein Risiko, das sich zwar nicht verwirklicht, wenn der Notarzt der Verletzung sowieso nicht gewachsen war (der Verlauf zur Tatzeit war nicht mehr rettend), wohl aber dann, wenn der Notarzt nach dem Verbergen von einer dritten Person rechtswidrig festgehalten wird (die dritte Person handelt, wenn der Verlauf schon nicht mehr rettend ist, der Verlust der Rettungsmöglichkeit wird also nur „überbedingt"). - Rettende Verläufe, die von Menschen betrieben werden müssen, die nicht Garanten (sondern allenfalls nach §§323 c, 138 StGB verpflichtet) sind, stehen natürlichen Verläufen gleich: Wird die Rettung nicht durchgehalten werden, so ist der Verlauf auch zu keinem Zeitpunkt vor dem Abbruch rettend. Beispiel: Wer eine hilfswillige, aber nicht hilfspflichtige Person festhält, die freilich im nächsten Gasthaus ihre Hilfspläne sowieso vergessen hätte, bricht keinen rettenden Verlauf ab (anders bei Garanten, bevor diese den Rettungsabbruch perfekt gemacht haben). - Der perfekte Abbruch erklärt den Schadensverlauf nur, wenn er nicht Reserverisiko bleibt, wenn also das Ereignis, das als Blockade einer Rettungsbahn o. ä. definiert wird, (a) aufgrund der Abbruchbedingungen auch (b) eintritt und (c) zu diesem Zeitpunkt der rettende Verlauf zum Gutserhalt noch nötig ist (mag er auch, bei a bis c, schon realiter anderweitig aufgehalten worden sein), (a) Wenn in Engischs (Kausalität, Fn. 7, S. 15) „spitzem" Beispiel ein Täter uno actu den Scharfrichter wegstoßend, das Fallbeil ausklinkt und so den rettenden Blutkreislauf (!) des Opfers unterbricht, mag zwar die Unterbrechung schon durch den Scharfrichter perfekt bedingt gewesen sein (wenn nämlich dieser seinen Bewegungsablauf nicht mehr anhalten konnte), aber diesem Bedingungskomplex wird durch das nachfolgende Wegstoßen die Eigenschaft genommen, einen rettenden Verlauf abbrechen zu können (nicht weil der Täter realiter unterbricht, sondern weil der Impuls des Scharfrichters danebengeht!). - Ist ein Mensch so vergiftet worden, daß ein baldiges Versagen der Nieren (Nierenfunktion als rettender Verlauf!) bedingt ist, wird er aber alsbald erschlagen, verwirklicht sich das Risiko des Abbruchs der Nierenfunktion nicht, und zwar weil entweder (b) das Gift nach dem Erschlagen nicht in die Niere transportiert wird oder jedenfalls (c) die Nierenfunktion zur Zeit der Zerstörung des Organs keine Rettung eines Guts mehr leisten kann. Würde man beim Abbruch rettender Verläufe nicht prüfen, ob sich das Abbruchsrisiko verwirklicht, so wäre in den meisten praktisch relevanten Fällen die Rechtsgutschancensaldierung durch die Hintertür eingeführt: Insbesondere Veränderungen an Organismen lassen sich stets auch als Abbruche rettender Verläufe (Blutkreislauf, Stoffwechsel) formulieren. Jede durch irgendein Risiko bedrohte organische Funktion könnte ohne Zurechnung durch jedes andere Risiko ausgeschaltet werden: Die Funktion wäre bei sowieso bedingtem Abbruch nicht mehr rettend. 11

Zu den Rücktrittsvoraussetzungen bei „überbedingten" Erfolgen siehe oben Fn. 19.

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IV. 1. Es soll noch etwas detailliert werden, nach welchen Grundsätzen der erfahrbare Zusammenhang einer Risikoverwirklichung ausgewählt wird, zu dessen Konkretisierung die Hypothese dienen soll. Bei der Prüfung, ob eine Körperbewegung einen Erfolg bedingt, wird in der Hypothese (also im angebotenen Experiment zur Demonstration eines wirklichen Zusammenhangs, oben II 1) die Körperbewegung durch Körperruhe ersetzt. Bei der Prüfung einer Risikoverwirklichung muß differenzierter verfahren werden. Würde in der Hypothese statt Körperbewegung Körperruhe eingesetzt - oder beim Unterlassungsdelikt statt Körperruhe eine bestimmte Bewegung - , so würde überspielt, daß regelmäßig eine Menge anderer Verhaltensweisen denkbar sind, die gleichfalls das Recht nicht brechen, wobei häufig Körperbewegung und unterlassene Beherrschung der Organisation, also Begehung und Unterlassung, aufs engste ineinander verschachtelt vorliegen. Rechtmäßige Alternative zu einem zu schnellen Autofahren am Ortseingang mit der Folge eines Unfalls ist jedenfalls das Unterlassen dieses Verhaltens; ins Positive gewendet kann dies freilich Verschiedenes heißen": rechtzeitig vorher Bremsen; rechtzeitig vorher Aufhören, das Fahrzeug zu beschleunigen; Anhalten; Stehenbleiben etc.; ja selbst vorher trotz Verbots Abbiegen ist zwar Unrecht, aber eben nicht dasjenige des Uberschreitens der Geschwindigkeit innerhalb von Ortschaften. Es ließe sich nun - zumindest theoretisch - ermitteln, was bei dominanter Motivation zur Normbefolgung, also hypothetisch, als Verhalten vollzogen worden wäre und ob in der Hypothese der Schadensverlauf vermieden worden wäre. Im genannten Beispiel hätte sich vielleicht ein eiliger Fahrer dazu entschlossen, kurz vor dem Ortsschild in eine Umgehungsstraße abzubiegen; der Unfall wäre dann ausgeblieben. Ein solches Verfahren kann brauchbare Ergebnisse zeitigen, verfehlt aber den Zweck der gerade übertretenen Norm: Umgehungsstraßen dienen zwar manchmal dem zügigen Vorankommen, und ihre Einrichtung hat dann auch den Zweck, Unfälle in der Ortschaft durch eilige Autofahrer zu vermeiden, aber Geschwindigkeitsbeschränkungen in einer Ortschaft dienen - solange man sie nicht mißbraucht - nur dazu, die Gefahr schnellen Fahrens auf die Gefahr mäßigen Fahrens zu reduzieren, nicht aber auch dazu, die Gefahr des Fahrens überhaupt auszuschalten. Deshalb ist bei der Bildung der Hypothese ohne Blick auf die dem Täter naheliegenden Verhaltensalternativen dasjenige Verhalten einzusetzen, das einzig die normzweckwidrige Gefahr ausschaltet. Das Verhalten des Täters wird also in der

» Dazu Puppe (Fn. 8), S . 6 6 0 f f , 662f; dies. (Fn.17), S . 2 9 0 f ; Niewenhuis S. 57 ff und passim.

(Fn. 8),

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H y p o t h e s e n u r b e s c h r ä n k t u m g e b i l d e t . W a s g e n a u z u ä n d e r n ist, läßt sich n i c h t allgemein b e s c h r e i b e n , s o n d e r n folgt aus d e m Z w e c k

der

betreffenden N o r m . Beispiele: Soll d u r c h eine N o r m n i c h t die B e f i n d lichkeit an e i n e m Richtung

bestimmten

einer B e w e g u n g

Ort

verhindert

an diesem

Ort

sondern

die

(auf E i n b a h n s t r a ß e n ,

werden,

auf

r e c h t e n o d e r linken F a h r b a h n s e i t e n e t c . ) , so ist in d e r H y p o t h e s e der T ä t e r n i c h t als a b w e s e n d z u d e n k e n , s o n d e r n als u n b e w e g t o d e r als sich in a n d e r e r R i c h t u n g f o r t b e w e g e n d 2 4 ; g e h t es u m die Q u a n t i t ä t

eines

M e r k m a l s , so ist dieses in d e r H y p o t h e s e bis z u m s c h o n E r l a u b t e n z u v e r g r ö ß e r n (7 kg D r u c k auf ein B r e m s p e d a l statt 4 kg, d u r c h Z u t r e t e n U n t e r l a s s u n g s d e l i k t - o d e r d u r c h N i c h t - U n t e r b r e c h e n einer a u t o m a t i s c h e n B r e m s a n l a g e - B e g e h u n g s d e l i k t ) o d e r z u verkleinern ( 5 0 S t u n d e n k i l o m e t e r statt 7 0 S t u n d e n k i l o m e t e r , d u r c h s c h w ä c h e r e s G a s g e b e n

-

B e g e h u n g s d e l i k t - o d e r d u r c h A b b r e m s e n - U n t e r l a s s u n g s d e l i k t ) etc. 2. D a b e i k o m m t es n i c h t darauf an, o b der T ä t e r in d e r

konkreten

Situation ein solches V e r h a l t e n vollziehen k ö n n t e , s o n d e r n allein darauf, d a ß er es d ü r f t e ; d e n n es ist Z w e c k einer N o r m , planbar

Schadensver-

läufe a u s z u s c h a l t e n . Z u f a l l s v e r m e i d u n g e n sind s o irrelevant, w i e in der U m k e h r u n g U n g l ü c k irrelevant ist. D i e Situation m u ß also s t a n d a r d i siert werden 2 5 . D a d u r c h w i r d d e m O p f e r eine C h a n c e auf G l ü c k g e n o m -

A.A. BGH 10, S.369ff. Die Rechtsprechung kann mit ihrer Formel Zufallslösungen nicht ausschalten: „Die Frage, welches Verhalten... verkehrsgerecht gewesen wäre, ist . . . im Hinblick auf die Verkehrswidrigkeit zu beantworten, die als unmittelbare (?) Unfallursache in Betracht kommt, während im übrigen von dem tatsächlichen Geschehensablauf auszugehen ist"; BGH 24, S.32ff, 34; 33, S.61 ff, 63. Im „tatsächlichen Geschehensablauf" können sich die sonderbarsten Schadens- und Rettungsverläufe verbergen, die durch den Wandel des verkehrswidrigen Verhaltens in verkehrsgerechtes Verhalten freigesetzt werden, wie es etwa beim Sachverhalt zu B G H 33, S. 61 ff der Fall war: Wäre der Fahrer eines Autos nicht zu schnell gefahren, hätte zwar der Bremsweg auch nicht ausgereicht, aber die Bremsverzögerung hätte intensiver eingesetzt, und das Opfer hätte den Unfallort deshalb schon zufällig, nicht unter Nutzung einer planbaren Rettungschance - verlassen gehabt, wenn der Täter es erreicht hätte; ebensogut (bei geringfügig anderem Eigentempo oder Ausgangsort) hätte das Opfer bei überhöhtem Tempo nur gestreift, aber bei ordnungsgemäßem Tempo voll erfaßt werden können. Zutreffend kritisch zu der Entscheidung Puppe, JZ 1985, S. 295 ff; Ebert, J R 1985, S. 356 ff; Streng, NJW 1985, S. 2808 ff. Natürlich kann die Rechtsprechung ihre Formel vom „im übrigen . . . tatsächlichen Geschehensablauf" bei konkurrierendem Fehlverhalten dritter Personen nicht durchhalten, weil sonst die normative Garantie verlorenginge; B G H 30, S. 228 ff; dazu oben Fn. 8. Daß freilich ein konkurrierendes Fehlverhalten des Opfers anders zu behandeln sein soll (a.a.O., S.231), wird nicht begründet und ist auch - selbst von der Zurechnungslehre des BGH aus - nicht begründbar. Zutreffend kritisch Ranft (Fn. 4), S. 1425 ff, 1426. - Zur Unbrauchbarkeit des Grundsatzes der Rechtsprechung, es sei für die Hypothese zeitlich auf den „Eintritt der konkreten kritischen Verkehrslage" abzustellen (a. a. O.), siehe Puppe (Fn. 8), S. 662 f; Niewenhuis (Fn. 8), S. 80 ff. 21

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men: Wenn eine Straße so schmal ist, daß ein breiter Lastwagen in ordnungsgemäßem Abstand nicht überholen könnte (freilich wiederum nicht so schmal, daß mit Lastwagen überhaupt nicht mehr gerechnet werden muß), wird bei der Prüfung, ob sich das Risiko eines Überholens mit zu geringem Seitenabstand verwirklicht hat, in der Hypothese doch ein in ordnungsgemäßem Abstand überholender Lastwagen eingesetzt. Das Opfer wird aber auch von Unglück entlastet: Daß bei ordnungsgemäßem Abstand, wäre er wirklich eingehalten worden, etwa ein Ast eines Chausseebaums ein Stück der Ladung des Lastwagens heruntergerissen hätte und die Ladung auf das Opfer gestürzt wäre etc., wird auch nicht berücksichtigt 26 . Sollen Zufallsergebnisse vermieden werden, so muß auch das Verhalten des Opfers in der Hypothese standardisiert werden. Ein Verhalten, das vom Opfer vollzogen worden wäre und das Rettung gebracht hätte, wird nur berücksichtigt, wenn es planvoll zur Rettung geführt hätte27. Zum Ausgleich dafür wird ein zufällig schadenbringendes Verhalten gleichfalls nicht eingesetzt. Beispiel: Ein Fahrzeug gerät in einer Kurve auf einer Ölspur bei überhöhtem Tempo ins Schleudern und verletzt einen Radfahrer; bei der Hypothese eines ordnungsgemäßen Tempos ergibt sich ein gleichfalls, aber langsamer (oder in eine andere Richtung) schleuderndes Fahrzeug; bei dieser Lage kommt es nur dann darauf an, daß die Kollision wegen des geringen Schleudertempos (oder wegen der anderen Schleuderrichtung etc.) ausgeblieben wäre, wenn die gewonnene Zeit (oder die geänderte Richtung) generell planvoll nutzbare Rettungschancen eröffnet hätte. Im Gegenzug wird das Opfer von dem Risiko entlastet, daß die Kollision bei ordnungsgemäßem Tempo zufällig schlimmere Folgen hätte haben können. Vorhandene Sonderfähigkeiten oder - gewichtiger - Sonderunfähigkeiten des Opfers spielen wegen der Notwendigkeit einer Standardisierung zur Vermeidung von Zufallsentscheidungen nur dann eine Rolle, wenn es - bei Fähigkeiten - Obliegenheit des Opfers ist, besondere Leistungen zu erbringen (professionelle Hochgeschwindigkeitsrennen; sorgloses Uberqueren der Straße im Vertrauen auf die eigene Spurtkraft, falls ein Auto kommen sollte), oder - bei Unfähigkeiten - Obliegenheit des Täters, sich darauf einzustellen (vor Schulen, Altersheimen), mit 24 Beim Abbruch rettender Verläufe (dazu oben Fn. 21) ist zu beachten, daß der Abbrechende nur über die Beeinträchtigung des rettenden Verlaufs mit dem Schadensverlauf verbunden ist. Wäre der Verlauf zufällig doch nicht rettend gewesen, so fehlt eine Erfolgsverursachung. Dies darf nicht durch Standardisierungen übersprungen werden. Beispiel: Wer ein Rettungsfahrzeug aufhält, das aufgrund absonderlich unglücklicher Verwicklungen nicht am Rettungsort angekommen wäre, bricht keinen rettenden Verlauf ab. 27 Anders B G H 33, S. 61 ff; dazu F n . 2 5 .

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anderen Worten, wenn sie das erlaubte Risiko mitbestimmen. Muß etwa vor dem Eingang eines Altersheims besonders langsam gefahren werden, weil den alten Menschen Ubersicht und Behendigkeit abgeht, ist dem Opfer eines Verkehrsunfalls (auch wenn es kein alter Mensch ist) bei der Hypothese eines korrekten Verhaltens des Autofahrers (also bei der Hypothese besonders langsamen Fahrens) auch nur eine reduzierte Fähigkeit gutzubringen, sich zu retten28. - Im Normalfall sind normale Fähigkeiten anzusetzen: Wenn sich ein Opfer beim hypothetisch ordnungsgemäßen Verhalten eines Kraftfahrers nur wegen einer zufällig vorhandenen Sonderfähigkeit (professioneller Sprinter) hätte retten können, begründet das keine Risikoverwirklichung, wie es in der Umkehrung keine Verwirklichung hindert, wenn ein üblicherweise gelingendes Ausweichen wegen eines akuten Wadenkrampfs undurchführbar gewesen wäre. Daß bei Sonderfähigkeiten des Täters, die ihm ein ansonsten normwidriges Verhalten erlauben, in der Hypothese vom Gebrauch der Fähigkeiten auszugehen ist, dürfte evident sein. - Sonder«wfähigkeiten werden nur berücksichtigt, wenn es eine Möglichkeit gibt, sich mit dem Gebrechen erlaubt riskant zu verhalten29. Hauptbeispiel: Kein Autofahrer kann sich darauf berufen, auch bei ordnungsgemäßem Tempo wegen Trunkenheit nicht in der Lage gewesen zu sein, einen Unfall zu vermeiden. Bei Sonderfähigkeiten des Täters, die sich auf das erlaubte Risiko nicht auswirken, also bei an sich überobligationsmäßigen Fähigkeiten (etwa eine besondere, bremswegverkürzende Anlage in einem Automobil), ist zu unterscheiden: Ist das Opfer vor dem Täter oder gleichrangig mit ihm für den Schadensverlauf zuständig, wird die Sonderfähigkeit in der Hypothese nicht berücksichtigt; denn wer sich einem Risiko selbst aussetzt, darf zwar eine den Regeln entsprechende Beherrschbarkeit des Risikos erwarten, aber für alles darüber hinaus muß er selbst sorgen. Beispiel: Torkelt ein Betrunkener auf eine Autobahn und wird dort von

21 Weil sich der Normzweck ändert, ändert sich auch die Entscheidung dann, wenn ein allgemeines Vertrauen auf eine „Verkehrsberuhigung" berechtigt ist, etwa weil ein spezieller Zweck einer Geschwindigkeitsbeschränkung weder mitgeteilt wird noch offenkundig ist. 29 Das ist immer dann der Fall, wenn das allgemeine Lebensrisiko nicht überschritten wird. Wer beispielsweise im Schrittempo auf abgelegener Straße ein Auto mit abgefahrenen Reifen führt, erhöht nicht das allgemeine Lebensrisiko, solange es nicht verboten ist, einen entsprechend bereiften Karren entsprechenden Gewichts zu schieben. Wer freilich stark betrunken im Schrittempo mit dem Auto fährt, hält sich dann nicht im allgemeinen Lebensrisiko, wenn die Gefahr besteht, daß durch eine Fehlreaktion etwa das besondere Beschleunigungsvermögen eines Automobils realisiert wird. Siehe Jakobs, Beiheft ZStW 1974, S. 6 ff, 14 f; ders. (Fn.4), 7/42 ff.

R i s i k o k o n k u r r e n z - S c h a d e n s v e r l a u f u. V e r l a u f s h y p o t h e s e im Strafrecht

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einem zu schnell fahrenden Auto erfaßt, so wird bei der Prüfung, ob der Unfall auf dem überhöhten Tempo beruht, ein vorhandenes bremswegverkürzendes Hilfssystem nicht in die Hypothese eingesetzt30 (während Sonderfähigkeiten des Opfers hier einzusetzen sind). Ist aber der Täter vor dem Opfer zuständig, wird also das Risiko dem Opfer aufgedrängt, so ist es Angelegenheit des Täters, Rettungsmittel zu besorgen; in die Hypothese ist demnach einzusetzen, was dem Täter erreichbar ist. Beispiel: Gerät ein Autofahrer auf den Bürgersteig und verletzt einen Passanten, so ist bei der Prüfung, ob dies auf seiner Unaufmerksamkeit oder auf zu hohem Tempo etc. beruht, die Hypothese unter Berücksichtigung aller Sonderfähigkeiten zu bilden (während Sonderfähigkeiten des Opfers hier wegzulassen sind). Der Argumentationsgang entspricht nicht zufällig demjenigen bei der Begründung einer Ingerenzhaftung (und auch dem Gang bei der Lösung einiger Konstellationen der Pflichtenkollision): Wer einem anderen Sonderrisiken aufdrängt, muß schädliche Folgen auf eigene Kosten verhüten oder revozieren, so wie dritte Personen die Verhütung oder Revokation auf seine Kosten betreiben dürfen (seil, im aggressiven Notstand oder in Notwehr) 31 . Mit welchem Verhalten Täter wie Opfer und auch dritte Personen in die Hypothese einzusetzen sind, läßt sich also knapp beantworten: mit dem Verhalten, für das sie Garant sind oder das - bei Selbstverletzung - ihnen obliegt32. Geht es freilich darum, ob eine Person auf ein falsches Verhalten einer anderen Person hin ihrerseits falsch reagiert hat, so darf natürlich das falsche Verhalten der anderen Person nicht per Hypothese beseitigt werden. Beispiel: Unternimmt ein Vater für seinen Sohn während eines länger dauernden rechtswidrigen Angriffs von dritter Seite nur einen dubiosen Rettungsversuch, so ist bei der Prüfung, ob ein anderes Verhalten den Sohn besser geschützt hätte, der Angriff so in die Hypothese einzubringen, wie er stattfand.

30 Wird in Wirklichkeit in einer Situation ohne vorrangige Zuständigkeit des Täters der Einsatz einer Sonderfähigkeit unterlassen, richtet sich die Haftung nach § 323 c StGB. 51 Siehe Jakobs (Fn.4), 15/12, 29/14, 29 ff. 52 Zur - bei Obliegenheitsverletzungen - abweichenden Entscheidung der Rechtsprechung siehe oben Fn. 25; zu den unterschiedlichen Lösungen in der Literatur oben Fn. 8.

Zum Begriff der Rechtfertigung im Strafrecht EBERHARD SCHMIDHÄUSER

I. Der Ausgangspunkt Rechtfertigung ist immer Rechtfertigung menschlichen Verhaltens. Sie setzt voraus, daß an diesem Verhalten - ganz allgemein gesagt: etwas Anstößiges ist. In der Rechtfertigung wird dargetan, daß man sich trotz dieses Anstößigen so verhalten darf (oder durfte). Die Umgangssprache ist eindeutig. „Sich rechtfertigen" heißt: aufzeigen, daß man sich trotz des Anstoß erregenden Moments richtig verhält (oder verhalten hat). Das gilt schon für im übrigen ganz harmlose Handlungen: Wer in seinem Garten nicht Tulpen-, sondern Narzissenzwiebeln steckt, rechtfertigt gegenüber der Familie sein Abweichen von dem gemeinsam besprochenen Gartenplan damit, daß auf dem Markt nur Tulpenzwiebeln minderer Qualität angeboten worden seien. - Wer als Dirigent an einer bestimmten Stelle der Symphonie von der Tempobezeichnung des Komponisten abweicht, rechtfertigt sich gegenüber dem Orchester mit dem Hinweis auf ein bestimmtes Verständnis des Musikwerkes. - U n d wenn Schiller zu Goethes Idylle „Alexis und D o r a " Anstoß daran nimmt, daß so dicht auf ein Erlebnis erster Liebe die Eifersucht folge, dann beendet Goethe die Erklärung seines dichterischen Vorgehens (im Brief vom 22.6.1796) mit dem Satz: „So viel zur Rechtfertigung des unerklärlichen Instinktes, durch welchen solche Dinge hervorgebracht werden." Die Rechtfertigung bedeutet demnach immer die Bewertung eines Verhaltens in zwei Stufen (mag es dabei um eine moralische, ästhetische oder sonstige Bewertung gehen) : zunächst wird dieses Verhalten in einer bestimmten Wertwidrigkeit gesehen, dann in seinem Zusammentreffen mit einer Wertverwirklichung, wobei sich ergibt, daß diese Wertverwirklichung die zunächst festgestellte Wertwidrigkeit in der Gesamtbewertung zurücktreten läßt. Es ist also nicht von ungefähr, wenn man auch im Strafrecht von „Rechtfertigung" spricht. Auch hier geht es um ein Zusammentreffen von Werten in einer konkreten Situation: ein Wert wird zurückgesetzt, einem anderen wird entsprochen. O f t ist es schon rein äußerlich erkennbar: ein Objekt wird verletzt, weil nur so ein anderes, meist ein höher bewertetes, gerettet werden kann.

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Diese Struktur ist es, auf die uns das Wort „Rechtfertigung" hinführt. Allerdings geht es im Strafrecht nie darum, daß „sich" der Betroffene (gemeint ist dann der „Täter") „rechtfertigt"; vielmehr ist in der Strafrechtsanwendung lediglich festzustellen, daß sein Verhalten gerechtfertigt ist, d. h. daß er sich so verhalten durfte. Ob der Betroffene „sich" in Rede und Gegenrede „rechtfertigt", ist immer unerheblich. Wenn auch der strafrechtliche Begriff von Rechtfertigung mit der Kollision von Werten zu tun hat, dann läßt sich auch diese Kollision nur in zwei Stufen erfassen, falls sie vorliegt. Auf der ersten Stufe wäre die Wertverletzung festzustellen. Nur wenn sie gegeben ist, kann es auf Rechtfertigung ankommen; ihre Feststellung bleibt der zweiten Stufe vorbehalten. Rechtfertigung wäre dann gegeben, wenn auf dieser Stufe ein wertbejahendes Geschehen festzustellen wäre, das den Unwert der Wertverletzung, die auf der ersten Stufe festgestellt ist, „verdrängt" (oder: relativiert). Machen wir den ganzen Schritt in die strafrechtliche Terminologie und bezeichnen wir den Wertverstoß als „Rechtsgutsverletzung" und sehen wir in ihr das „Unrecht" begründet, dann hat die Frage nach Rechtfertigung mit Vorläufigkeit und Endgültigkeit des Urteils über das Unrecht zu tun. Auf der ersten Stufe ist dieses Unrechtsurteil nur vorläufig; zu einem endgültigen Urteil kommt es erst, wenn auf der zweiten Stufe nach weiteren Momenten des Tatgeschehens gefragt worden ist. Und zwar wird das vorläufige Unrechtsurteil auf der zweiten Stufe endgültig bejaht, wenn sich keine Rechtfertigung ergibt, und es wird endgültig verneint, wenn sich Rechtfertigung ergibt ( - wobei auf Fragen des Beweiszweifels zunächst nicht einzugehen ist).

II. Der Begriff der Rechtfertigung in der Strafrechtswissenschaft 1. Erster Überblick Sucht jemand in Strafrechtslehrbüchern und in Kommentaren des Strafgesetzes nach einer Definition von „Rechtfertigung", so wird er kaum fündig werden. Obwohl uns schon ein erster Blick auf die Alltagssprache einen Begriff der Rechtfertigung ermöglicht hat und obwohl von Rechtfertigung in jedem Buch über den Allgemeinen Teil des Strafrechts notwendig die Rede ist, verzichtet die Strafrechtslehre weithin auf die Definition dieses Begriffs. Sie bietet im entsprechenden Zusammenhang lediglich einen Ersatz für Definition: sie macht Bemerkungen über „Rechtswidrigkeit", sie gibt Hinweise auf das Verhältnis von Regel und Ausnahme, von Indizwirkung und deren Entkräftung, von Verbotsnorm und Erlaubnissatz, - sie erörtert Prinzipien der Rechtfertigung und zählt einzelne Rechtfertigungsgründe auf. Aber all dies

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setzt im Grunde einen Begriff von Rechtfertigung und dessen Definition voraus, und daran fehlt es fast durchweg. Man sage nicht etwa, man biete eine 'Definition, wenn man den Rechtfertigungsgrund als „Erlaubnissatz" bezeichne. Damit wird vielmehr nur ein Wort durch ein anderes ersetzt (als könnte man ζ. B. Sache durch das lateinische Wort „res" oder Spezi durch „Freund" definieren); dieses andere Wort bedarf seinerseits wieder der Definition, wenn wirklich erkennbar werden soll, wovon die Rede ist. Um dies deutlich werden zu lassen, sind die verschiedenen Arten von Definitionsersatz zunächst näher zu betrachten. 2. Arten des

Definitionsersatzes

In der Literatur wird die eigentlich geforderte Definition der Rechtfertigung auf verschiedene Weise umgangen. Die folgende Reihe der Beispiele ist so gewählt, daß sie immer näher an die eigentlich gemeinte Struktur heranführt. a) „Formelle und materielle Rechtswidrigkeit". In dieser Weise wird in einem Lehrbuch zum Allgemeinen Teil1 unterschieden, wenn man sich an die Uberschrift des Kapitels hält, in dem die Grundlage für das Verständnis der Rechtfertigung gelegt wird. Aber die Unterscheidung wird nicht weiter fruchtbar gemacht, - und sie soll dies offensichtlich auch gar nicht, selbst wenn gesagt wird, „formelle Rechtswidrigkeit" werde gelegentlich dahin verstanden, daß bei bloßer Tatbestandsmäßigkeit einer Handlung eine gewisse Wahrscheinlichkeit vorliege, die tatbestandsmäßige Handlung werde auch rechtswidrig sein; „materiell rechtswidrig" sei „eine tatbestandsmäßige Handlung nur dann, wenn die eventuellen Zweifel über das Vorliegen einer Ausnahmesituation beseitigt" seien „und ein endgültiges Rechtswidrigkeitsurteil gefällt werden" könne2. Soweit hier der Eindruck einer reinen Beweisfrage entsteht, hat sie ohnehin mit dem Begriff nichts zu tun; denn der Beweis setzt allemal den Begriff dessen voraus, um dessen Beweis es im einzelnen Strafverfahren geht. Im übrigen müßte die Unterscheidung schon für den Tatbestand (i.S. des Unrechtstatbestandes) bedeutsam sein, wenn man nur an die teleologisch-rechtsgutsbezogene Auslegung denkt, wie sie im Besonderen Teil allgemein anerkannt ist. „Formell" wäre dann das gesetzliche Geschildertsein im Tatbestand, und „materiell" wäre die Unwertsubstanz der Rechtsgutsverletzung, die den Gehalt des Geschilderten ausmacht. Auf die Rechtfertigungsgründe übertragen, wäre dann 1 2

Baumann/Weber, Strafrecht, Allg. Teil, 9. Aufl., 1985, S.256. Wie zuvor, S. 256, 258.

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danach zu fragen, ob sie überhaupt auch „formell" vorliegen müssen, d.h. einer gesetzlichen Schilderung bedürfen (was dann jedoch zu verneinen wäre). In allem steckt kein Material für den Begriff der Rechtfertigung; und so verwundert es nicht, daß letzten Endes in der abschließenden Zusammenfassung 3 des Kapitels, das „Formelle und materielle Rechtswidrigkeit" überschrieben ist, diese Ausdrücke nicht mehr verwendet werden. b) Rechtfertigung als Ergebnis von Gesetzestechnik. Gelegentlich wird die Rechtfertigung als bloßer Ausdruck einer gesetzgeberischen Entscheidung dargestellt: die Zahl der Rechtfertigungsgründe hänge „wegen der Technik des Gesetzes (Tatbestandsnorm - Gegennorm) durchaus von der gesetzlichen Tatbestandsfassung ab", sei also „grundsätzlich unbeschränkt" 4 . Aber diese rein technische Sicht der Rechtfertigung wird hernach dort als für die Sache unergiebig erkennbar gemacht, wo nicht nur auf die frühere Anerkennung eines „übergesetzlichen Notstandes" hingewiesen, sondern wo auch gesagt wird, es sei für den Bereich der Pflichtenkollision berechtigt, noch heute von „übergesetzlichem Notstand" zu sprechen. Darin zeigt sich nämlich, daß es für die Frage der Rechtfertigung nicht auf die Gesetzestechnik als solche ankommt, denn sonst könnte eine Rechtfertigung ohne gesetzliche Vorschrift gar nicht anerkannt werden; und diese „übergesetzliche" Rechtfertigung setzt ihrerseits wieder voraus, daß man von einem - wenn auch Undefinierten - Begriff dieser Rechtfertigung ausgeht, der einen von der Gesetzgebung unabhängigen Gehalt hat. So ist es schon früher mit Recht als unerheblich bezeichnet worden, an welcher Stelle im Gesetz ein Rechtfertigungsgrund geregelt ist: auch wenn die Notwehr in den §212 aufgenommen wäre - wer einen Menschen außer im Falle der Notwehr tötet - , so wäre dies für den Charakter der Rechtfertigung gleichgültig5. Diese Einsicht kann hier nur wiederholt werden. Rechtfertigung kann also nicht als bloßes Produkt der Gesetzestechnik gesehen werden. c) Die Rede von der „Indizwirkung". Auf die Definition des Begriffs der Rechtfertigung wird auch dort verzichtet, wo die „Indizwirkung" des Tatbestandes zum eigentlichen Gegenstand der Darstellung gemacht wird. Früher wurde das Wort „Indiz" in diesem Zusammenhang noch in Anführung gesetzt und nicht eigentlich ernst gemeint 6 ; heute wird fast 3 Wie zuvor, S.279. - Vgl. dagegen Hirsch, LK, 10. Aufl., 1985, vor §32, R d n . l 2 f f , der die Unterscheidung von formeller und materieller Rechtswidrigkeit ablehnt. 4 Baumann/Weber, wie zuvor, S.289; zum folgenden S.344. 5 Vgl. Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, S.81. ' Welzel, wie zuvor, S. 80 (anders in der Uberschrift ebenda).

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allgemein das Verhältnis von „Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit" darin gefunden, daß der Tatbestand ein „Indiz der Rechtswidrigkeit" sei7. Der Jurist ist vom Indizienbeweis her mit dem Begriff des Indizes wohl vertraut. Indizien sind dabei allemal Vermutungsgründe, und zwar bezogen auf ein Geschehen, das über das in den Indizien selbst jeweils Erwiesene hinausgeht. Reichen die Indizien aus, dann heißt dies, daß aus dem Vorliegen von Indizien aufgrund von Erfahrungssätzen der entscheidende Schluß auf das Gegebensein des Sachverhalts gezogen wird, auf den es für die Rechtsanwendung ankommt. Indizien meinen also insoweit immer etwas Partikulares. Gerade dies trifft für die Tatbestandsmäßigkeit im Hinblick auf die „Rechtswidrigkeit" nicht zu, denn es geht ja hierbei nicht um den Schluß auf ein weiteres Geschehen, dessen Vorliegen für die Rechtsanwendung festgestellt sein müßte; vielmehr geht es um das NichtVorliegen eines weiteren Geschehens, das Rechtfertigung bedeuten würde. Die Tatbestandsmäßigkeit erfaßt das Tatgeschehen vollständig, soweit es für das Unrecht der Straftat vorausgesetzt ist. Allerdings ist das Unrecht dann ausgeschlossen, wenn zu dem zuerst voll vorausgesetzten Sachverhalt ein weiterer Sachverhalt hinzukommt, und zwar ein solcher, der einem Rechtfertigungsgrund entspricht. Aber die Tatsache, daß ein dem Tatbestand entsprechendes Geschehen vorliegt, ist kein Indiz dafür, daß kein dem Rechtfertigungsgrund entsprechendes Geschehen gegeben ist; ein entsprechender Indizienbeweis ist ganz undenkbar. Vielmehr müssen, wenn im praktischen Strafprozeß die Rechtfertigung nicht von vornherein aufgrund der Gesamtumstände rundweg ausgeschlossen ist und wenn also etwa Notwehr auch nur in Betracht kommt, für die Verurteilung eigene Indizien festgestellt werden, die zu dem Schluß zwingen, daß kein die Notwehr begründender Sachverhalt vorliegt. Die Rede vom „Indiz" in dem Sinne, daß die Tatbestandsmäßigkeit ein Indiz für die Rechtswidrigkeit sei, erweist sich somit als ein den Begriff verfehlendes gedankliches Spiel ohne Erkenntniswert. Es wird hier ein Schritt in eine ganz andere Kategorie getan, ohne daß sich damit im jetzigen Zusammenhang etwas beweisen ließe (sog. μετάβασις εις άλλο γένος - metabasis eis allo genos). Von „Indiz" könnte überhaupt nur in zwei Hinsichten gesprochen werden: im Einzelfall im Hinblick auf das Ganze des rechtfertigenden 7 So Baumann/Weber, wie Anm. 1, S. 257, 261; Maurach/Zipf, Strafrecht, Allg. Teil, Teilbd.l, 6. Aufl., 1983, S.320; Jescheck, Strafrecht, Allg. Teil, 3. Aufl., 1978, S.260. Lacktier, StGB mit Erläuterungen, 16. Aufl., 1985, vor §32 Anm.II; vor §13, Anm.III, 3 a, S. 54: „Indiz, das nicht mit einer Unrechtsvermutung gleichgesetzt werden darf." Skeptisch zur Indiz-Formel Otto, Grundkurs Strafrecht, AT, 2. Aufl., 1982, S. 92.

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Sachverhalts, und für die Vielzahl von Fällen im Hinblick auf eine statistische Wahrscheinlichkeit. Den Einzelfall illustriert folgendes Beispiel: Wird in einem Wohnhaus geschossen und findet man hernach zwei Männer schwer verletzt im Zimmer am Boden liegen, nämlich den Wohnungsinhaber und einen Fremden, der eine Augenmaske trägt, und ist das Fenster im Erdgeschoß bei eingeschlagener Scheibe geöffnet, dann sprechen viele oder gar alle Indizien dafür, daß der Maskierte rechtswidrig in das Haus eingedrungen ist und den Wohnungsinhaber rechtswidrig verletzt hat, und daß der Wohnungsinhaber seinerseits den Maskierten in Notwehr und damit gerechtfertigt verletzt hat. - Und was die Vielzahl von Fällen betrifft, so sehe man folgende Beispiele: Wenn über einen gewissen Zeitraum mehrere Prostituierte bei Ausübung ihres Berufes getötet werden, dann ist die Rechtswidrigkeit dieser Tötungen indiziert, d.h. es spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, daß in kaum einem dieser Fälle die Frau den Mann angegriffen hat und von ihm in Notwehr getötet worden ist. Es spricht vielmehr statistisch alles dafür, daß der Mann die Frau rechtswidrig getötet hat; für den einzelnen Fall hat dieses „Indiz" jedoch keinerlei Bedeutung. - Wenn dagegen im Laufe der Jahre zehn Leute nach unüblichem Zutritt in ein Haus von einem Bewohner erschossen worden sind, dann ist die Rechtmäßigkeit, also die Rechtfertigung dieser Tötungen indiziert; es spricht hier statistisch alles dafür, daß jeweils Notwehr vorlag. Aber auch dieses „Indiz" ist für den einzelnen Fall als solchen ohne jede Bedeutung. Indiz ist - wie schon gesagt - immer etwas Partikulares: der Teil eines Geschehens, von dem auf weiteres Geschehen und schließlich auf das Ganze eines Vorgangs geschlossen wird, soweit er als Ganzes interessiert. In der Rechtsanwendung ist Indiz partikular im Hinblick auf den Sachverhalt, auf den es für die Rechtsanwendung ankommt. Für die Bestrafung wegen Totschlags ist insoweit vorausgesetzt, daß der Angeklagte das Opfer getötet hat. Was den Ausschluß des damit begründeten Unrechts durch Rechtfertigung - etwa durch Notwehr - betrifft, so genügt es, wenn keinerlei Indizien dafür vorliegen, es könnte eine Notwehr in Betracht kommen. Da es dabei aber um einen weiteren Ausschnitt aus dem Gesamtgeschehen mit eigener rechtlicher Bedeutung geht, kann die Bejahung der dem (Unrechts-)Tatbestand entsprechenden Tötung kein Indiz dafür sein, daß dieser weitere, dem Rechtfertigungsgrund der Notwehr entsprechende Sachverhalt nicht vorliegt. Vielmehr kann sich aus dem weiteren Geschehen sowohl ergeben, daß keine Rechtfertigung gegeben ist, als auch, daß Rechtfertigung vorliegt oder wenigstens in Betracht kommt. In der Praxis des Strafverfahrens bedeutet dies letztere, daß man (in dubio pro reo) insoweit im konkreten Fall freizusprechen hat; das rechtfertigende Geschehen braucht nicht dargetan zu sein, es genügt, daß es möglich bleibt. Die Formel, die Tatbe-

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standsmäßigkeit indiziere die Rechtswidrigkeit, hilft also auch an dieser Stelle nicht weiter. Beweisrechtlich denkt denn auch niemand daran, die Annahme, daß kein Rechtfertigungsgrund vorliege, mit der gegebenen Tatbestandsmäßigkeit zu begründen. Aber auch materiellrechtlich ist damit nichts gewonnen. Es ist daher zu empfehlen, das Wort „Indiz" ganz zu vermeiden, wenn es um die Darstellung des Verhältnisses von Tatbestandsmäßigkeit zu „Rechtswidrigkeit" bzw. zu Rechtfertigung geht. Wenn in der Vielzahl praktischer Strafverfahren - etwa bei der Staatsanwaltschaft - davon ausgegangen werden kann, daß bei Wegnahme fremder Sachen in Enteignungsabsicht, bei Sprengstoffexplosionen und bei Urkundenfälschung keine Rechtfertigung gegeben ist, so mag dies unter statistischem Aspekt als „Indiz" bezeichnet werden; für die Rechtsanwendung im Einzelfall und für die Klärung der Begriffe ist dies ohne Wert. Die Verwendung dieses Wortes in diesem Zusammenhang beruht auf einem Fehlverständnis; und durch das Festhalten an diesem Wort kann das Fehlverständnis nur befestigt werden. d) Das Regel-Ausnahme-Prinzip. Gelegentlich wird das Verhältnis von Tatbestand zu Rechtfertigung als das Verhältnis von Regel zu Ausnahme bezeichnet 8 . Noch offener als bei der Verwendung des Ausdrucks „Indiz" wird damit auf eine statistische Betrachtung abgestellt, wenn hier die Vielzahl von „Tatbestandsverwirklichungen" gewisser Delikte im Sozialleben gemeint ist. Daß damit für den Begriff der Rechtfertigung nichts zu gewinnen ist, hat sich schon in der Kritik der Rede von der Indizwirkung gezeigt. Im übrigen ist schon früh darauf hingewiesen worden, daß sich dieses Verhältnis auch umkehren könne'. So sind die in unserem Gemeinwesen vorkommenden Freiheitsberaubungen relativ selten rechtswidrig, meistens sind sie - nämlich als Untersuchungshaft und Strafvollstreckung - gerechtfertigt. Das Verhältnis von Regel zu Ausnahme ist hier also ganz anders, als es üblicherweise gemeint wird: Freiheitsberaubungen sind in der Regel gerechtfertigt, ausnahmsweise rechtswidrig. Für den Begriff der Rechtfertigung ist also auch mit einem „Regel-Ausnahme-Prinzip" nichts gewonnen. Die ganze Unsicherheit hängt wohl mit der Doppelbedeutung des Wortes „Regel" und gleichermaßen des Wortes „Norm" zusammen. Versteht man unter Regel und Norm die Richtlinie, Richtschnur oder Verhaltensanweisung, dann wird sie - formal betrachtet: - etwa bei der ' Stratenwerth, Strafrecht, Allg. Teil I, 1981, Rdn.335. - Baumann/Weber, wie Anm. 1, S. 265 ff, sprechen von Regel-Ausnahme-Prinzip. Das W o n Regel wird hierbei freilich auch mit „Gegennorm" konfrontiert, so daß Regel i. S. von (Verbots- und Gebots-) Norm und Regel i. S. des Regelmäßigen nicht klar getrennt werden. ' Welzel, wie Anm. 5, S.81.

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Verbotsnorm durch den „Erlaubnissatz" eingeschränkt, d.h. die zunächst zu allgemein formulierte Regel bzw. Norm wird durch Hinweise auf bestimmte Voraussetzungen, für die die Regel bzw. Norm nicht gilt, korrigiert: man darf niemanden töten, außer im Falle der Zulässigkeit durch Notwehr, d. h. man darf immer in den eng begrenzten Fällen entsprechender Notwehrlage töten, aber sonst nicht; man darf niemanden einsperren außer u. a. im Falle der Strafvollstreckung, d. h. man darf immer rechtskräftige Strafurteile durch Freiheitsentziehung vollstrecken. Versteht man dagegen unter „Regel" und „Norm" das allgemein Übliche, das fast immer in dieser Weise Vorfindliche, dann wird es durch die Ausnahme durchbrochen: Amseln haben regelmäßig schwarze Federn, ausnahmsweise, nämlich im Falle des Albinos, weißgraue (aber ganz selten!); es ist die Regel, d.h. die statistische Norm, daß Strafurteile während der üblichen Dienstzeit der Gerichte verkündet werden, ausnahmsweise werden sie auch noch nach den üblichen Dienststunden am späten Abend verkündet. Die Vermischung beider Begriffe: Regel als Richtlinie und Regel als das Übliche, wird dadurch nahegelegt, daß das der zunächst zu weit formulierten Richtlinie widersprechende Verhalten (ζ. B. du darfst nicht töten) in der staatlich organisierten Gesellschaft seltener in der Weise geschieht, die von der Richtlinie ausgenommen ist, als in der, die ihr widerspricht; daß dies aber nicht für alle Richtlinien gilt, zeigte sich an der Freiheitsberaubung. Festzuhalten bleibt für die Suche nach dem Begriff der Rechtfertigung: man sollte nicht von „Regel" reden, ohne sich dessen bewußt zu sein, daß nur die „Regel" i. S. des Üblichen durch die Ausnahme durchbrochen wird, die „Regel" als Richtlinie dagegen durch Zusätze eingeschränkt wird, etwa die Verbotsnorm durch sog. Erlaubnissätze. e) Verbotsnorm und Erlaubnissatz. Das Verhältnis von Tatbestandsmäßigkeit zu Rechtswidrigkeit bzw. zu Rechtfertigung wird heute meistens mit Hilfe der Unterscheidung von Verbotsnorm und Erlaubnissatz dargestellt. Man sagt dann von der Tatbestandsmäßigkeit, sie bedeute, daß das Verhalten des Täters einer Verbotsnorm widerspreche, und von der Rechtfertigung bzw. dem Rechtfertigungsgrund, daß hier „die Tatbestandsverwirklichung" durch einen „Erlaubnissatz" „gestattet" werde10. In diesem Sinne wird ausdrücklich das „Zusammenspiel von Verbotsnorm und Erlaubnissatz" betont". 10 Welzel, wie Anm. 5, S. 80. Ferner u. a. Jescheck, wie Anm. 7, S. 258 ff; Hirsch, wie Anm.3, Rdn. 6; Stratenwerth, wie Anm. 8, Rdn. 175 f, 183; Wessels, Strafrecht, Allg. Teil, 15. Aufl., 1985, S.77. u Stratenwerth, wie Anm. 8, Rdn. 175, 183.

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Man kann von Einzelheiten durchaus absehen - jedenfalls wird hier nach der vorausgegangenen Reihe verfehlter, statistisch begründeter oder einem gesetzgeberischen Belieben Raum gebender Sichtweisen der Blick in den Bereich gelenkt, in dem der Begriff der Rechtfertigung allenfalls seinen Platz haben kann, nämlich in den Bereich des N o r m a tiven. Aber wenn sich etwa die neuere Diskussion zu §218 a S t G B mit der Frage befaßt, o b die Indikationen des Schwangerschaftsabbruchs Rechtfertigungsgründe oder Entschuldigungsgründe sind oder ob sie gar einer anderen Kategorie angehören 12 , dann wird damit für unseren vorliegenden Gegenstand deutlich, daß mit „ V e r b o t s n o r m " und „Erlaubnissatz" nur die formalen Kategorien benannt sind, die für die Erfassung der Begriffe nicht ausreichen. U n d wenn gar von „Erlaubnistatbestand" gesprochen w i r d " , dann wird der sonst verwendete Begriff des Tatbestandes einfach beiseite geschoben (der nämlich das für eine Strafrechtsfolge vorausgesetzte Geschehen in seiner WertWidrigkeit meint), und es wird zudem für die Rechtfertigung eine gesetzgeberische Äußerung vorausgesetzt, die - wie schon an der übergesetzlichen Rechtfertigung zu zeigen war - gar nicht notwendig ist. Auch die Frage nach dem Adressaten von Verbotsnorm und Erlaubnissatz müßte, wenn schon von Tatbestand gesprochen wird, in diesem Zusammenhang beantwortet werden. Gewiß gibt es Rechtsgebiete insbesondere jenes Strafrecht, das wir Ordnungswidrigkeitenrecht nennen - , w o das Gesetz einzelne Anweisung gibt und sie sozusagen negativ begrenzt (wenn etwa nach dem Arzneimittelgesetz genaue Vorschriften über die A b g a b e von Arzneimitteln gegeben werden, oder wenn nach dem Bundesjagdgesetz die genau festgesetzte Schonzeit die Jagderlaubnis begrenzt oder gar umgekehrt die Schonzeit durch die Jagderlaubnis unterbrochen wird) und w o die jeweilige Regelung den Betroffenen in gebotener Weise bekanntgemacht wird; ja auch die Regelung der Indikationen zu §218 a S t G B mit den präzisen Fristsetzungen scheint, bezogen auf den Kreis der Medizinalpersonen, hierher zu gehören. Aber wenn man eine nicht auf einen bestimmten Personenkreis bezogene Regelung als Beispiel bringt, dann erscheinen die Formeln von Verbotsnorm und Erlaubnissatz, von „Appellfunktion des Tatbestandes" 1 4 und „Erlaubnistatbestand" als Ausdruck einer künstlichen Konstruktion, die von D a z u die Darstellung bei Lackner, wie Anm. 7, §218 a Anm. 1. Lenckner, in Schönke/Schröder, S t G B , 22. Aufl., 1985, vor § § 3 2 f f . ; R d n . 4 ; Wessels, wie Anm. 10, S. 77. - Jescheck, wie A n m . 7, S. 259, spricht von Rechtfertigungstatbeständen. Dreher/Tröndle, S t G B , 42. Aufl., 1985, § 1 6 , R d n . 2 7 , spricht vom Irrtum über den Erlaubnistatbestand. Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 1983, S. 202 f., anerkennt auch einen „außergesetzlich" formulierten Rechtfertigungstatbestand. 14 Jeschek, wie Anm. 7, S. 259. 12

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den Erfahrungen des gesellschaftlichen Lebens weit entfernt ist und nur uns gelernten Juristen naheliegen mag. Wer in der Bevölkerung kennt etwa den „Erlaubnis-Tatbestand", der nach §1271 StPO die vorläufige Festnahme eines auf frischer Tat betroffenen Täters gestattet? So führt die Rede vom Erlaubnissatz oder gar Erlaubnistatbestand zwar über die statistischen Betrachtungen hinaus, aber ermöglicht doch nicht, den Begriff der Rechtfertigung zu bestimmen. Dazu wird es vielmehr nötig sein, das Formale der Betrachtung noch deutlicher zu überwinden. Daß man sich zur Frage der Rechtsnatur der Indikationen bei Schwangerschaftsabbruch überhaupt wissenschaftlich auseinandersetzen kann, beweist zwingend, daß die bloße gesetzliche Regelung noch keinen Begriff von Rechtfertigung ergibt. Dazu bedarf es einer Erfassung des sachlichen Gehalts, also einer Materialisierung, die von den besprochenen Formulierungen nicht geleistet wird. f ) Der Widerspruch zur Gesamtrechtsordnung. Wenn im Schrifttum über das allgemeine Verbrechensmerkmal der Rechtswidrigkeit gesagt wird, es sei damit der „Widerspruch zur Rechtsordnung im ganzen" gemeint15, so soll diese Formulierung das abschließende Urteil darüber bezeichnen, daß dem in der Tatbestandsmäßigkeit liegenden Verstoß gegen die Verbots- und Gebotsnormen kein Erlaubnissatz gegenüberstehe. Das zuvor erörterte Zusammenspiel dieser Momente wird aus dieser Sicht also vorausgesetzt; die „Verneinung der Rechtfertigungsfrage" gibt sich als Teil dieses Urteils; für den Begriff der Rechtfertigung ist nichts Neues hinzugewonnen. g) Anführung verschiedener Rechtfertigungsprinzipien. Nach dem Grundmuster des nunmehr zu besprechenden Definitionsersatzes werden mehrere Rechtfertigungsprinzipien alternativ angeführt. Es sind dies die sog. „pluralistischen Theorien", und man meint dann meist die Prinzipien des „überwiegenden Interesses" und des „mangelnden Interesses"16, je nachdem auch das des gleichwertigen Interesses17. Ferner werden neuerdings angeführt die Prinzipien der „Verantwortung durch das Eingriffsopfer", der „Interessendefinition durch das Opfer" und der „Solidarität"18. Mit dieser Benennung von Prinzipien ist - im Vergleich zu allen vorangehend angeführten Arten von Definitionsersatz - der entschei15 Hirsch, wie Anm.3, Rdn.6; Lackner, wie Anm. 7, vor §13, Anm. 3. - Vgl. auch Wessels, wie Anm. 10, S. 76. 16 So schon Mezger, Strafrecht, 2.Aufl., 1933, S.205. Heute u.a. Lenckner, wie Anm. 13, vor §32, Rdn. 7; Blei, Strafrecht I, 18. Aufl., 1983, S. 130 f.; Jescheck, wie Anm. 7, S.261. - Generell „pluralistisch" Maurach/Zipf, wie Anm. 7, S. 328. 17 Und zwar für die Fälle einer Kollision von Handlungspflichten Küper, Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht, 1979, S. 99. 18 Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1983, Rdn. 11/3.

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dende Schritt zur Materialisierung der Rechtfertigung getan. Man gibt hier sachliche Gründe an, in denen man die Rechtfertigung sieht. Es sei hier ganz beiseite gelassen, inwieweit der Begriff des Interesses mit dem des Rechtsguts gleichgesetzt werden kann; jedenfalls scheint nun ein Begriff der Rechtfertigung gegeben, der in seiner Materialisierung etwas Einleuchtendes hat: man darf so handeln, wenn das tatbestandlich geschilderte Interesse, etwa aufgrund von Einwilligung, entfällt, ferner, wenn es hinter einem anderen und damit vorrangigen Interesse zurücktritt. Warum ist nun diese Darstellung von Rechtfertigungsprinzipien in der Reihe der Arten eines Definitionsersatzes anzuführen und nicht schon selbst als Definition anzuerkennen? Die Antwort kann nur aus dem logischen Zusammenhang von Wort, Begriff und Definition heraus erfolgen: der Rechtfertigung kommt im Rahmen der Erfassung der Straftat eine durchweg einheitliche Rolle zu. Sie wird - mit Recht allgemein in der Weise gesehen, daß bei gegebener Tatbestandlichkeit eines Verhaltens die Rechtswidrigkeit entfällt, wenn ein Rechtfertigungsgrund gegeben ist. Für diese einheitliche Funktion muß es mit logischer Notwendigkeit auch einen einheitlichen Begriff geben; und wenn verschiedene „Prinzipien" der Rechtfertigung, wie es meist geschieht, alternativ angeführt werden, so kann dies nur dann logisch stichhaltig sein, wenn sie alle dem einen Begriff der Rechtfertigung unterfallen. Im Grunde handelt es sich dann um erste, wenn auch noch relativ abstrakte Konkretionen des allgemeineren Begriffs. Es geht ja nicht etwa um verschiedene Begriffe, die - mehr oder weniger zufällig denselben Namen tragen, wie wir dies z.B. vom Terminus „Bank" her kennen, der einerseits den Begriff einer räumlichen Erhebung (sei dies nun eine Sitzgelegenheit, eine Erhebung des Meeresbodens i. S. einer Sandbank oder dgl. mehr) bezeichnet, andererseits aber auch eine Anstalt für den Geldverkehr. Sowenig wir verschiedene Begriffe von Straftat haben (sondern nur verschiedene Arten von Straftaten, die alle dem Begriff der Straftat unterfallen), sowenig kann innerhalb dieses einen Verständniszusammenhangs eine Mehrzahl von Rechtfertigungsbegriffen einen Platz finden. An eine solche Mehrzahl denkt ja ernstlich auch niemand; gleichwohl verzichtet man hier auf die Bemühung um den Begriff, also auf die logisch haltbare Definition des Begriffes von Rechtfertigung - aus Gründen, auf die noch hinzuweisen sein wird. III. Der strafrechtliche Begriff der Rechtfertigung 1. Die gebotene Begriffsbestimmung Alle vorangehenden Überlegungen - sie betrafen den Ausgangspunkt unserer Frage und galten dann der Kritik des Definitionsersatzes - lassen

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erkennen, um welchen Begriff von Rechtfertigung es im Strafrecht überhaupt nur gehen kann. Dieser Begriff betrifft die Struktur der Rechtfertigung aufgrund einer letztlich ethischen Analyse und ist insoweit unabhängig von jeder spezifischen Straftatsystematik. Vorausgesetzt ist zunächst die Wertverletzung; ohne Bezug auf sie läßt sich nach Rechtfertigung nicht sinnvoll fragen. Dann aber bedeutet Rechtfertigung, daß in der konkreten Verhaltenssituation zwei Werte derart miteinander kollidieren, daß der hinter der tatbestandlichen Unrechtsschilderung stehende Wert zugunsten des anderen Wertes verletzt werden darf. „Rechtfertigungsgrund" ist sodann die Konkretisierung des Wertes, dem der Täter der unrechtstatbestandlich geschilderten Tat unter Zurücksetzung des in dieser Tat verletzten Wertes entsprechen darf. Die Weite des Begriffs - seine relative Abstraktheit - ist die Folge der Vielzahl von Geschehensstrukturen, bei denen wir notwendig von Rechtfertigung sprechen müssen, wenn wir die Strafrechtsanwendung nachvollziehbar begründen wollen. Straftat, Tatbestand, Schuld - dies sind ebenfalls Beispiele relativ abstrakter Begriffe; es wäre verfehlt, wollte man von einem Begriff verlangen, daß aus ihm alle seine Konkretionen sozusagen deduktiv müßten abgeleitet werden können. Immerhin sind zwei grundlegend verschiedene Strukturen mit diesem übergeordneten Begriff erfaßt: bei Handlungsdelikten darf der Wert, der durch Handeln verletzt wird, nur zurückgesetzt werden, wenn der beachtete andere Wert in der konkreten Situation den Vorrang hat; bei Unterlassungsdelikten dagegen darf der Wert, der durch Nichthandeln verletzt wird, schon dann zurückgesetzt werden, wenn der beachtete Wert gleichrangig ist und wenn in der konkreten Situation nicht zu gleicher Zeit beiden Handlungsanforderungen entsprochen werden kann. Für Vorrang bzw. Gleichrangigkeit sind nicht nur die betreffenden Werte im Sinne einer abstrakten Werteskala - also die Rechtsgüter als solche - maßgeblich, sondern auch der Grad der Objektsgefährdung u. a. m. Also entscheidet letztlich die so verstandene Dringlichkeit des Wertanrufes in der konkreten Situation. 2. Verfehlte Ablehnung des Begriffs der Rechtfertigung Der soeben bestimmte Begriff entspricht - im Unterschied zu der Sicht der sog. pluralistischen Theorien - einer „monistischen" Theorie 19 . " In diesem Sinne „monistisch" in neuerer Zeit: Noll, ZStW 1965, S. 1 ff, der „die Wertabwägung als Prinzip der Rechtfertigung" dartut. Ferner Seelmann, Das Verhältnis von §34 StGB zu anderen Rechtfertigungsgründen, 1978, S.32 (allerdings mit unbeantworteter Frage zur Einwilligung). - Andeutungen zu einem einheitlichen Begriff der

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D.h. er ist auf eine einheitliche Definition gebracht, wie es die Logik fordert. „Pluralistisch" sind allenfalls die Rechtfertigungsgr«We; und sie mögen innerhalb des Begriffs der Rechtfertigung im einzelnen auch durchaus unterschiedliche Strukturen haben. Einheitlich aber ist der Begriff der Rechtfertigung selbst. Er ist, wenn auch nicht so ausführlich wie hier, schon vor längerem entwickelt und bestimmt worden20. Es hat sich nun aber in den vorangehenden Abschnitten nachweisen lassen, daß ein derartiger einheitlicher Begriff der Rechtfertigung weithin abgelehnt wird, ja, daß man sich um den Begriff selbst gar nicht bemühen zu sollen glaubt. Was sind die Gründe oder auch die Begründungen und die Ursachen dieser Ablehnung? Hierauf ist noch kurz zu antworten. a) Der „dreistufige" Straftataufbau. Hauptursache des Begriffsverzichts ist das Festhalten an dem von Liszt und Beling herrührenden dreistufigen Aufbau der Straftat2'. Dieser Aufbau entspricht nicht eigentlich der schlichten Aufgabe einer Begriffsanalyse; er folgt vielmehr im Ansatz einem auf Klassifikation ausgerichteten System: der „Handlung" als vorausgesetztem Oberbegriff werden die einengenden Artmerkmale der Tatbestandsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit und der Schuld zugeordnet. Da nun mit „Rechtswidrigkeit" der jeder Straftat zugrunde liegende primäre Unwert bezeichnet erscheint (der also der Schuld vorgelagert ist), entsteht der Eindruck, die „Tatbestandsmäßigkeit" sei wertfrei, also bloße formale Schilderung eines Geschehens, dem noch kein Unwert zukomme. Wenn dem wirklich so wäre, dann käme erst auf der nächsten Stufe, nämlich der der Rechtswidrigkeit, zu diesem wertfrei gesehenen Geschehen der Unwert hinzu. Aber dies wird dann im Grunde wieder verneint, wenn insoweit richtig und ausdrücklich betont wird, „die Lehre von der Rechtswidrigkeit" sei „in der Praxis eine Lehre von der Rechtmäßigkeit, nämlich die Darstellung derjenigen Sachverhalte, die trotz Tatbestandserfüllung im Einzelfall nicht rechtswidrig" seien22. Nur sollte hieraus die Erkenntnis erwachsen: wenn dies in der „Praxis" Rechtfertigung bei Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 1970, S. 15 („die sozial richtige Regulierung von Interesse und Gegeninteresse"). Jakobs wie Anm. 18, Rdn. 11/1, meint, Rechtfertigungsgründe seien „die rechtlich guten Gründe, ein an sich verbotenes Verhalten doch zu vollziehen". - Meine eigene „monistische" Begriffsbildung zuerst Engisch-Festschrift, 1969, S. 450-452; sodann Schmidhausen Strafrecht, Allg. Teil, Lehrbuch, 2. Aufl., 1975, Rdn. 9/2 (allerdings nur für das Handlungsdelikt formuliert); Studienbuch, 2. Aufl., 1984, Rdn. 6/1. 20 Noll und Schmidhäuser, wie Anm. 19. 21 Als Beleg diene hier nur: für die herkömmliche Systematik Baumann/Weher, wie Anm. 1, S. 100, 171 ff; für die finalen Handlungslehren Maurach/Zipf, wie Anm. 7, S. 172 ff; Stratenwerth, wie Anm. 8, Rdn. 165 ff. 21 Maurach/Zipf, wie Anm. 7, S.318.

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offenbar so sein muß, dann ist eben die Theorie falsch, die erst auf der zweiten Stufe der Straftatanalyse zur Tatbestandsmäßigkeit den Unwert der Rechtswidrigkeit hinzutreten läßt. Vielmehr muß auch für die Theorie gelten: dieser Unwert kann nicht dadurch begründet werden, daß Rechtfertigung nicht gegeben ist, sonderen er muß schon begründet sein, bevor nach Rechtfertigung gefragt wird23. Es gilt nur, die materiale Rechtsgutsverletzung in ihrem tatbestandlichen Geschildertsein als Unrechtsbegründung anzuerkennen; dies allein entspricht auch der rechtsgutsbezogen-teleologischen Auslegung, die hinsichtlich der einzelnen Tatbestände des Besonderen Teils überall als selbstverständlich angesehen wird. Dies bedeutet aber: an die Stelle der stark formal ausgerichteten Folge „Tatbestandsmäßigkeit - Rechtswidrigkeit" hat die materiale Analyse zu treten mit der Folge „Unrechtsbegründung im Unrechtstatbestand Unrechtsausschluß durch Rechtfertigung". Dies ist an anderem O r t schon ausführlich dargetan; hierauf darf verwiesen werden 24 . b) Die Einwilligung als Rechtfertigungsgrund. Es wird gesagt, die „Reduzierung" der Rechtfertigung „auf einen einheitlichen Gedanken mit materiellem Kern" gelinge nur deshalb, weil „zuvor die Fälle der Einwilligung" „der Rechtfertigungsebene entzogen und dem Tatbestand zugeordnet" würden 25 . Es wird damit sozusagen als unabdingbar vorausgesetzt, daß die Einwilligung Rechtfertigungsgrund sei. Dies aber wäre denn doch zuvor zu beweisen. Die bloße Tradition dieses Verständnisses ist kein Beweis. Im Gegenteil: schon die alte Formulierung, daß es dabei um „mangelndes Interesse" gehe26, hätte weiterführen müssen zu der Erkenntnis, daß es hier um den materialen Gehalt der Unrechtsbegründung geht und daß mit dem Wegfall des Interesses auch die Interessenverletzung und damit wieder die Rechtsgutsverletzung und schließlich eben die Unrechtsbegründung entfällt. Willigt der Berechtigte beachtlich ein, dann ist die Objektsverletzung eben nur eine „scheinbare Rechtsgutsverletzung" 27 . 23 Ganz in diesem Sinne neuerdings Jakobs, wie Anm. 18, 6/59: man möge bezüglich der Rechtfertigung „von einer Stufe der Deliktsermittlung sprechen, aber eine Stufe des Delikts selbst ist das Fehlen von Rechtfertigung nicht; vielmehr ist der verwirklichte Tatbestand im Fall des Fehlens von Rechtfertigungsgründen das Unrecht". - Auch schon Schmidhäuser, Engisch-Festschrift, 1969, S.454, und zuletzt Studienbuch AT, 2. Aufl., 1984, Rdn.6/10. 2< Schmidhäuser, wie Anm. 23. 25 Samson in SK, StGB, vor §32, Rdn.22. 26 Vgl. Mezger, wie Anm. 16, S.207f. 27 Zum Begriff der scheinbaren Rechtsgutsverletzung: Schmidhäuser, StB AT, wie Anm. 23, Rdn. 5/95, 106 ff.; ferner jetzt: Margret Kruse, Die scheinbare Rechtsgutsverletzung bei den auf Enteignung gerichteten Eigentumsdelikten, 1985.

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Jede nicht rein formale Sicht der tatbestandlichen Geschehensschilderung muß - hält man sie konsequent durch - zu diesem Ergebnis kommen. Daß aber das Formale hier abzulegen ist, ergibt sich schon daraus, daß wir die einzelnen Straftatbestände des Besonderen Teils teleologisch-rechtsgutsbezogen auslegen. Dies muß sich auch in den Begriffen der allgemeinen Strafrechtslehre niederschlagen, und das bedeutet für den vorliegenden Zusammenhang, daß in den Fällen beachtlicher Einwilligung nur eine scheinbare Rechtsgutsverletzung gegeben ist und demnach die Unrechtsbegründung und damit der Unrechtstatbestand entfällt28. c) Die Umdeutung des Tatbestandes zur Verbotsformel. Die Strafrechtswissenschaft geht in manchen ihrer Bemühungen wie selbstverständlich davon aus, der Unrechtstatbestand sei aus der Sicht einer jedermann einleuchtenden Verbotsformel zu verstehen. Es kommt dann darauf an, was als abstrakt-allgemeingültig formuliertes Verbot (bzw. Gebot) zu denken ist; der Verstoß hiergegen bildet für diese Ansicht den „Normverstoß", der im (Unrechts-)Tatbestand geschildert ist2'. Für diese Ansicht müßte also etwa die Sachbeschädigung (§3031 StGB) von dem Verbot her verstanden werden: „du sollst keine fremde Sache beschädigen". Die Einwilligung des Eigentümers würde dann den so verstandenen Normverstoß nicht etwa ausschließen, sondern eben nur rechtfertigen 30 . Soviel zunächst für diese Sicht sprechen mag, erweist sie sich doch letztlich als formal im gleichen Sinne, wie das schon oben aufgezeigt worden ist. Es kann - richtig gesehen - nicht auf eine sozusagen volkstümlich-allgemeine Formulierung einer Verbotsnorm ankommen, sondern vielmehr nur auf die im Sozialleben anerkannten Güter und auf den auf sie bezogenen sozialethischen Anspruch auf Achtung. Wenn es auf eine entsprechende Formulierung ankäme, könnte die Formel auch so lauten, daß man die Interessen des Eigentümers nicht durch Sachbeschädigung verletzen dürfe. Dann wäre im Falle der Einwilligung des Berechtigten der Normverstoß von vornherein nicht gegeben. d) Die angebliche Inhaltsleere der monistischen Theorie. Es wird gesagt, die „monistische Theorie" - und dazu gehört auch der soeben vorgeschlagene Begriff - besage nicht mehr, als daß Rechtfertigung „rechtlich

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Ganz in diesem Sinne u.a. Maurach/Zipf, wie Anm. 7, S.215 (mit Hinweis auf gleiche Einordnung bei Armin Kaufmann, Horn, Eser, Kientzy, Roxin, Kühne). 29 Vgl. vor allem Welzel, wie Anm. 5, S.50, 80 ff. J0 In diese Richtung geht z.B. die Darstellung bei Baumann/Weber, wie Anm. 1, S. 265.

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gute Gründe des Handelns" seien31; offenbar verlangt man, daß konkretere Inhalte aufgezeigt werden, wenn von Rechtfertigung die Rede ist. Aber dieser Einwand ist nicht stichhaltig. Einmal ist doch etwas mehr über den Begriff gesagt worden, als durch die Formel „vom guten Grund" ausgedrückt werden kann. Und sodann müssen auch die anschaulicheren Konkretionen einem einzigen Begriff der Rechtfertigung unterfallen, wenn sie alle als Rechtfertigungsgründe verstanden werden sollen. Ein Begriff kann nicht wegen seiner Weite abgelehnt werden, wenn man ihn zugleich so gebraucht, daß er nur in dieser Weite überhaupt definiert werden kann. e) Der Vorgriff auf den Verbotsirrtum. Die sachbezogene Definition des Begriffs von Rechtfertigung mag wohl auch deshalb vernachlässigt werden, weil man gewisse Folgen für die strafrechtliche Behandlung des Verbotsirrtums nicht gelten lassen möchte32. Aber dies hieße: das Pferd vom Schwänze her aufzuzäumen. Es soll hier nicht weiter kritisch analysiert werden; jedenfalls ist das Unrecht in dem Sinne der Schuld vorgelagert, daß Schuld sich auf Unrecht bezieht; es müssen also die Unrechtsstrukturen, was Unrechtsbegründung und Unrechtsausschluß betrifft, schon geklärt sein, bevor nach ihrer Bedeutung für die Schuld gefragt wird. Wenn man glaubt, nur eine bestimmte Struktur der Schuld führe zu richtiger Strafrechtsanwendung, dann muß dies durch entsprechendes Verständnis der Schuldmerkmale ermöglicht werden und nicht durch unlogisches Zurichten der Merkmale im Bereiche des Unrechts. Damit sind die wesentlichen Gründe und Ursachen aufgezeigt, die sich dem Bemühen um einen Begriff der Rechtfertigung im wissenschaftlichen Gespräch der Gegenwart entgegenstellen. Ich glaube dargetan zu haben, daß dieses Bemühen gleichwohl zum Ziele eines einheitlichen Begriffs der Rechtfertigung zu führen ist. 3. Ausblick auf

Folgerungen

Es ist oben beispielhaft die aktuelle Frage erwähnt worden, wie es sich mit der Rechtsnatur der Indikationen zum Schwangerschaftsabbruch nach §218 a StGB verhalte. Ist nun mit dem Begriff der Rechtfertigung

31 Jakobs, wie A n m . 18, S . 2 8 6 f . Ähnlich Jescheck, wie A n m . 7, S . 2 6 0 ; Maurach/Zipf, wie Anm. 7, S. 328. 32 Dies ist wohl der leitende Gesichtspunkt für die Lehre v o m „Gesamt-Unrechtstatbestand", über den z. B. Rudolphi in SK StGB vor § 1, Rdn. 37, sagt: „Zweite Voraussetzung für das Vorliegen tatbestandlichen Unrechts ist das Nichteingreifen eines Rechtfertigungsgrundes." Die Folgerungen für die Irrtumslehre werden denn auch sogleich a . a . O . angedeutet, wobei dann allerdings zu § 1 6 , Rdn. 10, doch auch von einem „Rechtfertigungstatbestand" gesprochen wird. Jedenfalls erweckt auch diese Lehre den unrichtigen Eindruck, der U n w e r t des Unrechts entstehe erst aus dem Fehlen der Rechtfertigung.

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auch schon die Antwort gegeben, ob es sich hier um Rechtfertigungsoder um Entschuldigungsgründe oder worum sonst es sich handelt? Nein - diese Antwort ist damit noch nicht gegeben, aber sie muß sich mit Hilfe des Begriffs finden lassen. Im folgenden kann sie freilich nur angedeutet werden. Es ist zunächst zu sagen, daß unsere Frage sich auf die Handlung des Schwangerschaftsabbruchs bezieht und nicht etwa auf ein Unterlassen. Rechtfertigung wäre demnach dann gegeben, wenn durch das Handeln ein Wert beachtet wird, dem im Rahmen unserer Rechtsordnung in der konkreten Situation der Vorrang gegenüber dem verletzten Wert zukommt. Das ist dem Begriffe nach leicht gesagt und doch im Zutreffen auf die uns nun interessierende Vorschrift nicht leicht dargetan. Denn diese Vorschrift ist in besonderem Maße Ausdruck des Zeitgeistes; wie sie vor einigen Jahrzehnten (trotz aller Angriffe auf das Abtreibungsverbot) undenkbar war, so könnte sie in einigen Jahrzehnten auch wieder einer anderen Regelung gewichen sein. Aber so, wie sie sich derzeit in unserer Rechtsordnung findet, ist sie in das Gesamtverständnis unseres staatlichen Strafens einbezogen und muß letztlich als Niederschlag eines demokratisch legitimierten Gesamtwillens gesehen werden. Wer diese Regelung aus dem Blickwinkel seiner eigenen Moral ablehnt, dessen Wertung wird freilich im Rahmen der Straftatanalyse keine Kategorie finden, in der die Regelung dann doch als sachgerecht behandelt werden könnte": Selbst wenn sich im Hinblick auf die Strafrechtsordnung irgendwo ein rechtsfreier Raum annehmen ließe, kann er doch hier jedenfalls nicht gefunden werden, da die Grenze der Strafbarkeit innerhalb der geregelten Materie liegt und demnach in der Ausklammerung eines Bereichs doch ein Teil der Rechtsordnung selbst gefunden werden müßte. Und wenn man annehmen wollte, es würde an Strafwürdigkeitsvoraussetzungen außerhalb von Unrecht und Schuld fehlen, also ähnlich denen, die wir etwa als objektive Strafbarkeitsbedingungen anerkennen, dann müßte doch auch die staatliche Reaktion gegenüber den rechtswidrig und schuldhaft handelnden Medizinalpersonen als zulässig, wenn nicht als geboten angesehen werden (wie etwa auch ein Berauschter zurückgehalten werden darf, wenn er in gefährdender Weise auch nur als Fußgänger am Straßenverkehr teilzunehmen beginnt). Und wenn man in den Indikationen, soweit es nicht um die klassische medizinische geht, bloße Entschuldigungsgründe sehen wollte, dann müßte das rechtswidrige und im übrigen schuldhafte Abtötungsverhalten der Arzte und sonstigen Medizinalpersonen in der Weise als moralisch verständlich 33 Vgl. zu den folgenden Gesichtspunkten die komprimierte Gesprächsstandes bei Lackner, StGB, wie Anm. 7, §218 a, Anm. 1 a. 34 Lackner, wie zuvor.

Darstellung

des

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erscheinen, daß im Verzicht auf Strafe Rücksicht genommen wird auf ein persönliches Betroffensein des Täters, sei es auf die persönliche Nähe zu einem zu rettenden Menschen, sei es auf die Singularität einer Gewissensentscheidung in schwer lösbarem Konflikt. Da unter allen diesen Aspekten die gesetzliche Regelung nicht in unserer Rechtsordnung unterzubringen ist, bleibt nur noch nach der Rechtfertigung zu fragen, - und sie ist aus der Wertung des Gesetzgebers heraus zu bejahen: offenbar hat er der Freiheit der Schwangeren, über das Aushalten der Schwangerschaft selbst entscheiden zu können (insoweit ist ja immer ihre „Einwilligung" vorausgesetzt), unter gewissen Voraussetzungen den Vorrang vor dem Weiterleben des in ihrem Leib heranwachsenden Menschen eingeräumt. Er hat die aus den kollidierenden Rechtsgütern erwachsenden Achtungsansprüche in ihrer Dringlichkeit gegeneinander abgewogen und hat einen begrenzten Vorrang des einen vor dem anderen akzeptiert. Man wird nicht sagen können, daß diese gesetzgeberische Entscheidung nicht vertretbar wäre. So kann zum Schluß Karl Lackner zu diesem Punkt nur zugestimmt werden, wenn er sagt: „Bei Verneinung der Rechtmäßigkeit des indizierten Schwangerschaftsabbruchs wäre die Gesamtregelung der §§218-219 in hohem Maße innerlich widersprüchlich." „Solche Widersprüche sind für ein Normensystem, das dem Rechtsstaat verpflichtet ist, nicht akzeptabel. Es gibt deshalb nur die Alternative: Entweder sind die Indikationen im Rahmen des geltenden Systems Rechtfertigungsgründe oder sie sind (ganz oder teilweise) verfassungswidrig34." Sehen wir das Problem vom Begriff der Rechtfertigung her, so handelt es sich um Rechtfertigungsgründe.

Das Merkmal der „Nicht-anders-Abwendbarkeit" der Gefahr in den §§ 34, 35 StGB T H E O D O R LENCKNER

I. Sowohl beim rechtfertigenden ( § 3 4 ) als auch beim entschuldigenden Notstand (§ 35) kennzeichnet das Gesetz die den Notstand begründende Gefahr u.a. damit, daß diese für das bedrohte Gut „nicht anders abwendbar" sein darf. N u r von systematischer Bedeutung ist dabei die Frage, ob die Nichtanders-Abwendbarkeit neben der Gegenwärtigkeit der Gefahr zur N o t standslage gehört oder ob sie erst die Notstandshandlung betrifft, eine Notstandslage also bereits mit dem Bestehen einer gegenwärtigen Gefahr für ein Rechtsgut - im Falle des § 35 für Leben, Leib oder Freiheit des Täters oder einer der dort genannten Sympathiepersonen - gegeben ist1. Richtigerweise verbergen sich hinter der „verschachtelten Gesetzesformulierung" 2 jedoch Elemente sowohl der Notstandslage als auch der Notstandshandlung. Schon nach allgemeinem Sprachgebrauch ist eine Gefahr, der man sich mühelos entziehen oder sonst ohne weiteres begegnen kann ( z . B . durch Aufsuchen eines Arztes) noch kein „Notstand" oder eine „Notstandslage". Wenn hier gelegentlich daraufhingewiesen wird, daß auch eine Notwehrlage ( § 3 2 ) nicht mehr als einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff voraussetze 3 , so wird dabei die entscheidende Besonderheit der Notwehr gegenüber dem Notstand übersehen: Die Notwehrlage in Gestalt eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs trägt den vom Recht zu entscheidenden Konflikt bereits in sich, zwar nicht notwendig einen solchen mit den Rechtsgütern des Angegriffenen - dann nämlich nicht, wenn dieser dem Angriff ausweichen kann - , wohl aber kollidieren hier in jedem Fall die Güter des Angreifers mit dem Rechtsbewährungsinteresse der Allgemeinheit („Recht braucht Unrecht nicht zu weichen"). Anders ist dies beim Notstand, wo dieser bei der Notwehr immer zu einem Interessenkon-

1 Zum Meinungsstand vgl. Hirsch, Rdn.21. ; Hirsch, in: LK a . a . O . (Fn.l). 3 So Hirsch, in: LK a . a . O . (Fn. 1).

in: Leipziger Kommentar, 10. Aufl. 1985, §34

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flikt führende sozialrechtliche Aspekt fehlt. Zu einer Kollision von Interessen - und nur unter dieser Voraussetzung kann zwischen N o t stands- und Notwehrlage eine Parallele gezogen werden - kommt es hier vielmehr erst, wenn sich die Situation über das Bestehen einer Gefahr hinaus in der Weise zuspitzt, daß das bedrohte Gut entweder abgeschrieben oder zu seiner Rettung ein anderes Gut geopfert werden muß. Daß die Gefahr nur durch Verletzung anderer rechtlich geschützter Interessen abgewendet werden kann, kennzeichnet deshalb bereits die Notstandslage 4 . Auch mit der gesetzlichen Formulierung, daß die Gefahr „nicht anders abwendbar" sein dürfe, wird dies implizit vorausgesetzt, weshalb sie sich insoweit schon auf die Notstandslage bezieht. Enthalten ist darin aber noch eine weitere Aussage, die von der allgemeinen Notstandslage zur konkreten Kollisionsbeziehung führt: Muß die Tat in einer anders (!) nicht zu beseitigenden Gefahr begangen sein, so heißt dies zugleich, daß sie von der Art sein muß, daß gerade sie und nur sie die Gefahr für das „Erhaltungsgut" 5 beseitigen kann. D a hiermit bestimmte Anforderungen an die Notstandshandlung gestellt werden, betrifft das Merkmal der Nicht-anders-Abwendbarkeit daher auch diese. Hier wird dann allerdings auch ein Versehen des Gesetzgebers offenbar. Die Fassung der § § 3 4 , 35 ist ebenso mißverständlich 6 wie die in der früheren Rechtsprechung z. T . anzutreffende Wendung, daß die Tat das „einzige Mittel" zur Abwendung der Gefahr gewesen sein müsse 7 , weil sie nur für solche Fälle paßt, in denen der Täter lediglich die Wahl hat, entweder den Dingen ihren Lauf zu lassen und die Gefahr hinzunehmen oder - tertium non datur - diese gerade dadurch abzuwenden, daß er die fragliche Tat begeht. Nicht erfaßt sind mit dem Merkmal „nicht anders abwendbar" dagegen die Situationen, in denen dem Täter zur Rettung des bedrohten Guts auch noch andere Möglichkeiten offen gestanden hätten. Im Gegenteil: Nach ihrem Wortlaut wären die §§ 34, 35 hier von vornherein obsolet, weil dem Täter, was immer er tun mag, jeweils entgegengehalten werden könnte, daß die Gefahr auch auf andere Weise abwendbar sei. Was in der Sache mit der verunglückten Gesetzesfassung gemeint ist, ist allerdings klar und ergibt sich aus dem Grundgedanken

4 So z. B. Jescheck, Strafrecht AT, 3. Aufl. 1978, S.283; Maurach/Zipf, Strafrecht AT, Bd. 1, 6. Aufl. 1983, S.357. 5 Zur Terminologie „Erhaltungsgut" und dem ihm gegenüberstehenden „Eingriffsgut" vgl. Küper, J Z 1976, 516. 6 Vgl. dazu schon Stree, JuS 1973, 463 und zu den §§ 52, 54 a. F. Henkel, Der Notstand nach gegenwärtigem und künftigem Recht, 1932, S. 114 ff. 7 So schon in der maßgeblichen Entscheidung zum „übergesetzlichen" (rechtfertigenden) Notstand RGSt. 61, 242 (254); vgl. ferner z . B . BGHSt. 3, 8 (9), B G H N J W 1951, 769 (770), GA 1956, 382 (383), BayObLG J R 1965, 65 (66) und zu § 3 4 auch heute noch Maurach/Zipf, AT S. 359.

„Nicht-anders-Abwendbarkeit" der Gefahr in §§ 34, 35 StGB

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des Notstands. Bei §34 ist dies einerseits die Erwägung, daß für das Recht nur dann Anlaß bestehen kann, den Eingriff in eine fremde Rechtssphäre zuzulassen, wenn dem Betroffenen dadurch kein sinnloses Opfer auferlegt wird, oder positiv formuliert: wenn der verfolgte Zweck - Abwendung der drohenden Gefahr - damit möglichst auch erreicht wird. Ebenso selbstverständlich ist es andererseits, daß die Erhaltung des bedrohten Guts nur mit dem geringstmöglichen Verlust auf der „Eingriffsseite" erkauft werden darf. Daraus ergibt sich eine zweifache Begrenzung, die in ihrer Kombination die Erforderlichkeit der Notstandshandlung ausmacht: Erforderlich ist diese, wenn sie unter den gegebenen Umständen so geeignet und so schonend wie möglich ist (Grundsatz der Geeignetheit und Grundsatz des relativ mildesten Mittels). Dasselbe gilt, wenngleich dort unter anderen Vorzeichen, für den entschuldigenden Notstand. Auch bei diesem besteht, gleichgültig wie man § 35 im übrigen erklären mag, kein Grund zur Nachsicht gegenüber dem Täter, wenn nicht wenigstens die Minimalvoraussetzung erfüllt ist, daß die Tat zur Abwendung der Gefahr in dem genannten Sinn erforderlich war. Mit Recht hat deshalb die h. M. auch nie gezögert, das vom Gesetz der Gefahr zugeschriebene Merkmal der „Nicht-andersAbwendbarkeit" in beiden Notstandsvorschriften in den Grundsatz der Erforderlichkeit der Notstandshandlung umzudeuten 8 . Dabei bezieht sich die Erforderlichkeit sowohl auf die richtige Auswahl als auch auf die sachgemäße Anwendung des Mittels. Schon die Erforderlichkeit der Notstandstat ist daher zu verneinen, wenn diese zwar ihrer Art nach das geeignetste und relativ mildeste Mittel darstellt, ihre konkrete Ausführung aber in einer Weise erfolgt, daß sie ihren Zweck, die Gefahr mit der größtmöglichen Aussicht auf Erfolg und unter den geringstmöglichen Opfern abzuwenden, deshalb verfehlt 9 . Im folgenden geht es, weil hier die eigentlichen Probleme liegen, nur um die Bestimmung des erforderlichen Mittels. II. Bei beiden Notstandsbestimmungen weithin unproblematisch ist der Erforderlichkeitsgrundsatz, wenn die Tat das einzige Mittel zur Rettung des bedrohten Guts ist und damit die Situation vorliegt, die auch das 8

Vgl. ζ. B. Grebins, GA 1979, 85; Hirsch, in: LK § 34 Rdn. 50; Jakobs, Strafrecht, AT, 1983, S.344; Jescheck, AT S. 290; Küper, J Z 1976, 516; Lackner, StGB, 16. Aufl. 1985, §34 A n m . 2 b ; Stree a . a . O . (Fn.5); dazu, daß auch die von Bockelmann, JZ 1959, 498 und Jescheck a . a . O . als zusätzliche Einschränkung verstandene „spezifische Kollisionsbeziehung" zwischen den beteiligten Gütern ausschließlich durch das Erforderlichkeitsprinzip bestimmt wird, vgl. z. B. Grebing a. a. O . ; Küper a. a. O . ' Vgl. näher Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 79 ff.

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Gesetz mit dem Begriff der „nicht anders abwendbaren" Gefahr zutreffend kennzeichnet. Da sich die Frage eines milderen Mittels hier nicht stellt, ist die Tat in diesem Fall zur Abwendung der Gefahr schon dann erforderlich, wenn sie hierzu geeignet ist. Allerdings ist dies nur ein Aspekt der Geeignetheit des Mittels. Denkbar ist nämlich auch, daß die Tat zwar geeignet ist, die den Notstand begründende Gefahr abzuwenden, daß sie aber für das bedrohte Gut neue Gefahren schafft. Sinn einer Konfliktslösung, wie sie beim Notstand erfolgt, kann es jedoch nicht sein, die eine Gefahr lediglich durch eine andere zu ersetzen, da auch in diesem Fall das Opfer auf der „Eingriffsseite" von vornherein unnütz wäre. Daß das Mittel insgesamt geeignet und die Tat damit erforderlich ist, setzt daher nicht nur deren Eignung zur Abwendung der drohenden Gefahr, sondern auch ihre Ungefährlichkeit in dem Sinn voraus, daß sie nicht zu einer anderen, ebenso schweren oder gar noch schwerwiegenderen Gefahr für das „Erhaltungsgut" führen darf10. Im übrigen geht es bei der Geeignetheit der Notstandshandlung um Fragen, die in entsprechender Form bereits an früherer Stelle auftreten und deren Entscheidung dort z . T . auch schon vorprogrammiert ist. Dies gilt für die Methode und den Beurteilungsmaßstab, nach denen die Geeignetheit festzustellen ist, weil hier dieselben Regeln anzuwenden sind, nach denen auch über das Vorliegen einer Gefahr zu befinden ist: So wie dort eine Prognose im Hinblick auf einen in der Zukunft möglichen Schadenseintritt zu stellen ist, geschieht dies hier unter dem Gesichtspunkt der Schadensabwendung (bzw. der Schadensverursachung, wenn die Abwendungshandlung ihrerseits mit Risiken für das „Erhaltungsgut" verbunden ist). Dabei kehren an dieser Stelle alle die Fragen wieder, die schon beim Gefahrenbegriff vielfach umstritten sind und auf die hier nicht näher eingegangen werden kann: O b durchgehend auf eine ex-ante-Beurteilung abzustellen ist oder ob der dem Prognoseurteil über die künftige Entwicklung als gegenwärtig gegeben zugrunde gelegte Sachverhalt tatsächlich vorliegen muß, ferner welcher Beurteilungsmaßstab anzuwenden ist, ob derjenige eines zugleich mit dem Sonderwissen des Täters ausgestatteten Durchschnittsbeobachters, eines verständigen Beobachters aus dem Verkehrskreis des Handelnden, eines besonders sachverständigen oder gar über alle Gegenwartserkenntnisse verfügenden Betrachters, schließlich ob hier bei den §§ 34 und 35

10 Von Bedeutung ist dies z. B., sofern man hier Notstandsregeln anwendet (vgl. dazu Hirsch, in: L K § 3 4 Rdn. 59 m. w. N.), bei riskanten Rettungshandlungen: Das Werfen eines Kindes aus dem Fenster eines brennenden Hauses ist kein geeignetes Rettungsmittel und damit nicht erforderlich, wenn die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Sturzes größer ist als der Tod in den Flammen.

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unterschiedliche Anforderungen zu stellen sind11. Auch in anderer Hinsicht entsprechen sich die Probleme: Geht es bei der Gefahr um die größere oder geringere Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts, so ist bei der Geeignetheit zu fragen, wie wahrscheinlich es sein muß, daß die fragliche Rettungshandlung den gewünschten Erfolg hat. Dabei ist eine exakte begriffliche Fixierung hier so wenig möglich wie dort, und wie schon das Vorliegen einer Gefahr, so kann auch die für die Geeignetheit des Mittels erforderliche Rettungschance nicht mit Hilfe von Prozentzahlen bestimmt werden 12 . Selbstverständlich ist, daß einerseits keine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit eines positiven Ausgangs verlangt werden kann und daß andererseits eine nur ganz entfernte und vage Rettungschance nicht ausreicht. Im übrigen wird man sich zunächst mit der negativen Aussage begnügen müssen, daß die erfolgreiche Abwendung des drohenden Schadens nicht ganz unwahrscheinlich sein darf. Daß die Grenze damit verhältnismäßig tief angesetzt ist, ist hier deshalb unschädlich, weil es in § 3 4 letztlich die Interessenabwägung und in § 3 5 die Zumutbarkeitsklausel ist, die darüber entscheiden, wie hoch das Risiko des Meßlingens im Einzelfall sein darf13. Mit anderen Worten: J e geringer die Rettungschancen sind, umso eher fällt die Interessenabwägung zugunsten des „Eingriffsguts" aus (§34) bzw. umso eher ist die Hinnahme der drohenden Gefahr zumutbar ( § 3 5 1 S.2), wobei die Anforderungen an die Geeignetheit noch steigen, je schwerer der in der Notstandstat liegende Eingriff in fremde Güter einerseits und je geringer die durch sie geschützten Interessen andererseits wiegen. Umgekehrt sinken diese Anforderungen, je höher das „Erhaltungsgut" zu veranschlagen ist und je geringfügiger die Verletzungshandlung erscheint, um schließlich einen Punkt zu erreichen, an dem es genügt, daß der Erfolg nicht gänzlich unwahrscheinlich ist. III. In seiner vollen Bedeutung, aber auch in seiner eigentlichen Problematik zeigt sich das Erforderlichkeitsprinzip, wenn mehrere Möglichkeiten in Betracht kommen, die Gefahr abzuwenden. Während der Täter beim Vorhandensein nur einer Handlungsmöglichkeit lediglich zu fra11 Vgl. eingehend zum Stand der Meinungen zuletzt Hirsch, in: LK §34 Rdn.27ff, §35 Rdn. 17. " Zur Gefahr vgl. Hirsch, in: LK §34 Rdn. 32; Lenckner, in: Schönke-Schröder, 22. Aufl. 1985, §34 Rdn. 15. 13 Auch insoweit kann nichts anderes gelten als für die Gefahr selbst: Spielt es ζ. B. bei der Interessenabwägung nach § 34 eine Rolle, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daß die Gefahr in den drohenden Schaden umschlägt (vgl. z.B. S/S-Lenckner [Fn. 12] §34 Rdn. 15), so muß ein Abwägungsfaktor selbstverständlich auch der Grad der Wahrscheinlichkeit sein, daß die Rettungshandlung gelingt.

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gen hat, o b eine Gefahrbeseitigung auf diese Weise überhaupt möglich ist, muß er hier unter den mehreren zur Verfügung stehenden Mitteln eine Auswahl treffen. Trifft er die falsche, so ist eine Rechtfertigung oder Entschuldigung wegen Notstands schon an dieser Stelle zu verneinen, und zwar auch dann, wenn die fragliche Tat, wäre sie das einzige verfügbare Mittel gewesen, gerechtfertigt oder entschuldigt wäre: So ist z . B . die eigenmächtige Benutzung eines fremden Pkw ( § 2 4 8 b ) in der Regel nach § 34 gerechtfertigt 14 , wenn dies der einzige Weg zur Rettung eines Schwerverletzten ist; sie ist dies aber, weil nicht erforderlich, selbstverständlich nicht mehr, wenn statt dessen rechtzeitig auch ein Krankenwagen herbeigerufen werden könnte. Daß die Erforderlichkeit der Notstandshandlung die Funktion eines ersten, wichtigen Filters hat, wird gerade hier besonders deutlich. Methodisch ist in diesen Fällen in der Weise vorzugehen, daß die möglichen Handlungsalternativen zunächst einmal unter dem Gesichtspunkt ihrer Eignung zur Gefahrabwendung geprüft und miteinander verglichen werden. Dies geschieht nach den oben genannten Regeln, wobei die keine wirksame Abhilfe versprechenden Alternativen auszuscheiden sind, während sich für die übrigen je nach Größe der Erfolgsaussicht ergeben kann, daß sie für den gewollten Zweck gleich oder unterschiedlich geeignet sind. Geht es bei der Prüfung der Geeignetheit der vorhandenen Mittel um den Nutzen auf der „Erhaltungsseite" in Gestalt einer mehr oder weniger großen Chance, das bedrohte Gut retten zu können, so ist anschließend ein Blickwechsel zur „Eingriffsseite" vorzunehmen und nach der H ö h e der dort jeweils entstehenden „Kosten" zu fragen. Auch hier sind dann die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten, soweit sie nicht als ungeeignet ausgeschieden wurden, wieder miteinander zu vergleichen, diesmal unter dem Aspekt, wie schwer der Eingriff wiegt, als der sich die Inanspruchnahme der jeweils betroffenen Güter darstellen würde. Ziel dieses Vergleichs ist die Auffindung des relativ mildesten Mittels. Dabei kann ebenso wie bei der Geeignetheit eine Prognose notwendig sein, so wenn das fragliche Mittel in einer Gefährdungshandlung besteht (z. B. Trunkenheitsfahrt an einen Unfallort zur Rettung eines Schwerverletzten), aber auch bei einer Verletzungshandlung, wenn diese mit der Gefahr eines weitergehenden Schadens verbunden ist. Maßgebend dafür sind dann die gleichen Grundsätze und Maßstäbe, nach denen schon die den Notstand begründende Gefahr und - wenngleich mit anderer Fragestellung - auch die

14 Wobei hier, weil i . E . ohne Bedeutung, dahingestellt bleiben kann, ob § 2 4 8 b das Gebrauchsrecht an den dort genannten Fahrzeugen nur als Ausfluß des Eigentums schützt (vgl. dazu Eser, in: Schönke-Schröder [Fn. 12] § 2 4 8 b Rdn. 1 m. w. N . ) , so daß in solchen Fällen dann schon § 904 B G B unmittelbar zur Anwendung käme.

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Eignung der Abwendungshandlung festzustellen sind15. Anders als bei der Prüfung der Geeignetheit, die sich in einer Prognose über ein tatsächliches Geschehen erschöpft, ist bei der Suche nach dem relativ mildesten Mittel jedoch immer auch die normative Frage zu entscheiden, welches der auf der „Eingriffsseite" zu erbringenden Opfer nach den Maßstäben des Rechts das kleinste Übel ist (vgl. u. 1.). Daran anschließend ist sodann die weitere Frage zu stellen, wie die Grundsätze der Geeignetheit und des relativ mildesten Mittels im Verhältnis zueinander zu gewichten sind und ob es stets nur das schwächste Mittel ist, nach dem sich auch die Erforderlichkeit der Notstandshandlung bestimmt (vgl. U.2.).

1. Es versteht sich von selbst, daß beim Notstand - anders als bei der Notwehr - die Möglichkeit, der Gefahr auszuweichen, ohne dabei eigene oder fremde Güter opfern zu müssen, immer das mildeste Mittel ist: Wer, um sich seinem Angreifer zu entziehen, in ein fremdes Haus eindringt (§123), kann sich nicht auf §34 berufen, wenn ihm auch andere Fluchtwege offengestanden hätten. Die Frage, auf die noch zurückzukommen sein wird, kann hier nur sein, wie zu entscheiden ist, wenn auch die Möglichkeit des Ausweichens, ohne deshalb schon ein ungeeignetes Mittel zu sein, mit gewissen Risiken verbunden ist. Davon abgesehen aber kann die Bestimmung des relativ mildesten Mittels nur dann zum Problem werden, wenn ein Ausweichen vor der Gefahr nicht möglich ist oder - auch dann wäre das Ausweichen ein ungeeignetes Mittel - das bedrohte Gut dadurch lediglich in eine neue, zumindest ebenso schwere Gefahr gebracht würde, wenn m. a. W. also zum Schutz des „Erhaltungsguts" andere Rechtsgüter in Anspruch genommen werden müssen. Dabei kann es sich je nach Sachlage ausschließlich um Rechtsgüter Dritter handeln; möglich ist aber auch, daß daneben Güter des Täters oder im Fall der Notstandshilfe solche des von der Gefahr Betroffenen zur Verfügung stehen. a) Kommen als Gefahrabwendungshandlungen nur solche in Betracht, durch welche rechtlich geschützte Interessen Dritter verletzt werden müssen, so ergibt sich das relativ mildeste Mittel sowohl beim rechtfertigenden als auch beim entschuldigenden Notstand schon aus einer einfachen Abwägung der Güter und Interessen, die auf der „Eingriffsseite" jeweils betroffen wären. Die Interessen, um die es auf der „Erhaltungsseite" geht, haben dabei außer Betracht zu bleiben, da bei der Prüfung der Erforderlichkeit allein die Frage interessiert, mit welchem der vorhandenen Mittel das geringste Opfer auf der „Eingriffsseite" verbunden ist: Auch wenn die Notstandshandlung, weil das geschützte Interesse 15

Vgl. oben S.98Í.

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das beeinträchtigte nicht wesentlich überwiegt (§ 34) bzw. die Hinnahme der Gefahr zumutbar ist (§ 35), nicht gerechtfertigt oder entschuldigt ist, kann sie unter den gegebenen Möglichkeiten doch das mildeste Mittel gewesen sein, ebenso wie umgekehrt eine wegen des Vorhandenseins eines milderen Mittels nicht erforderliche Notstandshandlung rechtswidrig und schuldhaft bleibt, auch wenn sie, hätte es diesen anderen Ausweg nicht gegeben, gerechtfertigt oder entschuldigt wäre (z.B. im Fall des §34, weil auch hier die geschützten Interessen immer noch wesentlich überwogen hätten). Von der Güterabwägung, wie sie bei § 34 als Teil der (umfassenderen) Interessenabwägung und bei §35 - dort allerdings nur in begrenztem Umfang - im Rahmen der Zumutbarkeitsklausel des Abs. 1 S. 2 erfolgt, unterscheidet sich die hier erforderliche Abwägung deshalb zwar in ihrem Gegenstand: Sind dort das „Erhaltungsgut" und das durch die Erforderlichkeit der Notstandshandlung bestimmte „Eingriffsgut" gegeneinander abzuwägen, so findet die Abwägung hier zwischen den potentiellen „Eingriffsgütern" statt. Auch befinden sich diese hier alle in derselben Ausgangsposition, während sich „Erhaltungs"- und „Eingriffsgut" im typischen, durch die Abwälzung des drohenden Schadens auf einen unbeteiligten Dritten gekennzeichneten Notstandsfall unter verschiedenen Vorzeichen gegenüberstehen, was wichtige Konsequenzen für die zu treffende Präferenzentscheidung hat: Während ein (wesentlich) überwiegendes Interesse i. S. des § 34 S. 1 nur angenommen werden kann, wenn die Abwägung von „Eingriffs"- und „Erhaltungsgut" eine unverhältnismäßig größere Schutzwürdigkeit des ersteren ergibt", genügt es hier, daß insoweit überhaupt eine Differenz besteht. Im übrigen aber gelten für beide Abwägungen dieselben Regeln. Auch bei der zur Bestimmung des relativ mildesten Mittels führenden Abwägung der potentiellen „Eingriffsgüter" ist es daher mit einem abstrakten Rechtsgütervergleich nicht getan, sondern zu fragen, wie schutzwürdig diese in der konkreten Lebenssituation sind17, hier, weil das kleinste Übel auf der „Eingriffsseite" in der Inanspruchnahme des unter den gegebenen Umständen am wenigsten schutzwürdigen Guts liegt. Das allgemeine Rang- und Wertverhältnis der Rechtsgüter hat dafür zwar immer besonderes Gewicht, auch kann sich schon aus ihrem abstrakten Stellenwert ergeben, welches Mittel das mildere ist (so z. B. bei Eigentum und Leben als möglichen „Eingriffsgütern"). Meist aber hängt die größere oder geringere Schutzwürdigkeit der verfügbaren „Eingriffsgüter" noch von weiteren Umständen ab, weshalb auch hier eine Konkreti" Vgl. dazu S/S-Lenckner (Fn. 12) §34 Rdn.36ff. 17 Zur Abwägung von „Erhaltungs"- und „Eingriffsgut" vgl. näher Lenckner, Notstand (Fn. 9) S. 96 ff, GA 1985, 310 ff, S/S-Lenckner (Fn. 12) §34 Rdn.25ff.

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sierung und eine Individualisierung der hinter den fraglichen Rechtsgütern stehenden Interessen notwendig ist: Eine Konkretisierung, weil Rechtsgut nur der abstrakte Rechtswert (ζ. B. das Eigentum als solches), nicht aber das konkrete Objekt ist ( z . B . die bestimmte einzelne Sache); eine Individualisierung, weil immer zu fragen ist, welche Interessen gerade die potentiell Betroffenen im Einzelfall an ihren Gütern tatsächlich haben und berechtigterweise haben dürfen. Die Frage, welche Umstände hier im einzelnen eine Rolle spielen können, kann im vorliegenden Zusammenhang übergangen werden. Es sind dies wieder dieselben, die auch bei der Abwägung von „Erhaltungs"- und „Eingriffsgut" von Bedeutung sind' 8 . Entscheidend ist nur das Ergebnis: Werden bei der Abwägung der in Betracht kommenden „Eingriffsgüter" diese weiteren, für den Grad ihrer konkreten Schutzwürdigkeit gleichfalls relevanten Gesichtspunkte mitberücksichtigt, so können sich auch die Gewichte zu Lasten des abstrakt höherwertigen Gutes verschieben, dies mit der Folge, daß seine Inanspruchnahme als das mildere Mittel erscheint. N u r mit Einschränkungen ist daher auch der Satz richtig, daß nicht tatbestandsmäßige Handlungen gegenüber solchen, die einen Straftatbestand erfüllen, die milderen Mittel sind". Schon bei der auf der Ebene eines abstrakten Rechtsgütervergleichs durchgeführten Abwägung zwischen den möglichen „Eingriffsgüter" kann daraus, daß ein Gut z . B . nur zivilrechtlichen Schutz genießt, nicht schlechthin auf seine Geringerwertigkeit gegenüber strafrechtlich geschützten Gütern geschlossen werden: Versucht etwa ein Zeitungsverlag dem drohenden wirtschaftlichen Ruin durch eine Steuerhinterziehung ( § 3 7 0 A O ) zu entgehen, so ist dies selbstverständlich nicht wegen Notstands gerechtfertigt (auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung von Arbeitsplätzen!), dies aber nicht schon deshalb, weil als „milderes Mittel" auch eine gewinnbringende Auflagensteigerung durch eine nicht strafbare, jedoch das allgemeine Persönlichkeitsrecht in schwerwiegender Weise verletzende Reportage über das Privat- und Intimleben eines prominenten Politikers zur Verfügung gestanden hätte. Erst recht kann sich bei einer auf die konkrete Schutzwürdigkeit bezogenen Abwägung ergeben, daß eine Rettungsalternative, obwohl durch sie ein Straftatbestand verwirklicht würde, die weniger belastende Maßnahme sein kann, so bei einer geringfügigen Sachbeschädigung einerseits, einer straflosen, für den Betroffenen aber mit schweren Nachteilen verbundenen Gebrauchsanmaßung andererseits.

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Vgl. Fn. 17. In diesem Sinn z.B. Hirsch, in: LK §34 Rdn.52.

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Mit ihrer geringeren Schutzwürdigkeit hängt es auch zusammen, daß die Inanspruchnahme solcher Güter auf der „Eingriffsseite", die - im Fall des §34 schon aufgrund eines anderen Rechtfertigungsgrunds rechtmäßig verletzt werden dürfen, grundsätzlich auch das mildere Mittel ist. Daraus folgt z. B., daß Notwehrhandlungen unter Notstandsgesichtspunkten in der Regel das kleinere Übel sind: Kann der Angegriffene den Angreifer ohne größeres eigenes Risiko unschädlich machen, so wäre ein Hausfriedensbruch, durch den er sich dem Angriff entziehen könnte, zur Abwendung der Gefahr nicht erforderlich und damit nach §34 nicht gerechtfertigt. Eine Ausnahme dürfte hier nur bei völliger Disproportionalität der den fraglichen „Eingriffsgütern" (Güter des Angreifers, Güter unbeteiligter Dritter) drohenden Schäden zu machen sein. Würde z. B. durch den sonst erforderlichen Einsatz einer Schußwaffe das Leben des Angreifers schwer gefährdet, so braucht ihn der Angegriffene unter Notwehrgesichtspunkten zwar nicht zu schonen, indem er sich durch eine Ordnungswidrigkeit über einen bestellten Acker in Sicherheit bringt20 oder durch eine geringfügige Sachbeschädigung (z. B. Herausreißen einer Zaunlatte) ein weniger gefährliches Verteidigungsmittel beschafft21, wohl aber muß er hier wegen der besonders schweren Folgen einer Notwehr unter Notstandsgesichtspunkten (§16 O W i G , § 904 B G B ) auch zu diesen verhältnismäßig geringfügigen Eingriffen in Güter unbeteiligter Dritter berechtigt sein. Von diesen Besonderheiten bei §32 abgesehen, wo aus der Sicht des Notstands eine rechtmäßige Notwehrhandlung nicht stets das mildeste Mittel zu sein braucht, gilt jedoch uneingeschränkt der obengenannte Grundsatz. Geht z. B. die den Notstand begründende Gefahr von einer Sache aus, so ist ihre nach §228 B G B zulässige Zerstörung oder Beschädigung im Vergleich zur Verletzung eines unbeteiligten Guts stets das mildere Mittel, wobei die soeben für die Notwehr beschriebene Situation hier nicht auftreten kann: Ist es möglich, einem Tierangriff über ein bestelltes Feld auszuweichen, so wäre die Tötung des Tieres nicht nur der gravierende Eingriff, sondern als Sachwehr nach §228 B G B , weil nicht erforderlich22, auch nicht gerechtfertigt. Willigt der Inhaber eines der möglichen 20 Ordnungswidrigkeit z.B. nach §§37 Abs. 1, 64 Abs.2 Nr. 19 NaturSchG Bad.Württ. v. 21.10.1975, GBl. S.654. Vgl. dazu auch schon Henkel a.a.O. (Fn.6) S. 115f. 21 Wird von dem Angegriffenen, obwohl ihm dies möglich wäre, nicht verlangt, daß er zur Schonung des Angreifers fremde private Hilfe herbeiholt (vgl. Spendel, in: LK [Fn. 1] §32 Rdn.233, S/S-Lenckner [Fn. 12] §32 Rdn. 41 m. w. N.), so kann ihm auch nicht entgegengehalten werden, daß er sich auf Kosten Dritter ein milderes Verteidigungsmittel hätte beschaffen können. 22 Dazu, daß vor Tierangriffen, für die nach ganz h.M. nicht §32, sondern §228 BGB gilt (and. im wesentlichen wohl nur noch Spendel, in: LK §32 Rdn. 38ff.), nach Möglichkeit ausgewichen werden muß, vgl. z.B. von Feldmann, in: Münchener Kommentar zum BGB, 2. Aufl. 1984, §228 Rdn. 3 m . w . N .

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„Eingriffsgüter" in dessen Inanspruchnahme ein, so ist die Verletzung dieses Guts selbstverständlich auch die am wenigsten belastende Maßnahme, und dasselbe gilt, wenn von einer mutmaßlichen Einwilligung ausgegangen werden kann. Gleichwohl ist der Notstand gegenüber (im Fall des § 3 4 : anderen) Rechtfertigungsgründen nur bedingt subsidiär. Zwar ist ein rechtmäßiges Mittel grundsätzlich zugleich das mildere; ist dieses im Vergleich zu einem anderen aber das weniger aussichtsreiche, so kann auch das andere Mittel das zur Abwendung der Gefahr erforderliche sein (ζ. B. der bei nur geringen Erfolgschancen einer Notwehr zum Schutz vor dem Angreifer begangene Hausfriedensbruch) 23 . b) Diesen Regeln geht ein anderer Grundsatz vor, wenn der im N o t stand Befindliche zur Abwendung der ihm drohenden Gefahr auch auf eigene Güter zurückgreifen kann. Ebenso wie „Erhaltungs"- und „Eingriffsgut" stehen sich in diesem Fall die Güter auf der „Eingriffsseite" unter verschiedenen Vorzeichen gegenüber, weil es hier um die Alternative geht, ob die Gefahrenlage intern bereinigt oder der Konflikt nach außen getragen und der drohende Schaden durch einen Ubergriff auf eine fremde Rechts- und Herrschaftssphäre auf einen Dritten abgewälzt wird. Sowohl beim rechtfertigenden wie beim entschuldigenden N o t stand ist es jedoch selbstverständlich, daß derjenige, der in eine Gefahr geraten ist, diese zunächst auf eigene Kosten beseitigen muß, ehe er Dritte in Anspruch nimmt. In beiden Fällen ist deshalb der Einsatz eigener Güter prinzipiell das mildeste Mittel, und zwar auch dann, wenn das fragliche Gut, stünde es einem Dritten zu, schutzwürdiger wäre als die anderen potentiellen „Eingriffsgüter". Auch hier kann daher die Beeinträchtigung dritter Güter nur noch unter dem Gesichtspunkt der unterschiedlichen Geeignetheit erforderlich sein. Daß für den im Notstand Befindlichen die eigenen Mittel zugleich die mildesten sind, gilt allerdings nicht unbeschränkt. Eine Grenze ist vielmehr dort zu ziehen, wo er durch den Einsatz eigener Güter in eine Situation geriete, die ihrerseits wieder nach Notstandsregeln die Inanspruchnahme der anderen in Betracht kommenden „Eingriffsgüter" rechtfertigen oder - im Fall des § 35 - entschuldigen würde. So wäre, um ein Beispiel zum entschuldigenden Notstand zu nennen, in den von der

25 Die Möglichkeit eines solchen Auseinanderfallens des nach § 34 erforderlichen und eines bereits aus anderen Gründen rechtmäßigen Mittels ist nur dort ausgeschlossen, w o der Feststellung der Rechtmäßigkeit dieselbe Erforderlichkeitsprüfung wie bei § 34 vorausgeht. Dies ist der Fall, wenn eines der möglichen Eingriffsgüter nach § 2 2 8 B G B verletzt werden darf. O b die Einwirkung auf die Sache erforderlich ist, hängt hier, ebenso wie bei § 3 4 , davon ab, o b nicht andere, geeignetere und mildere Mittel zur Verfügung stehen; ist dies zu verneinen und eine Sachwehr damit erforderlich, so bedeutet dies umgekehrt, daß die Inanspruchnahme eines der anderen Güter nach § 34 nicht erforderlich ist.

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Rechtsprechung mehrfach behandelten Meineidsfällen, in denen ein Zeuge bei einer wahrheitsgemäßen Aussage um Leib oder Leben fürchten muß, die Verweigerung der Aussage oder Eidesleistung mit den Folgen des § 70 StPO zwar nach den §§ 52, 54 a. F. das mildere Mittel gewesen24. Sie ist dies aber nicht mehr ohne weiteres seit Einbeziehung der Freiheit in den Kreis der notstandsfähigen Güter, wenn dem Zeugen die Festsetzung von Ordnungs- oder Erzwingungshaft droht25, wobei die Entscheidung letztlich davon abhängt, ob es ihm zuzumuten ist, sich dieser Gefahr auszusetzen. Hier zeigt sich dann auch, daß schon das Merkmal der „Nicht-anders-Abwendbarkeit" der Gefahr in § 35 Abs. 1 S. 2 ein Einfallstor für Zumutbarkeitserwägungen ist, solche also nicht erst in der vom Gesetz als Ausnahmeregel gedachten Abs. 1 S. 2 eine Rolle spielen26. Denn zur Prüfung des Abs. 1 S. 2 kommt es erst, wenn die Voraussetzungen des S. 1 erfüllt sind und damit feststeht, daß die Notstandshandlung zur Abwendung der Gefahr erforderlich war. Ob sie dies gewesen ist, hängt aber, wenn der im Notstand Befindliche durch die Ausnutzung eigener Möglichkeiten die Güter des §35 aufs Spiel setzen müßte, davon ab, ob ihm dies zumutbar ist. Oder anders ausgedrückt: Während Abs. 1 S. 2 die Frage betrifft, ob dem Täter die Hinnahme der den Notstand begründenden und nach S. 1 nicht anders abwendbaren Gefahr zuzumuten ist, geht es hier bei der Erforderlichkeitsprüfung des S. 1 um die Zumutbarkeit von Opfern, die er bringen müßte, wenn er zur Abwendung der Gefahr auf seine eigenen Ressourcen zurückgreifen würde. Müßte er dazu die in § 35 als notstandsfähig anerkannten Güter einsetzen, so ist dies - entsprechend Abs. 1 S. 1 grundsätzlich zu verneinen, es sei denn, es lägen Umstände von der Art vor, wie sie auch für S.2 von Bedeutung sind: Befindet sich jemand in Lebensgefahr, aus der er sich entweder risikolos durch Tötung eines anderen oder unter Inkaufnahme von eigenen, nicht besonders schwerwiegenden körperlichen Verletzungen retten könnte, so ist ihm - eine Frage, die sich hier überhaupt nicht stellt - zwar nicht die Hinnahme der Lebensgefahr zumutbar, wohl aber die des drohenden Körperschadens, dies wegen der disproportionalen Folgen einer Rettungshandlung für die

24 So RGSt. 66, 222, 227; zum entschuldigenden Notstand beim Meineid vgl. ferner z . B . RGSt. 66, 98, 397, R G J W 1925, 1961, BGHSt. 5, 371, B G H LM § 5 2 StGB N r . 8 . Daß sich die Aussageverweigerung unmittelbar gegen die Rechtspflege richtet und eigene Güter des Zeugen erst mittelbar betroffen sind, ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung. 25 So mit Recht Hirsch, in: LK § 3 5 Rdn. 45; and. aber Jescheck, AT S. 390; vgl. auch Wessels, Strafrecht, AT, 15. Aufl. 1985, S. 116. 26 Vgl. Jescheck, AT S.390 u. näher S/S-Lenckner (Fn. 12) § 3 5 Rdn. 13, 18; and. Hirsch, in: L K § 35 Rdn. 46, dessen Kritik jedoch, wie auch der folgende Text zeigt, nicht berechtigt ist.

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in Betracht kommenden „Eingriffsgüter" (Tötung einerseits, nicht besonders schwere Körperverletzung andererseits). c) Diese Grundsätze gelten auch für die Notstandshilfe, wenn auf der „Eingriffsseite" neben den Gütern Dritter solche des im Notstand Befindlichen stehen. Ist es ein allgemeines Prinzip, daß jedermann die ihn treffenden Risiken des Lebens und die daraus resultierenden Schäden primär selbst zu tragen hat und nicht anderen aufbürden darf, so kann der Betroffene in einem solchen Fall auch nicht erwarten, auf Kosten Dritter salviert zu werden. Für den Nothelfer bedeutet dies, daß die Möglichkeit, zum Schutz des „Erhaltungsguts" Güter aus demselben Interessenkreis heranzuziehen, solange das mildere Mittel ist, bis die oben für den im Notstand Befindlichen genannte Opfergrenze erreicht ist. Bis dahin aber ist die Inanspruchnahme von dessen Gütern auch dann das mildere Mittel, wenn eine (mutmaßliche) Einwilligung nicht vorliegt, was nicht heißt, daß eine solchermaßen aufgedrängte Rettungsaktion nicht dennoch rechtswidrig ist27. d) Im Prinzip ebenso ist das mildeste Mittel beim entschuldigenden Notstand zu bestimmen, wenn der Nothelfer die Gefahr auch durch Preisgabe eigener Interessen abwenden könnte. Zwar handelt es sich in diesem Fall nicht um ein und dieselbe Rechts- und Herrschaftssphäre, in der sich der Konflikt erledigen läßt. Wohl aber kann hier, weil die Entschuldigung des Nothelfers wegen seiner Identifizierung mit der Sympathieperson auch damit zu erklären ist, daß sich dessen Not für ihn gleichsam als eigene darstellt, von zwei sich deckenden Interessenkreisen gesprochen werden. Dann ist es jedoch nur konsequent, wenn er eigene Güter in demselben Umfang einsetzen muß, wie dies die Sympathieperson tun müßte. Mit anderen Worten: Ist es für ihn nicht zumutbar, die dem Angehörigen usw. drohende Gefahr tatenlos hinzunehmen, so muß ihm andererseits zu deren Abwendung auch jedes eigene Opfer zugemutet werden können, es sei denn, er geriete dadurch selbst in die Situation eines entschuldigenden Notstands 28 . Anders liegen die Dinge dagegen bei § 34, wenn der Nothelfer auch auf eigene Güter zurückgreifen könnte. Dem „Erhaltungsgut" steht 27 So wäre ζ. B., obwohl dies gegenüber der eigenmächtigen Ingebrauchnahme eines fremden Pkw das mildere Mittel wäre, die Benutzung des Pkw eines Schwerkranken zum Zweck seiner Rettung nicht nach § 34 gerechtfertigt, wenn dies gegen dessen ausdrücklichen Willen geschähe, weil er sich in voller Verantwortung dafür entschieden hat, sein Schicksal auf sich zu nehmen. 29 Entreißt z . B . der Täter bei einem Schiffsunglück einem anderen Passagier die Schwimmweste, um einen Angehörigen zu retten, so ist § 35 nicht deshalb zu verneinen, weil er dem Angehörigen auch die eigene Schwimmweste hätte geben können, dann aber selbst ertrunken wäre.

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dieser, läßt man die Besonderheiten bei einer Garantenstellung des Nothelfers außer Betracht, hier nicht näher als die Inhaber der anderen potentiellen „Eingriffsgüter". Anders als bei einer intern im Interessenkreis des Gefährdeten möglichen Bereinigung der Gefahrenlage verläuft in diesem Fall die Opfergrenze daher auch nicht erst dort, wo der Nothelfer durch die Preisgabe eigener Güter selbst in eine rechtfertigende Notstandslage gegenüber den anderen „Eingriffsgütern" geriete. Von der nur auf Kosten fremder Güter möglichen Notstandshilfe unterscheidet sich diese Konstellation andererseits jedoch dadurch, daß bei ihr die mit jedem Eingriff in fremde Güter verbundene Störung der allgemeinen Friedensordnung vermieden werden kann. Hier genügt es daher auch nicht, daß sich bezüglich der Schutzwürdigkeit der Interessen des Nothelfers einerseits und der sonst vorhandenen „Eingriffsgüter" andererseits überhaupt eine Differenz feststellen läßt: Kann z. B. der Nothelfer den Schwerverletzten mit seinem eigenen Pkw in ein Krankenhaus bringen, so würde die eigenmächtige Benutzung eines fremden Pkw nicht deshalb zum milderen Mittel, weil sein eigenes, noch neues Auto durch den Transport des schwer blutenden Opfers mehr in Mitleidenschaft gezogen würde als das demnächst ohnehin schrottreife Fahrzeug des anderen. Muß einerseits nicht die Schwelle zum rechtfertigenden Notstand überschritten sein, was eine unverhältnismäßig größere Schutzwürdigkeit der Interessen des Notstandshelfers gegenüber den anderen verfügbaren „Eingriffsgütern" voraussetzen würde 29 , genügt andererseits diesbezüglich nicht jeder noch so geringe Unterschied, so wird allerdings auch die Bestimmung der maßgeblichen Grenze problematisch. Denkbar wäre hier eine „mittlere" Lösung in dem Sinne, daß der Nothelfer dann nicht mehr auf die ihm mögliche Inanspruchnahme eigener Güter verwiesen werden kann, wenn diese „erheblich" schutzwürdiger sind. Auch eine solche Regel bedürfte dann aber noch der Ergänzung, wenn der Notstand zugleich ein Unglücksfall i. S. des § 323 c ist. Soweit der Nothelfer hier im Rahmen seiner Hilfeleistung nicht eigene Interessen opfern muß, wird man darin immer auch das mildere Mittel sehen können und zwar, weil dies seine eigene Hilfspflicht noch nicht beseitigen würde 30 , selbst dann, wenn die anderen potentiell Betroffenen bezüglich ihrer Güter die gleiche Pflicht hätten. Reicht umgekehrt die Hilfspflicht des Nothelfers nicht bis zur Preisgabe der fraglichen Eigeninteressen, so muß für ihn die Inanspruchnahme eines der anderen Güter Vgl. o. Fn. 16. Dazu, daß die Hilfspflicht nicht schon deshalb entfällt, weil auch andere hilfspflichtig sind, vgl. z . B . Rudolphi, in: Systemat. Kommentar zum StGB, B d . 2 , 3.Aufl. 1986, § 323 c Rdn. 16 m. w. N . 29

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jedenfalls dann das mildere Mittel sein, wenn für dessen Inhaber eine solche Pflicht besteht. Eine derartige Betrachtungsweise würde dann freilich auch bedeuten, daß der Grundsatz, daß bei der Bestimmung des relativ mildesten Mittels die „Erhaltungsseite" außer Betracht zu bleiben hat31, hier nicht mehr durchgehalten werden kann: Denn ob die Hilfspflicht nach § 323 c zugleich die Pflicht umfaßt, eigene Güter einzusetzen und notfalls zu opfern, bestimmt sich nicht nur nach deren Schutzwürdigkeit, sondern auch danach, was für den von dem Unglücksfall Betroffenen auf dem Spiel steht. 2. Erst wenn das relativ mildeste Mittel feststeht, kann unter Berücksichtigung seiner Geeignetheit auch die erforderliche Notstandshandlung bestimmt werden, und zwar nach dem Grundsatz, daß diese einerseits so effektiv, andererseits so wenig belastend wie möglich sein muß. Deshalb ist es selbstverständlich, daß das mildeste und zugleich aussichtsreichste Mittel immer auch das allein erforderliche ist. Eine klare Präferenz ergibt sich ferner, wenn unter mehreren gleich geeigneten Mitteln eines das mildeste oder unter mehreren gleich schweren eines das geeignetste ist: Hier ist das mildeste bzw. das geeignetste auch das erforderliche Mittel. Ebenso eindeutig ist die Entscheidung schließlich, wenn die vorhandenen Rettungsalternativen alle gleich schwer und gleich wirksam sind. Verlangt man für den Notstand nicht eine „spezifische Kollisionsbeziehung" 32 , was z. B. die Benutzung eines von mehreren am Straßenrand abgestellten Fahrzeugen (§ 248 b) für einen dringenden Krankentransport von vornherein ausschließen würde, so ist hier mit der Folge einer Wahlfreiheit die Erforderlichkeit für jede der gegebenen Möglichkeiten zu bejahen. Während sich hier die Lösung mehr oder weniger zwingend aus der Natur der Sache ergibt, ist sie um einiges problematischer, wenn die zur Verfügung stehenden Mittel sowohl unterschiedlich schwer als auch unterschiedlich geeignet sind und die größere Geeignetheit nicht der geringeren Schwere entspricht. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Ist es möglich, zur Beschaffung eines dringend benötigten Medikaments für einen lebensgefährlich Erkrankten 1. das fragliche Medikament einem im selben Haus wohnenden Patienten wegzunehmen, der jedoch gleichfalls auf dieses angewiesen ist, 2. in eine Privatwohnung einzubrechen, um von dort aus die in der nächsten Stadt gelegene Apotheke zu beauftragen, das Medikament per Taxi zu schicken, 3. eigenmächtig einen fremden Pkw zu benutzen, um das Medikament aus der Apotheke zu holen, so ist die erste Alternative die schwerwie31 J2

Vgl. o. S. 101 f. Vgl. o. Fn. 8.

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gendste, aber auch aussichtsreichste (geringster Zeitverlust), die dritte hingegen die am wenigsten belastende, aber auch die am wenigsten geeignete (größter Zeitverlust wegen der doppelten Fahrstrecke). In solchen Fällen einer Divergenz von Geeignetheit und Schwere kann der Grundsatz, daß die Rettungshandlung so schonend und so effektiv wie möglich sein muß, nicht bedeuten, daß man die Erforderlichkeit gleichsam nach dem arithmetischen Mittel zu bestimmen hätte. Wäre dies die Lösung, so bliebe in dem genannten Beispiel nur die 2. Alt., während die 3. Alt. von vornherein für eine Rechtfertigung nach §34 ausscheiden würde - ein offensichtlich wenig sinnvolles Ergebnis. Andererseits kann aber auch über die l . A l t . nicht mit der Begründung hinweggegangen werden, sie sei ohnehin rechtswidrig, weil sich dies erst an späterer Stelle ergibt und deshalb bei der Erforderlichkeitsprüfung noch außer Betracht zu bleiben hat. Damit bleibt nur der Weg, bei einer Konstellation, wie sie hier besteht, die Erforderlichkeit für alle der vorhandenen Rettungsmöglichkeiten zu bejahen, wobei in dem Beispielsfall eine Rechtfertigung der 1. Alt. dann allerdings an der Interessenabwägungsklausel des § 34 scheitern würde, während bei den beiden anderen der Befund auch insoweit ein positiver wäre. Etwas anderes dürfte erst gelten, wenn bei extrem unterschiedlicher Geeignetheit, aber annähernd gleicher Schwere das geringfügig gravierendere Mittel zugleich das ungleich geeignetere ist oder der umgekehrte Fall vorliegt: Hier muß dann dem wesentlich geeigneteren bzw. bei der umgekehrten Situation dem wesentlich milderen Mittel der Vorzug gegeben werden. Davon abgesehen aber kann der Täter in solchen Fällen unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit nicht auf das eine oder andere Mittel festgelegt werden, weshalb die Entscheidung hier erst bei den weiteren Notstandsvoraussetzungen fällt. Allerdings wird man nur bei § 34 so verfahren können. Daß für § 35 etwas anderes gilt, zeigt ein Parallelbeispiel: Nimmt ein in Lebensgefahr Befindlicher das rettende Medikament einem Schwerkranken weg, den er dadurch dem Tod überantwortet, so ist er nicht entschuldigt, wenn er statt dessen ein ähnliches, wenn auch weniger sicheres Mittel einem anderen Kranken hätte wegnehmen können, dessen Zustand sich dadurch zwar verschlimmert hätte, aber nicht kritisch geworden wäre. Zwar stand auch hier einem mehr Sicherheit bietenden, jedoch gravierenderen ein weniger geeignetes und dafür milderes Mittel gegenüber. Bei § 35 ebenso vorzugehen, wie es oben für § 34 vorgeschlagen wurde, verbietet sich aber deshalb, weil dann auch die Tötung des Schwerkranken als erforderlich angesehen werden müßte und damit die Voraussetzung des § 35 Abs. 1 S. 1 erfüllt wären, ohne daß die Ausnahmeregelung des S. 2 in diesem Fall noch die Möglichkeit einer Korrektur böte. Denn die Frage ist hier nicht, ob dem Täter die Hinnahme der den Notstand begründenden Lebensgefahr zumutbar ist - dies ist sie, vorbehaltlich

„Nicht-anders-Abwendbarkeit" der Gefahr in §§ 34, 35 StGB

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besonderer Umstände i. S. des S. 2 nicht, weswegen er auch entschuldigt wäre, wenn es die andere Möglichkeit nicht gegeben hätte - , sondern ob ihm das verbleibende Risiko zugemutet werden kann, wenn er ein milderes, aber weniger sicheres Rettungsmittel benutzt. Dies aber kann nur bei der Erforderlichkeitspriifung nach Abs. 1 S. 1 entschieden werden, in die dann allerdings, wie schon an früherer Stelle", auch hier wieder Zumutbarkeitserwägungen miteinfließen (ist es für den Täter zumutbar, eine durch ein weniger sicheres Mittel immerhin mehr oder weniger reduzierte Lebensgefahr hinzunehmen, wenn er andererseits nur die Möglichkeit der Tötung eines anderen hätte?). Dieser Unterschied zwischen den §§ 34 und 35 ist nicht nur eine Frage der Gesetzesfassung, sondern auch von der Sache her vorgegeben. Zwar gilt sowohl für § 34 wie für § 35 der Grundsatz, daß die Gefahr nur dann nicht anders abwendbar bzw. die Notstandshandlung nur dann erforderlich ist, wenn das eingesetzte Mittel so wirksam und so schonend wie möglich ist. Geraten aber die beiden Erfordernisse der Geeignetheit und des relativ mildesten Mittels, weil die optimale Erfüllung des einen zwangsläufig zu Abstrichen beim anderen führt, in Konflikt miteinander, so kann dieser bei beiden Vorschriften durchaus unterschiedlich zu lösen sein. Dem „Mehr-Nutzen-als-Schaden"-Prinzip, auf dem - richtig verstanden - der rechtfertigende Notstand letztlich beruht, entspricht es, daß hier eine Entscheidung weder zugunsten der einen noch zugunsten der anderen Seite getroffen werden kann: Ist das geeignetere jeweils das schwerere bzw. das weniger geeignete jeweils das mildere Mittel, so führt eine unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit durchgeführte „Gewinn-und-Verlust-Rechnung" hier immer zum selben Ergebnis dem höheren Aufwand auf der „Eingriffsseite" entspricht ein höherer Gewinn in Gestalt einer größeren Erfolgsaussicht und umgekehrt dem geringeren Verlust die geringere Rettungschance - , weshalb insoweit alle Mittel als gleichwertig anzusehen sind. Anders ist dies bei §35, wo es nicht mehr um den größeren Nutzen, sondern darum geht, welche Gefahren und Opfer dem Täter zugemutet werden können. Hier ist es daher auch kein Widerspruch, wenn unter mehreren, in ihrer Geeignetheit und Schwere divergierenden Mitteln das weniger aussichtsreiche, aber auch weniger schwere zu wählen ist, wenn die verbleibenden Risiken dem Täter zuzumuten sind. Sowohl bei § 34 wie bei § 35 gibt es demnach Fallkonstellationen, bei denen die jeweiligen Notstandsprinzipien bereits auf die Erforderlichkeit „durchschlagen". Am Ende dieser schon aus Raumgründen zwangsläufig skizzenhaft gebliebenen Studie, die Karl Lackner in Verehrung gewidmet ist, drängt

" Vgl. o. S. 106.

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sich als Fazit vor allem zweierlei auf: 1. Der vielfach anzutreffende Satz, daß sich die Erforderlichkeit der Notstandshandlung in den §§34, 35 nach den selben Regeln bestimmt, ist nur mit Einschränkung richtig und bedarf der Korrektur; 2. ein Ort für die z . T . äußerst komplexen Abwägungen, die der Notstand erforderlich macht, ist nicht erst die Interessenabwägungs- bzw. die Zumutbarkeitsklausel der §§34, 35, sondern schon das gesetzliche Merkmal der „Nicht-anders-Abwendbarkeit" der Gefahr.

Grund- und Grenzprobleme des sog. subjektiven Rechtfertigungselements WOLFGANG FRISCH

„Im einzelnen sind Inhalt und Grenzen des sog. subjektiven Rechtfertigungselements noch nicht abschließend geklärt", sagt der verehrte Jubilar resümierend in der jüngsten Auflage seines Kommentars'. Man muß ihm in dieser zurückhaltenden Würdigung zustimmen; die jüngsten Beiträge zum Thema 2 unterstreichen die Richtigkeit seiner Feststellung nur noch. In der Lehre vom sog. subjektiven Rechtfertigungselement ist derzeit fast alles kontrovers, worüber man streiten kann - und zwar auch abgesehen von der im Rahmen dieses Beitrags nicht näher erörterten Sonderfrage, ob es bei manchen Rechtfertigungsgründen einer pflichtgemäßen Prüfung der Rechtfertigungsvoraussetzungen seitens des Täters bedarf 3 . Der Streit beginnt bei der Frage, ob ein sog. subjektives Rechtfertigungselement überhaupt berechtigt ist: Im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte seit je umstritten 4 , ist das subjektive Rechtfertigungselement durch Spendet jüngst sogar im Bereich der Vorsatzdelikte wieder lebhaft bekämpft worden. N o c h wesentlich kontroverser sind die Auffassungen über den Inhalt dieses Elements': Hier wird bekanntlich seit längerem darüber diskutiert, ob es ausreicht, daß der Täter das Vorhandensein der Rechtfertigungslage nur gekannt hat, oder ob er auch - mit einer bestimmten Absicht oder einem bestimmten Willen ( z . B . dem Verteidigungs- oder Rettungswillen) gehandelt haben muß; neuerdings sind - etwa unter dem Stichwort „zweiaktige Rechtfertigungskonstellationen" 7 - weitere Differenzierungen hinzugekommen. Nicht weniger unterschiedlich sind die Auffassungen über die Folgen des

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Lackner, StGB, 16. Aufl. 1985, Vorbem. II vor §32. S. die Aufsätze von Spendei, Triffterer und Loos in der Festschrift f. Oehler, 1985, S. 197 ff, 209 ff, 227 ff sowie Herzberg, J A 1986, 190 ff. 3 Vgl. dazu statt vieler - m. w. N . - näher Scbönke/Schröder/Lenckner, S t G B , 22. Aufl. 1985, vor §32 R d n . l 7 f f . * S. dazu unten II. 1. s Vgl. Spendet, D R i Z 1978, 3 2 7 f f ; dens., Festschrift f. Bockelmann, 1979, S. 245 ff; dens., in: Leipziger Kommentar (LK), 10.Aufl. 1985, §32 Rdn. 138ff, 2 1 9 f f ; dem., Festschrift f. Oehler, S. 197 ff. 6 Vgl. im einzelnen unten II. 2. 7 Vgl. dazu noch unten II. 5. 2

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Fehlens des sog. subjektiven Rechtfertigungselements: Die ursprünglich verbreitete Ansicht, daß bei eingetretenem Erfolg auch wegen Vollendung bestraft werden müsse, verliert zusehends an Boden gegenüber der für eine Strafbarkeit allein wegen Versuchs plädierenden Lösung - wobei freilich nicht zu übersehen ist, daß auch innerhalb der Versuchslösung noch einmal Unterschiede bestehen 8 . Die eben angedeuteten Kontroversen kommen nicht von ungefähr. Sie sind eine Konsequenz der Unabgeklärtheit bzw. Vernachlässigung der Frage nach dem eigentlichen normativen Grund, dem sog. subjektive Rechtfertigungselemente ihre - etwaige - Erforderlichkeit verdanken. Diese Unabgeklärtheit spiegelt sich schon im Nebeneinander heterogener Begründungen' - und erklärt insoweit zumindest zum Teil die geschilderten Kontroversen: denn daß bei verschiedenen Vorstellungen über den Grund der Erforderlichkeit subjektiver Rechtfertigungselemente Unterschiede in bezug auf die inhaltlichen Anforderungen und die Einschätzung der Folgen des Fehlens nachgerade vorprogrammiert sind, ist angesichts der geläufigen Querverbindungen zwischen Grund und Grenzen eines Instituts einigermaßen naheliegend. Freilich ist es nicht allein das unabgeklärte Nebeneinander verschiedener Gründe, das für die gegenwärtige Situation der Lehre vom subjektiven Rechtfertigungselement verantwortlich ist. Auch eine unübersehbare Vernachlässigung dieses Hintergrunds spielt eine erhebliche Rolle. Wieviel oder genauer: wie wenig Gewicht man dem induzierenden Hintergrund beimißt, zeigt handgreiflich der Umstand, daß man die Existenz unterschiedlicher Begründungen offenbar nicht besonders beunruhigend findet, als entscheidend den - wenn auch unterschiedlich motivierten - (weitgehenden) Konsens über die Notwendigkeit überhaupt empfindet. Dieselbe Geringschätzung des Stellenwerts der Frage nach dem wahren Hintergrund offenbart sich in der Struktur der Diskussion um die Folgeprobleme (Inhalt und Grenzen, Folgen des Fehlens usw.): Die vielfältig zutage tretenden Kontroversen werden weithin nicht zum Anlaß genommen, darüber zu räsonieren, was zum konkreten Sachproblem aus der Sicht der Ratio des Erfordernisses zu sagen ist10 und hierbei dann auch gegebenenfalls die Vorstellungen über den Grund des subjektiven Rechtfertigungselements zu revidieren. Statt solcher fundierender Erwägungen, die es dann anschließend zu konkretisieren gälte, sucht man vielmehr nach neuen Argumenten, nach der Vereinbarkeit dieser oder jener Lösung mit dieser oder jener anderen Vorschrift, 8

Z.B. analoge oder direkte Anwendung, näher dazu unten II.3. ' Vgl. im einzelnen anschließend 1.1.-4. 10 Freilich gibt es Ausnahmen, vgl. etwa Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, 1974, S. 175 ff und Stratenwerth, Strafrecht - AT, 3. Aufl. 1981, Rdn.484ff.

Grund- u. Grenzprobleme des sog. subjektiven Rechtfertigungselements

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danach, ob die eine oder andere Lösung nicht in bestimmten Fällen in Schwierigkeiten gerät usw.". Durch diese Einführung neuer, sicher nicht unwichtiger, aber sachlogisch eben sekundärer Argumente besteht nicht nur die Gefahr, daß gewisse Teilprobleme der Lehre vom subjektiven Rechtfertigungselement von ihrem normativen Hintergrund gelöst werden, Eigendynamik entwickeln und nur mehr oder weniger zufällig richtig im Sinne des von der Ratio vorgezeichneten Ergebnisses gelöst werden. Es kommt auch zu nachgerade grotesken Situationen - wie etwa der Notwendigkeit, im Falle des Fehlens des sog. subjektiven Rechtfertigungselements mit materialen Argumenten jene Lösung gegen den Anschein des Irregulären zu verteidigen, über deren Richtigkeit bei einer von vornherein an der Ratio orientierten Betrachtungsweise ernsthafter Zweifel überhaupt nicht aufkommen könnte12. Aus der Einsicht in die tieferen Gründe des unabgeklärten Zustands der Lehre vom subjektiven Rechtfertigungselement ergibt sich zugleich der einzig sinnvolle Lösungsansatz: Was not tut, ist die Aufdeckung des wahren normativen Hintergrundes sog. subjektiver Rechtfertigungselemente - dieser darf nicht länger als bloß akademische Vorfrage angesehen werden. Besteht Klarheit über den induzierenden Grund, so lösen sich die Fragen nach dem Inhalt des subjektiven Rechtfertigungselements und den Folgen seines Fehlens - entsprechend dem Zusammenhang zwischen Grundund Detailproblemen - fast von selbst. Mehr noch: Es zeigt sich, daß nur eine von der Ratio gelöste oder die richtige Ratio verkennende Betrachtungsweise in diesen Folgeproblemen überhaupt ein für Diskussionen und neue Argumentationen offenes Feld entdecken kann. Endlich führt die Aufdeckung der Ratio sog. subjektiver Rechtfertigungselemente aber auch systematisch weiter - zeigt sie doch, daß das, was gegenwärtig als subjektives Rechtfertigungselement firmiert, damit durchaus nicht treffend erfaßt wird13. I. Zur Frage nach dem G r u n d und der grundsätzlichen Berechtig u n g subjektiver Rechtfertigungselemente Gemessen an der verbreiteten Anerkennung ist die dogmatische Fundierung der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen enttäuschend. An einer vertieften, mehr oder weniger akzeptierten Begrün11 Vgl. etwa - in der Diskussion um den Inhalt des sog. subjektiven Rechtfertigungselements - die (die Bedeutung des Wortlauts einzelner Bestimmungen überschätzenden) „Auslegungslösungen" ( T r i f f t e r e r , Festschrift f. Oehler, S. 222 ff) und die (zwar bedeutsamen, aber sekundären) normentheoretischen Argumente bei Loos, Festschrift f. Oehler, S. 231 ff; in dieselbe Rubrik gehören auch die „Realitäts"-Argumente im Zusammenhang mit der Vollendungslösung (s. unten II. 3.). 12 Vgl. dazu näher unten II. 3. 13 Vgl. dazu näher unten II. 4.

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dung fehlt es so gut wie völlig; an ihre Stelle tritt als Basis der weiteren Überlegungen ein aus disparaten Quellen gespeister Konsens - wobei freilich selbst dieser nur einen Teil der Rechtfertigungsgründe umfaßt14. 1. Nach wie vor verbreitet ist das Argument, schon das Gesetz selbst deute in den Formulierungen verschiedener Rechtfertigungsgründe auf das Erfordernis eines subjektiven Rechtfertigungselements hin15. Als Beleg hierfür pflegen in erster Linie die gesetzlichen Umschreibungen des Notstands- und des Notwehrrechts angeführt zu werden: der Täter müsse danach handeln, „um einen Angriff abzuwehren", „um eine drohende Gefahr abzuwenden" - was Handeln zum Zweck der Verteidigung oder Rettung mit einem hierauf gerichteten Willen oder doch zumindest Kenntnis der Notwehr- oder Notstandslage voraussetze. Aber auch andere Rechtfertigungsgründe ließen schon nach der Art ihrer gesetzlichen Fassung relativ deutlich die Erforderlichkeit eines subjektiven Rechtfertigungselements erkennen - etwa wenn bei der Selbsthilfe Handeln „zum Zwecke der Selbsthilfe" oder bei der Wahrnehmung berechtigter Interessen Handeln „zur Ausführung von Rechten" usw. gefordert wird. Das Gewicht solcher positivistischer Argumentationen ist gering16. Als Beleg eines durchgehenden allgemeinen Rechtfertigungselements taugen sie schon deshalb wenig, weil es für manche Rechtfertigungsgründe an einschlägigen gesetzlichen Umschreibungen fehlt - etwa für die Einwilligung oder die mutmaßliche Einwilligung. Aber auch mit Bezug auf die Rechtfertigungsgründe, in deren Kontext solche Formulierungen auftauchen, sind diese weit weniger ergiebig, als es die auf sie rekurrierenden Verfechter eines allgemeinen subjektiven Rechtfertigungselements wahrhaben wollen.

14 So fehlt es - auch jenseits der Grundsatzkritik von Spendei - z. B . an einem solchen Konsens mit Bezug auf ein subjektives Rechtfertigungselement bei der Einwilligung, vgl. etwa Baumann/Weber, Strafrecht - A T , 9. Aufl. 1985, S . 2 9 2 f ; Gallas, Festschrift f. Bockelmann, 1979, S. 174. Die von diesen Autoren gleichwohl angenommene Versuchsstrafbarkeit bei fehlender Kenntnis von der Rechtfertigungslage macht freilich deutlich, daß schon der Begriff „subjektives Rechtfertigungselement" schwankend gebraucht, nämlich vereinzelt auf den Fall des Ausschlusses der Vollendungsstrafe bezogen wird (während andere auch ein zum Ausschluß der Versuchsstrafe notwendiges subjektives Element als Rechtfertigungselement bezeichnen; s. dazu noch unten II. 4.). 15 Vgl. z . B . Hirsch, in: L K , 10.Aufl. 1985, vor § 3 2 R d n . 5 1 , 5 3 ; Niese, Finalität, Vorsatz und Fahrlässigkeit, 1951, S. 1 7 f ; Samson, System. K o m m . z. StGB (SK), vor § 3 2 Rdn. 2 5 ; Triffterer, Festschrift f. Oehler, S . 2 2 3 ; eingehende weit. N a c h w . bei Waider, Die Bedeutung der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen f. Methodologie und Systematik des Strafrechts, 1970, S . 9 2 f , 116 ff.

" Im Ergebnis übereinstimmend Prittwitz, G A 1980, 3 8 3 ; K.Schmitt, JuS 1963, 6 5 ; Spendel, Festschrift f. Bockelmann, S . 2 4 9 f ; Stratenwerth, Strafrecht - A T , Rdn. 486.

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Denn zum einen lassen sich die einschlägigen Formulierungen statt im Sinne der Postulierung einer subjektiven Zwecksetzung, Willensverfolgung usw. auch als Versuch der Umschreibung des zulässigen Ausmaßes der Handlung begreifen. Bei der Notwehr und beim aggressiven N o t stand ( § 9 0 4 B G B ) liegt eine solche Deutung sogar näher: das „erforderlich, um . . . abzuwehren" ist hier nichts weiter als eine Eingrenzung der Rechtfertigung auf jene Handlungen, die bei objektiver Würdigung zur Abwehr erforderlich sind". Bei anderen Rechtfertigungsgründen wiederum sind die Formulierungen des Gesetzes durch bestimmte phänomenologische Bilder geprägt, am Normalfall des „zu bestimmtem Zweck Handelnden" orientiert: auf diese (regelmäßig allein interessierende) Konstellation hin werden dann die weiteren Rechtfertigungsvoraussetzungen definiert. Ein subjektives Rechtfertigungselement als normatives Postulat läßt sich daraus schwerlich entnehmen. Wie sehr man sich hier davor hüten sollte, positivistische Zufälligkeiten als schlagende Argumente zu benutzen, belegen die unterschiedlichen Formulierungen des defensiven und des aggressiven Notstands in § 2 2 8 und § 9 0 4 B G B : sie sind offensichtlich dadurch bedingt, daß hier zwei ansonsten auf der gleichen Grundlinie des Notstands liegende Fallkonstellationen aus unterschiedlicher Perspektive formuliert sind. Aus ihnen folgern zu wollen, daß das eine Mal ein subjektives Moment zur Rechtfertigung notwendig sei, das andere Mal nicht, wäre abwegig. Hiervon abgesehen setzen sich die positivistischen Begründungen des subjektiven Rechtfertigungselements aber auch zu wenig mit der Frage auseinander, ob und inwieweit es dem Gesetzgeber überhaupt möglich ist, subjektive Anforderungen zu postulieren (oder auf sie zu verzichten). Man tut einfach so, als komme es auf die Formulierung des Gesetzes an, als handle es sich um ein vom Gesetzgeber entscheidbares Problem 18 . Genau das ist indessen die Frage. Denn so sehr es Themenbereiche gibt, für die dem Gesetzgeber ein eigenes Entscheidungsrecht zukommt, so wenig läßt sich doch daran zweifeln, daß der Entscheidung des Gesetzgebers selbst vielfältige Grenzen gesetzt sind: an gewissen Gegebenheiten kommt auch der Gesetzgeber nicht vorbei". Der Kreis derartiger Gegebenheiten reicht von verfassungsrechtlichen Vorgaben über eigene Vor-Entscheidungen des Gesetzgebers bis zur Natur der Zutreffend R.Schmitt, JuS 1963, 65. In diesem Sinn ausdrücklich etwa Nowakowski, ÖJZ 1977, 577, 580; ders., in: Wiener Kommentar, 1984, vor § 3 Rdn.79; Triffterer, Festschrift f. Oehler, S. 221 f; zurückhaltender Burgstaller, JB1. 1980, 495. " Zur Existenz von auch für den Gesetzgeber nicht verfügbaren Sacheinsichten näher z . B . Engisch, Die Idee der Konkretisierung, 2. Aufl. 1968, S. 102ff; Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, l.Aufl. 1964, S. 274ff, 276ff; 2. Aufl. 1977, S. 296ff, 299ff, 379 ff, 382 ff. 17

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Sache und zu grundsätzlichen ontologischen Einsichten. Eben solche Vorgaben könnten auch im vorliegenden Zusammenhang bedeutsam sein: Sie könnten die Lösung des Problems bereits in einer Weise vorzeichnen, daß für den Gesetzgeber eine Möglichkeit, die Frage zu „regeln", überhaupt nicht bliebe - eine gesetzliche Aussage vielmehr nur entweder in Widerspruch zu diesen Vorgaben geraten oder deklaratorisch das formulieren könnte, was bereits aus diesen folgt. Das führt notwendig weiter zur Frage: Ist die Antwort auf die hier interessierende Frage vielleicht schon durch derartige unübersteigbare Vorgegebenheiten vorgezeichnet? 2. Genau das behaupten all jene, die das Erfordernis des subjektiven Rechtfertigungselements aus der finalen Grundstruktur des menschlichen Verhaltens glauben ableiten zu können: An derart final strukturierte Verhaltensweisen knüpften nicht nur die strafrechtlichen Verbote, sondern ebenso die Erlaubnisse an - nur finale Handlungen könnten Gegenstand des Unrechtsausschlusses sein20. Sehr überzeugend klingen solche - auch durch das semantiscbe Verständnis der einschlägigen Gesetzesbegriffe abgestützte21 - Berufungen auf vorrechtliche ontologische Strukturen nicht. Das gilt insbesondere für die Vorstellung, daß subjektive Befindlichkeiten im Rahmen bestimmter Rechtfertigungsgründe schon deshalb unverzichtbar seien, weil man - z. B. - als „Verteidigungs"-Handeln der Notwehr ontologisch nur Handeln mit Verteidigungswillen, als Notstandshandeln nur Handeln mit Rettungswillen begreifen könne - so daß diese subjektiven Elemente dann eben auch als im Rechtfertigungsgrund der Notwehr oder des Notstands vorausgesetzt angesehen werden müßten. Denn ganz abgesehen davon, daß für das in manchen Rechtfertigungsgründen (etwa der Einwilligung) erfaßte Verhalten vergleichbare finale Vorstrukturierungen fehlen: Der bloße Umstand, daß Handlungen eine bestimmte ontologische Struktur aufweisen und bestimmte Handlungstypen nach unserem vorrechtlichen Vorverständnis sich durch bestimmte subjektive Befindlichkeiten auszeichnen, besagt noch lange nicht, daß solche subjektiven Befindlichkeiten auch für die Auslösung bestimmter Rechtsfolgen normativ unverzichtbar sind. Es gelten an dieser Stelle dieselben methodologischen Bedenken, die in der Strafrechtsdoktrin seit langem gegen eine einseitig ontologisch argumentierende Betrachtungsweise erhoben werden: So wie trotz der finalen Struktur der menschlichen Handlung noch nichts darüber ausgesagt ist, 20 Vgl. H i r s c h , in: LK, vor §32 Rdn.53; N i e s e (Fn. 15), S. 17ff; W e l z e ! , Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 84, 86; Z i e l i n s k i , Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973, S.233f, 269, 264 f, 272. 21 I.d.S. insbes. N i e s e (Fn. 15), S. 17f; gegen ihn K . S c h m i t t , JuS 1963, 65 m . w . N .

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welche Segmente der Handlung rechtlich interessant sind, es für das Strafrecht durchaus auch auf nichtfinale Aspekte der Handlung, wie das schlichte Zurückbleiben hinter gewissen Anforderungen (in den Fahrlässigkeitsdelikten), ankommen kann22, so erscheint es durchaus nicht ausgeschlossen, daß auch im Rahmen der Rechtfertigung nur bestimmte der ontologisch-semantisch vorgezeichneten Strukturelemente der Handlung interessieren. O b das so ist oder nicht - darüber entscheidet nicht die ontologische Struktur der Handlung, sondern allein eine spezifisch rechtliche Bewertung: Es kommt darauf an, ob subjektive Befindlichkeiten aus spezifisch rechtlichen Gründen gefordert werden müssen. Für die weitere Auswertung dieser Einsicht erscheint es sinnvoll, wenn man sich vorab eines klar macht: Allgemeine normentheoretische Gründe der Fassung von Erlaubnissätzen lassen sich insoweit als Begründung nicht anführen. Der bisweilen erweckte Eindruck, es könne zur Umschreibung der je erlaubten Handlung (oder zur Ermittlung ihrer „Erforderlichkeit") nicht auf subjektive Befindlichkeiten verzichtet werden, diese seien gewissermaßen unabdingbar zur Umschreibung des Gegenstands, der dann unter bestimmten Voraussetzungen als erlaubte Handlung ausgewiesen werde23, entspringt einer Fehlintuition. Es bestehen überhaupt keine Schwierigkeiten, das in einer bestimmten Situation Erlaubte unter Anknüpfung an rein objektive Gegebenheiten zu formulieren: an das Vorhandensein einer unter bestimmten Kautelen abgegebenen Einwilligung bestimmten Inhalts und die Deckung des Verhaltens durch die Einwilligung, an das Vorhandensein einer bestimmten Gefahrenlage und die (ex ante oder ex post zu beurteilende) Geeignetheit und Erforderlichkeit eines Verhaltens, das eine Güterbeeinträchtigung erwarten läßt, zur Abwendung dieser Gefahr usw. In manchen Rechtfertigungsgründen formuliert ja das Gesetz selbst in dieser auf Bezweckbarkeit und Erforderlich&eii abhebenden Weise und unter völliger Außerachtlassung der Psyche des konkret Handelnden24. Lassen sich nach allem für eine Relevanz subjektiver Befindlichkeiten Bedürfnisse der Charakterisierung des je Erlaubten nicht ins Feld führen, so bleiben im Grunde nur mehr zwei mögliche Begründungsansätze für die Unverzichtbarkeit subjektiver Rechtfertigungselemente: Subjektive Rechtfertigungselemente könnten notwendig sein, weil ohne sie der 22 Treffend Lackner, I U I a vor § 1 3 ; Rudolphi, SK, vor §1 Rdn.30f; s. auch Roxin, ZStW 74 (1962), 524 ff und Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 108 f. 25 I.d.S. verstehe ich insbes. Zielinski (Fn.20), S.233f, 264f (in Verb. m. 137ff); ähnlich wohl auch Hirsch, in: LK, vor §32 Rdn.53. 24 So etwa in §904 BGB, in §32 Abs. 2 StGB. Noch deutlicher das österr. StGB in § 3 Abs. 1 (zu dessen Verständnis vgl. insbes. Nowakowski, in: Wiener Kommentar, § 3 Rdn.22 m . w . N . ) .

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der Rechtfertigung (je) zugrundeliegende materiale Gedanke nicht erfüllbar ist oder weil sie durch das Wesen des zu Rechtfertigenden nachgerade gefordert werden. 3. Von beiden Begründungsansätzen thematisch näher liegt an sich der zweite. Daß er gleichwohl eher vernachlässigt ist, kommt indessen nicht von ungefähr. Es hat seinen Grund in dem verbreiteten Bemühen um den Nachweis eines allgemeinen subjektiven Rechtfertigungselements. Denn ein solcher Nachweis läßt sich im Blick auf die leitenden Prinzipien der Rechtfertigung schwerlich führen: ihm steht schon die Heterogenität der Rechtfertigungsgründe, deren Verwurzelung in verschiedenen materialen Grundgedanken entgegen25. Bezeichnenderweise wollen denn auch die Vertreter eines solchen Ansatzes auf diesem Weg nur für bestimmte Rechtfertigungsgründe, insbesondere Notwehr und Notstand, ein subjektives Rechtfertigungelement begründen; für die Einwilligung wird ein so motiviertes subjektives Element ausdrücklich verneint26. Doch selbst mit dieser Beschränkung bleibt die Tragfähigkeit solcher Ansätze zweifelhaft. Das zeigt sich schon am wohl eingehendsten Versuch einer solchen Begründung subjektiver Rechtfertigungselemente, den Gallas vor einiger Zeit für Notwehr und Notstand unternommen hat. Bei der Notwehr stützt sich Gallas vor allem auf die hinter dem „schneidigen" Notwehrrecht - mit - stehende Komponente der Rechtsbewährung: Als Wahrer der Rechtsordnung könne nur jener Täter begriffen werden, der zum Zweck der Abwehr des rechtswidrigen Angriffs handelt, nur unter dieser Voraussetzung sei in der Person des Täters jene überlegene rechtsethische Position gegeben, der sich der Angreifer ohne Rücksicht auf das Wertverhältnis der beiderseits auf dem Spiele stehenden Interessen beugen müsse27. Die Uberzeugungskraft dieser Argumentation steht und fällt mit der Richtigkeit solcher Ethisierung des Notwehrers. Eben sie aber erscheint zweifelhaft - auch wenn man akzeptiert, daß es in der Notwehr nicht nur um individuelle Interessen, sondern zugleich um die Behauptung des Rechts geht. Denn dieses letztere Interesse der Gemeinschaft wird ersichtlich auch durch den befriedigt, der nur überhaupt den Angriff auf die Rechtsordnung abwehrt. Daß er von dem, was er vollbringt, nichts weiß oder dies nicht intendiert, relativiert nicht seine die konkrete Rechtsgüterbeeinträchti-

25 S. zu dieser Frage insbes. Hirsch, in: LK, vor §32 Rdn.47 und Stratenwerth, ZStW 68 (1956), 41 ff. 26 Vgl. insbes. Gallas, Festschrift f. Bockelmann, S. 174. 27 Gallas, Festschrift f. Bockelmann, S. 177; ähnlich Geilen, Jura 1981, 398; s. auch schon Waider (Fn. 15), S. 102 f.

G r u n d - u. Grenzprobleme des sog. subjektiven Rechtfertigungselements

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gung kompensierende Leistung2®, sondern stellt sich höchstens als eigenständiger intendierter Angriff dar29. Zusätzlich unterstrichen wird diese Deutung durch die Einsicht, daß die Frage, ob der der objektiv angemessenen Abwehrhandlung ausgesetzte Angreifer diese dulden müsse 30 , ja doch schwerlich von fremdpsychischen Befindlichkeiten abhängig sein kann, die sich schon prinzipiell seiner Erkenntnis entziehen. N o c h problematischer erscheint Gallas' rechtfertigungsspezifische Beweisführung zur Begründung des Rettungswillens beim Notstand: Gallas geht hier selbst davon aus, daß „schon die Erhaltung des höherwertigen Interesses der Tat per saldo den Charakter eines sozialschädlichen Tuns nimmt". Daß der Täter gleichwohl mit Rettungswillen handeln müsse, ist nach seiner Auffassung darin begründet, „daß die Notstandsregelung . . . einen Ausweg aus Konfliktssituationen eröffnen, nicht aber die Erhaltung des wertvolleren Gutes als solche prämiieren" will31. Das erscheint im Lichte eines auf Rechtsgüterschutz und die Unterbindung sozialschädlichen Handelns abhebenden Strafrechts wenig überzeugend: Wenn der Tat per saldo der Charakter eines sozialschädlichen Tuns abgeht, verfällt damit die Berechtigung eines auf diese kompensierte Sozialschädlichkeit abhebenden Strafeinsatzes 32 . Das Fehlen einer entsprechenden subjektiven Befindlichkeit vermag hieran nichts zu ändern; das Handeln eines Täters ohne bestimmte Einstellung mag allenfalls selbst Grund für eine strafrechtliche Reaktion sein33. Aus den materialen Leitideen der Rechtfertigungsgründe läßt sich nach allem schwerlich überzeugend ein subjektives Rechtfertigungselement begründen — schon gar nicht ein allgemeines. Auch das kommt nicht von ungefähr: Thema der Rechtfertigungslehre ist die Frage nach der Erlaubtheit einer konkreten realen Güterbeeinträchtigung bzw. des dahin führenden Verhaltens. Die Rechtfertigungslehre beantwortet diese Frage, indem sie - vor allem - auf die Prinzipien des fehlenden Interesses ' Auch nicht die, die darin liegt, daß fremdem Unrecht Einhalt geboten wird. ' S. zu diesem Aspekt im folgenden 4. 30 Vgl. nochmals die obige Wiedergabe der Argumentation von Gallas. " Vgl. Gallas, Festschrift f. Bockelmann, S. 177 f. 32 Aus diesem G r u n d vermag es auch nicht zu überzeugen, wenn Nowakowski, OJZ 1977, 577 es in das Ermessen des Gesetzgebers stellen will, ob die Rechtfertigung erst bei Vorliegen bestimmter subjektiver Befindlichkeiten „greift". Wenn der Tat objektiv die Sozialschädlichkeit fehlt, verfällt auch die Legitimation des Gesetzgebers, auf die objektive Dimension Strafeinsatz zu stützen. Denkbar wäre allein, daß ein Fortfall der objektiven Sozialschädlichkeit schon durch das Vorhandensein subjektiver Befindlichkeiten bedingt ist; s. dazu den nächsten Absatz. 33 S. dazu im folgenden 4. - Jede andere Regelung (also das negative Totalurteil über die Handlung nur wegen der negativen Gesinnung) wäre eine unangemessene Hintansetzung des Erhaltungsinteresses derer, die bei einer bestimmten Interessenkonstellation die Freigabe des ihren Gütern zugute kommenden Verhaltens verlangen können. 2

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an Gutserhaltung und des überwiegenden Interesses anderer Güter verweist34. Für eine solche Sicht kann es letztlich nur auf objektive Gesichtspunkte ankommen: ob ein entsprechendes Interesse, gegenüber einer bedrohenden Handlung geschützt zu werden, noch besteht, ob andere Gutsinteressen vorhanden sind und die Tat ihnen zugute kommt usw. Fehlende subjektive Befindlichkeiten des Täters ändern an der objektiven Interessenlage nichts - sofern nur gewährleistet ist, daß die Handlung die entsprechenden Interessen verwirklicht35.

4. Der Grund für die etwaige Erforderlichkeit sog. subjektiver Rechtfertigungselemente kann nach allem nur noch in der Eigenart dessen liegen, was durch Rechtfertigungsgründe aufgehoben werden soll: dem Unrecht. Das ist denn auch der gemeinsame Grundgedanke einer Reihe weiterer Begründungsversuche. Auf den ersten Blick scheinen diese nun freilich auf besonders schwankendes Terrain zu führen: das subjektive Rechtfertigungselement scheint zum Spielball der unterschiedlichen Unrechtskonzepte zu werden36. Die etwas eingehendere Betrachtung zeigt indessen sehr rasch, daß dem nicht so ist: In den Grundlagenstreit um die Vorzugswürdigkeit des einen oder anderen Unrechtskonzepts braucht nicht eingegriffen zu werden - sei es, daß bestimmte der hier interessierenden, auf spezifische Unrechtskonzepte gestützten Argumentationen schon in sich nicht schlüssig sind, sei es, daß andererseits positive Stellungnahmen im Rahmen gesetzgeberischen Ermessens für weitere Ableitungen ein hinreichendes Fundament schaffen. a) Das erstere gilt für die Auffassung, ein subjektives Rechtfertigungselement sei schon deshalb unverzichtbar, weil auch das begründende Unrecht aus objektiven und subjektiven Unrechtselementen zusammengesetzt sei: die subjektiven Rechtfertigungselemente seien gewissermaßen das Korrelat der unrechtsbegründenden subjektiven Elemente, sie seien im Rahmen der Erlaubnissätze unentbehrlich, weil auch die (unrechtsbegründende) Erfüllung eines Verbots neben der Verwirklichung objektiver Tatbestandsmerkmale eine subjektive Handlungsseite verlange37. Fundierungsunternehmen dieser Art fehlt - von der einseitigen Orientierung an der Vorsatztat ganz abgesehen - die innere Schlüssigkeit, sie entspringen einer Fehlintuition38. Denn gerade wenn man S. dazu - m. w. N. - Schönke/Schröder/Lenckner, vor §32 Rdn. 7. Eine andere Frage ist, ob nicht zur Gewährleistung solcher Interessenverwirklichung u. U. eine bestimmte Zielsetzung des Täters zu fordern ist; s. dazu unten II. 5. 36 Ausdrücklich i. d. S. etwa Waider (Fn. 15), S. 101 ; vgl. auch Hirsch, in: LK, vor § 32 Rdn. 51, und die offensichtlich von der objektiven Unrechtslehre geprägten Stellungnahmen Spendeis (Fn. 5). 37 I. d. S. etwa R.Schmitt, JuS 1963, 67; ähnlich Hirsch, in: LK, vor § 32 Rdn. 51 f. 31 I.d.S. wohl auch Herzberg, JA 1986, 192. 34

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davon ausgeht, daß das begründende - und das heißt: eine bestimmte Rechtsfolge fundierende - Unrecht (genauer: der entsprechende Unrechtstypus) aus objektiven und subjektiven Elementen zusammengesetzt ist, beides zusammenkommen muß, damit Unrecht bzw. ein bestimmter Unrechtstypus gegeben ist, ist damit doch zugleich gesagt: dieses Unrecht verfällt, wenn nur eine der beiden notwendigen Komponenten wegfällt. Die Verkennung dieser im Grunde trivialen Zusammenhänge hat ihren Grund nicht zuletzt in der traditionellen Fragestellung: man fragt danach, ob das „an sich gegebene" Unrecht überhaupt ausgeschlossen, ob das „an sich" Unrechte Verhalten gerechtfertigt sei. Diese Fragestellung mag üblich sein - für ein Strafrecht, das als Rechtsfolgen auslösendes Unrecht ein ganz bestimmte Strukturelemente aufweisendes Unrecht vorsieht (bzw. mit mehreren solcher Unrechtsformen arbeitet), ist sie zu grob und unspezifisch: Hier lautet die richtige Frage, ob infolge bestimmter Gegebenheiten ein notwendiges Strukturelement „des" Unrechts bzw. genauer: der jeweiligen mit einer bestimmten Rechtsfolge verknüpften Form des Unrechts entfällt 3 '. Freilich kommt zu dieser Inadäquität der Fragestellung noch ein Zweites: Wenn man subjektive Elemente als Einschränkung der strafrechtlichen Relevanz objektiver Elemente begreift - und anders ist die Behauptung vom notwendigen Zusammentreffen objektiver und subjektiver Elemente ja wohl schwerlich zu verstehen - , dann muß es zu einer Aufhebung dieses Unrechts und damit einer so verstandenen Rechtfertigung schon aus rein logischen Gründen bereits bei Fortfall des eingeschränkten, nicht erst des einschränkenden Elements kommen!

Daß die objektiv gegebene Rechtfertigungslage zum Wegfall solchen zusammengesetzten Unrechts nicht ausreiche, bereits hierfür ein sog. subjektives Rechtfertigungselement erforderlich sei, ließe sich nach allem höchstens noch dann halten, wenn bereits der Wegfall der objektiven Unrechtskomponente selbst unabdingbar an eine bestimmte subjektive Befindlichkeit, eben das sog. subjektive Rechtfertigungselement, geknüpft wäre. Das behaupten indessen in dieser Form die Vertreter des hier kritisierten Ansatzes noch nicht einmal selbst40. Und es wäre auch schwerlich möglich, das mit Überzeugungskraft zu vertreten: Die einer Handlung eignende objektive Gefährdung erscheint nicht mehr als verboten (bzw. das entsprechende grundsätzliche Verbot aufgehoben), wenn der Gutsträger rechtswirksam eingewilligt hat - die zufällige Psyche des je Agierenden hat damit gar nichts zu tun41. Und ebenso wird der in der objektiven Gefährlichkeit (bzw. der daraus hervorgehenden Beeinträchtigung) liegende objektive Unwert bereits dadurch kompensiert, daß die Handlung zugleich wertvolleren Interessen zugute kommt, die bei ihrem Unterbleiben verfielen. Bereits bei dieser Sachlage wahrt " Treffend insoweit Herzberg, J A 1986, 192; s. auch noch unten II. 4. 40 Auch Nowakowski, O J Z 1977, 577 behauptet dies nicht. Zu seiner These vom gesetzgeberischen Ermessen vgl. oben Fn. 32. 41 Zutreffend Gallas, Festschrift f. Bockelmann, S. 174.

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die Handlung objektiv das höhere Interesse und kann daher wegen ihrer objektiven Dimension unmöglich als verboten ausgezeichnet werden jede andere Lösung würde den Erhaltungsanspruch des höheren Interesses mißachten. Dieser Anspruch ist keine Funktion der zufälligen Psyche des in der Situation Handelnden, sondern einzig und allein vom Verhältnis der kollidierenden Güter abhängig. Eine überzeugende Begründung des subjektiven Rechtfertigungselements kann nach allem nur jenseits eines Unrechtskonzepts gelingen, das objektive Unrechtselemente voraussetzt (oder mit-voraussetzt). Und das heißt: Wenn sich ein sog. subjektives Rechtfertigungselement überhaupt postulieren läßt, dann allein aus der Perspektive eines subjektiven Unrechtskonzepts, für das Unrecht schon in der Betätigung einer bestimmten Intention, bestimmter Entschlüsse, liegt. b) An eben dieser Stelle setzt denn auch die letzte hier zu würdigende Gruppe von Begründungsversuchen eines sog. subjektiven Rechtfertigungselements an. Subjektive Rechtfertigungselemente bilden danach eine notwendige Konsequenz der personalen Unrechtslehre, für die Unrecht maßgeblich Handlungsunrecht ist, das seinerseits wieder entscheidend von der Willensrichtung des Täters abhängt: Auf der Basis eines solchen Unrechtsverständnisses verwirklicht Handlungsunrecht, wer auf einen rechtlich mißbilligten Erfolg hin handelt. Eben das tue auch der, der bei objektiver Rechtfertigungslage, aber ohne Kenntnis von dieser handle. Nur wenn der Täter die Situation kenne bzw. bei seinem Handeln zugleich ein sozial billigenswertes Ziel anstrebe, werde der Handlungsunwert der Tat aufgehoben oder kompensiert42. Besonders naheliegend ist eine solche Begründung für all die, für die derartiges Intentionsunrecht das Unrecht schlechthin verkörpert43. Auf den ersten Blick scheint damit eine wirklich tragfähige Begründung gewonnen - jedenfalls, wenn man an die Stelle der z. T. verwendeten etwas unspezifischen Redeweise vom Handlungsunrecht dezidiert subjektives Handlungsunrecht setzt. Das subjektive Rechtfertigungselement ist offenbar notwendig zur Kompensation subjektiven Handlungsunrechts. Indessen - so plausibel das klingt, in der etwas eingehenderen Analyse tauchen auch gegenüber dieser Art der Einführung des subjektiven Rechtfertigungselements alsbald Bedenken auf. 42 I. d. S. etwa Burgstaller (Fn. 10), S. 175; ders., JBl. 1980, 495-Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, AT, 3. Aufl. 1978, S. 164; Maurach/Zipf, Strafrecht - AT Bd. 1, 6. Aufl. 1983, S.331 f; Rudolphi, Festschrift f. Maurach, 1972, S. 58; Samson, in: SK, vor §32 Rdn.24; Schänke/Schröder/Lenckner, vor §32 Rdn. 13; Stratenwerth, AT, Rdn.486; Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981, S. 134 f. « Wie z.B. für Zielinski (Fn.20), S.233f, 264f.

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aa) Sie betreffen zunächst die innere Schlüssigkeit jener Ableitungsunternehmen, die das subjektive Rechtfertigungselement i. S. eines Intentionswerts verstehen und diesen als für die Aufhebung des Intentionsunwerts notwendig erachten44. Wie solche Aufhebung eines Intentionsunwerts durch einen Intentionswert funktionieren soll, bleibt ebenso im Dunkel wie der Katalog der Bedingungen einer solchen Kompensation. Tatsächlich kann es aber doch für die Kompensation unmöglich genügen, daß der Täter mit seinem zu einer Rechtsgutsbeeinträchtigung führenden Handeln zugleich einen Wert zu verwirklichen trachtet (bzw. in der Annahme eines solchen Effekts handelt). Auch bei der Kompensation im objektiven Bereich ist ja mehr gefordert: Die mit dem Risiko einer Rechtsgutsbeeinträchtigung behaftete bzw. zu dieser hinführende Handlung muß geeignet und erforderlich sein, bestimmte Werte zu verwirklichen; die Erhaltung der Integrität des einen Gutes muß im Verhältnis zur Erhaltung des anderen als überwiegendes Interesse erscheinen usw. Schon das macht deutlich, daß die bloße Verknüpfung von Intentionsunwert und Intentionswert in einer bestimmten Handlung niemals bereits zur Aufhebung des Intentionsunwerts führen kann. Der naheliegende Gedanke, dann eben auch für die Kompensation des Intentionsunwerts durch einen Intentionswert auf ähnliche Kriterien abzuheben wie im Objektiven, ist aber nun ebenfalls zum Scheitern verurteilt: Man kann zwar sagen, daß eine mit bestimmten Risiken behaftete bzw. zu bestimmten Folgen führende Handlung geeignet und erforderlich sei, bestimmte Güter zu erhalten. Ob eine mit bestimmtem Intentionsunwert behaftete Handlung geeignet und erforderlich ist, einen Intentionswert zu verwirklichen, läßt sich jedoch sinnvoll noch nicht einmal fragen. Dies nicht nur deshalb, weil Geeignetheit und Erforderlichkeit als erfahrungsfundierte Aussagen sich auf die reale Welt, auf Effekte, nicht aber auf Werte und Unwerte beziehen. Selbst wenn man nur auf die als Wert oder Unwert beurteilten Intentionen selbst abhöbe, änderte sich nichts: Die eine Intention ist ja nicht zur Produktion der anderen geeignet oder erforderlich; beide Intentionen sind einfach da. Schon das macht deutlich: Die Redeweise von der Kompensation des Intentionsunwerts durch einen Intentionswert und - darauf aufbauend einer so begründeten Notwendigkeit eines Intentionswerts trifft offenbar nicht den Kern der Sache. Die Kompensation findet nicht originär im Bereich des Subjektiven statt. Sie erfolgt vielmehr - im Einklang mit den Kompensationsprinzipien45 - auf der Ebene der Güterwelt und der 44 I.d.S. etwa Zielinski (Fn. 20), S.233, 235, 255 und mehrfach; s. auch Jescheck, S. 264. ,s S. schon oben 3. a. E.

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auf sie bezogenen Interessen. Daß eine Handlung, die auf Güterbeeinträchtigung zielt oder im Bewußtsein der Möglichkeit einer solchen vorgenommen wird, bei Vorhandensein bestimmter subjektiver Befindlichkeiten in bezug auf die kompensierende Lage nicht als unwertig angesehen wird, hat seinen Grund nicht in der Kompensation eines „an sich"-Intentionsunwerts durch einen Intentionswert. Es liegt vielmehr darin begründet, daß eine solche Handlung dem entspricht, was die Rechtsordnung im Blick auf das Verhältnis der beteiligten Interessen als rechtens ausweist: Vorstellung und (betätigte) Gesinnung des Täters stehen im Einklang mit der Rechtsordnung. Die Betätigung des Entschlusses stellt damit schon keinen Intentionsunwert dar - weil der Täter nur das tut, was die Rechtsordnung auf der Basis entsprechender Kompensationsüberlegungen als rechtens ausweist46. Mit diesen Überlegungen, die letztlich die ganze Redeweise vom subjektiven Rechtfertigungselement in Frage stellen47, wird der eigentliche Grund einer subjektiven Befindlichkeit im Bereich der Rechtfertigungsgründe sichtbar. Solche Befindlichkeiten sind nicht etwa erforderlich, damit ein Intentionsunwert durch einen Intentionswert kompensiert werde. Sie sind vielmehr notwendig, weil das mit dem Bewußtsein möglicher Rechtsgüterbeeinträchtigungen erfolgende Handeln des Täters ohne ihr Gegebensein als Betätigung eines dem Recht zuwiderlaufenden Entschlusses und in diesem Sinn als Intentionsunwert anzusehen ist: N u r der, der die für die Qualifikation seines Handelns als im Blick auf die Güterwelt rechtmäßig maßgebenden Umstände kennt, tut - auch - subjektiv etwas, was mit der Rechtsordnung in Einklang steht, von dieser nicht als Unwert ausgewiesen wird. Wer in dieser Hinsicht ahnungslos ist, entscheidet sich subjektiv für eine Güterbeeinträchtigung, die die Rechtsordnung bei der vom Täter vorausgesetzten Sachlage nicht zuläßt - und: verwirklicht damit auf der Basis seiner Intention Unrecht 48 . bb) Freilich: Auch nach dieser Korrektur bleiben noch Bedenken gegen die hier in Rede stehende Begründung des sog. subjektiven Rechtfertigungselements. Sie betreffen das Fundament dieser Begründung. Die verbreiteten Berufungen auf Konsequenzen einer personalen Unrechtslehre oder der Lehre vom Intentionsunwert erscheinen in doppelter Hinsicht unbefriedigend. Erstens, weil belastende Rechtsfolgen 49 nicht 46

Treffend Rudolphi, Festschrift f. Maurach, S. 57 f. Vgl. unten II. 4. 48 Übereinstimmend insbes. Burgstaller (Fn. 10), S. 175; Rudolphi, Festschrift f. Maurach, S. 57f; Samson, in: SK, vor §32 R d n . 2 3 f ; Stratenwerth, AT, Rdn. 486. 49 U m solche geht es auch, wenn wegen des Fehlens eines subjektiven Rechtfertigungselements (nur) Versuchsstrafe folgen soll. 47

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einfach auf Unrechtskonzepte - mag man diese für noch so vortrefflich halten - gegründet werden können, sondern gesetzlich vorgesehen sein müssen. N u r soweit die (subjektiven) Unrechtskonzepte, die zur Schlüssigkeit der Postulierung eines sog. subjektiven Rechtfertigungselements benötigt werden, gesetzliche Anerkennung gefunden haben, kann daher ein solches Element gefordert und können bei seinem Fehlen hieran belastende Folgen geknüpft werden. Durch die Vernachlässigung dieses Punktes greifen indessen nicht nur die hier interessierenden Begründungen zu kurz. Auf diese Weise werden - zweitens - leider auch unnütz Angriffsflächen geschaffen: Es wird der Anschein erweckt, als ließe sich über die Frage des sog. subjektiven Rechtfertigungselements so streiten, wie sich rein theoretisch über Unrechtskonzepte diskutieren läßt50. Ist dieser Mangel erst einmal erkannt, so ist auch das Mittel zu seiner Behebung schon fast gefunden. Zwar wird man dem geltenden Recht schwerlich unterlegen können, daß es in der Betätigung einer auf Güterbeeinträchtigung gerichteten oder diese in Kauf nehmenden Handlung das Unrecht schlechthin sähe51. Ebenso unbestreitbar ist jedoch, daß das geltende Recht die strafrechtliche Relevanz des bloßen Intentionsunrechts anerkennt: ansonsten bliebe die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs unerklärbar. Zugegeben: über die Richtigkeit dieser gesetzgeberischen Entscheidung läßt sich diskutieren, ihre Legitimation in einem Rechtsgüterschutzstrafrecht wirft einige Schwierigkeiten auf52. Daß der Gesetzgeber mit dieser Entscheidung die Grenzen gesetzgeberischen Ermessens überschritten habe, wird man indessen schwerlich sagen können: auch die Nichtreaktion auf die manifeste Betätigung unrechtlicher Gesinnung kann auf lange Sicht zu einem Verfall im Bereich der für den Güterschutz erforderlichen Verhaltensstile führen. Mit dieser (beschränkten) gesetzlichen Anerkennung schon des Intentionsunwerts als Anknüpfungspunkt für belastende strafrechtliche Folgen ist auch die hier interessierende Frage nach der Notwendigkeit sog. subjektiver Rechtfertigungselemente praktisch vorentschieden - und kann damit nicht mehr als Funktion des Theorienstreits der Unrechtskonzepte hingestellt werden. Zwar hat das Gesetz bei seiner Entscheidung für die Pönalisierung des untauglichen Versuchs einen Sachverhalt im Auge, der sich phänomenologisch von den hier interessierenden Sachverhalten unterscheidet 53 : beim untauglichen Versuch geht es um 50 Man vgl. nur - beispielhaft - die Diskussion zwischen Burgstaller (Fn. 10), S. 175 und Kienapfel, OJZ 1975, 430, sowie die von einem anderen Unrechtskonzept ausgehenden Überlegungen Spendeis, Festschrift f. Bockelmann, S.251. S. ferner K.Schmitt, JuS 1963, 68 und Waider (Fn. 15), S. 101 ff. 51 Vgl. nur - m. w. N . - Schänke/Schröder/Lenckner, vor § 13 Rdn. 59. 52 S. dazu auch Frisch (Fn. 22), S. 88 ff m. w. N. 53 Zum Unterschied vgl. auch Jakobs, Strafrecht - AT, 1983, 11/23.

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objektiv ungefährliche Verhaltensweisen, hier dagegen um solche, die objektiv gefährlich oder folgenreich sind und in dieser Hinsicht nur durch das (objektive) Vorhandensein der Umstände eines Rechtfertigungsgrundes kompensiert werden. Indessen läßt sich dieser phänomenologische Unterschied nicht - prinzipiell - gegen die Bestrafung des in Unkenntnis der Rechtfertigungslage handelnden Täters anführen und damit gegen ein vor diesem Hintergrund postuliertes sog. subjektives Rechtfertigungselement argumentieren. Denn maßgebend ist nicht die phänomenologische Seite, sondern die in der Pönalisierung des untauglichen Versuchs liegende normative Entscheidung und deren Relevanz auch für die hier interessierenden Fallkonstellationen. Der hinter der Pönalisierung des untauglichen Versuchs stehende maßgebliche normative Gedanke aber ist die Einstufung auch schon der Betätigung einer rechtsfeindlichen oder unrechtlichen Gesinnung als strafrechtlich relevantes Unrecht - etwaige Einschränkungen dieses Gedankens 54 können hier außer Betracht bleiben. Zu dieser Leitidee würde man sich in Widerspruch setzen, wenn man in den hier interessierenden Fallkonstellationen bei Unkenntnis des Täters vom Gegebensein einer Rechtfertigungslage auf strafrechtliche Folgen verzichtete. Denn eine Betätigung unrechtlicher Gesinnung liegt auch insoweit eindeutig vor. Mehr noch: Im Verhältnis zu dem phänomenologischen Ausgangstypus des untauglichen Versuchs besteht keinerlei Grund, diesen Fall der unrechtlichen Gesinnung von einer Bestrafung auszunehmen, im anderen Fall dagegen zu bestrafen. Denn während im Fall des untauglichen Versuchs ja allein die Betätigung der unrechtlichen Gesinnung aufweisbar ist, objektiv nichts angerichtet wurde, was sich als (als solche) unwertige Gefährdung der Rechtsgüterwelt einstufen ließe, ist in den hier interessierenden Fällen sogar eine Rechtsgutsgefährdung oder -beeinträchtigung bewirkt worden, mag diese auch aufgrund ihres Güter wahrenden Effekts wieder kompensiert worden sein55. Die in der Bestrafung (auch) des untauglichen Versuchs liegende gesetzliche Vor-Entscheidung (in Verbindung mit dem Gleichheitssatz) gebietet damit, auch den zu bestrafen und damit sein Verhalten als strafrechtlich relevantes Unrecht anzuerkennen, der in Unkenntnis einer Rechtfertigungslage rechtsgutsgefährdend oder -beeinträchtigend tätig wird. N u r das Vorhandensein einer diese unrechtliche Gesinnung ausräumenden subjektiven Befindlichkeit kann diese Rechtsfolge abwenden - hier liegt der wahre normative Grund der Notwendigkeit eines sog. subjektiven Rechtfertigungselements 56 .

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Vgl. dazu etwa Rudolphi, in: SK, vor § 22 Rdn. 12 ff m. w. N . Wegen dieses „Mehr" im Vergleich zum (untauglichen) Versuch wird denn auch von manchen Autoren für eine Sonderregelung plädiert, vgl. etwa Jakobs, AT, 11/23. 56 S. dazu ansatzweise auch schon Frisch (Fn. 22), S. 453 ff. 55

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Der vorstehende Rückgriff auf die in der Pönalisierung des untauglichen Versuchs liegende Wertentscheidung stellt nicht etwa nur eine „positivistische Garnierung" dar. Er ist im Begründungszusammenhang des sog. subjektiven Rechtfertigungselements von vitaler Bedeutung. Dies nicht nur insofern, als es angesichts der gesetzlichen Anerkennung der strafrechtlichen Relevanz schon der Betätigung der unrechtlichen Gesinnung de lege lata unhaltbar ist, einfach von einer rein objektiven Unrechtslehre auszugehen und auf dieser Grundlage ein subjektives Rechtfertigungselement völlig abzulehnen". Auch das Umgekehrte gilt: Gäbe es eine solche gesetzliche Anerkennung subjektiven Unrechts nicht, so entfiele die Notwendigkeit der hier in Rede stehenden subjektiven Befindlichkeit: Rein objektiv begründetes Unrecht oder Unrecht, das zur Auslösung bestimmter Rechtsfolgen neben subjektiven auch objektive Unrechtselemente voraussetzt, entfiele mit der Kompensation der im Objektiven liegenden Güterbeeinträchtigung oder Güterbedrohung durch die gütererhaltende Dimension des Verhaltens; dem verbleibenden subjektiven Unrecht fehlte für sich die strafrechtliche Relevanz kein theoretisches Unrechtskonzept vermöchte hieran etwas zu ändern 58 ! Diese Betonung der Relevanz der gesetzlichen Entscheidung für subjektives Unrecht steht auch nicht etwa im Gegensatz zur einleitenden Ablehnung der Begründungsversuche des subjektiven Rechtfertigungselements aus der Formulierung bestimmter Rechtfertigungsgründe". Es ging früher allein darum, darzutun, daß der Gesetzgeber bei der Formulierung der Rechtfertigungsvoraussetzungen nicht einfach frei dekretieren und gewissermaßen auf subjektive Rechtfertigungselemente ebenso verzichten wie diese postulieren könne, daß er vielmehr gewisse Vorgaben zu beachten habe. Die Anerkennung der strafrechtlichen Relevanz subjektiven Unrechts ist eine solche Vorgabe - über sie kann sich der Gesetzgeber nicht hinwegsetzen 60 .

II. Dogmatische Folgerungen Mit den vorstehenden Überlegungen zum normativen Grund des sog. subjektiven Rechtfertigungselements ist für die Fragen nach Grenzen und Inhalt des sog. subjektiven Rechtfertigungselements und nach den Folgen seines Fehlens eine sichere Basis gefunden.

57 Dies gegen Spendel ( z . B . Festschrift f. Bockelmann, S.250): an die Wertentscheidungen des Gesetzes ist auch der Anhänger eines objektiven Unrechtskonzepts gebunden! 5 ' Verfehlt daher die immer wieder zu findende Berufung auf heute „fast allgemein vertretene Auffassungen" (Burgstaller [Fn. 10], S. 175), auf den „allgemein (?) anerkannten Aufbau des tatbestandsmäßigen Unrechts" {Burgstaller, JB1. 1980, 495), die „personale Unrechts lehre (!)" (Samson, in: S K , vor § 3 2 R d n . 2 3 ) usw. " O b e n 1. 60 Er könnte höchstens diese Vor-Entscheidung selbst beseitigen!

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1. Konsequenzen haben die Einsichten zum Grund der Notwendigkeit eines sog. subjektiven Rechtfertigungselements zunächst für die Frage, bei welchen Erscheinungsformen der Straftat ein sog. subjektives Rechtfertigungselement zu fordern ist. a) Einleuchtend ist dieses Erfordernis nur bei den Vorsatzdelikten - hier ist es allerdings auch unabdingbar. Das ist am augenfälligsten für ein Unrechtskonzept, das auch im vollendeten Vorsatzdelikt als Unrecht nur das Handeln mit bestimmter Einstellung oder Intention anzuerkennen bereit ist": ohne den subjektiven Bezug zur Rechtfertigungslage bleibt es für ein solches rein subjektives Unrechtskonzept beim vollen, im Vorsatzdelikt vorausgesetzten Unrecht62 - nur der subjektive Bezug auf die Rechtfertigungslage verhindert diese Konsequenz und damit den Eintritt strafrechtlicher Folgen. Aber auch bei einer Einbeziehung objektiver Momente (Gefährdungsdimension der Handlung, Erfolgseintritt) in das Unrecht bleibt der subjektive Bezug des Täters auf die Rechtfertigungslage unverzichtbar: nur ein solches anschließend inhaltlich noch näher zu konturierendes subjektives Rechtfertigungselement macht das Handeln (auch) in subjektiver Hinsicht unbedenklich, bewirkt, daß der Straflosigkeit nicht die grundsätzliche Anerkennung der strafrechtlichen Relevanz auch schon der betätigten unrechtlichen Gesinnung entgegensteht62". b) Durchaus anders liegen die Dinge beim Fahrlässigkeitsdelikt: hier kann ein sog. (allgemeines) subjektives Rechtfertigungselement nicht verlangt werden63. Das gilt nicht nur für ein schon mit dem Wesen des Fahrlässigkeitsdelikts unvereinbares Erfordernis des bewußten oder gewollten Herbeiführens der Güterbeeinträchtigung in Kenntnis der Rechtfertigungslage. Es gilt nicht weniger für ein „dem Wesen des Fahrlässigkeitsdelikts angepaßtes" subjektives Rechtfertigungselement, für das es darauf ankäme, daß der unbewußt bestimmte Folgen herbeiführende Täter doch jedenfalls in Kenntnis der Rechtfertigungslage oder mit dem allgemeinen Willen zur Verteidigung oder Rettung usw. handelt64. Zur Aufhebung oder zum Ausschluß des im Fahrlässigkeitsdelikt 61 I. d. S. etwa die Unrechtskonzeptionen Armin Kaufmanns, Festschrift f. Welzel, 1974, S. 410 und Zielinskis (Fn.20), passim, insbes. S. 79 ff, 128 ff. 62 Vgl. nur Zielinski (Fn.20), S.233ff, 264ff, insbes. 266f. 621 Zur Art der Strafbarkeit im Falle fehlenden Bezugs s. unten 3. 63 Zutreffend Schänke/Schröder/Lenckner, vor § 3 2 Rdn. 97 ff; Schünemann, J A 1975, 787; auch Lackner, 4 zu § 15 scheint auf diesem Standpunkt zu stehen; aus der Rspr. z. B. O L G Dresden J W 1929, 2760. M Vgl. etwa Eier, Strafrecht II, 3. Aufl. 1980, S.24; Niese (Fn.15), S.47; Maurach/ Gössel, Strafrecht - AT Bd. 2, 6. Aufl. 1984, S. 122; aus der Rspr. z. B. O L G Hamm N J W 1962, 1169 f. BGHSt. 25, 232 läßt die Frage offen.

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erfaßten Unrechts ist ein solches subjektives Rechtfertigungselement nicht aufweisbar. Ganz deutlich ist dies, wenn man das Wesen des im Fahrlässigkeitsdelikt erfaßten (Handlungs-)Unrechts direkt in der Schaffung einer im Blick auf das bedrohte Gut nicht mehr tolerierten Gefahr sieht 65 . Denn hieran fehlt es, wenn das güterbedrohende Verhalten nur dem Willen des Gutsträgers entspricht oder trotz seiner güterbedrohenden Dimension unverzichtbar erscheint, soll es nicht zum Verfall überwiegender Gutsinteressen kommen 6 6 : Da solches Verhalten im Blick auf die Güterwelt wegen seiner Bedrohungsdimension nicht mißbilligt werden kann 67 , es allein um diese Dimension aber unter dem dominierenden Wertungsaspekt der Fahrlässigkeitstat geht, fällt derartiges Verhalten schon als solches, ohne daß weitere subjektive Merkmale erfüllt sein müßten, aus dem vom Fahrlässigkeitsdelikt erfaßten Bereich heraus. Doch auch wenn man das Wesen des Fahrlässigkeitsunrechts in der objektiven Verletzung von Sorgfaltsnormen erblickt 68 und diese als gegeben annimmt, wenn der Täter eine gefährliche Handlung vornimmt, ohne sich um Gefahrenreduzierung zu bemühen 6 ', gilt dasselbe. Denn der Aufruf hierzu wird sinnlos, wo die Handlung in oder trotz dieser Gefahrendimension objektiv im Interesse höherwertiger Güter erforderlich bzw. das Opfer mit ihrer Vornahme - wirksam - einverstanden ist. Kurz: Unrecht, das wesensmäßig in der objektiv sorgfaltswidrigen Gefahrenschaffung besteht oder diese doch zumindest konstitutiv voraussetzt, entfällt, wenn die Rechtsordnung die Handlung in ihrer Gefahrendimension im Blick auf die in concreto konfligierenden Güter zulassen muß 70 . Die demgegenüber in der Diskussion zum Teil für die Notwendigkeit eines subjektiven Rechtfertigungselements auch bei den Fahrlässigkeitsdelikten 71 ins Feld geführten Argumente vermögen dieses Ergebnis nicht zu erschüttern. Sie beruhen ζ. T . auf der schon gerügten Uberschätzung " Vgl. z. B. Nowakowski, J Z 1958, 3 3 7 ; dens., JB1. 1972, 2 6 ; Schmidhausen f. Schaffstein, 1975, S. 1 3 2 f ; Wolter, G A 1977, 2 6 7 f .

Festschrift

" So jedenfalls, wenn gewährleistet ist, daß die Handlung diesen Gutsinteressen zugute kommt. Zur Frage eines subjektiven Rechtfertigungselements bei Konstellationen, bei denen dies nicht ohne weiteres gewährleistet erscheint (s. etwa Schönke/Schröder/Lenckner, vor § 13 Rdn. 98) vgl. noch unten 5. 67 Alles andere wäre eine unvertretbare Mißachtung bzw. Hintansetzung der Interessen der Gutsträger! " So die h. M., vgl. etwa Jescheck, A T , S. 4 6 7 ff m . w . N . " Vgl. insbes. Zielinski ( F n . 2 0 ) , S. 168, 171 ff, 173 f und anschließend. 70 Nicht überzeugend Burgstaller (Fn. 10), S. 180, der hier objektives Handlungsunrecht bejahen will, obwohl es doch auch nach ihm am Erfolgsunrecht fehlen soll. 71 Eingehende Nachweise jener Autoren, die auch beim Fahrlässigkeitsdelikt ein subjektives Rechtfertigungselement fordern, bei Hirsch, in: L K , vor § 3 2 Rdn. 58.

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einzelner gesetzlicher Formulierungen oder der ontologischen Struktur von Handlungen für die Lösung rechtlicher Probleme, z.T. sind sie Ausdruck eines Denkens, das ohne Ergriindung des wahren normativen Hintergrunds sog. subjektiver Rechtfertigungselemente aus einer objektiv-subjektiven Struktur der Erlaubnissätze deduziert, die vielfach-durch nichts weiter als ein vordergründiges, noch dazu ganz am Vorsatzunrecht orientiertes „Spiegelungs"-Verfahren fundiert ist72. Doch auch die vereinzelt anzutreffenden Versuche einer tiefergehenden Begründung vermögen nicht zu überzeugen. Das gilt insbesondere für die Behauptung, auf die subjektive Zwecksetzung könne schon im Blick auf die Erforderlichkeitsprüfung nicht verzichtet werden73. Diese Behauptung ist unrichtig: was in concreto zur Gutserhaltung notwendig ist, hängt ausschließlich von objektiven Gegebenheiten (zu denen auch die Fähigkeiten einer Person zählen), nicht aber von dem zufälligen Wissen oder den zufälligen Zwecksetzungen einer Person ab. Ebensowenig trägt das Argument, nur die Zwecksetzung des einzelnen vermöge die Gütererhaltung als unwertkompensierende Größe auszuweisen, ohne solche Zwecksetzung handele es sich um einen rechtlich irrelevanten Zufallseffekt74. Mit einer solchen Betrachtungsweise wird verkannt, daß für eine auf die Bedürfnisse der Rechtsgüterwelt abhebende Schutzordnung ein hinreichender, ja zwingender Grund für die Aufhebung eines durch die Bedrohung eines bestimmten Gutes motivierten Verbots bereits dann besteht, wenn der Gutsträger nicht geschützt sein will bzw. die Handlung zur Erhaltung höherwertiger Interessen erforderlich ist - jede andere Sicht wäre eine dem Gesetzgeber verwehrte unangemessene Mißachtung oder Zurücksetzung des Willens des verzichtenden Gutsträgers bzw. der durch das Verhalten erhaltbaren Interessen. Die Zufälligkeit des Effekts im Blick auf die Psyche des Agierenden ist vor diesem Hintergrund ein deplaziertes Argument. Tragfähig wären solche Erwägungen vielmehr erst dann, wenn es im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte ein gesetzlich anerkanntes paralleles Konzept zu dem gäbe, das im Bereich der Vorsatzdelikte induzierend hinter dem sog. subjektiven Rechtfertigungselement steht: also Unrecht, das sich nicht auf die Vornahme einer wegen ihrer objektiven Gefahrendimension zu beanstandenen Handlung gründet, sondern selbst dann vorliegt, wenn die Handlung objektiv in Ordnung ist75. Im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte wäre das z.B. denkbar, wenn man die schlichte I. S. der oben 1.4. a) gerügten Denkweise. So Zielinski (Fn.20), S. 250 f, 264 f. 74 So Zielinski (Fn. 20), S. 264. 75 Im Ergebnis übereinstimmend Burgstaller Lenckner, vor § 32 Rdn. 99. 72 73

(Fn. 10), S. 180f;

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betätigte Sorglosigkeit gegenüber Gütern als Unrecht der Fahrlässigkeitsdelikte ausreichen ließe. Im Lichte eines solchen Unrechtskonzepts könnte auch die Vornahme eines nur zufällig objektiv einwandfreien Verhaltens als Unrecht angesehen werden - und: wären zum Ausschluß solchen Unrechts gewisse subjektive Befindlichkeiten notwendig. Ein derartiges, dem untauglichen Versuch im Bereich des Vorsatzdelikts vergleichbares Fahrlässigkeitsunrecht ist dem geltenden Recht indessen fremd - auf die vielfältigen, die Richtigkeit dieser Entscheidung unterstreichenden Erwägungen 76 kann hier nicht eingegangen werden. 2. Aus der Einsicht in den normativen Hintergrund sog. subjektiver Rechtfertigungselemente ergeben sich weiter Konsequenzen für deren Inhalt: Sind subjektive Rechtfertigungselemente deshalb zu postulieren, weil der im Bewußtsein der Tatbestandserfüllung handelnde Täter ansonsten auch bei Gegebensein der objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen noch strafrechtlich relevantes subjektives Unrecht verwirklicht, so muß das geforderte subjektive Datum so beschaffen sein, daß sich bei seinem Gegebensein Handeln in Kenntnis der mit diesem verbundenen - objektiv erlaubten - Rechtsgutsgefährdung oder Rechtsgutsbeeinträchtigung nicht mehr als subjektives Unrecht darstellt. Damit ist ersichtlich eines vorausgesetzt: die Kenntnis all jener Umstände, deren Gegebensein für eine Rechtfertigung des tatbestandserfüllenden Handelns notwendig ist77. Zum Kreis dieser Umstände zählen nicht nur die die rechtfertigende Situation begründenden Umstände (ζ. B. gegenwärtiger rechtswidriger Angriff). Der Täter muß auch von jenem Effekt ausgehen, der zur Rechtfertigung erforderlich ist78. Solange er diese Umstände nicht kennt, gleichwohl aber rechtsgutsbeeinträchtigend agiert, handelt er nach seiner Vorstellung in einer Situation, für die die Rechtsordnung Handeln verbietet - und verwirklicht damit Unrecht im intentionalen Sinne. Der ideelle Widerspruch seines Verhaltens zur Rechtsordnung entfällt erst, wenn der Täter die Umstände kennt, die das Verhalten nach seiner objektiven Dimension als angemessen und rechtmäßig erscheinen lassen7'. Problematisch kann bei dieser Ausgangslage nur zweierlei sein: wie der Begriff „Kenntnis"

" S. dazu ζ. B. Armin Kaufmann, Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert, 1982, S. 131, 148 f. 77 S. dazu schon Frisch (Fn. 22), S. 457ff; eingehende Nachweise bei Loos, Festschrift f. Oehler, S. 227 ff; Schänke/Schröder/Lenckner, vor §32 Rdn. 14. Abweichend - und zwar nicht nur i. S. der Postulierung eines Willensmoments, sondern auch i. S. eines Verzichts auf vollständige Kenntnis - insbes. Hirsch, in: LK, vor §32 Rdn. 55. 78 Zutreffend hervorgehoben von Loos, Festschrift f. Oehler, S. 233 ff. n Nicht überzeugend daher der Verzicht Hirschs, in: LK, vor §32 Rdn. 55 auf das Erfordernis der Kenntnis (als solches).

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näherhin zu verstehen ist, und: ob neben der Kenntnis noch weiteres zu fordern ist. a) Die Antwort auf die erste Frage soll bewußt knapp gehalten werden, da ich dazu schon an anderer Stelle eingehend Stellung genommen habe80. Wegweisend ist auch hier unser Grundansatz, diesmal freilich in Verbindung mit gewissen Interpretamenten der Lehre vom intentionalen Unrecht: Wenn es für die Annahme intentionalen Unrechts ausreicht, daß der Täter solche Dimensionen seiner Handlung „ernsthaft für möglich hält", die das Unrecht begründen, so ist es angesichts der Gleichwertigkeit unrechtsbegründender und (des Fehlens) unrechtsausschließender Umstände für das Vorliegen von Unrecht im Prinzip konsequent, bei ernsthaftem Für-Möglich-Halten des Fehlens rechtfertigender Umstände ebenfalls die Verwirklichung intentionalen Unrechts zu bejahen. Das sog. subjektive Rechtfertigungselement muß dementsprechend so beschaffen sein, daß das verbleibende Für-Möglich-Halten des Nichtgegebenseins rechtfertigender Umstände für die Begründung ideellen Unrechts nicht ausreicht81. Und dies wiederum ist - je nach dem, was man für die Vorsatzbegründung als ausreichend ansieht - der Fall, wenn der Handelnde auf das Vorliegen der rechtfertigenden Umstände vertraut, dieses - und nicht das Fehlen dieser Umstände - für wahrscheinlich hält, wenn ihm das Fehlen der Umstände nicht gleichgültig ist usw. Freilich ist diese Leitlinie genau besehen zu grob. Tatsächlich genügt nämlich in bezug auf die Merkmale bestimmter Rechtfertigungsgründe das (blinde) Vertrauen auf deren Gegebensein für das sog. subjektive Rechtfertigungselement ebensowenig wie auf der anderen Seite die bloß schwache Annahme des Eintritts bestimmter positiver Effekte dieses Element ausschließt82. Die obige Leitlinie bildet daher nur eine meist treffende Aussage. Präzisere Aussagen setzen voraus, daß man das zwar einfache, in seiner holzschnittartigen Einfachheit aber zu grobe Modell einer in den Erlaubnissätzen geforderten feststehenden Wirklichkeit, auf die sich ein einheitlich formulierbares subjektives Rechtfertigungselement bezieht, zugunsten eines differenzierteren Modells aufgibt und anerkennt, daß (nicht nur die Handlungsverbote, sondern auch) weite Teilbereiche der Erlaubnisnormen über mehr oder weniger große Möglichkeiten formuliert sind83. Für den subjektiven Bereich ist dann zu fordern, daß der Täter jeweils die durchaus unterschiedlichen - Möglichkeiten (oder auch praktischen Gewißheiten) kennt, über die die Handlungsbefugnisse (oder die Handlungsverbote) definiert sind. Geht der Täter von insoweit nicht ausreichenden Möglichkeiten aus, so verwirklicht er (jedenfalls auch) intentionales Unrecht84.

Vgl. Frisch (Fn. 22), S. 460 ff. Zutreffend Stratenwerth, AT, Rdn.490: subjektive Rechtfertigungselemente als genaues Gegenstück zum Vorsatz! 82 Näher dazu - mit Beispielen - Frisch (Fn.22), S. 419 ff, 429 ff, 431 ff. 83 Näher dazu Frisch (Fn.22), S.419ff. 84 Vgl. Frisch (Fn.22), S.449f. 80 81

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b) Weit mehr diskutiert als dieses erste ist das zweite Problem: ob es im subjektiven Bereich (zur Vermeidung von Straffolgen) neben der Kenntnis auch noch eines besonderen Zweckmoments oder Motivs bedarf. Die Auffassungen sind insoweit geteilt85: Die wohl überwiegende Ansicht verlangt eine Absicht oder einen bestimmten Willen (z.B. der Verteidigung oder Rettung) bzw. eine Motivation gerade durch die Rechtfertigungslage - wobei allerdings ausreichen soll, daß der Rechtfertigungszweck neben anderen Zwecken verfolgt wird, die Rechtfertigungslage jedenfalls ein Motiv ist8'. In der Literatur gewinnt demgegenüber - von der speziellen Problematik der sog. zweiaktigen Rechtfertigungsgründe einmal abgesehen87 - zunehmend eine Auffassung an Boden, die die Notwendigkeit einer solchen Absicht oder Motivation bestreitet und schlichte Kenntnis der Rechtfertigungslage genügen läßt88. Zur Abklärung der Reichweite des damit angesprochenen Dissenses erscheint es sinnvoll, zunächst auf eines hinzuweisen: Zwischen dem Postulat bloßer Kenntnis und dem eines sog. Verteidigungswillens besteht zumindest solange kein Gegensatz, solange man das postulierte Willensmoment nur in dem Sinne versteht, in dem es auch in der Vorsatzlehre gebraucht wird. Tatsächlich fordern die Befürworter eines voluntativen Vorsatzelements ja auch im Tatbestandsbereich nicht etwa, daß es dem Täter auf die Herbeiführung des Erfolgs oder die Vornahme der Handlung unter tatbestandsverwirklichenden Umständen nachgerade ankommen müsse. Die voluntative Komponente gilt als erfüllt auch, wenn der Täter - unter Einschluß des Für-Möglich-Haltens weiß, daß sein Verhalten den Tatbestand verwirklicht und - gleichwohl - willentlich handelt. Die Erfordernisse eines solchen Willensbegriffs erfüllt aber nun ersichtlich auch der Täter, der in Kenntnis aller die Rechtfertigung tragenden Umstände handelt 8 ': er weiß - unter Einschluß des Für-Möglich-Haltens - daß mit seinem Handeln der Effekt der Verteidigung oder Rettung eines anderen verbunden ist und will das so erfaßte Handeln. Ein wirklicher Gegensatz besteht so gesehen nur, wenn man mehr als solches Wollen verlangt: etwa fordert, daß es dem Täter geradezu auf Verteidigung oder Rettung (mit-)ankommt oder daß er durch die Rechtfertigungslage motiviert ist. !5

Eingehende Nachweise zum Streitstand bei Loos, Festschrift f. Oehler, S. 227 f und zum österr. Recht - Triffterer, Festschrift f. Oehler, S. 212 f. 86 Aus der Rspr. vgl. z.B. BGHSt. 3, 194, 198; B G H NStZ 1983, 117 u. 500; aus der Literatur z.B. Dreher/Tröndle, StGB, 42.Aufl. 1985, §32 Rdn. 14; Lackner, II vor §32 und 2f zu §32; Hirsch, in: LK, vor §32 Rdn. 53 ff. 17 Vgl. dazu noch unten II. 5. »8 I.d.S. z.B. Burgstaller (Fn.10), S.175f; Jakobs, AT, 11/20f; Loos, Festschrift f. Oehler, S.235f; Schänke/Schröder/Lenckner, vor §32 Rdn. 14; Stratenwerth, AT, Rdn. 488 ff; auch der österr. O G H steht auf diesem Standpunkt, vgl. O G H JB1. 1980, 494. " Übereinstimmend Schünemann, G A 1985, 333.

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Für solche subjektive Befindlichkeiten läßt sich nun freilich aus der induzierend hinter dem sog. subjektiven Rechtfertigungselement stehenden Ratio, der Vermeidung des Verdikts subjektiver Unrechtsverwirklichung, ersichtlich nicht plädieren - zumindest wenn man die Antwort auf der Grundlage jener Lehren sucht, die auch sonst als maßgebliche dogmatische Ausformung des Gedankens subjektiv begründeten Unrechts fungieren. Im Subjektiven, als sog. Tatentschluß, ist danach der Vorsatz des entsprechenden Delikts90, genauer: Vorsatz in bezug auf jene Momente gefordert, welche das Geschehen zu (tatbestandlich vertyptem) Unrecht machen. Dementsprechend muß das sog. subjektive Rechtfertigungselement konsequenterweise nur das aufweisen, was zum Ausschluß solchen Vorsatzes notwendig ist. Hierfür genügt aber nun allemal die Kenntnis der rechtfertigenden Umstände - denn bereits mit dieser Kenntnis nimmt der Täter seine Tat nicht mehr als Unrechte Tat wahr". Das gilt ganz unabhängig davon, ob man für den Vorsatz nur Kenntnis verlangt oder zusätzlich ein voluntatives Moment fordert'2. Läßt sich damit für ein Absichts- oder Motivmoment bei Zugrundelegung des den Gedanken subjektiven Unrechts ausformenden Instrumentariums kein Beleg finden, so könnte allenfalls noch eines in Betracht kommen: der Aufweis der Notwendigkeit eines solchen Elements im Blick auf den Grundgedanken des subjektiven Unrechts. Auf den ersten Blick scheint dieser Rekurs in der Tat ein Zweck- oder Absichtsmerkmal nahezulegen: Denn handelt in rechtsfeindlicher oder unrechtlicher Gesinnung nicht auch der, der zwar die Rechtfertigungslage kennt, aber nicht helfen, retten, züchtigen oder dem Willen des Einwilligenden Rechnung tragen, sondern nachgerade schaden oder einfach nur auffallen will? - Die etwas eingehendere Betrachtung zeigt indessen, daß so nicht argumentiert werden kann. Die Schädigungsabsicht bei Handeln in Kenntnis der Rechtfertigungslage kann als Bekundung einer rechtsfeindlichen Gesinnung höchstens dem ausreichen, der die rechtsfeindliche

90 Vgl. z.B. RGSt. 61, 160; BGHSt. 22, 332f; 32, 378; Schönke/Schröder/Eser, §22 Rdn. 12 ff, 17 ff m. w. N. (auch abweichender Auffassungen). 91 Anders kann die Dinge allenfalls der sehen, der den Vorsatz von vornherein nur auf die tatbestandlich vertypten Unrechtselemente bezieht: dieser Vorsatz wäre durch die Kenntnis der Rechtfertigungslage nicht betroffen. Indessen wäre ein solcher Vorsatz nicht nur unzureichend, um eine unrechtliche Gesinnung zu begründen und damit strafrechtliche Folgen nach sich zu ziehen (hierzu bedürfte es vielmehr noch der Unkenntnis der Rechtfertigungslage; s. den folgenden Text!). Mit dem Hinweis auf sein Gegebensein läßt sich vor allem kein Absichtsmerkmal o.a. begründen. Denn das hierfür allenfalls zu erwägende Kompensationsmodell im Subjektiven ist - abgesehen von der Willkürlichkeit des Schlusses gerade auf die Absicht - schon im Ansatz verfehlt (s. oben I.4.b), aa). 92 Eingehende Nachweise dazu bei Frisch (Fn.22), passim; aus der jüngsten Zeit vgl. noch Schmidhäuser, Festschrift f. Oehler, S. 135 f und Herzberg, JuS 1986, 249 ff.

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oder unrechtliche Gesinnung in einem ganz vagen Sinn versteht, dafür nicht mehr fordert als ein Handeln, das wir wegen seiner Ausrichtung auf einen an sich unerwünschten Effekt als nicht schön, unmoralisch oder böse empfinden. Sobald man dagegen die unrechtliche oder rechtsfeindliche Gesinnung in dem Sinne versteht, der im rechtlichen Kontext allein sinnvoll ist, nämlich als Entscheidung für ein Handeln, das die Rechtsordnung im Blick auf die Güterwelt verbietet, kann von einer unrechtlichen oder rechtsfeindlichen Gesinnung keine Rede mehr sein: der Täter handelt nicht anders als auch die Rechtsordnung die entsprechende (Konflikts-)Lage beurteilt, er lehnt sich mit seinem Handeln nicht gegen die rechtlichen Maximen auf und erschüttert dadurch deren Geltungskraft. Er macht sich lediglich Möglichkeiten, die nach der Rechtsordnung verbleiben, zu unschönen oder unmoralischen Zwecken zunutze. Das aber reicht nicht: Niemand denkt ja auch daran, den der unrechtlichen Gesinnung zu zeihen und zu bestrafen, der seinen Erbonkel in der gewiß unmoralischen Absicht, daß dieser verunglücken möge, auf eine Reise schickt, oder den, der einem anderen aus rein finanziellen Gründen die Mittel zur frei-verantwortlichen Selbsttötung liefert. Für den Bereich des Unrechtsausschlusses kann insoweit nichts anderes gelten'3. Eher diskutabel erscheint die Annahme einer unrechtlichen Gesinnung dort, wo das Vorhandensein der Rechtfertigungslage für die Motivation des Täters unerheblich ist. Denn wenn der Täter nicht handelt, weil eine bestimmte rechtfertigende Lage gegeben ist, sondern ohne Rücksicht darauf — und dies vielleicht auch noch bekundet: zeigt sich darin nicht, daß er nach anderen Maßstäben als jenen der Rechtsordnung entscheidet? - Indessen spricht gegen eine so begründete Postulierung eines „Weil-Motivs"' 4 - von allen forensischen Nachweisproblemen abgesehen - durchschlagend, daß eine solche unrechtliche Gesinnung sich bei Beachtung der anderen tragend hinter der Pönalisierung subjektiven Unrechts stehenden Leitmaximen nicht fassen läßt. Strafrechtlich relevantes Unrecht ist ja noch nicht das Vorhandensein oder die Feststellbarkeit einer unrechtlichen Gesinnung. Der einzelne muß die Gesinnung auch in einer Tat umsetzen'5: erst sie belegt hinreichend, daß jemand nicht nur eine unrechtliche Gesinnung hat, sondern auch danach handelt. Diese Belegfunktion kommt einer Tat bei objektiver Rechtfertigungslage zwar zu, wenn der Täter die Lage nicht kennt. Mit der " Übereinstimmend insbes. Roxin, ZStW 75 (1963), 561 ff, 563; s. auch Rudolphi, Festschrift f. Maurach, S. 57 f; Stratenwerth, AT, Rdn.489. M Ein „Weil"-Motiv fordert bei der Notwehr insbes. Alwart, GA 1983, 433, 446 ff, 452 ff (wobei dort allerdings praktisch ausschließlich aus dem Wesen der Notwehr als Reaktion argumentiert wird); zu Alwart insbes. Loos, Festschrift f. Oehler, S. 233 f. , s Treffend Roxin, ZStW 75 (1963), 563; Welzel, Strafrecht, S. 187.

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Kenntnis der Situation verfällt diese Belegfunktion der Tat jedoch: stets bleibt der prinzipielle Einwand, die konkrete Tat sei möglicherweise eben doch entscheidend auf das dem Täter bekannte Vorhandensein einer Rechtfertigungslage zurückzuführen. Selbst im Extremfall gegenteiliger Bekundung des Täters gilt nichts anderes: auch hier fehlt es an einem die unrechtliche Gesinnung eindeutig ausdrückenden, nämlich nur über sie erklärbaren Handeln. Was bleibt, sind mehr oder weniger starke Anhaltspunkte, daß der Täter auch ohne Rechtfertigungslage gehandelt hätte - und das ist für eine strafrechtliche Ahndung zu wenig. 3. Die Einsichten zum normativen Hintergrund des subjektiven Rechtfertigungselements zeichnen - weiter - die Antwort auf die Frage nach den Folgen des Fehlens dieses Elements vor": In Betracht kann schon vom Ansatz her allein die Bestrafung wegen Versuchs kommen97. Denn wenn der das sog. subjektive Rechtfertigungselement induzierende Grund darin liegt, daß der in Kenntnis der Tatbestandserfüllung handelnde Täter geistiges Unrecht verwirklicht, sofern er nicht zugleich um die sein Verhalten rechtfertigenden Umstände weiß, so kann ja doch auch nur die diesem Unrechtstypus zugeordnete Rechtsfolge (auch 1. w. S.98) zum Zuge kommen. Die Einstufung als vollendete Tat mit den dieser zugeordneten Rechtsfolgen scheitert daran, daß diese Tat eine Kombination objektiver und subjektiver Unrechtsteile voraussetzt, an der es hier fehlt99: nach ihrer objektiven Gefährdungs- und Beeinträchtigungsdimension ist die Tat nicht zu beanstanden100. Unter rechtstechnischem Aspekt handelt es sich dabei um einen Fall direkter Anwendung der Versuchsvorschriften, nicht nur um Analogie 101 . Denn die in § 2 2 S t G B 96 Einen umfassenden Überblick über die insoweit vertretenen Auffassungen bietet die Kommentierung von Hirsch, in : L K , vor § 32 Rdn. 59 ff in Verb, mit dem jüngsten Beitrag von Herzberg, J A 1986, 190 ff; zur Diskussion in Österreich vgl. Triffterer, Festschrift f. Oehler, S . 2 1 3 f . " Ebenso im Ergebnis z . B . Burgstaller (Fn.10), S . 1 7 7 f f ; Eser, Strafrecht I, 3 . A u f l . 1980, S. 112; Jescheck, A T , S . 2 6 4 ; Lackner, 2 d zu § 2 2 ; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 192 ff; Rudolphi, Festschrift f. Maurach, S. 58; Samson, in: S K , vor § 3 2 R d n . 2 4 ; Wolter (Fn.42), S. 135; aus der Rspr. z . B . K G G A 1975, 213; für Vollendung demgegenüber z . B . B G H S t . 2, 111, 114 (im Zusammenhang mit der „pflichtgemäßen P r ü f u n g " ) ; Hirsch, in: L K , vor § 3 2 Rdn. 5 9 f f ; Schmidhausen Strafrecht Allg. Teil, 2. Aufl. 1975, 9/17; Zielinski (Fn. 20), S. 263; z. T. auch Gallas, Festschrift f. Bockelmann, S. 175. " Also einschließlich des adäquaten Schuldspruchs! 99 S. oben I . 4 . a ) ; voll übereinstimmend Herzberg, J A 1986, 192. 100 Meist wird nur das Fehlen des Erfolgsunwertes betont; es fehlt jedoch schon am objektiven Handlungsunwert, richtig Gallas, Festschrift f. Bockelmann, S. 173. 101 Für Analogie z . B . Jescheck, A T , S . 2 6 4 ; Maurach/Zipf, A T 1, S . 3 3 3 f ; Wessels, Strafrecht - A T , 15.Aufl. 1985, S. 78, je m . w . N . ; für eine direkte Anwendung der Versuchsregeln dagegen z . B . Herzberg, J A 1986, 192f; Nowakowski, Ö J Z 1977, 578; Rudolphi, Festschrift f. Maurach, S. 58.

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umschriebenen definitorischen Voraussetzungen des Versuchs erfüllt der ohne Kenntnis der rechtfertigenden Umstände handelnde Täter allemal - „nach seiner Vorstellung unmittelbar zur Verwirklichung angesetzt" hat ja irgendwann auch der Täter der vollendeten Tat. Nicht die Erfüllung der definitorischen Mindestvoraussetzungen des Versuchs, sondern allein dessen Abgrenzung zum vollendeten Delikt steht hier in Frage. Diese aber ist gesetzlich überhaupt nicht geregelt, sondern hängt davon ab, wann ein vollendetes Delikt angenommen wird - der Rest verbleibt ohne weiteres für den Versuch. Die Frage wiederum, wann Vollendung anzunehmen ist, ist unter Beachtung der Tatbestandsformulierungen einerseits und des dahinterstehenden materialen Grundgedankens des Vollendungsdelikts andererseits zu lösen. Sieht man diesen Grundgedanken in der Erfassung jener Konstellationen, in denen komplexes, objektive und subjektive Elemente vereinigendes und durch die Tatbestandsformulierungen inhaltlich präzisiertes Unrecht gegeben ist, so steht nichts im Wege, in solchen Fällen, in denen die Tat nach ihrer objektiven Dimension nicht als unwertig ausgewiesen werden kann, einen Versuch anzunehmen: Zur Analogie muß nur greifen, wer den Versuchsbegriff nicht Ratio-orientiert, sondern naturalistisch bildet und deshalb davor zurückschreckt, bei eingetretenem Erfolg begrifflich einen Versuch zu bejahen102.

Wenn bei solch leicht einsichtigen Zusammenhängen gleichwohl mit Entschiedenheit für die Vollendungslösung eingetreten wird, so hat das seinen Grund nicht nur in der - schon abgelehnten103 - vereinzelt vertretenen Auffassung, daß selbst der Fortfall objektiven Unrechts (bisweilen) an das Vorhandensein subjektiver Befindlichkeiten geknüpft sei. Es spielt hier auch ein gewisses Grundverständnis der Vollendungstat eine Rolle, welches den Gedanken paralysiert, daß bei zusammengesetztem Unrecht mit dem Fortfall einer Komponente dieses Unrecht als solches und damit das Unrecht der Vollendungstat entfällt104: Die Vollendungstat wird danach mehr oder weniger deutlich vom Gegebensein eines Geschehens gelöst, das nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv zu beanstanden ist. Für die Vollendungstat ist statt dessen spezifisch ein nicht gerechtfertigtes Verhalten mit eingetretenem (zurechenbarem) Erfolg; der Versuch ist reserviert für die Fälle des fehlenden Erfolgseintritts105. Aus der Sicht eines solchen Verständnisses des Vollendungsdelikts ist es durchaus konsequent, bei Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements (und damit: verbleibender Rechtswidrigkeit) für ein Vollendungsdelikt zu plädieren und im Hinblick auf die objektive Seite nur eine Strafmilderung vorzuschlagen 106 . Fraglich ist nur, ob das Grundverständnis selbst richtig ist, aus dem diese Folgerungen gezogen werden.

Treffend schon Nowakowski, ÖJZ 1977, 578. Vgl. oben 1.3. 104 In der verbreiteten zusammenfassenden Aufführung aller Anhänger der Vollendungslösung kommen diese verschiedenen Hintergründe leider nicht zum Ausdruck. 105 I.d.S. insbes. Hirsch, in: LK, vor §32 Rdn.61; s. auch K.Schmitt, JuS 1963, 65; Zielinski (Fn. 20), S. 259 ff. So Hirsch, in: LK, vor §32 Rdn.61 a. E. 102 ,0J

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Dabei wird man der angedeuteten Auffassung zunächst zugeben müssen, daß sie im Einklang mit einem geläufigen Vorverständnis steht: Es entspricht dem idealtypischen Bild, bei eingetretenem Erfolg von Vollendung zu sprechen und den Versuch auf die Fälle des ausgebliebenen Erfolgs zu beschränken. Unter Hinweis auf die „Realitäts"-Ferne der Versuchslösung macht die Vollendungslösung von dieser ihrer Harmonie mit dem Vorverständnis denn auch gezielt Gebrauch. Wirklich überzeugend sind eine solche Argumentation und das ihr zugrunde liegende normative Verständnis indessen nicht. Sie verzeichnen den Stellenwert vorrechtlicher Phänomene und der Anknüpfung an sie im rechtlichen Kontext. Dem Strafrecht geht es darum, das Gesamtfeld jener Verhaltensweisen, die strafrechtliche Rechtsfolgen überhaupt erforderlich machen und legitimieren, mit Rechtsfolgen zu verknüpfen, die den bei diesen Sachverhalten vorfindbaren wertungsrelevanten Gesichtspunkten und Unterschieden in angemessener Weise Rechnung tragen. Zur Realisierung dieses Konzepts formuliert das Gesetz die Voraussetzungen bestimmter Rechtsfolgen freilich nicht einfach im Gewand der wertungsrelevanten Kategorien selbst - also in abstrakten Stufen des Unrechts, in verschiedenen Dimensionen der Rechtsfriedenserschütterung usw. Derartige Formulierungen würden dem Strafgesetzbuch jedwede Lebensnähe und Verständlichkeit nehmen. Das Gèsetz greift vielmehr auf charakteristische vorrechtliche Unterschiede zurück und knüpft an diese Unterschiede rechtliche Folgen. Es tut dies in der Einsicht, daß bei richtiger Auswahl der als Anknüpfungspunkt gewählten vorrechtlichen Unterschiede mit diesen regelmäßig auch Unterschiede im Bereich jener Kategorien verbunden sind, auf die es für die Rechtsfolge ankommt. Das vorrechtliche Datum fungiert in diesem Sinne als Indiz für das Vorhandensein des maßgeblichen normativen Datums. Daraus ergibt sich zugleich, wie bei einem Auseinanderfallen von vorrechtlichem Phänomen und dem für die Rechtsfolgendifferenzierung maßgebenden normativen Aspekt zu verfahren ist: der Vorrang gebührt hier allemal dem normativen Aspekt. Statt dessen auf das vorrechtliche Phänomen abzuheben, hieße den dienenden Stellenwert der vorrechtlichen Phänomene und Unterschiede verkennen: Diese interessieren ja nicht um ihrer selbst willen, sondern allein deshalb, weil sich mit ihrer Hilfe wertungsrelevante Unterschiede - regelmäßig - in leicht verständlicher, bildhafter Weise erfassen lassen. Sie sind dementsprechend auch nur insoweit weichenstellend, als sie zugleich Verkörperung des normativ relevanten Datums sind. Fehlt es daran, muß die vordergründige Form der Idee weichen107 - jedenfalls wenn dies zugunsten des Täters geschieht. 107 Zum Verhältnis von Form und Idee allgemein Engisch, Festschrift f. F. von Hippel, 1967, S. 63 ff.

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Vor diesem Hintergrund verfallen die Durchschlagskraft des Hinweises auf die Realität ebenso wie die Vollendungslösung. Beide sind ersichtlich Ausdruck einer naturalistischen Uberschätzung vorrechtlicher Phänomene. Die entscheidende Frage lautet nicht, ob der Erfolg eingetreten ist oder nicht. Maßgebend ist vielmehr, ob er jenes normative Datum verkörpert, dessentwegen ein Sachverhalt als Vollendungssachverhalt eingestuft und im Grundsatz einer gravierenderen Rechtsfolge als der Versuch zugeführt oder auch dort bestraft wird, wo der Versuch straflos ist. Diese Frage stellen heißt aber zugleich: sie verneinen. Daß der Fall der Vollendung im Grundansatz als gravierender eingestuft und der gravierenderen Rechtsfolge zugeführt wird, hat jenseits vielfältiger Schattierungen - seinen Grund in dem in der Beeinträchtigung des Rechtsguts steckenden zusätzlichen Unwert108, der dadurch bewirkten zusätzlichen Erschütterung des Rechtsfriedens109. An diesen entscheidenden normativen Daten fehlt es in den hier interessierenden Fällen des objektiven Gegebenseins einer Rechtfertigungslage: der Eintritt eines Erfolgs, der an sich herbeigeführt werden durfte, dessen Herbeiführung vielleicht sogar erwünscht war, kann niemals als Unwert begriffen werden - sein Eintritt vermag ein halbwegs differenziertes Rechtsbewußtsein nicht zu erschüttern. Dasselbe gilt für die objektive Gefährdungsdimension der Handlung. Damit verfällt die Basis, die legitimierend hinter der Einstufung einer Tat als vollendetes Delikt und der dadurch bewirkten Vorprogrammierung verschärfter Rechtsfolgen steht. Alles, was bleibt und als Unwert begriffen werden kann, ist die Betätigung einer bestimmten Einstellung. Sie erfüllt indessen ungeachtet des Eintritts des - normativ eben nicht „zählenden" Erfolgs nichts weiter als jenes normative Datum, das in der Wertung des Gesetzes bei der Reaktion auf den (untauglichen) Versuch vorausgesetzt ist110. Besondere Bedeutung hat dies in jenen Fällen, in denen der Versuch nach der Einschätzung des Gesetzes nicht strafwürdig ist. Diese Fälle sind nicht etwa, wie manche Anhänger der Vollendungslösung meinen, ein Argument gegen die Versuchslösung, weil diese Strafbarkeit hier nicht begründen kann 1 ". Sie sind vielmehr ein Argument gegen die Vollendungslösung. Denn diese kommt hier aufgrund eines vordergründigen Realitätsdenkens zur Strafbarkeit, ohne daß jener komplexe Unwert gegeben ist, der 108 So insbes. bei Zugrundelegung der h. A . von der Möglichkeit sog. Erfolgsunrechts, vgl. dazu statt vieler Schänke/Schröder! Lenckner, vor § 13 Rdn. 57 ff m. w. N . 1M Zur Bedeutung des eingetretenen Erfolgs unter diesem Aspekt vgl. ζ. B. Zielinski (Fn. 20), S. 205 ff. 110 Ein untauglicher Versuch, der zur Anwendung des § 2 3 Abs. 3 führt, wird dabei freilich regelmäßig ausscheiden; zu dieser in Österreich (für Paralielregelungen) eingehender diskutierten Frage vgl. insbes. Burgstaller, JB1. 1980, 496 und Nowakowski, Ö J Z 1977, 579 m . w . N . 111 So aber Hirsch, in: L K , vor § 3 2 R d n . 6 1 .

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allein nach Auffassung des Gesetzes die Strafbarkeit zu rechtfertigen vermag. Pointiert: Die Vollendungslösung ignoriert in diesen Fällen in naturalistischer Verkennung des Gesetzesprogramms und der hinter diesem stehenden Legitimationserwägungen die gesetzlichen Vor-Wertungen durch Ausdehnung der Strafbarkeit in einen nach der Wertung des Gesetzes straffreien Raum112!

Was soeben aus grundsätzlichen Erwägungen zur Ratio des Erfolgserfordernisses entwickelt wurde, läßt sich natürlich „rechtstechnischer" begründen. Das Mittel dazu bietet die Lehre von der Erfolgszurechnung (die ja bei zutreffender teleologischer Konzeption wesentlich an der Ratio des Erfolgserfordernisses orientiert ist"3): Als zurechenbar wird der Eintritt eines bestimmten Erfolgs heute nur angesehen, wenn der Erfolg sich als Realisierung einer vom Täter geschaffenen mißbilligten Gefahr darstellt114. Hieran fehlt es nach allem früher Gesagten in den hier interessierenden Fällen - nach ihrer objektiven Gefahrendimension ist die Handlung nicht zu beanstanden: insoweit kommt es allein auf die objektive Interessenlage an. Zwar bleibt die unrechtliche Gesinnung. Diese taugt indessen nicht als Grundlage der Erfolgszurechnung: nur aus gefährlichen Handlungen, nicht aus Gesinnungen als solchen vermag ein Erfolg herauszuwachsen. Wer für das vollendete Delikt nicht nur irgendeinen, sondern einen zurechenbaren Erfolg fordert, kann daher bei richtiger Beurteilung der Qualität der objektiven Gefahrenschaffung unmöglich zur Vollendung gelangen115. 4. Die Überlegungen zum Grund des sog. subjektiven Rechtfertigungselements enthalten freilich nicht nur den Schlüssel zur Lösung der vorstehenden praktischen Fragen. Sie geben auch Anlaß, die Lehre vom sog. subjektiven Rechtfertigungselement bzw. die um dieses Element kreisende Diskussion insgesamt kritisch zu apostrophieren. a) Schon die traditionelle Fragestellung erscheint wenig adäquat116: Man fragt, ob es zur Rechtfertigung eines bestimmten Verhaltens - regelmäßig einer gefährlichen oder folgenreichen Vorsatztat - über das Vorliegen der rechtfertigenden Umstände im objektiven Bereich hinaus auch 112 Übereinstimmend Herzberg, J A 1986, 193 (mit weit. Einwänden gegen die Argumentation der Vollendungslösung). 113 Eingehend dazu demnächst Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und objektive Zurechnung. 114 Vgl. statt vieler Jescheck, in: LK, vor § 13 Rdn. 59 ff und Rudolpbi, in: SK, vor § 1 Rdn. 57 ff. 115 Es liegt - m. a. W. - nicht nur kein Erfolgsunwert, sondern bei richtiger teleologischer Interpretation schon überhaupt kein tatbestandlich gemeinter Erfolg vor - weshalb richtig allein die direkte Anwendung der Versuchsvorschriften ist (zutreffend Nowakowski, Ö J Z 1977, 577, 580). 116 Bedenken gegen die traditionelle Fragestellung auch bei Herzberg, J A 1986, 192, 193.

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irgendwelcher subjektiven Elemente bedarf. Damit wird indessen - so geläufig diese Fragestellung auch sein mag - unpräzise, wird nach zuviel gefragt. Die richtige Fragestellung hätte zu lauten: ob über das objektive Gegebensein der Rechtfertigungsvoraussetzungen hinaus auch noch subjektive Befindlichkeiten notwendig sind, um die Bejahbarkeit jenes Unrechts auszuschließen, das nach den gesetzlichen Vor-Entscheidungen zur Auslösung bestimmter Rechtsfolgen notwendig ist117. Würde man in dieser funktional allein sinnvollen Weise fragen, so würden dadurch nicht nur die Sachprobleme wesentlich leichter lösbar: man würde relativ leicht sehen, daß beim Gegebensein der objektiven Rechtfertigungslage das „zusammengesetzte" Unrecht entfällt, nur noch intentionales Unrecht bleibt - die Frage nach der adäquaten Folge des Fehlens wäre kein echtes Problem. Es würde vor allem auch sichtbar, daß mit der einen über das Ziel hinausschießenden Frage nach der Rechtfertigung eine bei sachadäquatem Vorgehen sich ergebende Abfolge von Fragen übergangen wird, die sich auf verschiedene Gegenstände beziehen. Konkret: Hinter der einheitlichen Rechtfertigungsfrage verbergen sich die Frage, ob zum Ausschluß zusammengesetzten Unrechts eine subjektive Befindlichkeit zu fordern ist, und: ob sie zum Ausschluß subjektiven Unrechts benötigt wird. Die erste Frage ist richtigerweise zu verneinen, die zweite zu bejahen. Weil damit zur Vermeidung strafrechtlicher Folgen überhaupt doch ein subjektives Element erforderlich ist, trifft die Postulierung des sog. subjektiven Rechtfertigungselements im Ergebnis zu. Das ändert indessen nichts an der Inadäquität der Fragestellung und der Vorgehensweise. b) Bedenken bestehen indessen nicht nur gegen die Fragestellung. Auch das grundsätzliche Ergebnis, zu dem die h. M. in der Diskussion um die sog. subjektiven Rechtfertigungselemente gelangt, daß es nämlich zur Rechtfertigung (jedenfalls vorsätzlicher Verhaltensweisen) eines solchen Elements bedürfe, ist so nicht zutreffend. Auch insoweit rächt sich die zu undifferenzierte Fragestellung: es wird zu wenig zwischen der real bestimmte Gutsobjekte bedrohenden Dimension des Verhaltens und dessen Dimension als geistiger Angriff auf das Rechtsgut unterschieden. Was zunächst das Verhalten in seiner real bestimmte Gutsobjekte bedrohenden Dimension anbelangt, so kommt es hier auf subjektive 117 Z u r Vermeidung von MißVerständnissen: Die obigen Bemerkungen wollen nicht als Plädoyer f ü r eine umfassende Ersetzung der Rechtfertigungsfrage durch die Frage nach dem Ausschluß strafrechtlich relevanten Unrechts (vgl. dazu etwa Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983) verstanden werden. Es geht nur darum, die gesetzlichen Vor-Entscheidungen über die f ü r bestimmte Rechtsfolgen erforderlichen Komponenten des Unrechts bei der Frage nach dem Ausfall solchen Unrechts zu berücksichtigen.

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Befindlichkeiten überhaupt nicht an: Das Verhalten ist insoweit rechtmäßig, wenn es sich - nach dem Zuschnitt der entsprechenden Rechtfertigungsgründe - als das geeignete, erforderliche und im Blick auf das Interessenverhältnis angemessene Handeln im Interesse anderer Rechtsgüter darstellt bzw. durch die Einwilligung des Rechtsgutsträgers gedeckt ist. Weder aus speziellen Rationes der Rechtfertigungsgründe118 noch aus dem Wesen des aufzuhebenden Unrechts119 läßt sich ableiten, daß es zum Aufweis der Rechtmäßigkeit eines Handelns, das wegen seiner konkret gutsgefährdenden Dimension mißbilligt ist, auf das Vorhandensein bestimmter subjektiver Befindlichkeiten ankäme. Dementsprechend kann gegen ein solches Verhalten auch nicht mit Blick auf seine real güterbedrohende Dimension Notwehr geübt werden - in dieser Dimension ist das Verhalten hinzunehmen. Dies ist zutreffend erfaßt von den Gegnern des subjektiven Rechtfertigungselements 1 2 0 . Denkbar wäre allenfalls noch, daß bei fehlender Kenntnis des Täters von der Rechtfertigungslage das Verhalten wegen des verbleibenden „vergeistigten" Unrechts als rechtswidriger, notwehrfähiger Angriff zu qualifizieren ist 121 . D o c h ist das nicht überzeugend: der - noch gegebene - Angriff auf die Rechtsordnung in ihrer Geltungskraft ist nur eine Säule des schneidigen Notwehrrechts ; damit dieses eingreifen kann, ist allemal als zweites noch eine nicht hinzunehmende Bedrohung fremder Gutsobjekte notwendig - an ihr fehlt es hier 122 .

Indessen ist die Annahme, zur Rechtfertigung bedürfe es eines subjektiven Elements, noch nicht einmal mit Bezug auf das sog. intentionale Unrecht bzw. - bei „zusammengesetztem" Unrecht - mit Bezug auf die intentionale Unrechtskomponente zutreffend. Sicher: es fehlt nach allem Bisherigen am intentionalen Unrecht nur, wenn der Handelnde von einer Rechtfertigungslage ausgeht, um diese weiß - bei Vorhandensein dieses subjektiven Elements entfällt andererseits intentionales Unrecht. Nur, diese Wirkung des subjektiven Elements beruht auf einem ganz anderen Denkmodell als dem der Rechtfertigung123: Im Denkmodell der Rechtfertigung geht es darum, daß ein mit Blick auf ein Gut vorhandener Unwert wegen der Wertschaffung in anderer Richtung aufgehoben wird (bzw. wegen mangelnden Interesses des konkreten Gutsträgers entfällt). Der Unwert läßt sich hier als solcher begründen, ohne daß man dabei das Fehlen von Rechtfertigungsgründen schon in der Begründung

118

S. nochmals oben 1 . 3 .

119

S. oben 1.4. und II. 1. Vgl. Spendel, D R i Z 1978, 3 3 2 ; dens., in: L K , § 3 2 Rdn. 143.

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So offenbar Prittwitz, Jura 1984, 781. Freilich hat Prittwitz, Jura 1984, 781, recht, wenn er sagt, daß Spendeis Beispiel in der Diskussion um die Notwendigkeit eines sog. subjektiven Rechtfertigungselements wenig beweiskräftig sei. 123 S. auch schon die Andeutungen bei Frisch (Fn. 22), S . 4 5 8 Fn. 160. 121

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voraussetzen müßte; Rechtfertigungsgründe bewirken eine Kompensation des an sich gegebenen Unrechts. Anders hier: Wenn das Verhalten hier im Blick auf die Rechtfertigungslage objektiv gerechtfertigt ist, dann gehört es geradezu zur Begründung subjektiven Unrechts dazu, daß der Täter diese Lage nicht kennt - nur die Vornahme der gefährdenden oder beeinträchtigenden Handlung in Unkenntnis der Rechtfertigungslage taugt bei dieser Sachlage zur Begründung intentionalen Unrechts. Die Unkenntnis der Rechtfertigungslage ist m. a. W. zur Begründung des hier in Rede stehenden subjektiven Unrechts im Falle der Spezialkonstellation des Gegebenseins einer Rechtfertigungslage unentbehrlich. Mit ihrem negativen Gegenstück, der Kenntnis der Rechtfertigungslage, entfällt schon die Möglichkeit der Begründung von Unrecht: der Täter betätigt einen Entschluß, der von vornherein das Wesen intentionalen Unrechts, die unrechtliche Gesinnung, vermissen läßt. Das Wissen um die Rechtfertigungslage ist in bezug auf dieses Unrecht kein rechtfertigendes subjektives Element, sondern etwas, was nicht gegeben sein darf, soll sich das hier in Rede stehende Unrecht begründen lassen: es ist ein negatives Merkmal subjektiven Unrechts - vergleichbar gewissen negativen Merkmalen auf der objektiven Tatbestandsseite, wie ζ. B. dem Handeln ohne Konzession usw. Es wäre um der sachlichen Klarheit willen begrüßenswert, wenn man die Redeweise vom subjektiven Rechtfertigungselement aufgäbe: sie verschleiert nur die eigentlichen Zusammenhänge und Probleme. 5. Die bisherigen Überlegungen bezogen sich auf das sog. allgemeine subjektive Rechtfertigungselement, besser: jenes subjektive Element, das vorhanden sein muß, damit der Täter dem Verdikt der Verwirklichung subjektiven Unrechts entgeht124. Bleibt die Frage, ob nicht jenseits dieses Themenkreises zumindest mit Bezug auf bestimmte Rechtfertigungsgründe oder Rechtfertigungskonstellationen doch noch anderes gilt: ob nicht z . T . aus ganz speziellen Gründen bei bestimmten Rechtfertigungsgründen oder Rechtfertigungskonstellationen ausnahmsweise eben doch Zwecksetzungen unverzichtbar sind, um zur Rechtfertigung des Verhaltens i. S. einer Kompensation des Unrechts zu gelangen125. Als Beispiele für das Erfordernis solcher speziellen subjektiven Rechtfertigungselemente werden - neben den schon früher angeführten und gewürdigten Rechtfertigungsgründen12' - in der neueren Literatur vor allem sog. zweiaktige Rechtfertigungskonstellationen genannt: So sei ζ. B. nach § 127 StPO nur derjenige gerechtfertigt, der zum Zwecke der

124 125 126

S. im einzelnen oben 1.4. b). S. zu dieser Fragestellung neuerdings auch Loos, Festschrift f. Oehler, S. 236, 237 ff. Vgl. oben 1.3. (zu Notwehr und Notstand).

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unverzüglichen Überstellung an die Strafverfolgungsorgane festnimmt, nicht der, der dabei nur Zwecke der Privatstrafe oder der Rache verfolgt127. Ahnlich sei es in den Fällen mehraktiger Verteidigung bei der Notwehr 128 . Im Rahmen der etwas eingehenderen Prüfung regen sich alsbald Zweifel auch gegenüber der Postulierung solcher speziellen subjektiven Rechtfertigungselemente 129 . Wenn beim Festnahmerecht oder bei einer in mehreren Aktionen zu führenden Verteidigung ein subjektives Element in Gestalt einer Zwecksetzung notwendig erscheint, so doch offensichtlich nur deshalb, weil ohne diese Zielsetzung nicht gewährleistet erscheint, daß die durch die Festnahme oder den ersten Verteidigungsakt bewirkte Interessenbeeinträchtigung wirklich durch eine Wertschaffung oder Gütererhaltung kompensiert wird: die Zwecksetzung ist in diesem Sinne nichts weiter als der Garant dafür, daß es zu der Kompensation kommt, ohne die eine Rechtfertigung des Handelns ausscheidet130. Schon das macht deutlich: es geht gar nicht primär um die subjektive Zwecksetzung. Normativ entscheidend ist, daß die Aktion nur gerechtfertigt werden kann, wenn sie zu einer Verwirklichung oder Erhaltung bestimmter Interessen führt - die subjektive Zwecksetzung hat keine eigene dogmatische Bedeutung mit entsprechenden Konsequenzen bei ihrem Fehlen. Sie ist nichts weiter als ein Faktor zur Beurteilung des Gegebenseins jener Voraussetzung, auf die es normativ ankommt, kurz: ein prognostischer Erkenntnisfaktor - ihr Fehlen ist nur von Bedeutung, soweit es zum Ausfall der maßgeblichen normativen Voraussetzung führt. Allein diese etwa nicht erfüllte normative Voraussetzung bestimmt dann auch die weiteren Konsequenzen. Konkret: Ist infolge des Fehlens einer entsprechenden Zwecksetzung anzunehmen, daß die mit der Handlung verbundene Güterbedrohung oder Güterbeeinträchtigung nicht durch eine entsprechende Wertverwirklichung kompensiert wird, so kann von einer Rechtfertigung des Verhaltens natürlich keine Rede sein, es kommt bei Rechtsgutsbeeinträchtigungen zur Vollendungsstrafe 13 '. Der entscheidende normative Grund ist indes-

127 Vgl. insbes. Lampe, G A 1978, 7 ff; Schönke/Schröder/Lenckner, vor §32 Rdn. 16, 98; Wolter (Fn.42), S. 157ff. ,2S Vgl. etwa Loos, Festschrift f. Oehler, S.238f. 125 Ablehnend in jüngster Zeit insbes. Herzberg, JA 1986,199 f; s. auch Jakobs, AT, 11/ 21 und (modifizierend) Prittwitz, G A 1980, 386 ff. I.d. S. ausdrücklich auch Schönke/Schröder/Lenckner, vor §32 Rdn. 16, 98; Loos, Festschrift f. Oehler, S. 237 ff und Stratenwerth, AT, Rdn. 491. 151 Insoweit zutreffend Schönke/Schröder/Lenckner, vor §32 Rdn. 16 und Wolter (Fn.42), S. 135.

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sen nicht das Fehlen einer subjektiven Zwecksetzung132, er liegt vielmehr in der - durch die gegenläufigen Absichten des Handelnden bedingten Nichterfüllung einer geschriebenen oder ungeschriebenen (objektiven) Rechtfertigungsvoraussetzung. Dabei beschränkt sich aber selbst diese Bedeutung der Zwecksetzungen des Agierenden praktisch auf eine ganz bestimmte Phase des Geschehens: nur solange sich das Geschehen objektiv noch nicht eindeutig in die eine oder andere Richtung entwickelt hat, kommt es auf diese Faktoren an. Hat die Handlung des Täters dagegen bereits objektiv Dimensionen angenommen, mit denen sie im Hinblick auf die einander gegenüberstehenden Interessen, die Notwendigkeit der Werterhaltung und das Verhältnis dieser Interessen nicht mehr zu halten ist (z.B. Ausdehnung des Freiheitsentzuges über das zur Uberstellung an die Strafverfolgungsorgane notwendige Maß), so steht bereits damit die Rechtswidrigkeit, der Ausfall der Rechtfertigung fest; auf irgendwelche Subjektivismen muß hier nicht mehr zurückgegriffen werden. Und andererseits: Selbst wenn die Handlung ursprünglich von einer nicht auf Wertverwirklichung (ζ. B. Festnahme zur Strafverfolgung) gerichteten Absicht getragen war - entspricht das Verhalten in objektiver Hinsicht dem, was im Interesse der Werterhaltung als geboten und angemessen zu bezeichnen und in solcher Dimension daher zu rechtfertigen ist, so sind die Absichten des Täters unerheblich: die Handlung ist hier hinsichtlich ihrer objektiven Dimension gerechtfertigt. Nicht ausgeschlossen ist bei dieser Sachlage natürlich die Möglichkeit intentionalen Unrechts: Wenn der Täter selbst nicht die Verwirklichung des rechtfertigenden Wertes angestrebt hat bzw. anstrebt, wird er zumeist1" auch nicht davon ausgehen, daß sein Verhalten ganz bestimmten Werten zugute kommt und für deren Erhaltung notwendig ist - womit er im Angesicht einer Sachlage handelt, bei der er nicht handeln darf und damit intentionales Unrecht verwirklicht134. Dabei ist freilich selbst insoweit noch zu bedenken, daß dem Täter, der zunächst nicht mit der Absicht der Verwirklichung bestimmter Werte (ζ. B. Uberstellung an die Strafverfolgung) gehandelt hat, in gewissen Grenzen die Möglichkeit bleibt, dies nachzuholen: Solange der Täter bei seinem Handeln in den Grenzen geblieben ist, die im Blick auf die Erhaltung des wertvollen Gutes zu rechtfertigen sind, kann er von dem bis dahin begangenen Versuch zurücktreten135.

132 Richtig betont von Herzberg, JA 1986, 199; es handelt sich deshalb auch nicht etwa um eine Ausnahme vom Grundsatz, daß bei Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements nur wegen Versuchs bestraft werden kann. 133 Wegen gewisser Ausnahmen vgl. den folgenden Absatz! 134 Der Zusammenhang zwischen (dem Fehlen der) Überstellungsabsicht und der auf Verwirklichung eines nicht mehr tolerierten Risikos gerichteten Intention ist zutreffend gesehen von Herzberg, JA 1986, 199. 135 Zur Relevanz solcher nachträglichen Entschließungen vgl. auch Herzberg, JA 1986, 198; Loos, Festschrift f. Oehler, S.239.

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Aber selbst im Rahmen jener Phase, innerhalb deren der Absicht des Täters an sich eine gewisse praktische Bedeutung bei der Feststellung des normativ relevanten Kriteriums zukommt, ist diese Bedeutung nochmals relativiert. Die Zwecksetzung des Täters stellt insoweit nur einen von mehreren Beurteilungsfaktoren dar. So ist es z . B . denkbar, daß der Täter selbst ohne die entsprechende Zwecksetzung handelt, aber andere Faktoren bereits ex ante den werterhaltenden Charakter der Handlung gewährleisten (z. B. Mithandeln Dritter, die ersichtlich für den werterhaltenden Charakter des Handelns, also etwa die rechtzeitige Ubergabe an die Polizei, sorgen; unmittelbares Bevorstehen eines polizeilichen Eingreifens usw.136). Bei entsprechendem Wissen des Täters kommt hier noch nicht einmal eine Versuchsstrafbarkeit in Betracht - fehlt es an diesem Wissen, bleibt nicht mehr als die Möglichkeit einer Bestrafung wegen Versuchs. Kurzum, selbst in den neuerdings z . T . als letztes Refugium finaler Elemente im Rahmen der Rechtfertigung angeführten Fällen sog. zweiaktiger Rechtfertigungsgründe bleibt es bei den gefundenen Ergebnissen: Finale Zweckelemente als eigenständige dogmatische Voraussetzungen zur Rechtfertigung bestimmter Verhaltensweisen gibt es ebensowenig wie subjektive Rechtfertigungselemente als eigenständige dogmatische Voraussetzung überhaupt. Das einzige, was sich als eigenständige subjektive Voraussetzung im Zusammenhang mit Rechtfertigungsgründen postulieren läßt, ist - auch hier - die Kenntnis der die Rechtfertigung tragenden Umstände - und das ist nicht eigentlich ein subjektives Rechtfertigungselement, sondern die Kehrseite dessen, was zur Begründung vergeistigten Unrechts in Fällen objektiv gegebener Rechtfertigungslage zu postulieren ist: das Fehlen der Kenntnis der rechtfertigenden Umstände. Das sog. subjektive Rechtfertigungselement ist nichts weiter als die Kehrseite eines negativen subjektiven Unrechtselements, das bereits zur Begründung subjektiven Unrechts erforderlich ist.

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Zu Recht beton: von Jakobs,

AT, 11/21 und Loos, Festschrift f. Oehler, S.237f.

Gedanken zu einem sozialen Schuldbegriff MANFRED MAIWALD

I. Der Begriff der Schuld, ein Zentralbegriff unseres Strafrechtssystems, ist inhaltlich nicht geklärt. Darin sind sich wohl alle Lehrbücher des Strafrechts und alle Kommentare zum Strafgesetzbuch einig1. Auch Lackner weist in seiner Darstellung der strafrechtlichen Schuldlehre wiederholt auf diesen Befund hin: O b Schuld etwa Vorwerfbarkeit bedeute, ob sie einen Gesinnungsunwert kennzeichne, ein rechtsgutsverletzendes geistiges Verhalten darstelle, ob Schuld Willensfreiheit voraussetze - all dies wird als höchst problematisch bezeichnet 2 , so daß das Bild einer durchaus zweifelhaften „Rechtsfigur" entsteht. Zahlreiche Kontroversen ranken sich um diesen Begriff. Andere Autoren sprechen ebenfalls von der Ungeklärtheit dieser Fragen 3 , von der „kaum noch entwirrbaren Vielzahl von Stimmen" 4 , sowie immer wieder davon, daß der Begriff der Schuld zu den ungelösten Problemen gehöre 5 . Dieser Streit ist alt. Soweit es hierbei um die Schuld als Verbrechensmerkmal im Deliktsaufbau geht, begann die Diskussion freilich erst im 19. Jahrhundert, als die Strafrechtslehre von der naturrechtlich begründeten Systemkategorie der Zurechnung über das Lehrgebäude der Hegelschule, die den Begriff der Zurechnung bereits in einem andersartigen Sinne verwandte, zur heutigen Begrifflichkeit von Unrecht und Schuld vorstieß 6 . In diesem Entwicklungsgang innerhalb der Strafrechtsdogmatik spielte insbesondere das intrasystematische Verständnis der Schuld als „normativ" oder „psychologisch" eine Rolle, wobei sich heute ein normativer Schuldbegriff durchgesetzt hat. 1 Vgl. nur Jescheck, Lehrbuch AT, 3. Aufl. 1978, S. 330; Stratenwerth, Strafrecht A T I, 3. Aufl. 1981, S. 1 7 f ; S K - R u d o l p h i , vor § 19 Rdn. 1 ff; Schänke,/Schröder,/Lenckner, StGB 22. Aufl. 1985, Vorbem. §§ 13 ff Rdn. 109. 2 Lackner, S t G B , 16. Aufl. 1985, vor §13, III 4 a; eingehend zur neueren Diskussion Lackner, Kleinknecht-Festschrift, 1985, S. 250 ff. 3 Roxin, Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S.20. 4 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Aufl. 1975, S.263. s Ellscheid/Hassemer, in: Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität (Hg. Lüdersen u. Sack), S. 266.

' Dazu eingehend Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, 1974, S. 19 ff.

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Aber das Sachproblem der Schuld ist schon so alt wie die Menschheit selbst. Als Sachproblem ist etwa die Überlegung zu nennen, ob die mit der Schuld gemeinte persönliche Vorwerfbarkeit ein individuelles Andershandelnkönnen zur Voraussetzung habe, was gleichzeitig tief in den Streit um Determinismus und Indeterminismus hineinführt; ob der personale Bezug der Schuld im Sinne von Tatschuld oder Täterschuld und Charakterschuld besteht; was denn nun eigentlich genau den Gegenstand des Schuldvorwurfs bilde. Hervorzuheben ist, daß ungeachtet der damit verbundenen Kontroversen innerhalb dieser Diskussion doch die Ebene der Betrachtung dieselbe ist: Sofern man sich einmal auf den Gedanken der „Vorwerfbarkeit" eingelassen hat, verläuft die Argumentation - so oder so - in den Bahnen geistigen Verstehens und mit Blick auf die Sphäre des Sollens. Der Mensch wird nicht als bloßes Naturwesen betrachtet. Schon der Begriff eines „Vorwurfs" oder eines „Dafürkönnens" schließt es aus, den Menschen wie ein Tier oder eine Pflanze nur unter dem Blickwinkel kausaler Erklärung ins Auge zu fassen. Unter dem hier interessierenden Aspekt stehen aber auch jene Autoren in der Tradition dieser Überlegungen, die - wie ζ. B. Dannef - sich zum Determinismus bekennen. Sie können natürlich an der Vorstellung eines persönlichen Vorwurfs nicht festhalten, aber sie haben doch mit ihren Gegnern den Blickwinkel gemeinsam, unter dem sie an das Problem herangehen: Sie nehmen den Täter der Straftat selbst zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen und versuchen von den so ermittelten Befunden Schlüsse zu ziehen auf die Frage der Möglichkeit der Schuld. Gegenüber diesem traditionellen Streit um den Schuldbegriff ist aber seit einigen Jahren ein neuer Argumentationsstrang hinzugekommen, in dem zugleich ein systematischer und ein soziologisch-psychologischer Ansatz erkennbar ist. In systematischer Hinsicht bemühen sich diese Ansichten nachzuweisen, daß die Schuld in keiner der traditionell erörterten Spielarten im Strafrechtssystem eine eigene Funktion erfülle. Vielmehr sei die Schuld nur eine andere Bezeichnung für Zweckerwägungen, die mit der Strafe verbunden werden, und zwar vor allem für den Strafzweck der Generalprävention8. Die herkömmliche Trias: Tatbestandsmäßigkeit - Rechtswidrigkeit - Schuld ist nach dieser Auffassung also verfehlt. In Wahrheit müsse an ihre Stelle die Trias: Tatbe-

Danner, Gibt es einen freien Willen?, 4. Aufl. 1977, passim. Davon zu unterscheiden sind jene anderen Ansichten, die - wie Lackner, Kleinknecht-Festschrift, 1985, S. 262 im einzelnen näher belegt - immerhin von einer „wechselseitigen Durchdringung und Begrenzung des Schuldbegriffs und der präventiven Strafzwecke" ausgehen, Schuld und Prävention aber doch grundsätzlich trennen. 1 8

Gedanken zu einem sozialen Schuldbegriff

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standsmäßigkeit - Rechtswidrigkeit - Strafzweckerwägungen treten 9 . Wenn man statt dessen die Schuld als dritte Systemkategorie verwende, so sei dies im Grunde eine Täuschung, die den wahren Sachverhalt verschleiere. Die äußerlich-systematischen Überlegungen sind nun bei einem Teil der Autoren nur die Konsequenzen des erwähnten soziologisch-psychologischen Ansatzes, dem es um eine vollständige Veränderung des Blickwinkels geht. Hatte die herkömmliche Betrachtung den Straftäter zum Gegenstand und fragte sie für diesen nach der Möglichkeit von Schuld, so ist bei ihnen so etwas wie eine kopernikanische Wendung eingetreten. Ihre Fragestellung lautet nun, wie der Einzelne oder die Gesellschaft überhaupt zu der Behauptung gelangen könne, es gebe so etwas wie Schuld, und wie der Einzelne oder die Gesellschaft nach einem geschehenen konkreten Verbrechen die Uberzeugung erhalten könne, der Verbrecher sei der Tat schuldig10. Die Perspektive hat sich also vom Bestraften zum Strafenden verschoben. Nicht die Schuld „an sich" ist Gegenstand der Untersuchung, sondern die psychologische oder soziologische Konstellation derer, die von Schuld sprechen. Wissenschaftstheoretisch gesehen ist das eine ähnliche Änderung des Blickwinkels, wie sie Thomas S.Kubn in seiner Schrift „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" vorführt; dort freilich für den Bereich der Naturwissenschaften: Kuhn führt die in den Naturwissenschaften auftretenden „Paradigmawechsel" bekanntlich auf psychologische und soziologische Strukturen innerhalb der Gruppe der Forscher zurück. Der Wechsel von einer Theorie naturwissenschaftlicher Erklärung zu einer neuen - etwa von Newton zu Einstein - interessiert ihn von

' Vgl. etwa Jakobs, Strafrech: AT, 1983, 17/22: „Der Schuldbegriff ist deshalb funktional zu bilden, d. h. als Begriff, der eine Regelungsleistung nach einer bestimmten Regelungsmaxime (nach den Erfordernissen des Strafzwecks) für eine Gesellschaft bestimmter Verfassung e r b r i n g t . . . " Von einer anderen Grundlage aus argumentiert Roxin, HenkelFestschrift, 1974, S.182: „Es kommt nicht entscheidend auf das Andershandelnkönnen, sondern darauf an, ob der Gesetzgeber den einzelnen für sein Tun unter strafrechtlichen Gesichtspunkten zur Verantwortung ziehen will." (Hervorhebung von mir.) Dazu dann auch Roxin, Bockelmann-Festschrift, 1979, S. 282 ff. 10 Nach Jakobs, a . a . O . , 17/21 geht es bei der Schuld darum „auszuhandeln, wie viele soziale Zwänge dem von der Schuldzuweisung betroffenen Täter aufgebürdet werden können und wie viele störende Eigenheiten des Täters vom Staat und von der Gesellschaft akzeptiert... werden müssen". Von einem tiefenpsychologischen Ansatz aus sieht Streng den Begriff der Schuld als eine „soziale Funktion", die die Strafbedürfnisse der Allgemeinheit zum Ausdruck bringe (ZStW 92, 1980, S. 637 ff). Die Verschiebung des Blickwinkels von der Schuld als Sachproblem zur Psychologie des oder der Strafenden ist prinzipiell auch immer dort angelegt, wo von der „Zuschreibung von Verantwortlichkeit" die Rede ist; dazu etwa Albrecht, GA 1983, S. 193; Haffke, in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts III, 1978, S.156.

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vornherein als Phänomen der Denkweise dieser Forscher. Charakteristisch ist etwa eine Fragestellung wie diese: „Wie werden also Wissenschaftler dazu gebracht, diese Umstellung (sc. 1. auf eine neue Theorie) vorzunehmen 11 ?" Oder auch: „Derjenige, der ein neues Paradigma in einem frühen Stadium annimmt, muß das oft entgegen den durch Problemlösungen gelieferten Beweisen tun. Das heißt, er muß den Glauben haben, daß das neue Paradigma mit den vielen großen Problemen, mit denen es konfrontiert wird, fertig werden kann, wobei er nur weiß, daß das alte Paradigma bei einigen versagt hat. Eine Entscheidung dieser Art kann nur aufgrund eines Glaubens getroffen werden 12 ." Sei diese Aussage Kuhns nun richtig oder falsch - hier ist nur festzuhalten, daß seine Fragestellung nicht mehr das Objekt wissenschaftlichen Forschens betrifft, sondern das Subjekt, nicht mehr die Richtigkeit des Erforschten, sondern die Erklärung des Verhaltens der Forscher. Entsprechend ist auch die erwähnte kopernikanische Wendung in der Diskussion um den Schuldbegriff als Versuch zu sehen, die Haltung des Einzelnen oder der Allgemeinheit in der Schuldfrage zu erklären. Ein solcher Wechsel des Forschungsinteresses von der Sachfrage, ob es Schuld „gibt" und worum es sich bejahendenfalls handelt, zur Frage nach der Psychologie und Soziologie derer, die von Schuld sprechen, ist selbstverständlich legitim. Auch der Forscher selbst ist in seinen sozialen Bezügen und in seiner psychischen Struktur legitimes Forschungsobjekt - was dann natürlich auch von den sozialen Bezügen und der psychischen Struktur derjenigen gilt, die den Forscher zum Gegenstand ihres wissenschaftlichen Interesses machen - , und vor allem die an der Strafrechtspflege Beteiligten müssen wegen der erheblichen sozialen Wirkung ihres Handelns auch in dieser Hinsicht Gegenstand psychologischer und soziologischer Betrachtung sein können. N u r eines muß man sich angesichts eines solchen Wechsels des Forschungsinteresses klarmachen: Man kann auf diese Weise nicht herausfinden, ob die Sachfragen, um die sich die Forscher bemüht haben, richtig gelöst sind. O b es also Schuld „gibt", kann man nicht durch Forschersoziologie und -psychologie ermitteln, auch nicht durch eine entsprechende Analyse der an der Strafrechtspflege Beteiligten. II. Wird durch die erwähnte Hinwendung zur psychologischen und soziologischen „Funktion" des Schuldbegriffs in der Strafrechtspflege einerseits jegliche Metaphysik aus dem Begriff eliminiert und wird " Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 161. Kuhn, a.a.O., S.168.

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andererseits der Forschungsgegenstand gewechselt, so wird damit - wie einige Vertreter dieses Standpunkts betonen - ein Schuldbegriff ermöglicht, der einen „doppelten Realitätsgewinn" mit sich bringe, nämlich einmal einen „Zuwachs an Erkenntnis über reale Wirkungs- und Funktionszusammenhänge" und zum anderen die Chance, die so ihres spekulativen Charakters entkleidete strafrechtliche Schuldlehre „gleichsam auf die Füße zu stellen, d. h. zu einer ,empirisch-rationalen' Schuldlehre weiterzuentwickeln" 13 . Gelegentlich ist in diesem Zusammenhang von einem sozialen Schuldbegriff die Rede. Damit soll verdeutlicht werden, daß die Schuld nur ein Modell sei, in dem eine durchschnittliche Sozialperson zum Maßstab der Motivationsfähigkeit des Täters genommen werde, und daß die Qualitäten dieses Modells durch Konvention festgelegt würden, die ihrerseits möglicherweise durch - wirkliche oder vermeintliche - generalpräventive Notwendigkeiten Zustandekommen' 4 . Im einzelnen gehen diese Auffassungen von verschiedenen Ausgangspunkten aus. „Den" sozialen Schuldbegriff dürfte es wohl nicht geben. Im folgenden wird das Augenmerk insbesondere auf solche Autoren gerichtet, die zusammen mit der Funktionalisierung des Schuldbegriffs die Schuld nicht mehr als Erkenntnisgegenstand in Betracht ziehen, sondern sie von vornherein aus Bedürfnissen - welcher Art auch immer - anderer erklären. Diese Änderung des Blickwinkels, die auf die „dringend erforderliche Entzauberung des ,Allerheiligsten' des Strafrechts, nämlich der Schuld"15 zielt, läßt sich am augenfälligsten an der Sprache zeigen, die einerseits in der herkömmlichen Diskussion um die Schuld, andererseits bei einigen Vertretern des erwähnten sozialen Schuldbegriffs verwendet wird. Rufen wir uns zunächst einige Formulierungen ins Gedächtnis, die der B G H in seiner grundlegenden Äußerung zur Schuldfrage im Jahre 1952 gewählt hat: „Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden.. 13

So Hafße, in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts III, 1978, S. 156 f. Zu diesem Begriff vgl. etwa Witter, Grundriß der gerichtlichen Psychologie und Psychiatrie, 1970, S. 140; Krümpelmann, ZStW 88, 1976, S. 32, 33; den., GA 1983, S. 337ff; Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit, 1984, S.205. 15 Hafße, a . a . O . , S. 156. " B G H 2, 194 (200). 14

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Diese Sätze des B G H sind bekannt und oft zitiert worden. Welch ein Pathos! Vergleichen wir damit einmal eine Äußerung der psychoanalytischen Richtung: „Die Schuld des Täters stellt lediglich das auf ihn projizierte Korrelat der an seine Tat geknüpften zeit- und kulturspezifischen Vergeltungsbedürfnisse der Allgemeinheit dar." Die so angesprochene Vergeltung „bedeutet jedoch keinen metaphysischen oder mechanistischen Selbstzweck, sie ist vielmehr funktional in dem Sinne, daß durch sie der als Folge eines Rechtsbruchs entstehende kollektive Affekt und darüber hinaus auch sonstige, die Gemeinschaft gefährdende Antriebe abreagiert werden können. Bei der Vergeltung mittels Strafe handelt es sich also mitnichten um ,zweckgelöste Majestät', sondern um eine den Gesetzen des Unbewußten folgende Funktionalisierung des Straftäters" 17 . U n d weiter: „Die Schuld des Täters erweist sich so als bloße Spiegelung emotionaler Bedürfnisse der Urteilenden... 1 8 " O d e r : „Die festgestellten kollektiven Bedürfnisse und Ängste determinieren auch den Schuldvorwurf 19 ." Nach diesen letzteren Formulierungen ist strafrechtssystematisch gesehen die Schuld keine Kategorie der „persönlichen Vorwerfbarkeit", und sie ist vor allem nicht eine geistige Sollensverfehlung des Täters selbst, sondern nur ein anderer Ausdruck für den - aus bestimmten Affekten resultierenden - Wunsch der anderen, ihm ein Übel zuzufügen. Würde man diese Sicht der Dinge akzeptieren, so wäre der Text des Strafgesetzbuches einer grundlegenden Änderung zu unterziehen. In §46 StGB, wo es heißt „Die Schuld des Täters ist Grundlage f ü r die Zumessung der Strafe" wäre statt dessen zu lesen: „Die Vergeltungsbedürfnisse (oder: die emotionalen Bedürfnisse) der Allgemeinheit sind Grundlage für die Zumessung der Strafe." Freilich zeigt diese U m f o r mulierung zugleich ein Problem, auf das unten noch näher einzugehen sein wird. Denn der Gehalt des jetzigen §46 StGB ist normativ zu verstehen: Die Schuld soll Grundlage für die Strafzumessung sein; es handelt sich insoweit um eine Anweisung an den Richter, der dem Gesetzesbefehl Folge zu leisten hat. Demgegenüber ist jedenfalls nicht sicher, ob jene Autoren, die oben zu Wort gekommen sind, die Ansicht vertreten, daß die Vergeltungsbedürfnisse der Allgemeinheit Grundlage für die Strafzumessung sein sollen. Vermutlich würden sie einen solchen Sollenssatz ablehnen, da es immerhin problematisch ist, die Gestaltung des Soziallebens von derartigen Triebreaktionen abhängig zu machen. Vielmehr zielen ihre Ansichten wohl eher dahin aufzudecken, daß die 17

Streng, ZStW 92, 1980, S.679. " Streng, a . a . O . , S.656. 19 Haffke, in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts III, 1978, S. 168.

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Ansicht der Richter, unter der Geltung des § 46 StGB einem positivierten Sollenssatz nachzukommen, fromme Selbsttäuschung sei - in Wahrheit seien die Richter selbst Teil eines gesamtgesellschaftlichen Triebpotentials, das seine Vergeltungsbediirfnisse unter dem Schein sittlicher Forderungen durchsetze. Diese Auffassung fordert freilich ihrerseits die Frage heraus, wie der Soll-Zustand der Gesellschaft nach Ansicht dieser Autoren auszusehen hat und wie dieses Sollen dann zu begründen ist, wenn es seinerseits nicht auch wieder nur als verschleierte Triebreaktion derjenigen anzusehen ist, die die Sollensforderung erheben. Darauf wird - wie schon angedeutet - noch zurückzukommen sein. III. Wenden wir uns nach dieser Verdeutlichung der Verschiedenheit der Sprache dem Sachproblem zu. Angesichts der unlösbaren Frage der Willensfreiheit und angesichts der bis zum Überdruß diskutierten weiteren Frage, ob die Schuld im strafrechtlichen Sinne überhaupt das Bestehen der Willensfreiheit voraussetzt 20 , ist der Versuch in der Tat verlokkend, die Fragestellung überhaupt über Bord zu werfen und eine „kopernikanische Wendung" zu unternehmen: das Phänomen der Schuld nicht mehr im Täter selbst zu suchen, sondern in den „Bedürfnissen" der anderen, die die Strafe aussprechen. Im Hinblick auf die praktische Rechtsanwendung wird diese Tendenz dadurch begünstigt, daß der Richter die Schuld nicht mit mathematischer Gewißheit ermitteln kann, w o f ü r die „Spielraumtheorie" des B G H bekanntlich ein Ausdruck ist21. Es kommt hinzu, daß in den Urteilen der Tatrichter kaum jemals die Strafzumessungserwägungen erkennen lassen, welche Gesichtspunkte nun eigentlich die H ö h e der Schuld bezeichnen, und welche die general- und spezialpräventiven Zweckerwägungen tragen. Darauf hat insbesondere Lackner hingewiesen 22 . All dies kann in der Tat zu der Annahme verführen, daß dann eben alles, was der Richter in diesem Strafzumessungsvorgang tut, nur eine Konkretisierung präventiver oder Triebbedürfnisse sei23.

20 Vgl. dazu etwa Lenckner, in: Handbuch der forensischen Psychiatrie I (Hg. Göppinger u. Witter), 1972, S. 93 ff. 21 BGH 3, 179; 7, 28; 20, 264, 266; dazu Lackner, Über neue Entwicklungen in der Strafzumessungslehre und ihre Bedeutung für die richterliche Praxis, 1978, S. 12 ff. 22 Lackner, a.a.O., S. 14. 2) Es ist daher kein Zufall, daß gerade von der Strafzumessungslehre her die Verbindungslinie zu einem sozialen Schuldbegriff in Form des „Strafbedürfnisses" gezogen wird, vgl. etwa Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit, 1984, S. 24, und vom Boden einer systemtheoretischen Argumentation aus Jakobs, Strafrecht AT, 1983, 17/30.

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Dabei ist freilich zu beachten, daß auch nach dem herkömmlichen Verständnis die schuldangemessene Strafe als präventiv wirkender Faktor eingesetzt wird, weil auch die an der Schuld ausgerichtete Strafe in gewissem Umfang insbesondere für die Generalprävention nutzbar gemacht werden kann. Auf diese Möglichkeit einer „relativierten" Vergeltung kann hier nicht näher eingegangen werden24. Nur so viel sei hier festgehalten: Sieht der Richter die schuldangemessene Strafe bereits als diejenige Einwirkung auf den Täter an, die durch zusätzliche präventive Notwendigkeiten nicht mehr „korrigiert" zu werden braucht, so fällt Schuld und Prävention - ausgedrückt in der Strafgröße - zusammen. Insbesondere in einer solchen Konstellation würde sich folglich in aller Schärfe die Frage stellen, ob die Strafgröße aus einem „Gegenstand" nämlich der Schuld - resultiert, dem der Richter die proportionale Strafe entgegensetzt, oder ob der Richter einfach „Bedürfnisse" realisiert, die in Wahrheit einen solchen Gegenstand nicht haben. Fragt man einmal nach solchen Strafbedürfnissen, so wird man zunächst die Ebene der Gesetzgebung und die Ebene des konkreten Strafausspruchs voneinander unterscheiden müssen. Die psychoanalytische Spielart des sozialen Schuldbegriffs impliziert, daß auf beiden Ebenen das Unbewußte im Strafrecht entscheidend sei. Drei unbewußte affektive Quellen führen nach dieser Ansicht zum Strafbedürfnis: Einmal geht es um die Projektion tabuierter Impulse auf den (potentiellen) Straftäter gemäß der bekannten Sündenbocktheorie, weiter wirkt die Strafe als Aggressionsabfuhr im Sinne der Kanalisation von Rache, und schließlich ist sie Ausdruck von Gefühlen der Angst und Bedrohung, die durch gewisse Straftaten hervorgerufen werden25. Inwieweit es vorstellbar ist, daß diese drei affektiven Quellen schon auf der Ebene der Gesetzgebung wirksam werden, ist immerhin problematisch. Es liegt jedoch nahe anzuerkennen, daß manche Strafgesetze, die aus Anlaß konkreter Verbrechen geschaffen werden, Angst- und Bedrohungsgefühlen in der Bevölkerung entgegenwirken sollen. Beispiele hierfür sind Strafbestimmungen wie der Autostraßenraub (§316a) 26 , die Luftpiraterie (§316c) 27 oder Gesetze zur Terrorismusbekämpfung 28 . Aber es erscheint doch fraglich, ob solche Strafbestimmun-

Vgl. dazu Maiwald, GA 1983, S. 53 f. Im einzelnen im Anschluß an Alexander und Staub dargestellt bei Streng, ZStW 92, 1980, S. 642 ff. 26 Im Jahre 1938 in das StGB eingeführt mit rückwirkender Androhung der Todesstrafe; dazu Grünwald, ZStW 76, 1964, S. 17. 27 In der jetzigen Form eingeführt 1971 „unter dem Eindruck konkreter Vorfälle" (Kunath, JZ 1972, 199). 28 Etwa § 129 a StGB aus dem Jahr 1976. 24

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gen gerade von Seiten der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen aus unbewußter Angst geschaffen wurden, oder ob die Gesetzgebungsorgane nicht ihrerseits durchaus rational solche Gesetze schaffen, um irrationalen Angstgefühlen der Bevölkerung zu begegnen, so daß auf der Ebene des Gesetzgebers keineswegs eine unbewußte affektive Quelle für das Gesetz festzustellen ist. Zudem fragt sich, ob die Angstgefühle in der Bevölkerung, denen die Gesetze begegnen sollen, wirklich durchweg unbewußt sind. Bedrohungsgefühle können auch bewußt erlebt werden, wenn auch gewiß diese Gefühle nicht immer eine berechtigte Grundlage haben2'. Es fragt sich weiterhin, ob auf der Ebene der Gesetzgebung davon gesprochen werden kann, die geschaffenen Strafbestimmungen seien die Projektion tabuierter Impulse („Sündenbocktheorie"), oder sie dienten der Aggressionsabfuhr. Was hierbei nicht einleuchtet, das ist die damit verbundene Verallgemeinerung. Was die Sündenbocktheorie betrifft, so müßten - nimmt man sie beim Wort - beispielsweise diejenigen Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die eine Bestrafung der Umweltverschmutzung, der Wirtschaftskriminalität, des erpresserischen Menschenraubs und der Geiselnahme fordern und durchsetzen, im Grunde ihres Herzens selbst solche Delikte zu begehen wünschen, wenn ihnen auch diese ihre Wünsche nicht bewußt sind50. Daß die Gesetzgebung gänzlich von affektiven Strömungen der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten getragen, daß alle Argumente und alle Diskussionen nur vorgetäuschte Rationalität seien, ist bisher jedenfalls noch nicht plausibel begründet worden. Als durchgängiges Erklärungsschema ist die unbewußte Aggressionsabfuhr für das Gesetzgebungsverfahren deshalb nicht einleuchtend, weil diese Tätigkeit dem späteren Bestrafungsvorgang so weit vorgelagert ist, daß hier - am „grünen Tisch" - emotionale Beteiligung in der Regel wenig wahrscheinlich ist. Ausnahmen sind denkbar. So steht als Beispiel für eine emotionale Beteiligung im Gesetzgebungsverfahren die Debatte um die Todesstrafe im Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund in den Sitzungen des Reichstags lebhaft vor Augen31 ; emotionale Beteiligung war bei den Beratungen um die Reform der Bestrafung des Schwangerschaftsabbruchs nicht zu verkennen; und die kürzliche Änderung des Demonstrationsstrafrechts (Stichwort: Vermummungsverbot) war ebenfalls von Emotionen begleitet. Als allgemeines Erklärungsmodell für parlamentarische Tätigkeit in der Strafgesetz-

Dazu Arzt, Der Ruf nach Recht und Ordnung, 1976, S. 137ff. Zur Sündenbocktheorie und ihrem Anspruch auf Verallgemeinerung vgl. Maiwald, in: Rechtswissenschaft und Rechtsentwicklung (Hg. Jmmenga), 1980, S. 300ff. 31 Sten. Berichte der Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, I.Legislaturperiode, Session 1870 Bd. I, 1870, S. 95-117. 29 30

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gebung ist indessen eine (unbewußte) affektive Beteiligung nicht überzeugend. Ein anderes Gesicht erhält die These jedoch, zieht man den Rechtsprechungsakt in Betracht. Daß hier, wo im Prozeßgeschehen vielleicht die Angehörigen eines Ermordeten, das Opfer einer Verwaltigung, die in einem riesenhaften Konkursschwindel „Hereingelegten" anwesend sind, die Emotionen eine große Rolle spielen können, ist eine Binsenweisheit. Zu beachten ist auch, daß die Laienbeteiligung an der Strafrechtspflege den Richterspruch emotional beeinflussen kann, da bei Laien weniger als bei Berufsrichtern eine innere Distanz zur Straftat und zum Prozeß erwartet werden kann32. Nur ist mit alledem noch nicht gesagt, daß die Richtersprüche stets derart emotional determiniert sind. Für die große Masse der Strafsachen, für die eine persönliche innere Anteilnahme des (Berufs-)Richters wohl kaum gegeben ist, dürfte dies jedenfalls unwahrscheinlich sein. Und es bleibt natürlich auch die Frage, ob die Emotionalisierung, wenn sie stattfindet, auch wirklich auf das Urteil „durchschlägt", oder ob es nicht doch gelingt, der Rationalität Eingang zu verschaffen. Hier liegen noch zahlreiche Unsicherheiten, die der Aufhellung bedürfen. Gesichertes Wissen über die psychischen Vorgänge, die in der Hauptverhandlung des Strafprozesses bestimmend sind, ist kaum vorhanden. U m so erstaunlicher ist die Selbstgewißheit einiger Stellungnahmen, die die Schuld unter psychoanalytischen Gesichtspunkten betrachten und kritisieren: Allein auf zeit- und kulturspezifischen Mechanismen beruhen die Schuldstrafen; lediglich das auf den Täter projizierte Korrelat der zeit- und kulturspezifischen Vergeltungsbedürfnisse der Allgemeinheit stellt die Schuld dar; bloße Spiegelung emotionaler Bedürfnisse des Urteilenden ist die Schuld" usw. Und die rechtliche Regelung, die vor allem in Form von Strafgesetzen - Verbote ausspricht, wird als eine Anzahl „zentraler Glaubenssätze der Gesellschaft" bezeichnet 34 , also wohl als Ansammlung von Sätzen, die rationaler Begründung nicht fähig sind, gewissermaßen als nicht mehr zu hinterfragendes Tabu. Auch dies eine bemerkenswerte Verallgemeinerung. Denn daß beispielsweise das Verbot der Vergewaltigung, der Bestechung oder des Betruges nicht auch rationaler Begründung sollte zugeführt werden können, erscheint nicht sonderlich überzeugend. Dazu Kem/Wolff, Gerichtsverfassungsrecht, 5. Aufl. 1975, S.153. Streng, ZStW 92, 1980, S.676, 679, 656. Demgegenüber richtet etwa Behrendt, Die Unterlassung im Strafrecht, 1979, S.84f, 107 ff, der ebenfalls von einem psychoanalytischen Ansatz ausgeht, den Blick auf die im Straftäter wirkende Steuerung, um das Phänomen der Schuld zu erfassen; er gesteht also dem Begriff der Schuld ein Substrat im Täter selbst zu. 34 H a f f k e , in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts III, 1978, S. 167. 32 33

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IV. Die entscheidenden Punkte, die eine solche mit Absolutheitsanspruch auftretende Auffassung unannehmbar machen, sind aber ihr deterministischer Ansatz und die mit diesem einhergehende kopernikanische Wendung hin zur strafenden Gesellschaft als dem „eigentlichen" Bestimmungsprinzip der Schuld. In ihrer Ängstlichkeit, Metaphysik um jeden Preis zu vermeiden, schneidet sich diese Auffassung, immer vorausgesetzt, sie tritt mit jenem Ausschließlichkeitsanspruch auf, selbst die Möglichkeit ab, mit dem Anspruch auf Wahrheit aufzutreten 35 . Würde man der Ansicht folgen, der Mensch - sei es der Straftäter oder der urteilende Richter - sei in seinen Handlungen nur das Produkt von Mechanismen, so ist seine Willensfreiheit ausgeschlossen, aber es ist damit zugleich sicher, daß die die Handlungen bestimmenden Impulse und Denkakte blind sind. Sie sind mit kausaler Notwendigkeit durch vorangehende Bedingungen veranlaßt, so und nicht anders abzulaufen. Solche Impulse und Denkakte können folgerichtig im Hinblick auf ihren Inhalt nicht mit dem Maßstab von richtig und falsch, wahr und unwahr gemessen werden, ebensowenig wie sonstige kausal determinierte Naturereignisse in diesen Kategorien beurteilt werden können 36 . Wer behauptet, alle Denkakte seien Mechanismen, behauptet dies auch von diesem in ihm ablaufenden Denkakt, und er kann es folglich nicht mit dem Anspruch auf Wahrheit tun. Umgekehrt erklärt derjenige, der mit dem Anspruch auf Wahrheit über Denkakte anderer urteilt, daß Erkenntnis möglich ist - und er gibt damit zugleich zu, daß Denkakte nicht schlechthin Mechanismen sind, und daß Freiheit des Willens möglich ist. Auf diesen Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Willensfreiheit hat in der juristischen Literatur vor allem Welzel hingewiesen: „Da . . . die Möglichkeit von Erkenntnis nicht prinzipiell bestritten werden kann - denn das Bestreiten selbst würde eine Erkenntnis voraussetzen - , so können auch die Bedingungen, unter denen Erkenntnis allein möglich ist, sinnvoll nicht bestritten werden: Hierin liegt die bleibende Bedeutung des Erkenntnisarguments für das Problem der Willensfreiheit 37 ." 35 Immerhin erklärt G. Wagner, Das absurde System, 1984, der S. 4 ff die Strafzumessung als empirischen Vorgang im Sinne einer „Projektion des Strafwunsches" deutet, daß es das Phänomen der Schuld doch gebe „als eine dem Menschen charakterisierende Erscheinung, wenn man so will eine anthropologische Radikale" (S. 47). 36 Zur Interpretation der Sprache der Moral, die z.B. die oben erwähnten Begriffe richtig und falsch verwendet, vgl. Burkbardt, GA 1976, S. 326 ff; zum Verhältnis zwischen naturalistischer und moralischer Betrachtungsweise in der Beurteilung menschlicher Handlungen Hruschka, Strukturen der Zurechnung, 1976, S. 14 ff, vor allem S. 38 f. 37 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 5. Aufl. 1956, S. 120. In neuerer Zeit vgl. insbes. Schild, Der Strafrichter in der Hauptverhandlung, S. 21 ff, insbes. S. 29: „Nur wenn

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Kehren wir hier einen Augenblick zu der Ansicht zurück, die die Schuld als bloße Spiegelung emotionaler Bedürfnisse oder als Ausdruck für Vergeltungsmechanismen in der Bevölkerung bezeichnet: Für eine solche Ansicht könnte beispielsweise die Forderung, nationalsozialistische Gewaltverbrechen zu bestrafen, nicht als eine berechtigte Forderung verstanden werden, denn die Einordnung als „berechtigt" für einen bloßen Mechanismus kann selbstverständlich nicht in Frage kommen. Die Einordnung transzendiert als Sollensurteil das rein empirische Datum, daß diese Forderung geäußert worden ist. Dasselbe gilt für die Forderung, Umweltsünder, Betrüger, Steuerhinterzieher zu bestrafen. Kriminalpolitik kann dann nicht mehr mit dem Anliegen betrieben werden, eine „richtige" Lösung zu gewinnen: Eine jede denkbare Lösung wäre ja nur die Resultante aus einem Mechanismus, die aufgrund bestimmter Antecedens-Daten so zustandegekommen ist, wie sie eben nun einmal ist; keine könnte man als richtig oder falsch bezeichnen 38 . Wie wenig ein solcher Mechanismus-Ansatz selbst von solchen Autoren durchgehalten werden kann, die ihn in ihrer Person vertreten, ist an deren eigenen Äußerungen zu erkennen. Denn selbstverständlich gehen sie davon aus, daß ihre eigenen Aussagen nicht nur das Ergebnis von Mechanismen sind, und sie selbst treten mit dem Anspruch auf, richtig und falsch, gut und böse erkennen zu können. Allerdings wird dieser Anspruch gelegentlich nur in chiffrierter Form zum Ausdruck gebracht. So etwa, wenn davon gesprochen wird, erstrebenswert sei ein „gesellschaftlich reifer Umgang mit abweichendem Verhalten" 39 oder eine Anwendung der Strafe nach Maßgabe „gesellschaftlicher Aufgeklärtheit"40. Mit den Vokabeln „reif" und „aufgeklärt" ist zwar äußerlich eine Bezugnahme auf moralische Kategorien wie gut und böse vermieden. Doch drängt sich die Annahme auf, daß mit diesen Vokabeln eben doch nichts anderes als ein „besserer" gesellschaftlicher Zustand gemeint ist, der nicht nur aufgrund eines Mechanismus so bezeichnet wird, sondern jedenfalls prinzipiell an einem Sollensmaßstab als solcher erkannt werden kann. Deutlich wird dies dort, wo auch terminologisch in die Sprache der Moral hinübergewechselt wird. Es wird dann z.B. von Humanität und Humanisierung gesprochen, von Hinterfragung der Strafbedürfnisse 41 , Freiheit und Rationalität wirklich sind, kann auch die auf ihnen beruhende Theorie wirklich (ihre Sätze wahr) sein. Auf diese Voraussetzung zu verzichten, bedeutet den Ast abzusägen, auf dem man notwendig sitzt." " Zur Vorstellung einer solchen „deterministischen Kriminalpolitik" und zu ihrer Unhaltbarkeit Bockelmann, ZStW 75, 1963, S. 386 ff. 39 H a f ß e , in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts III, 1978, S. 179. 40 Streng, ZStW 92, 1980, 679. 41 Streng, a.a.O., S.661, 679; H a f ß e , a.a.O., S. 164.

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und solche Formulierungen setzen ganz explizit voraus, daß es dahinterstehende Werte gibt, die empirisch nicht zu ermitteln sind, daß es ein Reich des Sollens gibt, dessen Normen man erkennen kann. Ob das staatliche Strafensystem „human" genannt werden kann oder nicht, daß man durch „Hinterfragen" über die Mechanismen der Strafbedürfnisse hinausgelangen kann - all das sind ja Überlegungen, die die Möglichkeit voraussetzen, zu Erkenntnissen zu gelangen, d.h. zu Einsichten, die nicht durch die Konstitution des „Hinterfragenden" determiniert, sondern auch aus dem Gegenstand der Erkenntnis bestimmt sind. Das heißt aber nichts anderes, als daß Metaphysik die Argumente derer bestimmt, die die Argumente der anderen als bloße Mechanismen bezeichnen. Nicht zu Unrecht spricht Naucke im Hinblick auf solche Argumente von einer „modernisierten Rückkehr zum naturrechtlichen Denken im Strafrecht", das seinerseits mit Absolutheitsanspruch auftrete42. Das ist so lange unbefriedigend, als nicht zugleich ein Kriterium angegeben wird, mit dessen Hilfe solche Argumente, die bloße Mechanismen darstellen, unterschieden werden können von jenen anderen, die durch Sacheinsichten bestimmt sind. Will man diese Frage klären, so verlagert sich aber die Diskussion in die grundsätzliche Fragestellung der praktischen Philosophie nach der Möglichkeit der Gewinnung von Erkenntnissen in ethischen Problemen, dahin also, wie überhaupt synthetische Urteile a priori möglich sind. Läßt man sich auf diese Fragestellung ein, so ist es allerdings wenig hilfreich, dem jeweils anderen vorzuwerfen, seine Argumente seien Ausdruck bloßer Mechanismen, die eigenen Argumente aber seien durch Sacheinsichten gewonnen. V. Die erwähnte kopernikanische Wendung, die den Schuldbegriff nur als verschleiernde Bezeichnung für die Strafbedürfnisse der Allgemeinheit ansieht, ist freilich auch für sich genommen in ihren Sachaussagen nicht befriedigend. Es wird so die „Strafmentalität", ein psychisches Faktum, mit dem Schuldbegriff gleichgesetzt und der Anspruch erhoben, auf diese Weise den „Realitätsgehalt" des Schuldbegriffs zu erfassen". Das Problem, das diese Sichtweise mit sich bringt, liegt darin, daß die „Realität" des Schuldbegriffs so in einem Reflex auf etwas gesehen wird, was seinerseits aber entweder als „eigentlich" gar nicht vorhanden betrachtet oder doch nicht näher untersucht wird. Das gilt zunächst für die systemtheoretische Variante des sozialen Schuldbegriffs. Sie geht 42 43

Naucke, Tendenzen in der Strafrechtsentwicklung, 1975, S.38 Fn. 53. Streng, a . a . O . , S.642.

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davon aus, daß das Strafbedürfnis durch die Enttäuschung normativer Erwartung begründet werde, und daß die Strafe durch ihre generalpräventive Wirkung die erwünschte Verhaltensstabilisierung schaffe. Rechtswidriges Verhalten Unzurechnungsfähiger werde aber als ein Störfaktor der Art empfunden, wie ihn etwa eine Naturkatastrophe darstelle; denn die Unzurechnungsfähigen „sind nicht das, was man im rechtswidrigen Verhalten selbst ist" 44 . Solches Abstellen auf „Erwartungen" klammert den Sachgrund aus, der überhaupt erst zur Erwartung führt. Der Sachgrund wird nur angedeutet mit der soeben hervorgehobenen Formulierung, Unzurechnungsfähige brauchten nicht bestraft zu werden, da sie nicht das seien, was man im rechtswidrigen Verhalten selbst ist: Hierin könnte der Hinweis auf die Subjektqualität liegen, die wir uns wechselseitig zuschreiben müssen, um uns als Teilhaber am geistigen Sein überhaupt ernst nehmen zu können45. Der Defekt, der den Geisteskranken kennzeichnet, schafft gegenüber dem geistig Gesunden eine Differenz: Während dessen Subjektqualität das Handeln gerade von einem „Mechanismus" unterscheidet, weil der Handelnde selbst es ist, dem die Handlung „angehört" 46 , sehen wir den Geisteskranken als Getriebenen, als Objekt persönlichkeitsfremder Antriebe. So wichtig es ist, daß der systemtheoretische Ansatz bewußt macht, daß gesellschaftliche Realität auch durch Erwartungen bestimmt wird, so darf doch nicht aus den Augen verloren werden, daß solche Erwartungen nicht aus dem Nichts erwachsen, sondern ihrerseits der Reflex von Wirklichkeit sind. Und um diese Wirklichkeit geht es bei der Frage nach der Schuld. Was die psychoanalytische Variante des sozialen Schuldbegriffs betrifft, so wird nach ihr ein psychisch abnormer Straftäter nicht deswegen von Strafe verschont, weil er keine Schuld hat, sondern weil er infolge der ausbleibenden kriminellen Ansteckungsgefahr kein Strafbedürfnis auslöst47. Auch hier soll der entscheidende Grund für die Nichtbestrafung also in einem Reflex von etwas liegen, das seinerseits nicht näher untersucht wird. Die entscheidende Frage bleibt so auch hier unbeantwortet, und sie wird noch nicht einmal gestellt. Ist diese Straf-

44 Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, passim, das Zitat auf S. 17 f; den. - mit gewissen Modifikationen-, Strafrecht AT, 1983, 1/15, 17/18ff. 45 Dazu Hruschka, Strukturen der Zurechnung, 1976, S. 36ff, insbes. S. 39; Schild, Der Strafrichter in der Hauptverhandlung, 1983, S. 21 ff (S.22: „Wir müssen deshalb die mögliche Anwendung der Theorien über die Jugend auf uns ablehnen, weil wir die Konsequenzen der Unmündigkeit für uns nicht wollen.") 46 Angehören gemeint als „Hinzufügen einer eigenen Determinante besonderer A r t . . . die nicht aus dem Kausalgefüge der Welt stammt" (so Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Aufl. 1976, S. 280 f), vielmehr in der Person des Handelnden ihren letzten Grund hat; dazu auch Ernst A. Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965, S. 62 ff. 47 Streng, ZStW 92, 1980, S.660.

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mentalität der Allgemeinheit eigentlich richtig oder ist sie falsch? Welchen Grund hat das Ausbleiben der kriminellen Ansteckungsgefahr? Man mag diese Frage als naiv bezeichnen, da zur Zeit offenbar niemand •so weise ist, daß er sie mit Sicherheit beantworten könnte. Aber hier geht es nur darum, deutlich zu machen, daß der Gegenstand, auf den sich die Strafmentalität bezieht, und der es allererst erlaubt, diese Mentalität als ihrem Objekt korrespondierend oder eben nicht korrespondierend einzustufen, bei dieser Betrachtung nicht in den Blick kommt. Es gibt noch weitere Gründe, die es wenig plausibel erscheinen lassen, den Begriff der Schuld nur in der Strafmentalität der Allgemeinheit enthalten zu sehen. Da ist einmal das Phänomen der Schuld auch in jenen Bereichen, in denen ein Bedürfnis nach Strafe nicht besteht. Der fragmentarische Charakter des Strafrechts beruht gerade auf der Erkenntnis, daß Strafbedürfnis und Schuld sich nicht decken müssen48. Wer lügt, mag Schuld auf sich laden, bestraft wird er nur ausnahmsweise, etwa wenn die weiteren Voraussetzungen eines Betruges vorliegen. Umgekehrt ist keineswegs sicher, daß präventive Wirksamkeit nicht entfaltet werden könnte, wenn man jene „bestraft", die als schuldlos handelnd bezeichnet werden. Hierauf hat insbesondere Burkhardt hingewiesen49. Spezialpräventiv gesehen kann eine Ubelszufügung als „Denkzettel" wirken, der auch das spätere Verhalten eines Geisteskranken oder eines Kindes beeinflussen mag, und generalpräventiv gesehen sind ebenfalls verhaltensstabilisierende Wirkungen auf andere denkbar 50 . Strafe und Präventionsbedürfnis sind also wohl nicht dasselbe. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, daß die Identifikation von Schuld mit den Mechanismen eines Strafbedürfnisses auch Auswirkungen haben müßte auf jenen anderen Bereich des Soziallebens, in dem es um die Anerkennung positiver Leistungen geht. Wir pflegen es einem Künstler, Wissenschaftler oder Politiker als sein Verdienst anzurechnen, wenn er eine hervorragende Leistung vollbracht hat, so wie wir ganz allgemein eine „gute Tat" als Verdienst dessen ansehen, der sie in seiner Person verwirklicht hat. Die Leugnung der Schuld als des Substrats für einen Vorwurf würde es nun nahelegen, ebenso das Verdienst als ein Substrat für ein Lob abzulehnen, dann nämlich, wenn man erklärt, das angebliche Verdienst des Handelnden bestehe in Wahrheit nur in Mechanismen, die aus der Triebstruktur der Beurteiler resultieren. Auch 48 Dazu ausführlicher Maiwald, Maurach-Festschrift, 1972, S. 9 ff. " Burkhardt, GA 1976, S. 336 f. 50 Zu diesem Zusammenhang zwischen Generalprävention und Schuldbegriff Maiwald, GA 1983, S. 62.

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das würde aber auf eine Verneinung der Subjektqualität der am Sozialleben Beteiligten hinauslaufen und implizit die Möglichkeit von Erkenntnis negieren. Ist demgemäß die Subjektstellung der Mitmenschen eine Grundannahme des menschlichen Lebens überhaupt, von der der Sache nach auch diejenigen ausgehen, die von „Schuld" nicht sprechen möchten, so kann die letztere nicht bloß als „Zuschreibung" oder „Strafbedürfnis" in den Köpfen der anderen erfaßt werden. VI. Dennoch sind derartige Konzeptionen nicht ohne Wert. Sie machen bewußt, daß die Notwendigkeit der Feststellung von Schuld plötzlich das metaphysische Phänomen in die „irdische" Sphäre transponiert, und daß im Strafprozeß unversehens verlangt wird, etwas zu beweisen, was empirisch nicht erfaßbar ist, nämlich dann, wenn es um die konkrete Schuld des konkreten Angeklagten geht. Hier gilt es, den Angeklagten hinsichtlich des „persönlichen Dafürkönnens" am Maßstab seiner selbst zu messen. Der Vorgang des Messens kann aber offenbar nur so vonstatten gehen, daß man versucht, diejenigen äußeren Bestimmungsgründe für die Tat aufzuhellen, die erfahrungsgemäß Motive für oder gegen die Tat schaffen - und da die Erfahrung andere Menschen als den Täter selbst betrifft, kann man dem Täter selbst nur gerecht werden, insofern er einem solchen „Erfahrungsmenschen" entspricht. Schuld/