Gesammelte Schriften und Briefe. Band 2 Die Heimkehr: Das Jahr 1820 [(Fotomech. Nachdr. 2. Aufl.). Reprint 2019] 9783110843378, 9783110026863


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German Pages 339 [344] Year 1970

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Table of contents :
Vorwort des Herausgebers
Einführung in den 2. Band
Erstdruck von Roths Schrift „Der Sprachunterricht"
Erstdruck von Roths Doktorarbeit „Das Wesen de» Staates als eine Erziehungsanstalt für die Besinnung des Menschen"
Inhaltsverzeichnis des 2. Bandes
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Gesammelte Schriften und Briefe. Band 2 Die Heimkehr: Das Jahr 1820 [(Fotomech. Nachdr. 2. Aufl.). Reprint 2019]
 9783110843378, 9783110026863

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Stephan

Ludwig

Roth

StephanLudwigRoth Gesammelte Schriften und Briefe

Aus dem Nachlaß herausgegeben von

Otto Folberth

1970

Verlag Walter de Gruyter ^)wurfe gemacht: sie nehme auf das bereits Vorhandene nicht gehörige Rücksicht und lebe daher befangen in einer rohen, und doch alles absprechenden, Unwissenheit. Soviel ist wahr, oft ist mit Härte abgesprochen, oft mit Stolz zu­ rückgewiesen worden, was nicht mit solcher Härte abgesprochen, mit solchem Stolze hätte zurückgewiesen werden sollen. Aber, im Ge­ fühl eine Sache der Menschheit zu verfechten, im Bewußtsein, es aufs redlichste mit der Sache zu meinen, und im Glauben, daß die Ge­ genpartei bloß darum so lieblos das Gegenteil behaupte, um recht zu behalten — dies alles zusammengenommen machte die Sprache dieser Schule derb und in einzelnen Fällen selbst ungerecht. 3 m Hintergründe ihres Räsonnements lag wohl das B e w u ß t se i n ihrer Gründe von der Sache, welches aber durch Begeisterung ge­ stählt/wenn gleich in der Schwäche einer noch nicht klaren Anschauung, auf den Kampfplatz heraustrat. Durch diese mutige Verfechtung ihrer Ansichten ist unendlich viel gewonnen, unendlich viel verloren worden. Diese entschiedene Sprache hatte die wohltätigen Folgen i) Abgedruckt aus Th. d. Spr. In Gr. u. A. lautet der Titel: Verhältnis der alten Sprachen zur Menschenbildung und das Datum: Dverdon, den 13. Nov. 1819. In Gr. der Titel Von den Humanioribus, ohne Datum. Die statte zösische Uebersetzung Du rapport des langues ancienncs ä l'education stammt von Wägeli. Von den beiden englischen Uebersetzungen des Kapitels Of the relation of the ancient languages to education hat die erste ein Unbekannter, die zweite zum Teil M!ie Shepherd, zum Teil Greaves besorgt.

eines schärferen und gründlicheren Nachdenkens über die Sache, wodurch auch im Publikum die Entschiedeneren zur Entscheidung gebracht wurden. Der größte Teil erschien nun mit einem bestimm­ ten Urteile; entweder kalt oder warm: lau blieb beinahe niemand. Weil aber diese Stimmung nicht gehörig vorbereitet und die Sache nicht zur gehörigen Reifung gelangt war und diese Art von abgedrungener Sprache auf Entscheidung drang, so mußten sich beinahe ebenso viele dawider als dafür entscheiden. Pestalojji und seine Anstalt hat sich noch nie im Zusammen­ hange und in der notwendigen Ausbreitung über die alten Spra­ chen und deren Stellung zum gesamten Unterrichts- und Erzie­ hungsfach besonders vernehmen lassen. Soviel geht aber selbst aus einer geringen Kenntnis der Methode hervor, daß sie, welche ge­ rade das Ursprüngliche und Ewige anerkennt, aufsucht und beför­ dert, — das Ursprüngliche und Ewige, d a s in den Alten ruht, nicht nur nicht gleichgültig auf der Seite lassen könne, sondern daß sie ihnen eine einflußreiche Stellung auf die Menschenbildung im ganzen einräumen werde. Wir sehen: ganze Völker und Geschlechter gehen zugrunde, weil sie bloß vom Ererbten prassen wollen, statt zu erwerben; ihre Selbst­ tätigkeit aufgeben, statt sie immer zu erneuern. Wohl wird eine Ver­ gleichung unserer Zeit mit der der Vergangenheit in mancher Rück­ sicht, nach der Behauptung der Humanisten, für uns eine Demüti­ gung sein; aber daran, daß wir zurückgeblieben hinter der größer» Vorwelt, daran ist nicht die Zeit, daran sind wir schuld. Warum bauet man denn die gesamte Bildung auf das Studium der alten Klassiker und führt der Sprachanlage allein Nahrung und Bildung zu? Warum erkennt man die Vorwelt und ihre Weisheit für die e i n j i g wahre Quelle der Humanität und die anderen nur insoweit zulässig, als sie diesen dienen können? Weil sie, nach ihrer Ueberzeugung, als ewige Muster der Humani­ tät, als Zeugnisse dessen, was in der Menschheit ist, was sie kann und was sie soll, für alle Zeiten und Völker gelten; weil sie durch eine Vergleichung der alten Zeit mit der neuen — hingezogen werden

zu der Größe des Altertums und unangesprochen bleiben von der kleinen Gestalt der neuern Zeit. — Es ist wahr, wir dürfen uns nicht messen, wenn wir Individuum an Individuum stellen; wir müssen bekennen: die Alten waren in der Humanität weiter als wir jetzt sind und ihre Werke bleiben ewige Zeugen wahrhafter Größe. Aber machen wir es hier nicht wie schwächliche Nachkommen aus einer kräftigen Familie, — die nicht so sehr ineigener Größe als vielmehr in der Größe ihrer Vorfahren ihren Ruhm suchen — daß wir in der A n e r k e n n u n g des großen Altertums mit einem gewissen Stolze die Erhabenheit unseres Geschlechts und unserer Abkunft suchen. Auf ihre Größe sollen wir zwar schauen, auf ihre Humanität sol­ len wir blicken — aber erwärmen soll uns zugleich ihr Anblick zu eigener Größe und zu e i g e n e r Humanität. Ihr Geist und ihre Gedanken beruhten nicht auf ihrer Zeit, auf ihren Verhältnissen allein. Denn jede Zeit ist groß, wenn sie es will und sucht. Wir sprechen oft, fürwahr, von vergangenen Jahr­ hunderten, als wie wenn nur damals die Menschennatur fähig fürs Große, Schöne und Erhabene gewesen wäre. Der Geist der Alten erschien zwar in der Zeit, aber sein wesentlicher Zug ist, daß er über die Zeit e r h a b e n ist. Mag die Zeit vergänglich sein: die Kraft der Alten, die Kraft der Menschennatur kann der Zeit nicht unterworfen feilt, viel­ mehr lebt die Zeit und derselben Richtung in ihren Taten, und darin zugleich ihr Wert. Sollte der Geist, da er der nämliche ist, heute wie gestern und immerdar, seine Erscheinung in der Zeit nicht auch auf die Natur der Sache gründen können wie das Alter­ tum? Freilich können wir ihre Zeit nicht mehr Herüberrufen, auch kann sich unser Leben nicht mehr, so wie das ihrige, gestalten; aber das Wesentliche, worin ihre Kraft, worin ihr Wert liegt, das kann der Geist noch. Obgleich unsere Zeit vieles verändert hat und unsere Bürgertugend eine andere sein wird und unser Leben über­ haupt verschieden sein muß von dem der Alten, so wird doch das,

was aller Bürgertugend jugrunde liegt, und was die ewige Basis aller Verfassung und Religion ist, doch noch vorhanden sein. Aber nun möchte man sich darin irren, daß man ihren lebendigen Geist durch die toten Buchstaben ihrer Bücher zu erwecken und wieder herzustellen glaubt, da uns die Tatsachen abgehen, aus denen ihre Größe und Weisheit als die reife und herrliche Frucht ihres inneren und äußeren Lebens entsprang. Hilft es denn soviel, daß wir mühsam nach den alten Schätzen graben, daß wir lesen: wie jene Männer Gut und Blut an das Erkannte, an die Wahrheit ihrer Ueberzeugung setzen; wenn wir aus ihren Rüstkammern sozusagen uns nicht selber Waffen zu Taten holen, die Männern an­ stehn; wenn wir nicht Gut und Blut an das Erkannte, an die Wahr­ heit unserer Ueberzeugung setzen. Die Alten wurden das, was sie waren, auf dem Wege der Selbsttätigkeit und Selbstkraft; und die Menschheit wurde in Werken der Kunst und Wissenschaft um so schwächer, je mehr sie beschatteten als taten, je mehr sie nachahmten als aus eigenen Anschauungen schöpften und wirkten. 3m vertrau­ ten Umgänge mit der Natur ging ihr ganzes Leben aus dem To­ taleindruck der Naturanschauung und der eigenen geistigen Selbst­ tätigkeit hervor; ihre Größe ging daraus hervor, daß sie selbst die innere und äußere Natur in allen Richtungen durchdrängen und sich ihr öffentliches und Privatleben auf eigenen Wegen und Mitteln erbauten. Da in der Sprache die ewige innere Menschengeschichte seiner Entwickelung und seines Bildungsganges und seiner errungenen Ein­ sicht in Natur und Geist niedergelegt ist, so ist zum Verständnis dieser tausendjährigen Arbeit und ihrer Erfolge schon eine gewisse Sprachkraft, aber auch überhaupt eine Menschenkraft notwendig und erforderlich. Da man aber die Sprachkraft und Menschenkraft zum Verständnis des Altertums und seiner Muster schon mitbringen muß, so setzt dieses schon eine Bildung voraus. Denn nie werden wir in des Altertums Sinn und seine Weisheit einzudringen im Stande sein, wenn wir uns unsere eigene Sprache nicht ihnen gemäß ausbilden, und uns darin erstarken,

worin sie und ihre Sprache erstarkten im Vaterland. Hier zeigt es sich aber recht auffallend, daß, wenn das Altertum nicht den Geist und die Kraft vorbereitet findet, es keineswegs in uns durch das Ohr oder das Auge allein wirken kann. Mit dem Geborenwerden eines Kindes in einem bestimmten Lande bekommen alle seine Kräfte sogleich eine intensive Richtung physischer Art, so wie die Rückwirkung der auf des Kindes Körper wirkenden Ursachen ihm sogleich eine historische Be­ deutung gibt. Das Kind tritt also gleich mit der Stunde seiner Ge­ burt in die Natur wie in seine Geschichte ein. Historisch ist also fein Sprachekönnen schon bestimmt als vaterländisches und hierin liegt uns ein Grund für die Wichtigkeit der Muttersprache. Man kann daher ohnmöglich von dem Gedanken abgehen, daß das innerste Leben eines fremden Volkes kaum geahnet, viel weniger frei aufgefaßt werden könne, bevor nicht das eigene Volksleben im Innern gesichert sei; so muß man auch so notwendig annehmen, daß das Erlernen und Aneignen fremder Formen, sie mögen auch noch so vollendet sein, nimmermehr zur Vollendung und Eigen­ tümlichkeit der inneren Kraft eines Volkes hinführen können, bevor nicht die Volkstümlichkeit—und zu ihr gehört die Muttersprache vor­ züglich—in der jungen Brust zum reellen Bewußtsein gekommen sei. Brächte man erst diese Kraft in ihnen hervor, wodurch die Alten allein ewige Muster wurden, wie ganz anders müßte der Geist des Altertums sie ansprechen! Mit welchem wunderbaren Eindruck müßten seine Helden und Weisen, als die verwirklichten Ideale ihrer eigenen Triebe, auf sie wirken. Dadurch, daß nicht das Allgemeine, Menschliche, Ursprüngliche in Anregung gebracht wird, dadurch, daß man nur einzelne Rich­ tungen unserer Anlagen auffaßte, und diese wieder einzeln auf die Vorwelt hinlenkte, ereignet sich auch das Wunder eines echten Humanisten so selten. Wie voll sind immer die Schulen, wie lang die Zeit, wie eisern der Gebrauch und wie streng die Befolgung der Vorschriften hierin! Und wieviele gehen denn wirklich hervor? Sie stehen in keinem Verhältnisse mit der Zahl. —

Aber man tut nicht übel daran, daß man die Jugend zu den alten Quellen wahrer Humanität führt und darauf beharrt, daß sie zu ihnen geführt werden, sondern daran, daß man sie für die einzige wahre Quelle menschlicher Bildung erklärt und dasselbe mit Verachtung des andern treibt. Zugleich durch dies ausschließliche Treiben vernachlässigte man die größere Menge. Ihr Zurückbleiben, ihr Zugrundegehen für das menschliche, allgemeine und bleibende Gute beweist unwider sprechlich die Beschränktheit dieser Ansicht und dieses Verfahrens und das einseitige Unrecht, das man an diesen Menschen begeht, indem man Grundsätze des Unter­ richts und der Erziehung im allgemeinen aufstellt, die auf sie, die doch immer Menschen blieben, nie angewendet werden können. Unwidersprechlich liegen Stoff und Form der Entwickelung und Bildung der Humanität in den Alten und sind durch diese darge­ stellt. Allein w o fanden s i e die Alten selbst? Es ist ein altes Wort, daß sie der Natur näher waren und ihr treu blieben. Sie wirkte ein­ fach, rein und selbstständig auf sie. Es waren die Gegenwart, das Leben und seine Verhältnisse, die sie auftegten — und nicht die Last veralteten, modernden Wissens, das sie niederdrückte. Ihre Er­ ziehung bestand nicht darin, daß man die rüstige Jugend auf die Kirchhöfe vergangener Jahrhunderte hinführte und den Schwung des Lebens an die Denkmale ausgestorbener Völker anschmiedete und den freien Geist, der nach Selbständigkeit dürstet, der Gegen­ wart entzieht und allein zur B e sch a u u n g in die Vergangen­ heit versetzt. Aus den klaren Bildern, in denen die äußere Natur, das Weltall, sich spiegelte, trat die Veredlung ihrer menschlichen Natur hervor; und ihr eigenes inneres und äußeres menschliches und bürgerliches Leben spiegelte hinwiederum die Natur und das Weltall in veredelter Gestalt zurück. Diese Abspiegelung der Natur in ihrer Seele und die veredelte Rückdarsiellung der Natur durch die Seele war ein wirkliches Leben. — Ihre Seele, ihr Leben war nicht, wie oft bei uns ein bloßer Wasserspiegel, in dem sich die ftemde Größe entfernter Gebirge abmalt. Noch ist die ursprüngliche Menschennatur und ihre Verhältnisse

vorhanden, die sich mit jeder Generation erneuern; noch steht das Weltall vor uns da und umflutet uns wie ein unermeßlicher Ozean. Zu ihm steht unser Geist wie unsere Sinne, unsere Bedürfnisse wie unser Leben in unmittelbarem Verhältnis. Unmittelbar und durch keine Brille schauet das Kind an und seine Anschauungen (innere und äußere) sollen sein Auge und seinen Geist üben und aufklären, um mit Klarheit hineinzuschauen in die Geschichte und,die Wunder der alten Welt. In sich selbst, seinem Wesen und seinen Umgebungen soll der Schüler das Leben und die Menschheit gefunden h a b e n, um sie in größerem Umfange und in herrlicheren, blühenderen Gestalten bei den Alten wieder zu finden. Warum soll er seine Lebensflamme dämpfen und sich an aus­ wärtigem Feuer wärmen, vor fr e m d e m Werke niederknien, anstatt diese Werke zuerst in sich aufzurichten? — Wie die Bildung der Alten ursprünglich von der Natur und vom Menschen selbst ausging, so muß die Bildung der Neuern, von der N a t u r, von den ursprünglichen Kräften des Geistes, vom Leben selbst ausgehen, um auch nur die Alten verstehen zu können. Eben weil sie der Abdruck des ursprünglich Ge­ gebenen der Menschennatur, ihrer Triebe und ihrer Verhältnisse sind, setzt ihr vollkommenes und wesentliches Verständnis selbst schon die ursprüngliche Entwickelung und Bildung voraus, damit im Zögling die Kraft vorhanden sei, welche sie aufnehmen und wieder darstellen könne. Er muß in sich selbst tragen, was er mit ihnen vergleichen, wodurch er die Dinge an ihnen messen kann. Das ist, was man nicht erkennt und worin man den Gang der Entwickelung verkehrt. Doch nicht aus der Gegenwart allein soll die Menschheit schöpfen, sondern die Kräftigeren, die Geisiigfteien, die Ersten im Laufe, die den andern voraus sind, sollen das Altertum betreten. Die Alten bleiben deswegen in keinem Hintergrund an Geringschätzung zurück, sondern sie bleiben nur aus pädagogischer Rücksicht, die sich auf die psychologischen Tatsachen unserer Natur gründet, im Hintergründe der Folge und der Zeit nach.

Man lebt daher in keinem Widersprüche mit allen großen Gei­ stern, die das Studium der Alten immer hervorgehoben und empfohlen haben. Das Altertum verwirft die Pestalozzische Me­ thode nicht, vielmehr stimmt sie mit dem Naturgemäßen und Ewigen wie keine andere überein: nur will sie aus dem Ursprünglichen der Menschennatur ein frisches Leben hervorgehen lassen, wie es fr i sch aus dem Alten, aus dem Ursprünglichen der Menschen­ natur hervorging. Aber das Kind ist der jetzigen Zeit näher als der alten, und das Verhältnis desselben jur Muttersprache tritt früher ein als zu toten Sprachen, und die Ausbildung jur Menschenkraft im Kinde selber ist ursprünglicher als das Eintreten in die vergangene Zeit. Unsere Bildung ist an unseren An­ schauungskreis geknüpft und unsere Natur ist ursprünglicher, als daß unsere Erziehung, unser Unterricht von den Alten allein, ohne frühere Erkenntnis eigener Welt und ohne eigene Erfahrungen, aus­ gehen und sich darin ganz einschließen könnte. Statt den Sinn aber und den Geist der Zöglinge durch die An­ schauung des Unmittelbaren in der Natur und in dem Menschen zu üben und klar zu machen, um ihn zur Erkenntnis der Alten vorzubereiten, will man die Jugend durch die Alten, wie durch eine Brille, das Ursprüngliche anschauen lassen und tut es wirklich. Auf diese Weise stellt man ein Licht in sie, aber nicht ein eigenes, welches demnach, wenn die Last eines jetzigen Verhält­ nisses sich gegen ein bloß Erkanntes, nicht Erzeugtes einstellt, entweder im Sturm der Leidenschaft ausgeht oder in der Alltäg­ lichkeit des gewöhnlichen Lebens seine Nahrung verzehrt und ver­ düstert. Die Zweige daher, die man ihnen vom Baum der Er­ kenntnis abbricht, oder die Sträuße, die man ihnen aus griechi­ schen oder römischen Gärten pflückt, verdorren leicht, weil dieses Ursprüngliche in ihnen selbst keine Wurzel hat. Die Achtung für das ehrwürdige Altertum soll uns nicht unser Volk, unsere Zeit, uns selbst vergessen machen und uns dem Leben, dem wir doch wesentlich angehören, entftemden. Das Wissen bloß vom

Leben abgestorbener Völker, die reichen Kenntnisse entschlafener Jahrhunderte und selbst die ungeheure Gelehrsamkeit alles dessen, was ehemals war, ist aber noch nicht das Leben und die Tat. Indem man also durch einen verkehrten Gang die Jugend unfähig läßt, das wahrhaft Wesentliche der Gegenwart zu erkennen, schneidet man ihnen auch zugleich den Weg ab: mit demjenigen Geiste und mit derjenigen natürlichen Unbefangenheit in das Altertum einzutreten, ohne die wir nie in das Innere, eben wegen Mangel an Vorbildung oder aus wirklich vorhandener Ver­ bildung eindringen können. Sobald durch die Muttersprache und die andern Elementarbil­ dungsmittel sich eine Kraft zum Wirken regt, wird auch durch die Lust des Geistes, weiteres zu erforschen, die Würdigkeit des Geistes dazu erkannt und es ist dem freien Streben und Arbeiten auf dem herrlichen Felde des Altertums jedes Hindernis, welches besonders aus dem Mangel lebendigen Bewußtseins entspringt, nicht nur aus dem Wege geräumt, sondern durch frühere Anregung der Humanität zugleich der beste Standpunkt gegeben, von wo aus man die andern in ihrer wahren Größe und Fülle erkennen kann. Wollen wir das tote Gebilde zu neuem Leben erwecken, daß es sich zeige in seiner wiedergewonnenen Herrlichkeit, durch das Eindringen und Gestalten des eigenen Lebens, so müssen wir nur dem Freien die Pforte der Erkenntnis des Altertums öffnen, d. h. dem, welcher durch Bewußtsein innerer Kraft sich reif und tüchtig bewährt hat, das vollendete Volksleben der Alten nicht in toten Buchstaben, sondern im Geist und in der Wahrheit mit ganzem Gemüte zu um­ fassen. Da aber die Muttersprache die innerste Offenbarung des Volkslebens ist, so muß sie als Medium fremder Erkenntnis dieser selbst vorausgehen. Dagegen steht der Unterricht in den alten Spra­ chen und das Einführen in die alte Welt als eigentliche Kunstweihe, als Vollendungsmittel der geistigen Kraft für jeden frei Weiter­ strebenden einzig und unübertrefflich da. Für frühere Aufnahme der Muttersprache als der alten hat man sich längst entschieden, meistens jedoch nur wegen der Unent-

behrlichkeit im gewöhnlichen Leben. Allerdings fordert das Leben sein Recht, doch diese Ansicht von der Muttersprache übergingen wir als schon ausgemacht, und sprachen dafür als für ein Bildungs­ mittel teils für unsere Menschlichkeit, teils für das Studium des Altertums. In Rücksicht dessen, was der strengste Humanismus behauptet, nämlich daß die Humaniora nicht nur e i n allge­ meines, sondern ein einziges Bildungs­ mittel

der

Humanität

sei,

ist sogleich aus der Er­

fahrung und der darin gedachten Möglichkeit die Antwort fertig: daß das Studium der alten Sprachen nicht ein allgemeines (alle Stände und Individuen umfassendes) Bildungsmittel sein könne und daß es vielmehr äußere und innere Notwendigkeit

nur

auf wenige

einschränkt.

Eben weil die Humaniora nur eine Klasse von Menschen bilden können und diese Art Bildung ihrer Meinung nach allein Humani­ tät gibt, nehmen sie auf den größten Teil der Menschheit, der doch die Humanität als Menschenrecht zukommt, die gehörige Rücksicht nicht, was eben an dem Humanismus inhuman ist. Wie sollten sie es aber auch tun, da sie die ewige Natur selber nicht berücksichtigen. Es entsteht hierdurch bei einer strengeren Durchführung in der Be­ handlung des Unterrichts und der Erziehung eine Kluft zwischen Mensch und Mensch, die keine Erziehung begründen sollte, da wir von der Natur eine gleiche Ansprache auf Bildung und Erziehung, ihrem Wesen nach, zu machen haben, was aber ein unverjährbares Recht jedes Einzelnen ist. Dies und nicht weniger liegt in dem Aus­ spruche des konsequenten Humanismus: daß die Humaniora al­ leiniges und einziges Bildungsmittel zur wahren Humanität seien. Der Punkt ist zu wichtig, als daß die Frage nicht aufgeworfen werden sollte: Ist das Volk zur Humanität bestimmt und soll

es

dazu

geführt

werden oder nicht.

— Soll es dazu geführt werden und ist, a priori ebensogut als

a posteriori, gewiß, daß durch die Humaniora nur der kleinste Teil davon zur Humanität gelangt, so ist offenbar, daß der Satz des

Humanismus auf einem Irrtume beruhe. Man muß einseitig handeln, wenn man einseitig urteilt. Denn sobald dieser Grundsatz ausgesprochen wird, bekümmert man sich um das Volk und dadurch um den größten Teil der Menschheit nicht mehr und man hat sich von ihm und seiner geistigen Versorgung so ziem­ lich freigesprochen. So war freilich die Humanität dessen nicht, der den Grundsatz hatte: die Starken bedürfen des Arz­ tes nicht, sondern die Kranken.

4. Die Muttersprache') (TXte Sprache ist wie Zahl und Form ein unerläßliches Bedingzur Entfaltung der Menschheit in unserer Natur; sie ist denr Menschen Mittel, seine Gefühle, seine Hoffnungen und Besorgnisse, mit einem Wort, den Zustand seiner Seele auszudrücken. In dieser allgemeinen pädagogischen Bedeutung ist sie der Inbegriff des geistigen Bewußtseins des Menschenge­ schlechts von sich und der Natur; oder die von Geschlecht zu Geschlecht sich forterbende Tat­ sache der Entwickelung der Menschennatur. Es ist nicht möglich, daß ein Volk eine gebildete Sprache spreche, ohne selbst gebildete Geister zu haben, die ihm dieselbe bildeten. Denn da die Wörter nur Kleider für unvernehmbare Gedanken sind, so muß sich für jeden neuen Gedanken ein Wort bilden, und je ausgebreiteter die Erkenntnis eines Volks in Natur und Kunst wird, je reicher wird sie sein; und je bestimmter darin ge­ dacht wird, je mehr wird auch sie Schärfe und Bestimmt­ heit haben. Denn die Sprache ist vom Bewußtsein unzertrennlich, und da durch dieselbe sich der Geist dem Geiste offenbart, so ist das Sprechen unzertrennlich von allem menschlichen Lernen und Neben. Von dieser Seite muß man auch das frühe Lernen frem1) Abgedruckt ans Th. d. Spr. In Gr. u. A. lautet der Titel ebenso, das Datum: Dverdon, den 30. November 1819. Ebenso in Gr., dort ohne Datum. Die fran­ zösische Uebersetzung De la langue maternelle, von der zwei Abschriften er­ halten sind, besorgte ein Unbekannter. Die englische Uebersetzung On the maternal language übersetzte Grcaves aus dem Französischen.

der Sprachen ins Auge fassen. Jahn sagt in seinem Volks­ tum Seite 184: „Nur eine Muttersprache hat jeder Mensch; eine Muttersprache ist für ihn genug. Wehe dem Säugling, der einer Amme bedarf, wehe dem Kind und jedem Unsprachfertigen, die zur Muttersprache noch gleich eine Ammensprache mitlernen müssen. Die Mutterliebe ist der beste Dolmetscher der Sprachanfänge; Lallen und Stammeln bildet sich helfend zur Sprache. So wird mit dem Lebensmorgen die Muttersprache das offene Tor zu Herz, Ge­ dächtnis und Verstand; fremde frühzeitige Plapperei öffnet eine Afterpforte mit Diebesschlüssel. Zwei Mütter gebären nicht einen Leib, zwei oder mehrere Sprachen zugleich entfalten kein Sprachvermögen. Vorder- und Hintertür zugleich aufgetan gibt Zugluft, Pferde zugleich vorwärts und rückwärts, vor und hinter den Wagen gespannt, werden ihn nicht weit von der Stelle bringen. Sollen in früher Jugend zwei oder mehrere Sprachen zugleich ihre Wirk­ samkeit äußern, so müssen sie sich mit den Vorstellungen kreuzen, den Gedankenzusammenhang stören, den ganzen Menschen ver­ wirren. Sprechen ohne Sprache; Sprachen können und doch keine einzige in seiner Gewalt haben; wissen, wie Brot in allen Sprachen heißt, es aber in keiner verdienen: Rabennachsprechen, Starmätzigkeit und Papageienkunst — entstellen kein Volk so sehr als das deutsche, und unglücklicherweise finden wir diese Mißgeburten schön, wie manche Gebirgsleute ihre Kröpfe.---------- In einer fremden Sprache wird man vor einer Anstößigkeit schon weniger rot und in manchen klingen die Lügen sogar schön. Wenn der türkische Sultan etwas türkisch verspricht, dann ist der Verlaß auf sein Wort, zum Betrug und zur Worttäuscherei entweiht er die Muttersprache nicht." Wie der Mensch selbst ist auch das Wort seines Mundes wunder­ bar, es gleicht dem Feuerfunken. Ohne diesen wären freilich keine Feuersbrünste, die Städte und Dörfer einäschern, keine Feuergegewehre, keine feuerspeienden Berge, die sich auftun und ganze Strecken öde machen. Aber dennoch — was wäre die Erde und ihr Herr, der Mensch, ohne den sengenden Feuerfunken? —

So das Wort des Menschen. Ohne dieses hinge freilich nicht das Leben, die Ruhe und das Glück von Millionen an einem Tropfen Tinte, mit dem ein Ge­ waltiger seinen Namen auf ein Stück Papier hinzeichnet, ohne das­ selbe wären die Ungeheuer der Verräterei, des Meineids, der Verläumdung und der Lüge nicht der Schandfleck der Menschheit ge­ worden; ohne dasselbe wären tausend Quellen von Irrtum, Schwäche, Torheit und Sünde auf ewig verstopft geblieben — und dennoch — was wäre der Mensch ohne den Hauch seines Mundes, in den er sein Innerstes hüllet? Gleichwie Geist und Körper nur einen Menschen bilden, und, so­ lange dieser lebt, in der genauesten Verbindung stehen, also soll Schall und Geist e i n Wort, und zwar in vollkommener gegen­ seitiger Durchdringung, geben. Beides: Lesen und Schreiben sind nur k ü n st l i ch e Arten des Redens und müssen daher beide, wenn der Unterricht darin naturgemäß betrieben werden soll, dem wirklichen ge­ meinen Reden nachgesetzt werden. Ebenso ist offenbar, daß das Reden selbst ein künstlicher Ausdruck unseres Empfindens und Denkens ist, daß also das Kind, wenn es recht reden lernen soll, notwendig auch recht empfinden und denken lernen muß. Und dennoch geht die Tätigkeit der halben Welt darauf hinaus, dieses von einander abgesondert zu betreiben, ja das Lesen und Schreiben dem Denken und Reden vorgehen zu machen. Sie geben für diese Verkehrung den Grund an: mittels des Schreibens könne man sich alles aufschreiben, was schön und gut sei, könne auch immer nach­ sehen und sei gegen das leidige Vergessen gesichert. Wohl wahr! Aber wie macht man es, wenn der Geist in seiner Ungebildetheit und die Sprache in ihrer Unentwickelung nichts haben, w a s sie auf­ schreiben könnten? — Aber weit entfernt, daß das Redenlernen die wahre Blüte des Empfindens und Denkens sei, vielmehr soll es ihre Frucht sein. Ist die Sprache nicht auf Empfinden und Denken gegrün­ det und geht sie nicht aus ihrer Einheit hervor, so wird die

Sprache ein Wurm, der an den Blüten des Empfindens und Denkens nagt und seinen Keim auffrißt. Die Mittel, das Kind reden zu lehren, müssen eben so offenbar nicht außer dem Kreis seiner wirklichen Umgebungen gesucht und gebraucht werden; sonst muß dieses notwendig zum Nachteil des sich entfaltenden Beobachtungsgeistes, der Tatkraft und seines wahren geistigen und häuslichen Lebens geschehen. Ohne die Ver­ bindung der Redekraft des Kindes mit seiner Beobachtung und Tatkraft und ohne einige Uebereinstimmung des Lautes mit der Sache werden alle Bemühungen, das Kind reden d. h. menschlich reden zu lehren, sich in gefährliche Künste, das Kind schwatzen zu machen, umwandeln. Je mehr aber das Empfinden, Anschauen und Denken dem Sprechen über diese untergeordnet wird, desto leichter wird man es dahin bringen, daß es die Wahrheit seiner selbst, die Wahrheit seiner G e f ü h l e, die Kraft seines O e n k e ns und Handelns mit der Fähigkeit des Sprechens über sein Fühlen, über sein Denken und Tun in sich selber verwechseln wird. Es wird dahin kommen, daß ihm das Wort eine hinreichende Entschädigung für alle Entbehrnis der Anschauung gilt, daß es in den Irrtum zwischen Wort und Sache verfällt und in der Leerheit seiner Worte soweit kommt, daß es zuletzt an seine Täuschungen glaubt. Und doch ist im allgemeinen der jugendliche Volks- und Kinder­ unterricht so eingerichtet, wie wenn dieses Verwechseln der Kraft und der Wahrheit mit ihrem Schein und mit ihrem Laut der eigent­ liche Zweck und ihr endliches Ziel wäre. — Die Muttersprache geht mit dem Leben des Menschen gleichen Schritt, ist in unser geistiges Dasein so innig verflochten, daß alle unsere Gedanken, Gefühle, Wünsche und Hoffnungen von ihr durch­ drungen sind. Die Sprache als Ergebnis der inneren Kraft, Begriffe und Vorstellungen hörbar darzustellen, ist mit diesen immer auf derselben Linie; und so wie sich unsere Sprache nach dem Gefühle bildet, so richten sich auch diese unmerklich nach ihr, wie ein Kind nach seiner Mutter. Auch hier knüpft die Natur das Kind und die Welt an die Liebe der M u t t e r. Wie sie dem Kinde, indem sie ihm 21

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immer zur Seite geht, durch ihr ganzes sittliches und physisches Lun der Mittelpunkt ist, an den sich des Kindes anfängliches Sehen, Schmecken und Berühren anknüpft, ebenso ist sie auch das erste Mittel zur Entfaltung der menschlichen Sprache in Ohr und Zunge. Die nächste Umgebung, die Töne, die zur Wiege gelangen, bilden den ersten engen Kreis des Einflusses auf das Gehör des Kindes. Lange liegt es betäubt in dem Mittelpunkt dieses noch allgemeinen Geräusches und wird von den einzelnen Tönen noch nicht berührt. Das Schreien bezeichnet im Kinde die unterste Stufe der Ent­ wicklung; es ist der Ton für seine tierischen Bedürfnisse und von diesem steigt es zum menschlichen Lallen. Denn die Heftigkeit seines sinnlichen Bedürfnisses und das Schreien dafür hat es mit dem Tiere gemein. Aus der Befriedigung seiner physischen Bedürf­ nisse und dem daraus hervorgehenden Wohlbehagen entspringt das Lallen, das um so mehr Oberhand gewinnt, je mehr die tierische Begierde und anmaßende Selbstsucht des Tieres durch das liebe­ volle Tun der Mutter mindert und sich hiemit seine menschliche Natur herauszubilden anfängt. Nicht einmal seine Stimme hört es früher als die Mutterstimme; denn sein Schreien ist nicht ein bewußtes, es geht nicht aus dem Willen oder der Reflexion, sondern aus einem überwiegenden Schmerze hervor. So hört es den Ton der Katze, die unter dem Herde miaut, den Ton des Hundes, der vor der Türe bellet, den Ton des Spinnrades, das neben ihm surret, den Ton der Türe, die in den Angeln knarret; — aber alle diese Einwirkungen sind ihm in dem Zusammenhang, in dem sie ihm zuerst durch das Gehör zum Bewußtsein kommen, nur Schälle, von denen es weder ihre Ursache noch die Ursache ihrer Verschiedenheit erkennt. Dieser Zeit­ punkt geht bald vorüber. Es lernt zuerst den Unterschied der Töne unter ihnen selbst; es unterscheidet das Miauen der Katze, das Bellen des Hundes uff. von der lieblichen Mutterstimme. Darauf lernt es allmählich den Zusammenhang der Töne mit ihren U r -

sachen erkennen und jwar dieses in eben der Ordnung, in welcher sie ihm zum Bewußtsein gekommen sind. Der genauen Verbindung zwischen dem Tone und dem Gegen­ stand, der ihn bewirkt, wird das Kind wieder zunächst an der Mutt e r gewahr und das Bewußtsein dieses Zusammenhanges zwischen dem Worte der Mutter mit ihr selber öffnet ihm auf einmal eine unendliche Reihenfolge von Uebungen der Einsicht in Ursache und Wirkung. Dieses geschieht zwar zunächst nur in Rücksicht auf Klänge und Töne und die sie bewirkenden Gegenstände; es wird aber dasselbe ein gegebener Typus, an dem sich in der Folge auch die übrigen Sinne üben. Dadurch, daß die Mutter durch die säugende Brust und andere Handreichungen seine physischen Bedürfnisse befriedigt und seine übrige Entwickelung durch ihr sonstiges Tun, durch ihre Liebe und beständige Sorgfalt an sich knüpft, ist auch ihr Wort und ihr Ton nicht wie ein anderes Wort, wie ein anderer Ton. Denn diese sprechen es menschlich an. Durch innere Bande der Liebe und die äußeren der öfter» Wiederholung wird der Eindruck bleibend und bereitet die Sprachkraft schon mitten in der noch bestehenden Unmöglichkeit des Redenkönnens und in der gänzlichen Unfähigkeit des Verstehens der Wörter, die es hört; doch sieht es schon Liebe, Sorgfalt und Ernst in diesen mütterlichen noch unverstandenen Worten. Seine zwei Ohren eilen, eilen in der Ausbildung wesent­ lich doch vorbereitend der einzigen Zunge voraus. Dasjenige, was die Mutter für die Entwickelung der Sprache tut, ist vorzüglich darum unendlich mehr als alles andere, weil sie mit allem, was sie für die Entwickelung des Kindes tut, auf den ganzen Umfang der Anlagen und Kräfte der Menschennatur, auf den ganzen Menschen wirkt. Mit jedem Schritte, den sie tut, bringt sie Geist, Herz und Hand in Harmonie und handelt nie mit Engherzigkeit und Einseitigkeit, der sonst alle menschliche Kunst in jedem Augenblicke unterliegt, sobald sie sich von der Bahn der Natur entfernt. So steht die Mutier als Sprachvermittlerin zwi­ schen der Natur und dem Kinde.

So wie das Kind die Stimme seiner Mutter erkennt, dehnt sich der Kreis seiner diesfälligen Erkenntnisse immer weiter aus. Es erkennt allmählich den Zusammenhang alles dessen, was sich im Erfahrungskreise seiner Sinne regt, was in denselben geht, fällt, anstößt usw. mit dem Gegenstände, der sich in diesem Kreise regt, der in demselben geht, fällt und anstößt. Dasselbe sieht, wenn die Katze miaut unter dem Herde, es blickt nach der Tür, wenn sie im Aufgehen knarret, es schaut nach dem Rade, wenn es surret usw. Sein Bewußtsein der Töne, ihrer Verschiedenheiten und der Ur­ sachen dieser Verschiedenheiten dehnt sich immer mehr aus, der Zusammenhang des Starktönens mit dem Schwachtönen, des Starkschlagens mit dem Schwachschlagen wird ihm immer mehr bewußt. Ebenso gelangt es allmählich jum bestimmten Bewußt­ sein der spezifischen Gleichheit aller schwirrenden, klirrenden, sausen­ den, schmetternden, sowie mit allen höher» und tiefern Tönen. So entwickelt sich in ihm durch den Sinn des Gehörs ein allge­ meiner Anschauungsbegriff jeder Tonart an sich selbst d. h. das bestimmte Eigene, was das Rauschen, Girren, Reden, Singen, Pfeifen usf. bezeichnet. Es fragt sich jetzt nur—was kann, was soll die Mutter zu dem, was die Natur tut, hinzu­ tun? Pestalozzi sagt: „Ich möchte mit einem Wort sagen: Sich selbst." Denn das eigentliche Wesen des Mutterunterrichts be­ steht in der Anknüpfung der Sprache an die L a g e und an das Bedürfnis des einzelnen Kindes. Weil aber die Sprache, die sich an das Bedürfnis anknüpft, das g a n z e Kind in Anspruch nimmt, und ihm Mittel und Wege gibt zur Befriedigung seiner Sinnlichkeit, so wirkt der Mutterunterricht auch mit so großer Kraft auf das Kind. Für alles, was sie an ihm oder unter seinen Augen tut, gibt sie ihm Worte; sie nennt ihm die Gegenstände seines Be­ dürfnisses und seiner Umgebungen, so wie sie vor seinen Sinnen stehen, so wie sie es reizen, so wie sie es erquicken und befriedigen. Ihre Sprachlehre ist durchaus mit einem

lebendigen Handeln, das auf dieGegenstände, deren Namen sie dem Kinde ausspricht, Be­ zug hat, verbunden. Wenn sie ihm die heiße Suppe bläst, sagt sie: warte noch, die Suppe ist zu heiß! Sie nimmt ihm das Messer aus der Hand und sagt: du könntest dich schneiden. Sie trägt es geschwind vor den Wägen weg und sagt: wie leicht hättest du umgefahren werden können. Alle ihre Reden mit dem Kinde sind in ihrem Munde für ihr Kind Lehren der Wahrheit; sie entfaltet und befestigt das Bewußt­ sein der Worte von ihnen durch ihre liebende Tat. An ihrer Hand lernt das Kind um der Sachen willen reden und nicht die Sachen kennen, um davon zu reden. Das Reden ist ihm nur ein Ausdruck der erkannten Sachen und die Sache niemals bloßer Beleg fürs Wort, die sie es gelehrt. Liebe Mutter! Durch den Ton kannst du sehr auf die Entwicke­ lung des Kindes wirken; benütze die Gelegenheit, ihm für jede An­ schauung, die es im Leben hat, ein Wort zu geben. Trage Sachen, die tönen, zu deinem Kinde oder dasselbe zu ihnen hin. Mache dein Glöckchen vor deinem Kinde tönen, es liebt dieses Klingeln; bringe selbst Töne hervor, wo es dich sieht, wo es dich nicht sieht; klatsche, schlage, klopfe, rede, singe — kurz, töne ihm, damit es sich freue, damit es an dir hange, damit es dich liebe; die Lieblichkeit des Redens, die aus deinem Herzen fließt, ist für die Bildung deines Kindes unendlich viel wert; singe ihm, wenn du kannst, und erhebe es zum Gefühl jeder Harmonie und Schönheit. Jedoch führt die größte Feinheit des Gehörs im Unterscheiden der Töne und die höchste Kunst im Nachahmen derselben das Kind nicht eigentlich weiter; es ist nur das Reden lernen, das es eigentlich menschlich weiter bringt, oder welches vielmehr den Punkt bestimmt, von welchem das ausschließend Menschliche einer diesfalls befriedigenden Bildung des Menschengeschlechts aus­ gehen kann. Aber die Welt geht nicht am Faden dieses Unterrichts, der Verbindung der Sache mit dem Worte, weiter.

Sie überspringt diesen Punkt und lehrt es über Dinge reden, die es noch nicht begreifen kann. Durch das künstliche Lesen und Schreiben reißt sie diesen Zusammenhang auseinander und greift mit der Bildung des Kindes gleich in das unendliche Meer der menschlichen Erkenntnisse, denen allen eine Anschauung, eine Realität zugrunde lag. Man macht das Kind lesen, ehe es reden und eher reden, als es die Anschauung oder die Mittel zur Anschauung hat oder sogar haben konnte, die dazu erforderlich sind; man nötigles, Wörter in seine Bestandteile auflösen, ehe es ihre Bedeutung fassen kann, es muß ganze Sätze in einer Sprache hersagen, die es nie gelernt hat und die gar nicht die Sprache ist, die es täglich redet. Die Einfältigkeit der Menschen ist groß, sie haben sich Künste er­ schaffen, um ihre Kräfte besser zu gebrauchen; jetzt zerstören sie durch den Gebrauch dieser Künste die Kräfte selbst, um derentwillen sie die Künste erfunden haben; und der Mittelpunkt unserer Ver­ irrungen und Abschwächungen ist unsere Kunstbildung im R e d e n. Auch die Klage der Bessern, daß wir von Büchern überschwemmt werden und in ihnen unterzugehen bedroht sind, ist nicht ohne Grund. Durch unsere Schriftsprache (Tonschrift) entfernt sich das Menschengeschlecht von allem Zusammenhange der Vorstellungen mit dem Ausdrucke derselben. In der Bilderschrift (Hicroglyphenschrift) kettete sich noch das Bild mit der ganzen Kraft des Lebens an den Gegenstand, den sie bezeichnete: die Zeichen­ schrift wie z. B. der Chinesen ist schon Abbreviatur dieser Bilderschrift und der Zusammenhang loser und unmerklicher. In unserer Tonschrift ist gar kein Zusammenhang des geschrie­ benen Wortes mit der Sprache, die es bezeichnet. Wir dürfen uns nicht verhehlen: der Besitz dieser Kunst macht das Menschengeschlecht, wie es ist, allmählich das Bedürfnis des Fundamentes, woraus sie selbst entsprungen ist, leicht vergessen; wir dürfen es uns nicht verhehlen, der Besitz dieser Kunst macht gar leicht das Gefühl dieses Bedürfnisses in uns verschwinden: daß allen Wort­ erkenntnissen lebendige Anschauungen zum Grunde liegen müssen. Sollen wir nicht hievon ver-

schlungen, aus der Natur und ihrer lebendigen Erkenntnis ver­ drängt werden, so müssen wir alle Mittel gegen diese uns bedrohende Gefahr anwenden. Wir müssen unsere Bemühungen vorzüglich dahin richten: dem Uebel frühe vorzukommen und den Zusam­ menhang der Ausdrücke mit der Quelle der Anschauungen im Geiste des Kindes lebendig zu erhalten. Wir dürfen es nicht ver­ gessen, daß es das Leben dieses Zusammenhanges allein ist, wo­ durch alle Einsichten unseres Geschlechts erzeugt und wodurch alle Kräfte unseres Geschlechts gebildet werden. Zerreißt im Bewußt­ sein des Kindes dieser Zusammenhang, so verlieren die Erkennt­ nisse, die dem Kinde durch die Sprache beigebracht werden, ihre Fundamente und ebenso müssen durch diesen Verlust der Fundamente die K r ä f t e des Geistes im Kinde selbst zugrunde gehen. Diesem zufolge müssen wir den Ton und die von ihm be­ zeichnete Sache im Geiste des Kindes in diejenige Ueberzeugung bringen und zu erhalten suchen, die immer nur Folge einer innern und äußern Anschauung ist, über die man redet. 3n jedem Falle soll das Kind wissen, was der Gegenstand an sich ist, soll sich des Namens, womit man diesen Gegenstand belegt, deutlich bewußt sein, und es soll die Frage: welches sind die Zeichen, womit ich das ausgesprochene Wort dem Auge darstellen (schreiben) kann, gründlich beantworten können. Hiedurch allein ist es mög­ lich, das Reden-, Lesen- und Schreibenlernen zu Vernunft­ übungen zu machen. Schall und Wort sind zwar als Mittel der Begriffe beim Kinde zu gebrauchen, müssen aber in seinem Geiste so g e w i ch t l o s erhalten werden als es nötig ist, die Sache selbst, die durch Wort und Schall bezeichnet wird, mit ihrem Gewicht im Geiste des Kindes lebendig zu erhalten. Aber der Kreis der Gegenstände, über die das Kind reden hört und über die es reden lernen muß, geht viel weiter. Es liebt, es dankt, es vertraut; es will es sagen können und es muß es auch sagen können, daß es liebe, daß es danke und daß es vertraue. Aber das Sprechen oder die Worte über Gefühle der Liebe, der Dankbarkeit und des Vertrauens setzen diese Gefühle

der Liebe, der Dankbarkeit und des Vertrauens voraus und sind ohne die Realität dieser Gefühle selbst, ohne das Vo r handensein derselben ein leeres Geschwätz, ein unnützes Maulbrauchen. Es hängt demnach die Bildung dieser Gefühle selbst und das Geben der Ausdrücke und Worte darüber eng zusammen. Diese ersten Regungen der Sittlichkeit ent­ wickeln sich auf dem Schoße der Mutter und sind an ihre Liebe zum Kinde und an die Versorgung desselben angeknüpft, ebensogut als die Anfangspunkte der intellektuellen Entwicklung an die An­ schauung. So wie dasselbe den Namen: Baum, Bach, Haus nicht ausspricht und aussprechen soll, ehe es nicht den Baum, den Bach und das Haus gesehen hat, also soll das Kind keine Namen für sittliche Gegenstände bekommen, bis daß es nicht diese Gefühle selbst in sich gehabt hat. Mutter! mache also dein Kind das Wort Liebe, Vertrauen und Dank nicht aussprechen, bis diese Gefühle selbst durch innere An­ schauung und Empfindung derselben zum Bewußtsein gelangt sind. Wie du es lehrst: die Birne ist süß, mehlig, saftig usw. in dem Augenblicke aussprechen, wo es sie ißt, so bringe den Gedanken: die Früchte erquicken den Menschen in die Seele des Kindes, wenn es wirklich von ihr erquickt ist; und wenn dein Kind von Liebe und Dankbarkeit gegen dich voll ist, weil du ihm die süße Frucht des Baumes in seine Hand gibst, dann, dann, dann, wenn es sich vom Genusse seiner Frucht selbst erquickt, hebe dein Kind zu dem empor, der, ehe der Baum war, zu ihm sagte: werde! und sage ihm: er ist mein Vater, er ist dein Vater!

5. Sprache und Anschauung') /Kitt Kind, welches hierin von einer Mutter geführt worden ist, H^die ihren Beruf und ihre Bestimmung erkannt und ausgeübt hat, ist im Besitze einer Menge Erfahrungen, die es mit eigenen Augen gesehen, mit e i g e n e n Ohren gehört, kurz — mit e i g e * nen Sinnen gemacht hat, die durch Worte in seiner Seele befestigt sind und die darum unendlich mehr sind als sonstige Worte, die sich nur wieder auf Worte stützen und auf keine lebendige innere oder äußere Anschauung. Hiemit wäre, da Empfindung mit dem Worte immer in Verbindung find, Sache und der Ton dafür von Anfang her vom lebendigen Bande der Mutterliebe umschlungen geblieben, das wahre Fundament lebendiger Erkenntnis, richtiger Anschauung und tatsächlichen, gründlichen Sprachbewußtseins ge­ geben. Aber tun dies auch die Mütter? Ist durch öffentliche Anstalten etwas dafür getan, daß die Mütter auch nur über ihre Bestimmung belehrt seien? Und hat man dafür Sorge getragen, daß der durch eine falsche Kunst irregeleitete oder verdorbene Mutterinstinkt durch die wahre Kunst hergestellt und zu diestm Dienste erhoben werde? Liegt nicht unsere weibliche Erziehung, indem sie durch pflicht­ lose Zurücksetzung der Verwilderung und durch Afterkünste der allmählichen Entfremdung eigener Bestimmung preis­ gegeben wird, in einem Zustande, der um so lauter Abhülfe verlangt, 1) Abgedruckt aus Th. d. Spr. In Gr. u. A. lautete der Titel Sprache und Anschauung in der Trennung und Vereinigung, das Datum: Uverdon, den 1. Dez. 1819. In Gr. tragen die betreffenden Abschnitte noch keine Titel.

da sonst durch das Zugrundegehen dieser ursprünglichen, von der Natur eingesetzten Erziehung unser öffentliches, daraus sich her­ leitendes Wohl immer größerer Unnatur mit Sicherheit entgegen­ sehen muß. Die geerbte Unbekanntschaft mit den seligen Freuden der Kinderwelt, diese Entfremdung gegen die Mutterpflichten im Zusammenhang und vom Schwindel des verderblichen Zeitgeistes von allen Banden an häusliche Glückseligkeit losgerissen, nötigt sie, der Welt sich zu ergeben, die geräuschvoller ihre Freuden an­ bietet und treibt sie aus der heiligen Wohnstube, aus diesen mensch­ lichen und göttlichen Verhältnissen heraus. Diese Hintansetzung dieses göttlichen und menschlichen Verhältnisses zwischen Kind und Mutter wirkt nicht nur für den Augenblick auf die Entwickelung des Kindes nachteilig, sondern sie bringt auch für die Zukunft einen verderblichen Zwiespalt hervor. Auch die Schule, indem sie einer guten häuslichen Erziehung bloß nachhelfen und die darin gegebenen Grundkräfte nur weiter ausbilden solle, steht sich nicht selten in der un­ natürlichen Stellung und Lage, dasjenige nachzuholen und aus­ zufüllen, was eigentlich nur die Sorgfalt der Mutter und die bei­ nahe nur eigene Hingebung derselben in dem erforderlichen Grade hätte leisten können. Es ist umsonst! Kinder, die von keiner wahrhaft mütterlichen Liebe erzogen worden sind, können auch nicht in dem Grade aus den Schranken der Sinnlichkeit in die Freiheit des Geistes, aus der tierischen Roheit in die Reinheit des Herzens, aus der Anma­ ßung der Selbstsucht in die Selbständigkeit durch die Sprache heraus­ gehoben werden; sie bleiben hinter noch so gerechten Forderungen an sie und ihre Sprache zurück. Die uns von der Gottheit zum Unterschiede vom sprachlosen Tiere verliehenen göttlichen Kräfte, die in der Sprache liegen, sind für dasselbe gar nicht göttlich noch menschlich vorhanden, oder sie werden in seinem Munde Werk­ zeuge alles dessen, was die Würde und die Menschennatur entehrt. Die Erreichung aller Zwecke der sittlichen und intellektuellen Bil­ dung des Kindes ruhen in der unbedingten Vereinigung der Ent­ wickelungsmittel. Nur durch innige Durchdringung der Sprache

in Anschauung und Liebe kann die Sprache menschlich gemacht werden. Die traurigen Resultate, welche sich aus der Verrückung des Standpunktes beim Sprachunterrichte ergeben, sind klar vor unsern Augen und die Uebel, die aus der Versäumnis dieser müt­ terlichen Pflicht hervorkommen, bedürfen keiner Auseinandersetzung. Die Quellen unseres Verderbens durch die Verkehrtheit im Unter­ richte in der Muttersprache fließen ohnerachtet dieser Erkenntnis und dieser Erfahrungen fort und tragen von Tag ;u Tag zu den Ver­ sumpfungen unseres intellektuellen, moralischen, öffentlichen und häuslichen Seins bei. Auch entspringen eine Menge Verirrungen der menschlichen Bildung daraus und es gehen die ungleichartigsten Torheiten unserer Bildung aus dem einseitigen Gebrauche und der Isolierung der von der Natur so innig vereinigten Mittel und von der Unterdrückung des einen auf Kosten des andern hervor. Weil aus der Betrachtung der diesfälligen Quellen und der sich daraus herleitenden Erscheinungen jeder am besten Maximen des Unterrichts in der Muttersprache, wie aus Grundansichten derselben hieraus nehmen kann, wird es zur Sache sein, noch etwas hiebei zu verweilen. Wir wollen daher die Sprache als Worte und Anschauung in ihrem wechselseitigen Unterricht sowohl als in ihrer natürlichen Verbindung näher ins Auge fassen. 1. Anschauung ohne Worte. 2. Worte ohne Anschauung. 3. Anschauung und Worte. 1. Anschauung ohne Worte Anschauung ohne Worte finden wir bei den Taub­ stummen, die bei dem sorgfältigsten Unterricht nie zu dem gelangen, wozu ein mittelmäßig Unterrichteter gelangt. Allen andern steht die Welt ja offen — seine Sinne trägt jeder bei sich — wie kömmt es, daß eine große Anzahl von Menschen bei der täglichen Betrachtung der Natur, bei der häufigsten Uebung

der Anschauung, keine Worte dafür haben und nicht nur unbestimmt sich ausdrücken, sondern auch gänzlich fehlerhaft? Diese Art Menschen hat man in keinem bestimmten Stande auf­ zusuchen, sie leben vielmehr in allen zerstreut. Obgleich die gebil­ deteren Stände gewöhnlich eher ein Raub der Schwatzsucht werden als der Wortlosigkeit, so trifft man doch genug Individuen unter ihnen an, die sich sogar über ihre nächste Umgebung weder klar noch vollkommen ausdrücken können. Oft sind sie überreich an Worten, die a u ß e r ihrer nächsten Umgebung hergenommen sind und besitzen darin selbst vorzügliche Fertigkeit; worüber sie aber am meisten sprechen sollten, über das, was im Hause vorgehet, was in der Familie geschieht, hört man sie selten sprechen und sie vermögen es auch am wenigsten. Am meisten ist jedoch der Bauer und der gewöhnliche Bürger verlegen, wenn er über etwas Auskunft und Rechenschaft geben soll. In beständigem Umgang mit der Natur m u ß er Anschauungen haben; sie mögen aber immer in ihm sein, so fehlen ihm die Worte. Diese Eindrücke der Natur sind eben in sein Auge, sein Ohr usw. gefallen, wie sie in das Auge und das Ohr usw. jedes Tieres fallen, ohne weitere Entzündung und Begrün­ dung von Gedanken. Es ist ihnen hiemit (nämlich, daß sie keine Wörter für ihre Anschauungen bekommen haben) alle weitere gei­ stige Ausbildung rein abgeschnitten. Denn die ganze über­ sinnliche Welt knüpft sich nur durch Sprache an die sinnliche. Z.B. Aus den Erfahrungen: Der Augenstern ist schwarz, Der Ruß ist schwarz, Die (tote) Kohle ist schwarz, bildet sich mir der Begriff der Schwärze überhaupt,-, h. wie sie nirgends als in meinen Gedanken existiert. Weiter ziehe ich aus den Erfahrungen: Die Lilie ist weiß. Der Schnee ist weiß. Das Silber ist weiß, den Begriff der Weiße überhaupt;

Ebenso aus den Erfahrungen: Der Himmel ist blau. Das Veilchen ist blau, Die Kornblume ist blau den Begriff der Bläue überhaupt. Habe ich auf diese Weise die Begriffe der Schwärze, der Röte, der Bläue usw. durch die Anschauung in mein Bewußtsein be­ kommen, so kann ich diese B e g r i ff e auf dem nämlichen Wege, wie ich dazu gelangt bin, nämlich durch Zusammenfassung in ein Höheres, zum gemeinschaftlichen (höhern) Begriffe der F a r b e steigern. Zu diesem Begriffe der Farbe kann ich nur 1. durch die früheren Erfahrungen und 2. durch die daran geknüpften Worte der Schwärze, Weiße, Bläue usw. gelangen. So muß ich also, um mir noch andere übersinnliche Begriffe zu erwerben, einen Gegenstand z. B. noch von verschiedenen Seiten betrachten, wie es eben jetzt mit dem Begriffe der Farbe geschehen ist. Erst dann, wenn ich die Begriffe Farbe, Gestalt, Geschmack, Schwere, Durchsichtigkeit usw. erhalten habe, ist es mir möglich, zu dem noch allgemeinern (höhern) Begriffe, zum Begriffe der Eigenschaft zu gelangen. Ohne in dieser für die Erziehung überhaupt als für die Psychologie insbesondere nicht unwichtigen Untersuchung weiter zu gehen, ist so viel von selbst klar, daß alle diese übersinnlichen Begriffe sich zuerst auf die sinn­ liche Anschauung stützen, und nur durch das Wort erzeugt und behalten werden können. Jede Erdanschauung ist demnach immer Basis einer möglichen gei­ stigen Anschauung. Das Kind der Anschauung kann im­ mer die Anschauungen dieser einzelnen Gegenstände gehabt haben, werden ihm nicht Worte zu der Entwicklung seiner Begriffe ge­ geben, so kann es aus Mangel an diesen Worten nie zu freiern Gedanken gelangen; es ist ihm durch isolierte Anschauung vom Worte der Eintritt ins höhere Geisierreich wie völlig verschlossen. Wo man es nun versäumt, dem Kinde für seine Anschauungen,

insoweit es davon ergriffen ist, Worte ju geben, so läßt man den Faden der Entwickelung, den Gott, den die Natur in unsere Hände gelegt, aus denselben fallen. Wir sind aber durch das Fallenlassen des Fadens soweit gekommen, daß wir nicht wissen, was wir wissen, und daß wir oft gerade in dem, was wir am besten wissen, die wenigste Kraft haben uns auszudrücken. Eben weil dem Menschen, dem die Worte fehlen, auch die Begriffe fehlen, die nur vermittels dieser Worte gebildet und erzeugt werden können — tragen auch diese Erfahrungen und Anschauungen wenig oder, wenn gar kein Wort dafür gegeben ist, garnichts zu seiner Humanität bei. Mag ihm die Welt in die Augen scheinen, mögen ihre Töne sein Ohr er­ füllen und auf gleiche Weise seine übrigen Sinne berühren — ein solcher Mensch ist der Gedankenarmut einer Begriffsverwirrung preisgegeben, deren Opfer er leider nur zu oft wird und deren Folgen sich oft weiter als auf das also vernachlässigte Indivi­ duum erstrecken. Doch geht es noch an, wenn diese Sprachlosigkeit durch eine liebe­ volle Darreichung der Anschauung durch die Mutter vermenschlicht ist, wenn die Anschauung der Natur durch das Leben liebend und vertrauend in seine Seele gekommen; es geht noch an, wenn die wenigen Worte, die er zu seiner Disposition hat, noch klar und in einer gewissen Ordnung in ihm liegen; es geht noch an, wenn sein liebevolles Herz den schlimmen Folgen, die sich daraus ergeben, keine üble Richtung gibt. Aber in Schreckenszeiten, wo Unrecht, Willkür und Bedrückung das arme Volk treibt, sich zu widersetzen dem Un­ recht, der Willkür und der Bedrückung, wo eine bürgerliche Gärung die Gemüter aufs höchste reizt und erhitzt — da ist das Volk durch seine Sprachlosigkeit der verfänglichen Verführung politischer Schwätzer, der [!] ihm für eigene Empfindungen Worte zu leihen scheint, in die Arme geworfen. Eine allgemeine Sprach- und Be­ griffsverwirrung entspringt aus der Vernachlässigung des Volkes in seiner Sprache und gibt es daher dem Ausbruche der Leiden­ schaft und der Gewalttätigkeit, der Rohheit preis. Die künstliche Sprache, die dann gewöhnlich zur Besänftigung des aufgebrachten

Volkes gebraucht wird, schwemmt seine schwachen Worte, in die es seine Ueberzeugungen hüllt, mit Leichtigkeit weg. Die Unverständ­ nis dieser Worte, ihre Bodenlosigkeit in der Seele derselben öffnet sein Herz der Verführung — zur Tat — und es hält das für Recht, was nicht Recht ist, und das für Wahrheit, was nicht Wahrheit ist. Cato spricht c. 48 [52!] bell. Cat. [bellum Catilinae]: Jam pridem equidem nos vera nominum vocabula amisimus, quia bona allena largiri, liberal!tas; malarum rerum audacia, fortitudo, vocatur. Eo respublica in extreme sita [est].

2. Worte ohne Anschauung Fehlt dem Worte seine Basis in der Anschauung, so ist es ein leerer Ton, ein Schall ohne Bewußtsein. Wie verworrene Be­ griffe Worte ohne Anschauung geben, können wir von vielen un­ gebildeten Völkern lernen, wenn ihnen Europäer Dinge, die sie nicht gesehen haben, beschreiben wollen. Man muß dem Grönländer, erzählt Crantz, anstatt: diese Stadt hat so und so viel Einwohner, sagen, daß so und so viel Wallfische auf einen Tag kaum zur Nahrung hinreichen würden; man ißt aber dort keine Wallfische, sondern Brot, das wie Gras aus der Erde wächst, und Fleisch von Tieren, die Hörner haben, und läßt sich durch große starke Tiere auf ihrem Rücken tragen oder auf einem hölzernen Gestelle ziehen. Aber auch so wird es schwer, Unrichtigkeiten in Begriffen und Mißdeutungen der Bemerkungen zu vermeiden. Da nennen sie dann das Brot Gras, die Ochsen Renntiere und die Pferde große Hunde. Jedoch dürfen wir so weit nicht gehen; im Schwätzer liegen viele Worte, wenig Anschauungen. Die Schwätzer, die jedem denken­ den Manne unerträglich sind, sprechen von Sachen, die sie nie gesehen haben, ein langes und breites in den Tag hinein, und selbst von Sachen, die nie in ihren Kopf gekommen, noch jemals in ihrem Herzen aufgestiegen sind, sprechen sie wie von einer Sache, die sie täglich im Herzen und im Kopfe getragen hätten. Das leidige

Disputieren, nicht wie es eigentlich getrieben werden sollte, son­ dern wie es gewöhnlich betrieben wird, hat auch meistenteils seine Wurzel in der Anschauungslosigleit der Sachen, von denen man spricht. Meistens artet es in einen Kampf aus, wo der eineseinen Gegner aus der Fülle seines Wortreichtums entweder mit Redensarten ersäuft oder sich aus jeder Schlinge durch neue Worte her­ auszuziehen versteht. Den eigentlichen Zweck, Erforschung der Wahr­ heit, verliert man hiedurch auch bei besserem Willen aus den Augen. Wie der Landbewohner in der Regel an der Wortlosigkeit leidet, so ist der Bewohner großer Städte auf der andern Seite der S ch w a tz su ch t unterworfen. Ohnedem durch die Lebensart mehr entfernt von schweigenden Tätigkeiten und beständig von einer schwatzenden Menge umrauscht, gibt er sich einer gewissen Schwatz­ süchtigkeit um so leichter hin, da selbst der gute Ton solcher Städte und Städtchen oft mehrere Stunden lang Menschen in große Ge­ sellschaften zusammenruft, wo' nichts anderes als---------- wird. Das beste Mittel, diesem Geist tötender Schwätzer vorzubeugen, ist in einem vernünftigen Unterricht im Sprechen aufzufinden und alle andern, die dann und wann angewendet und versucht werden, legen die Axt nicht an die Wurzel. An den Verirrungen, wie sie einesteils in der Wortlosigkeit, andernteils in der Anschauungslosigkeit sich zeigen, hat niemand als der Unterricht Schuld, und das stumme Hinstarren der Kinder in unsern Schulen, als auch das bodenlose Schwatzen und die daraus erfolgenden Mängel und Gebrechen kommen auf seine Rechnung zu stehen. So wie z. B. das sprachlose Anschauungskind, indem es sehr genau weiß, daß es Lungenflügel hat, die das Atmen verrichten, weder das Wort Lungenflügel, noch das Wort verrich t e n kennt, so lernt hingegen das anschauungslose Schwatzkind das Wort Lungenflügel oder sogar den Satz: die Lungenflügel verrich­ ten das Atmen, auswendig, ohne daß es wirkliche Kenntnis davon hat. Wir machen nämlich das Kind Worte aussprechen, die wohl einen Sinn haben, die aber im Munde dieses Kindes ohne An­ schauung doch nur l e e r d. i. gehalt- und verstandlos sind.

Ein solches Kind wird durch seine unerschöpfliche Anzahl von Worten und von dem hohen Gewicht, den andere auf solche bloßen Worte legen, aufgebläht und verfällt in Anmaßung. Hiebei entsteht noch bei solchen von vornherein verdorbenen Leuten eine Jagd auf Worte, wobei ihnen eine Wortbereicherung für eine Sach­ bereicherung gilt; daher kommt es, daß ste ein kaum noch gut ge­ hörtes Wort schon brauchen und anwenden wollen. Dazu versäumt man oft, das Kind bei dem, was es spricht, etwas denken zu machen; man versäumt sogar die Gelegenheit, diese Fehler wieder gut zu machen, dadurch nämlich, daß wir die unterbliebene Anschauung nachholen und sie an jenes Wort knüpfen. Immer mißlich genug, wenn dem vorausgeeilten Wort, gleichsam zur Bestätigung, die Sachen, die sie bedeuten, nachgetragen werden müssen. Der andere Weg, der in einzelnen Fällen auch eingeschlagen werden kann, ich meine die Worterklärung, kommt jenem durch die Anschauung nie gleich. Denn wenn sie genügen soll, so müssen die erklärenden Worte selbst wieder verstanden werden können. Oft aber hat das Kind von der Sache, um dessentwillen das Wort da ist, nur eine dunkle entfernte Ahnung, und weil sein Wissen eigentlich auf dem beruht, was nicht ist, sondern nur bezeichnet, so beruht es auf nichts. Beim Versäumen bleibt jedoch der Unverstand der Menschen nicht stehen — nein, derselbe ist auch noch hintendrein bemüht, eine Menge solcher auf keine Fundamente einer Realität gestützter Kenntmisse in das Kind einzugießen; es lernt die Worte nachbeten und ohne sie einzusehen und zu verstehen, auswendig behalten. Oft setzt man noch diese Unverständlichkeit demselben in einer techni­ schen Gelehrtensprache vor, die nur für den Gelehrten, für den im Fache Bewanderten einen Sinn haben kann, und obgleich das Kind die Töne seiner Muttersprache hört, so klingt es ihm doch un­ verständlich in seine Ohren wie eine fremde Sprache. — Nicht selten begraben sich solche Menschen noch in Bücher hinein und sehen durch diese die Welt in einer um so größeren Entfernung und in einer um so trübern Dämmerung an. Die Büchersprache, die sich eigends gebildet hat, verdunkelt ihnen demnach auch solche ii

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Wahrheiten, die sie sonst verstanden haben würden. Diese Wort­ menschen schwimmen demnach auf der Oberfläche leerer Worte und verlieren sich in ihrer Unermeßlichkeit. Schöpfen sie nun gänzlich ihr Wissen und ihre Gelehrsamkeit aus dem Worte und nicht aus der Anschauung der Tat und der Wahrheit des Lebens, so wird die Verkehrtheit um so merklicher. Da sieht man Logiker, die keine gebildete Denkkraft haben, die Gesetze des Denkens an den Fingern herzählen; Oekonomen, die sogar Bücher über diesen Gegenstand schreiben, die eben bei der geringsten Anwendung sogar eigener Regeln Fehler machen; Er­ zieher, die über Erziehung aufgeschichtete Ideen besitzen, aber keinen Knaben zu behandeln wissen; Religionslehrer, die von den höchsten Wahrheiten des Christentums mit großer Fertigkeit sprechen, ohne je in sich eine Vermittlung, eine Erlösung empfunden zu haben. Du siehst Rechtsgelehrte hinter den Bergen ihrer Wortauslegungen und ihrer Entwickelungen des ewigen Rechts das Recht selber und ihre eigene Auslegung an der Nase führen und während sie die Grade der Strafbarkeit einer Tat haarfein berechnen, sich selbst in unbestrafter Rechtslosigkeit zu sichern wissen. In wem nicht die heiligen Worte: Liebe, Treue, Freundschaft in­ nerlich zum lebendigen Bewußtsein, zur innigen Anschauung ge­ langt sind, der gebraucht diese Worte, die das Tiefste bedeuten und wo von der Gewißheit der Versicherung oft das ganze Glück eines Menschen abhängt, in der leeren Nichtssagerei der Umgangssprache. Hat sich aber im Innern: 3. Anschauung und Wort mein geistiges Leben verschmolzen, so st e h t der Mensch auch zu seinem Wort, er sieht mit Tod und Leben für das, was er ver­ sprochen, was er gelobt hat. Ist das Wort reiner Abdruck des Selbst­ bewußtseins, so ist das Wort eins mit dem Menschen und der Mensch eins mit dem Worte. Die Umstände, die sich dagegen auftürmen, die Leidenschaften der Menschen, die es zu untergraben suchen —

erschüttern und bewegen ihn nicht. Das Fundament des Wortes ist auf das Fundament der Wahrheit, auf das Fundament der An­ schauung gebaut. So führen dort leere Worte ohne Anschauung und die Anschauung ohne die Worte den Menschen, nur auf anderen Wegen, ju Irr­ tümern und Verirrungen. Nur aus der V e r e i n i g u n g der An­ schauung mit dem Schalle erwächst das Wort des selbständigen Mannes. Die Anschauung gibt seiner Sprache Kraft und die Sprache gibt ihm für seine Anschauung Fülle; und lebt in ihm noch die Liebe, daß er diese Kraft nicht mißbrauche, so ist er durch diese Ver­ einigung ein kräftiger Vertreter der Hintangesetzten; durch Wort ein Ratherr; ein Helfer in Gefahr durch die Tat. —

6. Die MuttersorgfalL macht sprechen; Sprache lehrt die Schule*) £?xie SOZttfter geht am Bande desBedürfnisses und hält, vom Augenblick aufgefordert, die Eindrücke der Welt auf das Kind in dessen Bewußtsein durch die Sprache fest. Wie sich die G e l e g e n-h e i t ergibt, spricht sie zum Kinde und dieses wieder zur Mutter in Liebe und Vertrauen. Die große Welt im Freien oder die kleine Welt im Hause geben den Stoff hiezu; ja tausendfältige Erschein nungen in Ton, Gestalt, Farbe, Geschmack und Geruch bieten sich der natürlichen Aufmerksamkeit (Neugierde) des Kindes von selbst dar. Die Mutter tut weiter nichts hinzu als Worte. Bald fängt das Kind über sinnliche Erfahrungen, über die sinnliche Natur an, ein­ heimisch zu werden. Sein geistiges Auge erwacht und eine geheime Ahnung, ein unbekanntes Gefühl seines Bewußtseins schwellt seine Brust. Bisher immer mit der Mutter eins, ging es an ihrer Hand, schlief an ihrem Busen und trank Milch aus ihrer Brust oder Speise aus ihrer Hand. So wie die Natur durch seine physischen Bedürfnisse es an die Mutter physisch band, so veri) Abgedruckt aus Th. d. Spr. In Gr. u. A. wurde der Stoff in zwei Kapiteln be­ handelt. Das erste hieß „Anknüpfung des ersten Schulunterrichts an den Unter­ richt des mütterlichen Hauses", datiert: Dverdon, den 3. Dez. 1819 (es ist sehr unvollständig erhalten), das zweite „Sprachsicherheit — Sprachlehre, oder Das Kennen der Muttersprache", datiert: Dverdon, den 8. Dez. 1819. Ueber ein drittes Manuskript zu diesem Thema siehe den Anhang des Kapitels. — Im Inhaltsverzeichnis des „Sprachunterrichts" (s. S. 54) lautet der obige Titel „Die Muttersorgfalt lehrt sprechen", statt wie hier: „macht sprechen"! Ob aus Versehen oder Absicht, kann ich nicht entscheiden.

einigte sie dasselbe mit der Mutter auch moralisch dadurch, daß das Kind, von innen getrieben und von außen darin bestätigt, in ihr sein alles, seinen Schutz, seine Nährerin, seine Gespielin, seine Freundin, seine Mutter — fand. Diese Einheit, welche ursprünglich physisch ist, löst sich jedoch mit nach auf. Das Kind bedarf nicht mehr der Brust, um sich zu ernähren, nicht mehr des Mutterarmes, um irgend an einen Ort zu kommen. Durch das Einschießen der Zähne macht die Natur selbst dies physische Band, welches bisher in der Reichung der Muttermilch, als der einzigen Nahrung, gegeben war, lockerer. Endlich bedarf es gar nicht mehr der Brüste. — Vom Schoße bringt es sein Tätigkeitstrieb auf eigene Füße. Darum, weil es gehen kann, ist ihm der Mutterarm entbehrlicher geworden. Auch die Kraft und die Geschicklichkeit seiner Hände wächst. Nach der Sache, die es bisher aus Zufall in seine Hände bekam oder mittels des Weinens, wodurch es seine Begierde verriet, erlangte, greift es nun selbst mit eigenen Händen. Die elterliche Freude entdeckt täglich, ja stündlich neue Fer­ tigkeiten, welche von der mütterlichen Zärtlichkeit begünstigt und erweitert, die Mutter immer mehr von dem Dienste der Hülflosigkeit und der dafür sorgenden Handreichung freispricht. Endlich ist aus seinem Schreien das menschliche Lallen, aus dem Lallen ein Stammeln, letztlich Reden geworden, wodurch auf einmal seine geistige Bildung Riesenschritte geht. Sie geht dem entschiedenen Selbstbewußtsein entgegen. Denn bisher sprach das Kind von sich immer in der dritten Person: K a r l i ist hungrig, Marie will schlafen usw. Wie im Traum spricht einmal das Kind: I ch will dies oder jenes usw. zum erstenmal aus. Gewöhnlich erschrickt das Kind überrascht wie von einer Sünde. Seine Unschuld hat die Frucht des Selbstbewußtseins vom Baum der Erkenntnis genossen. Diese merkwürdige Erscheinung im Leben eines Kindes ist der Anfangspunkt seiner geistigen Selbständigkeit. Dieser be­ zeichnet auch am besten den Anfang des Schulbesuches (Unter­ richt), der hierin seinen notwendigen d. h. in der Entwicke-

lung des menschlichen Geistes selber und nicht in der Unbestimm­ barkeit der Jahre sein Merkmal und Kennzeichen findet. Das „Ich" ist als Mittelpunkt gegeben; von nun an denkt es, handelt es, fühlt es nur in diesem Mittelpunkt und in bezug auf denselben. Wenn nun der Anfang des Selbstbewußtseins sich also offenbart hat und durch die Muttersorgfalt ein hinreichender Schatz von Ge­ danken und Worten dafür der weiteren Ausbildung zu Gebote stehen: Welche Schritte sollen alsdann zur wei­ tern Ausbildung seiner Menschlichkeit (Hu­ manität) durch die Sprache getan werden? Schritte, die zur Kenntnis der Regeln, zum Bewußtsein des Sprachgebrauches hinführen; Schritte, wodurch der Mensch Herr sei­ ner Sprache wird. Sowie sich nämlich eine Empfindung im Innern regt oder ein Gedanke sich bildet, sollen wir nicht nur im Stande sein, uns mit Bestimmtheit über diese Empfindung und über diesen Gedanken zu äußern, sondern auch des Sprachgesetzes uns bewußt sein, warum wir so und nicht anders reden. Wir sollen die Sprache kennen. Wörter, deren Sinn in einen Kreis gehören, müssen teils an sich, teils im Zusammenhange mit andern erkannt werden, z. B. Geiz, Habsucht, Eigennutz, Sparsamkeit, Genauigkeit, Wirtschaft­ lichkeit, Kargheit, Filzigkeit, Schmutzigkeit usw. stehen in einem Kreise; worin sie also ü b e r e i n k ä m e n und worin sie a b w e i ch e n, müßte gezeigt werden, damit die Kinder Sparsamkeit nicht mit Kargheit, Eigennutz nicht mit Habsucht verwechseln, andern damit Unrecht tun und für fich selbst in Unbestimmtheit schweben. Hier fällt nun der Grundsatz: Anschauungen begrün­ den die Sprache, deutlich in die Augen. Ist bei irgendeiner wirklich geizigen Tat dem Kinde das Wort „Geiz", bei einer wahrhaft sparsamen das Wort „Sparsamkeit" für seine An­ schauung gegeben worden, so vergleicht es nun in si ch die gesehene Tat (Anschauung); denn der Unterschied, den sie mit Worten aus­ sprechen, ist nur ein innerer A k t u s zweier in sich lebender Erfahrungen oder Anschauungen, d. h. die Worte, die es ausspricht,

sind schon r e a 1 i t e r itt ihm, ehe sie noch mit Worten formali­ ter bezeichnet und ausgesprochen werden. Sind ihm hingegen ohne Anschauung und Erfahrung die (bloßen) Worte gegeben, so m u ß seine Sprache oder diese innere Begrün­ dung ungewiß und unsicher sein; es weiß daher nicht gewiß, was Geiz an sich, was Sparsamkeit an sich sei, vermag also ebenso wenig des Unterschiedes bewußt zu werden. Seine Sprache ist weder voll­ ständig, noch gesichert. Die Bedeutung jedes Wortes, welches im Sprachgebrauchs ist, muß in uns bestimmt sein, und hierin Spielraum zu lassen, beliebigen Sinn einem Worte zu unterlegen, wäre die gefährlichste Willkür. Für die Wissenschaft ebenso wie für den täglichen Verkehr muß es von der größten Wichtigkeit sein, eine bestimmte Sprache zu haben, mittels welcher mit Beseitigung aller Zweideutigkeit je­ dem Gegenstände der Kunst oder Wissenschaft auf den Grund seines Seins gegangen werden kann1). Wollte man aber die ganze Bedeutung der Sprache, ihrer Form und ihrer Materie nach, abschließen, so würde sie zu einer toten werden, d. h. sie würde zwar Zeichen für j e tz i g e Gedanken haben, aber für die Zukunft der Kunst und Wissenschaft unübersteigliche Schranken setzen, weil sie eben für noch kommende Gedanken usw. keine Ausdrücke haben würde; welche Freiheit für ferneres, immer tiefer eingehendes Denken notwendig ist, damit man sich für neue Begriffe usw. im Fall, daß keine guten Worte, die den Sinn vollkommen ausdrücken, vorhanden sind, entweder ein altes aus der Vorwelt wähle, oder aus den Mundarten aufnehme, oder nach der Sprachtümlichkeit bilde. Diese Freiheit, Formen zu zerschlagen, aufzugeben und neue zu schaffen, ist nicht mit der Will­ kür einzelner, noch mit der bloßen Uebereinstimmung einer Gesell­ schaft zu verwechseln; vielmehr ist dieselbe der wahre Sprachgeist. Darum hat I a h n in der Vorrede zu seinem Turnbuch, wo er 1) Die lexikalischen Arbeiten über die Homonymen tragen, ohne eigentliche Ab­ sicht, mit dazu bei, die Bedeutungen der Worte festzuhalten, d. h. den jetzigen Sinn eines Wortes mit Bestimmtheit anzugeben. Anm. Roths.

von dieser Freiheit redet, nach meinen Einsichten sehr Recht, wenn er sagt: „Mundarten sind keineswegs für bloße Sprachbehelfe j» halten, für Ausdrucksweisen von niederm Range, die nur noch in einem Versteck und Schlupfwinkel des Sprachreichs aus Gnade und Barmherzigkeit Duldung genießen. Im Gegenteil sind sie nach altem wohl hergebrachtem Recht in irgendeinem Gau auf Grund und Boden erb- und eingesessen. Darum können sie nie­ mals die Rücksicht auf Heimat und Wohnstätte verleugnen. Sie müssen alle und jede Oertlichkeit beachten: Berg und Tal, Wald und Feld, Wiese und Weide, Flur und Fluß, Acker und Aue, Land und See und tausend andere. So bilden sie Einzelheiten in Fülle aus und die eigensten Besonderheiten auf zweckmäßige Art und Weise. Ihre Wohlhabenheit ist der wahre Sprachreichtum. Ihr beschränkter Bereich ist Samenbeet, Gehege und Schonung von kräftigem Nachwuchs. Denn in einem weit und breit durch Gauen, Marken und Lande wohnenden Volke muß es natürlich eine Menge höchstnotwendiger Begriffe geben, trefflicher Bezeichnungen, gehalte­ ner Schilderungen und sprechender Gemälde, die doch niemals in Büchern vorzukommen Gelegenheit hatten. Aus diesem mehrt sich dann allezeit, wenn Not an Wort ist, die Schriftsprache, die ohne sie nicht heil, sondern unganz ist. Die Gesamlsprache hat hier Fundgruben und Hülfsquellen, die wahren Sparbüchsen und Not­ pfennige des Sprachschatzes. Mundarten zeugen immerfort am alten Urstamm in sprachtümlicher Reinheit von Geschlecht zu Geschlecht. Der könnte ohne ihren Schirm gar leicht an einseitiger Ueberfeinerung und Verzierlichung verstechen, Saft und Kraft verlieren und marklos an der Auszehrung verquinen. Da sich die Mundarten nur sprachtümlich fortpflanzen, nicht in Büchern, sondern in aller Leute Mund leben: so hindern sie gewaltsame Verregelungen und Verriegelungen der Gesamtsprache. Sie treten in die Landwehr, wenn das Buchheer geschlagen. Offenbare Sprachwidrigkeiten las­ sen sich Leute, die nach ihrer Altvordern Weise trachten, nicht zu Schulden kommen, und lassen sich auch von ihresgleichen keine Sprachunbilden gefallen. Sie können wohl Sprachfehler be-

gehen, aber keinen Sprachftevel. Ein Schriftsteller kann weit eher der Sprache Gewalt antun, und seine Notzucht noch obendrein in einem Buche zu Ehren bringen, auch da seine Fälschungen und Banckarten versorgen. Bor aller Leute Ohren und Munde geht das nicht ungestraft hin, da kann jeder Rüger sein. Die Mundarten leben in ewigem Landfrieden mit der Gesamt­ sprache und treten vor den Riß, sobald in der Schriftsprache Lücken entdeckt werden. Ohne Mundarten wird der Sprachleib ein Sprachleichnam. Die Schriftsprache ist die höchste Anwaltschaft der Spracheinheit, die Mundarten bleiben die dazu höchst nötigen Urversammlungen der vielgesialteten Einzelheit. Ein mundartiges gausässiges Wort m u ß, um durch Schriftwürdigkeit zur Schriftsässigkeit zu gelangen: 1. Eine deutsche Wurzel sein oder nachweislich von einer solchen stammen; 2. den deutschen Wortbildgesetzen nicht widersprechen, sondern sprachtümlich gebildet sein; 3. echt deutsch und nicht schristwidrig lauten; 4. mit echt deutschen Lauten aussprechbar sein, und mit den ge­ wöhnlichen Buchstaben in der Schrift darzustellen; 5. einen Begriffbezeichnen, wofür es bis jetzt kein Schriftwort gab; 6. zu keiner falschen Nebendeutung verleiten; 7. Weiterbildsamkeit besitzen; 8. kein schwer zusammengefügtes Angst-, Not-und Spielwort sein; 9. ein schlechteres Schriftwort schriftwürdiger ersetzen. Dies sind die ersten Prüfregeln der Schriftwürdigkeit gausässiger Wörter". Will man nicht bei einem oberflächlichen Eindrücke, bei un­ vollständigen Berührungen des Herzens stehen bleiben, so muß, sogar um die Erlernung ftemder Sprachen, geschweige der eigenen, auf die deutliche Einsicht des einzelnen Wortes alle Aufmerksam­ keit gerichtet werden. Wenn mir aber das Mittel dieses Verständigens, dieses deutlichen Bewußtseins in der vermittelnden Mutter­ sprache fehlt, wie kann es anders kommen, als daß aus dieser Un-

sicherheit in der Muttersprache, womit man an die Unbekanntschaft der Fremden geht, ein wunderbares Gemisch von Wort und Empfindung daraus entstehen? — Dieser Wirrwarr des Da­ fürhalten, Halbwissen und Meinen erzeugt sich vorzüglich durch das zu ftühe Lernen fremder Sprachen; denn da die Sprache in der innigsten Verbindung mit unserm Bewußtsein sieht, so streut gerade dieses Dafürhalten, Halbwissen und Meinen die Körner später sich entwickelnder Unselbständigkeit aus, die von der Zeit ge­ nährt, die verderblichsten Früchte für das geistige Dasein tragen müssen. Ohne Begründung in der Muttersprache, ohne Haltung in Wort und Gedanke, verfällt so mancherlei Kind in die Unbe­ stimmtheit des Wortes u n d des Bewußtseins. Jenen genauen Zusammenhang zwischen Wort und Geist hat noch niemand ausgemittelt und das Band ist nicht angegeben, wo der Geist sich zum Wort verkörpert oder das Wort sich vergeistigt zum Gedanken ? — Der Unterricht in modernen Sprachen wird überdies gewöhnlich zu frühe angefangen, und nur auf scheinbarem Grunde beruht dessen Verteidigung. Wenn die Anschauung zur Muttersprache not­ wendig und ohne diese gar nicht denkbar ist, so ist sie bei der Er­ lernung einer ftemden Sprache um nichts weniger als zuvor not­ wendig; nur vertritt alsdann die Stelle der Anschauung die Mutter­ sprache, in welche die Anschauungen niedergelegt sind. Wenn ich mit einem deutschen Kinde vom „Walde" rede, wird es mich ver­ stehen, ohne daß ich ihm die Anschauung zu zeigen brauche; in seiner Erinnerung ist die Anschauung des Waldes mit dem Worte selbst zugleich aufbehalten worden. Durch das ihm deutliche Wort „Wald" wird auch »silva« mit seiner Anschauung vom Walde verbunden. Alle jene Eigenschaften, welche Anschauungen mit dem Worte „Wald" verbunden haben, tragen sich nun auch auf »8 i i v a« über. Sind nun falsche Eigenschaften mit dem Worte „Wald" verbunden, so wird auch die Bedeutung des Wortes »S i l v a« sehr getrübt, unvollständig oder irrig sein. Gewöhnlich gibt man aber als Grund dieses frühen Erlernens an: „Man müsse mit der Erlernung fremder Sprachen darum so

eilen und so frühe als möglich nur anfangen, weil gerade das tariere Alter die für die Erlernung ftemder Sprachen so notwendige Stärke des Gedächtnisses habe, welche in späterem Alter sich nie mehr so wirksam vorfinde." Dieses selbst zugegeben, so folgt hieraus ein so frühes Erlernen fremder Sprachen noch nicht, vielmehr hat die Natur dem frühern Alter zur Erlernung seiner eigenen Sprache diese größere Stärke des Gedächtnisses gegeben. Ueberdies wird durch den Gebrauch das Gedächtnis so geschärft und gestärkt, daß ein späterer Unterricht darin für keine Versäumnis der Zeit angesehen werden kann. Das Gedächtnis kann dazu durch die Kunst so gehoben werden, daß diese geübte Kraft um so leichter die Schwierigkeit der fremden Sprache überwinden kann. Bei Be­ folgung dieses Ganges ist die Muttersprache ein Mittel zu einer gründ!icheren und noch schnelleren Erlernung ftemder Sprachen. Wenn jede Sprache ihre eigentümliche Denk- und Aeußerungs­ weise hat — so geht, bei Uebereilung, vors erste in der Mutter­ sprache, und dann selber in der fremden, dieser originelle Stempel verloren. Durch den Verlust der Eigentümlichkeit der Sprache geht meisiensteils auch der eigentliche Geist des Volkes verloren, wie dies der Fall an den Orten zu sein pflegt, wo die Scheidungslinien zweier Sprachen sind, in welchen meistens Leute angetroffen werden, die weder zu dieser Nation, noch zu jener gehören. Doch — der Schein eines frühen Papageiens in einer fremden Sprache betört den Eltern das Herz in der richtigen Beurteilung dieses Gegenstandes, und die geschmeichelte Eitelkeit verkleistert ihnen auch dann die Schäden dieses Scheinvorteils, wenn sie wie ein Krebs um sich fressen. — Eile mit Weile! wäre daher jedem Lehrer aus Gründen zuzurufen, die in der Sache selbst liegen und die in Berücksichtigung der Menschennatur darum vor jedem andern Grunde den Vorzug verdienen. Parallel mit dem Sinn und der Bedeutung einzelner Wörter, wobei wir auf die Synonymen insbesonders aufmerksam machten, lauft die Darstellung derselben durch Zeichen. Die Orthographie hat drei Quellen:

1. der Ton, 2. die Abstammung, z. der Gebrauch. Zwischen abgeleiteten und Wurzelsprachen findet in Rücksicht der sinnlichen Darstellung des Tones ein sehr großer Unterschied statt. Bei denjenigen Sprachen, welche ohne Vermischung mit einer andern von jeher geflossen sind, ist das Hauptgesetz: „Schreibe wie du sprichst." Die abgeleiteten hingegen haben sich wäh­ rend einer langen Zeit von den ursprünglichen Tönen entfernt und oft gleichsam nur zum Andenken an die mütterliche Wurzel in der Orthographie noch einige Buchstaben beibehalten, die selten mit dem Ohr vernommen oder anders ausgesprochen werden. Es setzt demnach die Orthographie die Kenntnis einer fremden Sprache voraus — während eine originelle Sprache nur zu eigenen, ihr leicht verständlichen Wurzeln zurückgehen muß. Da­ durch aber, daß abgeleitete Sprachen ihre Orthographie auf unver­ standene Wurzeln bauen müssen, ist auch dieselbe bei weitem nicht so geistbildend. Ein Kind, welches eine Ursprache spricht, wird durch die Erlernung der Orthographie in eine immer tiefere, gründlichere Kenntnis der Muttersprache eingeführt. Weil nun diese abgeleiteten Sprachen ihren eigentlichen Sinn und ihre Orthographie vorzüglich aus der alten Sprache schöpfen müssen, so ergibt sich hieraus, daß die Erforschung dieser Quellen für diese Völker aus zweifachem Grunde unerläßlich sei: e i n m a l wegen der Muttersprache an sich, und vors zweite wegen der Muttersprache, die im Grunde nur in der alten erkannt werden kann. Cs würden sich daher unter ihnen immer einige dafür ent­ scheiden müssen: die neue Sprache des Volkes mit der alten Wurzel in Verbindung zu erhalten. Zwischen denen, welche eine solche Kenntnis ihrer Sprache besitzen, und dem bei der bloßen Muttersprache stehengebliebenen, ungebildeten, gemeinen Manne ergibt sich hieraus eine große Kluft, die sich um so mehr auftut, je mehr e i n Teil des Volkes bei der jetzigen Gestalt der Sprache stehen bleibt und der andere in das Altertum und seine

Aeußerungen auf die neuere Gestalt e i n d r i n g t. Der Gebildete wird durch die Kenntnis der alten Sprache unendlich über den gemeinen Mann erhoben, der sogar seine eigene Sprache nicht gründe lich verstehen kann. Eine solche scharfe Trennung zwischen Gebil­ deten und Ungebildeten fällt bei einer originalen Sprache weg; denn zum Verständnis derselben bedarf es keiner gelehrten For­ schungen: man versteht sie, weil sie Muttersprache ist. Ohne in diese Sache mehr einzugehen, komme ich auf den Ge­ brauch, welcher teils gegen den allgemeinen Grundsatz: „Schreib wie du sprichst", teils gegen die Ableitung und Abstammung uns schreiben lehret. Ich schränke mich hiebei auf die spezielle Schwierigkeit ein, welche die ähnlich- oder gleichlautenden Wörter (Homonyma) zu machen pflegen. Eine Buchstabenerklärung der ton­ verwandten Wörter: Ahl, Aal, all, alle. All reicht gewöhnlich nur auf sehr schwerfällige Art aus. Gäbe man aber diese Worte in a nsch a u l i ch e n Sätzen, die dazu eines wahren Inhaltes wären, so erhielte dieser Unterricht davon, wie ich aus Erfahrung rede, eine gewisse Lebendigkeit, die das Kind freudig anspricht, und zur Fesihaltung der Schreibart mehr beiträgt, als eine genaue Buchstabenherzählung. Die vorhin genannten tonähnelnden Wörter könnten ungefähr in tiefen Sätzen gegeben werden: „Das Glück ist schlüpftig wie ein Aal"; „Mit der Ahle durchsticht der Schuster das Leder"; „Das Gefüge der ganzen Welt heißt das All"; „Alle Menschen müssen sterben"; „Es ist a l l". Diese Beispiele schrieb ich an eine schwarze Tafel, erklärte sie und ließ sie bald von einem einzelnen, bald von mehreren Kindern zu­ gleich aussprechen. Wenn sie verstanden waren, schrieben sie die­ selben in ein orthographisches Heft, damit sie nachschlagen könnten; falls die Gestalt des Wortes sich verloren hätte. Auf die Schie­ fertafel machten sie dann eigene Versuche hierüber usw.1). Zur Be1) Eine vollständige alphabetische Sammlung dieser Wörter habe ich beinahe

deutung und dem Sinne der einzelnen Worte gehört noch insbe­ sondere der Sprachgebrauch. Die Kenntnis einzelner Worte begründet allerdings das Verständnis der Sprache, nur muß, um dieses zu vollenden, noch die Sorge für den Sprachgebrauch in den Redeteilen, Zusammensetzungen usw. hinzukommen. Ein Kind muß daher nicht nur sicher wissen, was z. B. „Beifall" heiße, sondern auch, daß man sage: „würdig des Beifalls". Dieser Sprachgebrauch wird schon durch tausendfältige Wieder­ holungen zu Hause und auf der Gasse zu einiger Fertigkeit gebracht; die Schule muß das Bewußtsein des Zöglings hierüber aufhellen d. h. ihm einSprachgewissen einbilden, aber ohne die Form unserer jetzigen Grammatiken, die nicht für diesen Zweck ein­ gerichtet sind. Man darf hiebei entweder nach Sinn Verwandt­ schaften oder Ton Verwandtschaften Reihenfolgen aufstellen, nur muß der Gebrauch der Muttersprache wieder durch den Gebrauch und nicht durch ein weitläufiges Reden vom und über den Gebrauch eingeübt werden. Die Menge tatsächlicher, den Sprachgebrauch bestimmender Fälle und Erfahrungen erwecken auch den Trieb, sich aus der gereichten Uebersicht gesamter Fälle das Gemeinsame dieses Gebrauches, das Gesetz und die R e g e l abzuziehen. Deswegen bestehe dieser Unterricht nicht in Regeln, sondern in Beispielen, die zur Regel führen. Diese Beispiele werden diese Ab­ sicht erreichen, wenn man sie 1. so ordnet, daß mit den leichtesten grammatischen und syntak­ tischen Formen angefangen wird, 2. daß ähnliche Fälle zu gemeinsamer Uebersicht zusammen gestellt werden. Bei einer methodischen Bearbeitung dieses Gegenstandes wird das Feld der gesamten Sprache durchschritten und dem Lehrling auf diese Weise habituell gemacht; dieses Kennen der Sprache ist mit andern Worten nichts anders, als was man sonst unter einem zu Ende gebracht; für Ausländer werde ich fle, noch insbesonders, durch eine getreue gegenüberstehende Uebersetzung brauchbarer zu machen suchen. In zwei­ felhaften Fällen wäre sich durch Nachschlagen gleich Rats zu erholen. Anm. Roths.

grammatischen Unterrichte versteht, mit Auslassung alles dessen, was zur Sprachwissenschaft (Ars grammatica) gehört und mit dem besonderen Unterschied, daß man die grammatischen Formen nicht in Regeln, sondern lebendigen Uebungen und Reihenfolgen vor­ führe. Zugleich gehören diese Uebungen, in Rücksicht der Zeit und der Erlernung, einmal vor die Ars grammatica, und dann, eben dieserwegen, auch vor den Unterricht in jeder ftemden Sprache.

Anhang zu Kapitel 6 (In der Handschrift Gr. u. A. befindet sich ohne Verbindung mit dem übrigen Text, aber unter Hinweis auf das obige Kapitel die hier folgende, in Th. d. Spr. nicht enthaltene Auseinandersetzung Roth's mit Pestalozzis „Buch der Mütter oder Anleitung für Mütter ihre Kinder bemerken und zu reden lehren." i. Heft. Zürich und Bern und in Tübingen, 1803) Ueber das Buch der Mütter, oder: Idee eines Elementarbuches der Sprache In diesem Buche sind drei Dinge zu beurteilen: 1. Die allgemeine Ansicht eines Elementarunterrichtes in der Sprache. 2. Der Stoff, der zum Grund dieses Sprachunterrichts gelegt worden ist. 3. Die Art und Weise, wie er ihn behandelt hat. Ehe wir die Art und Weise, wie Pestalozzi seinen Stoff in seinem Elementarbuch bearbeitet habe, prüfen und ehe wir untersuchen, inwieweit diese Arbeit gelungen oder verunglückt sei, wollen wir bevor dasjenige aufsuchen, was er vorgehabt und sich zum Ziele gesteckt habe und welches Mittel von ihm zur Erreichung dieses Zieles angewandt worden sei. Seine Ansicht vom Elementarunter­ richte in Sprachen habe ich im allgemeinen teils mit seinen eigenen Worten, teils mit denen seiner Schule zu entwickeln gesucht. Was er noch Besonderes in bezug auf das Buch der Mütter sagt, werden wir am besten von ihm selbst hören. Ich entlehne also teils aus seiner Vorrede, teils aus dem Werke selbst diejenigen Stellen, die zur Erheiterung dieses Gegenstandes dienen werden.

Aus der Vorrede: Die Natur, oder vielmehr ihr ewiger Schöpfer Gott, hat die ersten Entwicklungen der Anlagen des Menschen ju einem vernünftigert und beruhigten Dasein — die Entwicklung der Anlagen zum Bemerken und R e d e n an die erste S o r g f a l t der Mütter für ihr Kind und an Gegenstände gekettet, die mit dieser Sorgfalt innig verwoben, schon von Geburt des Kindes an, seine Sinne vorzüglich berühren und reizen. Und Mütter! Das Buch, das ich euch in die Hände gebe, sucht nichts anders, als euch auf diesem Wege, den Gottes Vorsehung zur ersten Entwicklung der Anlagen eurer Kinder euch also selbst vorzeichnet, zu erhalten und euch durch Befolgung desselben in den Stand zu stellen, die Kraft eurer Kinder zum Bemerken und Reden auf die einfachste, leichteste, und mit den Bedürfnissen der intellektuel­ len und sittlichen Bildung am meisten übereinstimmende Art in ihnen zu entwickeln. Und da nicht äußere Gegenstände, die das Kind sieht und hört, sondern e s se l b st, cs selbst, indem es sich selbst fühlt, e s se l b st, indem es sich in der ganzen Unbehülflichkeit seines ersten Daseins fühlt, e s s e l b st, indem es sich als den Vorwurf der mütterlichen Besorgung und Liebe in dieser Unbehüflichkeit fühlt, selbst der e r st e Vorwurf seines Bewußtseins und seines Bemerkens ist; so fängt mein Buch seine Anleitung, die Kräfte des Kindes zum Be­ merken und Reden zu entwickeln, auch mit dem ins Augefassen seinerselbst — seines Körpers an. — Es ist indessen gar nicht der Fall, daß die Mutter beim Unterrichte zum Bemerken und Reden sich einseitig und ununterbrochen mit dem Kinde am mensch­ lichen Körper so lange aufhalten müßte, bis sie alle diese Uebungen mit ihm durchlaufen und vollendet hat; im Gegenteil muß sie am Faden dieser Wegweisung lernen, den ganzen Kreis der Gegenstände, die die Sinne des Kindes nahe berühren, nach eben diesen Gesichtspunkten ins Auge zu fassen, um allemal nach der Vollendung einer Uebung mit dem menschlichen Körper andere solche Gegenstände, bestimmt in dem Gesichtspunkte

dieser Uebungen, in die Reihenfolgen dieser Uebungen einzu schieben und mit dem Kinde ju behandeln. Mutter, du mußt am Faden der Methode oder am Faden meines Buches lernen, aus dem Meere der Sinneneindrücke, in dem dein unbehülfliches Kind schwimmt, wenige, aber für die Bildung des­ selben wesentliche Gegenstände ausheben; aber dann ist unum­ gänglich notwendig, und Mutter! laß es als das unnachlässigsie Bedingnis der Methode gesagt sein, du mußt bei den Uebungen des Bemerkens und des Redens über jeden derselben nach dem ganzen Umfange dieses Buches unermüdet und standhaft ver­ weilen, bis dein Kind den Gegenstand und seine Teile nach dem Gesichtspuntte einer jeden Uebung vollkommen und richtig ins Auge gefaßt, und sich über denselben nicht nur mit genauer Be­ stimmtheit, sondern mit unbedingter Geläufigkeit ausdrücken ge­ lernt hat. — Auch ist das Buch der Mütter gar nicht als ein Lehr­ buch anzusehen, welches in die Hände der Kinder gehört — es gehört ausschließlich in die Hände der Mutter, sie muß das Kind am Faden desselben bemerken und reden lehren. — DieGegen stände, die sie ihm, indem sie ihm selbige lehret und mit ihm darüber redet, ansehen macht (zeigt), sind das eigentliche Buch der Kinder. Diese müssen im Bemerken und Reden sehr wohl geübt sein, ehe es vernünftig ist, sie von der lebendigen Anschauung der Sachen selbst zu den toten Anschauungsformen ihrer gedruckten und geschriebenen Worte hinübergehen zu machen. . . . Man hat dem Buch für Mütter einen Fehlgriff in Rücksicht der gewählten Objekte vorgeworfen, da man gegen Pestalozzi behauptet, der Körper des Kindes sei nicht das Ursprüngliche, von dem seine Erkenntnis ausgehe, und diese Ansicht ist von der pädagogischen Ge­ meinde (Publikum) um so williger aufgenommen worden, je mehr man sich hier auf den beliebten Satz berief: Das Ich erkennt sich nur im Du. Seitdem durch öffentliche Blätter diese Privatansicht bekannt geworden war, so hörte man von einem Ende zum andern dieses ii

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Urteil sich wiederholen. Menschen, die das Buch nie in Händen ge­ habt, die sich auch nie die Mühe genommen, teils über die Idee eines Sprachelementarbuchs nachzudenken, teils diesen Versuch in den Zusammenhang mit der Methode zu bringen und ihr zu ver­ gleichen, wußten über dieses Buch wenigstens das von den Re­ zensenten ausgesprochene Urteil geläufig zu wiederholen und mit einer solchen Zuversicht zu verdammen, daß Pestalozzi . . . ein­ gestand, daß er sich damals getäuscht und nun eines andern Sinnes worden sei. Da er dazu während dieses üblen Geredes einmal die Worte fallen ließ, daß der Gedanke ursprünglich nicht ihm zugehöre und das Buch von ihm weder entworfen, noch aus­ geführt worden sei, so mußte das ganze Ansehen desselben bei den Blicken der Menge sinken. Der Gebrauch dieses Buches wurde in seiner Schule eingestellt und die .. Fremden, die immer frei Zu­ tritt hatten, waren meistens nur solcher Art, daß sie mehr Kritiken über Bücher als die Bücher selbst gelesen halten, packten gleich bei Eintritt ihres Besuches ihre Wissenschaft aus und bestärkten ihn noch mehr darin. Der häufige Lehrerwechsel, der das Institut schon etliche Male an den Rand des Verderbens gebracht hatte, kam dazu, daß die Lehrer, welche länger blieben, nicht den Unter­ richt der Muttersprache zu geben hatten, und die andern, welche ihn auch auf kürzere Zeit gaben, waren teils mit anderen Gegen­ ständen überhäuft, teils um die Methode des mathematischen Studiums mehr besorgt. Die Trennung zweier seiner ältesten Lehrer von Pestalozzi, Herrn Dr. Mederers und Herrn Krüsis, wovon der erstere vorzüglich auf die Ausführung dieses Gedankens gedrungen, und der andere sie vollführt hatte, verschlimmerten die Sache noch mehr. Denn aus Ergebenheit zu Schmid, um dessentwillen sich Pestalozzi von diesen beiden getrennt hatte, nahmen auch die an­ deren Lehrer, wenn die auch der Streit nichts anging, gegen Herrn Niederer und Krüsi Partei, und Schmid sah es nicht ungerne, wenn sich allmählich die Anordnungen verloren, welche seine gehässigen Nebenbuhler eingeführt hatten. So verschwand nicht nur das Buch der Mütter aus dem Gebrauche, sondern auch das Andenken daran

verlor sich durch ein absichtliches Stillschweigen in rühmloser Ver­ gessenheit. Wie wenn Pestalozzi das Schicksal dieses Buches vor­ hergesehen, äußerte er sich in der Vorrede dazu also: „Es ist unausweichlich, auch die Formen meiner Methode werden dem Schicksal aller Formen unterliegen/wenn sie Men­ schen in die Hände fallen, die ihren Geist nicht ahnen und nicht suchen; es ist unausweichlich, wenn sie Menschen in die Hände fallen, die ihren Geist nicht ahnen und nicht suchen, so wird ihre Wirkung in den Händen dieser Menschen sich verlieren — sie werden in diesem Falle unbedingt tot lassen, was Tote an ihren eigenen Tod an­ kleben." Die Einwürfe aber, die man diesem Buche und seiner Anwen­ dung in der Schule machte, lassen sich auf zwei zurückführen. Einmal bestritt man den dem Buche zugrunde liegenden Satz, daß das Sprechen des Kindes mit der Kenntnis seines Körpers anfangen müsse, und dann tadelte man besonders die fehlerhafte Ausführung dieses Gedankens in dem Buche. Der erste Einwurf, den man dem Buche in der Absicht des gewählten Objektes machte (des mensch­ lichen Körpers) stützte sich auf folgendes: 1. Das Ich erkenne sich nur im Du und 2. das Kind könne nicht einmal alle Teile seines Körpers sehen z. B. den Rücken. — So sieht es ihn bei andern. z. wären auch Teile am Körper, die die Schamhaftigkeit zu nennen verbiete. Der erste Grund des ersten Einwurfs beruht auf einem merk­ würdigen Irrtum; denn an sich heißt er: das Subjekt erkennt sich nur am Objekt, welches vollkommen wahr ist. Daraus folgt ja aber nicht, daß der Körper nicht Objekt sein könne, vielmehr ist ja bekannt, daß selbst das Subjekt sich zum Gegenstand seiner Reflexio­ nen machen kann, also Objekt wird; doch ohne uns auf das unftuchtbare Feld der Dialektik zu machen, stellen wir vielmehr Gegenstände auf und zwar: Alle Erkenntnis ist ursprünglich eine sinnliche. Darum aber, weil sie ursprünglich ist, muß der Unterricht damit anfangen. Aus dem 8*

Meere der Sinneneindrücke, die dem Kinde jusirömen, fallen nun diejenigen in den ersten Sprachunterricht, die das Kind am häufigsten umgeben. In ein allgemeines Sprachelementarbuch gehören vorzüglich diejenigen, die in den allgemeinen Anschauungskreis aller Kinder gehören. Eine Anschauung für das Kind des Bettlers wie des Königs ist der menschliche Leib. Alle andern Ge­ genstände, die hier fehlen und dort vorhanden sind, also weniger allgemein und brauchbar sind, stehen kein einziger mit dem mensch­ lichen Körper nicht in Verbindung. [?] So ist also der menschliche Körper der Mittelpunkt, worauf das Kind die Welt in sein Bewußtsein bringt. So hat also Pestalozzi Recht, wenn er behauptet, alle Erkennt­ nis des Kindes ginge von ihm aus, d. h. sein Leib ist das Medium, wodurch es Eindrücke erhält und wieder macht. Sein Buch teilt sich daher auch i. in die Kenntnis bloß der Glie­ der, 2. ihrer Verrichtungen und somit umfaßt er nicht nur die Kenntnis aller der Werkzeuge, durch die sich dem Menschen die Welt offenbaret, sondern er tritt auch dadurch in die geistige Welt ein, über die wir uns durch Uebertragung sinnlicher Bilder auf das Uebersinnliche ausdrücken können. Da aber durch die genaue Ver­ bindung der Kenntnis der Sache mit der Kenntnis des dafür ge­ brauchten Ausdrucks die eigentliche für die geistige Entwicklung des Menschen unentbehrliche Anschauung gegeben ist, so ist die Anwei­ sung zur Erlangung dieser (innern und äußern) Anschauung ein wahrhaftiges Mittel zur ernstlichen Entfaltung.

7. Kap. Folge der alten Sprachen

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7. Folge der alten Sprachen*) Da das barbarische Europa seine Bildung aus den Händen der Römer empfing, hing sich die damalige Welt mit großer Vor­ liebe auch an ihre Sprache. Innerhalb eines großen Zeitraumes stand die griechische Sprache zurückgesetzt da und gedieh nur küm­ merlich im Schatten der römischen. Aeußerte sie zwar als Wurzel der lateinischen fortwährend einen großen, wenn auch nicht stark be­ merkten, Einfluß auf diese — so gelang es ihr doch nie sich über Stadt und Land zu verbreiten, wie die römische, die unter dem Schutze siegreicher Adler von einem Volk zum andern getragen wurde. Das römische Reich umfaßte Meere und Länder, wovon die Siebenhügelstadt der Mittelpunkt war. Und Rom, weit entfernt, Völkern um bloße Anlehnung fremder Teile das Joch auf1) Abgedruckt aus Th. d. Spr. In Gr. u. A. lautete der Titel „Gang und Folge der alten Sprachen", dazu das Datum: Kleinschelken, den 10. Dezember 1820. In Gr. lautete der Titel „Ueber die Folge, in der alte Sprachen gegeben werden sollten, oder Untersuchung über Wurzelsprache und den Entwicklungsgang der gesamten Menschheit, inwieweit dieser in der Sprache sichtbar ist." Die Stelle daraus über den „Geist des griechischen Altertums" (s. S. 127) ist datiert: Grandson, den 8. November 1819. Die französische Übersetzung trägt den Titel Maniere d'enseigner les langues anciennes fondee sur des moyens qui offrent un caractere plus releve et mieux adapte ä la nature de l'humanite ä Vage de l’eleve et ä la suite respective de cet enseignement. Sie ist in drei Fas­

sungen vorhanden. Die erste schrieb zum Teil ein Unbekannter, zum Teil Wägeli, die zweite Winternitz, die dritte der Musiklehrer Demangeot. Die englische Uebersetzung des Fräulein Sepherd trägt keinen Titel, sie ist in zwei Abschriften er­ halten.

zulegen—bemühte sich vielmehr, die besonderen Eigentümlich­ keiten der unterjochten Völker aufzulösen und unter einen allgemeinen Charakter zu bringen. Daher bemühte es sich mit allem Fleiß, auf allen Wegen, die der Lust und Gewalt eines Eroberers zu Gebote stehen, jede fremde Nationalität zu schwächen, und wo sie Widerstand fanden, zu zerstören. Die Nationalgötter der Fremden kamen als Gefangene mit nach Rom und ihnen wurde innert den Mauern des Siegers ein Haus zur Verehrung gebauet, während die siegenden Götter in das Land der Besiegten zogen. Ueberdies bemühte man sich noch die Landessprache auszureuten und der eitle Unterjochte nahm willig die Sprache seines Ueberwinders an. Daher findet man überall, wo römische Legio­ nen standen, Spuren auch von ihrer Sprache. Selbst als der große Bau durch die Gärung dieser fremdartigen Teile in Trümmer zerfiel und die Völkerwanderung sie mit ihren 100 Füßen zertrat, lebte noch ein großer Teil ihrer Sprache im Munde der Welt. Früher noch kam hinzu, daß sich durch die Eroberung von Kon­ stantinopel das Ansehn des römischen Erzbischofs sehr ge­ hoben, während, eben dadurch, das Ansehen des griechischen P a t r i a r ch e n sank. Die Sprache des römischen Bischofs verbreitete sich dadurch auch am meisten, weil er in der Zeit für den größten Lehnherrn galt. Zunächst zwar breitete sich dasjenige Dogma aus, welches Rom bekannte; da sich aber alle philosophische Unter­ suchungen, die lange Periode der Scholastik hindurch, am meisten um Kirchensachen herumdrehten, so ward ihre lateinische Sprache auch schon dadurch aus der Kirchensprache die Sprache der gelehrten Welt. Jahrhunderte hindurch war sie in Ausübung und beinahe ohne Nebenbuhlerin. An Umfang, an Ausdehnung, an D a u e r der Ausübung wird ihr schwerlich jemals ein anderer Un­ terrichtsgegenstand den Rang streitig machen können. Die euro­ päische Menschheit trägt noch jetzt die Farbe der römischen; und allen unsern politischen, kirchlichen und bürgerlichen Angelegen­ heiten ist ihr Stempel aufgedrückt.

7. Kap. Folge der alten Sprachen

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Der damaligen Welt aber stand der Eintritt ins Heiligtum der Kunst und Wissenschaft beinahe allein durch die Sprache der Römer offen. Was Wunder daher, daß in der darauf erfolgenden Grabesstille der wieder eintretenden Barbarei alle mögliche Sorg­ falt auf ihre Erlernung verwendet wurde. Da man die lateinische Sprache als beinahe ausschließendes Bildungsmittel zur Humanität (ftüher mehr Urbanität im Gegen­ satz gegen Barbarei) anerkannte, so verwendete der menschliche Geist auch allen Scharfsinn auf die Vervielfältigung ihrer Nutzbarkeit. Dazu kam noch, daß die Sprachen der übrigen Völker unbehilflich und noch weit zurück waren, weswegen man diese sogar zum Dol­ metscher der griechischen benutzte, die neben jener nur in einem sehr kleinen Kreise fortlebte. Europa wußte auch diese Römer­ sprache, wie sein edles Renntier der Lappländer, zu allem zu ge­ brauchen, und benutzte an ihr alles mit einer solchen Häuslichkeit, daß allerdings die damaligen Forderungen der Zeit befriedigt werden konnten. S i e hielt damals in ihren Händen die Schlüssel zur Theologie, Philosophie und selbst zur genauesten Erlernung der Muttersprache. Jetzt aber ist, was eigentliches Denken anbelangt, darüber nur e i n e Stimme, daß nämlich: nur in der Muttersprache ein eige­ nes lebendiges Denken möglich sei; da hingegen ftüher, wo der Unterricht in den höher» Fächern in der lateinischen Sprache gegeben wurde, der geistige Gegenstand mehr aufgenommen, als zum Bestandteil gemacht werden konnte. Solange es nämlich nur eine lateinische Philosophie gab, so mußte die Menschheit, vermöge dem Aufleben dieser Sprache, auf der erreich­ ten Höhe stille stehen. Auf dem toten Stamme wollte kein frisches Reis lebendiger Erkenntnis mehr grünen, wie es denn seither, auf dem eigenen Stamme, wirklich gegrünt hat. Diese Ketten aber, in denen die deutsche Sprache, besonders durch den ausschließenden Gebrauch der lateinischen Sprache, lag, im Gottesdienst usw., spr-ngte die Uebersetzung der Bibel in die Muttersprache und der dadurch eingeleitete Gottesdienst in deutscher Sprache.

Das Volk konnte nun mit sich selbst denken; und was bisher tot geklungen und ohne Rührung am Gemüte vorbeigezogen hatte, wurde nun im Innern verstanden und aufgenommen. Die Entwickelung der Begriffe fiel, als angestammtes Recht, der Muttersprache zu. Eine sicher begründete Erklärung der Alten für uns wurde beinahe auch nur durch die eindringende Vervollkomm­ nung und gründliche Kenntnis der Muttersprache möglich. Daher machte auch seit der Reformation, die uns eine Muttersprache im edleren Sinne des Wortes gab, auch das Verständnis der alten Sprachen Riesenschritte; der Geist ist hervorgetreten, wie nie zuvor. Auch mußte es notwendig so sein,weil der Dolmetscher beide Sprachen verstehen muß, und wo dies, bei Erlernung der Sprachen, der Fall nicht ist, da treten sicherlich Mißverständnisse ein. Freilich erstarb hiedurch die lateinische Sprache als Umgangssprache; aber grade dadurch, daß sie recht eigentlich zu einer toten wurde, ist sie für uns lebendig geworden. Diese Reformation führte es herbei, daß man sich, durch die Verwerfung aller menschlichen Autorität in göttlichen Dingen und durch die Berufung auf die Offenbarung Gottes allein, nun auf die Erforschung der Quellen mit unermüdetem Eifer legte, worin diese Offenbarungen enthalten waren, nämlich auf die grie­ chische und hebräische Sprache. Weil aber in der griechischen Sprache außer dem Neuen Testament noch andere Muster enthalten waren, ist es diesem zuzuschreiben, daß sie den Rang vor der hebräischen erhielt. Vordem waren, kann man sagen, alle Künste und Wissenschaften vereint und ruhten im Schoße der mütterlichen Religion; unentfalten, wie in einer Eichel die Keime zum hohen vieläsiigen Baum. Sie waren eins. Als aber dieser Krieg wegen Glaubens- und Vernunftfteiheit anging, brannte es auch in allen Ecken und Enden. Die Entscheidung und der Ausgang dieser Angelegenheit der Menschen war, eben wegen dieser damals noch obwaltenden Vere i n i g u n g der Künste und Wissenschaften, auch die Sache aller geworden. Selbst die ultramontanische Partei mußte die grie-

chische und hebräische Sprache studieren, um, wenngleich ungern, doch gezwungen, auf dem Kampfplatze erscheinen zu können, wo allein diese Sache entschieden werden konnte. Hiedurch wurde das Studium der griechischen und hebräischen Sprache immer herrschender und allgemeiner und der enge Kreis damaliger Sprachkenntnisse dehnte sich gewissermaßen von der Zelle des Augustiners in Wittenberg über die ganze Erde aus, und seine nächtliche Kerze, wo er auf Hunger und Durst ver­ gessend an der Bibelübersetzung arbeitete, ist zum Licht für einen großen Teil der Erde geworden. Aus diesen nur flüchtigen Ueberblicken wird es sich nun erklären lassen, wie es gekommen sei, daß in früherer Zeit beinahe nur die lateinische Sprache in den Schulen aufgenommen gewesen, und daß dann in der Folge, wegen dem klassischen Altertum neben dem Neuen Testament, die griechische einer häufigeren Erlernung als die hebräische sich zu erfreuen gehabt habe. Da nun der übergetretene Strom der lateinischen Sprache in seine natürlichen Ufer sich etwas zurückgezogen hat und auch die sonstigen Verhältnisse das Studium irgendeiner alten Sprache nicht besonders zu einer N o t machen, der man die übrigen aufopfern sollte, so scheint es an der Zeit zu sein: die Sprachen, wie auch die übrigen Unterrichtsmittel, nicht sowohl dem Gebrauche und Herkommen gemäß, als v i e l m e h r mittels vernünftiger Ueberlegung in eine natürliche Aufeinanderfolge zu bringen. In Bestimmung der Aufeinanderfolge alter, zu erlernender Sprachen kann auf die besondere Brauchbarkeit und Nützl i ch k e i t der einen oder der anderen Sprache, in diesem oder je­ nem Verhältnis, in diesem oder jenem Lande, nicht so sehr gesehen werden, als vielmehr auf die reine Entwicklung der mensch­ lichen Kräfte des, alsdann in alle wahre Verhältnisse passenden, Individuums. Obgleich es bisher, auch bei einem so willkürlichen und zufälligen Gange und einer nur wenig berücksichtigten Folge der Sprachen auf-

einander, nicht an gründlichen und tiefgelehrten Kennern dieser Sprache gefehlt hat, — so glaube ich doch, es sei nicht gleichgültig für das Studium der Sprache sowohl, als für die Entwickelung unserer Seelenkräfte, mit welcher Sprache man anfange und mit welcher man sch l i e ß e. Ich glaube: es müßte sich auch hier ein, der Sprache sowohl, als ein unserer Natur entsprechender Weg auffinden lassen, und diese Folge scheint mir zugunsten der älteren sich entscheiden zu lassen. Mit Bescheidenheit unternehme ich es, diese Ansicht, die hierin dem Urteil mehrerer gelehrter Männer folgt und nur um einen Schritt weiter geht, mit einigen psychologischen, als den wichtigsten. Gründen zu unterstützen; verhehle mir dabei nicht, daß große Schwie­ rigkeiten in den Schulen vorhanden sein, die es nicht zu einer Aus­ führung im großen werden kommen lassen, glaube, daß es sich die reine Pädagogik selbst schuldig sei, auch über den lähmenden Ver­ hältnissen schwebend sich zu erhalten, und sehe in dieser Reihenfolge eine reiche Quelle der Humanität; weshalb ich gerne den Wunsch äußere, es möchte irgend jemand, dem ein glückliches Verhältnis erlaubt, die drei alten Sprachen unabhängig zu erlernen, mit der hebräischen den Anfang machen. i. Der erste Grund für den Anfang mit der ältern Sprache liegt teils in der äußern Entwickelung der Sprache oder ihrer Ableitung von einer vorhergegangenen, rücksichtlich der Töne, und teils in der innern Entwickelung der Sprache oder dem geistigen Einflüsse der ältern auf die neuere und der damit verbundenen Abhängigkeit der jünger» von der ältern. a) Jede abgeleitete Sprache ist eine gewordene, deren Lebens­ keime in der vorgegangenen Wurzelsprache liegen. Es gehen bei dieser Ableitung viele Wörter mit hinüber, die in der abgeleiteten Sprache gewissermaßen nur Töne sind, die, durch die Wurzelsprache erst ihre Bedeutung erhalten. Wenn eine ältere Sprache zum Grunde gelegt wird, so bringt ihre Kenntnis allein schon großes Licht über die abgeleitete jüngere.

Diese Wörter, die aus einer Sprache in die andere übergehen, bilden die natürliche Brücke zum Uebergange zu der andern. Bei der ersten Erlernung einer alten Sprache erscheint diese immer als ganz ab­ abgeschlossen. Lerne ich die hebräische oder griechische zuerst, so erscheint mir diese in sich abgeschlossen und ohne Zusammenhang mit einer andern; es fehlen nämlich die Fäden, wodurch eine Sprache an die andere sich anknüpft. Der erste Unterricht bietet beinahe gleiche Schwierigkeiten in -er Erlernung dar. Die Kenntnis einer Wurzelsprache aber erleichtert mir, wenn ich damit den Anfang gemacht habe, in der Folge die Erlernung der abgeleiteten unge­ mein. Denn die bereits erlernten Wörter sind uns wie alte Freunde und verhelfen uns, wie diese, wieder zu neuen Bekanntschaften. Ohne Kenntnis der griechischen Sprache ist es beinahe nicht mög­ lich, völlige Einsicht in die lateinische zu bekommen. b) Solches erstreckt sich aber nicht nur auf einzelne Worte, Redens­ arten, Wendungen u. dgl., sondern auf Ansichten und Kunstwerke im allgemeinen und besondern. Von den Höhen des Morgenlandes ging alle Bildung aus; nach den Strömungen der Flüsse oder nach den abenteuerlichen Zügen von Helden und Städtegründern kam die Bildung in die Täler herab. In Griechenland fand sie wirtlichen Boden und der Baum menschlicher Kunst und Wissen­ schaft hat nie so schön geblüht, nie so mächtig seine Aeste in die Lüfte bitter freien Bildung ausgestreckt und nie so tief seine Wur­ zeln in das Volksleben gesenkt als hier. Da Griechenland fiel, reifte drüben an der Küste die Frucht. Rom zerstörte die Städte, riß die Hallen der ewigen Götter nieder oder führte diese nach ihren Hügeln. Als das Palladium bürgerlichen Lebens in Griechenland gefallen war, so fanden die Musen im Lande des Siegers eine neue Heimat. Was dort untergegangen, ging hier, nur in veränderter Gestalt, hervor. So knüpfte die Vorsehung immer einen Faden an den andern, damit nie die Erfahrungen des ältern Volkes dem jünger» ver­ loren ginge; damit zu der reichen Erbschaft das junge Geschlecht Neues hinzutue und nicht von vorne wieder anzufangen

gezwungen würde. Ein Volk, welches seine Abkunft in diesem Be­ griffe auffaßte und in sich den Begriff zu weiterer geistiger Zeu­ gung fühlte, setzte sich von jeher die klassischen Werke des frühern Volkes zum Muster vor seine Augen; seine Werke in Kunst und Wissenschaft atmen ganz das Leben jenes ältern Volkes, dessen Geist in ihm gleichsam nur fortlebte. Der Geist der Menschheit war es eigentlich, der in der Sprache des ältern wie in der Sprache des neuern Volkes tätig war, der aber, obgleich ewig derselbe, sich immer nur in andern und andern Gestalten entwickelte und ver­ suchte. Daß dasjenige Volk, welches von einem andern lernet und seine Bildung empfängt, beinahe immer nur eine neue Ausgabe davon ist, beweist nicht nur die Gestalt der jetzigen Welt, sondern es ist dafür auch die frühere römische ein Beleg. Virgilius ist oft wört­ licher Uebersetzer seines großen Vorgängers, da ohnedem das Ganze seinen griechischen Ursprung nicht verleugnet, wie denn solches in einem besondern Werke Ursinus gezeigt hat. Sallustius, wenn gleich ein selbständiger Denker, hat als Schreiber in Sprache und Wendung ganz Thucydides' Art und Weise usw., so wie wir dieses dann selbst in der römischen wieder finden, daß einer den andern nachahmt, wie z. B. Vellejus Paterculus genannten Sallustius *). i) Folgender lat. Abschnitt muß hinauf angezogen werden: Scilicet Romani litterarum lumen a Graecis acceperant; sermonem suum ad Graeca expolierant et locupleterant [sic]; ex Graecis primi poetae fabulas, mox et epica carmina, converterant. (Ita Cn. Matius Iliadem [unde Fragm. apud Scalig. ad Varronem de LL. 81. pag. 149.] Varro Atacinus Argonautica.) ad Graeca exempla se composuerunt ac, qui primi elegantia et venustati orationis studuerant; (Graeca expressit in epicis Catullus. Hoc idem fecerat C. Helvius Cinna in Smyrna sua, Augustei autem aevi memorantur multi, qui epe ex Graecis fabulis composuerant. conf. Ovid. Epp. ex Ponto. IV. 16). Perlustret mihi aliquis veterum poetarum ante Virgilium fragmenta, inprimis Ennii, pleraque ex graeco aliquo poeta aut latino expressa aut imitatione adumbrata videbit. Etiam Plautus ac Terrentius toti fere ex Graecis vel ad Graecos comparati et constituti sunt. Ad Graeca prorsus ingenia se composuere Ro­ mani; in Graecis pueritiam et adolescentiam consumebant. Ex multis scripto-

Die Erlernung der ftüheren Sprache gewährt daher eine große Erleichterung der nachfolgenden; und begründet — ja — macht erst das rechte Verständnis der abgeleiteten im Zusammenhange mit der Wurzel und hinwieder in Verbindung mit der Eigentümlich­ keit des eigenen Lebens möglich, daher auch mit Erfolg eine frü­ here Sprache früher gelernt werden könnte. 2. Der zweite Grund, warum mit der älteren Sprache ange­ fangen werden sollte, liegt inderUebereinstimmungdes Entwickelungsganges des Geistes mitdemgeisiigen Entwickelungsgänge der Menschheit. Es sind die innern Gründe, die auf der Geschichte des Menschen­ geschlechtes und der geistigen Geschichte unserer selbst beruhen. Das Menschengeschlecht hat in seiner Geschichte einen gewissen psychologischen Weg seiner Bildung durchlaufen, wie ihn der ein­ zelne Mensch noch jetzt durchläuft. Wie dieser durch die Periode der Kindheit, der Jugend und des Mannes geht, so hat auch die Menschheit in der UnschuldderKindheit, in der Schön­ heit der jugendlichen Begeisterung und in der Kraft und Selbständigkeit eines in sich vollendeten Mannes gelebt. Die Wiege der Menschheit ist daher auch am besten die Wiege des Individuums. a) Am Morgen der Schöpfung sieht in der Unschuld des kindlichen rum, inprimis Ciceronis locis notier res est, quam ut plura de ea monenda sint. Itaque etsi exculto jam sermone Romano, et plunbus Romanorum ingemorum setibus (sic! — segetibus?) in pubheam lucem eductis, tarnen ne sub Augusto quidem destiterunt summi viri Graeca exprimere latino, cum Graecis ornatu certare, eorum inventa sua facere, multo magis si novum carminis genus in Romanas litteras inferrent. Horatu quidem carmina pleraque ex Graecis Lyricis adumbrata esse nullus dubito: quando quidem inter tarn pauca fragmenta ex istis lyricis servata vix unum et alterum est, cuius non imitationem ab Horatio factam excitare possis; quid itaque futurum putabimus, si Lyricos Graecos integres cum Horatio comparare liceiet. Neque aliter se rem in Catullo, Propertio, Ovidio, aliisque habituram esse, credere fas est, si Graeci elegorum scriptores, inprimis Alexandrini poetae, adhuc extarent. Siehe Disquis. I De carmine epico Virgil, int zweiten Band des Heyne, siehe Virgilius p. XXIX. Anrn. Roth's.

Glaubens die Religion zur Seite des jungen Menschengeschlechtes, wie ein Schutzgeist, der uns an der Hand zur Glückseligkeit führt. In der Bibel spricht Gott zu den Menschen und der göttliche Strahl in unserer Brust war seiner Abkunft näher. — Siehe das Kind in der Ruhe, in der Heiterkeit seiner Unschuld; der Friede Gottes umschwebt es; eine Seligkeit ruht auf seinen Lippen, wie auf den Lippen eines Engels. Sein Wissen, sein Tun, sein Glau­ ben steht dem Wissen, dem Glauben, dem Handeln der Menschheit am Morgen ihrer Unschuld so nahe. Unsere Kinderwelt lebt noch in der Natur und ihrer Anschauung; in der Natur und ihrer Anschau­ ung lebte auch das junge Menschengeschlecht. Zudem noch ruhen in der Bibel die Urquellen aller menschlichen Erkenntnisse. Unsere Religion stützt sich auf i h r e n Grund; die Geschichte in ihren Anfängen entwickelt sich aus i h r; aus i h r quillt der Ursprung der Philosophie, und ihrer Einfalt und Größe darf sich alle mensch­ liche Erkenntnis nicht schämen. Der höchste Schwung unserer Be­ geisterung senkt sich und gegen den lauten Donner ihrer brünsti­ gen Gesänge verstummen unsere Lieder. Hiezu kommen noch: Ein­ fachheit ihrer Grammatik und die geringe Ausdeh­ nung des Sprachgebietes. — Ja welchen E i n fl u ß hat das Wort Gottes auf ein unschuldiges Herz. Dazu bringt die Bibel eine Sache hundertmal vor die Augen, tief prägt es sich ins weiche Herz. Sein Kopf gewinnt Helle, das Herz Wärme, und der Wille wird stark; denn alles, was dem Knaben gegeben wird, ist seinem Seelenzustande homogen. Die goldenen Sprüche schlagen im Herzen Wurzel, werden Schutzgeisier seines ganzen Lebens. Das Fundament unserer Gottesgelehrtheit muß zu­ erst auch auf biblische Weisheit, nicht auf heidnische Gelehrsamkeit fußen. Für diejenigen Christen, die sich auch im Altertum umsehen wollen, ist es, als für solche, eine doppelte Aufforderung: die Sprache des Alten Testamentes früher zu lernen als die Sprache des Neuen, weil der Bund durch den Messias auf dem Bund mit den Erzvätern beruht. Diese innerliche Folge reiht sich an die äußere, weil diese griechische Sprache im Geiste des Hebräers geschrieben

ist. Denn das Christentum soll uns nicht als eine Seite des Menschen­ geschlechts erscheinen, vielmehr ist in ihm die wahre Aufgabe des Menschengeschlechts (Humanität) gelöst. Daher ist auch im Christen­ tum das Höchste gegeben, wozu in unserer Natur die Anlagen vor­ handen sind und es bildet sich die Divinität unserer Natur um so herrlicher aus, je mehr die Menschenbestimmung von diesem Punkt aus angeschauet und durchgeführt wird. b) Das griechische Leben schlägt in die Periode der begeisterten jugendlichen Menschheit. Unter dem schönen Himmel, umgeben von einer schönen Natur, mit der Aussicht auf das Meer und seine Inseln, strahlte sich im Griechen die Idee der S ch ö n h e i t ab. Darum lebte ihrer Phantasie die ganze Erde. In den kristallenen Wellen, in den dunklen Hainen lebten Götter und Göttinnen. Helden, Sängern und Künstlern stand der Eintritt in die Ver­ sammlungen der Seligen offen; oft floß noch in ihren Adern gött­ liches Blut und der Gedanke an Abkunft und Elysium begeisterte sie noch zu unsterblichen Taten. Eine Schlacht von Marathon konnte nur Begeisterung gewinnen. Das Ideale und Reale bot sich im Griechentum zur Vereinigung die Hand; Himmel und Erde berührten sich in den Gebilden ihrer Kunst und aus der Einheit dieser beiden ging auch ihre Staatsverfassung und ihr Volksleben hervor. In den Tagen der Jugend ist auch unser Herz mehr fähig des Höchsten und Edelsten als wenn die Wirklichkeit uns durch viele traurige Erfahrungen gelehrt hat, von edlen Versuchen abzustehen. Das Leben der Menschheit im Griechentum ist dem Leben der Menschen in ihrer Jugend so ähnlich. Begeisterung für Frei­ heit füllt seine Brust mit unendlichen Ahnungen; Liebe und Freund­ schaft gehen ihm zur Seite. Letztlich läuft diepoetischeSchöpfer kr a ft, als der höchste Kulminationspunkt der Sprache, mit dem wirklichen Eintritt der Zeugungskraft immer parallel. Wen in den Tagen seiner Jugend nie ein uneigennütziges Wollen, eine große Sehnsucht zu den Idealen alles Guten, Schönen und Wahren hinzieht, wird in den spätern Jahren sich zu jener Höhe und Fülle des Bewußtseins nie mehr erheben können.

Der übereinstimmende Gang der Entwicklung des Menschen­ geschlechts im großen mit dem Gang der Entwicklung des Men­ schen im einzelnen spricht deutlich dafür: die schöne griechische Sprache müsse mit dem Zeitpunkte der Entwicklung des Menschen zu­ sammentreffen, wo er selber für Schönheit und Ideale am meisten lebt und webt, wo ihm sich in eigener Brust zu jedem schönen Ge­ danken, zu jedem herrlichen Gefühl eine innere eigene Anschauung, als Zeuge und Bürge dafür, ergibt. Wie ein gleichgestimmter Ton einen andern von gleicher Stimmung schon durch seinen Klang in Berührung setzt; so soll dieses schöne Volksleben dieses begei­ sterten Geschlechts die Gefühle für Schönheit und Ideal, die in der Jugend in den geläutertsten Flammen brennen, in Bewegung setzen und innerlich in uns erklingen machen. Kommen die andern Jahre — wir werden auch empfinden, aber so wie wirs in der Jugend empfanden, so wird es nie mehr von uns empfunden werden! c) Die Tat bewährt den Mann. Sagt an, wer hat mehr ge­ lebt als der Römer; wer hat mehr gewollt und gewirkt als dieser kräftige Schlag Menschen? — Dieser Geist ruht nicht mehr in dem hingebenden Glauben eines morgenländischen Kindervolks; dieser Geist ruht nicht mehr auf den glückseligen Inseln, wo die Menschheit in der Blüte die Wunder der Begeisterung verrichtet; dieser Geist geht aus dem Ideale ins Reale — ins Leben ein, wo derVorhang des kindlichen Glaubens zerreißt und die goldenen Träume der Jugend, wie sie im Herzen vorhanden sind, zerrinnen. 3m Morgenlande herrscht die patriarchalische Regierung vor, oder des Priestertums heilige Zauber halten das kindliche Volk zusammen; — mehrere freie Republiken bilden sich in Griechenland zur Aufrechterhaltung von Freiheit und Gleichheit; — für das ganze unermeßliche Weltreich aber ist R o m der einzige Mittelpunkt. Der vorzügliche Charakter­ zug des Römers besteht darin, daß er dasjenige, was er erkannt hat, in das Leben setzt und die Wirklichkeit; die Phantasie des Grie­ chen geht bei i h m in den W i l l e n über; was sich aus der däm­ mernden Tradition von einem künftigen Universalreiche in ihrem

Herzen erhielt, mußte bei diesen Männern als geharnischter Ge­ danke in das Schlachtfeld. Nur dreimal ward der Zanustempel ge­ schlossen^); Tat schließt sich an Tat; ihre Jahrbücher sind voll von Schlacht und Sieg. Der Römer ist ein Man» des Wellbezwingers und Unterjochers. Sollte dieses große Leben richtig, eigentlich und namhaft von einem Knaben verstanden werden können? —Laßt ihn älter werden und legt ihm noch einige Jahre zu. Was der Knabe nicht begriff—nach was sich der Jüngling bloß sehnte, das wird der herangereiste Mann, der ausgewachsen ist an Seel und Leib, v e r stehen, begreifen, und weil er es innerlich selbst hat, auch würdigen können. — Die Uebereinstimmung zwischen dem Seelenzusiande des Lesers und dem Geiste des Buches, welches man liest, oder der Zusam­ menhang der alten mit der neuen Zeit ist hierdurch möglich und zustande zu bringen. Man glaube nur ja nicht, der Mensch wäre in jedem Lebensalter und in jeder Lebenszeit für jedes gleich fähig auf­ zufassen. Ein rechter Genuß und die gehörige Würdigung des alter­ tümlichen Geistes der Hebräer, der Griechen, der Römer muß da­ durch notwendig gefördert werden. Wenn es aber so wesentlich ist, daß der geistige Strom der Menschheit fortwährend und ununter­ brochen fließe, so glaube ich, dieser Geist des Altertums werde um so bestimmter hervortreten, je mehr der Geist dazu geeignet ist, ihn zu verstehen und zu begreifen. Denn alle dies F 0 li 0 wiss e n soll nicht ererbtes Eigentum (Aggregat), sondern eigener Be­ standteil werden, damit alsdann diejenigen, welche die Natur zum Weiterhasten berufen hat, im Zusammenhang mit dem Alten und Gegenwärtigen ein übereinstimmendes Neue bilden können. Letzlich füge ich noch eine interessante Bemerkung des Jsaacus Casaubonus (ad Annales Eccles. Baronii. Exercit. q. 3) über die Entscheidung der Vorzüge einer Sprache vor der andern bei: Si lingvarum inter se comparatio sit instituenda, ut quae sit omnium praestantissima disgnoscatur, pessimam inveniendi 1) Der Janustempel wurde nur geschlossen, wenn die Römer keine Kriege führten.

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rationem inivit Baronius. Ut enim equi aut mancipii laus in eo est posita, ut ad illa ministeria sint amplissimi, quibus fuerint destinati: sic illa prae ceteris magni fieri lingva dabit, quae ad exprimenda sensa animi sit convenientissima. Is namque est usus lingvarum cujus tan tum gratis, a sapientibus et discuntur et usurpantur. Antiquitas praeterä causa alia est, cur lingvae aliquae praestare alii merito credatur: praesertim si matrix altera fuerit alterius, altera tradux, et ab alia orta. Tertiam causam statuere licet, dignitatem eorum, qui lingua utantur, vel fuerint usi; et quartam, si qua lingua usu patet latius, quam cetera. Si prima ratio spectatur, lingua Graeca sine controversia omnes antecellit; si secunda, Hebraeica omnium procul dubio longe nobilissima: Graeca item nobilior Latina: s i tertiam, nulla est linguarum omnium, quae ad digni­ tatem Hebraicae accedat: quam Deus initio rerum formavit: quam divina majestas saepe usurpavit: quae oracula coelestia continet: quae nomen Dei illud admirabile quod priora saecula sacro silentio semper sunt venerata, sola novit. Proxima dignitas graecae linguae: qua scribi Deus voluit salutis nostrae doctrinam, qua etiam seientiae omneprimitus sunt traditae, et a praestantissimis ingeniis prope consumatae. Quarta ratio Latinae non parum decoris h o d i e conciliat, quatenus in Europa jam omnium ferme eruditorum communis ea facta est. Quare si tres istae inter se comparantur, Hebraica, Graeca, Romana: omnium sine controversia ut antiquissima, sic nobilissima est Hebraica, Graeca nobilior Romana; haec quo se jactet adversus duas priores nihil habet; habet, quo adversus reliquas omnes alias.

8. Gedanken zirrBestimmung der Autorenreiher) /K'obald die Folge der alten Sprachen aufein^^ander entschieden wäre, wozu in Berücksichtigung psychologischer Entwicklungsgesetze immer mehr Grund vorhanden ist als in dem lahmen Schlendrian gemeiner Brauchbarkeit, so wäre es an diesen Versuchen, sowohl anzugeben, welche Autoren in jedesmaliger Sprache zu lesen seien, als auch die Gründe anzuführen,warum dieser gerade und kein anderer hiezu vor­ geschlagen würde? Da diese Umrisse aber nicht so sehr die Aufgabe haben, das D e t a i l des Sprachunterrichtes anzugeben, als vielmehr nur einen Standpunkt aufzusuchen, von wo aus der gesamte Sprachunterricht übersehen und geleitet werden könnte; so wird auch bei Bestimmung derAutorenfolge mehr auf Festsetzung allgemeiner Grundsätze d. h. solcher, die über jeden bestimmten Verhältnissen stehen, und bloß Humanität im Auge haben, gesehen werden müssen. Gleich­ wie im vorigen Abschnitt, bei Bestimmung der Sprachenfolge, Menschenbildung den Maßstab gab, nach welchem der Wert und die Bedeutung der alten Sprachen gemessen wurde, so wird auch hier, zufolge der Konsequenz, jede Berechnung des bloß Nützlichen auf der Seite gelassen. Denn, ergibt man sich einmal dem Ge­ danken, daß die Erziehung nicht unabhängige, i) Nur in Th. d. Spr. enthalten.

sondern von bestimmten Verhältnissen be­ dingte Zwecke habe, mithin die Zwecke der Erziehung nicht in der Erziehung selbst,son­ dern außerhalb ihr liegend sucht, so kann auch von keinen allgemeingeltenden Grundsätzen die Rede mehr sein, da dann die aus Moderücksichten sich ergebenden Bedürfnisse ebensogut entscheiden als sonstige hin und herflatternde Zeit- und Ortsverhältnisse. Aufsuchung eines natürlichen Ganges im Unterrichte der Spra­ chen ist in älterer und neuerer Zeit schon öfters versucht worden. Teils aber schränkte man sich nur auf e i n e Sprache ein und be­ stimmte diesem nach einen Zyklus; oder man nahm zur lateinischen noch die griechische und bestimmte dann wieder dafür Anfang und Ende. Nimmt man aber zwei oder nur eine von diesen Sprachen, so ergibt sich ein ganz anderes Resultat, als wenn man auch die hebräische hinzufügt. Denn man muß alsdann in dieser einen, oder diesen zweien Sprachen, alle diejenigen Beziehungen aufsuchen, in der das große Leben der Menschheit vor die Seele des Zöglings gebracht werden kann; und diese Entwicklungen des Menschen­ geschlechts im allgemeinen sind nicht nur von keinem einzelnen Volke schriftlich der Welt überliefert worden, sondern es haben sie auch nicht alle an sich selbst erfahren. Bringt man aber sowohl die Schriftsteller der Hebräer, Griechen, als auch Römer in einen gewissen Autorenzyklus, so stellt dann dieser die vergangene Zeit im g r o ß e n, die geschichtliche Entwicklung des Menschengeschlechts im allgemeinen und ganzen dar. Herr Dissen hat in seiner kurzen Anleitung für Erzieher die Odyssee mitKnaben zu lesen, herausgegeben von Herbarth, Göttingen 1809, einen solchen Zyklus für die griechische Sprache bestimmt, und ich glaube, daß seine Ausführung, die ich hier benutze, alsdann unübertreffbar ist, wenn die hebräische Sprache im Kreis des Sprachunterrichts für Hu­ manität nicht aufgenommen wird. Kommt hingegen die hebräische mit hinein, so sind in dem Familienleben der Patriarchen

alle die einfachern Lebensverhältnisse, welche Herrn Dissen bestimmen, mit der Odyssee anzufangen, vorhanden und gegeben. Dieserwegen und aus diesem Grunde, weil die Patriarchengeschichte vorausgeschickt wird und dadurch die einfachsten Lebens­ verhältnisse zum Behufe des Sprachunterrichts da sind, wird dann die Jliade, wo schon das Familienleben sich zu einem größeren Volksleben der Stämme ausdehnt, im griechischen anstatt der Odyssee aufgenommen. Ehe und bevor wir aber über die Autorenreihe und die dabei lei­ tenden Grundsätze uns ausbreiten, müssen wir die Meinung einiger entkräften, die nicht weniger behaupten, als es bedürfte der A u t 0 r e n zur Entwicklung der alten Sprache nicht, vielmehr führe ein gut eingeleitetes Reden in dieser Sprache früher und sicherer zum Ziele. Diese Meinung hat schon Joh. Gottlieb Heineccius in seinen stili cultioris fundamenta Francof. et Lips. 1706 im Abschnitte de autorum lectione cap. II, erste Anmerkung, so widerlegt: Cave tibi persuadeas, ex usu tantum et loquendi consvetudine ad Latinae lingvae facultatem posse pervenire. Tantum enim abest, ut hoc fieri possit, ut potius inde nascatur inquinatum illud ac sordidum dicendi genus, quo monachi maxime, ut et Poloni et Hungari delectantur. Quo fit ut Itali Latinae elegantiae studiosiores a sermonibus Latinis etiam cum viris doctis de industria abstineant, ne dictio aliquid ex idiotismo vernaculae trahat [! ?] quem etiam viri quamvis eloquentissimi in colloquiis vix effugiunt. — Neque sola scriptione Latinae elegantiae facultatem assequimur. Quid enim juvabit scribefe nisi antea ipsam linguae indolem ac genium animo perceperisPIdvero, qua aliaratione consequi possis, quam lectis diligenter autoribus, ego quidem non intelligo.

Solchem sind noch diese Gründe, die gegen Erlernung einer Sprache durch bloßen Gebrauch sprechen, beizufügen: 1. fehlt es an solchen Lehrern;

2. geht dabei die formelle Bildung verloren; z. kann hiebei nur Umgangssprache erlernt werden, von der wir bei Griechen und Römern wenig, bei den Hebräern nichts antreffen. Die Richtigkeit dieser zwei leichten Gegenbemerkungen geben zwar die Verteidiger dieser Unterrichtsart zu, halten aber diesen Verlust für nicht sehr groß und helfen sich in Rücksicht des gerügten Mangels an dazu tauglichen Lehrern mit dem Plane aus, den sie zum Auswege vorschlagen: es müßte eben um dieses im Großen auszu­ führen, eine lateinische Stadt angelegt werden, wo nicht nur die Lehrer, sondern auch Mütter und Dienstboten lateinisch sprechen könnten. Diesem sonderbaren Projekt standen aber immer zwei Hindernisse im Wege, die man nicht auf die Seite räumen konnte. Erstens fehlte es an Mitteln solch wenigstens gut-gemeintes Werk ins Leben zu setzen, und vors zweite behaupteten andere, und zwar mit Recht, daß diese Stadt immer im Geiste der modernen Zeit sprechen würde und daß hiebei höchstens eine Fertigkeit sich latei­ nisch auszudrücken über moderne innere und äußere Gegenstände gewonnen würde; wäre es sogar möglich, die alte römische Form des Staates herzustellen, so könne doch das Christentum mit seinen eigentümlichen Vorstellungen und daher rührenden verschiedenen Sprachwendungen weder in der ursprünglichen Bedeutung dieser Götzensprache ausgedrückt, noch es selbst dem Götzendienste überlassen werden. Nach ziemlich langer Zeit schien endlich das Glück diese Projekte begünstigen zu wollen. In der Nähe von Wien, geht die Sage, wollte Kaiser Joseph zu diesem Behufe eine Römer­ stadt anlegen—das aber unterblieben ist, ob aus späterer verbesserter Einsicht oder durch seinen frühen Tod gehindert, ist ungewiß. Endlich man liest in neuerer Zeit, daß sich eine Gesellschaft französischer Ge­ lehrten entschlossen habe, mit Wissen und Genehmigung ihrer Hofes, in Frankreich selbst diesen Gedanken auszuführen. Demohnerachtet aber sind noch immer gelehrte Männer, und dazu von gesundem Menschen­ verstände, ungläubig und zweifeln selbst an der Möglichkeit einer solchen Unternehmung. Bis daß also diese Stadt wirklich zustande

kommt, werden auch wir zweifeln und ungläubig sein, und uns derweilen dahin bescheiden, daß man eben wie bisher die Sprache lehren und lernen müsse. Folgende Erörterungen, die auch in diese Untersuchung fallen, könnten noch über d i e se Fragen gemacht werden: 1. Ob man die alten Sprachen aus den Alten selbst, oder aus modernen Skribenten, deren Zeit mehr verwandt sei mit der unsern, schöpfen solle? 2. Obfichanganze Autoren zu wenden sei, oder nur an eine zweckmäßige Wahl der besten Stellen? 3. Ob man hiebei nur aus e i n e m Autor, oder aus mehreren die Wahl der Stellen treffen solle? 4. Ob nur Dichter, oder nur Rhetoren, oder beide den Stoff hiezu zu leihen hätten? Die Antwort auf diese Fragen wird sich jedem alsdann am besten ergeben, wenn er die Besiimmungsgründe im Auge behält, die man als Maßstab zur Entscheidung der Reihenfolge in den drei Sprachen annahm. Auf die Folge der Autoren angewendet, gilt der obige Grundsatz auch hier als entscheidendes Moment, nämlich: es muß das Objekt des Autors mit dem jedesmaligen psychologi­ schen Entwicklungszustande des Zöglings übereinstimmen. Zu die­ sem Hauptsatz tritt noch dieses: die Grade der äußeren Schwierig­ keiten, die sich in einem Autor vorfinden, weisen von selbst dem Leichtern den Anfang und dem Schwierigsten den Beschluß im Unterricht dieser Sprache an. Ich sehe in diesen drei alten Sprachen vorzügliche synthetisch fortschreitende Bildungsmittel des jugendlichen Gemüts für den ganzen Kreis der sich entwickelnden Menschheit in allen Richtungen und Beziehungen. Denn zur Grundlage unseres Unterrichts können wir nicht unsere zusammengesetzten Lebensverhältnisse annehmen; sondern es wird uns das E i n f a ch e, die S t 0 f f e zu dieser weiteren Ausbildung am willkommensten sein, und es kann hiebei bemerkt werden, daß

innere Vervollkommnung in Religion und Philosophie meistens auch

von

äußeren Entwicklungen

So finden fich Streben

auch

des

Staates

begleitet sind.

bei dem einfachsten innern Leben, Gefühl und die

einfachsten geselligen Verhältnisse

und

mit

diesem Urzustände müssen wir anfangen. Aber nicht etwa1) in einer Wortbeschreibung, in Begriffen aufgefaßt und wiedergegeben — was uns notwen­ dig begegnen müßte, wenn wir aus unserm Zeitalter heraus jenen ersten Zustand sich bildender Menschheit schildern wollten — son dern

in

lebendiger

selbst,

also in

dieser

kindliche

das

Anschauung

Ueberbleibseln Zustand,

Leben selbst war, und

bildete,

und

sich

zum

des

der

den wir

Lebens

Zeit,

wo

fordern,

im Worte sich ab­

Wort

gestaltete;

in den ältesten Denkmälern der

also

Geschichte.

Für religiöse Bildung sind die Schriften des Testaments bisher auch benutzt. Die Idee von Gott, den Lichtstrahl, der sehr ftühe in die Seele des Knaben geworfen werden muß, wird das Kind in keiner Beziehung so ftüh auffassen, als wenn ihm Gott als Schöpfer des Himmels und der Erde genannt wird. Als Schöpfer und Vater tritt aber Gott im Anfange der mosaischen Bücher in dem Leben der ersten Menschen sowie der Patriarchen hervor, als sorgender Vetter für alle, der so im Mittelpunkt der großen Menschenfamilie steht wie Abraham in der seinigen und der Vater des Kindes in der seinigen. Der religiöse Sinn wird reichliche Nahrung finden in den Erzählungen des engen Verhältnisses Gottes mit den Men­ sche», in ihrer demütigen Anerkennung der Abhängigkeit von ihm und der kindlichen Ergebung in die Fügungen der Vorsehung. Da ist Weisheit statt Wissenschaft, Ordnung des Lebens, Herr­ schaft und Gottesregentschaft des Hauses, das Urbild aller bürger­ lichen Ordnung und Einrichtung. An welche

Zustände könnten

mehr Fäden der Kultur geknüpft werden als an diese? — Häusi) Siehe die zweite Beilage von Herrn von Kohlrausch ju dem oben angeführten Werke des Herrn Dissen. Anm. Roth's.

liche Ordnung, kindliche Religion, die simpelsten Künste und Be­ griffe des Eigentums — es war die Milch, spricht Herder in seiner Philosophie und Geschichte, womit die Kindheit des menschlichen Geschlechts allein genährt, erquickt und erzogen werden konnte, die Wurzel aller andern Bildung, zu welcher es sich in Jahrtausenden gebildet haben mag. Und wenn wir nun dies Bild erster väterlicher Glückseligkeit und Ordnung in sein wahres Land des Ursprungs, wo sich doch auch alle weltliche Geschichte herzieht, nach Orient setzen — in welch ein Licht kommt es? Wo konnten die zartesten menschlichen Neigungen einen schönern Garten erster Erziehung finden als im Hirten­ leben des schönsten Klimas, in der ftommen, weisen, ruhigen Hütte des Patriarchen? Wo kam die steiwillige Natur den simpel­ sten Bedürfnissen eines werdenden Geschlechts mehr zu Hülfe? Welch ein Zustand zur Bildung der Natur in den einfachsten not­ wendigsten Neigungen! Mensch, Mann, Weib, Vater, Mutter, Sohn, Erbe, Priester Gottes, Regent und Hausvater, ewig wird Patriarchengegend und Patriarchenzeit das goldene Zeitalter der kindlichen Menschheit bleiben. Und nun dazu die Sprache, wie erhaben und einfach, wie edel und wie kindlich! Mag nun jede Literatur mit der Poesie beginnen, oder jene Bildersprache Eigentümlichkeit des Orients sein, oder mag Moses der Mann Gottes die Sagen, welche die damalige Schreibkunst in Hieroglyphen aufschrieb, von dieser Bilder schrift seine Bildersprache entnommen haben — immer ist diese Art Sprache am meisten geeignet vom Kinde verstanden und aufgenommen zu werden. Bei den Griechen dehnt sich die Patriarchenwelt aus. Die Häup­ ter der Stämme treten in Versammlungen zusammen, und so ist das Bild der Familie auf die Gesellschaft übertragen. Dem Könige stehen durch Herkommen die Ratgeber zur Seite in den Entscheidungen der Streitigkeiten, die ohne Gesetznorm geschlichtet werden. 3m Kriminellen herrscht Selbsirache, welcher der Mörder durch Flucht und Sühnung entgehen kann. Endlich auch die Privat-

willen sind lose verbunden mit dem König, denn das einzige Band, welches hier in Betracht kommt, wirkt durch die Versammlungen. Das nähere Aneinanderschließen der Stämme zur Nation, die zerstreut lebte, bewirkte der Trojanische Krieg, in dem sich alle vereinigten, den Raub der H e l e n a zu rächen. Dieses zehnjährige Beisammenleben, das durch seine Not den G e m e i n g e i st er­ zeugte, gewöhnte ste an die Verhältnisse eines natürlichen Staa tenbundes. In diesen Versammlungen aber, wo keine Stimmen gezählt werden, bildet sich die spätere Verfassung der griechischen Republiken aus. Rücksichtlich der Sprachen ruht im Homer die Form künf­ tiger Poesie im Keime, der sich dann so herrlich in der Folge entwickelte. Dies Epos, das aus dem Leben des Volkes selbst hervorging und im Munde desselben erhalten wurde, ist eben daher nicht Abbild einer individuellen Natur, sondern Spiegel und Abdruck des damaligen öffentlichen Lebens der griechischen Nation im Großen. In dem Homer finden wir aber nicht bloß die Anfänge des Religionskultus der ur­ sprünglichen Verfassung und der Gestalt künftiger Poesie und Wissenschaft, sondern auch die Sprache selbst ist, wegen der Ungetrenntheit der darin noch verbundenen Dialekte, die beste Einleitung zu den andern, sich in verschiedene Dialekte teilenden Scribenten. Die Geschichte nach Homer stellt nun die weitere Entwicklung der Menschheit dar. Merkwürdig genug, daß die Bücher des Herodotus die Ausbildung jener beiden Keime, so­ wohl die der ausartenden Patriarchenwelt, als auch die der sich immer mehr veredelnden griechischen Staatsverfassung in ihrem ungeheuren Kampfe miteinander darstellen1). Der gesellschaftliche Vereinder Heroenwelt, die noch ungereifte Frucht der Notwendigkeit und Kraft, ist hier zur freien bür­ gerlichen Ordnung gediehen, welche zwar einfach und un­ haltbar in ihren Bestandteilen, aber dennoch geeignet war, die zum i) Siehe die erste Beilage von H. Thiersch aus dem angezogenen und benutz­ ten Werke. Anm. Rothes.

ersten Male aufstrebende menschliche Kraft nach jeder Richtung auszudehnen und die ganze Gesellschaft für ihre Erhaltung zu Selbstverläugnung, Tat und Begeisterung zu erheben. Wie von einer wohltätigen Hand scheint darum für diese Jahre der Pfad von [!] herüber nach Marathon, Thermopylä und Salamis gebaut, wo der Menschheit zum ersten Male nachdrücklich verkündigt wurde, daß nicht Leben, nicht Genuß — der Güter Höchste sind, und Aufopferung für ein Höheres und Tod fürs Vaterland der Lobgesang einer begeisterten Brust. Aber diese Seite der alten Welt ist es, die von allen zur deutlichsten Beschauung den offenen, jugendlichen Sinn bewaffnen und erheben soll, damit die verschiedenen Massen griechischer Geschichten, Kunst und Weisheit, die sofort sich auf­ drängen, in der erhöhten Teilnahme für das Volk einen Vereini­ gungspunkt gewinne. Nur dann wird eine Bildung durch das Altertum, welche die ganze Fülle der jugendlichen Kraft harmonisch durchdringen und beleben soll, vollkommen gedeihen, wenn sie auf das tiefste Leben des Gemüts gegründet ist. Beim Uebergange also aus dem Homer in den Herodot finden wir den Geist der Darstellung verwandt; aber die Sprache verwandelt den ganzen vorigen Schauplatz zu einer Bühne großer Länder, die in voller Klarheit sich ausbreiten; wir sehen die kleinen Nationen zu jugendlichen Nationen erwachsen und den Zwist der Küstenländer von Asien und Europa zu einem furchtbaren Kampfe beider Weltteile, des Despotismus gegen die Freiheit, entwürdigter Sklavenvölker gegen das frische Leben einer aufblühen­ den Nation, aufgeschwollen. Diese Umgestaltung der Sprache, der Schaubühne großer Völker und der Teilnahme bezeichnet einen vier­ fachen Weg, den die Vorbereitungen auf den Homer nehmen müssen. Nächst der Grammatik muß man vor den Augen des Zöglings sich jeden Schauplatz der homerischen Welt erweitern lassen. Man beschreibe daher, wie bei der raschen Vermehrung der griechi­ schen Volksstämme, bei innerem Zwist und Eindrang der Fremd­ linge das Heimatland bald zu enge wurde und nie unterbrochen

140

Der Sprachunterricht

die Scharen zu Schiffe davonzogen, um an wilden aber ftuchtbaren Küsten neue Wohnsitze aufzusuchen, von delren in kurzer Zeit neue Ansiedler, und noch zahlreicher wie aus dem Mutterlande, davon­ zogen. — So wird der Zögling jenes große Kolonialsystem sich entwickeln sehen, das seine Zweige bald über alle Küsten des weiten Mittelmeers bis über den Borysihenes x) hinaus verbreitet, das, in seinem Umfange die schönsten Teile der alten Welt umspannend, überall Freiheit und Keime der Kultur pflanzt und über Länder und Inseln in jungen Staaten ohne Zahl ein schönes Geschlecht glücklicher Menschen emporblühen läßt. Diesem weltbelebenden und großen Volke stehe das Gemälde des alten Orients und seiner Nomadenstämme entgegen, in deren Horden einer Herr ist und alles andere, sein Weib, wie die Herde, ein erkaufter und zugezogener Besitz. Die warme Einbildungskraft der dortigen Gegenden, die sich so gern alles in göttlichen Glanz kleidet, jene weiche Furchtsamkeit und Ruhe, die Ehrfurcht vor allem, was Macht, Ansehn, Aehnlichkeit Gottes ist, die Resignation in die Weisheit und Güte eines andern, die sich sobald ins Gefühl der Ehr­ furcht mischt, der wehrlose, zerstreute, ruheliebende, herdenähnliche Zustand des Hirtenlebens, die Liebe zum Leben in einer so üppigen Natur — die Neigungen einer zarten Kindesnatur waren zwar für Bildung der früheren Menschen Fördernisse — arteten aber in späteren Umständen in Aberglauben, Sklaverei, Versunkenheit aus. — Kleinere Küstenländer erzeugen den Trieb und die Notwendig­ keit weiterer Ansiedelung, der unfruchtbare Boden weckte Arbeit, Kraft und dadurch Sinn für Selbständigkeit. Wo aber eine üppige Natur sich über unermeßliche Länderstrecken verbreitet, da zieht der Mensch, von Natur träg und der Behaglichkeit froh, dem Vieh nach, was ihn ernährt: alle müssen Einem Willen unbedingt ge­ horchen, damit die Herde sich hinbewege, wo es nötig sei, und ge­ schafft werde, was die Herde bedarf. — Man beschreibe, wie sie sich verbreiteten über die endlosen Fluren von Asien, wie sie die Ein­ richtung ihrer Karawanen auf besiegte Stämme ausdehnten und 1) Altgriechischer Name des Dnjepr.

8. Kap. Bestimmung der Autorenreihe so seit uralter

141

Zeit dort das menschliche Geschlecht zur tiefsten

Knechtschaft entwürdigt wurde, wie endlich die persischen Horden, an ihrer Spitze einen kühnen Eroberer, siegreich alle andern über­ strömten, daß vor ihnen die Reiche von Asien verschwanden und selbst in den griechischen Pflanzstädten an jenen Küsten die Freiheit unterging. Jetzt tritt Herodot selbst ein: die siegreichen Barbaren, ein dienstbares Geschlecht, das ohne Geist und eigenen Wert sich von den Kräften und Ideen der Unterjochten nährt, ziehe heran, um auch im freien Mutterlande der griechischen Stämme den Despo­ tismus auszubreiten. — Sowie aber dieSprachesich umgewandelt und den S ch a u platz erweitert hat, wird auch ein anderes Leben unter den V ö l kern selbst erwacht sein. Die Perser mögen sich selbst ankündigen. Die griechische Nation muß in ihrer verjüngten Gestalt geschildert werden. Zwar wallten noch die homerischen Götter über ihr geliebtes Volk; aber sie haben sich aus dem Leben der Menschen und von dem Schauplatze zurückgezogen: die innigere Verknüpfung des Olympus mit der Erde und sonach die Fabelwelt der Dichtung ist aufgelöst; nur noch in dunklen Orakelsprüchen tun sie ihren Willen, ihren Rat den Sterblichen kund und waren vorbedeutend vor dem, was die Zukunft herbeiführt. Noch werden sie mit Opfer versöhnt und ge­ ehrt; aber die Opfer, wie die Tempel, sind prächtiger; Gesang, Dichtkunst und

Musik gedeihen hier durcheinander und

bei den

Festen versammelt sich um das Asyl ihrer Tempel die Nation aus ihrer Zerstreuung zu glänzenden Spielen. Hier ruhen Kriege und jeder Zwist: der Unterschied aller Stämme und Sitten wird in der Vereinigung vergessen, und Erinnerung an ge­ meinsamen Ursprung, Heldengesänge aus der Vorwelt, wecken na­ tionale Ideen; hauptsächlich zu Olympia wachsen die verschiedenen Glieder des Volkes zu

einem großen Staatskörper voll Selbst­

gefühl und Kraft ineinander. — Denselben Charakter der Oeffentlichkeit, den das Leben der Nation im Großen trägt, hat es auch in einzelnen Staaten gewonnen. Die Zusammenwohnungen im Ho-

ater sind zur festen Gesellschaft geworden, die auf Gesetze ge­ gründet ist, durch öffentliche Verwaltung geleitet und durch die Tapferkeit aller waffenfähigen Freien beschützt. Die Brücke aber aus der griechischen Welt in die römische hat Virgil durch seine unsterbliche Aeneis geschlagen. Der Vater des römischen Reichs trägt aus dem Brande der unglücklichen Troja den Vater und die überwundenen Penaten. Aen. II. Nach mancher Irrfahrt auf dem unbekannten und gefährlichen Meere, wodurch wir die gleichzeitigen nur in Sagen enthaltenen Vorstellungen von diesen Gegenden kennen lernen, landen die Flüchtlinge mit der Flotte an italischem Ufer, wo sie harten Kampf bestehen, um den Grund zu derjenigen Stadt zu legen, außerhalb deren Grenzen die Prophezeiungen in der Folge sich erfüllen sollten. Wo dies Epos beschließt, hebt zweckmäßig der Geschichtsschreiber L i v i u s an. Aus derselben dunklen Vorwelt spinnt er den Faden römischer Abkunft in anmutiger Erzählung weiter uff. Den übrigen Fortgang erzählen Julius Caesar, Cicero, Sallu st i u s, T a c i t u s, wie sich dann diese leicht aneinander reihen. Was die bei diesem Gange im ganzen enthaltenen Lücken an­ belangt, so darf zwischen den Lichtmaßen in dieser Welt voll Hoheit und Anmut kein Reich der Dunkelheit bleiben, und die hervor­ gehobenen Teile müssen durch Darstellung des Uebergegang e n e n so verbunden werden, daß sich das Leben, das Gedeihen und die Entwicklung der Nationen untereinander und in ihnen selbst in den Zwischenräumen in allgemeinen Umrissen zeigt. Nicht Voll­ ständigkeit des einzelnen soll den Knaben zerstreuen, aber das Dar­ gestellte einer lebendigen Anschaulichkeit fähig sein. Diese Kurse sind aber in der Ausführung mancherlei Erweite­ rungen und Einschränkungen fähig. Wenn im Hebräischen Jo­ seph nach Aegypten gesetzt wird, so muß die Vorbereitung auf das Griechische so weit bereits gediehen sein, daß Herodot anfangen kann zu erzählen. Der Grund hiezu liegt in der geschichtlichen Mensch­ heitsentwicklung; das sanfte Patriarchenleben hört auf und in Aegypten lernen wir den Staat des Orients kennen. Wenn als-

dann der jüdische Staat in seinen Umrissen bis Christus dargestellt in seiner Sprache ist, wo besonders Moses der hellste Punkt ist, hat sich das römische Reich in den Werken des V i r g i l i u s und L i v i u s usw. zur Weltherrscherin emporgearbeitet, und das grie­ chische Testament fängt an: Zur Zeit des Augustus usw. Denn, weil diese drei Sprachen erst erlernt werden sollen, muß, während man in der einen genießt, in der andern vorgearbeitet werden. In jeder aber von diesen dreien Sprachen ist eine vierfache Bahn zu durch­ laufen: 1. der Elementar2. der phraseologische

Kursus

3. der statarische 4. und der kursorische

Sobald der Elementarkursus im Hebräischen beendigt ist, geht man zu dem phraseologischen; beginnt aber zugleich im Griechi­ schen mit dem Elementarkursus. Ist man mit dem griechischen Elementarkurse fertig, so schreitet man in derselben Sprache zum phraseologischen; im Hebräischen aber tritt der Statarkursus ein uff. — Zur leichtern und bequemern Uebersicht wird dies Schema dienen: 1. Hebräisch:

2.

Elemente Phraseologie

Griechisch:

o

i. Elemente

Lateinisch:

o

o

3. Statar.

4. Kursor.

2. 3. Phraseol. Statar.





4. Kursorisch

1. 2. 3. Elemente Phraseol. Statar.

4. Kursor.

Dieses Schema würde nun angewendet auf die Sprachobj e k t e so ausfallen: Hebräisch: Griechisch: Lateinisch:

3. Genesis; 4. Patriarchenzeit; Joseph, Moses; Könige u. Verfall. o ; 3. Ilias; 4. Herodot; Anabasis; Thukydides usw. o ; o 3. Virgil; 4. Livius; Zeitalter des Augustus.

Hier wäre also der Zusammenhang gegeben; die sonstigen, den besonderen Zeiten angehörenden Schriftsteller schließen sich an

diese Träger der Zeit, so daß sich in ihnen und durch sie das ganze Leben des Volkes offenbaren kann. Noch berücksichtige ich einen Einwurf, nämlich: in der hebrä­ ischen und griechischen Sprache seien allerdings in der Genesis und im Homer die beabsichtigten Anfänge gegeben; Virgil würde aber im Lateinischen zu große Schwierigkeiten darbieten: daher denn dieser Vorschlag in der Theorie annehmlich, in der Praxis un­ ausführbar sei. Dagegen mache ich die Bemerkung, daß 1. im Lateinischen überhaupt ein leichter Autor fehle; 2. daß das Lesen des Virgilius durch einen Elementar- und phraseologischen Kursus vorbereitet sei. Diese Kurse machen sich aber die 2 Aufgaben insbesondere: 1. daß sie reich an auswendig zu lernenden Beispielen seien, und daß 2. die Beispiele vorzüglich aus dem Virgil gewählt und gesammelt werden, 3. daß allen diesen dreien Sprachen, also auch der Lateinischen, 1. die Kenntnis der Muttersprache und 2. die Kenntnis der Ars Grammatica vorausgegangen sei; 4. daß sich durch Besitznahme der griechischen und hebräischen Sprache ein alles erleichternder Sprachsinn und Sprach­ gefühl ergeben habe und 5. daß der Zögling nun ein heranreifender Mann und kein Knabe mehr sei.

9. Anfang und Ende^ /Km Vögelein, das noch nicht flicke wäre, würde durch die klarste ^Auseinandersetzung des Niegens und durch die klügsten Re­ den seiner Mutter darüber, darum doch noch nicht fliegen können. Selber, wenn seine Schwungfedern gewachsen sind, setzt das Flie­ gen Uebungen der Sehnen, Kraft und Fertigkeit im Schlagen und Anziehen der Nügel voraus, welche Uebungen Worte dar­ über nicht ersetzen. Aber so töricht ist eine Vogelmutter nicht. Machen aber nicht wir, betört von der Sehnsucht nach der Aus­ bildung unsere» Kinder, solche unbillige Forderungen an den Unter­ richt, indem wir das Nichtkönnen des Anfangs im Unterricht mit der beabsichtigten Vollendung des Endes verwechseln? Hier wie dort geht die Entwicklung allmählich. Worte ersetzen niemalen dieUebungen. Basis jeder Kunst und Wissenschaft sind Uebungen. Zur Sicherheit in denselben führt ein stufenweiser Gang. Das Leichtere gehe in der Entfaltung voraus, das Schwerere folge; aber nicht das Leichte, was dem Meister leicht ist, sondern dem Lehrling, d. h. die Beurteilung des Leichten und Schweren darf nicht von der Schwierigkeit, die es 1) Abgedruckt bis S. 150 aus Th. d. Spr., von da weiter aus Gr. u. A. In der letzteren Handschrift lautet der Titel: Verwechslung zwischen Anfang und Ende, das Datum: Dverdon, den 14. Nov. 1819. In Gr. das Datum: Bullet, den 26. Aug. 1819. Dies Kapitel ist also als erstes $u Papier gebracht worden (flehe S. 13). Die französische Uebersetzung Confondement entre le commencement et la sin stammt von Rank, einem Lehrer bei Krüsi. Von der englischen Ueber­ setzung des Fräulein Shepherd The beginning and the end confounded sind zwei Abschriften vorhanden.

uns macht, sondern von der Schwierigkeit, die es dem Kinde macht, ausgehen. Jenes Vöglein kann, wenngleich nicht fliegen, doch etwas anders für seine Lage und für den Stand seiner dermaligen Entwicklung tun, was von gleicher Wichtigkeit für sein Fliegen ist. Im Neste noch dehnt und streckt es seine Flügel und pladdert und fächelt damit. Befiedern sich endlich seine Flügel, so hebt schon der Wind seinen Körper, wenn es der Mutter vor der Oeffnung wartet. Als ersten Versuch wagt es sich von einem Zweig zum andern. Lust (Trieb), Selbstvertrauen (Erfahrung im kleinern) heißen es nach dem nächsten Aste flattern. Der Unterschied zwischen diesem Wagestück und dem ersteren ist nur gering. Was zum ersten Male mit bangem Herzklopfen versucht wurde, macht ihm bei wie­ derholten Versuchen Freude. In unmerklichen, aber beständigen Fortschritten wächst aus der Uebung die Fertigkeit, aus dieser die Kunst und Sicherheit. Nach diesem und dem nämlichen Gange, den die Natur in der Entwicklung der Flugkraft nimmt, gewinnt auch der menschliche Geist in seiner über dies Bild unendlich erhabenen Sphäre seine allmählichen Kräfte. Mit der V 0 l l e n d u n g der Kunst, mit der wissenschaftlichen Höhe der Bildung ist mit dem Kinde, das auf einer untern Stufe der Erkenntnis steht, nicht anzufangen. Uns haben Jahrhunderte vorgearbeitet, mancher schöpferische Geist hat im Vorwärtsschreiten Wunder getan; wir selbst sind im Dienste und in der Ausbildung der Wissenschaft viele Jahre begriffen, mancher darin ergraut; wir stehen auf den Schultern von tausend Männern, die uns vorgedacht und vorgeschaffen haben. Machen wir daher so praeposteros conatu, so versetzen wir das Kind in einen wider­ natürlichen Zustand und verwirren den Gang der Natur in ihrer Entwicklung. Aber schon lange war die Erziehungskunsi auf Abwege geraten, die sie mit der Natur entzweite und aus ihrem Zusammenhange herausriß. Lange suchte man den Zusammenhang der Erziehungs­ kunsi mit der Natur und viele haben daran gesucht, aber alle in der Weite, was doch so vor dem unbefangenen Auge eines na-

türlichen Menschen lag. Eben weil diese Abwege eine wahre Er­ ziehungskunst unmöglich machten, verwandelte sich auch die Päda­ gogik in Abrichtungskünste und warf dem Menschen der Routine dar, wie man einen hingeschriebenen Kranken in die Ausdünstungen eines ebenso verloren gegebenen Lazarettes hinwirft [!]. Da man einmal den Menschen, um dessentwillen die Kunst da ist, vergessen hatte, so war damit der erste Schritt zu einem langen Irrwege getan, worauf man — den Menschen — der Kunst auf­ opferte. Das Zeitalter hielt zwar den Gegenstand seiner Sehnsucht, „die Vollendung", unverrückt im Auge; durch die naturwidrigen, übereilenden Mittel arbeitete man der nämlichen Natur ent­ gegen, deren Ausbildung man bezweckte. Man kann kaum mit größerer Eilfertigkeit in dem Glashause irgend eines Großen, der ein ungewöhnliches Fest bereiten will, Gewächse über alle Maße treiben, ja übertreiben, als man in un­ seren Schulen aus Sehnsucht nach der Vollendung den Unterricht trieb und noch lange hier und dort treiben wird. Mit solchen Zög­ lingen geht es aber wie mit den Früchten des Glashauses, die nie so vollkommen werden können, als diejenigen, welche unter dem Einflüße des freien Himmels und seiner Sonne wachsen. Da die Fähigkeit zu einer tiefern Erkenntnis — Kindern — fehlet und man beim Unterrichte zugleich mit der Tiefe anfing, so mußten ihre Kenntnissehalberkannte oder unerkannte Worte bleiben, wor­ über man sich mit der bloßen Fertigkeit des Antwortens begnügte — tröstete — oder täuschte. Durch häufiges Vorsprechen von Wor­ ten, in denen Wahrheiten für Verständigere wohl, doch nicht für Kinder lagen, dressierte man sie dahin, daß sie mit Fertigkeit Worte von sich geben konnten, in denen Wahrheiten niedergelegt waren, wieder für Verständigere, nur nicht für Kinder. Von diesem Werte, den man Worten beilegte, ging auch die Ueberzeugung und der Glaube der Zöglinge aus: als sei dies auswendig gelernte, halb erkannte Wissen ihr Wissen und ein erkanntes Wissen, und ihre Eitelkeit schlug diesen Wortkram um so höher an, je mehr Tränen und Verdruß er ihnen gekostet und je mehr die ExaminaIO*

Loren vielleicht erstaunt über die in den Worten enthaltene Weisheit den seligen Lehrer von ihrer Zufriedenheit versicherten. Das Schicksal der übrigen Unterrichtsgegenstände teilte auch der Sprachunterricht für die ersten Anfänger; ja hierin zeigte sich besonders das Schwankende einer nicht durch sichere Grundsätze ge­ leiteten Lehrweise, deren Weise nicht nur feststand, sondern von jedem kräftigen Winde, der fortzubringen schien, in ihrem inneren und äußeren Wesen aufgeregt ward. Aus der erwähnten Verwechselung zwischen Anfang und Ende stiegen die meisten beim ersten Unterricht der alten Sprachen von der vollendet-logischen Einteilung der Sprache herunter; jeder Be­ griff wurde festgestellt und bis in die feinern Teile zergliedert. Untersuchungen, die für einen philosophischen Kopf freilich keine Schwierigkeiten hatten, wurden hier dem äußeren Ohre täglich und stündlich vorgesagt, ohne daß das Innere es hätte übernehmen können: die G r a m m a t i k ist eben deswegen, weil sie eine Art und ein Teil der P h i l o so p h i e ist, keine Lektion für die Kinder und diejenigen, welche noch gar nichts von der Sache wissen. Sie ist auch von ihren Erfindern nicht dazu bestimmt worden, daß der An­ fang des Studiums damit gemacht werden solle. S. Geßners (des Verfassers des Thesaurus linguae Lat.) deutsche Schriften S. 262 ff. Eine gesunde Methodik wird es nie billigen, den Anfang mit dem Ende zu machen, wie z. B. in manchen Ländern noch die Gewohn­ heit herrscht, den Unterricht in der lateinischen Sprache mit einer ebenfalls lateinischen Grammatik zu machen. S c i 0 p p i u s, ein Schüler des S a n c t i u s (t 1649) den der erwähnte Geßner einen fürchterlichen Grammatikus nennt, sagt hier­ über: Est et aliud quid dam cujus nomine stultitia palma recentioribus debetur, quod pueros Grammaticae pracepta prius discere postulant, quam illi linguam latinam, qua pracepta traduntur, intelligant, quo quidem haud scio quid magis absur­ dum et abhorrens cogitari p e r s i t. [sic! possit.]

Der menschliche Geist mußte beinahe unter der Last dieser toten

Wörter erliegen, die meistens nur nach dem Ton, nicht nach dem Sinne aufgenommen wurden. Beinahe schien es auch, als wollte man nicht so sehr M e n sch e n b i l d u n g, als die Sprache. Das Mittel also der Menschenbildung war der Götze, vor dem sich die Menschennatur demütigen sollte. Der Inhalt der Sprache, als menschenbildendes Prinzip — der M e n s ch s e l b st, der ewige Zweck alles dessen, was gelehrt und gelernt wird, wurde aus den Augen gesetzt. Schauen wir die Wurzel eines Baumes an, wie sie sich nach ihrem Bedürfnis immer tiefer eingräbt und ihre Fasern nach allen Seiten aussendet und verbreitet. Sie sucht den Stein, der ihr drunten begegnet, zu umgehen und streckt und dehnt sich besonders da, wo es ihr behagt und wohlgefällt. Einem innern Gesetze folgend führt sie still aus unbemerkter Tiefe die besten Säfte, die sie er­ reichen kann, dem Stamm, den Aesten, den Blüten und Blättern zu. Sie sucht, was dem Ganzen frommt, und vermeidet, was ihr schadet.Was treibt denn die Wurzel alsozu tun? Ein Gesetz, vermöge welchem sie nur Gleich­ artiges, dem Stande der Entwicklung des Baumes Angemessenes einzusaugen im Stande ist. Biete dem Geiste des Kindes Nahrung aller Art an, biete sie ihm an, wie du willst. Dieselbe Natur, die in der Wurzel dem Stein ausbeugt, weil er für sie keine Nahrung gibt, wird auch im Geiste des Kindes wirken. Dasjenige, was für seinen jetzigen Entwicklungszustand ungenießbar wie ein Stein ist, wird er nicht ins Bewußtsein nehmen können. Denn das Wissen über einen Gegenstand ist noch lange nicht das Wissen selber. Soll das Wissen nicht tot in uns liegen, so muß die Kraft der geistigen Denkkraft in Anspruch genommen werden. Diese kann aber die Worte von der Höhe eines Gegenstandes nicht fassen, die der Lehrling erst ersteigen lernen soll. Mit Geistesliebe und Geisteslust wird sich das Kind auf d i e j e n i g e Seite neigen, wo ihm solche Nahrung gereicht wird, die seinem jetzigen Standpunkt, dermaligen Reife und Ausbildung angemessen ist.

Hiemit ist garnicht gesagt, als solle dem Kinde jede Anstrengung erspart werden. Selbst dann nicht, wenn die Möglichkeit da wäre es zu tun. Nicht spielend, nicht tändelnd gelange es zur ernsten Wissen­ schaft und Kunst. Es lerne seine Kräfte brauchen, und zwar tüchtig. Das Leben und seine Forderungen sind kein Spiel. Nicht auf dem Arme soll man das Kind zum Ziele tragen; man reiche ihm die Hand, es strecke sich daran zum Mannex). Die geistige Bildung in ihrer höheren Würdigung muß als Kraft, als innere Tatsache, nicht als Enzyklopädie zustande kommen. Das Wissen bestehe, wie der wahre Glauben, nicht in einem leeren Wissens- oder Glaubensbekenntnis, sondern in der Tat und in der Wahrheit. Der Verstand muß mehr im Denken, d. h. in der K r a f t des Denkens, als im Wissen, d. h. in der Masse des Gedachten bestehen. (Der Schluß dieses Kapitels ist in Th. d. Spr. nicht mehr enthalten. Im folgenden wird er, mit Wiederholung des letzten Abschnittes, aus Gr. u. A. abgedruckt.) Die geistige Bildung in ihrer höheren Würdigung muß befreit werden von allen niederen Ansätzen, die der Strom der Zeit ihr zu ihrer Versteinerung zugefügt hat. Sie kann nicht unorganisch an­ wachsen, so wie ein Stein von außen Teilchen ansetzt, obgleich auch dieser mit samt seiner Steinfühllosigkeit nur befreundete Teilchen annehmen kann. Das menschliche Leben und dessen geistige Er­ leuchtung muß wesentlich aus innerer Kraft bestehen und nicht als tote Masse aufgenommen werden. Alle Zeit, die auf eine tote Aufnahme eines von einem Fremden Gedachten verwendet wird, ist für eigentliche Menschenbildung verloren; alle Mühe dem Schü­ ler vor-gedacht,vor-gefühlt und vor-geschmeckt zu haben ist auch eine verlorene, nur aber zugleich sündliche Mühe. Aber dieses verwerfliche Prinzip ist nie in dieser strengen Konsequenz ausgeführt worden, als der Keim dazu darinnen liegt. Denn es läuft auf nichts Wenii) Der in Paris gestorbene Abbe Gaultier hat es in den pädagogische» Spielereien in der neueren Zeit am weitesten getrieben. Anm. Noht's.

y. Kap. Anfang und Ende

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geres hinaus, als daß es unter den Menschen eine Ammenklasse und eine Säuglingsklasse gebe. Davon wird uns doch die Gutmütigkeit, die noch immer in unserer Natur liegt, bewahren, diese, die der strengen Konsequenz dieses Prinzips immer entgegen arbeitete, wird auch in Zukunft ihr entgegen arbeiten. Jedem von uns hat Gott seine eigenen Augen, zu sehen, seine eigenen Ohren, zu hören, seinen eigenen Kopf zum Denken, seine eigenen Hände und Füße zu gehen und arbeiten gegeben. Wenn aber gleich die Unvernunft von einer Seite das Recht anspricht, daß man mit dem Kopf für sie denke, mit den Händen und Füßen für sie gehe und arbeite, so wird diese Unvernunft doch nicht so weit gehen, den Kopf, die Hände und Füße selber als ihr Recht anzusprechen. Ohnedem läuft die Bevormündung unserer Vernunft in allen Angelegenheiten des Menschen in Kirche und Staat auf nichts Wenigeres hinaus, als daß es eine Ammenklasse und eine Säuglingsklasse gäbe. Vor dieser Ammenvorsorge wird uns in Staat, Kirche, aber auch in Wissen­ schaften der aus dem Todesschlummer erweckte Geist der Selbst­ forschung — der eines Menschen würdigste Gang — und endlich die Gutmütigkeit unserer Natur bewahren. Es kann doch dem Menschen dieses nicht vorenthalten werden. Der Mensch denke, bete und arbeite mit seinem Kopf, seinem Herzen und eigenen Händen. Auf der Welt hat es ewig Licht und Finsternis gegeben — auch ewig hat es Engel des Lichts und der Finsternis gegeben. Wenn sie noch im offenen Felde streiten, so ist die gute Sache noch nicht verloren. Aber wenn die Engel der Finsternis die Fahne der Aufklärung voraustragen lassen und den Glauben an das Licht betrügen und irre führen, dann ist der Kampf schwieriger. Freund und Feind fällt unter gleichen Streichen. Dieses alles aber ist nicht immer Werk des blinden Zufalls — oft spielen menschliche Hände unter der Decke. Diese Finsternis, die sich oft wie's Licht anzieht*) und das Licht verhaßt macht, diese Finsternis, wird sie vor unseren Augen weichen, wenn wir kraftlose Nachbeter im künftigen Geschlechte erziehen, die eingeübt worden sind, nie mit eigenen Augen zu sehen, und daher i) ankleidet.

nicht aufgelegt oder fähig wären, Waffen gegen die Finsternis ju führen? — Fassen wir diesen Gesichtspunkt in seiner Einfachheit auf, wie er in unserer Natur gegründet ist und wie nur eine verdorbene Kunst den Menschen, der doch mehr wert ist, einseitigen Zwecken aufopfern wollte; fassen wir noch die törichte Verwechslung auf, die eine nach voreiliger Frucht sehusüchtige Kunst machte, indem sie die höchste Vollendung einer Wissenschaft oder Kunst mit dem völligen Nichtkönnen derselben verwechselte; fassen wir endlich auf: wie diese sehn­ süchtige aber törichte Kunst Forderungen machte, ju denen sie nur nach Zeit und Arbeit berechtigt sein möchte; und endlich: wie eine strenge Befolgung dieser Verwechslung des Obersten mit dem Un­ tersten zu Mißhandlungen des kindlichen Geistes hinführen muß, und wie zuletzt diese Mißhandlung in eine blinde Nachbeterei ausarte, die unser Geschlecht zu einer Kraftlosigkeit abschwäche, die allmählich alle Fundamente geistiger und bürgerlicher Selbständigkeit unter­ graben würden.

10. Formenlehre und Syntax^) Formenlehre und Syntax sind eigentlich in keiner Sprache wirkOlich abgesondert, sondern nur zum Behufe des Unterrichts und vorzüglich des Lehrers getrennt worden. Für den Lehrer aber ist es von unbedingtem Vorteil Schemata zu haben, die einen großen Ueberblick gewähren und vermittels welcher sich jedes Wörtchen unter irgendeiner Ordnung antreffen läßt. Dem Lehrling dürfen sie in der nur künstlich gemachten und in der Sprache selbst nicht lie­ genden Trennung nicht so gegeben werden. Durch diese künstliche Ordnung, d. i. durch die scharfe Trennung des Syntaxes von der Formenlehre, werden in die Sprache selber, inwieweit sie nur ge­ lehrt und gelernt wird, große Trennungen gebracht, die dem Unter­ richte ebenso viel Abbruch tun, als dadurch die Mühe des Unter­ richtes erleichtert und für die wissenschaftliche systematische Aufstel­ lung der Formen und Gesetze einer Sprache gewonnen wird. Gewöhnlich ist Form und Syntax auseinandergerissen und die einzelnen Teile auf eine Art getrennt, daß sie nie ein Ganzes im Zusammenhange bilden können. Die Kenntnis des Gebrauchs und der Gebrauch selber folgen oft so aufeinander, daß sie sich teils hinderlich sind, teils, wenn dies auch nicht der Fall ist, sich gar nichts 1) Mit diesem Kapitel beginnt die große Lücke der Handschrift Th. d. Spr. (s. S. 43). Es wurde daher aus Gr. u. A. abgedruckt. Dort trägt es das Datum: Dverdon, den 28. Nov. 1819, Neue Wohnung. Die dies Thema behandelnden Skitten in Gr. sind nicht datiert. Der Titel der franjSsischen Uebersetzung lautet Science des formes et syntaxe. Uebersetzer war Custer.

befördern. Zuerst ein weitläufiges Reden über Sachen, die das Kind noch nicht angeschaut und verstanden hat, und endlich, wenn auch die letzte Spur dieses grundlosen Darüberredens verloren gegangen ist, folgt, manchmal viele Wochen nachher, eine isolierte Anwendung in der Syntax. Deswegen man auch diese eigene Erscheinung: unreife Kinder konnten die abgezogensten Begriffe mit großer Fertigkeit hersagen, aber in der Anwendung dieser Begriffe waren sie gewaltig zurück; sie konnten nach einer vollständigen Einübung dieser so getrennten Gegenstände durch eine kleine Aufforderung zu einer Anwendung in Verlegenheit gesetzt werden; und jenes Zurücksein und diese Ver­ legenheit war um so auffallender, als jene Begriffe eisgraue Sprach­ forscher und das Hersagen dieser Regeln nicht Lehrlinge, sondern Meister erwarten ließen. So hatte ein grundloses Nachreden und Wiederholen vorgesagter Redensarten und Begriffsformen die Kraft des eitlen Schwatzens, aber nicht des vernünftigen Redens gestärkt; und wie konnte es auch anders geschehen, da man die Be­ griffe der Sprache (ars grammatica) an einer fremden erlernen mußte, die doch der Muttersprache zur eigentlichen Entwicklung zugehören, und da jmanj die Formenlehre von der Syntax trennte, so im Gebrauch durch Wort und Schrift beisammen und eins waren. Erstaunen muß man aber über die Kraft der menschlichen Natur, die alle diese Schwierigkeiten überwand, die alle diese Hindernisse be­ siegte, und jeder auch noch so weit getriebenen Unnatur gewachsen war. Denn dem ohngeachtet sind einzelne Menschen von kräftiger Natur vorgedrungen und haben in den Sprachen ausgezeichnete Arbeiten geliefert. Dieses muß uns nicht irre machen, denn was die frühere Zeit anbelangt, so warf man sich mit ganzer Kraft auf die Erlernung der Sprachen und der Unterrichtskreis hatte nicht den Umfang, wie er jetzt hat, und dann ist diese Auszeichnung auf Rechnung der menschlichen Natur und nicht der also getrennten Grammatik zu schreiben. Wenn der menschliche Geist es auf einem krummen, also weiteren Wege soweit brachte, so entsteht in jedem, der die Sache überlegt, beinahe notwendig der Gedanke: daß mit

dieser Kraft, wenn ihr ftühe alle Hindernisse, einen direkten Gang $u nehmen, aus dem Wege geschafft worden wären, etwas hätte erreicht werden können, was man sich eigentlich nicht einmal recht vorzustellen getraut. Niemand aber kann raten, bei der durch die Zeit erlangten und bestätigten Erfahrung stehenzubleiben, und man solle dem Gange der Sache mit Ruhe zusehen. Diese gemeine Ansicht vom menschlichen Dasein auf Erden verträgt sich nicht mit dem ernsten Willen wirklich vorwärts zu kommen. Denn aus dem ewig sich entfaltenden Leben und Streben muß immer was Besseres sich ergeben und hervor­ gehen. Sonst wäre es ein zweckloser Kreislauf des Werdens und Untergehens, ein ewig sich wiederholender Tod. Tätige Lehrer haben auch nie Blatt für Blatt dem Zögling in der Grammatik erklärt und sind auch nie in die Fußstapfen des darin vorgezeichneten Ganges, ohne jemals auszutreten, gegangen; zum Behufe ihres Unterrichts hat sich vielmehr beinahe jeder, der das Bessere suchte, einen eigenen vermittelnden Weg gebahnt, der mehr oder weniger den Grundsätzen einer naturgemäßen Unterrichtsart entsprach. Nicht so sehr also diese als jene, welche eine anererbte Lehrart getreulich befolgen, ohne ständige Untersuchungen anzustellen oder die Lehrart anderer untersuchen, trifft der Vorwurf, daß sie das Verhältnis des pädagogischen und wissenschaftlichen Standpunktes oft im Sprachunterricht verwechseln. Zwar ist die Sicherheit in den Formen die Bedingung einer erforderlichen Gewandheit, um sich den Gedankenstoff mit Leichtigkeit eigen machen zu können. Sein ganzes Seelenheil in den Formen einer unbelebten Wortmasse zu finden, ist aber wie auf der anderen Seite die Ver­ nachlässigung dieser zur grammatischen Fertigkeit erforderlichen Formen eine tadelnswerte Uebertreibung. Jedoch neigt sich unsere bewegte grammatische Zeit zu der letzteren Art, obgleich im ganzen noch die erstere Art in manchen Ländern geteilt, in andern in aus­ schließlichem Gebrauche ist. Das Zusammenschlagen aber von Gedanken, die sich von ihrer Entstehung an Feind sind, bezeichnet eben diese Epoche. Die Wal-

fangen des Eifers bringen dnrch die in ihm liegenden Kräfte oft unerwartete, aber immer nur vorübergehende Resultate. Bei einer Garung dieser Art treibt oft ein in hohem Grad lobenswürdiger Drang nach dem Besseren ans die gegenüberstehende Seite. Dieses Bestreben sich zu helfen und mit einfacherem Fundamente in die Unterrichtsfächer zu gelangen, neigte selbst die Pestalozzische Schule zu einer gewissen Vernachlässigung der Formen, weil man im Anfange überhaupt sich mehr im Gegensatz (polemische Weise) als in der Selbständigkeit des eigenen Wesens (didaktische Weise) be­ griff und weil er dann die Art, wie lebende Sprachen erlernt wer­ den, für die natürliche Art ansah, auch die verstorbenen sich eigen zu machen: Herr Stern und Marxs, die sich mit Begeisterung dem Elementarunterrichte als Lehrer im Pestalozziinstitute hingaben und die alle Gaben eines vortrefflichen Lehrers besitzen und deren Andenken bei allen gesegnet ist, suchten in der Einübung einer aus klassischen Schriftstellern gewählten Phraseologie in das Altertum einzudringen. Allein sie ließen sich nicht von der Form dieser Phraseo­ logie leiten, sondern nahmen die Phrasen als leitende Gesichtspunkte an, wodurch die Zöglinge zwar eine lex. Kenntnis der Sprache erhielten, aber in der Bestimmung und Sicherheit der Formen ver­ nachlässigt worden waren. Das Beispiel, welches der gute Pestalozzi von der französischen Amme oder ftanzösischen Kindermagd, wenn vom Unterricht in Sprache die Rede ist, zu geben pflegt, mag ihre Liebe verleitet haben, das Beispiel in allen Teilen anwenden zu wollen. Es steht aber der Führung einer das allgemeine Interesse ansprechende Sache ein prüfender Sinn (kritische Weise) am besten vor. Diesem ruhig denkenden und genau abwägenden Verstand möchte zur Entscheidung dieser Frage am tauglichsten sein: R u h t nicht in der Verbindung der grammatischen Sicherheit mit der lebendigen Uebung, im Zusammenhang lückenloser Reihenfolgen die Kraft und das Leben derSprache — in der Trennung und einseitigen Behandlung die Schwäche und der Tod? —

Wenn die Form eine im eigenen freien Geiste erzeugte und also der Fassungskraft des Kindes angemessene ist, so wird mit dieser Form, die an bestimmten Beispielen erlernt wird, auch die Sache erlernt werden. Denn die Form wird ja im Menschen erst etwas durch den Begriff, sowie umgekehrt der Begriff erst wird an der Form. Ist ste bloß mechanisch aufgefaßt, wie sie gewöhnlich die Gram­ matik gibt, so fehlt ihr der gehörige Begriff. Die Form kann immer und ewig nur etwas bedeuten, insofern der Geist sie sich selbst schafft, aneignet und belebt. Die so erzeugte Form aber ist keine leere Form mehr, sondern sie ist Form und Wesen zugleich und kann also auch nicht verloren gehen. Die Form des ganzen Typus dedinationum und conjugationum verhilft mir noch nicht zum Begriff der declinatio und conjugatio selber. So bin ich auch durch den richtigsten Begriff von declinatio und conjugatio noch nicht im Besitze des Typus. Erst wenn sich beide die Hände reichen und zusammenkom­ men in einer Erkenntnis, geschiehet das Rechte. Ein kalter Ver­ stand, der das Alte nicht wegwirft, weil es alt ist, und das Neue nicht annimmt, weil es neu ist, soll entscheiden! Er kann keinen Ge­ fallen daran haben, wenn vom großen Stamme der Sprache, in dessen Schatten tausendjährige Völker sich gelagert haben, eine armherzige Kunst Zweige abreißt und Blätter vorweist; er kann keinen Gefallen daran haben, im Geräusche der verdorrten Blätter sich zu ergötzen. Auf die mächtigen Wurzeln, auf den tüchtigen Stamm und auf die hochwipfligen Aeste, vorzüglich aber auf den innern Geist, der treibt, richtet er seinen Blick und hat Freude an der Uebung und dem Leben. Zwar sind die alten Sprachen tot d. h. sie werden nicht mehr gesprochen vom Munde des Volkes, aber der Geist ist in ihnen und wird ein Denkmal einer herrlichen Größe und einer originellen Frischheit des Lebens ewig dastehen. Wer in toten Formen ohne Begriffe mit kleinlichem Geiste um­ herseufzt, lebt wie der Regenwurm, der in blinden Gängen umher­ tappt und des Lichtes entbehrt. Wird aber die Form selbsttätig ab­ gezogen und fällt ste aus dem Gebrauche heraus, so ist die Form und der Begriff und die Sache beisammen und ungetrennt. Wenn

diese Form, wie es im Leben ist, an Uebungen geschlossen bleibt, und als Resultat aus geordnetem Stoffe sich^ergibt, wo die Form an der Sache vereinigt dargeboten wird, da ist die bedungene Festig­ keit der Form, die an der Sache klebt, und die Uebung, die ohne Form nicht gegeben werden kann, verbunden. Aus der lebendigen Durchdringung der Form mit der Anwen­ dung, die aber gleichzeitig und nicht hintennach ist, wird für die Sprachen ein neuer Geist aufgehen. Es wird nicht der Geist einer mühseligen und unseligen Trennung, es wird nicht der verküm­ merte Gang unnatürlicher Absonderungen sein, nein! das Leben der Sprachen wird daherrauschen, wie ein Strom gewaltig daher­ rauscht. Seitdem das Altertum wieder auferstanden ist, lebt auch ihr Geist mehr unter uns; aber es ist Unverstand zu sagen: er hat uns aus dem Todesschlaf erlöst; vielmehr haben auch wir das Recht zu sagen: wir haben dasselbe erlöst aus dem Todesschlafe seiner Bücher. Ohne das Auffassen des Lebens einer Sprache ist kein echtes Auf­ fassen der Sprache möglich, denn wen das Lebendige nicht ergreift, wird den das Tote ergreifen? Können, um so zu sagen, Tote Tote auferwecken? — Zwar wird die alte Sprache nicht mehr gesprochen werden, und das soll sie auch nicht — aber der geistige Strom, den die Schöpfun­ gen der Menschen bilden, fließt dann ungestört und ununterbrochen fort, denn wenn sich auch die Sprachen, die Sitten und die Re­ gierungen ändern, so soll er nur fortfließen, ungestört und ununter­ brochen. Gewiß ist, daß durch den Vater auf den Enkel uff. gewirkt wird, daß dies gewissermaßen der natürliche Zusammenhang einer Zeit mit der andern ist. Daß diese Präge aber durch die vielen Hände, durch welche sie geht, auch von ihrer Körnigkeit und ihrer Bezeich­ nung verliert, ist eben auch so gewiß. Die Sprachen sind demnach noch die allgemeinsten und sichersten Kanäle, die alle diese einzelnen Ströme verbinden und die Weisheit Indiens mit den Schätzen Griechenlands vereinigen. Die Verbindungsglieder sollen rein, selbständig und tadellos bleiben; und das Element der Verbindung

darf nicht stehen noch sumpfig werden. Jemehr wir aber die Sprachen in ihrer Einheit und ungestörten Eigentümlichkeit erhalten und durch keine Trennungen schwächen, jemehr fließt alte und neue Zeit zusammen. Diese Eigentümlichkeit, die sich durch Himmel, Volk und Zeit gebildet hat, muß nicht durch die Hände einer unverständigen Verallgemeinerung verwischt und ausgelöscht werden. Der ver­ schiedene Klang ist es nicht, wovon ich spreche, es ist der Geist, der sie belebt, der ihre Formen so und nicht anders fich schuf. Tilge ich diesen und behalte ich nur den Ton, so habe ich den Wein ausge­ schüttet und die Trebern behalten. Diese Einheit aber geht durch den zerreißenden und zerspaltenden Unterricht verloren; ebenso wird auch durch das Anpassen an die Muttersprache, deren Bedürfnis man dann fühlt, ihr eigentümliches Gepräge verwischt, und ihre Farbe verbleicht. Selbst die Anwendung und die Tat ist nicht mit ganzem Herzen in der lateinischen Welt, wenn man die Sprache in beständiger Rücksicht auf eine vorhandene bezieht. Nicht nur, daß man hiedurch eigentlich nicht erhält, was die Sprache an s i ch ist, sondern was sie im Verhältnis zu einer anderen ist, erhält man hiedurch mehr römische oder griechische Klänge und Töne für deutsche usw. Gedanken und Gefühle. Ueberhaupt führt es sehr leicht zu Irrtümern, wenn eine alte Sprache an eine neue angelehnt wird und nicht vielmehr an die allgemeine Sprachlehre, welche allen zum Grunde liegt. So beruht der Syntax alter Sprachen gewöhn­ lich nur auf einer Vergleichung mit der Muttersprache, die erst dann eintreten sollte, wenn man die anderen an das gesamte Maß der ars grammatica angehalten hätte. Ueberhaupt gibt ein in bestän­ diger Beziehung auf eine andere Sprache gegebener Unterricht nicht so sehr die Sprache selber, als vielmehr eine S e i t e der Sprache in Beziehung und Vergleichung auf eine andere; was sie aber an sich ist in ihrer ursprünglichen Gestalt und in ihrem eigenen Geiste, das bleibt in der Entfernung oder es enthüllt sich unseren Augen gar nicht. Es bleibt demnach der ganze Charakter der Sprache verborgen und für Worte sind andere Töne gegeben. Es muß einen Weg geben, wo ich sie in der Reinheit ihres öffentlichen Lebens, in der

Natürlichkeit ihres häuslichen Betragens unverfälscht anschauen kann. Eine fremde Sprache darf sich nicht hineindrängen und darf den Spiegel nicht trüben, ohne den wir ohnmöglich unbefangen in die alte Welt sehen können. Es muß einen Weg geben, wo ich sie selbst sprechen kann und zwar durch sie selbst, dies ist nur möglich in der naturgemäßen Ordnung ihres eigenen Baues, in den un­ unterbrochenen Reihenfolgen, die die Sprachen als Sprachen, weder als Form, noch als Philosophie auffassen. Was sie hat und wie sie es eben hat, muß geschöpft werden und das mit einem Ernst und einer Vorsicht, wie es die Sache fordert und verdient. Lasse ich gleich sie sprechen in Uebungen und Reihenfolgen, so tötet mich nicht die Form und die Philosophie, deren Begriffe dieser Sprache fremd waren, reißt mich nicht von ihrem heimischen Boden auf den Boden der jetzigen Zeit. Ein also durch alle Formen mit Strenge in seiner Individualität aufgeführter Sprachbau ist alsdann zugleich ein für alle Sprachen gegebener Leitfaden zur Erlernung dieser Sprachen. Jede Sprache braucht dann diesen Sprachbau nur zu über­ setzen und alsdann hätte sie einen in der fremden Sprache selbst gegründeten Gang von Uebungen und Reihenfolgen, die gerade ins Altertum führen. Die Verschiedenheiten und Eigenheiten jeder Sprache, sowie auch ihre Uebereinstimmung treten immer an der Hand der alten Sprache ein und es kann nicht fehlen, bei dem aus der alten Sprache selbst geschöpften Gange^muß jede Ueberein­ stimmung und jede Abweichung notwendig eintreten.

ii.

Memorie und Verstands

sprechen sich die pädagogischen Bedürfnisse der Zeit, wenn ) und sagt mir: Du bist nicht aufrichtig gegen mich gewesen, hast mir vieles verschwiegen rc. Ich gehe nach Jferten. Komm mit. Du bist in xx verliebt, auch will ich dir ein Rendezvous verschaffen rc. — Nach dem Essen ist eine Prozession von weniger Wahl und wenigem Sinn. Jäger und ich gehen dann in eine Brasserie, wo wir gutes Bier trinken und vertraulich untereinander sprechen.

1) Ueber Steffan siehe immer den Brief vom 18. April 1820. S. 233 ff. Genauere Daten fehlen. 11

(Aus dem Briefbuch.)') An Marie Schmid in Jferten. i. Brief.

Freiburg, den 17. April 1820.

Lieb. M. Ueber morden wird es ein Monat, daß ich Dich nach einem langen, langen Zwischenräume zum erstenmal wieder sah 1 2). Dieser Tag soll mir ein Festtag sein. Ich werde ihn zwar in Wehmut zubringen, nicht anders als ein Verbannter, aber Schmerzen dieser Art sind, wenn gleich bitter, für mich dennoch süß. Denn was anders ist an unserer Trennung schuld als gerade unser innigste Wunsch, immer beieinander zu bleiben. Wenige Stunden liegen zwischen uns; der Kürze dieses Weges ungeachtet, bist Du für mich ein verzauberter Schatz, ich darf ihn nicht heben. Ein wahrer Schatz, dessen Besitz mich glücklich macht! Oft schon hab ich auf der Post nach Briefen mit poste restante gefragt. Wiewohl ich mutmaßte, daß ich von Dir noch keinen Brief zu erwarten hätte, so ergab ich mich doch dieser Täuschung jedesmal so willig hin. Wenn ich mich nicht irre, so ließest vielleicht auch Du unter dieser Zeit nachfragen. Ich dachte mir, wie süß diese Hoffnung und wie sauer eine getäuschte Erwartung dieser Art sei — deswegen breche ich das Stillschweigen. Zwar hätte ich lausend Fragen an Dich zu richten, aber ich setze keine derselben hieher. Du weißt ja, was ich fragen würde. Freuen soll es mich, wenn Dich diese Zeilen gesund antreffen; sie bringen Dir Grüße und Küsse. Ich wünschte wohl lieber. Dir sie selbst auf Deine Lippen zu drücken, anstatt diesem leblosen Papier sie anzuvertrauen. Ich wollte Dir die besten geben, die ich hätte und sie würden wohl zahlreich sein, denn seit dem 6. April habe ich wohl eine Menge auf­ sparen können. Leicht kannst Du ausrechnen, wieviel daß Du bekämst, wenn ich Dir alle Tage nur 100 gäbe. Sei derweil nun mit diesen geschriebenen zufrieden. Jedoch sind es gültige Wechsel, die am frohen Tage unseres Wiedersehens alle zahlbar sind. Den 16. Apnl hatte ich mit Steffan einen besonderen Auftritt. Morgens 5% tritt er vor mein Bett und sagt mir: „Ich weiß alles; Du bist nicht offen gewesen gegen mich. Ich weiß alles, alles. Ich 1) Von den Originalbriefen an M. S. ist keiner erhalten. 2) Vgl. Eintragung vom 23. März.

gehe um 7V2 nach Yverdon, komme mit; ich will Dir mit M. S. eine Zusammenkunft veranstalten." Ich machte große Augen, lächelte und riet ihm an, noch einmal auszuschlafen. Halb unwillig über mich wegen meinen lakonischen Redensarten ging er fort. Gestern abends kam er von Jferten *) hier an und erzählte mir von seinem Aufent­ halt in Yverdonx), woraus mir soviel als gewiß hervorgeht, daß Schmid und Steffan sich sehr feind sind. Der Bruder soll mich be­ sonders im Verdachte haben und solches auch geäußert haben, daß ich eigentlich unter der Decke spielte. Ich mische mich in Händel, die mich nur indirekte angehen, nicht ein und weiß den Wert des Sprüchworts, wer Pech angreift, besudelt jsichj, zu gut zu taxieren. Der Bruder jedoch hat sich gehütet, böse von mir zu sprechen und ich könnte selbst dann nicht bös über ihn werden, wenn er es auch täte. Weißt Du warum? — Er hat eine zu holdselige Schwester, die mir tiefim Herzen wohnt. Wenn es wahr ist, was mir Steffan gesagt hat, so hat im roten Hause ein heftiger Auftritt zwischen ihm und Schmid stattgefunden. Schmid hat alle Schandnamen bekommen und zuletzt soll ihm Steffan mit dem Stock die Türe gewiesen haben. 0 Marie, unser Bruder hat viele Feinde und wenige Freunde. Ich war ihm gut, bin es noch — er aber hat sich einen Arm abgehauen, indem er mich fortschickte. Buchholz ist sein Vertreter gewesen und derselbe weiß die Affäre mit jderj Türe uff., nur hat er, Weltmann genug, das Stillschweigen — gegen mich indeß nicht — brechen wollen. Auch derselbe ist gegen unsere Verbindung und hätten wir sein Schieds­ richteramt angenommen, so wären wir böse weggekommen. Erlaube mir, daß ich Dir Rückhaltung gegen Buchholz anrate. Derselbe hat seine Geheimnisse dem Steffan verraten und letzterer hat ein solches gestern in seiner Leidenschaft gegen Schmid als Aufforderung einge­ standen. Ich habe noch weder Ja und Nein gesagt. Mich dauert der alte Pestalozzi von Herzen, auch Dein Bruder. Steffan ist beinahe auf dem Punkte, die geheime Korrespondenz mit ihm vors Publikum zu bringen; und leider sollen darin Punkte vorkommen, die, wie mich 1) Die französische Schreibweise Dverdon und die deutsche Jferten wechseln bei Roth willkürlich ab, ebenso wie Fribourg und Freiburg.

Steffan versichert hat, unserm Bruder in der Schweiz keinen längeren Aufenthalt erlauben würden. Sei überzeugt, liebe Marie, Schwester, Lieb, daß ich allen meinen Einfluß auf Steffan dahin benutzen werde, seine Wut zu entwaffnen. Ich bitte auch Dich, tue dem Bruder, was Du nur tun kannst. Er ist und bleibt Dein Bruder, wenn er auch gleich unsere Gefühle mit Füßen treten sollte. Wir wollen unterdessen in uns den Frieden bewahren, uns immer lieben und immer stärker darin werden, sintemal die Unschuld des Herzens, die Macht des Willens und die Kraft der Liebe das Glück des Lebens bleibt. Haben wir noch irdische Triebe in uns, die vor Gott nicht angenehm sind, so wolle arbeiten unser Gebet, daß wir immer mehr davon frei wer­ den. Denn je reiner die Hoffnungen und Wünsche — je höher die innere Belohnung. Ich danke Gott, daß Du fromm, demütig und reines Herzens bist und vom Leben in allen seinen Beziehungen eine höhere Ansicht hast als der große Haufen der Menschen. In Edelmut, in Aufopferung und Hingebung fürs Gute wollen wir zusammen wetteifern. Sei überzeugt, den guten Bemühungen gibt Gott sein Gedeihen und unter seinem Beistand wollen wir uns gleichsam einen Garten bauen, dessen Bäume gute Früchte tragen sollen und in dessen Schatten wir einst in unserm Alter Arm in Arm ausruhen wollen. Ich bemühe mich und arbeite an mir, mich nun­ mehr vom Ehrgeize und dem Eigennutz freizumachen. Leben wir beide in der Tugend und der Liebe, so werden wir glücklich sein; ge­ wiß i n uns, hoffentlich auch außer uns d. h. in unserer Umgebung. — So spreche ich mit Dir in Gedanken und ich preise mich glücklich, daß Du gleichen Sinnes, gleichen Gefühles und gleichen Willens bist. Ich lege vor diesmal die Feder aus der Hand, umarme Dich, grüße Deine Schwester und nenne Dich meine liebe, liebe Marie, sowie mich Du Roth. jFreiburg i. d. Schweiz, den 18. April 1820.')

Liebe Schwester Bergleiter! Du wirst ja wissen, daß der Herr Vater zwei Briefe nach Jferten geschrieben hat, worinnen er auf 1) Der Entwurf dieses Briefes im Briefbuch trägt bas Datum vom i;. April.

meine Abreise dringt. Den ersten erhielt Pestalozzi. Er teilte mir denselben erst einige Tage später mit, als er ihn erhalten hatte. Er besorgte, diese unerwartete Nachricht möchte vielleicht meiner noch schwachen Gesundheit schaden. Ich kann Dir sagen, daß dieselbe für mich ein Blitz aus heiterer Luft war. Warum daß der Herr Vater nicht an mich, sondern an Pestalozzi sich gewendet, konnte ich damals so wenig als jetzt enträtseln. Was hatte er denn zu fürchten von die­ sem Aufenthalte? Jedoch so deutlich sprach ich mich damals gegen mich selbst nicht aus. Meine Abreise hing von Wiederherstellung meiner Gesundheit, meiner Finanzen, der Jahreszeit usw. ab. Ich will ja sehen, erwiderte ich Herrn Pestalozzi auf seine Anfrage, was er schreiben solle. Unterdessen schickte er seinen Brief ab. Den Inhalt desselben kenne ich nicht genau. Wenn ich mich nicht irre, so habe ich mich gleich nach meiner Krankheit in einem Briefchen unter dem 3. März über meinen Aufenthalt im Auslande ausgelassen. Damals wußte ich noch nicht einmal, daß unsere Eltern es so dringend wünsch­ ten, daß ich nach Hause käme. Da aber aufs neue Herr Schmid einen Brief bekam, so stand ich nun keinen Augenblick an, meine Heimreise anzutreten. Den 6. April reiste ich von Averdon ab; habe also gefolgt. Zwischen dem 19. März und 7. April liegt für mich ein wichtiger Abschnitt *). Zu Hause will ich Dir alles erzählen und wenig, sehr wenig soll im Herzen zurückbleiben, was ich nicht Dir eröffnen will. Bis ich Dich aber, geliebte Schwester, in meine Arme schließen kann, werden noch einige Monate vergehen; unterdessen will ich Dir aber von Zeit zu Zeit etwas schreiben. Regellos, wie es mir in den Sinn kommt, will ich es aufsetze», und Du bist dann nur so gut, mir alles durch die Finger zu sehen. Ich hatte einen schweren Abschied, jedoch vergoß ich vor den Men­ schen keine Zähren. Man soll sich in seinem Leben nie wiedersehen, fällt wohl jedem Menschenherzen schwer, und mich erschütterte es be­ sonders, da in mir von ohngefähr der Gedanke entstand, daß ja unser ganzes Leben nichts als ein Willkommen und ein Abschied 1) Vermutlich Anspielung auf das Zusammensein mit Marie.

wäre. Ueberdies schied ich gleichsam von den Jahren der unab­ hängigen Freiheit der Jugend. Hinfort knüpft sich alle meine Tätig­ keit an eine Ordnung, an ein Gesetz, an eine Gewohnheit an; und nur ju oft fordert unsere ganje Lage, unsere ganze Umgebung, daß wir einen großen Teil unserer geistigen Selbständigkeit dem Herkom­ men aufopfern. Der Gedanke schon an diesen Schritt hat etwas Wehmütiges und ich erkläre mir auf dieselbe Art die Tränen selbst glücklicher Bräute, wenn sie das schwere Ja aussprechen sollen. Es ist dies nicht Furcht vor Arbeit und nicht Scheu vor Anstrengung; nein! es ist das notwendige Abschiedsgefühl von der Freiheit, die dem Menschen um so teurer ist, je empfänglicher noch seine Seele für un­ sichtbare Güter ist. Ein großer Teil unserer gesellschaftlichen Ver­ bindungen beruht auf dem Mangel dieser Empfänglichkeit und wie oft spannt sich der Mensch in ein eisernes Joch, wenn seine eigen­ nützige Seele nur irdische Vorteile hoffen kann. Ohnfehlbar tritt jeder Mensch an den Kreuzweg, wo sich die jugendliche Freiheit und die männliche Regelmäßigkeit scheidet. Mich freut es, daß ich im voraus mit einem Gedanken an den Beruf gehe und also gewisser­ maßen über der Notwendigkeit schwebe. Um, wie man im gemeinen Leben sagt, durch die Welt mit Ehren durchzukommen, braucht und bedarf es weder oberflächlicher, noch tiefgehender Betrachtungen über das Leben; vielmehr spinnt sich das Leben wie von selbst ab. Wer aber den Vorzug des Menschen in den Gedanken setzt, wird immer trachten, mehr und mehr frei darin zu werden, um ein Bürger im Geisterreiche sein zu können. Ich besorge keinen Tadel von Dir, daß ich von der gewöhnlichen Ansicht des Lebens abweiche; vielmehr ver­ spreche ich mir Deine Billigung, wenn ich hierin dem Drange nach­ gebe, der mich bestimmt, so und nicht anders zu handeln. Sehr gerne vergleiche ich mich mit einem Gärtner, der einen Garten anlegen soll. Noch ehe er die Hand an den Spaten legt, hat er schon in seinen Ge­ danken die Gänge, die Zeilen der Bäume, die Beete uff. entworfen. Der Garten ist gewissermaßen schon in seinem Geiste vorhanden. Liebe Schwester! Mein Leben liegt auch gleichsam schon fertig vor meinen Augen und eine Belohnung, die man selten erwägt, ist mir

schon der Gedanke, es gewollt zu haben. Wenn mir Gott das Leben schenkt und die Gesundheit, so will ich suchen, mit Gebet und Arbeit mein Leben wohltätig zu machen. Die Nachkommenschaft habe ich mehr im Auge als mich. Bäume will ich ziehen, die lustig und stark dastehen und gute Früchte tragen sollen. Die Gerten kann man mit Leichtigkeit beugen, ach! welches übermütige Vertrauen muß ein Mensch zu sich selbst haben, der sich von dem Amte eines Pfarrers viele Früchte verspricht; denn die erwachsenen Bäume, wenn sie sich schon in ihrem Wesen, wie der Mensch in seinem Charakter, ausge­ bildet haben, erfordern beinahe übermenschliche Kräfte, um sie zu beugen! Wie selten gelingt^ und wie oft zerbricht ein Sturm, der hiezu wohl stark genug ist, dieselben oder reißt sie aus ihrer Wurzel. Auf der Jugend beruht größtenteils die Hoffnung des Staates; auf ihr ruhen die frommen Wünsche für ein edleres Geschlecht. Wenn ich alles und alles erwäge, so zieht es mich immer stärker und mit immer größerer Kraft an sich. Darum kann ich von dem unsern Eltern mitgeteilten Plane nicht lassen, außer es gelingt ihnen, mich auf etwas Höheres hinzuweisen, wo ich alsdann gerne nachgeben will. Es scheint mir, jedoch bin ich nicht gewiß, als mißbilligten meine Eltern den Gang, der seit ohngefähr einem Jahre meine Gedanken genommen. Wenigstens sind verschiedene Merkmale da, aus denen man solches schließen könnte. Ich glaube sicher und nehme es als ge­ wiß an, daß Du nicht anders handeln würdest wie ich, wenn sich Dir auch ein Weg öffnete, der Dich so zu handeln aufforderte. Ich denke an die Mißbilligung meiner Eltern nicht gerne. Es wird mir wahr­ haft bang dabei. Vielleicht ist kein Grund zu einer solchen Furcht vor­ handen — ich will es hoffen; und mich darüber ferner nicht grämen, sondern mein Gemüt in einer gewissen Heiterkeit erhalten, damit ich einen Platz offen habe, mich zu erfreuen, selber wenn das Unerwar­ tete kömmt. Du bist zu Hause und wirst wissen, wie es um die bespro­ chene Sache steht. Tue alles für mich, was eine Schwester für einen Bruder nur tun kann. Es ist dies nicht wenig und vergiß nicht, mir solches nach Wien zu schreiben. Den Brief kann ich nicht verfehlen, wenn Du nur auf die Außenseite die Worte poste restante schreiben

wolltest. — Jetzt breche ich von diesem ab und erzähle dir etwas von meiner Reise und meinem Aufenthalte in Freiburg. Es ist eben nichts Anziehendes darin, jedoch wirst Du es nicht gleichgültig finden. Am Tage meiner Abreise schien es sehr schön werden zu wollen, jedoch näßte mich und meine zwei Reisegefährten bald ein Regen, der jedoch nicht lange dauerte. Dieser Regen, der sonst ohne Bedeu­ tung wie tausend andere geblieben wäre, mißstimmte einen meiner Reisegefährten, Herrn Caspar, so sehr, daß ich alles Unangenehme, welches ich beinahe zwei Tage hatte, ihm zuschreiben muß. Derselbe hatte diese Reise schon mehrmals gemacht und immer oder schlechtes Wetter oder Unglück oder unerträgliche, langweilige Gesellschaft ge­ habt. 3n Estavayer (Stäffis) brachten wir einige angenehme Stun­ den zu, jedoch trat die üble Laune Caspars immer mehr und mehr an den Tag. Bald wollte er wieder zurückgehen, bald bleiben, bald mitkommen usw. Ueberhaupt ist dieser Mensch ein eigener Christ. Er kam aus Württemberg nach Jferten, um die Methode zu studieren. Ueber das ganze Jfertener Treiben ärgerte er sich aber bald und gab sich ferner nicht mehr damit ab, sondern las auf seinem Zimmer Schriften, die er in der ganzen Welt ebensogut hätte lesen können. Bei Niederer gab er im Anfang einige Stunden, entzweite sich mit diesem in den ersten Monaten und erhielt dadurch einen Widerwillen gegen alle Institute. Diese sind denn gar schlecht bei ihm angeschrie­ ben. Das Schulwesen im Großen ist ihm verleidet und nur dann scheint ihm eine echte Menschenbildung möglich, wenn ein einzelner Mensch einem einzelnen Kinde sich hingäbe und weihe. Durch die Vermittlung des Münchner Philosophen Schelling hofft er eine Hofmeisterstelle zu erhalten. Ohne eigentliche Beschäftigung blieb er derweil in Jferten sitzen. Da aber seine Anstellung sich mehr in die Länge verzieht als er gedacht hat, so vermehrt diese noch mehr seinen Unmut. Er besitzt viel Geist und seine paradoxen Gedanken frappieren nicht selten. Mir fiel er auf der ganzen Reise höchst be­ schwerlich; schon durch seine Besonderheiten, noch mehr durch sein wunderliches, argwöhnisches Wesen. Die wenigen Züge, die ich Dir von ihm entworfen habe, werden hinlänglich sein. Einige unglückliche

Ereignisse, die er gehabt, lassen ihn die Welt nur durch dunkle Gläser ansehn. Weil er sich etwas ju hoch anschätzt und andere ihre Mei­ nungen den seinigen gegenüber auch zu verfechten suchen, so entsteht aus diesem Konflikt der unglückliche Gedanke in ihm, daß man sich in seinem Werte irre; kurz: daß man ihn mißkenne und ihm Unrecht tue. Diesen Tag war er in einem hohen Grade mißtrauisch. Schon in Stäffis wollte er umkehren, weil er wohl einsehe, daß er mir miß­ fiele. Du kannst mir kaum soviel zumuten, daß ich ihn immer zart be­ handelte, aber gerade dieses sagte er endlich, gefiele ihm nicht. Denn ich ginge nicht offen mit ihm zu Werke. — Der andere heißt Steffan, ein Mann von 30 Jahren. Obgleich er Kaufmann ist, so nimmt er doch an der Pädagogik, Poesie usw. innigen Anteil. Er ist Patriot, Freimaurer und ein Freund Pestalozzis. In Freiburg besitzt er durch seine Aufrichtigkeit viele Freunde, nicht weniger Feinde. Vergange­ nes Jahr fehlte nicht viel, so wäre durch ihn und seine Freunde eine Staatsveränderung im Kanton Freiburg vor sich gegangen. Dazu­ mal war alles über die Aufnahme der Jesuiten erbittert usw. Das Projekt zerschlug sich und er wurde aus dem Kanton auf lebens­ länglich verbannt. Seine Freunde haben ihm jedoch jetzt wieder zur Einsetzung in das Recht des Aufenthaltes verholfen. Er genießt hier hoher Achtung und man muß ihm hierin Gerechtigkeit widerfahren lassen. Denn für die Befreiung des Kantons, wie er glaubte, setzte er im Grunde nichts weniger als den Kopf ein. Vor dieser Geschichte wurde ihm vom Pestalozzischen Institut die Direktorstelle des Bu­ reaus angeboten; nach derselben aufgekündigt. Dieses aber hat ihm bei Pestalozzi und in den Augen der Lehrer keinen Eintrag getan — vielmehr ist es der Geist der Anstalt, sich von allem Politischen ferne­ zuhalten. Ich bedauere recht sehr, daß er wegen bemeldeter Sache nicht eintreten konnte; denn seine Ordnung wäre damals und jetzt nötig gewesen. Er ist ein guter, braver Mensch. Im Auge schon liest man sein Feuer und seine Begeisterung. Ich habe ihn recht gerne und glaube, daß er in seinem Alter, wie der Wein, noch besser werden wird. Diese Zwei wollten auch nach Freiburg und so machten wir denn

Gesellschaft. Wir fuhren bis Stäffis und aßen hier zu Mittag. Nach­ her gingen wir etwas in der Stadt herum und machten uns endlich zu Fuß auf den Weg nach Payerne (Peterlingen). Herr Jaquet, Freund Steffans, kam etwas mit und gab in einem Dörfchen uns einen Abschiedstrunk, von dem ich aber nur nippte, denn schon an der tadle d’hotel hatte jeder seine ihm vorgesetzte Bouteille getrun­ ken; überdies hatte uns ein Herr, dessen Namen ich vergessen, zu Ehren Steffans zwei Bouteillen roten Eilfer offeriert, die auch ge­ trunken wurden. Ich und Steffan unterhielten uns mit diesem Herrn. Caspar aber war mit sich beschäftigt, aß viel und trank viel. Auf dem Wege nun trat sein Argwohn aus dem Herzen auf die Zunge; hiermit verband er zugleich Lobreden auf sich. Hatte er in Stäffis geschwiegen, so sprach er nun. Man erzählt von den Löwen, daß sie sich mit dem Schwänze geißeln und sich so immer mehr in Wut bringen. Nicht anders ging es unserem Caspar. Seine eigenen Worte machten ihn immer hitziger; kurz, er erzürnte sich innerlich bis zum Jngrimme. Was für Zeug daß wir auf diesem Weg durch­ schwatzten, ist nicht möglich zu sagen. Aber das Finale jedes Stoffes war ein Disput, der bis zum Zank stieg. Es war Abend geworden, da wir ins Tor von Peterlingen traten; und Wein und Gehen machte meinen Gefährten immer lauter, rücksichtsloser und derber. Da es in Peterlingen zwei Hauptwirtshäuser vis-ä-vis gibt, so ent­ stand nun die Frage: in welches? Steffan wollte in den Bären, da­ gegen Caspar in das Stadthaus. Beide berücksichtigten die Stadt, schrieen nicht, sondern blieben nur mitten in der Sttaße stehen. Nun sollte ich als ein Dritter entscheiden. Lustig wäre es zum Ansehen gewesen, wie wir drei da debattierten wohl eine Viertelstunde lang, wenn es nicht Nacht gewesen wäre. Endlich gingen wir in den Bären, von wo wir aber, ich weiß den Grund nicht, ins Stadthaus hinüber­ zogen. Im Bären war es, wo Steffan dem Caspar vollends Ohr­ feigen antrug. Dieses war notwendig gewesen, denn nun kam endlich eine Versöhnung zustatten. In der Abwesenheit Steffans weinte Caspar helle Tränen und nannte sich einen unglücklichen Menschen; was er wirklich war. Er bat mich, doch frei heraus zu sagen, was ich

von ihm hielte und ich sollte ihm nur sagen, daß er mir mißfiele, so wolle er nicht ferner durch seine beklagenswerte Stimmung ;ur Last [falteit]. Sag" mir, lieber Roth, frei heraus, was ich in Deinen Augen bin; tust Du dies und löst mir mein eigenes Rätsel, so will ich Dir die Hand küssen. Dich umarmen und Dich meinen besten Freund nennen. Er hatte mich zu fassen gewußt, ich sagte ihm in aller Schonung meine Ueberzeugung und er schien mit mir zufrieden zu sein. Es war ein trauriger Abend. Den 7. gingen wir gegen Avenches zu; er blieb zurück, um den Heimweg zu machen; bat mich in offenen, Steffan in verdeckten Worten um Verzeihung. In der Nähe von Freiburg klopfte dem Steffan das Herz — und war den ersten Morgen auch etwas schüchtern. Als wir durch das Tor ge­ gangen waren, sagte er: „Drinnen wäre ich." Als ich ihn fragte, was er damit hätte sagen wollen, gestand er mir, daß er einen Rückfall der Regierung befürchtet hätte uff. Stell' Dir vor, wir saßen am anderen Tage beim Mittagessen — auf einmal tritt Caspar herein, entschuldigte sich so gut wie er konnte und tröstete uns damit, daß er sagte, sein Blut sei nun ganz kalt ge­ worden rc. Schau, liebe Schwester, so mischt sich oft Unangenehmes einer Lustreise bei — wehe dem, der auf der ganzen Reise des Lebens einen solchen Menschen begleiten muß oder von einem solchen be­ gleitet wird!!! Indem ich das Ganze noch einmal überblicke, bemerke ich, daß ich sehr wenig von der eigentlichen Reise Dir geschrieben habe; es wird sich vielleicht ein andermal tun lassen. Ueber meinen Aufenthalt hier in Freiburg wollte ich Dir gerne noch etwas schreiben, sehe aber, daß hier unten zu wenig Platz ist und daß ich schon genug geschrieben. Ich schließe demnach. Liebe mich ferner, teure Schwester, und küsse Deine Kinder zärtlich, wie's nur eine Mutter tun kann. Schwager Henrich ist mir noch eine Antwort schuldig. Wenn er nur mit Therese gut lebt, so bin ich mit allem zufrieden und wenn das nicht wäre, so könnte er mich mit allen Dingen der Welt nicht zufriedenstellen. Schreib ihm und der Therese, daß ich sie beide hätte grüßen lassen. Mit heißen Wünschen für die Wohlfahrt aller einzelnen Glieder unserer Familie

lege ich die Feder. Gott erhalte uns unsere Eltern noch lange und gebe uns allen seinen Segen. Ich verbleibe Dein Dich von ganzem Herzen liebender Bruder St. L. Roth. (Aus dem Schreibkalender.) 19. April. Nach dem Essen mache ich mit Herrn Jäger nebst Familie,

Mad. Mar. Schmid *) und einem gewissen Herrn Bourgeois von Neuchatel einen Spaziergang nach der Eremitage von St. Magda­ lena. Komme 4% zurück, finde ein Billet von Steffan, laufe noch nach Belfort und zurück, weil ich ihn nicht gefunden. Schwatzen bis i2 Uhr. Schlafe unruhig. (Aus dem Driefbuch.)

Fribourg, le ä Mr. Bezencenet 12), docteur en Medicine, ä Yverdon.

20

Avril

1820.

Monsieur, Deux lettres de mon pere qui me rappellen t avec la plus grande impatience ä la maison ne m’ont pas permis rendre mes devoirs ä celui ä qui je dois ma sante, le plus grand tresor de la vie. Je pris subitement la resolution de partir et je Vexecutai. Je m’estimerais heureux, si je pouvais vous convaincre que j’ai man que ä mon devoir ä defaut de temps et non pas ä defaut de la reconnaissance que je garderai envers vous toute ma vie. En quittant la Suisse mon coeur me dit de vous la temoigner, mais la difficult6 de m’exprimer conformement ä ses sentiments m’empeche de ne pas Vessayer dans une langue etrangere; pas meme dans la langue maternelle. C’est pourquoi j'addresse mes prieres au ciel pour la Conservation d'une personne qui parait nee pour faire du bien a son prochain. Adieu, mon eher Monsieur, que le Seigneur vous accompagne dans votre vie et benisse aussi vos efforts dans l’avenir. Agreez mes salutations bien cordiales 3). S. L. Roth. 1) In den späteren Briefen R.s taucht nirgends eine Anspielung auf ein Wiedersehen mit Marie Schmid in Freiburg auf. Vermutlich handelt es sich hier um eine Namensvetterin seiner Verlobten. 2) Der Name ist in Jferten mehrfach belegt. Näheres unbekannt. 3) Dank- und Abschiedsschreiben an den Arzt, der Roth während seiner Krank­ heit in Jferten behandelte.

Französische Studien in Freibnrg (Aus dem Briefbuch.) An Marie Schmid, Jferten. 2. Brief.

237

Freiburg, den 28. April 1820.

G! In Deinem Brief vom 26. April fand ich Vertrauen und Liebe. Habe Dank! Vertrauen; indem Du überzeugt warst, daß ich sonder Feindschaft gegen den Bruder lebe, Liebe; weil Du eben sol­ ches Vertrauen hattest. Du fragst mich, wie ich lebe? Mit einem Worte: wie ohne Dich, in Erinnerungen -er Vergangenheit, wehemütig in der Gegen­ wart und voller Hoffnungen für die Zukunft. Meine Beschäftigung erstreckt sich auf die franjösische Sprache. Pat. Barras, ein Freund von P. Girard gibt mir täglich von 9%—11 Uhr Unterricht. Wir bedienen uns zur Verständigung der lateinischen Sprache und über­ setzen einen lateinischen Historiker (Tazitus) ins Franjösische. Er be­ sitzt schöne Kenntnisse und betrachtet das Leben als eine Spanne Zeit, wo man fromm und froh sein muß. Seine Aufheiterungen haben Würje und er versteht recht wohl die Nebel, die sich manchmal auf seiner

Stirn zusammenziehen, zu verstreuen.

Nachmittag von

4%—6 kommt Jäger, der Lehrer der dritten Klasse aus P. Girards Präliminarschule, auf mein Zimmer. Mit demselben gehe ich Schritt vor Schritt die Sprache des ultramontanischen Volkes durch. Wir haben uns lieb gewonnen und wir könnten bei tieferer Sondierung noch Freunde werden. Sein Aufenthalt in Lyon und sein Ernst im Schulfache, insbesondere der französischen Literatur, geben ihm eine gewisse Tiefe und Nüchternheit, die gewöhnlich den Lehrern neuerer Sprachen zu fehlen pflegen. Außer dieser regen Beschäftigung lebe ich der Kunst. Die Geige, die lange Zeit von der Guitarre verdrängt war, ist wieder an der Tagesordnung und das Tyrolerlied, welches ich in Noten habe, gibt mir Blut ins Herz und Mut in die Brust, denn auf ein Tyrolerlied halte ich etwas. Herr Jäger ist brav; ich wünsche ihm gerne ein weiteres Feld. Nicht alle Menschen fühlen zwar die Ent­ behrung, die ein solches Leben gibt, aber auch nicht allen ist es ge­ geben, sich eine Bahn zum Volksleben zu brechen. Glücklich, wer^s will; selig, wer's kann. Liebes deutsches Volk, soll der Baum deines Lebens in Freiheit und Wohlsein grünen, so muß zuförderst und vor

allen Dingen die Wurzel in der Muttererde (d. h. im Volke) stark sein. Quellen sind der Ursprung jedes Stromes, ohne diese vertrocknet er. Ich lebe in der Mitte einer Familie, beinahe als Glied derselben. Sie sind religiöse, gute Menschen. Mein Helles Zimmer geht auf die Sarins hinaus, die am Fuße des Hügels, worauf dies höckerige Freiburg liegt, bald trüb und bald klar vorüberrauscht. Die Höhe, auf welcher ich wohne, gibt frische Luft. Ich bin gesund und zwar ge; sünder als zuvor. Auch ist mein Aussehen gut. Es nimmt mich gar kein Wunder, daß ich in Jferten kränkelte, denn das verschlossene Feuer, von Dir gehegt und von Dir gedämpft im Anfange Mo; nats Oktobers usf., ließen mich nicht mehr recht wohl sein. Denn je mehr es mir damals gelang, äußerlich meiner Gebärden Meister zu sein, je mehr unterlag mein Herz den Gefühlen, die mich nun aber so glücklich als vorhin unglücklich machten. Du magst als Weib immer inniger empfinden, stärker empfindet ein Mann. Es geht fast gut mit meiner Gesundheit. Schau, ich bin jetzt comme ii saut. Das Gefühl derselben macht Tritt und Willen fest und erst wenn ich die Heimat; liche Luft atme und ich mein Herz in die Brust meiner lieben Mutter ausgeschüttet habe und alles richtig ist, dann, aber nur dann erst werde ich an Seel und Leib ganz gesund sein. Diesen Nachmittag gehe ich mit P. Barras nach Haute;Rive, einem schönen Bernhardinerkloster. — Schreibe noch von Steffan und wegen einer Zusammenkunft vor meiner Abreise. (Aus dem Schreibkalender.) 30. April.

Gehe mit Pere Barras nach Haute;Rive, wo ein Ge;

schwisierkind von Girard Abt und der Bruder von P. Girard Pro; cureur ist. Der Abt zeigt uns seine Gemälde. Die zwei Stücke von der Geschichte Nicolaus v. der Flühe sind herrlich. Der Procureur gibt Wein, den ich mir tüchtig schmecken lasse. Auf dem Spaziergang nach Hause sprechen wir über Kants Philosophie. (Aus dem Briefbuch.)

Freiburg, den 8. Mai 1820.

Teurer Vater!')... Mir selbst macht es Kummer, daß ich so oft 1) Es wird hier nur der Schluß eines Briefes wiedergegeben, der im übrigen Teile Unwesentliches über den Aufenthalt in Freiburg, Ausflüge usw. enthält.

krank bin. Sehe aber das Leben nicht an als den schönsten Schatz. Will mir Gott wenige Tage geben, — so will ich arbeiten, durch einige gute Werke sie zu verlängern. Diesmal war ich heftig krank. Leib und Seele hat unsägliche Schmerjen gelitten. Es ist vorbei. In der Erfüllung meiner Lebensvorsätze hoffe ich an beiden zu genesen. Eile daher freudig Euch entgegen. Gott hat Euch mir erhalten. Es ist derselbe, der mir das Leben wieder geschenkt hat. Darum betrachte ich es als Pfand und als kein Eigentum. Ihm will ich leben. O helfet mir zu meiner Gesundheit, helfet mir ju meinem Heile! An meinen Muskeln ist nichts zu tadeln. Sie sind stark. Aber meine Nerven sind sehr gereizt. Zwar fühle ich oft warm im Gebete, demohngeachtet schreibe ich meine beständigen Tränen beim Beten meiner Körperschwäche ju. Es ist mir große Lust zu beten, aber in dem­ selben Augenblicke, wo es mir gelingt, verfließe ich und vergehe und muß mich in meiner Empfindung unterbrechen. Man hat mir in London eine Professorstelle an einem Lyceum angetragen. Der Gehalt ist 120 Louisi/or. Ein ivjähriger Aufenthalt würde mir ökonomische Mittel in die Hände geben, wodurch ich in den Stand gesetzt würde, unabhängig dem zu leben, dem ich mich geweiht habe. Ich habe sie ausgeschlagen, weil ich zuerst sehen will, ob ich ohne dieses Geld nicht auch zum Ziele gelangen kann. Es steht mir auch später offen, wenn ich verlassen werde von den Menschen im Vaterlande. Seit meiner Krankheit fallen mir die Haare sehr stark aus. Es sind mir nicht mehr als zwei Viertel geblieben. Dieses schreibe ich vorzüglich meiner gehabten Gemütskrankheit zu. Liebe El­ tern! Fürchtet Euch weiters nicht. Ich bin jetzt gesund und ein Körper, der sonst nicht untergraben worden ist, erträgt viel und erholt sich im Augenblicke wieder. Zudem ist jetzt eine herrliche Jahreszeit zum Reisen und ich sehe jetzt viel besser aus als vor meiner Krankheit. Ich bekomme Fleisch, habe guten Appe­ tit, fühle nie mehr Schmerzen im Körper und die Reise selbst nach Hause wirkt wie Arzenei auf mich. Außerordentlich lieb wäre es mir, wenn Ihr mich entweder als Vater oder durch das Konst-

storium an Glatz') in Wien empfehlen wolltet; ich wünsche näm­ lich bei meinem Aufenthalte in Wien eine Audienz mir bei dem Fürst [?] zu verschaffen. Roth. (Aus dem Briefbuch.) Freiburg, den io. Mai 1820. An Svenske in Petersburg unter der Adresse: A Monsieur, Monsieur le Conseiller d’etat et Docteur de Svenske ä St. Petersbourg ä la grande Mestchanskai Maison de Fröhlich.

Den Herren Svenske, Bousse, Timaeff, Abadoffsky!12) Liebe Freunde! Wie Ihnen die Ueberschrift dieses Briefes sagen wird, so bin ich jetzt in Freiburg. Den 6. April verließ ich Averdon, wo ich so glücklich war. Euch, Ihr Lieben, zu finden. Meinem Willen nach wäre ich noch längere Zeit dort geblieben; die Eltern aber, und besonders meine Mutter, riefen mich, geängstigt von meiner bestän­ digen Kränklichkeit, mit dem liebenden Eltern eigenen Ungestüm nach Hause. Nun bin ich mehr als einen Monat in Freiburg, wo ich P. Girard's Schule besucht und mich etwas im Französischen ge­ übt habe, das ich wegen der Menge meiner Geschäfte in Uverdon leider gar nicht betreiben konnte. Dieser Ueberladung von Ge­ schäften will ich Sie bitten es zuzuschreiben, daß ich bis jetzt Ihnen nicht geschrieben, und letztlich noch einer erschöpfenden Krankheit in den Monaten Jänner und Hornung. Ich hatte mich verliebt, unter­ drückte es, erkältete und übermüdete mich einmal beim Baden und rieb mich endlich durch den Unterricht auf. Eine Brust- und Magen­ entzündung warf mich ins Krankenbett, in dem ich oft vor Schmerz geweint habe, da ich glaubte: ich müßte aus der Welt fort, ohne auch nur etwas getan zu haben. Melmal, vielmal habe ich an Sie gedacht und Sie glücklich gepriesen, da von Euch Vieren auch einer sterben kann und die Zwecke Eures Lebens doch ihren Gang gehen. 1) Glatz Jakob, geb. 1776 zu Poprad i. d. Zips, gest. 1831 zu Preßburg, berühmter Pädagog und Jugendschriftsteller. Seit 1805 als Prediger, später als Konsistorialrat der ev. Gemeinde in Wien. 2) Vier Russen, die sich bei Pestalozzi vom 6. August 1818 bis 30. April 1819 aufgehalten hatten.

Ueber die Armenanstalt

241

Jetzt Bitt ich im Begriffe nach Hause j» gehen und wenn meine Saaten nur einigermaßen gedeihen, so schreibe ich Ihnen, wenn nicht, so sollen Sie auch dieses wissen. Herzlich hat mich Ihr Brief erfreut, den ich in Buchholz's Zimmer las. Buchholz, Schmid, Pestalozzi Gottlieb, ich stießen auf Ihre Gesundheit an und ließen Sie und Ihre segens­ reichen Bemühungen dreimal hochleben. Nehmen Sie die Versiche­ rung, daß wir alle es redlich und von Herzen taten, daß aber beson­ ders ich Ihnen alles Glück wünsche, die solche Unternehmungen brauchen, um aus Einem Punkte ein so unermeßliches Reich zu er­ leuchten und zu erwärmen. Wenn es auch wahr ist, daß die verstor­ benen Edlen Einfluß aus ihrem seligen Aufenthalt auf unserer Erde haben, so versammelt schon hier jede gute Sache um sich die ver­ wandten Geister und diese, Ihr lieben Freunde, werden Euch auch um­ geben, Euch Hand bieten und in einer solchen Riesenarbeit Vorschub leisten. Die Armenanstalt ist von Clindy ins Schloß gezogen und die älteren Knaben geben bereits Unterricht. Daß diese Kinder zu Lehrern bestimmt waren, werden Sie schon wissen. Außer diesen und mit Hülfe dieser hat Schmid noch gegen 20 unter diesem Namen aufgenommen, die aber die Hälfte des Pensionspreises zahlen. Im Anfang gab diese Vermischung beider Geschlechter vieles Gerede in der Stadt und von Amtswegen mißbilligte man dieses Tun. Schmid gab damals nicht nach, die Notwendigkeit aber sich doch je eher, je besser und noch vor dem Tode Pestalozzis in Harmonie mit der Stadt zu setzen, nebst einigen belehrenden Erfahrungen, haben ihn doch veranlaßt, beide Geschlechter zu separieren. Jungfer Schmid hat demnach im Zimmer von Herrn Greaves und im anstoßenden Saale, wo wir die Vorlesungen hatten, nur die Mädchen, die klei­ neren englischen Mädchen den Unterricht erteilen. Die Clindyknaben sind im Zimmer der 4. Klasse (wir haben keine 4. Klasse mehr) und diese geben Unterricht den kleineren Knaben. Die Halbpensionäre sind im Zimmer neben der Treppe und nehmen an allem Unterricht des Schlosses Teil. Einige Tage vor meiner Abreise ging ich mit allen Clindyknaben spazieren und suchte im letzten Augenblick alles

Vertrauen der Kinder, das sie auf mich setzten, dafür zu benützen, wozu jeden fühlenden Menschen ohnedem der Abschied aufzufor­ dern pflegt. Mir und Ihnen fiel das Scheiden schwer und gewiß ist es nichts Geringes, einen geistigen Faden, der die Herzen der Lehrer und Schüler umschlingt, zu zerreißen, wenn man besonders voraus­ sieht, daß man sich in diesem Leben nicht mehr sehen soll. Wie wir beim Hause in Clindy vorbeigingen, gedachten wir alle an Sie, und Tränen rollten über meine Wangen wie über die der Kinder, die das schöne Leben in Clindy im Schlosse nicht gefunden haben. Sabine starb uns den 3. Jänner. Ruhe ihrer Asche und Frieden der Entschlafenen; sie war meine fleißigste und geschickteste Schülerin. Im Schlosse geht alles seinen Gang fort: taiiter, qualiter1),2 nicht nach dem Prinzip, sondern in der Anwendung. Greaves ist schon seit langer Zeit mit dem Schlosse zerfallen und steckte auch den Marx"), den englischen Prediger, an, der gut im Herzen aber ohne Kraft im Willen ist und von der Unordnung in der Wäsche immer seine Jere­ miaslieder anfängt. Nach Briefen aus Pverdon erfahre ich, daß Greaves nach Petersburg geht. Längst schon gab er keine Stunden mehr, sondern vertiefte sich in philosophische Schriften, die in ihm, weil er keine Basis in seinem eigenen Unterricht gehabt hat, nur wie Flöße umherschwimmen. Sie werden ja sehen. Jungfer Shepherd und er verstanden sich sehr gut. Letztere hat mir einiges über­ setzt und geht nach Paris. Beck besucht dieses Frühjahr seine Eltern in Böhmen, wurde zu Ende März in aller Stille getraut, kommt aber wieder zurück. Derselbe hat eine Weltkarte von 10 Fuß Höhe und Breite gezeichnet, die alle Aufmerksamkeit verdient. Perrier3) wird unsere Anstalt verlassen, und Ferrier ist bereits nach Schnepfenral abgegangen. Herr Frank, den Sie als Lehrer in Hoftvyl werden gekannt haben, vertritt jetzt meine Stelle und wird durch ein Jahr von seiner Regierung unterstützt und Herr Kohn4) hat Schloßdienste 1) So so, mittelmäßig. 2) Marx. Lehrer bei Pestalozzi seit 1815. 3) Perrier aus Lyon. Im Institut seit 1817.

4) Vielleicht Cohen, Jean Marie, 1815-25 im Institut.

bekommen. Seit meiner Abreise ist der Bruder von der Mayer als Lehrer angestellt. Buchholz bekommt eine Zulage von 25.00, ist dann aber Biedermann, geht diesen Sommer wieder ins Bad von Aix, ist leider, wie so mancher, unzufrieden über den Gang der Dinge im Schlosse und weissagt dem Institut mit dem Tode Pestalozzis ein unrühmliches Ende. Gottliebist für majoren erklärt und es stießt dadurch dem Schlosse eine beträchtliche Geldquelle zu, die zur Auf­ rechterhaltung viel beitragen könnte, wenn ein Geist der Liebe und der Kraft, die in jeder Begeisterung liegt, damit zurückgeholt werden könnte. Leider ist alles so frivol und wenn die Anstalt wieder zu ihrer alten Bestimmung einer Musterschule zur Entdeckung des psycholo­ gischen Entwicklungsganges zurückkehren soll, so muß notwendig ein reger Eifer, ein warmes Interesse und ein Willen hinzutreten, der kein Opfer scheut. So stehn die Sachen — nicht schlimmer als bei Ihrer Abreise, aber doch nicht so gut, als Sie und ich es wünschen würden. Meine lateinische Arbeit hat mir viele Freude gemacht und der schöne Erfolg hat den Pestalozzi in seinen Ansichten über Sprach­ unterricht gerechtfertigt. Das Merkchen selbst ist noch nicht fertig, wird aber in einiger Zeit es werden. Nach demselben wird schon in Vernet, einem landwirtschaftlichen Institute bei Genf, unterrich­ tet und schmiegt sich sehr leicht an diese Lehrart an, der ich seit der Besuchung von P. Girards Schule auch zugetan bin; seitdem ich nämlich eingesehen habe, daß die Benutzung des Ehrgeizes kein eigentlicher Bestandteil dieser Lehrart ist, sondern nur an demselben worden ist. In meinem Vaterlande will ich das Opusculum fertig machen und alsdann können Sie es zur Ansicht und, wenn Sie es billigen, zum Gebrauch haben. Vorzüglich suche ich die mnemonischen Vorteile zu benutzen und bitte Sie mir Alles mitzuteilen, was mir zur Erweiterung und Anwendung dieser Grundsätze dienen könnte. Ich bitte Sie, nicht nur mir zu schreiben, wie es Ihnen als Personen geht, sondern vorzüglich wie es Ihnen als Schulmännern 1) Der Enkel Pestalozzis.

geht. Herr Heß aus Zürich kommt zu Herrn Murald [ ?] und dieser könnte Ihnen, wenn Sie etwas über das Büchelchen Näheres zu erfahren wünschen, einiges sagen, obgleich ich mit ihm nur kurze Zeit darüber gesprochen habe. Nun leben Sie wohl und schreiben Sie mir bald, vergessen Sie meiner nicht! Behalten Sie in gütigem Andenken Ihren Freund

Roth.

(Aus dem Schreibkalender.)

io. Mai. Auf 4 Uhr habe ich die Freres Girard und Barras, Herrn

phil. Jäger und Steffan auf einen Abschiedsschmaus eingeladen. Anstatt Girard kam Chappuis. Wir waren sehr froh. Ich hatte auf den Tisch Vergißmeinnicht gestellt. Morgens nach 4 Uhr stand ich auf, ging zu Herrn Jäger, um ihn abzuholen; er lag im Bette und befand sich wegen der Ribatte i i. Mai.

[?] nicht wohl. Ich ging daher allein nach Schwarzenberg, von danach Guggisberg und zurück und fand zu meinem Leidwesen keinen Brief. (Aus dem Briefbuch.) An Marie Schmid, Jferten. z. Brief.

Freiburg, den ii.Mai 1820.

Liebe M. Deinen letzten Brief, der kein Datum hatte, erhielt ich den 4. April2) l. I. Drei Läge nachher bekam ich einen von meinem Vater. Er schreibt mir wie vorhin wegen meiner Rückkunft, doch mild und voller Liebe. Er erlaubt mir darin, von Pestalozzi so viel Geld aufzunehmen als mir gefällig wäre, indem er es dann ihm mit großem Danke zurückerstatten wollte. Ich aber mag keins — es wäre dies das erstemal, daß ich entlehnte und überdies will ich keine Ver-bindlichkeit haben aus Gründen, die Du leicht einsehen wirst. Schon längst wäre ich über Tal und Berg, hätten mich nicht andere Dinge zurückgehalten. Seit 14 Tagen ist mein Leinzeug in der Wäsche und nur erst diesen Morgen erhielt ich's und vors zweite hatte ich noch in Jferten einige Gelder einzukassieren, die ich nicht erhalten habe. Meine Freunde, denen ich geliehen, haben vermutlich jetzt kein Geld und ich mag mein Forderungsrecht nicht mit Gewalt geltend machen. Jetzt 1) Statt April soll es hier wohl Mai heißen.

aber warte [i$] nicht länger, sondern reise von hier Sonntag oder Montag nach Bern ab. Zwei oder drei Tage, vielleicht auch nur einen, halte ich mich in Hofwyl bei v. Fellenberg auf, mit dem ich wegen einem Knaben sprechen will, den ich einst nach Siebenbürgen zu holen gedenke. Ein in dem Ackerbau Bewanderter, wie man es vom Institut zu Hoftvyl zu erwarten berechtigt ist, ist in einem solchen Lande ein unbezahlbares Möbel. Von Hofivyl bin ich gesonnen, über Biel durchs Münstertal nach Basel zu gehen. Wolltest Du mir nach Basel schreiben, so müßtest Du solches in der folgenden Woche tun, weil mich sonst Dein Brief nicht mehr treffen würde. Von Basel aus schreibe ich Dir sicherlich und Du sollst alles erfahren, was ich auf dieser Reise, die ich zu Fuß mache, sehe und höre. Vergangenen Sonntag machte ich einen Ausflug in die Uw gegend und besähe die Schlachtfelder bei Murten, wo die Schweizer 1476 das noch einmal stärkere Heer des kühnen Karls von Burgund aufs Haupt schlugen. Bei Laupen 1339 zog sich der Adel zusammen, um die junge Freiheit Berns, die ihm gefährlich zu werden drohte, zu vernichten. Er verlor aber alles, obgleich vielmal an Macht über­ legen. Die Schweizergeschichte trug ich in meiner Tasche und las die Schlacht bei Murten auf dem Schlachtfelde selbst und die Geschichte der Schlacht bei Laupen auf dem Schlosse daselbst, ins Gras hin­ gestreckt. Die despotischen, ebenso andere Seelen, die Sklavereien nicht für den höchsten Schaden halten, begreifen so schwer, wie es möglich gewesen, daß Bauern geübte Ritter schlagen und auseinanderjagen konnten und doch hat die Geschichte noch immer gelehrt, daß ein kleines Häuflein, von Begeisterung beseelt, mehr ausrichtet, als große Herden, die Geld oder Ruhm zusammenruft. Gestern war ich im benachbarten Guggisberg; da wohnt ein be­ sonderer Menschenschlag. Du kennst ja ihre eigentümliche Kleidung, die besonders meiner Hausftau nicht anständig erscheint. Was tut das Kleid? Ihre Sitten sind wirklich abweichend von den übrigen und manches würde an anderen Orten höchstlich auffallen, was hier Sitte und Brauch ist. Die Weiber und Mädchen gehen in die Wirts­ häuser und am gestrigen Feiertag sprach ich mit mehreren. In ihren

Gesprächen zeigen sie gesunden Menschenverstand und viele Treu­ herzigkeit. Junge Leute schlafen oft beisammen; Verletzung der Keuschheit ist äußerst selten; oder daß man mit seinem Liebchen Nächte durch allein sein könnte utttf sich Herzen und drücken ohne das sechste Gebot zu übertreten, geht manchen Leuten sehr schwer in den Kopf, die selber keine Herrschaft über sich haben und daher jeden nach ihrem geilen Sinne schätzen und beurteilen. Das Kilchgehen') in der Nacht von Sonnabend auf den Sonntag, wo das Liebespärchen mitein­ ander schwatzt, ißt und trinkt, ist hier sehr im Schwünge, noch mehr als im Kanton von Bern und Zürich, wo dieses auch im Gebrauche ist. Schwarzenburg und Guggisberg liegt sehr hoch und von Letzterem kommt man bis nach Freiburg immer bergab vier Stunden lang. Bei meiner Zurttckkunft schmeichelte ich mir mit der Hoffnung, daß ich vielleicht von Dir einige Zeilen finden würde. Aber daß ich nichts finden tonnte, weißt Du ja. Am ersten Mai ging mein Brief an Buchholz ab. Ich trete in die­ sem Briefe fest auf, glaube aber nicht ein einziges Wort geschrieben zu haben, welches mißverstanden werden könnte. Hast Du beim Empfange dieses Briefes denselben noch nicht zu lesen bekommen, so glaube ich, daß man Dir ihn aus Vorsicht verschweigen wollte. Steffan hat eigenhändig unterschrieben, nur glaube ich, hält es der Bruder für ratsamer, mich in einem Lichte erscheinen zu lassen,welches ihm mehr Vorteil bringt. Ich für mich bin zufrieden, daß Du es nicht glaubst und Deine liebe Schwester, unsere Schutzpatronin -). Mir ist es mehr als wahrscheinlich, daß Steffan solches zum Bruder gesagt habe, denn über diesen Punkt schlüpfte er mir immer mit der größten Eile hinweg. 2ch kann ihn aber dafür nicht züchtigen, da er von Buchholz unser Geheimnis erfahren hat, behandle ihn daher wie einen bösartigen Hund, den man streicheln muß, damit er nicht 1) Kilt, schweijerisch, Nachtbcsuch des Jünglings bei dem Mädchen. Das Wort ist bis in das Altgermanische und Indogermanische zu verfolgen. Gebräuch­ liche Formen: Kiltgang, Kiltgänger; nächtlicher Besucher. Kilchgehen dürfte dialektische Form sein. 2) Katharina Schmid, siehe l, 319.

belle. In meinem Herzen danke ich Pestalozzi dafür, daß er in Deiner Gegenwart, liebe Marie, nichts gegen mich spricht. Tun sie es aber auch, so laß sie nur sprechen, mit ihren Worten schlagen sie keine Mücke tot. Buchholz hat, ehe ich noch einen Brief absandte, an mich geschrieben und schildert das Betragen Steffans bei seinem Aufenthalt in Jferten entweder als das Betragen eines Narren oder eines Schurken. Pere Girard, dem Steffan seinen Streich auch erzählt hat, äußerte sich gegen mich in einem ähnlichen Tone. Den 9. speiste ich mit Pere Barras, H. Jäger und Chappuis nebst dem aufdringlichen Steffan aux merciers. Ich stellte auf den Tisch als Sinnbild meines Wunsches ein Gefäß mit Vergißmeinnicht. Girard ließ sich ent­ schuldigen, da ein gewisser H. Mayer aus Luzern ihm einen Besuch gemacht hatte. Wir brachten dem Pater ein Lebehoch alle zusammen; ich für mich stieß unbemerkt ans Blumengefäß, gedachte an unsern Bund und geschworene Treue, schloß mit in den Wunsch meine Fa­ milie und Deine und trank mein Glas bis auf den Boden aus. Wenn es Dir an diesem Abend in den Ohren geklungen, so weißt Du jetzt warum? Daß ich Dich nicht mehr habe sprechen können, ist mir hart gefallen, doch ist mir Deine Ruhe viel zu teuer, als daß ich sie auf ein Spiel setzen wollte. Der guten Schwester danke ich aber demohngeachtet für den Wermutstrank, denn haben wir zwei vier Augen, so hat sie allein vier, aus Anlage oder aus Erfahrung? Aus einem von bei­ den oder beiden zugleich? Ich danke ihr für ihre schwesterliche Liebe, oder, wenn Du mirs jetzt schon erlaubst zu sagen, auch für ihre Schwagerliebe mit aufrichtigem Herzen und wünschte tausendmal, wegen ihren treuen Diensten, für sie einmal durchs Feuer springen zu können. Nicht wahr, das wollten und täten wir beide? Den fürchterlichen Tod eines Freiburger Bauernmädchens wirst Du vielleicht schon erfahren haben. Sie hat auf eine jämmerliche Weise ihr junges Leben einbüßen müssen. Beinahe alle Stimmen vereinigen sich jetzt darin, daß sie ihr Liebhaber selbst totgeschlagen habe. Ungewiß ist, ob er sie im Anfall der Weibersucht habe miß­ brauchen wollen und aus Furcht, verraten zu werden, umgebracht.

oder ob er ihr wegen Untreue das Herz aus dem Leibe getreten habe. Im ersten Falle fällt es selbst weichherzigen Seelen leicht, über ihm den Stab des Lebens zu zerbrechen, im zweiten weiß ich nicht, warum er sich nicht auch aus dem Leben geschafft habe. Nicht umsonst steht die Bitte im Vaterunser „Herr, führe uns nicht in Versuchung". Mich hat diese Geschichte sehr beschäftigt. Hat sie ihre Unschuld be­ wahren wollen, so wartet ihrer in einer besseren Welt eine unver­ gängliche Krone, hat sie aber die geschworene Treue gebrochen, so.... so hat sie den Tod verdient. Denn auf der Erde ist kein Gericht, zu rechten gebrochene Gelübde solcher Art, und der Mensch in der Ver­ zweiflung sättigt entweder seine Rache im Blute, oder bricht in schwere Anklagen vor Gott dem Allmächtigen jausj. In beiden Fäl­ len wird er auch sterben müssen, aber im künftigen Leben werden sie weit auseinander sein, wir aber haben auch dann die Hoffnung, in ewiger Seligkeit beieinander zu bleiben. Ja, wir wollen beieinander bleiben unzertrennlich und ewig. Damit wir sicher sind, daß keine unserer Briefe verloren gegangen sind, will ich in der Ecke des Blattes die Zahl des Briefes mit Ziffern bezeichnen. Tue auch ein Gleiches.

Roth.

(Aus dem Schreibkalender.)

IZ. Mai. Da ich heute wieder keinen Brief bekomme, so gehe ich selber auf die Post, weil ich Unterschleif befürchtete. Hier höre ich zu meinem Erstaunen, daß Steffan gesagt hat, daß ich bereits verreist sei und man ihm dieselben übergeben müsse. Am letzten Posttage hatte es keine Briefe, jetzt aber fand ich ein Paket von Caspar. — Am Abend schon schrieb ich ihm ein Briefchen, worin ich ihn bat, seine Schuld zu berichtigen. Darauf eine spitzige Antwort. Er hatte indessen gegen Brenner ausgeschwatzt, aber alles gelogen. Man solle mich z. B. ohnmächtig von Jferten in die Kutsche getragen haben usw. Am Morgen schrieb ich wieder einen Zettel. Ohne Antwort. Nach dem Essen besuche ich ihn im PrisonJ), worin man ihn die Nacht einge­ steckt hatte. Er hatte die Wache geschlagen. Ich zwinge ihn mir einen i) Gefängnis.

Schuldschein auf Stempelpapier auszustellen. Um 3 Uf>r gehe ich von Freiburg fort. Jäger, Brenner und Barras begleiten mich, wir trinken noch etwas in einem einsam stehenden Hause. Adieu. Im Regen komme ich in Wangen an. Schwatze mit den Bauern von Bienen. 15. Mai. Den 15. 7 Uhr in Bern. Disteljwang. Besuche Rüffenacht, wo ich auch esse. Lasse mir den Paß revidieren. Spreche mit dem Herrn Prof. Ziegler und Lutz, womit ich mich über alles ver­ einige, nur darin nicht, daß es nur e i n e Methode gebe, deren Mei­ nung ich bin. Herr Ziegler setzt mir seine Idee über die künftigen Schuleinrichtungen in Bern gut auseinander. Abends bin ich mit Studenten in der Kneipe. 16. Mai. Morgens besuche ich Herrn Prof. Hünerwadel, der mich aber nicht mehr zu erkennen schien. Gehe zum ftanzösischen Gesand­ ten Graf von Talleyrand wegen dem Passe. Abends trinkt: Müller von Schöftland K. Argau, A. S. Rüffenacht von Thun und Schatzmann nebst einem gewissen Wagner, den ich zum vorigenmal nicht gesehen, bei mir 3 Bouteillen roten Wein. Bevor besorgte ich meinen Koffer auf der Douane.

17. Mai. Morgens um 5 Uhr klopft man an meine Türe und ein Neger tritt herein, der im Pulte Geld gelassen hatte. Später kommen die Freunde, auch Schatzmann, und begleiten mich bis sSchloßj Reichenbach, wo wir Kaffee trinken. Rüffenacht (wohnhaft am Zeit­ glockenturm) schenkt mir den Catull. Um 9 Uhr in Hofwyl, wo ich ein Zimmer bekomme. Finde Herrn Braun aus Tübingen als Lehrer angestellt. Herr Hostmann spricht mit mir am Abend viel über Geographie, besehe auch die Karten von Klöden. (Aus dem Briefbuch.) An Freund) Simon Schreiber' ltzermannfiadtl. Hofwyl b. Bern, den 17. Mai 1820.

Lieber Freund! Gerne will ich eingestehn, daß ich durch meine Nachlässigkeit im Briefschreiben von meinem Freunde gewissermaßen 1) Simon Schreiber, geb. 1796 in Hermannstadt, sollte sich nach Beendigung

ein gerechtes Mißfallen verdient habe, hoffe aber, Du werdest mir solches nachsehen, einmal weil dies ein alter und bekannter Fehler an mir ist und zweitens, da Du mich nicht verdammen kannst, ohne nicht auch über Dich wegen demselben Vergehen den Stab zu brechen. Deswegen glaube ich, werden wir wohl daran tun, gelinde über uns beide zu urteilen. Die Datierung dieses Briefes wird Dir sagen, daß ich mich im Augenblicke in der großen Anstalt des Herrn von Fellenberg befinde. Schon meine Heimreise führte mich hier durch, mehr noch das In­ teresse, das ich immer an dieser wichtigen Unternehmung genommen habe. Seitdem ich mich mehr und mehr an die pädagogische Welt anzureihen suche, gewinnt in meinen Augen jede Anstalt dieser Art an Wichtigkeit, so daß es mich Mühe kostet, solche zu verlassen, ohne sie gehörig in mich aufgenommen zu haben. Zuerst muß ich Dir sagen, daß ich den 6. April das geliebte Dverdon verlassen habe. Ich schlug den Weg nach Freiburg ein. Hier hat Pater Girard, ein braver Franziskaner, die Stadtschule nach dem Muster englischer Anstalten eingerichtet. Diese Lehrart des Bell und Lancaster ist jetzt weit in der Welt verbreitet; ihr Wesen gründet sich auf die Verteilung einer großen Klasse in mehrere Abteilungen und auf der Benutzung eines Zöglings zum Unterricht des anderen. (Die dasige Schule hat 4 Klas­ sen und diese werden dann dem Bedürfnisse jeder einzelnen gemäß in mehrere Abteilungen zerlegt.) P. Girard hält viel darauf, daß nur ein Lehrer den ganzen Umfang einer Klasse versehe, während in meh­ reren anderen Schulen, die ich gesehen, mehrere Lehrer jeder ein ein­ zelnes Fach, worin er stark ist, geben. Es ist dieses also wie bei uns. Den 17. Mai kam ich hier bei Herrn von Fellenberg an. (Schon bei meiner Reise nach Dverdon hatte ich die Ehre, ihn zu sehen und zu sprechen.) Seine Anstalt geht ins Große; und wenn gleich keine der Gymnasialstudien nach Tübingen begeben (wohin ihm sein Freund St. L. Roth vorausgeeilt war), um Theologie zu studieren, als das Verbot des Besuche $ ausländischer Universitäten ihn daran hinderte. Er hat dann die Rechte stu­ diert in Klausenburg und später als Landtagsabgeordneter und Politiker sich vielfach hervorgetan. Gest. 1878. Siehe Trausch IV, 388.

schöpferische Idee aus ihr, wie in der Pestalozzischen hervorgegangen ist, so benützt er doch aber gute Maße. Er hat eine gelehrte Schule, eine Armenschule und eine landwirtschaftliche Anstalt. (Alle drei stellen ein Bild des Lebens vor.) Es macht mich so unzufrieden mit mir, wenn ich y—ivjährige Kinder den Homer lesen sehe, da mir kaum ein Blick hinein erlaubt ist. Unser bißchen Latein entschädigt wie man­ chen anderen mich auch nicht. Das schöne griechische Altertum liegt für uns größtenteils verschlossen, wir hatten darin im Anfange zu un­ wissende Lehrer. Gott verzeihe es ihnen, daß ich mit nur zuwahrjem Rechtj dies mein Bekenntnis machen muß. An der Gelehrten­ schule sind gegen 30 Lehrer angestellt. Es ist ein hoher Genuß, mit diesen Leuten umzugehen; ich wünschte Dich gern hier bei mir. Im Anfange wollte ich nur einen Tag hier bleiben, um diesen Mann und seine hiesigen Freunde noch einmal zu sehen. Herr von Fellenberg er­ suchte mich aber wenigstens eine Woche hier zu bleiben und hat mir auch jetzt wie zuvor eine Lehrerstelle angetragen. Ich wollte es gerne, kann es aber nicht. Meine Eltern wünschen, daß ich zurückkäme und dies ist stärker als all das Interesse, welches michchierher fesselt. Wie glücklich war ich nicht in Averdon! Auch hier würde ich es sein. Von hier bin ich gesonnen, über Basel nach Straßburg zu gehen, um als­ dann über Karlsruhe, Tübingen nach Ulm zu kommen, tpo ich mich einschiffen werde. Ich hoffe Dich, lieber, teurer Freund, im Herbst laufenden Jahres noch zu umarmen und dann immer um Dich zu sein. Ich freue mich darauf. Wir wollen Freundschaft halten später, so wie wir es jetzt getan haben. Nur Furcht, zudringlich zu scheinen, hat mich abhalten können, Deinen lieben Eltern, die ich so sehr verehre, einmal einen Brief zu schreiben. Es wäre gewissermaßen Pflicht von meiner Seite gewesen. Ich lasse mich ihnen bestens empfehlen. Deine Schwester grüße ich herzlich. An den Buchenwald in Kleinschelken, wo ich unsere Namen in eine Buche einschnitt, habe ich mich vielfältig erinnert, an unsere Quartette, an unser ganzes sonstiges Treiben. Gehe zu meiner Schwester und küsse sie warm wie ein Bruder. Meines Herrn Schwagers Brief mit dem Geld habe ich in Jferten

Die Heimkehr

2?2

nicht abgewartet; man wird es mir nachschicken. Ich lasse ihn freund­ schaftlich grüßen und ihm danken. Einen wahren Gefallen tätest Du mir, wenn Du im Gergerischen Hause, da wo ich wie ein Kind müt­ terlich, schwesterlich und brüderlich behandelt wurde, meine Grüße ausrichtetest. Während ich dies schreibe, stehen mir so viele Personen vor Augen. Es wäre mir unmöglich, alle zu nennen. Weißt du was? Grüße alle, von denen du weist, daß ich es tun würde. Roth. (Aus dem Schreibkalender.)

18. Mai. Um 7 Uhr bin ich in Dimerswyl bei Kluge, hospitiere in der Religion und griechischen Stunde. Herr Zuberbühler zeigt mir etwas vom Urdreieck von Herbert. Zu Mittag speise ich in Buchsen bei Müller. Von 2—3 bei Satter, der mir sein math. Buch seiner Methode zeigt. Von 5—6 bei Braun, wo einige Herren den Sallust lesen. Von 6—8% in der Musikprobe. Spiele mit. Bis 11 Uhr dann wieder bei Laner. 19. Mai. Schreibe einen Brief an Simon Schreiber'). Vergesse

das Mittagesftn, gehe spazieren.

Mai. Von 7—8 bei Braun im Lateinischen, von 8—9 bei Müller im Homer, von 9—10 bei Schmidt und 10—11 bei Bischoft, gehe auf 20.

sein Zimmer, sehe daselbst Schneiders lateinische Grammatik, wie auch von Zucht. Nach dem Essen spreche ich mit Hoffmann, gehe nach Dimerswyl zu Kluge, trinke da Tee und esse zu Abend bei Hern v. Meiden. Um 11 Uhr bin ich wieder zu Hause. 21. Mai.

Pfingsten lese ich in Fellenbergs Rede.

22. Mai.

Bei Wehrli auf dem Feld, es werden Schollen zerschlagen

im Kartoffelfeld, später Erbsen gehackt. Von 12—1 in der Armen­ schule, wo Geometrie gelehrt wird. Gebe auch Aufgaben, es macht mir Freude. Nachmittag mit Lippe über Knabeninsiitution, liest mir auch etwas davon vor. Gehe mit Herrn Fellenberg, Lippe und 1) Vermutlich die Reinschrift des voranstehenden Entwurfes.

jwei Knaben nach Buchsen jtt dem Grabmale eines Knaben. Um 7 bei Wehrli, der mir die Ackergerätschaften zeigt: Säemaschine, Expirator, Würfelmaschine, Wurzelreißer. 23. Mai. Sehe mit der Säemaschine säen. Spreche mit Lippe, der mir die Steinplatten zeigt, welche Leopold gestochen hat und welche die Vorstellungen enthalten, welche die Kinder um Neujahr gemacht haben sollen. Nach dem Essen mit Panzel und Braun im Wirts­ haus, wo wir Kaffee trinken. Nehme beim Abendessen Abschied von Fellenberg und Lippe und Bischoft. Bin dann bis 11 Uhr bei Braun, vor dem Essen bei Kluge und Zuberbühler in Dimerswyl. 24. Mai. Um 4 Uhr stehe ich auf, komme aber nur um %6 fort. Wehrli kommt die Treppe herunter. Trinke Kaffee mit Müller und nehme auch hier Abschied, gehe über Moosaffoltern, Diesbach, Dotzingen, Gottstadt nach B i e l, wo ich um 12 Uhr ankomme. Spreche mit Winternitz und esse mit ihm. Um 4 Uhr gehe ich mit auf einen Spaziergang in den Jura zum Wasserfalle der Suze. Schlafe in der Krone. 2;. Mai. Schlafe bis 7 Uhr — gehe dann zu Winternitz, der dort eine recht schöne Stelle hat. Es ist aber keine sehr große Herzlichkeit unter uns, obgleich nur aus Verschiedenheit der Meinungen. Er scheint mir das Leben zu leicht zu nehmen und findet selbst in Gedan­ ken einen solchen Genuß, daß er weniger hart in seinem Berufe arbeitet. Gehen an den See spazieren. Mir ist nicht wohl bei ihm; sprechen über meine Pläne und Grammatik. Er gibt mir zu, daß ich einen guten Willen habe, daß der Plan wohlfeil sei — dem ohngeachtet spricht er mir alles ab, warum?—weil ich nicht in die Philo­ sophie eindränge!------ Bade im See und esse im naheliegenden Wirtshaus Käse und Brot. Um 4 Uhr geht er mit bis Bözigen, wo wir Bier trinken. Adieu. Gehe bis Tavannes durch Pierre Pertuis mit einem Badergesellen, morgens [26. Maij ohne ihn fort. Früh­ stücke in Moutier, wo ich mein Päckchen dem Knechte gebe, der es bis nach Aesch führt. Spreche mit Glasmachern (Badensern) in Courrendlin, wo ich Eier und Wein genieße. Zwischen Soyhiere und

Laufen nimmt mich ein Bote auf den Wagen. Um 7 Uhr in L a u f e n im weißen Rößli/wo ich zu Nacht esse und schlafe. 27. Mai. Derselbe Bote hatte mit versprochen, mich bis Basel mit­ zunehmen und mich um 2 Uhr zu wecken. Er hat es nicht getan. Von 5—ii ging ich nach Basel. In Aesch hole ich mein Päckchen und trinke Kaffee. Vor Aesch hegt sehr malerisch: Angstein. I n B a se l zum wilden Mann Nr. 6 das Zimmer... (Aus dem Briefbuch.) An Marie Schmid, Iferten. 4. Brief.

Basel, den 28. Mai 1820.

Liebe Marie! Ich kam hier vor Mittag den 27. l. M. an. Der Gang von Biel bis hierher durchs Münstertal gehört zu den schöneren, die man in der Schweiz machen kann. Doch ich will von vornen anfangen. Von Fribourg ging ich den 14. d. M. weg. Es begleiteten mich eine starke Stunde weit einige Freunde, bis zu einem einsam stehenden Wirtshause, wo wir den Abschiedstrank taten. Einige Auftritte hatte ich mit Steffan, den ich so zart behandelte wie nur möglich. In mei­ nem Brief vom 11. schrieb ich Dir dieses schon. Ich hatte Steffan einiges Geld vorgestreckt und er versprach mir, solches pünktlich zu zahlen. Gegen Ende meines Aufenthaltes kam er immer seltener zu mir und war sehr schwer zu Hause zu treffen. Ich schrieb ihm daher ein gutmütiges Billet, er antwortete bösartig. Nun nahm ich den Hut, um zu ihm zu gehen, hörte aber da, daß er auf der Hauptwache festgesetzt sei. Ich ging zu ihm. Er war an den Händen stark blessiert, weil er sich auf der Wache herumgeschlagen hatte. Diese hatte ihn nachts auf der Straße angetroffen und er soll sie angegriffen haben. Da er kein Geld hatte, so habe ich mir nun einen Schein ausstellen lassen, der über einen Monat fällig ist. Mein Hausherr hat die Be­ richtigung dieses Geschäftes übernommen. Bei einem anderen An­ lasse, den mir Steffan gab, mußte ich wegen meiner Kälte froh sein. Du weißt, daß ich am 11. Mai nach Guggisberg ging. Es war dies ein Posttag. Steffan aber benützte meine Abwesenheit, um auf die Post zu gehen und die Briefe an mich abzufordern, da ich in mein Vaterland abgereist sei. Glücklicherweise war keiner da, sonst wäre er

vielleicht frech genug gewesen, dieselben auch aufzubrechen. Ich sage, zum Glück waren keine da, sonst hätte das vermutlich eine Basis für einen Kriminalprozeß geben können. An diesem Tage aber erwartete ich von Dverdon aus sicherlich Briefe, war also unzufrieden darüber, daß mir der Briefträger keinen Brief brachte. Ging daher selber auf die Post. Hier hörte ich nun, daß Steffan gesagt habe, daß ich nach Hause verreist sei. So ist es möglich, liebe Marie, daß unsere Correspondenz auf diese oder andere Weise unterschlagen werden könnte. Es ist aber wahrscheinlicher, daß meine Briefe als Deine unterschla­ gen werden. Da nun dieses immer denkbar ist, so lasse Dich dadurch ja nicht irre machen, sondern glaube immer an mich, unerschütterlich, wie Du ein Recht hast, es zu fordern und wie ich es um Dich zu ver­ dienen suchen werde. Vom Bruder haben wir dieses beinahe nicht zu fürchten, denn er hat Achtung vor den Gesetzen und weiß wohl, daß das Aufbrechen von Briefen der Post ein Staatsverbrechen ist. Steffan aber suchte hinter mir immer große Geheimnisse und seine Neugierde verleitete ihn zu diesem Streiche, den ich ihm nur aus Ach­ tung für frühere Verhältnisse habe hingehen lassen. Unter anderen Tollheiten, die er mir zumutet und die bloß in einem echauffierten Gehirn entspringen können, ist auch das, daß ich General der Jesui­ ten sei und ein Teil meiner Traurigkeit, die man an mir in Jferten bemerkt habe, von der geheimen Nachricht herrühre, die ich aus Ruß­ land erhalten hätte, von der Vertreibung dieser Leute. Auf der an­ deren Seite scheint er mir in Freiburg einen großen Einfluß auf die Polizei zuzumuten, da er mir in Gegenwart des wachhabenden Offi­ ziers den Vorwurf machte, daß ich allein es wäre, der ihn ins Ge­ fängnis gebracht hätte. In Bern langte ich nur den folgenden Tag an, da ein starker Re­ gen mich in Wangen zu übernachten nötigte. Den 15. und 16. blieb ich in Bern und ließ mir meine Pässe von dem französischen und österreichischen Gesandten unterschreiben. Ich kaufte mir hier eine artige Sammlung von Schweizertrachten und Gemälden schwei­ zerischer Gegenden, die ich durchreist habe, und will einmal damit Dein Zimmer zieren. Nachdem ich am 16. meine Koffer auf die Spe-

dition gegeben, einen Haber sack gekauft und bezahlt hatte, ging ich am 17. nach Hofwyl, wo ich um 9 Uhr morgens eintraf. Herr von Fellenberg ließ mich nicht sobald fort, als ich mir vorgenommen. Schnell wurde mir ein Zimmer eingeräumt, ein Bedienter ange­ wiesen «ff. Ich blieb hier vom 17. bis zum 24. In diesen 6 Tagen habe ich vieles mit den Lehrern gesprochen und muß allen diesen Ein­ richtungen meine Zufriedenheit erteilen. Die Anstalt für die höheren Stände hat mehr als 100 Zöglinge. Die Armenanstalt zählt 40 Kna­ ben. Die Lehrerzahl ist gegen 30. Wenn ich hier hätte bleiben wollen, so hätte ich von Fellenberg eine ansehnliche Stelle erhalten und es wären mir alle 4 Klassen des lateinischen Unterrichts anvertraut worden. Im Griechischen und in der Mathematik sind die Kinder weit, im Lateinischen hapert es ein wenig. 3m ganzen herrscht große Ordnung und Fellenberg versteht es recht gut, seine Geschäfte in einem guten Gange zu erhalten. Aber eine gewisse Kälte umgibt ihn, die mir seinen Umgang eben nicht sehr anziehend macht. Die Kinder der höheren Stände haben einen Vertrag untereinander geschlossen und den Lehrern will er eine Konstitution geben. Sie haben schon eine. Sie umfaßt die Rechte und Pflichten jedes Lehrers und sollte in den nächsten Tagen wieder zur Sprache kommen. Allerdings ist da, wo nicht die Liebe herrscht, die Feststellung der bürgerlichen Ver­ hältnisse notwendig *)• In das größere Detail kann ich jetzt nicht ein­ treten, weil es mich zu weit führen würde, will Dir aber einmal mündlich, wenn Du es wünschest, das Nähere mitteilen. Von Pesta­ lozzi sprach er mitleidig, vom Bruder und Dir wegwerfend. Er spricht Dir die Gefühle der Liebe und der aufopfernden Empfindungen ab und glaubt, Spekulation auf Geld sei Dein so wie Schmids Panier. Er wußte natürlich nicht, daß er mich dadurch tief kränkte. Lippe er­ greift wohl die kleinen Regeln der Erziehung, aber ich glaube nicht, daß sein Herz eines großen Opfers fürs Wohl der Menschen fähig sei. Alle Lehrer, inwieweit ich sie kennen gelernt habe, sind brav und 1) Dieses Urteil R.s trifft in allem, was sonst von Fellenberg und seiner An­ stalt bekannt ist, vollkommen zu.

liebten mich, wie wenn ich schon lange ein persönlicher Freund von ihnen gewesen wäre. Den 24. ging ich um 6 Uhr fort und kam über Gottstadt um ii Uhr bei Winternitz in Biel an. Diesem hat man schon aus Pverdon geschrieben, daß ich mit Schmid jerfallen sei. Er fragte mich dar­ über. Ich sagte ihm, daß ich in aller Freundschaft geschieden sei und daß mir Pestalozzi keine Ursache gegeben habe, ihm ein solcher Feind zu sein, wie es im Briefe geschrieben stehe. Ich muß wirklich bedauern, daß Schmid nicht klüger ist und vielleicht zu Gesprächen solcher Art selbst einen Beitrag gibt. Winternitz ist am dasigen Gymnasium Lehrer und könnte daselbst recht glücklich leben. Frank und Caspar sind seine Korrespondenten. Ich aß zu Mittag mit den dortigen Pen­ sionsknaben. Die Knaben tragen Uniform und beobachten eine mili­ tärische Ordnung. Den 25. badete ich mich im Bielersee und freute mich, daß ich wieder so viele Kraft besitze, um brav herumschwimmen zu können. Nachdem, um 4 Uhr, schied ich von Winternitz und traf auf dem Wege über den Jura einen badischen Badergesellen an, mit dem ich bis Tavannes ging. Das Merkwürdigste auf diesem Wege ist der Pierre Pertuis. So heißt ein Weg, den die Römer durch einen Felsen gehauen haben. Die ganze Straße liegt sehr romantisch und hat mir wohl gefallen. Bon Tavannes ging ich um 4 Uhr morgens fort und kam um 10 Uhr in Montier an, wo ich frühstückte. Hier gab ich meinen Habersack dem Knecht des Hauses, der ihn auf dem Wagen bis nach Aesch mitnahm. Ich aber gelangte diesen Abend nur bis Laufen und hatte das Glück, daß mich unter Delemont ein Wagen­ bote einsteigen ließ. In Laufen schlief ich im weißen Rößli. Derselbe Bote versprach mir, mich den folgenden Tag auf dem Wagen bis nach Basel zu führen. Wir sollten um 2 Uhr nachts weggehen. Ich wurde aber nicht geweckt, mußte daher zu Fuße gehen. Um 5 Uhr ging ich fort, frühstückte in Aesch und war um 11 Uhr in Basel, von dem ich Dir im nächsten Brief schreiben will, da jetzt schon dieser Brief etwas groß ist. Schreibe mir nach Tübingen rc. rc. Roth.

[Mit Frau Anna Maria Gunnesch, geb. Fay, Kleinschelken l).] Basel, den 30. Mai i. I. d. E. 1820.

Verehrtesie Frau Großmutter! Von meinen Eltern werden Sie schon erfahren haben, daß ich auf der Heimreise begriffen bin. Jetzt stehe ich an der Grenze des schönen Schweizerlandes. Morgen oder übermorgen werde ich nach Freiburg in Breisgau gehen. Von dort bin ich gesonnen, nach Straßburg ins Elsaß einzulenken. Ich hoffe daselbst ein französisches Theater besuchen zu können, was mir bis jetzt nie gelungen ist, obgleich ich mehr als ein Jahr in einem fran­ zösischen Lande gelebt habe. Dann will ich wieder auf deutschen Bo­ den herüberkommen und meine Freunde in Karlsruhe besuchen. In Ulm gedenke ich mich einzuschiffen; daß ich bei dieser Route Tübingen in meinen Reiseplan einziehen werde, werden Sie sich leicht vorstel­ len, da Sie von unserem Onkel in Reußen schon wissen, wie sehr man den Universitätsort lieb zu gewinnen pflegt. Seitdem ich Jferten ver­ lassen habe, erwacht immer stärker in mir die Liebe zu den Meinigen und ich kann Gott nicht genug danken, daß er sie mir alle erhalten hat. Nur mit Mühe konnte ich den Briefwechsel selbst mit meinen Eltern unterhalten; vielleicht haben sich auch diese zu beklagen, daß ich so wenig und dazu selten geschrieben habe. Jedermann ist freilich geneigt sich zu entschuldigen — auch ich — dem ohnerachtet muß ich Ihnen, teuerste Frau Großmutter, das Geständnis machen, daß Nachlässigkeit im Briefschreiben ein alter Fehler an mir ist. Sie wer­ den mir diesen um so leichter nachsehen, da sie von meinen Eltern werden erfahren haben, daß ich teils beschäftigt und in letzterer Zeit kränklich gewesen bin. Ohne daher mich weiter zu entschuldigen, er­ greife ich vielmehr diese Muße, um Ihnen, wenn auch spät, einen kleinen Beweis meiner großen Ehrfurcht gegen Sie an den Tag zu legen. Meine lieben Eltern haben mir geschrieben, daß Sie sich fort­ während gut befinden, was mir eine der angenehmsten Nachrichten war, die ich erhalten konnte. Je größer die Liebe zu meinen Eltern wird, und sie wächst von Tag zu Tag, je mehr treibt es mich auch 1) Die Großmutter R.s hielt sich, wie aus diesem Briefe hervorgeht, oft in Kleinschelken, im Hause seines Vaters auf.

alle diejenigen zu lieben, die meinen Eltern so nahe stehen müssen. Wenn mir Gott die Gesundheit erhält, so werde ich im Herbste zu Hause sein. Ich freue mich darauf, daß meine Ankunft grade in eine solche Zeit fällt, wo auch Sie gewöhnlich in unserem Kleinschelken sich aufzuhalten pflegen. Auf diese Art hoffe ich an einem Plätzchen auf einmal recht viele liebe Menschen anzutreffen. Es ist übrigens merk würdig, daß mein Weg mich in Siebenbürgen beinahe immer durch Orte führt, wo ich Freunde finden kann. In Broos, in Mühlbach sind Anverwandte von unserem Herrn Pfarrer in Reußen, meinem Herrn Onkel. In Hermannstadt treffe ich die Schwester mit ihrem Manne, Frau Schwester Gergerin mit ihren Kindern, die mir so lieb sind wie eigene Geschwister. Zudem noch die Anverwandten mei­ nes neuen Schwagers und den Onkel in der Fleischergasse; in Stolzenburg den Bruder meines seligen Schwagers, dessen Andenken ich nicht genug segnen kann; dann in Reußen den Bruder meiner Mut­ ter und in Kleinschelken die elterliche Familie nebst Ihnen, verehr­ teste Frau Großmutter1). Es ist, wie wenn mir die Vorsehung Rosen auf den Weg hätte streuen wollen, damit ich durch die festesten Bande an das Vaterland gebunden würde. In Gedanken habe ich diese Reise schon zurückgelegt und der Gedanke schon hat so viel für mein Gefühl; was vor Vergnügen werde ich erst empfinden, wenn ich in der Tat meine Anverwandten an mein Herz drücken werde?... Grüßen Sie zunächst alle Anverwandten, dann aber, wenn ich bitten darf auch alle, die sich meiner erinnern. Ich will diesen Brief an meinen Vater adressieren, weil ich auf diese Art glaube, daß Sie denselben am sichersten erhalten werden. Leben Sie recht wohl! St. L. Roth. Straßburg, den 9. Juni 1820.

Liebe Eltern! Ich habe an Euch seit meiner Abreise von Freiburg, wenn ich nicht irre, noch nur einmal geschrieben. Durch ein regneri­ sches Wetter werde ich in jeder Stadt länger aufgehalten, als ich es eigentlich wünsche. Seitdem ich Basel betrat, ist noch nie mir das 1) Die Daten der Anverwandten enthält die Verwandtschaftstafel im 1. Band. 17*

Glück so günstig gewesen, daß ich eigentlich schöne Tage genossen hätte. Während meines Aufenthaltes in Basel regnete es beständig: Je weniger ich aber von äußeren Dingen angeregt war, je mehr ent­ faltete sich in mir selber eine schönere Stimmung. Die dortige Mis­ sionsanstalt erweckte mich; diese fromme« Menschen zündeten auch in mir die Flamme des lebendigen Glaubens an. Die Worte, die ich hier hörte, waren ein Quell des Lebens, der sich wie durch eine brennende Wüste ergoß. Ich fühlte mich stark und aufgelegt, jeden Kampf zu bestehen. Jetzt ist es so tot in mir und eine weite Leere umgibt mich. Seitdem ich französische Luft atme, welken in mir die Baseler Ge­ fühle. Sie sollen aber wieder erfrischen. Denn nur diese Umgebung bringt es mit sich, daß ich nicht hier auch zu Hause sein kann. In Straßburg lebt noch die atheistische Periode fort und auf der Schneiderzunft erklärte erst gestern ein Buchdrucker Mayer, daß es besser ge­ tan sein würde, Voltaires Schriften zu drucken als die Bibel. Von dem Schrecken einer Revolution spricht man so kaltblütig wie von einer ganz gewöhnlichen Sache. Napoleon scheint in dieser Gegend noch viele Anhänger zu haben und wenn ich mich nicht irre, so sind in ganz Frankreich die Gemüter unzufrieden. Ein großer Teil urteilt aus eigenem Interesse und wie kann da das allgemeine Wohl ge­ fördert werden? Da ich mein Päckchen auf der deutschen Seite (in Kehl) zurückge­ lassen habe, so weiß ich jetzt nicht, von wo aus ich Euch das letztemal schrieb. Mein Briefbuch ist nämlich im Päckchen. Ich ließ aber das­ selbe wegen der Douane zurück, die hier ebenso beschwerlich als in Wien ist. Sie nützt aber auch so wenig als dort. — In Basel kam ich den 27. Mai von Laufen an. Ich logierte zum Wilden Mann. Da ich von Freiburg einen Rekommandationsbrief an ein Basler Haus hatte, so ging ich gleich nach dem Mittagessen zu Herrn Miville, Güterfuhrhalter. Er wohnt in Kleinbasel (jenseits des Rheins). Er schien sehr wohlhabend zu sein. Sein Haus gleicht dem Kokelburger Schlosse und in den Zimmern waren vergoldete Tapeten. Daß Basel viel reelles Vermögen besitze, beweist der Umstand, daß man zu 3. p.C. soviel Geld aufnehmen kann als man will. Er selber war, wie

ich zum ersten Male hinging, nicht zu Hause; ich ging daher zur Mutter meines Freiburger Freundes Brenner, der ein naher Anverwandter von Herrn Miville ist. Den Abend brachte ich in der Missionsanstalt zu. Durch die Unterstützung frommer Leute besteht hier seit einigen Jahren diese Anstalt zur Verbreitung des Evangeliums unter den Heiden. Als Fundament alles Glaubens gilt die heilige Schrift und ihre Hauptauslegung scheint mir darin zu bestehen, daß sie alles der Gnade zuschreiben und dem Menschen kein Verdienst einräumen. Wenn man diese Menschen sprechen hört, so wird einem sonderbar zu Mute. Einer von ihnen bildet sich zur Judenbekehrung in Polen. Hier soll der Schleier von Mosis Gesicht anfangen herabzufallen. Der Begeisterste von ihnen war v. Zaremba aus dem deutschen An­ teile von Rußland. Abends hielten sie eine Stunde, wo sie sangen und dann Missionsberichte lasen. Zum Beschlusse betete einer von ihnen ein Gebet aus dem Herzen. Den 28. war Sonntag. Herr Eschmann im Dienste des Herrn Miville führte mich in die Kirchen, wo­ hin er mich abholte. In St. Martin hörte ich den Prediger Wick und in St. Peter den Pfarrer Vonbrunn. Die Geistlichen tragen hier eine große weiße Halskrause und über dem Frack eine Art Kürschen, wie ihn unsere Frauen tragen, nur mit dem Unterschiede, daß er un­ ten abgerundet ist und große Aermel hat. Zaremba führte mich nach Kleinbasel zu Herrn Pf. Stockmayer, der mich zum Mittagessen ein­ lud. Ich war in seiner Kinderlehre. Er sprach herzlich und die Kinder sollen, wie man mir gesagt, sehr gerne diesen religiösen Unterricht besuchen; was eben nicht häufig bei uns der Fall ist. Unsere Unter­ haltung drehte sich immer in religiösen Kreisen umher. Das Inter­ esse, das ich an der Bibel nehme, knüpfte uns nahe aneinander. Wir waren Freunde geworden. — Um 4 Uhr jauste ich bei $9lme Bren­ ner, wohin ich eingeladen war und ging dann mit jüngeren Freunden und Freundinnen aus dem Hause spazieren. Den andern Tag gehe ich mit Herrn Eschmann zu einem andern Oheim meines Freundes Brenner. Er ist Gürtler. Hier sah ich aus Blech ein Gesicht von Louis XVIII. im Profil und wenn man es umkehrte, war es nie­ mand anderer als Napoleon; weiters einige durchbrochene Blech-

platten, die im Schatten die schönsten Gemälde vorstellen. Später wurde im Dottorsaale, welker im Münster liegt, eine Prämienaus­ teilung vorgenommen; gebe nichts drauf. Zugleich hielten zwei neue Professoren Reden. Herr Lindner sprach über den Einfluß griech. Sprache auf das Studium der Theologie. Er bemühte sich, in der griech. Dichtungswelt die biblische Geschichte wieder zu finden. W i e er es sagte gefiel mir besser, als w a s er sagte; fromm und beschei­ den, schon alt. Herrn Gerlach kannte ich schon von Jferten aus. Zweimal hatte er, in der Zeit, daß ich bei Pestalozzi war, diesen be­ sucht. Jung und feurig, war früher Professor in Aarau, steht jetzt an der hiesigen Universität, an der Basel wieder neue Teilnahme nimmt. Ich besuche ihn. Am Abend besucht mich Herr Best, Brenners künf­ tiger Schwager. Spiele bis Mitternacht im Wirtshause Domino, nicht mit Geld. Den folgenden Morgen war ich ganz unschlüssig, ob ich fortreisen oder noch bleiben sollte? — Gehe vormittag mit Zaremba spazieren, er schenkt mir ein Neues Testament mit dem Namensverzeichnis aller Missionszöglinge. Nachmittag lerne ich Herrn Spittler kennen. Herr Miville, der angekommen, führt mich ins Waisenhaus. 3m ganzen 93 (Knaben oder Kinder), der Haus­ vater Mitz führt uns im Gebäude herum, welches vormals ein Kar­ thäuserkloster war. Bei dem Abendsegen, den die Kinder beteten, war ich zugegen. Ein Knabe stieg auf das Katheder und las ein Ge­ bet. Ja! Das Himmelreich gehört den Kindern. Herr Spittler hatte mich auf die neue Schulmeisteranstalt in Brüggen aufmerksam ge­ macht und mich eingeladen, sie zu besuchen. (Es liegt im Badischen, 3 Stunden von Basel. Diesen ganzen Tag regnete es. Die hiesige Re­ gierung hatte ein Gebäude versagt. Der Großherzog räumte ihnen alsdann dies Schloß ein.) 3ch stehe daher um 3% auf. Zaremba kommt um 4 und ein cand. theol. Ludwig um 5 Uhr. Herr Zeller steht der Anstalt vor. Es sollen christliche Schulmeister werden. Seit 14 Tagen war sie eröffnet. Sie teilt die Zöglinge in Brüder und Zög­ linge. Die Brüder sollen, wenn es die Gnade des Herrn zuläßt, grade in die Stellen eintreten, die andere wegen schlechter Dotierung der Stellen nicht annehmen wollen. Den Armen soll das Evangelium

gepredigt werden. Es ist nicht das kleine Vaterland allein, wohin diese Lehrer ausgesendet werden. Wo es nottut, da sollen die Hände geboten werden. Die Bibelversendung, die Missionsschule und diese Schulmeisterbildung können starke Werkzeuge in der Hand Gottes werden. Auf dem Wege erzählt dieser Ludwig und Zaremba seine Lebensgeschichte. Der erstere wollte sich viermal das Leben nehmen. Verzweiflung war die Ursache. Wunderbar verhinderte es Gott. Zuerst wollte er sich erstechen. Er ging in einen Wald an einen ab­ gelegenen Ort, aber im Augenblick, wo er sich den Stoß versetzen wollte, kam jemand den Fußsteig gegangen und er mußte es dies­ mal aussetzen, weil sonst der Verdacht auf diesen Unschuldigen ge­ fallen wäre. Ein andermal beschwerte er sich die Säcke mit Bleikugeln und ging auf die Rheinbrücke und bog sich stark über die Lehne, da­ mit man, wenn er hineinfiele, glauben solle, er hätte sich zu stark übergebogen. Er tat dies, um seinen Eltern keine Schande zu machen. Jetzt war er im Begriff sich hinunterzustürzen, als ein Freund ihn am Rocke zupfte und ihn zum Mittagessen einlud. — Er verschaffte sich Giftpulver, legte es auf das Fenster und ging nur in ein Neben­ zimmer, um einen Freund noch einmal zu sehen. Wie er zurückkam, entstand beim Oeffnen der Türe Zugluft und nahm ihm vor seinen Augen das Pulver weg k. Was kann ich hiezu sagen? Den ersten Juni gehe ich von Basel weg. Es regnet bald, bald scheint die Sonne, immer Wind. In Krozingen esse ich zu Mittag, sehe daselbst das Frohnleichnahmsfest 2c. Den 2. in Freiburg, wo­ hin mir ein Lehrer aus Hostvyl, Hoffmann, einen Brief an Herrn Vogt, auch vormals Lehrer in Hofwyl, mitgegeben hatte. Stellt Euch vor, ich treffe hier meinen Freund Holzmann aus Karlsruhe, der mich nur an meiner Stimme erkannt haben soll, da mich meine neuen Haare so verstellt haben sollen. Dies war unvermutet. Abends speise ich im Goldenen Kopf, spreche viel mit dem Erbprinzen von Hechingen-Hohenzollern und seinem Hofmeister von Krusa. Sie füh­ len mir etwas auf den politischen Zahn. Hier mache ich die Bekannt­ schaft mit dem liebenswürdigen Posisekretär Wand, der mich auf morgen zum Essen einläd. Vormittag (3.) besuche ich das Wechsel-

recht von Tuttlinger und bei Rotbeck das Völkerrecht. Letzterer ist in der Pairskammer, ersterer war in der Deputiertenkammer der ba­ dischen Landstände. Da aber Tnttlinger zu heftig gesprochen haben soll, so ist er, unter dem Vorwand, daß nicht zwei Professoren Juris zugleich auf der Universität entbehrt werden könnten, davon in die­ sem Jahre ausgeschlossen worden. Ich sehe, daß ich meine Nachrichten über meine Reise in diesem Briefe zu groß angelegt habe, vertröste Euch aber auf mein Tagebuch, das ich seit einiger Zeit wieder ordentlich zu führen angefangen habe1). Ich will Euch alsdann mündlich erzählen, was ich jetzt wegen Mangel an Zeit nicht habe tun können. Ich ging von Freiburg um 3 Uhr den 5. Juni weg. Schlafe in Kippenheim und kam den 6. in Straßburg an. Morgen abends bin ich in Karlsruhe, wohin ich schon heute abgegangen sein würde, wenn nicht dieses schlechte Wetter mich am Gehen verhindert hätte. Ich werde fahren. Ich bin gesund und hoffe es immer mehr zu werden. Beinahe glaube ich es mir selber nicht, daß ich schon so lange von Jferten fortgegangen bin. Ihr werdet vermutlich nichts dagegen haben. 1) D. i. die Eintragungen im Schreibkalender. Sie wurden hier, soweit die Darstellung der Briefe eine eingehendere ist, weggelassen. Höchstens verdienen folgende 3 Notizen über den Straßburger Aufenthalt der Erwähnung: 7. Juni. Von 8—9 bei Herrn Arnold im jus (ein Student ist), von 9—10 beim Münster, von 10—11% im öffentlichen Prozesse. Ein Zeugenverhör. Von ii^—i bei Herrn Kraft, der mich zu Färber, Lehrer der Normalschule, führt. Er gibt mir Rechnungstabellen. Von 1—2 zum Essen bei Herrn Dollinger. Auf dem Münster, im Dach einiger Schaden, kann nicht bis zum Knopf steigen. Der Lohnbediente S. führt mich zur Virginie und Jeanette. Fahre nach Ro­ bertsau, trinke ein Glas Wein. Theater: Graf von Burgund, hatte die zwei ersten Aufzüge versäumt. Trinke zu Hause Tee und lege mich ärgerlich zu Bette. 8. Juni. Im neuen Theater inwendig; man baut seit 12 Jahren. In der Thomaskirche... Auf der Bibliothek ein mnemonisches Buch mit einer guten Vorrede. Laufe später nur in den Straßen umher. Von 8—10 im Kränzel. 9. Juni. In die Präfektur, es ist zu früh. Trinke Kaffe, spreche mit zwei stanz. Soldaten. Schlechtes Wetter. Schreibe Briefe. Mit Herrn Kraft in der Societe des arts, des Sciences et d’agriculture. Esse abends im Seminar.

Den 10. um 7 Uhr kam ich in Karlsruhe an. Ich sprang gleich vom Wagen ab und lief zum lieben Freund Becker *), den Ihr aus mei­ nen vorigen Briefen hinlänglich kennt. Er ist, was er immer gegen mich war, die Freundschaft selbst. Seine liebenswürdigen Eltern haben mir ein nettes Zimmer eingeräumt und im Kreise dieser Familie ist es mir so wohl um mein Herz! Ich werde hier einige Tage bleiben und gehe dann nach Tübingen. Da Ihr mir jetzt nicht schreiben könnt, so ersuche ich Euch um so dringender, mir nun Briefe nach Wien zu schicken und soviele als Ihr nur schreiben könnet. Unterdessen lebet wohl und vergeßt nicht, was ich Euch im letzten Brief ans Herz legte. Euer Euch von ganzem Herzen liebender Sohn St. L. Roth. (Aus dem Schreibkalender.) 10. Juni. Um 3 Uhr gehe ich in die Blume, wo der Stuttgarter Kutscher logierte. Beständig schlechtes Wetter. In Rastatt: Table d’Hote. Viele Offiziere an der Tafel. Meine Reisegefährten waren Kaufleute. Einer aus Nürnberg, einer aus Stuttgart. Abends inKarlsruhe, wo ich gleich bei Becker einkehre. Hole mir später das Päckchen.

11. Juni. Es war Sonntag. Salzer predigte in der Garnisonskirche, die von Weinbrenner erbaut ist. Zu lange Säulen. Schwer zu pre­ digen. Ein goldner Gekreuzigter. Der Maler der mißlungenen Hin­ tergrundsgemälde: Himmelfahrt, hat sich aus Verzweiflung über den Tadel erschossen. Abends waren wir im Theater, aufgeführt: Die Sängerinnen auf dem Lande, dummes Stück! — Nachmittag katechifierte Becker. 19- Juni. Nehme Abschied bei Fr. Staatsrätin Holzmann, dann bei Herrn Maklot, Buchdrucker, mit dem ich über die Institute in Jferten spreche. Ich rekommandiere ihm den Knusert als den tätigsten und der die Augen überall selbst hat. 20. Juni. Kneipen in der Einsiedelei (neben dem Wald und Schloß­ garten). Kätzchen und Kaninchen. Henri Wieland, ich und Becker bei Herrn Prof. Wieland, den ich aus dem Auftritt in Moudon noch 1) I, 181, Anm. 3.

kannte. Wir schmollieren, disputieren über die roten Kappen der Bar­ bierer und gehen ermüdet vom Lachen auseinander. Bei Herrn Salzer Tee. Treffe da auch Herrn Corrodi, Lehrer am Lyzeum in Zürich. 21. Juni. Eine Viertelstunde, ehe ich abreise, spiele

ich noch ein Duetto mit der Schwester Beckers Marie. Becker und Salzer kom­ men mit nach Durlach, wo wir Chokolade trinken, auch Wein. Ohn-weit Durlach draußen setze ich mich in den Postwagen. In.......... der besoffene Doktor. Im Ritter zu Pforzheim esse und trinke ich etwas, schlechter Wein. Ohnweit Pforzheim treffe ich einen Rekru­ ten von der Reserve aus dem badischen Oberland, mit dem ich nach Tiefenbronnen gehe, wo wir übernachten (im Bären). 22. Juni. Stehe um 3 Uhr auf, fahre mit dem gestrigen Rekruten in

seinem Wägeli bis außerhalb Attingen, wo wir uns trennen. Komme dann auf dem alten Weg um 1 Uhr in Tübingen an (Hirsch.) Finde die Schwaben noch am Tische. Gehe zu Fr. Vollmer. Herr Fritz, im Haus der alten Anne, die am Sonnabend begraben worden ist, zum Ballmeister. Hetsch, Silcher, ins Museum, zu Salzers Freund: Vogel. Hole von der Post den Brief von xxx! — (Aus dem Briefbuch.) An Marie Schmid, Jferten. 5. Brief.

Tübingen, den 1. Juli 1820.

Liebe Marie! Eben schlag ich mein Briefbuch auf, um nachzusehen, der wievielte Brief daß dies sei. Zu meinem Erstaunen sehe ich, daß ich Dir seit dem 28. Mai nicht geschrieben habe, ist das möglich? Ich kann es beinahe nicht glauben. Sei nicht böse, vielgeliebte Marie! Gelt, Du verzeihst mir? Doch höre! Gleich sprang ich auf die Post und fand Deinen lieben Brief vom 4. Juni. Hier bin ich seit dem 22. Juni, wo ich um 12 Uhr von Herrenberg ankam. Wie ich an die Wirtstafel gehe, sitzen gerade von mir noch Bekannte dort. Du kannst Dir den Tumult leicht vorstellen. Sie hatten es aber bereits erfahren, daß ich hierher kommen würde, weil Freunde aus Freiburg (im Breisgau) ihnen geschrieben hatten. Nun ging es an ein Erzählen neuer und ein Aufräumen alter Geschich­ ten. Du wirst Dich vielleicht wundern, daß ich mich hier so lange auf-

gehalten habe. Ich bildete mir es auch nicht ein. Indessen sind diese Tage wie Pfeile schnell verflogen. Ich kann Dir jetzt wohl sagen, warum ich eigentlich nach Tübingen gehen mußte. Es war nicht bloß wegen dem Genusse, mein Stübchen zu sehen und meine Freunde zu sprechen, sondern verband hiemit auch noch die Absicht zu doktorie­ ren. Eben komme ich vom Buchdrucker der philosophischen Fakultät, bei dem ich mir den Druck des Diploms bestellt habex). 4 Tage habe ich beinahe unausgesetzt an einer philosophischen Abhandlung ge­ arbeitet, gestern reichte ich sie ein und heute habe ich die Versicherung erhalten. Professor Eschenmayer ist Dekan und leitet das Ganze, bei dem ich auch die notwendigen Schritte in den Formalitäten ge­ tan habe. Ich bin vielleicht der letzte Siebenbürger, der es sich ver­ schafft hat, denn ob weiterhin uns erlaubt sein wird, die österreichische Grenze wegen Studien zu verlassen, weiß ich nicht. Der Anschein scheint nicht dafür zu sprechen12). Je nun, ich heiße jetzt Doktor und was Dir lieber zu hören sein wird, ich bin gesund und habe Dich recht gern und werde mir darin nicht nur gleichbleiben, sondern Dich im­ mer mehr lieben. Sei dessen gewiß und hör auf alle Gerüchte nicht. Betrachte sie vielmehr als Proben, obgleich diese Erdichtungen zu grob gewoben sind, als daß Deine Augen es nicht bemerkt hätten; es waren für Dich keine Proben, sondern nur Spässe, die Dich be­ lustigen mußten. Du bist ein herrliches Kind, oder wenn Dir das zu jung klingt, so heiße ich Dich ein herrliches Mädchen und wenn Dir das zu kalt klingt, so heiße ich Dich meine herrliche Braut und wenn Du mit diesem Namen noch nicht zufrieden bist, so will ich Dich zu einem Fräulein?! machen. Ich hab Dich gern, Marie, und meine Liebe wächst zu Dir in dem Grade als ich mein Vaterland mehr liebe. Wir wollen ein tüchtiges Stück zusammenarbeiten. Ich fühle dazu eine Lust in mir, die mir auch, wenn alles bricht, der Lohn in mir seinwird. Solangewirunslieb haben, schmecktuns schwarzes Brotgut und es darf uns nicht bang sein; wenn ich eine Stelle in Deutschland wollte, so würde ich bald eine bekommen. Jetzt denke ich noch nicht 1) Das Doktordiplom Roths ist erhalten.

2) S. S. 12, Sinnt. 2.

daran; kommt Zeit, kommt Rat; ich will zuerst hören, was der Vater sagt. Geht es dort nicht, so läßt sich darüber ein Mehreres sprechen. In Freiburgx) hatte ich einige glückliche Tage mit meinen Freun­ den, die aus Tübingen hierher gekommen sind. Ich traf hier einen gewissen Holzmann, der sich zu einem Prof. Juris bildet, einen Baron von Blittersdorf, einen Varotti. Diese kannte ich schon alle. Aus Hofwyl aber hatte ich eine Empfehlung an einen gewissen Vogt aus Sachsen, dessen ganzes Wesen mir sehr wohl zusagte. Ich war in einer besonderen Stimmung, ich hätte allen Feinden verzeihen, die ganze Welt umarmen können. 3m Wirtshaus „Zum goldenen Kopf" lernte ich den Erbprinzen von Hechingen-Hohenzollern kennen. Die ganze Zeit hin, daß ich dort war, kamen wir immer zusammen. Wäre er nur nicht so weit, an ihm hätte ich einen warmen Beschützer. Unsere Gespräche waren immer gewürzt von interessanten Erörte­ rungen und der Graf von Kayenek schlug in der Wärme, worin wir geraten waren, grade vor, man sollte eine Petition von Seite der Universität an den Großherzog richten, um mich als Professor dort zu behalten. Noch kann ich nicht eines gewissen Urand vergessen, der mir zum Andenken einen goldenen Ring schenkte. 3n beständig schlechtem Wetter kam ich nach Straßburg, wo die Zollbeamten den Fuhrmann, mit dem ich wegen dem Regen einige Stunden fuhr, mehrere Stunden aufhielten, was mir eben nicht angenehm sein konnte. 3n Straßburg habe ich wenig Vergnügen ge­ habt. Der französelnde Zug konnte mir nicht gefallen, auch brachte ich ein wenig Vorurteil mit, was fteilich nicht recht ist, aber einen in der Fremde bei einer gewissen Würde erhält. Hier ist wohl das Merk­ würdigste der Münster. Ich bestieg ihn, so hoch als man jetzt nur kann, da ein Blitz gerade bei der Spitze einiges verdorben haben soll. Man hält daher den Dachstuhl aus Besorgnis vor einem Unglück ver­ schlossen. Die Aussicht ist schön, aber der große Gedanke freute mich doch mehr, der ihn erstehen ließ. Der Mensch wird groß sein, wenn er groß denkt und über die Ameisenhaufen der Welt hinweg sieht, und wird klein sein, selbst wenn ihn das Glück so hoch als eine Turmspitze stellt. i) Freiburg im Breisgau.

Morgen gehe ich von hier fort und werde mich über 8 Tage in Ulm einschiffen. Da ich nun diese Arbeit in Tübingen zu Ende ge­ bracht habe, so sollst Du Dich wegen Briefen nicht mehr beklagen können. Ich bedauere Deine Schwester sehr, daß sie so oft umsonst auf die Post gegangen sein wird. Ich lasse sie herzlich grüßen und küssen. Aber richte es auch aus. Merke Dir also: Du sollst sie — herzlich — grüßen und — küssen —. Roth. (Ans dem Briefbuch.) An Herrn Professor Eschenmayer!

Tübingen, den 2. Juli 1820.

Nur schüchtern schreibe ich dies. Wenn mir nicht mein Herz das Zeugnis gäbe, daß es aus Liebe geschähe, so würde ich mich fürchten zudringlich gehalten zu werden und die Hand anstatt des Fingers zu nehmen. Ich bin so frei, um Ihnen, Herr Professor, diese Bleifeder als ein Andenken von mir zu übersenden. Ich habe sie von meiner Braut bekommen. Nehmen Sie es nicht ungütig auf, daß ich mir diese Vertraulichkeit erlaube und glauben Sie mir, daß ich zwar jetzt weggehe, daß ich aber mit Ernst an dem philosophisch-reli­ giösen Leben, das Sie mir angezündet haben, wie ein munterer Win­ zer arbeiten werde. In vollkommener Achtung habe ich die Ehre mich Ihnen und der Fr. Professorin in ein freundschaftliches Andenken zu empfehlen. St. L. Roth Theolog aus Mediasch im sächsischen Anteile des Großfürstentums Siebenbürgen. (Aus dem Briefbuch.)

Tübingen, den 3. Juli 1820.

Liebe Eltern! Morgen gehe ich von Tübingen fort. Seit dem------bin ich hier. Ich habe in dieser Zeit manche Erinnerung aufgefrischt, an der ich mich in kalter Zeit wärmen kann. Nur wenige, die ich kannte, fand ich noch hier. Alles geht auseinander; hieher, dorthin. Man trifft in den Straßen nur fremde Gesichter und zu den Fenstern herunter sieht kein Auge, das uns kennt. Schulmeister Vollmer, »rein Hauswirt, ist gestorben, Frau Hollandin ist begraben, Frau Weißlandin ist zur Ruhe gegangen. Sollte ich erst nach etlichen Iah-

rett nach Tübingen kommen, so wäre [tcf>] ein völliger Fremder. — So wird es mir in mancher Rücksicht mit Hermannstadt, mit Mediasch gehen. Einige werden gestorben, einige weggekommen, viele sich verändert haben. Wie verschieden aber bildet sich das Herz aus in etlichen Jahren! Man traf sich einst in jedem Gedanken, nun ist die Denkungsart ganz verschieden, man stand sich nah durchs Ge­ fühl, nun trennt und sondert grade dies. Liebe Eltern! Ein vieljähriger Aufenthalt im Auslande kann einem die Fremde heimisch und die Heimat fremde machen. Ich liebe aber mein Vaterland mehr als ich es geliebt habe. Mein Herz ist größer geworden. Darum, Vater, kann eine Sinnesänderung, eine verschiedene Ausbildung des Ge­ mütes, eine verschiedene Richtung des Willens der Einzelnen, nur wenig auf mich vermögen; wie mich auch der Gedanke an diese Verschiedenheit anfröstelt, so soll er mir denn doch m psychologischer Hinsicht sehr wichtig werden. Es fragt sich, ob ich mir aus der ent­ wickelten Knospe nicht die eingehüllte Aster erklären kann. So sah ich auch hier in Tübingen manchen an: er hat sich anders ausgebildet, als ich es vermutet hätte. Manche Hoffnung ist zugrunde gegangen, mancher Wunsch erfüllt, manche Erwartung übertroffen worden. In meinen Freunden habe ich mich nicht geirrt. Das waren, sind und werden brave Leute bleiben. Die Professoren haben ihre Gesinnung gegen mich ganz erhalten. Mit Eschenmayer und Sigwart bin ich am meisten umgegangen. Bengel und Gmelin behandelten mich mit Achtung. Viele Zeit habe ich in meinem Zimmer zugebracht. Mit dem Willen, in Tübingen zu doktorieren und zu magistrieren, ging ich schon von Jferten fort; verheimlichte es Euch aber bisher, um Euch zu überraschen. Am liebsten hätte ich Thesen angegriffen und ver­ teidigt, so aber lief es mit einem Examen philosophicum tmb einer von mir verfertigten Abhandlung über das Wesen des Staates als Erziehungsanstalt für unsere Bestimmung ab. Diese Arbeit mußte ich hier machen und habe damit 5 volle Tage zugebracht. Ich stand früh auf und arbeitete bis spät in die Nacht, sonst hätte ich längere Zeit gebraucht. Eschenmayer ist jetzt Dekan der philosophischen Fakultät und gab mir als ein Erinnerungsmal an unser häufiges philosophisches

Oie Doktorarbeit

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Gespräch sein neu erschienenes Normalrecht, worin ich mit ihm, wie er mir sagte, ziemlich einerlei Meinung sein soll. Er hat mir sehr schön eingeschrieben. Sein Werk aber habe ich noch nicht gelesen. Ich habe bei ihm auch manchmal gegessen und er läßt sich Euch empfehlen. Schon gestern wollte ich fortreisen — aber meine Freunde beweg­ ten mich, noch gestern zu bleiben; nun sollte ich also heute früh weg­ gehen, — aber nun schlugen sie vor, mir einen Commers abzuhalten und ohne grob zu sein, konnte ich es nicht ausschlagen. St. L. Roth. Der im folgenden wiedergegebene, dem Briefbuch nommene

Entwurf

der

D0 kt0rarb eit

St.

1819—21 ent­ L.

Roths

nur eine annähernde Vorstellung davon, in welcher Art er

gibt

das ihm

von Prof. Eschenmayer gestellte Thema über dasWesendesSta.at e s in der kurzen Frist von einigen Tagen bearbeitete. Die Reinschrift, d. h. also die endgültige Fassung der Arbeit, die Roth der Philosophi­ schen Fakultät einreichte, ist in Tübingen, so unglaublich es klingen mag, verlorengegangen. Da die dortige Universität bis heute noch in verschie­ denen Gebäuden in der Stadt verstreut untergebracht und im Laufe des letzten Jahrhunderts ihre Philosophische Fakultät des öftern umgezogen ist, sind Doktordissertationen aus der Zeit vor 1850 überhaupt nicht er­ halten. Trotz meiner persönlichen Vorsprache und anerkennenswerten Bemühens der Behörden war die Schrift nicht auffindbar und muß wohl als endgültig verloren angesehen werden. Ihre Idee und ihr Gedankengang geht aus dem Entwurf des Brief­ buchs immerhin klar hervor. Der Pestalozzische Einfluß (Gründung des Staates auf Liebe und Familienleben) ist unverkennbar. Ebenso die zwischen den Zeilen überall hervorbrechende Abneigung des Verfassers gegen überzentralisterte Polizeistaaten, wie es damals z. B. das Metternichsche Oesterreich war. Stilistisch trägt die Fassung alle Anzeichen eines ersten Entwurfes an sich, vor allem verrät sich darin die Hast des jugend­ lichen Schreibers. „Mit dem Willen, in Tübingen zu doktorieren und magistrieren, ging ich schon von Jferten fort" heißt es im Brief vom 3. Juli 1820 an die Eltern. Keineswegs aber hatte er eine schriftliche Arbeit für diesen Zweck schon vorbereitet. Denn: „Am liebsten hätte ich Thesen ange­ griffen und verteidigt" (ebendort). Aus der ganzen Art, wie

Prof.

Eschenmayer diese Doktorangelegenheit seines ehemaligen Schülers befördert hat, läßt sich erkennen, wie wohlgesinnt er ihm gewesen sein muß: Am 22. Juni traf Roth in Tübingen ein. Am 26. begann er — ver­ mutlich nach den „häufigen philosophischen Gesprächen" mit seinem freundlichen Förderer — mit der Niederschrift des Entwurfes, der in drei Tagen, wie aus den Datierungen des Textes hervorgeht, zu Papier gebracht wurde. („Ich stand frühe auf und arbeitete bis spät in die Nacht"). Am vierten Tag mag die Reinschrift hergestellt worden sein. Am 30. Juni wurde sie eingereicht. Am 1. Juli erhielt er die „Versiche­ rung", (wohl dessen, daß sie von Eschenmayer als Doktorarbeit ange­ nommen worden sei), ging zum Buchdrucker und bestellte sich den Druck des Diploms. 3m Diplom heißt es, daß ihn im Namen König Wilhelms von Württemberg der Dekan der Philosophischen Fakultät der Universi­ tät Tübingen post oblatum eruditionis specimen philosophiae doo torem et artium liberalium magistrum legitime creat. Es trägt die Unterschrift Eschenmayers als Dekan und das Datum vom 4. Juli 1820. Am selben Tag verließ Roth die Stadt. Er hatte ein akademisches Husaren­ stückchen geritten. Die wahre Absicht, die Roth mit dem damals unter Siebenbürgern seltenen Doktorhut verfolgte, mag hauptsächlich die gewesen sein, im reaktionären Wien, von wo aus der Besuch der deutschen Hochschulen verboten worden war, nicht mehr als Student angesehen zu werden. (Siehe den Brief vom 17. August 1820 an die Eltern.) Er hatte ja schon seit Jferten, wie wir wissen, seine eigenen Pläne mit der Wiener Regierung. Er wollte mit ihrer Erlaubnis und wenn möglich Unterstützung eine Lehrerbildungsanstalt in Siebenbürgen nach Pestalozzischen Grundsätzen errichten. Mit einem Studenten ohne weitere Qualifikation, sagte er sich, und käme er geradeswegs von Pestalozzi, würde man nicht verhandeln. Außerdem mag er sich gegen den zu erwartenden Vorwurf der heimat­ lichen Prüfungsbehörden: er habe mehr als die Hälfte seiner Studienzeit nicht auf Universitäten zugebracht, mit dem Beweis irgendeiner akademi­ schen Leistung haben schützen wollen. Und für sein Auftreten überhaupt in der Heimat, auf das er sich innerlich dauernd vorbereitete, schien es nicht gleichgültig zu sein, ob er als Doktor der Philosophie und Magister der freien Künste oder als Student in die Arena der sächsischen Oeffentlichkeit trat.

Das Wesen des Staates als eine Erziehungsanstalt für die Bestimmung des Menschen von

Stephan Ludwig Roth

Tübingen (Montag 5 Uhr), den 26. Juni 1820.

ch habe sonst keinen Beruf, über Staaten zu sprechen und ein Urteil zu fällen, als den ich mir selber gebe. Aber mich forderte die Zeit auf, über dieselben nachzudenken und ich tat dies umso un­ befangener, da allen muß am Herzen liegen, über diesen wichtigen Gegenstand mit uns ins Reine zu kommen, zumal, da die neueren Ereignisse so mannigfaltigen Stoff zum Nachdenken darbieten. Die verschiedenen Meinungen aber, die sich so verzweifelt entgegenstehen, nötigen uns selbständig zu Werke zu gehen und weder links noch rechts etwas anzunehmen, von dem wir uns nicht selber Rechen­ schaft geben können. Die Stimmen sind so geteilt wie beinahe nie; und das Interesse setzt so verschiedene Meinungen in Umlauf, daß es mir oft vorkommt, als müsse man eine Goldwage und einen Probierstein immer bei sich haben, um nicht hintergangen zu wer­ den. Wenn es auch wahr ist, was Weise und Narren über unsere Lage sprechen, so scheint mir dennoch im allgemeinen darin ein Feh­ ler begangen zu werden, daß man nicht auf die Grundlage oder das Wesen des Staates zurückgeht. Wenn es mir erlaubt ist, meine Mei­ nung über sie zu geben, so besteht die darin, daß beide nur bei der Erscheinung des Uebels stehen bleiben, ohne nach der Quelle zu ftagen, von wo aus unser politisches Dasein versumpft. Der sich aber diesen Weg einschlägt, ist unzähligen Irrtümern ausgesetzt. Zwar hört man nicht selten Aeußerungen, die auf den Grund zurück­ führen sollten, aber meistenteils doch handelt es sich um die Uebel, die den Sprecher selber oder seine nächste Umgebung drücken. Wenn es gut ist, so betrifft es die Quellen der pol. Uebel im Vaterlande,

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Das Wesen des Staates

oder wenn es hoch kommt, die Uebel in allen deutschen Landen. Bei der Beurteilung dieser einzelnen Erscheinungen läuft man aber im­ mer Gefahr, Fehler zu begehen. Ich will daher nicht ins einzelne ge­ hen, nicht so sehr aus Vorsicht als aus Unkenntnis derselben. Auch ist mir viel wichtiger von allen einzelnen Staaten abzusehen und rein für uns einen Staat zu konstruieren, so wie er in der mensch­ lichen Vernunft selbst lebt. Die Quellen alsdann, die sich über unser politisches Dasein ergießen und alles versumpfen, werden sich dann finden lassen — auch die Mittel ihrer Austrocknung. § 1. Ich will niemandem unrecht tun, aber unsere Schriftsteller über den Staat stellen nicht so sehr Vor- und Musterbilder des Staats auf, als vielmehr ein Abbild der vorhandenen Staaten. Was sie hier und dort Gutes finden, stellen sie zusammen mit Fleiß und Ernst — aber wenn das Ganze fertig ist, so ist es höchstens eine verklärte Darstellung des bereits Vorhandenen. Das sieht man zu deutlich. Je nachdem der Verfasser in einem Lande lebt, wird sein Staat eine Republik, eine Monarchie oder eine Vertrags­ regierung, und da dieses nur Formen sind, die wieder ein Wesen voraussetzen, so wird damit nur soviel bewiesen, daß es bei einer Untersuchung solcher Art nicht so sehr darauf ankomme, das Jetzt­ vorhandene zu rechtfertigen, als dem Vorhandenen ein Ziel zu stecken, nach dem es zu laufen, und einen Preis zu setzen, nachdem es zu ringen habe... Was die Formen der Regierung anbelangt, so sind sie sehr wich­ tig — aber alles beruht nicht in ihnen. Es scheint aber, als hoffe man in neuerer Zeit das ganze Heil von ihnen und vielleicht ist die Furcht nicht ganz unbegründet, daß man über dem Bau — den Zweck des Gebäudes vergessen werde. Dieweil es immer das Höchste sein wird, daß in diesem Gebäude ein guter Geist wohne und daß ohne diesen alle diese Bemühungen nur Werke hervorbringen werden, die über­ tünchte Gräber sind und inwendig voll von modernden Knochen. Von den Formen der Regierung kann ich daher nicht sprechen, da ich mir vorgenommen habe vom Wesen des Staates, von der Unterlage selber, vom Geist, der sie erzeugt, zu reden.

§ 2. Alle bisherigen Meinungen über den Staat lassen sich auf drei jurückführen. Einige lassen ihn entstehen aus dem Uebergewicht des einen und der Schwäche des anderen d. h. aus dem Prinzipe der Macht; andere nehmen einen gewissen Vertrag an, wo man sich gegenseitig Rechte zugestanden und Pflichten auferlegt und angenommen habe; endlich lassen die anderen die Staaten ge­ schichtlich entstehen und zeigen wie es gekommen, daß sie so und nicht anders seien. Man sieht hieraus deutlich, daß diese drei im Grunde alle auf Geschichte sich stützen und einen gewissen Gang in der Bildung der Staaten annehmen. Diejenigen, die die Macht als Prinzip aufstellen, denken sich den Vorgang, wie er vermutlich ge­ schehen sei und geschehen würde, wenn man auch noch jetzt mehrere Individuen an einen Ort aussetzen würde, wo noch kein Herkommen und kein Gesetzbuch wäre. Die, welche einen Vertrag annehmen und aus diesem ein Rechtsverhältnis herleiten, sind späteren Ursprungs und konnten auch nur dann eigentlich auftreten, als sich aus dem Prinzipe der Macht Grundsätze herleiten ließen, die gegen ihre Ueber­ zeugungen waren. Die endlich, welche den Staat in geschichtlichen Nachforschungen aufsuchen, leben größtenteils in der jetzigen Zeit, wo eben ein Verhältnis zwischen Volk und Regierung festgesetzt werden soll. Es ist höchst wahrscheinlich, daß sie aus dem Hinblick in die Vergangenheit nur eine wehmütige Vergleichung mit der Ge­ genwart anstellen konnten; daß sie dort ein glücklicheres Volk, einen ruhigeren besseren Zustand fanden, mithin in der Geschichte ihren idealen Staat finden. Ueber diese drei Rubriken werden sich alle Ansichten vom Staate, oder wie es auch anders heißt Naturrecht, aufteilen lassen. Es sei mir erlaubt, diese drei Meinungen durchzugehen und sie zu betrach­ ten, woraus sich ergeben wird, daß in diesen das Wesen des Staates nicht beruhen könne, sondern daß es in etwas Höherem, nämlich im Familienleben aufzusuchen sei. i. Macht: Ach, Streit ist immer auf Erden gewesen, die Stärke aber ist nicht immer dem Gerechten zur Seite gestanden. Wenn es daher einen

Kopf gegolten hat, war denn der Sieg immer auf der Seite dessen, der Recht gehabt? — Der Unterworfene wurde meistenteils Sklave und mußte seine Freiheit dem Sieger als Preis überlassen. Hier in diesem Falle ist kein rechtliches Verhältnis möglich. Denn zur Gül­ tigkeit eines Rechtsverhältnisses gehört vor allen Dingen die freie Wahl bei den Interessenten, ein Verhältnis eingehen zu können oder nicht. Einer vermag alles, der andere nichts. Mit der geschwungenen Keule über dem Kopfe lassen sich wohl Gesetze diktieren, aber es ent­ steht dann die Frage, sind es gerechte? Der Mensch spricht seiner Natur nach den Besitz alles dessen an, was ihm in die Augen fällt... Die Macht will da schneiden, wo sie nicht gepflügt hat, will da ernten, wo sie nicht gesäet hat. Der Mensch ist ein wunderbares Tier! Entwickelt sich einmal in ihm die Freßgierde des Wolfes, so steht dieser gleich die Lisi des Fuchses zu Gebote. Hat er dort im Kampfe Leben an Leben gesetzt, so stellt er sich nun wie ein Straßen­ räuber in den Hinterhalt. Immer mag der Kampf um das köstliche Gut der Freiheit furchtbar sein, aber die tierische Herrschsucht stellt auf seinen Wegen Netze und seinen Füßen gräbt sie Fallen. Was der Stärke Widerstand leistet, verwickelt sich in die Netze, und wer diesen entrinnt, fällt in die Gruben. Man hat in neuerer Zeit gesucht den Staat zum Selbstzweck zu machen: Es sind Anstalten mancherlei Art getroffen worden, um ihn für sich selbst so auszubilden als nur möglich. Der Staat ist aber nicht Selbstzweck und darf es nie sein, und hier gleich ist ein wichtiger Standpunkt in der Ansicht des Staa­ tes, der für seine ganze übrige Organisation entsprechenden Einfluß hat. Dies ist gewissermaßen der Kreuzweg, wo sich zuerst die Ansich­ ten über das Wesen des Staates scheiden. Es frägt sich: ist er Mittel oder Zweck? Er ist Mittel für ein Höheres und verkehrt sich und sein Wesen, wenn er etwas anderes will. Man glaube nicht, daß diese Einteilung nur wichtig auf dem Pa­ pier sei und weiters nicht viel bedeute in der Anwendung. Betrachte ich ihn als Selbstzweck, so kann er sich Sachen zu Schulden kommen

lassen, vor denen ein menschliches Herz zurückschaudert. Wird der Staat als Mittel betrachtet und die Moralität als Zweck, so darf das Mittel nie gegen diesen Zweck handeln, der Staat muß eine moralische Anstalt sein. Es ist der Staat nicht mehr bloße Gesell­ schaft von Menschen zur gegenseitigen Sicherung ihres Rechtsver­ hältnisses untereinander. Dies ist seine bloß negative Seite, nämlich: das kein Unrecht geschehe. Es ist dies die Ausrottung des Unkrauts, das sonst den guten Samen erstickt. In seine» Charakter gehört noch notwendig das Positive, die Pflegung des Guten. Denn dazu sind wir auf Erden berufen, daß wir ein gottgefälliges Leben leben in der Hoffnung einer künftigen Seligkeit. Der Staat ist nur die große Schule dazu ... Aber wie tritt dieses bei den Plusmachern') in den Hintergrund zurück! Sie suchen das Leben eines Staates in der Zirkulation des Geldes und bedienen sich aller Mittel dies zustande zu bringen. Weil der Mensch, der viele Bedürfnisse hat, auch viel arbeiten muß, um sie zu beftiedigen, so sehen sie es gerne, wenn der Luxus wie ein Strom sich durchs Land ergießt. Freilich erwachen daraus Kräfte, die sonst immer geschlafen hätten: aber es ist dies das Tier im Menschen, zu dessen tierischer Befriedigung der Engel im Menschen seine Hände rühren muß wie ein Sklave. Es ist dies eine Arbeitsamkeit, die im Himmel keinen Lohn findet, denn ihr Lohn ist dahin. Geld wird er­ worben; aber in der Begünstigung der Ansprüche unserer tierischen Natur sterben unzählige Tugenden dahin, die unter einer günstigeren Pflegung gediehen wären. Sprächen wir es nur einmal frei heraus, daß kein unmoralisches Mittel zur Hebung und Beschleunigung der Staatsmaschine ge­ braucht werden dürfte, weil dies gegen den Zweck selber gehandelt wäre, wie anders würde sich das Ganze gestalten! Dazu wird es wohl kommen, aber der Gang hiezu ist schon eine Vervollkomm­ nung und so wie aus dem Geiste eines Staates Segen aller Art entspringen kann, so kann auch Unheil aller Art durch ihn entstehn. 1) Ausbeutern.

Well aber in Christus uns das Höchste erschienen ist und er unter uns gewandelt hat jum Beweise, wessen der Mensch fähig sei und was er solle auf Erden, so wird zugleich diese Erziehungsanstalt desto vollkommener sein, je mehr sie eine christliche wird. Den 27. Juni 1820.

Nur die Macht, die ihrer eigenen Sache das Wort redet, kann diese als Prinzip des Staates aufstellen. Denn in der Idee eines Ver­ trages liegt kein Widerspruch, vielmehr die Möglichkeit ein recht­ liches Verhältnis dadurch herbeizuführen. Ein gemeinschaftlicher Feind trieb die Bedrohten zu einem Bündnis. Die gemeinsame Sache entstand aus Furcht des Einzelnen, als Einzelner überwunden zu werden, und aus dem Vertrauen, welches er auf den Widerstand vieler vereinigter Kräfte setzte. So bildete sich unter denen, .welche sich vereinigten, ein Schutz- und Trutzbündnis. Nun sind da nur zwei Fälle möglich. Entweder sie siegten oder unterlagen. 3m Falle, daß sie überwunden wurden, so erlitten sie von der Uebermacht Ge­ walt. Denn die Macht schrieb wieder das Gesetz den Schwächern vor. Waren sie Sieger, so übten sie am Ueberwundenen wieder das Recht der Stärkern aus. Auf jeden Fall käme man damit wieder auf das Prinzip der Macht zurück. Da durch jeden Vertrag Pflichten über­ nommen werden müssen, so mag wohl das freie Kind der Natur keine Bedingungen eingegangen sein, die es beengen könnten, außer von außen müßte der Mensch angetrieben werden, um diese eingehen zu wollen. Wie sollte nun dieses geschehen, wenn keine Veranlassung dazu von außen war. Sollte wohl bis zu einem förmlichen Vertrage unter den ersten Menschen kein rechtliches Verhältnis stattgefunden haben? (Können Menschen auch nur einen Scheffel Salz mitein­ ander essen, ohne über das Mein und Dein gesprochen zu haben, ohne etwas festzusetzen, was in der Zukunft als ausgemacht angesehen werden müßte ?)... Es sollte ein Tempel zur Ehre einer Gottheit ge­ baut werden. Einer vermochte es nicht allein; er rief die Glaubens­ verwandten zu Hülfe, damit durch gemeinschaftliche Unterstützung der allgemeine Zweck erreicht werden könnte. Dies mag wohl später der

Fall gewesen sein; sollte aber bis dahin noch keine Gesellschaft het standen haben? — Setzt nicht schon dieser Willen, einen solchen Ban vorzunehmen, bürgerliche Verhältnisse voraus?... Endlich muß in Erwägung gezogen werden, daß in dem Vertrage keine Garantie da­ für ist, daß durch den Vertrag das wahre Maß des Rechts ausge­ teilt werde. Bei der Macht konnte es darum nicht geschehen, weil da die Einwilligung durch Gewalt erzwungen wurde, oder eigentlich keine freie Wahl stattfand. Gibt nun der Vertrag ein unumstößliches Gesetz, so könnte vors erste gegen den Zweck des Staates oder der menschlichen Bestimmung auf Erden Pflichten übernommen und Rechte erhalten werden; vors zweite liefe------------------------------*) Es ist noch übrig die dritte Meinung über die Entstehung eines Staates und über die Ansichten, die dem Staat zum Grunde liegen. Familienleben. 1. Der geschichtlich wahrscheinlichste. 2. Der beste Typ für den Staat als Mittel: Erziehung. 3. So entstand der Staat aus Liebe, zur Basts ist daher Liebe und nicht Recht. In der persönlichen Ausbildung des Einzelnen liegt die Aufgabe für den ganzen Staat. Zweierlei Arten Regierung stellen sich von jeher in der Geschichte dem Beobachter dar. Sie sind noch immer vorhanden und die Ideen dieser beiden sind in beständigem Kampfe. Auch der Einzelne stellt im Staat eine Maschine vor, die auf eine künstliche Weise zu­ sammengesetzt ist. Aemter türmen sich auf Aemter; die Geschäfte sind abgerundet und der Weg vorgeschrieben. Je bestimmter und ge­ nauer das Tun und Lassen eines jeden bezeichnet ist, je sicherer ist der Gang. Wie ein Rad in das andere greift und den Gang des Ganzen befördert, so befördert hier der Gang des Einen den Gang der Anderen. Es bedarf nur eines Druckes, damit von oben her­ unter in alle Glieder Bewegung und Tätigkeit komme. Wre aber die­ ser Druck aufhört, so hört auch die Tätigkeit und die Bewegung auf. Ohnstreitig ist d e r Staat als Staat am vollkommensten, der die 1) Manche Stellen dieses Entwurfs sind unausgeführt.

Kraft des Einzelnen immer zum Dienste des Ganzen braucht. Stö­ rungen können nur äußerst selten vorkommen, denn nichts lebt aus sich selber, sondern erwartet erst einen Stoß von außen, der es in Be­ wegung setze. Es mag wohl sein, daß dieser Staat seinen Gang gehe, daß er bloß als Staat betrachtet große Vorzüge habe; aber in diesem Staate hört der Mensch als Mensch auf, und seine Bildung und die Uebung, Entfaltung und Anwendung seiner Kräfte erstreckt sich bloß auf die eine Seite des Bürgers. Sein Anteil am Staate soll ihm ja bloß ein Mittel sein zu seiner Ausbildung als Mensch. Zur Fortschaffung des Staatsschiffes soll er zwar allerdings rudern Hel­ sen nach Maßgabe seiner Kräfte — aber seine ganze geistige und kör­ perliche Kraft soll nicht ganz zur Ruderkraft werden. Meine Aus­ bildung als Bürger ist gewissermaßen nur eine Auslage zur Ver­ wendung für den Schutz meiner geistigen und körperlichen Freiheit und Unabhängigkeit... Der Schulze... zuckt darüber die Achseln und meint das Dorf wäre wegen der Gerichtsstube da, und sieht den mit­ leidig an, der ihm sagt, daß die Gerichtsstube wegen dem Dorfe da sei. Dieses ist der eigentliche Philistergeist, Philistersinn und die Phi­ listertugend. Dieser Philistergeist möchte jedem einen Kreis abstecken, worin er gehen müßte und außer den er seine Füße nicht tragen dürfte; dieser Philistergeist möchte jedem einen Horizont abmessen, bis wohin er sehen und nicht sehen dürfte, dieser Philistergeist möchte jedes Menschen Kraft nur soweit ausbilden, als man damit ziehen oder schlagen oder tragen könne. Für diesen ist beim Schmiede die Hammerkraft mehr als der Arm und der Schmied, der den Hammer schwingt; für diesen ist die Schreibfertigkeit des Sekretärs mehr wert als die Hand und der Schreiber, der die Feder führt; dieser wird die Pinselkraft des Malers höher halten als den Maler und in seinen Augen ist die Hobelfertigkeit mehr wert als der, der die Fertigkeit des Hobelns besitzt.. Darum will dieser Füße und nicht Gänger, Hände und nicht Arbeiter, Bürger und nicht Menschen ... Der Spielraum, der der Entwicklung der Kräfte im Menschen ge­ widmet ist, ist ziemlich eng. So verwächst sich eine Anlage und die übrigen verkrüppeln oder bleiben als Keime unentwickelt stehen. Die

Kräfte, die Gott in uns gelegt hat, bedürfen aber alle einer 9tu& bildung, und je vollkommner und harmonischer diese sich ausbilden, je vollkommner ist der Mensch, dessen eine Seite nur zum Dienste des Staates vorhanden ist. Er gehört sich sonst ganz. Aber diejenigen, die den Staat allein im Auge haben, vergessen dieses oder fürchten es. Sie wollen nicht, daß Ackerleute und Handwerker Menschen seien, sondern daß die Menschen nur Ackerleute und Handwerker seien. Sie fordern daher, daß alle geistige Bildung sich nach der bürgerlichen Stellung richte. Jeder soll nur wissen, was seines Amtes ist. Der Bauer, sagen sie, braucht nicht mehr Verstand, als daß er wisse, sein Feld wohl zu bestellen, der Schreiber darf nicht weiter sehen, als was seine Augen in der Schreibstube erblicken könnten. Darum sind ja aufgestellt die verschiedenen Aemter, Ehrensiellen und Lehrfächer, damit niemand sich um das Seinige zu bekümmern habe, und jeder nur soviel Anstrengung brauche, um seine Stelle auszuüben. Der vorige § handelte von dem Geiste eines Staates. Es wurde darin untersucht, welcher Art er sein müßte, wenn der Staat zur Menschenbildung beitragen sollte, damit das Ziel unserer endlichen Bestimmung erreicht würde. Nur mit wenigen Worten wollen wir noch die innere Beschaffenheit oder die Verfassung desselben an­ deuten und ein flüchtiges Bild entwerfen, wie es aus der Verglei­ chung zweier hier gegenüberstehenden Prinzipe sich eigentlich selbst darstellt. Von jeher wurden zwei sich entgegengesetzte Prinzipe in dem Staate geltend gemacht. Eins schließt das andere aus und wo das eine ist, kann das andere nicht sein und nicht bleiben. So wie sie von jeher vorhanden waren und in beständigem Kampfe be­ griffen, so dauert dieser Streit auch noch heutzutage immer fort. Nur sind nie die Gegensätze so scharf sich entgegengestellt und so bestimmt ausgesprochen worden. Nach der einen Idee sucht man den Staat so einzurichten, daß das Ganze eine vollkommene Maschine bildet. Regelmäßigkeit und Leich­ tigkeit in der Behandlung schweben denjenigen, die diesen Grund­ satz haben, vor Augen. Es wird nach dieser Ansicht ein künstliches Gerüste in der ganzen Verwaltung erbaut, wo ein Amt sich auf das

andere stützt, alle aber von einem Punkte abhangen, der fie alle in Bewegung setzt. Diesem nach sind die Geschäfte ganz abgerundet und genau eingeteilt; der Weg jedes Geschäftsganges vorgezeichnet. Je bestimmter und schärfer das Tun und Lassen eines jeden Individu­ ums, das zum Staate gehört, abgemessen und vorgeschrieben ist, je mehr verspricht sich diese Ansicht von der regelmäßigen Bewegung dieses Werkes. Wie in einem Uhrwerk ein Rad ins andere greift und den Gang des anderen bestimmt und regelt, so soll auch hier die Tätigkeit des einen die Tätigkeit des anderen bestimmen und zügeln. Aus einem einzigen Punkte geht der Trieb des Ganzen aus und wie in der Uhr die Kraft der Feder den Gang der Räder bedingt, so soll also im Staate die Regierung des Ganzen sein. Es wird hiermit also im Staatskörper eine gewisse Lethargie angenommen und das Prin­ zip des gesamten Lebens in die Herrschaft gesetzt. Wie also von dort aus ein Druck geschieht, so wird sich das Ganze in Bewegung setzen, und wie dort der Druck nachläßt, so wird alles stillstehen. Dieses Prinzip, das eine Gesellschaft nach dem Muster einer Maschine orga­ nisiert, hat vorzüglich in den geistlichen Orden und im Militär seine höchste Ausbildung erhalten. Dort war es das Gelübde des blinden Gehorsames und hier der Geist der strengsten Subordination. In neuerer Zeit besonders hat sich dieses Prinzip nach einem einzigen Mittelpunkt sehr stark ausgesprochen. Nach diesem soll, wie in einem Gewebe einer Kreuzspinne, keine, keine Erschütterung an der Periphe­ rie vorgehen können, ohne daß nicht dadurch auch im Mittelpunkt eine Wirkung gespürt und hinwiederum soll jede Bewegung im Mit­ telpunkt in allen einzelnen Teilen gespürt und vernommen werden und Wirkungen hervorbringen. Nach der anderen Ansicht müßte sich der Mittelpunkt auflösen und sich ins Ganze verteilen. Die Regierung wäre hiermit ein regulati­ ves Prinzip (Regierung nicht Herrschaft); die Bewegung aber ginge vom Staatskörper oder vom Volke aus. Dieses Staatsleben wäre in allen Teilen verbreitet, setzte sich selber in Tätigkeit, jedes nach der Eigentümlichkeit seiner Natur. Selbst bei einer schwachen Regierung wäre hier alles in vollem Gange, wo dort hingegen alles stillestehen

müßte, wenn die Herrschaft nachließe in ihrer Bewegung und in ihrem Trieb. Aber auch der Fall ist denkbar, daß an der Spitze der Regierung falsche Staatsregeln ergriffen würden. Die ganje Bewe­ gung des Staatskörpers würde dadurch auch eine falsche Richtung bekommen. Jedoch ist noch ein Fall denkbar, nämlich wo schlechte Menschen an der Spitze stünden, die nicht zum Wohl des Vaterlandes ihre Stelle benützten, sondern in der Lieblosigkeit des Egoismus nur sich bedächten. Könnten da nicht durch eine gottlose Benutzung der Herrschaftsgewalt dem Volke Wunden geschlagen werden, die nicht mehr zu heilen wären? Auch ist es wahrscheinlicher, daß die Bewe­ gung des Ganzen, sein Einfluß und seine Wirkung, den einzelnen Punkt betätige, als daß ein Punkt die allgemein konstituierte [ ?] vis inertiae*) überwinde und in Gang bringe. Ueberdies entspränge die ganze Tätigkeit der einzelnen Teile aus ihrer jedesmaligen Indi­ vidualität, und mit nach und nach bildete sich jenes große, herrliche Leben im Volke: die Vaterlandsliebe. Diese kann nur dort wachsen und stark werden, wo das Volk Anteil an der Regierung nimmt, wo jeder Einzelne für das Ganze steht und wo das allgemeine Wohl des Vaterlands zur allgemeinen Sorge, zur allgemeinen Angelegeheit wird. Hier aber ist es, wo ich vom Familienleben sprechen muß und verstanden werden kann. Donnerstag, den 28. Juni 1820.

Der Staat durch die und in der Familie. Ich nehme hier den Faden über Entstehung und Bildung des Staates wieder auf. Ich mußte ihn fallen lassen, weil ich die zwei vor­ hergehenden 88 einschieben mußte. Es kommt viel darauf an, aus welchem Stoffe sich eine Gestalt entfalte. Meistens ist schon in den Verhältnissen und Umständen der Umgebungen der Charakter des Entstandenen im voraus bedungen. Die übrige Entwicklung ist dann nur ein Aufblühen der Knospe, ein Reifen der Frucht, deren Güte oder Schönheit schon in der Knospe eingewickelt ist. Bekommt der Staat seinen Ursprung aus einem Unrecht, wie kann er, in Sünden 1) Hang zur Trägheit.

geboren, dazu dienen, den Uebeln entgegenzuarbeiten? Der gütige Schöpfer ließ den Staat gerade aus der Familie entstehen, was das schönste Verhältnis ist, was unsere Erde aufzählen kann. Das erste Menschenpaar stand durch die Ehe in einem Verhältnis zueinander. Der Mann ohne Liebe übersieht die Welt, und das Wohlgefallen, das er daran hat, ist die Besitznahme von derselben. Bis wohin sein Auge reicht, ist alles sein. Wegen diesem Recht der Erstgeburt hätte der Mann die Welt mit keinem Manne freiwillig geteilt. Da aber zugleich die Liebe mit dem Weibe in die Welt kam, so teilte er sich in sie willig mit ihr. Aus dieser Liebe entsprang die Teilnahme an Freud und Leid des Gemahles. Hülfsleistung verband sie gegenseitig zur Dankbarkeit, diese machte es zur Pflicht, dem anderen Menschen wie­ der beizustehen. Das Recht aber, Hülfsleistung zu fordern, fand seine Wurzel in dem Vertrauen, aus welchem die erste Hülfsleistung ge­ schah und angenommen wurde. Was dem Mann gefiel, tat das Weib, und was er verlangte, trat sie ihm ab; nur was das Weib bat, wurde vom Manne getan, und was es verlangte, trat er ihr ab. Der dritte Mensch wurde geboren. Vater- und Mutterfriede nahmen ihn auf, und was die Mutter ihm an den Augen ansah, tat sie ihm zu Gefallen. Den Erstgeborenen liebte der Vater wegen der Mutter. Die Pflicht des Gehorsams hat das Kind, und die Liebe machte den Gehorsam erträglich. Noch fehlt ein Verhältnis des Staates in dieser Familie. Denn auf dem ruhet der Staat: auf dem Verhältnis des Höheren zum Nie­ deren und auf dem Verhältnis des Niederen zum Höheren, auf dem Verhältnis des Gleichen zum Gleichen. Eltern, Kinder, Ge­ schwister. Mit der Geburt meiner Geschwister wurde alles hergestellt. Sie alle verband die Liebe. Dies war am Morgen der Schöpfung der Ursprung des Staates. Nicht das Recht, sondern die Liebe baute ihn. Der erste Familien­ vater war auch der erste Gesetzgeber nicht durch die Wahl, sondern durch die Achtung. Aber dieses Gesetz war nicht auf steinernen Tafeln geschrieben, sondern im Herzen eines jeglichen Menschen. Wie wich­ tig war es für die Menschheit, daß die ersten Menschen so alt wurden.

Denn die Eltern konnten ihre Kinder auserziehen, und der ehrwür­ dige Ururgroßvater saß mitten in der jüngeren Welt wie ein Orakel, dessen Aussprüche für heilig gehalten werden. Die Hitze der Jugend ist vorüber, das Alter hat die Weisheit gegeben. Ein langes Lebeir liegt zurück und eine reiche Erfahrung sieht ihm zu Gebote. Beinahe in allen Sprachen heißen die Obrigkeiten: Väter, Aelteste, Greise, und selbst bei dem Wilden, der aus Menschenschädeln trinkt und an den Knochen seiner Brüder nagt, ist das weiße Haar heilig und ehr­ würdig. Aber wie finster wird es bald darauf! Es bilden sich große Reiche, wo die verschiedenartigsten Teile nicht das Band des Staates, son­ dern die Ketten der Sklaverei zusammenhalten. Das Herkommen vertrieb der Sieger, denn das verdammte das Unrecht und belegte die Gewalttätigkeit mit Schande. Diese Dynastien dauerten nie lange, und jede Tyrannei trägt in sich den Tod. Ein Reich trat auf und stieß ein anderes um, um wieder umgestoßen zu werden. So­ lange noch das Herkommen und die Kraft der Familien noch was galt, erhielten sie sich; wie dieses verbleichte, ging der Staatskörper gewissermaßen in Fäulnis über und starb. Auf die Macht der Stärkeren wollen wir den Staat nicht bauen, das wäre eine Sünde an der Wahrheit und am Menschenrecht. Unser König, unser Fürst soll ein Vater seines Volkes sein. Jetzt stehen wir noch nicht so zueinander. Eine unglückliche Zeit hat unser Herz abgestumpft und unsere Ohren für die Stimme der Vernunft taub gemacht. Zwischen Volk und Fürst hat sich eine Partei gedrängt, die uns das Herz des Fürsten entftemdet und ihm Besorgnisse ins Ohr sagt, daß dem Volke nicht zu trauen sei, daß Gewalt ein Recht gebe und der Fürst nicht zum lieben, sondern zum herrschen geboren sei. Wir alle hoffen eine bessere Zukunft und wünschen wenigstens einer späteren Nachwelt das Glück, das unsere Augen nicht mehr sehen werden. Aber wir wollen dran arbeiten emsig und be­ sonnen, mit Verzichtung für uns. Denn es ist dies ein Werk von langer Zeit. (Ende der Handschrift.)