Gesammelte Schriften und Briefe. Band 2 Die Heimkehr: Das Jahr 1820 [Reprint 2020 ed.] 9783112356005, 9783112355992


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German Pages 335 [339] Year 1928

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Gesammelte Schriften und Briefe. Band 2 Die Heimkehr: Das Jahr 1820 [Reprint 2020 ed.]
 9783112356005, 9783112355992

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Stephan

Ludwig

Roth

Stephan LudwigRoth Gesammelte Schriften und Briefe

Auö dem

Nachlaß herausgegeben von

Otto Folberth

1928

KlingsorVerlagKronstadt Für Deutschland:

Walter de Gruyter & Co., Berlin und Leipzig

2. Bd.: D i e Heimkehr Das Jahr 1820

Mit zwei Bildbeilagen

1928

Klingsor Verlag Kronstadt Für Deutschland:

Walter de Gruyter & Co., Berlin und Leipzig

Druck von H. Laupp jr in Tübingen.

Platz '.'oii 'Yverdon mit Schloß

Vorwort des Herausgebers Der zweite Band führt die Veröffentlichung des Nachlasses genau dort weiter, wo der erste damit aussetzte. Ihre Trennung in „Wander­ schaft" und „Heimkehr" machte überhaupt nur die Stoffmenge not­ wendig. Innerlich gehören diese beiden Bände völlig zusammen, da die großen Schweizer Erlebnisse sie verknüpfen. Das Leben St. L. Roths gleicht einer jener alten, vielbewunderten Steinbrücken, die, zugleich kühn und schwer gemauert, die Kraft zu immer neuen Bogen finden, sie über dunkle, drohende Wasser zu wölben. „Wanderschaft" und „Heimkehr", mit ihrem Auf und Ab von Pfeiler zu Pfeiler, bilden darin das erste Glied. Wahrscheinlich ergibt sich aber dessen runde, klare Linie erst aus dem Vergleiche mit den späteren Bänden. Die Art der Veröffentlichung, der Textbehandlung und -zusammensiellung ist die gleiche geblieben. Es darf diesbezüglich deshalb auf das

Vorwort zum ersten Band verwiesen werden. Auch darin stimmt dieser mit jenem überein, daß er fast nur unbekann­ ten Stoff zutage fördert. War es von den größeren Schriften dort haupt­ sächlich das mit den frischen Farben einer reichen Palette festgehaltene „Gemälde einer Reise...", das dem Leser Bewunderung für den ju­ gendlichen Künstler abnötigte, so wird hier zweifellos der groß angelegte, für Pestalozzi geschriebene „Sprachunterricht" die Aufmerksamkeit (we­ nigstens der halbwegs mit dem Gegenstand Vertrauten) auf den jungen Gelehrten ziehen. Obwohl er in Einzelheiten von der modernen Forschung natürlicherweise überholt ist, konnte er hier trotzdem nicht, zur bequemern Benützung des Laien etwa, zurecht gestutzt werden. Es wäre der Wissen­ schaft und insbesondere der Pestalozziforschung mit einer solchen Ver­ öffentlichung des Werkes ein Afterdienst erwiesen worden. Da ich mir aber andererseits auch nicht einbilde, daß auf gelehrtem Gebiet Unkun­ dige sich wirklich eingehend damit beschäftigen werden, glaubte ich von der üblichen Gewohnheit meiner Bearbeitung insoweit abweichen zu dür-

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Vorwort b eä Herausgebers

fett, daß ich die ziemlich umfangreichen lateinischen Zitate der Schrift nicht ins Deutsche übersetzte. Wer daraus einen Wink für sich ableitet, über^ blättre ruhig die zu gefährlich aussehenden Kapitel des „Sprachunter­ richts" — in der Fülle der übrigen neuen Dokumente, vor allem stets der einzigartigen Briefe an die Eltern, wird er sicherlich Dinge genug finden, die in anderer, nicht minder überzeugender Weise von der großen Seele St. L. Roths einen Widerschein an sich tragen. Um Fußnoten zu ersparen, wurde, was irgendwie aus früherem oder späterem Text hervorgeht, nicht erklärt, auch wurden Stellenhin­ weise nur spärlich, d. h. nur wo sie dringend erwünscht schienen, gesetzt. Erst der letzte Band mit seinen Registern etz. wird die eigentlich wissenschaft­ liche Benützung des Textes ermöglichen und das ganze Werk übersicht­ licher erscheinen lassen. Den Herren Dr. H. Schuller und Prof. A. Rosenauer, Mediasch, danke ich für ihre freundliche Mithilfe an schwierigen Korrekturen. Ostern 1928.

Otto F 0 lberkh.

Einführung in den 2. Band

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c^Aer erste Band dieser Ausgabe schloß ab mit den Briefen und Tage-^^^buchaufzeichnungen aus dem Jahr 1819 des -rzjährigen St. L.Roth.

Er hatte den jungen siebenbürgischen Studenten auf die weite, so erlebnis­ reiche Reise zur Universität Tübingen begleitet, wo Roth sich ein knappes Jahr aufhielt, und war bann seinen Spuren in die Schwei; zu Pestalozzi gefolgt. Seit dem 1. Oft. 1818 weilte Roth in Jferten und war binnen kurzem des /zjährigen Nimmermüden Freund und Mitarbeiter geworden. Letzteres auf zwei Gebieten; auf dem praktischen des Unterrichts als ordent­ lich angestellter Lehrer der Pestalozzischen Erziehungsanstalt, daneben auf dem theoretischen als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ausbau der Pestalozzischen Unterrichtsmethode. War der im ersten Band verarbeitete Schwei­ zer Nachlaß vorzüglich geeignet, das unmittelbare Leben Roths im bewegten Hause Vater Pestalozzis zu widerspiegeln, so hat sich dieser zweite Band wie von selbst dazu gestaltet, über seine ungewöhnlichen Leistungen im wissenschaftlichen Dienste des Meisters die wichtigsten Aufschlüsse zu geben. Auf einiges darf an seinem Beginn vielleicht noch hingewiesen werden. Im September 1819 hatte Roth sich mit Marie Schmid, der Vorsteherin von Pestalozzis Armenanstalt, verlobt (I, 315 ff)- Sicherlich waren die Eltern, von Roth im Bries vom 24. Sept. 1819 um ihre Einwilligung ge­ beten, mit dieser Verbindung nicht einverstanden. Eine Antwort aus Roths Bitte findet sich aber im Nachlaß nicht. (Ueberhaupt sind fast keine Briefe von Roths Vater erhalten.) Wortkarg fiel sie günstigsten Falls aus, wenn sie dem ungeduldig Harrenden nicht gar absichtlich vorenthalten

wurde. Einen zweiten, für die Zukunft ihres Sohnes entscheidenden Schritt billigten die Eltern nicht. Alter Gepflogenheit gemäß befanden sich damals, wie z. T. heute noch, Lehrer- und Pfarrerstand der Siebenbürger Sachfen in enger Verbundenheit, d. h. sämtliche Kandidaten des Pfarramts waren

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Einführung In den 2. Band

genötigt, auch Lehramtsprüfungen abzulegen und das Lehramt galt aus­ schließlich als Durchgangsberuf zum bedeutend einträglicheren (vom Zehn­ ten lebenden) Pfarramt. Auch Roths Studium war im Zeichen dieser doppelten Berufsaussicht begonnen worden. Daher der Besuch philoso­ phischer und theologischer Vorlesungen in Tübingen (i, 171 ff.). Das Schwergewicht lag dabei aus den theologischen Fächern, wie es im spätern Leben ans der Ausübung des Pfarrberufs liegen sollte. Die Eltern beson­ ders hingen an der Hoffnung, daß dies Ziel möglichst bald erreicht werde. Zwar riet der Vater nach Abschluß der Tübinger Universitätssiudien zu einer größeren Reise in einige europäische Hauptstädte (I, 241), aber nach­ her erwartete er den Sohn um so bestimmter nach Hause, als diesem noch die Prüfungen vor den heimatlichen Behörden bevorstanden. Der ganz und gar unprogrammäßige jahrelange Aufenthalt in der Schweiz zer­ störte diesen Plan. Dazu beschwor er die Gefahr herauf, daß die dort, d. h. außerhalb jeder Universität, zugebrachte Zeit, damaliger Gewohnheit ent­ sprechend dem schon zu Beginn seines Studiums festgesetzten Rang des jungen Theologen vielleicht nicht eingerechnet werden könnte. Und eben ihrem Range nach wurden damals die Pfarreraspiranten zur Kandi­ dation auf eine vakante Stelle zugelassen! Aber das war nicht alles. St. L. Roth selbst war sich dessen bewußt ge­ worden, daß er infolge des Jfertener Aufenthaltes mit der Tradition des Studiums gebrochen hatte, daß er von der Heeresstraße wieder einmal weit abgewichen war und daß dieser eigene Weg folgerichtig auch zu einem eigenen Ziele führen mußte. Unter Pestalozzis Einfluß halte sich jene ent­ scheidende Wandlung in ihm vollzogen, die ihn glauben ließ, hinfort alle seine Kräfte auf die Vorbereitung zu d e m Berufe allein verwenden zu müssen, der ihm von den beiden ihm bevorstehenden der vernachlässtgtere, verachtetere, ärmere und in jeder Beziehung hilfsbedürftigere er­ schien. Das war der Beruf des sächsischen Schulmeisters. Diesem in seiner, erst in Jferten recht erkannten, Not beizuspringen, hielt er sich kraft seiner Bildung und Begabung für befähigt. Daß er selbst auf Kosten der Pfarr­ herrlichkeit bereit war, es zu tun, bildete den tiefen Schmerz und die Sorge der Eltern. Die Auseinandersetzung mit ihnen darüber begann schon mit dem Brief vom 19. Sept. 1819, sie wird in dem hier folgenden fortgesetzt und findet ihren ergreifendsten Ausdruck in den Seite 39 und 41 mitgeteil­ ten Briefbruchstücken.

Jferten, den i. Jänner 1820.

Teure, geliebte Eltern! Am Sylvestertage erhielt ich Euren Brief vom 13. Dezember. — 3 Monate sind seit der Zeit, daß ich meinen

ersten von den 3 Briefen schrieb, verflossen. Seit einigen Wochen

schon wartete ich mit Sehnsucht auf eine Antwort. Sie verspätete sich und meine Ungeduld vermehrte sich, je wichtiger es mir war zu wissen, wie Ihr über meine Standesveränderung (nicht Sinnes--

veränderung) dächtet. Und was Ihr darüber urteiltet. Ich wußte es, lieber Vater, daß mein Brief für Euch vielleicht das Unange­ nehmste enthielt, was Euch hätte aufstoßen können, ich wußte es,

daß ich der verehrten Frau Mutter hierdurch das Herz schwer machen würde — und doch konnte ich nicht anders. Wie es in mir immer klarer wurde, nur in einer gewissen unabhängigen Lage könnte ich für die Erreichung meiner Hoffnungen leben, ich könnte nur hier­ durch glücklich sein, so fühlte ich mich auch gedrungen, Euch diese meine dadurch hervorgerufenen und gereiften Entschlüsse mitzu­ teilen. Früher oder später wäre ich genötigt gewesen, es Euch den­ noch zu sagen und Euch wollte und konnte ich eine für uns beide so wichtige Sache nicht länger verbergen, sobald sie in mir selbst von keiner Seite verborgen war. So wißt Ihr nun, womit ich um­ gehe und beide können wir uns darüber besprechen und ich will

Euch auf Eure Anfragen zu jeder Zeit aufs bestimmteste ant­ worten; hiedurch glaube ich den besten Weg eingeschlagen zu haben, um uns gegenseitig zu verständigen. Was die in Mediasch herumgetragene Geschichte betrifft, so halte ich sie für ein Märchen. Es hat so viele innere und äußere Gründe

gegen sich, daß man es eben für nichts anderes als für ein Märchen erklären kann. Faßt nur einmal das auf: der Württembergische Ge­ sandte soll mich vor sich zitieren lassen, da doch die Schweiz auch einen

Gesandten von unserem Hofe hat, und wie wäre es möglich, mich vor ein Tribunal zu fordern, vor das ich nicht gehöre, zu dem wäre hiezu eine nicht unbedeutende Reise notwendig rc. Das sind Possen, recht gut für die Verkürzung der langen müßigen Winterabende! Aus Tübingen habe ich auch keine Briefe erhalten, worauf ich

ohnedem als auf Privatbriefe keinen sonderlichen Wert legen könnte. Darin sehe ich nichts Verdrießliches, nicht einmal von wei­

tem. Die Zurückberufungen meiner Landsleute von den Universi­ täten findet auf mich keine Anwendung. Ich bin nicht in Deutsch­ land, sondern lebe innerhalb vier Türmeneiner Privatpensions­ anstalt in einer neutralen Republik, die mit unserem Staate in

freundschaftlichstem Verhältnisse sieht, in einer französischen Stadt, wo nie ein deutsches Feuer brannte, noch brennt, sondern höchstens

über die Berge leuchtete. Seitdem nun den Zeitungen das Maul gestopft ist, höre ich beinahe nichts! Ursache einer Zurückberufung wäre also nicht vorhanden^). Jetzt aber wollen wir denn das Ding unter vier Augen noch etwas näher ansehen, es aber so heimlich machen, daß Niemand etwas davon erfährt. Ich will meinem Vaterlande nützen. Solches darf ich mir selbst beilegen und ich fühle es wohl, daß ich durch meinen hiesigen Aufenthalt einiger Opfer für Staat und Vater­ land fähig bin, deren ich vielleicht unter anderen Umständen nicht fähig gewesen wäre. Mich hiezu weiters auszubilden, kann nicht gegen das Interesse des Staates ausgelegt werden. Ja! Im Falle man mich zurückrufen sollte, würde ich erst mit einer Unterstützungs­ bitte an den Hof gehen und mich deswegen gradezu an unsere milde Regierung wenden. An unsere Nation könnte ich mich nicht

wenden, weil ich sonst der Erste vielleicht wäre, den sie in einer solchen Angelegenheit unterstützte. Da man mir in meinem Passe die Zeit meines Aufenthaltes im Auslande völlig überläßt, so habe ich im Vertrauen auf diesen kaiserlichen Paß eine kostspielige weite Reise gemacht, erhalte mich hier durch körperliche und geistige An­ il Das Schloß von Jferten hat vier Ecktürme. 2) Es handelt sich hier um das 1819 von der Wiener Regierung verhängte Ver­ bot des Besuches deutscher Universitäten. Das reaktionäre Oesterreich tat alles, um sich der geistigen Gärung in Deutschland ju entziehen. 1820 wurde der Wie­ ner Universität eine evangelisch-theologische Fakultät angegliedert, wo fortan die sächsischen Theologen ausgebildet wurden. Das für Siebenbürgen unglück­ selige Verbot blieb bis 1841 in Kraft, Tübingen wurde sogar erst 1844 frei­ gegeben.

strengungen, gebe Stand und Stelle auf, bin bereit noch mehreres zu tun, und nun sollte es heißen können: du mußt gegen deine auf ver­

schiedene Gründe gebaute, sichergeglaubte Ueberzeugung, gegen den

Vorteil deines Vaterlandes, ein Land räumen, wo du allein dir gewisse Mittel aneignen könntest, womit du in einem gewissen Kreise wirken könntest. Äm Willen unserer Regierung kann es nicht liegen, mich hievon abzuhalten. Ich muß Euch nur gestehen, ich warte auf keinen Befehl und obgleich unsere Zeit an unerwarteten Ereignissen nicht eben unfruchtbar ist, so glaube ich doch nicht, daß man mir auf meine alsdann einzureichenden Vorstellungen einen längeren Aufenthalt verweigern würde. Ich nahm mir einmal vor früher, zu unserem Gesandten nach Bern zu reisen und mich ihm vorzustellen, allein ich habe mich an­ ders bedacht und gehe nun nicht nach Bern, vielmehr will ich dem Dinge ruhig zusehen. Kommt Zeit, kommt Rat. Seit dem August habe ich an meinem Latein nicht gearbeitet, glaube also wenigstens 5 Monate länger daran arbeiten zu müssen, als ich mir anfangs berechnet hatte. Während dieser Zeit habe ich

etwas über die theoretischen Grundsätze einer naturgemäßen Be­ handlung des Sprachunterrichts überhaupt etwas geschrieben. Das

Ganze wird ohngefähr 20 Bogen stark werden. Noch fehlen mir ohngefähr 3 Bogen. Auf dem Jura (Dörflein Bullet), wohin ich den 26. August auf einige Tage ging, machte ich den Anfang. Seit der Zeit bin ich verschiedentlich daran gehindert worden, rasch fort­ zuarbeiten. Sonst hätte ich diese Aufsätze sehr gerne bis zu Pesta­

lozzis Geburtstage (dem 12. Jänner) fertiggemacht. Mittlerwelle werden meine Hefteins Französische und Englische übersetzt. Und ob­ gleich mir auch hierin mancherlei Schwierigkeiten aufstoßen, so glaube ich doch, daß dieses Jahr die englische Uebersetzung, wenn sich die Engländer weiteres drum bekümmern, in London erscheinen

werde. Da ich meinen Unterricht in lauter lateinischen Sätzen gebe und dann bloß darüber reflektiere, so finden dies die Engländer auch für ihre Lancastersche Methode sehr anwendbar und aus diesem Grunde würde auch mein Elementarbüchelchen bei ihnen vermutlich

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Dei Pestaloiji

Unterstützung finden. Komme ich einmal nach Hause, so werde ich die Muttersprache treiben und aus dem eigentlich scientifischen

Kreise hinaustreten. Sehr leid tut es mir, daß ich aus Mangel der Muße den theoretischen Grundsätzen nicht die Feile habe an--

setzen können. Wenn ich Gelegenheit hätte, Euch das Original unter­ dessen zuzuschicken, so sollte es mich unendlich fteuen. Indem Ihr so läset, woran ich ein Vierteljahr gearbeitet habe, so würdet Ihr

mich in einem Teil meines Lebens gleichsam beschauen können. Sollte es Euch möglich sein, auf irgend einem Wege mir unsere lateinische und deutsche Grammatik zu überschicken, so wäre mir solches sehr erwünscht^). Ich bin gesund und in diesem Augenblicke fühle ich mich so wohl, daß ich behaupten darf, in einem halben Jahre nicht so gesund ge­ wesen zu sein. Ihr könntet vielleicht mit Herrn Gierlings) noch dar­ über sprechen: an Verstopfungen leide ich oft. Bewegung hilft mir beinahe nichts. Ich schrieb es dem neuen Weine, meinem starken Tabakrauchen zu. Seit Anfang August habe ich keine Pfeife ge­

raucht und trinke seit zwei Monaten bei Tische immer Wasser. Be­ komme ich Lust zu Wein, so trinke ich vom besseren (die Bouteille 8 Batz.). Mein Leib ist nicht hart und macht mir nie Schmerzen, nur wird mir hiedurch der Kopf schwer, ich werde düster ic. Ich trinke nach jedem Essen zwei Schalen schwarzen Kaffee mit Pesta­ lozzi, solches tut mir wohl und seitdem ich nun mit meinem Verdau­ ungsgeschäfte wieder in Ordnung gekommen bin, fühle ich mich wieder frisch und ftoh, gewinne mein altes, wenngleich mageres gutes

Aussehen und fühle mich in jeder Beziehung stark. Immer hatte ich Appetit und schlief gut. Noch aber habe ich eine Hitze im Gefichte

und dann und wann darauf einen ölichten [?] Schweiß. Diesen Winter habe ich kein Zahnweh gehabt. Gestern sang ich eine Solo­

arie (Tenor) in einem sehr hübschen Konzerte, das wir mit unseren Kindern aufführten. — Ich sehe mein Blättchen ist voll — und

der Neujahrswunsch? —: Bleibt meine Eltern, ich will Euer Sohn

i) Die Schrift R.s, von der hier die Rede ist, siehe S. 49. 2) Der Hausarzt der Roth'schen Familie in Kleinschelken.

bleiben — bleibt mir Schwestern, ich will Ener Bruder bleiben — Vivat die neueste Freundschaft ic. rc. Schreibt mir doch öfters. St. L. Roth. Zu Beginn des Jahres 1820 kaufte sich Roth einen ähnlichen Schreib­ kalender wie für das Jahr 1818: ein „Geschäfts- und Erinnemngsbuch für das Jahr 1820". Auch in dieses trägt er — allerdings nur in sehr unregelmäßigen Zwischenräumen—Geldausgaben und Tagebuchnotizen ein. Die letzteren werden hier, genau wie im vorigen Band, abwechselnd mit den Briefen in zeitgeschichtlicher Aufeinanderfolge wiedergegeben. (Aus dem Schreibkalender.)

1. Januar 1820. Mit diesem Jahre will ich meine Rechnungen wieder ordentlich halten, so wie ich sie in Tübingen ordentlich gehalten habe. Ich habe manche Ausgabe gemacht, habe manche auch leichtsinnig gemacht. Glaube aber, daß ohne diese Zerstreuungen mein Körper

der psychologischen Krankheit hätte unterliegen müssen. Die Armenschule kommt und gratuliert mir zum Neuen Jahr. Vom

Essen muß ich aufstehen, ich war zu bewegt. Sm Konzerte sing ich die Tenorstimme. Musik von Ronberg, Gedicht von Kosegarten. 3. Januar. Heute nach 5 Uhr kommt Koch und etwas später Heussi und melden mir, wie ich noch im Bette lag, den Tod der Sabine *), die ich in ihrer Krankheit mehrmals besucht, in den letzten Tagen aber wegen der Ansteckung gemieden hatte. Sie ist das erste Kind, das in der Pest.-Anstalt in Dverdon stirbt.

5. Januar. Wir begraben unsere Sabina. Ohne Gesang, ohne Rede rc. geht eine so merkwürdige Epoche einer Familie oder Institute

für die Nächsten ganz verloren. Ein Toter ist ein natürlicher Pre­ diger der Vergänglichkeit und fordert uns auf zur Liebe und zur Hoffnung. Mir wenigstens hat dies ungemütliche Begraben miß­ fallen, die Arme ist für uns nicht gestorben.

6. Januar. Schmid läßt die Kinder nicht Guitarre spielen. 12. Januar.

Pestalozzis Fest wurde heiter gefeiert. Abends Caspar,

i) Siehe Brief vom io* Mai 1820.

FrankT), Beck, Demangeot1 2), Girard auf meinem Zimmer, wo sie warmen Wein trinken. Gottlieb und der schwäbische Zilcher (nach Augsburg ;u Fugger Max den iz. verreist) auch dabei. 13. Januar. Morgens Kopfweh. BemontHering.^?] Nachmittagfrierts mich. Abends im Bett; bin wieder wehmütig, bin wahrhaft krank. Denke auch an den Tod, welcher Gedanke mich besonders in Schmids Geburtstagsfeierrede plötzlich überfiel. Nur ich kann mir helfen: aber was ich will, tue ich nicht, was ich tue, will ich nicht. Abends ließt mir Adolf Gardum aus Hebel Neujahrsfest.

Jferten, den 12. Hornung 1820.

Liebe Eltern! Nur wenige Worte! Seit dem 13. Jänner liege ich im Bette. Etliche Tage mochte ich keinen Arzt, weil ich die Krank­ heit für unbedeutend hielt. Endlich ließ ich ihn holen. Er sagte mir, daß eine Brust- und Magenentzündung auf dem Wege sei. Die Brust beachtete er besonders. Man setzte mir auf die Brust vier Blutegel. Den anderen Tag schröpfte man noch auf der Brust mit elf Gläsern und zwickte zzmal. Seitdem ging es sehr gut; aber jetzt bekam ich Schmerzen auf den untersten Rippen in der linken Seite, wo man so einen runden Ausbug hat. Hierauf eine Vesicatur3), dann auf die Vesicatur, die noch nicht geheilt war, Senf. Meine übrige Brust ist ganz zerrissen von Vesicaturen. Hätte ich die noch nicht geheilten Vesicaturen in der Seite nicht, so wäre auch das Aufstehen leicht. Ich habe Appetit und glaube innerhalb acht Tagen das Bett zu verlassen. Ich will meinen braven Arzt um eine Beschreibung der Krank­ heit bitten und sie Euch zusenden, wenn es ihm möglich ist, eine solche aufzusetzen wegen seinen vielen Geschäften. Eigentlich hätte ich keine Krankheit gehabt. Große Schwäche. Fr. Buchholz hat mir 6 Bouteillen herrlichen Wein geschenkt. Jetzt, liebe Eltern, lebt 1) Frank, Theodor aus Bunzlau, seit 1819 in Jferten. 2) Musiklehrer im Institut. 3) Blasenziehendes Mittel, nm eine andere Blutverteilung an der betreffenden Stelle hervorzurnfen.

wohl, doch — diese Krankheit macht mir ungewöhnliche Ausgaben. Wollt Ihr mich etwas mit Geld unterstützen; auch nach der Krank­

heit muß ich etwas besser leben. Grüßet alle! Bald mehreres!

Schreibt mir auch.

Noth. Jferten, den 18. Hornung 1820.

Liebe Eltern! Mit meiner Genesung geht es sehr wacker. Seit den 6 Tagen, daß ich Euch geschrieben habe, erhole ich mich ju aller Erstaunen geschwind und ich glaube, ich würde noch geschwinder gesünder geworden sein, wenn ich nicht die Vesicatur auf der Stelle in der Seite gehabt hätte, von der ich Euch schon letzthin geschrieben. Ich bekam nämlich in der ganzen linken Seite, vorzüglich aber an diesem Platz, Schmerzen, so daß ich es nicht vertragen konnte, wenn man mir einen Finger auf einige Plätze setzte. Der Arzt be­ fürchtete ein Geschwür; deswegen behandelte er es auch so ernst­ haft. Gott sei Dank, es ist vorbei. Zwischen 10 und 11 trinke ich immer ein Viertels Glas Wein zur Stärkung; jetzt ist es 12 Uhr und ich bin, wie seit 7 Lägen auf­ gestanden zum Essen, welches ich um 1 Uhr bekomme. Dieser Wein und das Aufstehen grade in diesem Augenblick machen, daß meine heutigen Zeilen so krumm sind. In einigen Tagen fange ich an, Malaga zu trinken und nach einer Bouteille hat mir der Arzt versprochen, daß ich bei warmem Wetter in den Garten gehen würde. Im Hause tut man alles für mich. Der Köchin aber will ich ein

ordentliches Geschenk machen, denn die hat mir, bei ihrem Essen­ machen für mehr als 100 Personen täglich, alles mögliche getan. Ich hatte den glücklichen Einfall und machte ihr am neuen Jahre

nach unserer siebenbürger Sitte ein Keines Präsent. Pestalozzi besucht mich alle Tage. Lebt wohl. Gott erhalte Euch alle bei der unschätzbaren Gesundheit.

Roth.

(Aus dem Schreibkalender.) 2Z. Februar. Bekomme Erlaubnis Bier zu trinken. ii

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24. Februar. Gehe am 24.(6« jum erstenmal in den Garten aus. Herr

Erös führt mich. 27. Februar. Esse ju Knusert]). Jferten, den 27. Hornung 18201 2).

Teure Eltern! Wie langsam ging meine Besserung in Mediasch!

und jetzt wie geschwind! Vorgestern machte ich Herrn Pestalozzi eine Visite, es war der erste Schritt aus meinem Zimmer. Der Arzt hieß mich noch in den Garten gehen. Es war ein herrlicher Tag. Wie schwellte sich meine Brust, da sie wieder Gottes ftische, freie Luft atmete. Gestern konnte ich nicht ausgehen, da der Wind etwas wehte. Der Arzt hat mir die Luft für meine sehr gereizten Nerven, für meine Verstopfungen, für meine Brust als die aller­ beste Medizin angeraten. Sobald ich etwas stärker bin, werde ich alle Tage ausfahren; jetzt verträgt es meine Brust noch nicht. Schon mehrere Tage, ehe ich zum erstenmal ausging, machte ich zuerst 2-3 Gänge, dann zuletzt 30-50; aber mein treuer Gefährte mußte immer der liebe Stock sein. Zur Erleichterung trage ich ihn noch, ich kann aber auch ohne ihn gehen. Mein Mantel hat mir in dieser Krankheit herrliche Dienste getan: Dank der Person aus unserem Hause, die auf seine Verfertigung drang. Er hat mich durch seine Schwere vielmal geärgert. Ecce! seine Zeit ist gekommen. Gestern ließ ich mir eine alte Henne kaufen, die mir heute eine

Kraftsuppe liefern muß und dazu mürbes Neisch. Unausgesetzt trinke ich von 10-11 meine % Glas Malaga (ich bin im Maße gestiegen) und meine 6A Gläser von anderem gewählten Wein bei der Mittagsmahlzeit und der Jause. Zu Mittag darf ich auch seit 3 Tagen Rindsbraten essen. Man legt eine Schnitte zwischen zwei Eisenplatten, netzt es etwas mit Butter und bratet es sehr lang­

sam. Von diesem Fleische jause ich um 5 Uhr ein kaltes Stück. Dann trinke ich den Tag über, wenn ich Durst habe, besonders wegen der noch immer schlechten Oeffnung etwa eine Bouteille Bier. 1) Knusert, Alois aus Appenzell, Mitglied des Hauses 1804-13 und 1815-?. 2) Auch im Briefbuch vorhanden.

Gegen Abend habe ich immer Durst. Mein Schlaf ist noch mit Er­

wachen unterbrochen und wahrhafte Dienste hat mir meine Repetier­ uhr getan. Ich drücke, und Stunde samt Mertel wird mirangezeigt.

Meine Uhr geht sehr ausnehmend gut; sie weicht von der Pendeluhr

des Uhrmachers in 24 Stunden regelmäßig nur % Minute ab. Heute sollte ich zum erstenmal ausfahren, aber das Wetter ist

kühl und windig. Vermutlich wird es unterbleiben. Sobald ich auf das Pferd kann, muß ich reiten. Mein Arzt sagt, meine sehr geschwächte

Brust brauche lange Erholung. Da mir dieselbe in mehrerer Hinsicht

ein unentbehrliches Instrument ist und mit keinem lahmen Fuß verglichen werden kann, so will ich 2-, ja zfache Sorge darauf ver­

wenden. (Der Rest des Briefes enthält französische und deutsche Zeitungsauszüge.) (Aus dem Schreibkalender.)

28. Februar. Fahre mit Landryx) nach Concise. Die Fahrt tat mir sehr gut, obgleich die Tour für mich etwas stark und der Weg mit

frischem Kies überfahren war. Kommen gegen Abend nach Hause, wo ich den Landry zum Gouter1 2)3 4 behalte. 29. Februar. Nach dem Essen ins Bad: es begleiten mich Frank,

Rank^), Beck und Caspar. Da wir aber kein warmes Zimmer

finden, so kehren wir um und trinkm bei Caspar Kaffee. (Aus dem Briefbuch.) *)

Jferten, den 29. Hornung 1820.

Geliebte Eltern! Ich habe die Gewohnheit alle meine Briefe, ehe

ich fie abschicke, abzuschreiben. Seit dem 1. Jänner habe ich das

Buch nie mehr angeschaut, indem ich die drei Brieflein, die Ihr unterdessen erhalten haben werdet, nicht abschreiben konnte. Jetzt 1) Landry, Francois, Verwaltungsbeamter des Instituts (employe au bureau), seit 1812 bei Pestalozzi. 2) Jause, Vesperbrot. 3) Rank, im Institut 1815-16, 15. September 1817 bis 1. April 1819. 4) Ueber Rothes „Briefbücher" siehe I, 238. Fast alle Briefe unter obiger Spitz­ marke sind als Entwürfe, nicht als Abschriften anzusehen — trotz des Briefanfanges vom 29. Hornung! Briefe ohne nähere Bezeichnung sind stets Ab­ drucke der von der Post beförderten Exemplare.

nehme ich das Buch hervor und finde, daß ich in meinem Briefe vom i. Jänner Euch geschrieben, daß ich ganz gesund sei. Meinem

bei meiner Abreise in Eure Hand gelegten Versprechen gemäß habe ich Euch damals bestimmt die vollkommene Wahrheit ge­ schrieben; denn ich umgehe es nicht, Euch die Wahrheit zu schreiben, selbst wenn sie wehrmutsbitter ist. Dieser Gesundheits­ zustand ist vermutlich eine Anstrengung der Natur gewesen sich zu helfen. Ich erinnere mich noch darauf, daß mir durch die Oeffnung, die auf den Gebrauch von Pillen eintrat, mir das Drücken auf der Brust verging und daß ich dachte: jetzt gehts dir

gut ic. Jetzt kann ich es sagen. Ich fahre aus, gehe spazieren, werde, sobald es mir meine Kräfte erlauben, ein zahmes Reitpferd be­ steigen und in Gesellschaft eines Freundes einen kurzen Ritt machen, wobei ich nichts so sehr wünsche, als so schöne Sporen, als Herr Vater besitzt, zu haben. Geld und Wagen und dann etwas Essen, wenn man in ein Städtchen fährt, kostet mich aber soviel, daß ich mir

soviel nicht abbrechen kann, um mir diesen silbernen Staat zu er­ lauben. Nach des Arztes Willen müßte ich sehr viel spazieren gehn, öfters reiten und in der milden oder eigentlich wärmeren Jahres­ zeit auf drei Wochen meine Wohnung auf irgend einem Gebirge

beziehen, wo ich die Milchkur gebrauchen werde. Den 26. August ging ich auch auf den Jura nach Bullet, blieb aber wegen schlechtem

Wetter nur etliche Tage und dennoch kam ich wunderbar hergestellt herab. Diesmal gedenke ich auf den Chasseral (eine Spitze des Jura) ohnweit Solothurn (13 Stunden von Jferten) zu gehen, weil ich alsdann nur etliche Stunden nach Solothurn und Biel habe, in

welchem letzteren Städtchen ich einen Freund besitze. Dann muß Bett, Wein, Gemüse, Brot, Zucker, Branntwein hinaufgeschafft

werden, im Wirtshaus wird man auf solcher Höhe, wenn es da ein Dörfchen gibt, zu stark geprellt. Mein englisches Merkchen muß mir diese Kosten auf jeden Fall decken. Eine englische fromme Dame i), die sich hier aufhält und für mich in dieser Krankheit,

1) 9)?.,,c Shepherd.

D ie engt unb franz. Uebersetzung

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wie sie mir heute schrieb, viel gebetet hat, übersetzt mir das Merkchen heftweise aus dem Französischen. Von 12-13 (2 sind noch nicht fertig) Heften sind noch nur drei fertig, wovon sie mir das Letzte heute überschickte. Nichts wird einem umsonst. Die französische Uebersetzung quält mich besonders. Durch Hülfe meines Freundes Herrn Buchholz und eines Engländers Herrn Greaves, von dem ich Euch schon geschrieben, hoffe ich es in Druck zu geben. In

England ist über Pestalozzi noch nichts erschienen; vielleicht tut die Neuheit der Sache zum Verkaufe bei meiner Arbeit denjenigen Dienst, den sonst die Güte zu tun pflegt. Gute Gedanken, aber eilige Schreibart eines kränkelnden Mannes. Ein großer Teil sind Auszüge aus Pestalozzianischen Schriften. Hinten will ich die erste Abteilung des ersten Bandes meines lat. Elementarbuches an­ hängen. Herr Buchholz spricht mir von einer beträchtlichen Sum­ me, die ich dafür vom Buchhändler erhalten würde. ? ? ? Wollen sehen! Nun zum Beschlusse noch ein paar Worte; ich habe bisher über meine Wünsche geschwiegen, jetzt will ich das Stillschweigen bald brechen und Euch meinen Plan in den folgenden Briefen mitteilen. Habt nur solange Geduld, bis ich etwas stärker bin. Ehe ich diese Briefe geschrieben und abgeschickt habe, muß ich Euch recht sehr bitten, mir das Versprechen zu geben, es außer der Fr. Mutter keiner Seele mitzuteilen, indem ich dazu wohl meine Gründe wüßte. Ich verlasse mich darauf und schreibe in diesem Vertrauen. Wenn es

geht, so gehts und die Welt sieht's; gehts nicht, so habe ich den Schaden und den Spott. Ueber meine letzten Briefe vorigen Jahres,

worauf ein Stillschweigen v. Eurer Seite sich eingestellt hat, kann ich jetzt nur soviel bemerken, daß wir in Rücksicht meines mitge­ teilten Entschlusses Gründe gegen Gründe halten wollen. Ich will ganz unbefangen sein. Wohin sich die Schale neigt, dessen Behaup­

tung soll gelten. Fr. Mutter soll entscheiden. Dies zu Eurer Be­ ruhigung. Grüßet mir nun Fr. Großmutter, die beiden Herrn Onkel nebst ihrer Familie, die Fr. Schwester Gergerin nebst Familie, Wachs-

mann, Herrn Gierling uff., die Euch alle bekannt sind. Ihr Schwe­ stern, Herr Schwager, lebet wohl! Geliebte Eltern, Gott mit Euch,

Gott mit mir, Gott mit uns allen.

Roth.

(Aus dem Schreibkalender.)

i. März. Besuche Herrn Rank bei Krüsiwelch letzter« ich nicht

fand. Nachmittags bei Buchholz, der gerade heute seine Rob. [?] Kur zu gebrauchen anfängt. Für mich ungünstiges Wetter. 2. Märj.

In unserem sieb. Sächs. fängt man mit der Geschichte

des Landes und seiner Schicksale den Vortrag der vaterländischen Geschichte an. Mir scheint es natürlicher, die Geschichte der Deutschen insgesamt zuerst vorzunehmen und dann an die Einwanderung anzuknüpfen und alsdann das Land beschreiben, wohin unsere Väter kamen. Schneit nachm. sehr stark, heftiger Wind, und mir nicht ganz wohl. Jferten, den 2. März 1820.

Geliebte Eltern! Geliebter Vater! In andern Tagen, wo ich der

Gesundheit genoß, konnte ich wegen meinen Geschäften nicht so oft an Euch denken, als ich es seit meiner Krankheit tue, wo ich keine Stunde lebe, ohne mich nicht an Euch zu erinnern. Ich lebe und

webe in Euch, aber Euer Stillschweigen und die Unterlassung alles Briefschreibens ängstigt mich und macht mich schwermütig. Der gütige Gott wird doch über dich und die Daheimgebliebenen nicht zugleich ein Ungemach senden! Barmherziger Himmel, denke ich,

laß deine Stürme über mich gehen, ich bin jung und vermag sie eher aushalten. Beste Eltern, schreibt mir-------- oder habt Ihr

Euch über die Briefe so aufgehalten, daß Ihr mich mit diesem

Stillschweigen strafen wollt. Vermöge der Natur der Sachen kann ich zur Ausführung meiner Gesinnung von hier aus keine Schritte 1) Rank war am 1. April 1819 aus dem Institute Pestalozzi-Schmid in bas Niederer-Krüst übergegangen. Dort wurde er nach Krüsi Vorsteher des Knaben­ instituts.

tun, und ich gib Euch meine Hand jur Versicherung, daß ich auch

dann, wenn ich könnte, keinen, bevor ich mit Euch gesprochen habe, tun will. Wir wollen als unbefangene Menschen ju Hause Gründe gegen Gründe halten. Die Frau Mutter, die doch am geistlichen Stande hängt, soll entscheiden, auf welche Seite sich die Schale neigt. Jetzt bin ich noch zu schwach, um Euch Alles, was ich auf dem Herzen trage, zu schreiben; habt nur Geduld bis ich etwas stärker bin. Briefweise sollt Ihr jede Einzelheit, die zur Sache ge­

hört, erfahren. Nur bitte ich Euch im Voraus um ein tiefes Still­ schweigen gegen allen und jeden Menschen außer gegen die herzgute, unendlich geliebte Fr. Mutter, und darauf zähle ich. Den 3. März.

Ich hüte mich vor den Menschen, die ich hier in Schafskleidung habe herumgehen sehen. Ich will nicht den Schaden und den Spott. Mich verlangt herzlich nach Euch. Ich hatte mir vorgenommen,

erst in das künftige Frühjahr meine Heimreise anzutreten. Denn so lange glaubte ich, daß ich noch mit der rohen Ausarbeitung des

1. Bds. der Elementarwerke brauchen würde; indeß sehe ich ein, daß ich bei so vielen Stunden, die ich Tags gebe, noch mehrere Jahre brauchen würde, um es gehörig zu bearbeiten. Man braucht wirklich Leichtsinn, um so etwas zu übernehmen, und Zeit und

Ausdauer, um es auszuführen. Zu Hause will ich es daher fertigen, wo ich vielleicht in der Brukenthalischen Bibliothek für mich etwas

finden werde. In der Zeit, daß ich hier bin, habe ich warhaftig sehr viel für Pestalozzi gearbeitet, gleichsam nur zur Seite für mich. Dazu rechnet meine Schwermut, die meiner Krankheit seit % Jahr vorausging,

die mich oft nur auf kurze Zeit verließ, und ihr werdet leicht be­ greifen, daß ich zwar als ein fleißiger Mann gearbeitet habe — für

meine Schulzwecke aber nicht genug; wäre ich vom Gegenteil über­ zeugt, so käme ich diesen Sommer nach Hause. Ueberdies habe ich jetzt erst einige Fertigkeit erlangt, mich französisch auszudrücken und

ich habe diese Sprache wegen ihrer Leichtigkeit und allgemeinen Verbreitung angenehm und nützlich gefunden; deßwegen ich denn

einige Zeit auf sie noch zu verwenden gedenke; leicht ist mir das Ganze geworden, daß ich nur etliche Wochen grammatisch und dann

nur usuel getrieben; zu dem bin ich immer unter Deutschen ge­ wesen und im Anfang noch dazu einen Franzosenhaß gehabt. Ich denke es deswegen diesen Sommer so zu machen: Ich beschränke mein Stundengeben (auch wegen meiner Brust) auf die kleinstmögliche Anzahl, und arbeite x/4 Jahr noch am Latein, um dem Pestalozzi das erste Bändchen überlassen zu können (wenn es möglich ist), und das andere Vierteljahr bleibe ich im Institute

ganz geschäftslos, und arbeite für mich in anderen Fächern weniger, im Französischen viel. Von letzterer Absicht lasse ich hier kein Wört­ chen fallen, und erwarte darüber Euer Urteil. Das Erstere ist eher getan und ausgemacht als Euer Brief ankommen kann. Im Falle daß Ihr die letztere Proposition billigt, so entsteht noch die Frage, ob ich hier bleiben oder in das 6 Stunden weite Frankreich gehen soll? Ueberhaupt würde mir diese Luftveränderung, wo ich Nütz­ liches mit Angenehmem verbinden kann, nicht schaden. Zu einer sehr weiten Reise fühle ich mich jetzt nicht recht eigentlich stark genug. Indessen entscheidet. Den 4. März 10 Uhr morgens.

Ich bin so glücklich, daß ich mich diesmal geschwind erhole. Ich bekomme Farbe, d. h. ich werde wieder schwarz, da ich vorhin weiß und bleich war, werde auch etwas fleischiger; jedoch zwingen mir meine dünnen Beine, die ich in den engen Hosen betrachte, ein

Lächeln doch ab. Seit Jahr und Tag habe ich keine engen Hosen angezogen, nur heute kömmt mich die sonderbare Lust an. Es sind noch diejenigen, die ich mir in Pest anschaffte. Seit der Zeit ist

schon manches Paar abgerissen. In Wien habe ich mir, wie ein Träumer, keine Hemden gekauft. In Tübingen ließ ich mir 1I2 Dutzend machen. Die Bürste und das unbarmherzige Waschen reißt furchtbar in die Wäsche; ich bin ohne

Hemden. Jetzt lasse ich mir welche aus Halbpergal machen; die Leinwand ist hier viel teurer, weil in der Schweiz kein Hanfbau ist. Erratet einmal, was mich diese 6 Hemden (sie sind schön) kosten?

— 2 Luis t'or — 4 Duc. Der Macherlohn für ein einzelnes

Hemd 15 Batzen. Das sind 4 x 15 = 60 Conv. Solches beträgt

nach dem jetzigen Cours 250:150 unserer fr. oder 2 fl. 30. Bei uns in Siebenbürgen würde man wirklich lange das Geld in der Hand umdrehen, aber hier hat das Geld nicht mehr Wert. Wenn Ihr einmal meine Conto durchlesen werdet, so werdet Ihr solcher Ueber-

teuerungen mehrere sehen. Das Wetter hält mich seit 2 Tägen im Zimmer gefangen. Es liegt ein tiefer Schnee. Der Südwind bringt immer unangenehmes Wetter, so wie der Nordwind (hier Bisse genannt) ein heiteres, wenn gleich immer kaltes Wetter holt. Wenn schönes Wetter wäre, so wollte ich mich jetzt häufig ergehen oder ausfahren oder — aus­ reiten. Für meine Brust und meine gereizten Nerven tut mir die ftische

Luft sehr gut. Es geht jetzt viel besser, nur muß ich mich mit Essen ic. sehr in Acht nehmen, denn gleich bestraft es sich. So hatte ich vorgestern Kartoffeln gegessen — und bekam Magendrücken, es ist aber fort. Sobald der Schnee geschmolzen ist, will ich manchmal ins Wirtshaus gehen (und nach Lists und Tereschens? alter Sitte) einen guten Bissen essen; denn ohnedem wird alles bezahlt, was nicht im Hause ist, als: Chokolade, Fische ic. Wie lebt Tereschen? — Was macht Lisi? — Was machen die Kinder Adolph und Luisi, denen ich so gerne etwas schicken wollte, wenn es nicht gar so weit wäre und wenn ich eine Gelegenheit hätte. Am 11. Januar Abends, also 2 Läge vor meiner Krankheit,

machte ich einem Knaben von 16 Jahren folgende Knittelverse, die er auswendig lernte. Am 12. arbeiteten alle Kinder, da man sonst an anderen Geburtstägen des Pestalozzi immer Illuminationen ic. gemacht hatte. Pestalozzi war überrsacht. Er trat in das Zimmer der zweiten Klasse, wo ich Erzieher (Jnspector) bin. Jetzt bildeten die ftanzösischen und deutschen Knaben 2 Kreise, worauf der Knabe hervortrat und seine Ware auswendig hersagte.

Den 5. März. Die Franzosen hatten abwechselnde Gespräche. Die Wirkung war die beste, man war erhoben. Mich aber versetzte diese Szene in eine

26

Bei Pestalozzi

verschiedene Zeit und einen entlegenen Raum. Ich gedachte unserer beiden Namensfesi an Weihnacht, wo wir uns stillschweigend im

Arme hielten, und uns verstanden, wenn wir gleich keine Worte fanden. Dies Gedicht sprach der Knabe: (ich schreibe es wegen

Ersparung des Raumes in Querformat). E i n e r a l l e i n: Den 6. Es grüßt Dich Vater eine frohe Schar Und bringt Dir ihre Wünsche dar. Sie kommen all aus reinen Trieben, Aus Herjen, die Dich innig lieben. Uns alle freut Dein Wohlergehen, Es freut uns. Dich gesund zu seh'n. Nach manchen bittern Schmerzens Wunden, Nach manchen Tages schwülen Stunden Sinkt über hoffnungsvolle Saat die Sonne unter. Doch Deine junge Welt schafft munter, daß das, was Du empfunden und gedacht,

Zur schönern Reife werd gebracht. Von früher Morgenzeit, Wo uns der muntre Hahn erweckt. Bis daß die Glock zu Abend läut", Wo uns der Schlaf mit seinem Schleier deckt, Begreifen, singen, springen wir, Uns zu Nutz, zur Freude Dir. Durch Arbeit, Mühe soll es uns gelingen, daß wir den bösen Geist bezwingen. Der in der Trägheit wohnt,

der in dem Nichtstun thront. Zum guten Willen noch gehört die Kraft, Die Alles wirket. Alles schafft. Und wie in goldenem Pokal der Wein, Muß in dem Herzen Liebe sein. So kommt dereinst durch Kraft und Liebe

Zum Wohl der Welt der ew'ge Friede.

März.

Ach, läg's an Dir, es hätte jede Not Bequemen Stab, die Armut Ruh und Brot; Und 0! wie würd" in Stadt und Flur Ein jedes Kind der freundlichen Natur Zu Blüt und Frucht gedeihen Und alle, alle Welt sich freuen! O könnten wir auch Deinem Leben Länge, Jugendkraft und Ruhe geben; Und möchte dann jugleich die Welt, Wenn auch nach hartem Kampfes Walten So wie durch Deine Hände das Erjiehungsfeld Nach Deinem Sinne sich gestalten.

Alle zusammen:

Wir alle stimmen auch mit wahrer Lust In dieses Freundes Wünsche ein. Und rufen laut aus froher Brust Mit voller Stimme drein: „Vater Pestalozzi soll hoch leben!"

Jetzt lebt wohl, Alle, Alle!

(Aus dem Briefbuch.) An Herrn Custer.

Roth.

Jferten, den 6. März 1820

Wertgeschätzter Herr! Ich hatte mir vorgenommen, bis zum Namensfesie Pestalozzis einen Aufsatz über Sprache zu fertigen und ihm denselben an diesem ftohen Tage in einer engl. Uebersetzung zu übergeben. Meine Berechnung war etwas praezis, und mehrere, denen ich Hefte zum Uebersetzen ins Französische gegeben hatte, gaben mir dieselben mit der Entschuldigung zurück, daß diese Uebersetzung in einer gewissen Kunstsprache ihre Kräfte überstiege. Es ging mir mit einem Wort wie dem Hochzeitsvater in der Bibel, der ausrief: Viele waren berufen, wenige auserwählt. Mittlerweile

überfiel mich eine Krankheit, die mich auf alles vergessen machte. Jetzt, wie ich anfange zu genesen, vernehme ich die Nachricht, daß meine Uebersetzerin ins Englische Mademoiselle Shepherd mut­ maßlich dieses Frühjahr verreisen werde. Ich bin hiedurch in der

höchsten Not. Dann hätte ich Niemanden, der mir weiter übersetzen könnte. Herr Buchholz verreist, Herr Greaves versteht nicht genug

französisch, kurz alle Mühe wäre verloren. In dieser großen Verlegenheit wende ich mich an Sie, wertge­

schätzter Herr, als an einen nahen Verwandten Pestalozzis3), tun Sie mir die Freundschaft und übernehmen Sie die Mühe, einige Hefte zu übersetzen. Ich habe viel zu wenig Verbindung mit Ihnen

gehabt und gar keinen Verdienst um Sie, aber ich dachte bei mir selbst, tut ers nicht dir zu Gefallen, so wird er es aus Liebe für Vater Pestalozzi tun rc. ic. um mir von mir aus die Freiheit nehmen zu können, Sie mit diesem Begehren belästigen zu dürfen1 2). (Aus dem Briefbuch.)

Jferten, den 9. März 1820.

Geliebte Eltern! Noch hält mich ein kaltes, unfreundliches Wetter in der Stube gefangen und schon seit mehreren Tagen entbehre ich

der freien Luft, die mein Arzt für die beste Medizin in meinen Um­ ständen hält. Unterdessen bin ich mir im Zimmer selbst überlassen und schweife mit meinen Gedanken hierher, dorthin, daß es schwer halten würde mir darin zu folgen. Meistens beschäftigt mich der Gedanke an die Zukunft, an die ich gewisse Forderungen mache, die viele an meinem Platze sich verbitten würden. Ich will gern Auf­

opferungen machen, ich will gern vielem entsagen, was auch mir lieb und teuer ist, nur möchte ich einen Bürgen haben, daß ich

alsdann zuftieden, daß ich glücklich sein würde. Manchmal stelle ich mir die Umstände so günstig zusammen, daß alles nach meinem Wunsche ausfällt. Ich sehe mich als einen Sämann, der mitten auf seinem Saatfeld steht und die Freude der Ernte genießt. Meine 1) Custer war der Schwiegersohn Pestalozjis. 2) Zur Uebersetzung Custers stehe die Fußnoten zu den einzelnen Kapitelüber­

schriften des „Sprachunterrichtes".

Einbildungskraft, von einer Nervenschwäche unterstützt, räumt mir einen so schönen Wirkungskreis ein und verschafft mir auf die Veredlung unseres Geschlechts einen gesegneten Einfluß. Vor Freu­

den bin ich außer mir, ich möchte auf die Knie fallen und Gott für diese unverdiente Gnade danken. — Ach, da erwache ich aus meinem Traum und ich stehe da entblößt von allen Mitteln, die mir, wenn ich nicht ein Amt habe, gänzlich fehlen; ich betrachte mich in meinem

. . Zustande . . und sehe wohl, daß ich mit dem eifrigen Wunsche anderen zu helfen, zu raten, zu erziehen, selber mit mir im Kampfe liege, daß ich selber des Ruhmes entbehre, den unser Geschlecht haben könnte. Gott wird helfen, Gott wird helfen und deine Eltern werden dich nicht verlassen, nein, sie werden dich nicht verlassen. — So schwebe ich in Freude, in Kummer und Angst, je nachdem ich schwach oder stark bin, je nachdem äußerer Umstand oder inneres Ergebnis, diese oder jene Gründe die Oberhand ge­

winnen. Liebe, geliebte Eltern! Es darf Euch dieses an mir nicht wundern; ich war so selig in meinen Gedanken, so glücklich in meinen Hoff­ nungen. Euer gegebenes Mißfallen hat mich erschüttert. Ich tue recht daran, daß mir Euer Mißfallen schwer auf dem Herzen liegt,

aber Euer Mißfallen ist ja noch nicht Unwillen, noch nicht Zorn über mich. Geliebte Eltern, haltet diesen Unwillen zurück, zürnet nicht. Ich werde Gott danken, wenn ich einmal mit Euch darüber gesprochen haben werde, ich werde Gott preisen, wenn er mir bei meinem Vorhaben Euer Herz schenkt.

(Aus dem Schreibkalender.)

io. März. Gestern schon einige freundliche Sonnenblicke, heute ein schönes, wenn gleich etwas kühles Wetter. Gehe seit dem g-ten zum erstenmal wieder aus. Habe auch etwas weniges gegessen, was ich

fühle, daß es mir wohltut. 12. März. Fahre nachmittag mit Pestalozzi und Kath. Schmid aus:

ich kutschiere. Sollten nach Orbe, wurde zu spät. Abends Steffan bei

mir. Den Tag über ging ich spazieren, zu Krüst, Frank (war nicht zu Hause), Erös rc. Arbeite auch in meinem Allerleibuch *). (Aus dem Briefbuch.)

Den iz. März 1820.

Bemerkungen?): Der gute Pestalozzi hat durch ein Buch der Mütter3) die Ver­ edelung unseren Geschlechts gefunden zu haben geglaubt. Abge­ rechnet, daß in dem erschienenen Buche nicht alle Elemente der Bil­ dung angetroffen werden, so steht dasselbe auch zu sehr außer aller Verbindung mit dem Leben. Damit die Volksmütter dieses Buch gebrauchen können, ist zuerst Unterricht notwendig rc. Die eigentliche Idee eines Buchs der Mütter scheint mir vielmehr in dem zu bestehen, daß den unterrichteten Vätern und Müttern ein Buch zum Abschied in die Hand gegeben wird, dessen Inhalt den Weg des eigenen Empfangenen befolgt und sich nur soweit ausdehnt, als der Unterricht im Hause gegeben und als Vorbe­ reitung oder Nachhülfe in den ersten Schuljahren nützlich gegeben werden kann. Es gehört demnach dazu Zahl, Sprache und Form. Unsere Knechte und Mägde in der Kleinschelker Schule haben eine Sonntagsschule, wo geschrieben und gerechnet wird. In diesen Stunden, die sich ja durch mehrere Jahre hindurchziehen, ließe sich wohl so ein Inbegriff des häuslichen Unterrichts (Buch der Eltern) sauber abschreiben; so wie das von Natorp vorgeschlagene Gedächnißbuch eine vorteilhafte Anwendung zuläßt. (Aus dem Schreibkalender.)

15. März. Reite

vormittags zum erstenmale aus. Esse bei Buch­

holz zu Mittag. Gehe mit Steffan ins Bad hinaus, wo wir Kaffee trinken. (Den Morgen hing Herr Beck die Wandkarte in meinem Zimmer auf. Sie ist 10 Fuß hoch und 10 lang.) Rauche abends 1/2 Zigarre._________________________________________________ 1) Briefbuch. 2) Siehe auch Anhang zu Kapitel 6 des „Sprachunterrichts". 3) Pestalozzis „Buch der Mütter", erschienen 1803 in Bern und Zürich.

16. Märi. Erhalte einen Brief von Becker.

(Aus dem Briefbuch.)

Den 17. Märj.

Geliebte Eltern! Dies ist zum drittenmale, daß ich mich nieder­ setze, um Euch über meinen Plan die geforderten Aufschlüsse ju geben. Es wird mir ungemein schwer. Ich weiß nicht, was mir diesmal das Schreiben erschwert. Wäh­ rend ich voll von Gefühlen bin, vermag ich kaum diesen Brief auf­ zusetzen. Es ist nicht Furcht vor Eurer Mißbilligung, auch nicht Mißtrauen in Euch-------Durch Erziehung von Dorfschulmeistern hoffe ich mein Pfund, das mir Gott verliehen hat, am besten anzuwenden. Eine Bauern­ hütte ist meine und meiner Zöglinge Wohnung, was wir mit Spa­ ten und Haue erarbeiteten, wäre uns hinlänglich zur Nahrung, der Leinwandbau gäbe uns den notwendigen Stoff zu Kleidungs­ stücken, welchen das weibliche Personale verarbeiten würde. Ein Dutzend für den Lehrerstand geschickte Kinder von 13-16 Jahren wären in Feld und Haus geschäftig und den Abgang ersetzte immer ein neuer Zuwachs. So wäre es möglich, unsere Dorfschulmeister zu verbessern. Ein Geist der Liebe umschlänge die zu der Mutter­ anstalt Zugekommenen mit den Abgegangenen. Die Fortschritte beider würde man sich mitteilen und so wäre ein einfacher Weg zu einer allgemeinen Volksbildung in geistiger und industriöser Hin­ sicht eröffnet und angebahnt. Vater, Mutter! In der Ausführung dieses Projektes wollte ich mein Leben zubringen; hier wollte ich leben, hier wollte ich sterben. Obgleich ich fühle, daß mir zur sicheren Führung der Anstalt vieles abgeht, so werde ich es doch tun, weil es kein Besserer, ja kein anderer tut. Eine praktische Bildung von stommen und tätigen Schullehrern in Rücksicht des Unterrichtes und der Erziehung kann vom Gymnasium nur schwer ausgehen und die erwachsenen Bäume lassen sich nicht beugen. Mitten in der Anschauung des Volkes würde die Einsicht dessen, was not tut, auffallen und der beständige Anblick der Quellen, aus denen sich unsre Volksarmut, unsere gei-

stige Verwahrlosung des Volkes ergießen, würde eine beständige Aufforderung sein, sie zu verstopfen. Dies ist mit wenigen Worten das, was ich wünsche. Inwieweit

sich dieses mit dem geistlichen Stande vereinigen läßt, weiß ich nicht. Denkt darüber nach, ich bitte Euch drum von ganzem Herzen. Ich will Eure Hoffnung nicht mit Fleiß zerstören. Geliebte Eltern! Ich habe Euch seit meinen ersten Kinderjahren keinen Kummer gemacht.

Gott wird uns bewahren, daß Ihr keine gerechten Tränen über mich vergießen sollt. Ich fühle, daß ich nicht lange leben werde, ein stein­ alter Mann werde ich nicht. Gerne möchte ich mein Leben durch irgendetwas verlängern, was dem Vaterlande frommte.

Abgeschickt den 18. März 1820. (Aus dem Briefbuch.)

DIE

XIX

MARTH.

Deo sit laus et gloria in excelsis. *) Gestern vor dem Essen überreichte mir Herr Pestalozzi einen Brief von meinem Vater (überschrieben vom 16. Februar 1820), worin er meine Heimkunft in kräftigen Worten fordert. Herr Pestalozzi

hat mir denselben einige Zeit vorenthalten, weil er, wie er sagte, einen Rückfall befürchtete. Ich dachte nun an meine vergebliche Mühe mit dem Opusculum latinum, mit der Theorie des Sprach­ unterrichts ic. ic. Bis nach Pfingsten muß ich wenigstens noch hier bleiben, aber der Gedanke der Trennung lastet schwer auf mir. Doch

heute am 19. März (Sonntag) 7^/4 sage ich: Laus sit deo et gloria in excelsis.-------- Omnia deus bene vertat1 2). Pestalozzi an den Vater St. $. Roth's 3).

Dverdon, am 18. März 1820.

Wohlehrwürdiger Herr Pfarrer! Herzlich verehrter Freund! Ihr

geehrtes Schreiben ist mir schon vor zwei Wochen zugekommen, aber 1) Gott in der Höhe sei Ehre und Ruhm! 2) Alles möge Gott gut lenken! 3) Das Original dieses Briefes befindet sich gegenwärtig im Besitze des

ich wagte es damals nicht, den Inhalt desselben ihrem Herrn Sohn zu eröffnen, da er noch an einem äußerst gefährlich scheinenden Ent-zündungsfieber krank lag, und ich beforchten mußte, der Inhalt

desselben möchte ihm unter diesen Umständen nachteilig sein. Jetzt

aber ist, gottlob, alle Gefahr vorüber — seine Wiedergenesung geht außerordentlich und über unsere Erwartung schnell — und ich habe, sobald ich es mit Sicherheit dorfte, keinen Augenblick versäumt, ihm den Inhalt ihres väterlichen Schreibens ju eröffnen und ihm denselben mit der ganzen Stärke der rührenden Ausdrücke ihrer Sorgfalt und Liebe ans Herz zu legen. Seien Sie versichert, daß Alles, was von mir abhängt, getan werden soll, ihn zu bewegen, Ihrem väterlichen Willen zu entsprechen. Ich bitte aber diesen Ihren Willen in beschleunigter Rückantwort an mich noch einmal zu bestätigen, damit diesfalls keine Verspätung stattfinde, und ich für jeden Fall in den Stand gesetzt werde, die ungesäumte Erfül­ lung Ihres Willens mit allen nötigen Motiven und mit aller Stärke zu unterstützen. — Ihr Sohn bereitet gegenwärtig einige meiner Zöglinge zum Zutritt zur heiligen Comunion und hat mir in Rück­ sicht auf Ihr Schreiben geantwortet, daß vor Pfingsten, wo dann dieser Unterricht geendet sein werde, von der Abreise von hier keine

Rede sein könne. Er hat mich auch bei meiner diesfälligen Unter­ redung mit ihm gebeten, ihm Ihren Brief selber zu Händen zu stellen, und ich habe keinen Anstand genommen, es sogleich zu tun. Lieber, verehrungswürdiger Herr und Freund! Seien Sie ver­ sichert, daß ich die schnelle Befolgung Ihres Wlllens mit Ernst wünsche und nichts versäumen werde, was irgend etwas zu Erfüllung

Ihrer Wünsche beitragen kann. — Da Ihr Herr Sohn Ihnen selbst schreiben wird, so bitte ich Sie mir das, was Sie ihm diesfalls ant­

worten werden, copiaiiter zujusenden, damit jedes Wort, das ich weiter diesfalls an Ihren Sohn werde gelangen lassen müssen, in

vollkommener Uebereinstimmung mit Ihren Aeußerungen an ihn bleibe. Herrn Reinhold Obere, Kronstadt. Es wurde erstmalig von Gräser (siehe i, 16, Anm. 2) S. 89 veröffentlicht.

ii

3

Genehmigen Sie, Edler, herzlich verehrter Herr Pfarrer, die Ver­ sicherung der vorzüglichsten Hochachtung, mit der ich die Ehre habe mich zu nennen dero gehorsamster Diener und Freund

Pestalozzi.

(Aus dem Schreibkalender.)

20. März. Steffan aus W. führt mich auf das Weinschiff vom Büh­ ler aus Langenthal. Nachmittag mit Custer, Pestalozzis Tochter­

mann, spazieren: wieder aufs Schiff, welches 56 Fässer Wein ä 470 bis 480 Maß (Berner) trägt. Abends Konzert. Besuche mit Frank den Winternitz, der nach Biel ans Gymnasium geht. Später kommen noch hin Heß aus Zürich und Caspar. Ich kehre allein mit Heß zurück. 21. März.

22. März.

Der Südwind verwandelt das gute Wetter in schlechtes.

Abends die vier Sänger aus Wien. Beim Tee mache eine ange­ nehme Bekanntschaft. (Aus dem Briefbuch.)

An den Vetter Sim. Wachsmann.

Jferten, den 22. März 1820.

Lieber Vetter! Indem ich die Feder ergreife, um Dir endlich ein­ mal zu schreiben, sehe ich wohl ein, daß ich dies schon mehreremal hätte tun sollen, sowohl aus Pflicht, als auch aus dem persönlichen

Anteil, den ich an Dir immer genommen habe. Freund! Wie lebst Du noch? Manches wird.sich wohl in dieser Zeit in Deinen Um­ gebungen geändert haben; einiges ist mir schon von meinen Eltern

mitgeleilt worden und mich soll es herzlich freue», wenn Du glück­ lich bist. Ich verspreche mir die angenehmsten Genüsse von dem Umgänge, den ich im lieben Vaterlande mit Dir haben werde. Schau Freund, Du bist der einzige Verwandte, der mich durch die geheime Sympathie des Blutes an Mediasch, also auch an mein Vaterland bindet. Freund, wir wollen, wenn wir gleich nur ein

kleines Klümchen sind, fest zusammenhalten und was uns von der Menge der Freunde abgeht, durch Innigkeit und Zärtlichkeit reich­ lich ersetzen. Meine Familie wünscht meine Rückkehr und ob ich für

mich selbst noch keinen Brief hierüber erhalten habe, der mir etwas

Bestimmtes mitteilte, so werde ich doch dem Willen meiner Eltern, so bald als es mir möglich ist, genüge leisten. Sobald ich von meiner Krankheit, die ich im Anfänge dieses Jahres hatte, hinlänglich her­

gestellt sein werde, so bin ich bereit, die Reise anzutreten; und wenn etwas dazu beitragen kann, mir meine Rückkehr, die schon in aller Beziehung mir Freude gewährt, wünschenswert zu machen, so ist es allerdings Deine Freundschaft und Deine Liebe. Wie nicht an­ ders zu vermuten ist, so hast Du in meiner Abwesenheit gewiß meine Eltern und den altertümlichen Pfarrhof von Kleinschelken besucht. Je öfters Du es getan hast und je öfters Du es in Zukunft tust, je lieber ist es meinen Eltern und mir, die Dir sehr wohl wollen. Indessen habe ich hier in Dverdon einen Teil meines Aufent­ haltes iM Auslande mit hohen Genüssen zugebracht und wenn Du es mir nicht übel auslegst, daß ich Dir's sage, so habe ich. hier auch manches gelernt, was man sonst schwer an einem anderen Orte lernen könnte. Allerdings schmerzhaft ist es mir, diesen Ort zu ver­

lassen, an welchem ich leicht die vorteilhafteste Verbindung in päd­ agogischer und ökonomischer, wie auch in anderer Rücksicht habe machen können; aber der Satz: Ubi bene, ibi patria1) hat sich an mir nicht erproben wollen; sintemal ich durch meine Sehnsucht nach

Hause das Gegenteil beweise. Es ist nichts Geringes, die Bande eines geistigen Zusammenhanges plötzlich zu zerreißen und von

Menschen, die wir wegen ihrem Verstände hochachteten und wegen ihrer Herzen liebten, auf einmal einen Abschied auf die Zeit unseres irdischen Lebens zu nehmen. Ich fühle es wohl: diese Umgebung in hundertfacher Beziehung finde ich nicht mehr und obgleich auch Rosen Dornen getragen haben, so ist mir mein hiesiger Aufenthalt

doch so lieb, als der auf der Universität, wo nicht immer goldene Aepfel in silbernen Schüsseln aufgetragen werden und manches nach Wahrheit sehnsüchtiges Herz unbeftiedigt von dannen geht. Laß

Dich diese meine Aeußerung nicht befremden. Die Universitäten geben eine gewisse Selbständigkeit, die nur an der Luft der Freii) Wo es mir gut geht, ist mein Vaterland.

heit gedeiht, und das fähige Herz kehrt mit Begeisterung an seinen

Wirkungsplatz zu seinem Volke zurück.. Wundre Dich daher nicht, wenn ich Dir gestehe, daß ich hier erst den Wert des Lebens an sich gefühlt habe und daß ich mich glücklich schätzen würde, wenn ich einen Teil der Selbstständigkeit von der Universität mitbrächte, die nur an der Luft der Freiheit erhärten kann und deren man im Leben

so oft bedürfen soll. Doch genug! Ob ich gleich Dir so vieles zu sagen, Dich so vieles zu fragen, Dich noch sehr meiner Freundschaft versichern wollte, ich sage Dir: lebe wohl! in einer eigenen Stim­ mung; hier reiße ich ab, dort will ich anknüpfen! Ist nicht das Leben ein wunderbares Ding?-------Ich mag viele Namen nicht hieher setzen; grüße aber, die Du weißt, daß ich sie grüßen würde, grüße sie namentlich, denn Du

kennst alle. Gott mit Dir!

Roth.

(Aus dem Schreibkalendcr.)

23. März. Um 10 Uhr besuche ich den Kaplan, auf dem Spazier­ gang trifft uns.... Im Bad ein Glas Wein. Speisen zu Mittag bei Ihr. 3V2-4V2 im Turm oben. Abends Konzert, wo M. mich

oft anblickt *). (Aus dem Briefbuch.) An Schwager Henrich.

(Ohne Datum.)

Lieber Herr Schwager! Teuere Schwester! Noch einige Monate und ich bin in Euren Armen; obgleich zwar diese Heimreise für meine

Zwecke, Hoffnungen und Wünsche zu frühe eintritt, so will ich jedoch lieber meine eigenen Vorteile auf die Seite setzen, als Pflichten eines guten Sohnes und Bruders vernachlässigen. Es wird mir schwer von hier fort zu gehen und beinahe wünsche ich schon abge­ reist zu sein, um mir nur den Abschied zu ersparen. Ihr lieben

Seelen, Ihr erleichtert's mir, und der Gedanke, bald unter Euch zu sein, hat auf der andern Seite wieder so viel Freudiges, so viel 1) Vgl. mit dieser Eintragung im „Geschäfts- und Erinnerungsbuch 1820", die sich zweifellos auf Marie Schmid bezieht, den Beginn des ersten Briefes an sie vom 17. April 1820.

Süßes für mich, daß mein Herj sich bald in sein Schicksal ergibt. Ja, im freue mich innig, recht innig auf meine Rückkehr, auf mein

Leben unter Euch und mit Euch. Verschiedene Arbeiten, die ich hier angefangen, bleiben liegen, verschiedene Verhältnisse, die ich hier angeknüpft habe, werden jerrissen, verschiedene Mittel, die mir halb in den Händen lagen, muß ich durch dieses beinahe Uebereilte fahren lassen. Werde ich wohl so glücklich sein, in meinem Vater­ lande die Unterstützung und Hülfsmittel ju finden, die mich früher

oder später in einen Wirkungskreis versetzen, in denen ich einiger­ maßen meinem Leben einen Wert abgewinnen könnte? Doch stille! — Ihr seid glücklich und das freut mich. Hat vielleicht auch das Röschen sein Dörnchen, so bleibt es doch ein herrliches Blümchen. Dies sind fteilich nur ein paar Zeilen — wäre aber die Länge des Briefes ein Beweis vor die Stärke meiner Liebe, so müßte ich ftei­ lich so lange schreiben als ich lebte. Lebet wohl! Roth. (Aus dem Driefbuch.) (An die Karlsburger Freunde.)

Jferten, den 27. März 1820.

Becker, Salzer, Holzer! (Holzmann.) Vermutlich wäre ich noch längere Zeit hier gehockt, wenn nicht meine Mutter meinen Vater bestürmt hätte, bis daß ein Brief kam, der mich nach Hause ruft. Don hier gehe ich in Bälde fort. Das Jahr, worauf ich mich en­ gagiert hatte, ist verflossen und ich habe also kein Hinderniß. Noch erwarte ich nur Briefe und Geld und dann Adjeu Dverdon! Da ich aber gesonnen bin, noch nach Freiburg in der Schweiz zu Pater

Girard zu gehen und mich da einige Zeit aufhalten werde, so werde

ich, obgleich ich alles zu beflügeln suche, nur ungefähr Ende Mais oder Anfang Junis bei Euch eintreffen. Da wollen wir uns einige Tage recht genießen und eine Zeit verleben, die schwerlich wieder­ kehrt. O Freunde, wie und mit welchen Worten soll ich Euch meine Freude beschreiben, die mich beim Gedanken des Wiedersehens er­ füllt. Mag mein Wechsel breit oder schmal ausfallen, ich bettle mich bis nach Karlsruhe, um nur einmal noch Euch an mein Herz zu

drücken. Bis dahin werde ich auch gesund sein, was ich jetzt «och nicht ganz bin — freue mich auch in dieser Rücksicht, daß schöne Jahres-

zeit, Gesundheit, Freunde, Karlsruhe, alles zusammentrifft. Eure Eltern grüßt mir freundlich, herzlich — ach Gott, bald soll ich auch

die Meinen grüßen. — Hätte keiner von Euch Lust mit nach Wien zu reisen? Eure frühe

Anstellung freut mich, aber versucht erst einen Ausflug in die weite Welt, die zwar im Vaterlande am schönsten, aber dem ohngeachtet auch an anderen Orten schön bleibt. Eine Reise zu machen, war ja früher Euer Wunsch; macht sie mit Eurem Freunde, zumal da

später ein immer tieferes Einarbeiten in die Amtsgeschäfte und Familienangelegenheiten jedermann gewissermaßen eine Maul­ wurfsnatur aneignet. Die Reise kommt nicht hoch ic. wenn man etwas will und nicht nur wünscht, so kommt dies ohnedem bei den wenigsten Menschen in Anschlag — Ihr seid auch keine Rechnungs­ exempel.

Pestalozzi's Zeugnis über die Tätigkeit Roth^sH. Daß Herr Stephan Ludwig Roth, aus Kleinschelken in Sieben­ bürgen, ein Jahr als Lehrer in meinem Institut gestanden und nicht blos durch seine Kenntnisse, seinen Eifer und seine die Zög­

linge geistig und gemütlich ergreifende Art, sie zu behandeln, sehr

vorteilhaft ausgezeichnet, sondern mir noch besonders in meinem Versuch, den Sprachunterricht memnonisch und psychologisch zu erleichtern und zu vereinfachen sehr wesentliche Handbietung ge­ leistet, indem er meine diesfälligen Grundsätze mit entschiedenem Erfolg auf den Unterricht in der lateinischen Sprache angewandt, so daß er in dieser Rücksicht wirklichen Anspruch an meine Dank­

barkeit besitzt, sowie er dasselbe auch in Rücksicht auf seine tätige

Anhänglichkeit an meine Lebenszwecke verdient und auf immer meiner freundschaftlichen Ergebenheit versichert sein soll. Averdon, 5. April 1820. Pestalozzi. 1) Das Original befindet sich gegenwärtig im Besitze des Herrn Reinhold Obert, Kronstadt. Gräser verbffentltchte es S. 18.

(Aus dem Schreibkalender.) 6. April. D e n 6. r e i se l ch mit Steffan und Caspar v o n I f e r--

ten weg. Bevor wir den jungen Roth auf seine weite Heimreise begleiten, sollen hier zwei Briefstellen der Jfertener Zeit nachgetragen werden, deren Ori­ ginale im Nachlaß Roth's leider nicht mehr erhalten und die nur bruch­ stückweise von Gräser (1,16, Anm. 2) überliefert worden sind. Don diesem ohne Datum zitiert, konnten sie mit Sicherheit in die genaue chronologische Folge der übrigen Dokumente nicht eingereiht werden. Bruchstück eines Briefes an die Eltern aus Jferten. (Mitgeteilt von Gräser S. 12.)

Nicht leichtsinnigerweise, sondern mit bedächtiger Sorgfalt, mit ernster Prüfung habe ich mich und mein Tun durchforscht: ob ich auch in der Erziehung des Menschen ein Werkzeug in der Hand der Vorsehung sei und sein könne. Ich wollte untersuchen, ob mein Eifer, meine Bestrebungen, meine Arbeit nicht eine schlechte Trieb­ feder in gehässigem Grunde habe. Hiebei setzte ich meine Eitelkeit,

meine Gemächlichkeit, meine Schwäche auf die Probe. Ich wollte mich nicht in den Strom hineinwerfen, wie ein Rasender, der ent­ weder darin untergeht oder fortgerissen wird, ohne zu wissen wohin. — Lieber Vater, ich habe den Beruf meines Lebens gefunden: die Bestimmung meiner Pilgerschaft ist mir aufgegange«. Indem ich meinen Beruf und meine Bestimmung erkenne, ist es in meiner Brust himmelrein, ich möchte sagen himmlisch. Der gestaltlose und unbekannte Drang, der mich hin und her trieb, der mich die Welt und das Leben nicht in ihrer wahren Gestalt erkennen ließ, hat sich geläutert und geklärt, wie der neue Wein nach der Gärung....

Nicht mehr unsicher bin ich mit dem was ich wlll; nach einer ge­ wonnenen höheren Aussicht meines Lebens hat sich mir in meiner Seele ein festes Wollen, ein unerschütterlicher Beruf festgesetzt. Das Leben hat Wert und Bedeutung gewonnen. Ich bin vom Ge­ danken der Menschenerziehung geheiligt.— Ich freue mich so sehr, daß ich mit mir ins Reine gekommen bin.

Freut Euch mit mir: ich habe meinen verlorenen Groschen, meinen

verlorenen Frieden wieder geftrnden. Wie wohl daß es einem ums

Her; ist, wenn man auch noch nicht Gutes getan hat, sondern auch

nur den Entschluß Gutes ju tun gefaßt!" Bruchstück eines Briefes an die Eltern aus Jferten. (Mitgeteilt von Gräser S. 15.)

In diesem Schreiben teilte ich Euch mit, was mich seit einiger Zeit ernstlich bewegt. Meiner Ueberzeugung nach ist es mit dem

geistlichen Stande nicht zu vereinigen, deswegen ließ ich aus meinem Gedanken gerne das Pfarrersein fahren, um für mich dasjenige zu sichern, was mir das Bessere schien und scheint. Zuerst setze ich Euch eine Stelle hieher aus Luthers Schriften: „Einen fleißigen und frommen Schulmeister oder Magister, oder wer er ist, der Knaben treulich zeucht oder lehret, den kann man nimmer genug lohnen, wie auch der Heide Aristoteles sagt. Noch ist es bei uns so schändlich ver­ achtet, als sei er gar nichts, und wollen dennoch Christen sein. Und ich, wenn ich vom Predigtamt ablassen könnte oder müßte, so wollte ich kein Amt lieber haben, denn Schulmeister oder Knabenlehrer sein, denn ich weiß, daß dieses Werk nächst dem Predigtamt das allernützlichste, größte und beste ist. Und weiß dazu noch nicht, wel­ ches unter beiden das beste ist, denn es ist schwer alte Hunde und alte Schälke fromm zu machen, daran doch das Predigtamt arbeitet

und viel umsonst arbeiten muß. Lieber, laß es der höchsten Tugend eine sein auf Erden, ftemden Leuten ihre Kinder treulich ziehen, welches gar wenig und schier Niemand tut an seinen eigenen"x).

Durch Erziehung von geschickten Kindern zu Dorfschullehrern hoffe

auch ich mein Pfund, das mir Gott verliehen hat, am besten anzu­ wenden. Eine praktische Bildung ftommer und tätiger Schulmeister bedarf unser Land. Unsere Anstalten hiefür sind nicht genug auf das Volk berechnet und eine Erziehung — nicht bloßer Unter­ richt — kann von unsern Gymnasien nicht, oder doch sehr schwer ausgehen. Mitten in der Anschauung des Volks müßte sich ihnen 1) Aus Luthers „ Predigt, daß man Kinder zur Schule halten solle" (1530).

eine wahrhafte Anschauung dessen, was Not tut erjeugen, und der beständige Anblick der Quellen, aus denen sich Volksarmut und

Verwahrlosung fortwährend ergießen, wäre die beste Aufforderung sie verstopfen zu helfen... So wäre ich ein Sämann auf einem Gottesacker. Die Abgehenden ersetzte ein neuer Zuwachs. Die Fort­ schritte im Unterricht und Erziehung teilte man sich mit; ein ein­ faches pädagogisches Werk zirkulierte im ganzen Kreise. Hiemit wäre eine das Ganze umschließende Lehrergesellschaft gegründet und durch dies alles ein einfacher Weg aufgefunden, eine allgemeine Volksbildung in religiöser, geistiger und industriöser Hinsicht zu bilden. — Ich fühle wohl, daß ich Manches entbehre, was zur Füh­ rung einer solchen Anstalt erforderlich ist. Aber es tut not, und ich tue es, wenn auch nur aus dem Grunde, weil es kein Besserer oder eigentlich gar Niemand tut. Zwei Dinge sind es aber vorzüglich, die mir Herz machen, diesen Schritt ja nicht zu unterlassen. Vor^s erste hänge ich in der Ausführung dieser Wünsche wenig von Andern ab: was mir Verstand und Gewissen rät, kann ich fröhlich tun. Am Gymnasialkarren ziehen viele in entgegengesetzter Richtung. Vor's

zweite ist dies das wirksamste Mittel; wenn mich Gott segnet, so ist es ein Senfkorn. Drum will ich darin leben, darin sterben. Als zweiter Nachtrag zu den Dokumenten der Jfertener Zeit und als ihr Abschluß folge nun der Erstdruck jener Schrift, deren Abfassung Roth seit dem Sommer 1819 beschäftigte und die in mehreren vorausgeschickten Briefen bereits erwähnt wurde: des „S p r a ch u n t e r r i ch t s". Er ist zwar nicht in Jferten vollendet, aber, wie man aus den Datierungen der einzelnen Kapitel entnehmen wird, doch fast ausschließlich in Jferten ge­ schrieben worden. Er ist das eigentliche schriftstelle­ rische Werk dieser Zeit, die unmittelbarste gei­ stige Frucht der Zusammenarbeit mit Pestalozzi. In dem über die Entstehung des Werkes eingehend berichtenden Brief an die Eltern vom 1. Januar 1820 hieß es (s. S. 14): „Wenn ich Gelegen­ heit hätte, Euch das Original unterdessen zuzuschicken, so sollte es mich unendlich freuen. Indem Ihr so läset, woran ich ein Vierteljahr gearbeitet habe, so würdet Ihr mich in einem Teil meines Lebens gleichsam beschauen

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Der Sprachunterricht

können." Leider blieb dieser Wunsch unerfüllt und der Vater erhielt, trotz der vielen Briefe, keinen rechten Einblick in das Schaffen des Sohnes. Sonst hätte er nicht so verstockt auf der Abreise von Jferten bestanden. Um seinem Vater keinen Kummer zu bereiten, gab Roth schließlich nach. Die Rückkehr des verlorenen, oder doch verloren geglaubten Sohnes. Am tiefsten schmerite ihn dabei zu sehen, wie wenig der Vater ahnte, um was es denn wirklich ging. In der Tat kann niemand ohne Kenntnis des „Sprachunterrichts" ahnen, zu welcher ungewöhnlichen Aufgabe Genie und Schicksal den jungen Siebenbürger unversehens in Jferten gedrängt hatten, welchen Sinn sein Aufenthalt bei Pestalozzi für Pestalozzi, d. i. für die Zukunft des Erziehungswesens überhaupt im Laufe eines Jahres ge­ wonnen hatte, kurz, um was es sich damals am Neuenburger See, abge­ sehen von der praktischen Erziehungsarbeit, letzten Endes handelte. Ich stehe nicht an zu behaupten, daß die Pestalozziforschung, so reich ste ist, keine Dokumente kennt, die für die Erfassung der geistigen Probleme und Bemühungen jener Jahre um 1820 aufschlußreicher wären als der „Sprachunterricht". Roth behauptet (im oben erwähnten Brief), die ersten Aufzeichnungen dazu am 26. August 1819 im Dörflein Bullet auf dem Juragebirge be­ gonnen zu haben, wo er sich einige Tage erholen sollte und durch Regen und Nebelwetter ans Zimmer gebunden war. Als eigentliche Entsiehungszeit der Schrift sind jedoch, wie die Kapiteldaten beweisen, bloß die beiden Monate November und Dezember 1819 anzusehen. In etwa sieben Wo­ chen, so unwahrscheinlich es klingen mag, wenn man bedenkt, daß er da­ neben den Tag voll besetzt hatte mit Unterrichts- und Erziehungsstunden (s. 1,292), ist die Schrift im großen und ganze» zu Papier gebracht worden. In entfesselter Produktionslust müssen sich die Stockwerke seiner Ge­ danken übereinander getürmt haben. Freilich wird dann auch begreiflich, daß nach so unerhörter Inanspruchnahme der körperlichen und geistigen Kräfte (überdies der Nerven durch den Liebesbund mit Marie Schmid und die schmerzlichen Auseinandersetzungen mit dem Elternhaus) ein so gefährlicher Zusammenbruch seiner Gesundheit erfolgen konnte wie der im Januar und Februar 1820. Mit dem Textbild des „Sprachunterrichts" verhält es sich fol­ gendermaßen: Er ist in drei großen deutschen Handschriften erhalten, dazu in einer französischen und englischen Uebersetzung. Keine dieser fünf

Handschriften ist vollständig, d. h. der Druck keiner von ihnen allein gäbe

das vollständige Werk wieder. Dafür ergänjen sie sich glücklicherweise der­ art, daß die fehlenden Abschnitte der einen Handschrift durch den Text der andern ersetzt werden können. In solcher Zusammenstellung soll sie hier zum Abdruck kommen. Die verschiedenen Lesarten der in mehreren Handschriften gleichzeitig belegten Stellen finden dort, wo die Abweichun­ gen von Belang sind, Berücksichtigung. Don den erwähnten drei deutschen Handschriften stammen zwei von Roth's eigener Hand. Die eine enthält in gebundenem Quartband, äußer­ lich den „Briefbüchern" vollkommen gleich, die ersten, noch ungeordneten Aufzeichnungen über das Thema. Sie trägt auf der Einbanddecke den Titel: „Grundsätze einer naturgemäßen Behandlung der Sprachen" (Gr.). Die andere erweist sich als Ueberarbeitung jener ersten Entwürfe, in der die Kapitel bereits eine feste Form angenommen haben. Ihre Quart­ bogen sind kapitelweise zusammengeheftet, im ganzen ist sie ungebunden geblieben. Ein Foliobogen, der Breite nach um die Hefte geschlagen, trägt die Aufschrift „Grundsätze und Ansichten einer naturgemäßen Unterrichts­ art in Sprachen" (Gr. u. A.). Beide Handschriften, mit Ausnahme eines einzigen Kapitels aus Gr. u. A. gehen auf Jferten zurück. Die dritte end­ lich ist nicht von Rothes Hand, sicher aber in seinem Auftrag, wenn nicht nach seinem Diktat, in schnörkeliger Schönschrift von Carl Henter, dem Namen nach ein Mediascher, geschrieben und am 24. Juli 1824 beendigt worden. Roth war damals Professor am Mediascher Gymnasium. Sie ist als eine Kopie der zweiten Handschrift anzusehen, die Roth zweifellos selbst überwachte. An einzelnen Stellen hat er sie mit eigener Hand ver­ bessert. Da sie ebenfalls (und zwar 4 Blatt-weise) geheftet wurde, ver­ mutlich zum bequemeren Gebrauche des Buchdruckers, konnten aus dieser, in jeder Beziehung einen druckfertigen Eindruck machenden Hand­ schrift von insgesamt 208 beschriebenen Seiten die Seiten 117—196 ver­ loren gehen. Einen Titel trägt diese dritte Handschrift nicht. Sie beginnt

unmittelbar mit der Vorrede. Uebrigens scheint es, als sei Roth bei der Wahl des Titels nie zu einem endgültigen Entschluß gekommen. In den Briefen finden sich die Prägungen „Wesen des Pestalozzischen Sprach­ unterrichts", „Methode des Sprachunterrichts", „Theorie des Sprach­ unterrichts" nebeneinander. Ich will hier die eben besprochene dritte Handschrift zur Unterscheidung von den beiden ersten „Theorie des Sprachunterrichts" (Th. d. Spr.) nennen. Das Werk, wie es sich in meiner

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D c r Sprachunterricht

Zusammenstellung aus den verschiedenen Handschriften schließlich dar­ stellt, soll dann einfach „Der Sprachunterricht" heißen. Der französischen Uebersetzung kommt, obwohl sie in den Hauptstücken sehr klar und fließend gehalten ist (ein Beweis für den logischen Marsch der Roth'schen Gedanken) neben diesem reichen deutschen Material ein wissenschaftlicher Wert kaum zu. Sie wurde von Mitarbeiter» Pestalozzis besorgt. Die englische Uebersetzung als eine Uebersetzung der französischen (s. S. 21) kann inhaltlich noch weniger maßgebend sein. Von der in der weitesten deutschen Fassung (Th. d. Spr.) einschließlich der Vorrede und des Prologs 14 Kapitel zählenden Schrift sind nur 7 Kapitel ins Fran­ zösische und 5 ins Englische übersetzt worden oder nur soviel wenigstens im Nachlaß erhalten. Zur interessanten Entstehungs- und Textgeschichte dieses über hundert Jahre ungedruckt gebliebenen Werkes ist des Näheren zu berichten: Es ist aus dem praktischen Sprachunterricht in Jferten her­ vorgegangen. In erster Linie aus dem lateinischen und deutschen, die Roth Anfang 1819 von Pestalozzi übernommen und seither erteilt hatte. Aus dem Briefe an seinen ehemaligen Tübinger Hausherrn, den Schul­ meister Vollmar (I, 245), erfahren wir, daß es damals im Institute mit den alten Sprachen „happerte". „Mit der lateinischen Sprache tretet man sich noch durch, mit der griechischen geht es wie es kann." Natürlich, denn „beide Sprachen werden noch nach der alten Herkommnis gelehrt". Aber „so wie sich Tod und Leben nie vereinigen können, also kann sich Pestalozzische Methode mit der bisherigen nicht vereinigen. Zwar wurden schon oft Versuche mit den alten Sprachen gemacht, um ihre Erlernung in die Pestalozzische Methode umzugießen, wiewohl vergeblich. Seit einiger Zeit arbeite auch ich daran". Ihn, der immer ein guter Lateiner gewesen, mußte es reizen, diesen durch die neuen Erziehungsgedanken in Unord­ nung geratenen Gegenstand auf ein neues Geleise zu leiten. Es galt also

eine Reform durchzuführen. Mehr: es galt Konfliktsstoffe zu beseitigen. Denn bei der Einfügung der gelehrten „Humaniora" in eine Unterrichts­ methode, die sich der „natürlichen Anknüpfungspunkte" an das einfache menschliche Leben so leidenschaftlich rühmte und doch ohne jene nicht glaubte auskommen zu können, mußten solche aus dem Boden schießen. Es ließ sich aber die Behandlung der alten Sprachen von der der neuen gerechtemeise nicht trennen, besonders nicht, wenn die Untersuchung einen

unmittelbar praktischen Wert für eine Anstalt haben sollte, die zwei--, ja vorübergehend sogar dreisprachig war (deutsch, französisch und englisch) wie die Jfertener. Und am allerwenigsten hätte man das Roth zumute» dürfen, der neben seiner Hochachtung vor Humanismus und Antike das tiefste und wahrste Verständnis für die lebenden Sprachen Zeit seines Lebens besaß. Gab es aber auch wirklich in einer gemischtsprachigen An­ stalt, die dazu im Grenzgebiet zweier Weltsprachen lag, also im gefähr­ lichsten Labyrinth unheilvoller Sprachverwirrung, ein wichtigeres Problem zu lösen als das des richtig erteilten Sprachunterrichts? Gab es für sie eine wesentlichere Frage zu beantworten als die nach den natürlichen Grenzen zwischen Mutter- und Fremdsprache? Roth als Deutschlehrer mag auch hier in den eigenen Stunden die Konflikte der Anstalt stärker empfunden haben als mancher seiner Lehrerfreunde. Und konnte im Zu­ sammenhang dieser Fragen, von einem Meister des Worts gestellt und beantwortet, das Problem der Sprache an sich unerörtert bleiben? Der Sinn ihrer Geburt aus dem Unbewußten, ihrer Reife bei Ebenmaß, ihrer Rache bei Mißbrauch und Frevel, die Frage endlich nach ihrem Weg ins Unbekannte der Zukunft... ? Ursprünglich war das Werk umfangreicher geplant als es tatsächlich ausgeführt worden ist. Es sollte nicht nur aus einem theoretischen Teil bestehen, aus einer Diskussion der Probleme, sondern diesem sollten auch praktische Elementarbücher, d. h. Schulbücher folgen. Am drin­ gendsten scheint der Mangel eines lateinischen Elementarbuches nach den Prinzipien der Pestalozzischen Methode im Institut empfunden worden zu sein. Roth traf dafür umfangreiche Vorbereitungen, legte sich lateinische Merkbücher an, studierte emsig die einschlägige Literatur. Am 29. Februar 1820 schrieb er an die Eltern (s. S. 27): „Hinten [i>. i. am Schluß der theoretischen Abhandlung über den Sprachunterrichts will ich

die erste Abteilung des ersten Bandes meines lateinischen Elementar­ buches anhängen." Das klingt, als sei dies lateinische Elementamerk selbst in mehreren Bänden (etwa UebungsbuchJ) und Grammatik) geplant gewesen. In welcher Art es gedacht war, geht vielleicht am besten aus der 1) Sm Nachlaß befindet sich ein Quartband mit lateinischem Sammelmaterial, der tatsächlich einem heutigen lateinischen Uebungsbuch sehr ähnlich sieht. Sm Durchschnitt scheinen darin für je einen grammatischen Fall Beispielsätze im Aus­ maß einer halben Seite bestimmt gewesen zu sein. Das dazu gehörige Wörter­ verzeichnis ist alphabetisch geordnet, enthält aber auch ethymologische Hinweise.

Briefstelle (S. 13) hervor: „Da ich meinen Unterricht in lauter lateinischen Sätzen gebe und dann bloß darüber reflektiere, so finden dies die Eng­ länder auch für ihre Lancaster'sche Methode sehr anwendbar und aus diesem Grunde würde auch mein Elementarbüchelchen bei ihnen vermut­ lich Unterstützung finden." Meiner Meinung nach empfand Roth im Anschluß an die allgemeine

Erörterung des Sprachunterrichts die Notwendigkeit, im Sinne der dort ausgesprochenen Grundsätze mehrere praktische Elementarbücher zu schaffen. „Der 1. Band der Elementarwerke" (der Ausdruck ist S. 23 be­ legt) war jweifellos dem Lateinunterricht Vorbehalten. Der zweite Band, genauer das zweite Elementamerk dürfte jedoch der deutschen Sprache be­ stimmt gewesen sein. So wenigstens verstehe ich den Satz (S. 14): „Komme ich einmal nach Hause, so werde ich die Muttersprache treiben und aus dem eigentlichen scientifischen Kreise hinaustreten *)." Genug, diese Elementarwerke find über die Vorbereitungen hinaus nicht gekommen. Immerhin waren ste soweit gediehen, daß nicht nur Roih selbst sie im praktischen Unterricht gebrauchte, sondern auch Fremde schei­ nen sich schon ihrer bedient zu haben. Im Brief vom 10. Mai 1820 an die russischen Freunde heißt es: „Das [lat.] Werk selbst ist noch nicht fertig, wird aber in einiger Zeit es werden. Nach demselben wird schon in Vernet, einem landwirtschaftlichen Institute bei Genf, unterrichtet..." Die schwere Erkrankung Anfang 1820 und der Abberufungsbefehl des Vaters zerstörten allenfalls den großzügigen Plan. Die Hoff­ nung, ihn zu verwirklichen, wurde freilich nur langsam zu Grabe ge­ tragen. Die Vorrede zu Th. d. Spr., der Handschrift, die ohne wesentliche Aenderung der in Jferten entstandenen Gr. u. A. 1824 in Mediasch druck­ fertig gemacht wurde, verspricht noch immer als Ergänzung dazu ein „Elementarbuch der Lateinischen Sprache". Vollendet also wurde nur „Der Sprachunterricht", sicherlich das Herz­ stück des geplanten Werkes. Nun noch über das spätere Schicksal desselben. Als die Handschrift Th. d. Spr. am 24. Juli 1824 in Mediasch beendigt wurde, waren mehr als vier Jahre vergangen, seit Roth von Pestalozzi Abschied genommen hatte. Inzwischen hatte sich in Jferten vieles geändert. Den zu Beginn der 20er Jahre stets feindseliger gewordenen Schmähungen und SBerttn# glimpfungen der Partei um Niederer (l, 223) war Pestalozzis Anstalt

1) Vergleiche auch den Brief vom 30. Sept. 1820.

schließlich jum Opfer gefallen. Sm März 1824, während Roth vermntlich die Reinschrift seines Merkchens diktierte, erklärte Pestalozzi öffentlich seine Unfähigkeit, unter den gegebenen Umständen weiter arbeiten zu können. Der lang gefürchtete Zusammenbruch war eingetreten. Dazu kam Schmids Ausweisung durch die kantonale Behörde, der sich Pestalozzi freiwillig an­ schloß und Anfang März das Waadtland verließ. Die zwei Jahre bis zu seinem Tode (17. Februar 1827) blieben hauptsächlich stiller schrift­ stellerischer Arbeit (am „Schwanengesang" und den „Lebensschicksalen") auf dem Neuhof gewidmet, den sein Enkel Gottlieb Pestalozzi, verheiratet mit Katharina Schmid (i, 319), bewirtschaftete. Es ist nicht anzunehmen, daß Roth, vom Zusammenbruch der Anstalt in Sferten benachrichtigt, seine Schrift nach ihrer Vollendung trotzdem an Pestalozzi oder Schmid hätte zugehen lassen. Nichts aus dem bisher bekannten Nachlaß läßt darauf schließen. Dafür hat er sie zweimal, soweit die erhaltene Korrespondenz Aufschluß gibt, Buchhändlern zum Verlag angeboten. Das erste Mal schon am 30. September 1820 einem Buch­ händler in Sferten, dessen Name in den diesbezüglichen Entwurf des Briefbuches aber nicht eingetragen wurde. Wahrscheinlich hat sich Roth bei Niederschrift des Entwurfes seiner nicht sofort erinnern können. Es ist daher überhaupt fraglich, ob der Brief je abgeschickt wurde. Ein zweites Mal trug er sie sieben Jahre später dem Darmstädter Buchhändler Leske an, wie aus einem Brief an den dortigen Hofprediger Dr. Zimmermann vom 1. Februar 1827 hervorgeht, den er um seine Begutachtung und Empfehlung desWerkes bei Leske bat. Roth hatte Zimmermann (1,188) auf einer Ferienreise von Tübingen aus am 23. März 1818 in der Schloß­ kirche zu Darmstadt predigen hören. Seither war Zimmermann durch seine 1822 gegründete „Allgemeine Kirchenzeitung", durch seine zwei Jahre später gegründete „Allgemeine Schulzeitung", die auch den Mediascher Professoren zuging, durch seine „Monatsschrift für die Predigerwissenschaften" (Darm­ stadt 1821—24) und andere Publikationen eine bekannte Persönlichkeit auf theologisch-pädagogischem Gebiet geworden. Roth hoffte durch ihn zu einem Verleger zu kommen. Ob der vielbeschäftigte Mann es überhaupt der

Mühe wert gefunden hat. Rothes umfangreiches Manuskript zu lesen und seinen Brief zu beantworten, in dem er überdies um die Erlaubnis ge­ beten hatte, an Zimmermanns Zeitschriften gelegentlich mitzuarbeiten, ent­ zieht sich meiner Kenntnis. Allenfalls muß der Buchhändler Leske den

Verlag abgelehnt und die Handschrift ihrem Verfasser zurückgestellt haben.

Schwerlich hatte Roth, in seiner Heimat schon als „Pestalozzi" ver­ höhnt, noch Lust, sich weiter um ihre Drucklegung zu bemühen. Sie war, nachdem sie so viele berechtigte Hoffnungen schmerzlich ent­ täuscht hatte, von ihm so gründlich der Vergessenheit überantwortet wor­ den, daß sie hinfort nicht nur keiner einzigen Erwähnung seinerseits mehr gewürdigt wird, sondern sogar seinem ersten Biographen Andreas Gräser (1,16, Anm. 2), der doch ein Zeitgenosse Roth's war, gänzlich unbekannt bleiben konnte. Erst zehn Jahre nach dem Tod St. L. Rothes, zog Franz Obert die Schrift wieder ans Tageslicht. Er schreibt (in Nr. 11 von „Kirche und Schule", der Beilage der „tzermannstädter Zeitung" aus dem Jahr 1862), er habe „diese Blätter im Jahr 1859 im Manuskript aufzufinden das Glück gehabt"i) 2). In dieser und den folgenden Nummern veröffent­ lichte er dann aus der Schrift, die ihm „unstreitig zu den wertvollsten Arbeiten des Unvergeßlichen zu gehören schien", die Vorrede und größere Stücke der vier ersten Kapitel. Unverständlich ist mir, daß derselbe Obert, dessen Forschereifer wir also diesen „wertvollen" Fund zu verdanken haben, sein 1896 erschienenes zweibändiges Werk über Roth2) verfassen konnte, ohne darin die Schrift mit einem einzigen Wort zu erwähnen. Ich selbst habe sie jahrelang vergeblich gesucht. Die französische und englische Uebersetzung fand ich in der Nachlaßsammlung der Brukenthalbibliothek. Der deutsche Urtext, der nach Obert in Privatbesitz überge­ gangen war, ließ sich aber nirgends finden, weder in Siebenbürgen, noch in der Schweiz und in Deutschland. Endlich, im Sommer 1927, kam er zum Vorschein. Ein alter Freund Obert's hatte ihn von diesem in Verwahrung übernommen und stellte mir ihn nun, da er von meinen Bemühungen gehört hatte, bedingungslos zur Verfügung. Nach vollendetem Abdruck soll er unverzüglich in den Besitz der Brukenthalbibliothek übergehen. Im Unterschied zum Wanderbuch („Gemälde einer Reise", I, 33 ff.), wo Roth fast keine Sperrungen für den Drucker vorgesehen hatte, ist er mit ihnen im „Sprachunterricht" sehr freigebig umgegangen. Der Heraus­

geber hat sie alle gewissenhaft übernommen. i) Vermutlich in Mediasch, denn Obert war damals Professor am Mediascher Gymnasium. 2) Franz Obert, Stephan Ludwig Roth. Sein Leben und seine Schriften. 1. Bd. St. L. Roth's Leben. 2. Bd. St. L. Roth's Schriften. Verlag von Carl Graeser, Wien 1896.

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Der Sprachunterricht

Vorrede') er] Türe uff., nur hat er, Weltmann genug, das Stillschweigen — gegen mich indeß nicht — brechen wollen. Auch derselbe ist gegen unsere Verbindung und hätten wir sein Schieds­ richteramt angenommen, so wären wir böse weggekommen. Erlaube

mir, daß ich Dir Rückhaltung gegen Buchholz anrate. Derselbe hat seine Geheimnisse dem Steffan verraten und letzterer hat ein solches gestern in feiner Leidenschaft gegen Schmid als Aufforderung einge­ standen. Ich habe noch weder Ja und Rein gesagt. Mich dauert der alte Pestalozzi von Herzen, auch Dein Bruder. Steffan ist beinahe aus dem Punkte, die geheime Korrespondenz mit ihm vors Publikum zu bringe»; und leider sollen darin Punkte vorkommen, die, wie mich 1) Die französische Schreibweise Dverdon und die deutsche Jferten wechseln bei Roth willkürlich ab, ebenso wie Fribourg und Freiburg.

Steffan versichert hat, unserm Bruder in der Schweiz keinen längeren Aufenthalt erlauben würden. Sei überzeugt, liebe Marie, Schwester, Lieb, daß ich allen meinen Einfluß auf Steffan dahin benutzen werde,

seine Wut zu entwaffnen. Ich bitte auch Dich, tue dem Bruder, was Du nur tun kannst. Er ist und bleibt Dein Bruder, wenn er auch gleich unsere Gefühle mit Füßen treten sollte. Wir wollen unterdessen in uns den Frieden bewahren, uns immer lieben und immer stärker darin werden, sintemal die Unschuld des Herzens, die Macht des

Willens und die Kraft der Liebe das Glück des Lebens bleibt. Haben wir noch irdische Triebe in uns, die vor Gott nicht angenehm sind, so wolle arbeiten unser Gebet, daß wir immer mehr davon frei wer­

den. Denn je reiner die Hoffnungen und Wünsche — je höher die innere Belohnung. Ich danke Gott, daß Du fromm, demütig und reines Herzens bist und vom Leben in allen seinen Beziehungen eine höhere Ansicht hast als der große Haufen der Menschen. 3n Edelmut, in Aufopferung und Hingebung fürs Gute wollen wir zusammen wetteifern. Sei überzeugt, den guten Bemühungen gibt Gott sein Gedeihen und unter seinem Beistand wollen wir uns gleichsam einen Garten bauen, dessen Bäume gute Früchte tragen

sollen und in dessen Schatten wir einst in unserm Alter Arm in Arm ausruhen wollen. Ich bemühe mich und arbeite an mir, mich nun­ mehr vom Ehrgeize und dem Eigennutz fceizumachen. Leben wir

beide in der Tugend und der Liebe, so werden wir glücklich sein; ge­ wiß i n uns, hoffentlich auch außer uns d. h. in unserer Umgebung. — So spreche ich mit Dir in Gedanken und ich preise mich glücklich, daß Du gleichen Sinnes, gleichen Gefühles und gleichen Willens bist.

Ich lege vor diesmal die Feder aus der Hand, umarme Dich, grüße Deine Schwester und nenne Dich meine liebe, liebe Marie, sowie mich Du Roth. jFreiburg i. d. Schweiz, den 18. April 1820. *)

Liebe Schwester Bergleiter! Du wirst ja wissen, daß der Herr Vater zwei Briefe nach Jferten geschrieben hat, worinnen er auf 1) Der Entwurf dieses Briefes im Briefbuch trägt das Datum vom 15. April.

meine Abreise dringt. Den ersten erhielt Pesialojji. Er teilte mir denselben erst einige Tage später mit, als er ihn erhalten hatte. Er besorgte, diese unerwartete Nachricht möchte vielleicht meiner noch schwachen Gesundheit schaden. Ich kann Dir sagen, daß dieselbe für mich ein Blitz aus heiterer Luft war. Warum daß der Herr Vater

nicht an mich, sondern an Pestalozzi sich gewendet, konnte ich damals so wenig als jetzt enträtseln. Was hatte er denn zu fürchten von die­ sem Aufenthalte? Jedoch so deutlich sprach ich mich damals gegen mich selbst nicht aus. Meine Abreise hing von Wiederherstellung meiner Gesundheit, meiner Finanzen, der Jahreszeit usw. ab. Ich will ja sehen, erwiderte ich Herrn Pestalozzi auf seine Anfrage, was er schreiben solle. Unterdessen schickte er seinen Brief ab. Den Inhalt desselben kenne ich nicht genau. Wenn ich mich nicht irre, so habe ich mich gleich nach meiner Krankheit in einem Briefchen unter dem 3. März über meinen Aufenthalt im Auslande ausgelassen. Damals wußte ich noch nicht einmal, daß unsere Eltern es so dringend wünsch­ ten, daß ich nach Hause käme. Da aber aufs neue Herr Schmid einen Brief bekam, so stand ich nun keinen Augenblick an, meine Heimreise anzutreten. Den 6. April reiste ich von Uverdon ab; habe also gefolgt. Zwischen dem 19. März und 7. April liegt für mich ein wichtiger Abschnitt1). Zu Hause will ich Dir alles erzählen und wenig, sehr wenig soll im Herzen zurückbleiben, was ich nicht Dir eröffnen will. Bis ich Dich aber, geliebte Schwester, in meine Arme schließen kann, werden noch einige Monate vergehen; unterdessen will ich Dir aber von Zeit zu Zeit etwas schreiben. Regellos, wie es mir in den Sinn kommt, will ich es aufsetzen, und Du bist dann nur so gut,

mir alles durch die Finger zu sehen. Ich hatte einen schweren Abschied, jedoch vergoß ich vor den Men­ schen keine Zähren. Man soll sich in seinem Leben nie Wiedersehen, fällt wohl jedem Menschenherzen schwer, und mich erschütterte es be­

sonders, da in mir von ohngefähr der Gedanke entstand, daß ja unser ganzes Leben nichts als ein Willkommen und ein Abschied 1) Vermutlich Anspielung auf das Zusammensein mit Marie.

wäre. Ueberdies schied ich gleichsam von den Jahren der unab­ hängigen Freiheit der Jugend. Hinfort knüpft sich alle meine Tätig­

keit an eine Ordnung, an ein Gesetz, an eine Gewohnheit an; und nur ju oft fordert unsere ganze Lage, unsere ganze Umgebung, daß wir einen großen Teil unserer geistigen Selbständigkeit dem Herkom­ men aufopfern. Der Gedanke schon an diesen Schritt hat etwas Wehmütiges und ich erkläre mir auf dieselbe Art die Tränen selbst glücklicher Bräute, wenn sie das schwere Ja aussprechen sollen. Es ist dies nicht Furcht vor Arbeit und nicht Scheu vor Anstrengung; nein! es ist das notwendige Abschiedsgefühl von der Freiheit, die dem Menschen um so teurer ist, je empfänglicher noch seine Seele für un­ sichtbare Güter ist. Ein großer Teil unserer gesellschaftlichen Ver­ bindungen beruht auf dem Mangel dieser Empfänglichkeit und wie oft spannt sich der Mensch in ein eisernes Joch, wenn seine eigen­ nützige Seele nur irdische Vorteile hoffen kann. Ohnfehlbar tritt jeder Mensch an den Kreuzweg, wo sich die jugendliche Freiheit und die männliche Regelmäßigkeit scheidet. Mich freut es, daß ich im voraus mit einem Gedanken an den Beruf gehe und also gewisser­ maßen über der Notwendigkeit schwebe. Um, wie man im gemeinen Leben sagt, durch die Welt mit Ehren durchzukommen, braucht und bedarf es weder oberflächlicher, noch tiefgehender Betrachtungen über das Leben; vielmehr spinnt sich das Leben wie von selbst ab. Wer aber den Vorzug des Menschen in den Gedanken setzt, wird immer trachten, mehr und mehr frei darin zu werden, um ein Bürger im Geisterreiche sein zu können. Ich besorge keinen Tadel von Dir, daß ich von der gewöhnlichen Ansicht des Lebens abweiche; vielmehr ver­ spreche ich mir Deine Billigung, wenn ich hierin dem Drange nach­ gebe, der mich bestimmt, so und nicht anders zu handeln. Sehr gerne

vergleiche ich mich mit einem Gärtner, der einen Garten anlegen soll. Noch ehe er die Hand an den Spaten legt, hat er schon in seinen Ge­ danken die Gänge, die Zeilen der Bäume, die Beete uff. entworfen. Der Garten ist gewissermaßen schon in seinem Geiste vorhanden. Liebe Schwester! Mein Leben liegt auch gleichsam schon fertig vor

meinen Augen und eine Belohnung, die man selten erwägt, ist mir

schon der Gedanke, es gewollt zu haben. Wenn mir Gott das Leben schentt und die Gesundheit, so will ich suchen, mit Gebet und Arbeit

mein Leben wohltätig zu machen. Die Nachkommenschaft habe ich mehr im Auge als mich. Bäume will ich ziehen, die lustig und stark dasiehen und gute Früchte tragen sollen. Die Gerten kann man mit Leichtigkeit beugen, ach! welches übermütige Vertrauen muß ein Mensch zu sich selbst haben, der sich von dem Amte eines Pfarrers viele Früchte verspricht; denn die erwachsenen Bäume, wenn sie sich schon in ihrem Wesen, wie der Mensch in seinem Charakter, ausge­ bildet haben, erfordern beinahe übermenschliche Kräfte, um sie zu beugen! Wie selten gelingt's und wie oft zerbricht ein Sturm, der hiezu wohl stark genug ist, dieselben oder reißt sie aus ihrer Wurzel. Auf der Jugend beruht größtenteils die Hoffnung des Staates; auf ihr ruhen die frommen Wünsche für ein edleres Geschlecht. Wenn ich alles und alles erwäge, so zieht es mich immer stärker und mit immer größerer Kraft an sich. Darum kann ich von dem unsern Eltern mitgeteilten Plane nicht lassen, außer es gelingt ihnen, mich auf etwas Höheres hinzuweisen, wo ich alsdann gerne nachgeben will. Es scheint mir, jedoch bin ich nicht gewiß, als mißbilligten meine Eltern den Gang, der seit ohngefähr einem Jahre meine Gedanken genommen. Wenigstens sind verschiedene Merkmale da, aus denen man solches schließen könnte. Ich glaube sicher und nehme es als ge­ wiß an, daß Du nicht anders handeln würdest wie ich, wenn sich Dir auch ein Weg öffnete, der Dich so zu handeln aufforderte. Ich denke an die Mißbilligung meiner Eltern nicht gerne. Es wird mir wahr­ haft bang dabei. Vielleicht ist kein Grund zu einer solchen Furcht vor­ handen — ich will es hoffen; und mich darüber ferner nicht grämen, sondern mein Gemüt in einer gewissen Heiterkeit erhalten, damit ich einen Platz offen habe, mich zu erfreuen, selber wenn das Unerwar­ tete kömmt. Du bist zu Hause und wirst wissen, wie es um die bespro­ chene Sache steht. Tue alles für mich, was eine Schwester für einen Bruder nur tun kann. Es ist dies nicht wenig und vergiß nicht, mir solches nach Wien zu schreiben. Den Brief kann ich nicht verfehlen, wenn Du nur auf die Außenseite die Worte poste restante schreiben

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Dic Heimkehr

wolltest. — Jetzt breche ich von diesem ab und erzähle dir etwas von

meiner Reise und meinem Aufenthalte in Freiburg. Es ist eben nichts Anziehendes darin, jedoch wirst Du es nicht gleichgültig finden. Am Tage meiner Abreise schien es sehr schön werden zu wollen, jedoch näßte mich und meine zwei Reisegefährten bald ein Regen, der jedoch nicht lange dauerte. Dieser Regen, der sonst ohne Bedeu­ tung wie tausend andere geblieben wäre, mißstimmte einen meiner

Reisegefährten, Herrn Caspar, so sehr, daß ich alles Unangenehme, welches ich beinahe zwei Tage hatte, ihm zuschreiben muß. Derselbe hatte diese Reise schon mehrmals gemacht und immer oder schlechtes Wetter oder Unglück oder unerträgliche, langweilige Gesellschaft ge­ habt. In Estavayer (Stäffis) brachten wir einige angenehme Stun­ den zu, jedoch trat die üble Laune Caspars immer mehr und mehr an den Tag. Bald wollte er wieder zurückgehen, bald bleiben, bald mitkommen usw. Ueberhaupt ist dieser Mensch ein eigener Christ. Er kam aus Württemberg nach Jferten, um die Methode zu studieren. Ueber das ganze Jfertener Treiben ärgerte er fich aber bald und gab sich ferner nicht mehr damit ab, sondern las auf seinem Zimmer Schriften, die er in der ganzen Welt ebensogut hätte lesen können.

Bei Niederer gab er im Anfang einige Stunden, entzweite sich mit diesem in den ersten Monaten und erhielt dadurch einen Widerwillen gegen alle Institute. Diese sind denn gar schlecht bei ihm angeschrie­

ben. Das Schulwesen im Großen ist ihm verleidet und nur dann scheint ihm eine echte Menschenbildung möglich, wenn ein einzelner Mensch einem einzelnen Kinde sich hingäbe und weihe. Durch die Vermittlung des Münchner Philosophen Schelling hofft er eine Hofmeisterstelle zu erhalten. Ohne eigentliche Beschäftigung blieb er derweil in Jferten sitzen. Da aber seine Anstellung sich mehr in die Länge verzieht als er gedacht hat, so vermehrt diese noch mehr seinen Unmut. Er besitzt viel Geist und seine paradoxen Gedanken frappieren nicht selten. Mir fiel er auf der ganzen Reise höchst be­

schwerlich; schon durch seine Besonderheiten, noch mehr durch sein wunderliches, argwöhnisches Wesen. Die wenigen Züge, die ich Dir von ihm entworfen habe, werden hinlänglich sein. Einige unglückliche

Ereignisse, die er gehabt, lassen ihn die Welt nur durch dunkle Gläser ansehn. Weil er sich etwas zu hoch anschätzt und andere ihre Mei­

nungen den seinigen gegenüber auch zu verfechten suchen, so entsteht aus diesem Konflikt der unglückliche Gedanke in ihm, daß man sich in seinem Werte irre; kurz: daß man ihn mißkenne und ihm Unrecht tue. Diesen Tag war er in einem hohen Grade mißtrauisch. Schon in Stäffis wollte er umkehren, weil er wohl einsehe, daß er mir miß­ fiele. Du kannst mir kaum soviel zumuten, daß ich ihn immer zart be­

handelte, aber gerade dieses sagte er endlich, gefiele ihm nicht. Denn ich ginge nicht offen mit ihm zu Werke. — Der andere heißt Steffan, ein Mann von 30 Jahren. Obgleich er Kaufmann ist, so nimmt er doch an der Pädagogik, Poesie usw. innigen Anteil. Er ist Patriot, Freimaurer und ein Freund Pestalozzis. 3n Freiburg besitzt er durch seine Aufrichtigkeit viele Freunde, nicht weniger Feinde. Vergange­ nes Jahr fehlte nicht viel, so wäre durch ihn und seine Freunde eine Staatsveränderung im Kanton Freiburg vor sich gegangen. Dazu­ mal war alles über die Aufnahme der Jesuiten erbittert usw. Das Projekt zerschlug sich und er wurde aus dem Kanton auf lebens­ länglich verbannt. Seine Freunde haben ihm jedoch jetzt wieder zur Einsetzung in das Recht des Aufenthaltes verhelfen. Er genießt hier hoher Achtung und man muß ihm hierin Gerechtigkeit widerfahren lassen. Denn für die Befreiung des Kantons, wie er glaubte, setzte er im Grunde nichts weniger als den Kopf ein. Vor dieser Geschichte wurde ihm vom Pestalozzischen Institut die Direktorstelle des Bu­ reaus angeboten; nach derselben aufgekündigt. Dieses aber hat ihm bei Pestalozzi und in den Augen der Lehrer keinen Eintrag getan —

vielmehr ist es der Geist der Anstalt, sich von allem Politischen fernezuhaltev.Jch bedauere recht sehr, daß er wegen bemeldeter Sache nicht eintreten konnte; denn seine Ordnung wäre damals und jetzt nötig gewesen. Er ist ein guter, braver Mensch. 3m Auge schon liest man sein Feuer und seine Begeisterung. 3ch habe ihn recht gerne und glaube, daß er in seinem Alter, wie der Wein, noch besser werden

wird. Diese Zwei wollten auch nach Freiburg und so machten wir denn

Gesellschaft. Wir fuhren bis Stäffis und aßen hier zu Mittag. Nach­

her gingen wir etwas in der Stadt herum und machten uns endlich

zu Fuß auf den Weg nach Payerne (Peterlingen). Herr Jaquet, Freund Steffans, kam etwas mit und gab in einem Dörfchen uns einen Abschiedstrunk, von dem ich aber nur nippte, denn schon an

der tadle d’hotel hatte jeder seine ihm vorgesetzte Bouteille getrun­ ken; überdies hatte uns ein Herr, dessen Namen ich vergessen, zu

Ehren Steffans zwei Bouteillen roten Eilfer offeriert, die auch ge­ trunken wurden. Ich und Steffan unterhielten uns mit diesem Herrn. Caspar aber war mit sich beschäftigt, aß viel und trank viel. Auf dem Wege nun trat sein Argwohn aus dem Herzen auf die Zunge; hiermit verband er zugleich Lobreden auf sich. Hatte er in

Stäffis geschwiegen, so sprach er nun. Man erzählt von den Löwen, daß sie sich mit dem Schwänze geißeln und sich so immer mehr in Wut bringen. Nicht anders ging es unserem Caspar. Seine eigenen Worte machten ihn immer hitziger; kurz, er erzürnte sich innerlich bis zum Jngrimme. Was für Zeug daß wir auf diesem Weg durch­ schwatzten, ist nicht möglich zu sagen. Aber das Finale jedes Stoffes war ein Disput, der bis zum Zank stieg. Es war Abend geworden, da wir ins Tor von Peterlingen traten; und Wein und Gehen machte meinen Gefährten immer lauter, rücksichtsloser und derber. Da es in Peterlingen zwei Hauptwirtshäuser vis-ä-vis gibt, so ent­

stand nun die Frage: in welches? Steffan wollte in den Bären, da­ gegen Caspar in das Stadthaus. Beide berücksichtigten die Stadt, schrieen nicht, sondern blieben nur mitten in der Straße stehen. Nun

sollte ich als ein Dritter entscheiden. Lustig wäre es zum Ansehen gewesen, wie wir drei da debattierten wohl eine Viertelstunde lang, wenn es nicht Nacht gewesen wäre. Endlich gingen wir in den Bären, von wo wir aber, ich weiß den Grund nicht, ins Stadthaus hinüber­ zogen. 3m Bären war es, wo Steffan dem Caspar vollends Ohr­ feigen anttug. Dieses war notwendig gewesen, denn nun kam endlich

eine Versöhnung zustatten. In der Abwesenheit Steffans weinte Caspar helle Tränen und nannte sich einen unglücklichen Menschen; was er wirklich war. Er bat mich, doch frei heraus zu sagen, was ich

von ihm hielte und ich sollte ihm nur sagen, daß er mir mißfiele, so wolle er nicht ferner durch seine beklagenswerte Stimmung jur Last ffallenl. Sag" mir, lieber Roth, frei heraus, was ich in Deinen Augen bin; tust Du dies und löst mir mein eigenes Rätsel, so will

ich Dir die Hand küssen, Dich umarmen und Dich meinen besten Freund nennen. Er hatte mich zu fassen gewußt, ich sagte ihm in aller Schonung meine Ueberzeugung und er schien mit mir zufrieden zu sein. Es war ein trauriger Abend. Den 7. gingen wir gegen

Avenches zu; er blieb zurück, um den Heimweg zu machen; bat mich in offenen, Steffan in verdeckten Worten um Verzeihung. In der Nähe von Freiburg klopfte dem Steffan das Herz — und war den ersten Morgen auch etwas schüchtern. Als wir durch das Tor ge­ gangen waren, sagte er: „Drinnen wäre ich." Als ich ihn fragte, was er damit hätte sagen wollen, gestand er mir, daß er einen Rückfall

der Regierung befürchtet hätte uff. Stell" Dir vor, wir saßen am anderen Tage beim Mittagessen — auf einmal tritt Caspar herein, entschuldigte sich so gut wie er konnte und tröstete uns damit, daß er sagte, sein Blut sei nun ganz kalt ge­

worden rc. Schau, liebe Schwester, so mischt sich oft Unangenehmes einer Lusireise bei — wehe dem, der auf der ganzen Reise des Lebens einen solchen Menschen begleiten muß oder von einem solchen be­

gleitet wird!!!

Indem ich das Ganze noch einmal überblicke, bemerke ich, daß ich sehr wenig von der eigentlichen Reise Dir geschrieben habe; es wird

sich vielleicht ein andermal tun lassen. Ueber meinen Aufenthalt hier in Freiburg wollte ich Dir gerne noch etwas schreiben, sehe aber, daß hier unten zu wenig Platz ist und daß ich schon genug geschrieben. Ich schließe demnach. Liebe mich ferner, teure Schwester, und küsse Deine

Kinder zärtlich, wie"s nur eine Mutter tun kann. Schwager Henrich

ist mir noch eine Antwort schuldig. Wenn er nur mit Therese gut lebt, so bin ich mit allem zufrieden und wenn das nicht wäre, so könnte er mich mit allen Dingen der Welt nicht zuftiedenstellen. Schreib ihm und der Therese, daß ich sie beide hätte grüßen lassen. Mit heißen Wünschen für die Wohlfahrt aller einzelnen Glieder unserer Familie

lege ich die Feder. Gott erhalte uns unsere Eltern noch lange und gebe uns allen seinen Segen. Ich verbleibe Dein Dich von ganzem Herzen liebender Bruder St. L. Roth. (Aus dem Schreibkalender.) 19. April. Nach dem Essen mache ich mit Herrn Jäger nebst Familie,

Mad. Mar. Schmid x) und einem gewissen Herrn Bourgeois von Neuchatel einen Spaziergang nach der Eremitage von St. Magda­ lena. Komme 41/2 zurück, finde ein Billet von Steffan, laufe noch nach Belfort und zurück, weil ich ihn nicht gefunden. Schwatzen bis 12 Uhr. Schlafe unruhig. Fribourg, le 20 Avril 1820. ä Mr. Bezencenet 12), docteur en Medicine, ä Yverdon.

(Aus dem Briefbuch.)

Monsieur, Deux lettres de mon pere qui me rappellent avec la plus grande impatience ä la maison ne m’ont pas permis rendre mes devoirs ä celui ä qui je dois ma sante, le plus grand tresor de la vie. Je pris subitement la resolution de partir et je Fexe­ cu tai. Je m’estimerais heureux, si je pouvais vous convaincre que j'ai man que ä mon devoir ä defaut de temps et non pas ä desaut de la reconnaissance que je garderai envers vous toute ma vie. En quittant la Suisse mon coeur me dit de vous la temoigner, mais la difficulte de m’exprimer conformement ä ses sentiments m’empeche de ne pas Fessayer dans une langue etrangere; pas meme dans la langue maternelle. C’est pourquoi j’addresse mes prieres au ciel pour la Conservation d’une personne qui parait nee pour faire du bien ä son prochain. Adieu, mon eher Monsieur, que le Seigneur vous accompagne dans votre vie et benisse aussi vos efforts dans Favenir. Agreez mes salutations bien cordiales 3)* S. L. Roth. 1) In den späteren Briefen R.s taucht nirgends eine Anspielung auf ein Wiedersehen mit Marie Schmid in Freiburg auf. Vermutlich handelt es sich hier um eine Namensvetterin seiner Verlobten. 2) Der Name ist in Iferten mehrfach belegt. Näheres unbekannt. 3) Dank- und Abschiedsschreiben an den Arzt, der Roth während seiner Krank­ heit in Iferten behandelte.

(Auö dem Briefbuch.) An Marie Schmid, Jferten. 2. Brief.

Freiburg, den 28. April 1820.

G! In Deinem Brief vom 26. April fand ich Vertrauen und Liebe. Habe Dank! Vertrauen; indem Du überzeugt warst, daß ich sonder Feindschaft gegen den Bruder lebe, Liebe; weil Du eben sol­ ches Vertrauen hattest. Du fragst mich, wie ich lebe? Mit einem Worte: wie ohne Dich, in Erinnerungen der Vergangenheit, wehemütig in der Gegen­ wart und voller Hoffnungen für die Zukunft. Meine Beschäftigung erstreckt sich auf die französische Sprache. Pat. Barras, ein Freund von P. Girard gibt mir täglich von 9%—11 Uhr Unterricht. Wir bedienen uns zur Verständigung der lateinischen Sprache und über­ setzen einen lateinischen Historiker (Tazitus) ins Französische. Er be­ sitzt schöne Kenntnisse und betrachtet das Leben als eine Spanne Zeit, wo man fromm und froh sein muß. Seine Aufheiterungen haben Würze und er versteht recht wohl die Nebel, die sich manchmal auf seiner Stirn zusammenziehen, zu verstreuen. Nachmittag von 41/2—6 kommt Jäger, der Lehrer der dritten Klasse aus P. Girards Präliminarschule, auf mein Zimmer. Mit demselben gehe ich Schritt vor Schritt die Sprache des ultramontanischen Volkes durch. Wir haben uns lieb gewonnen und wir könnten bei tieferer Sondierung noch Freunde werden. Sein Aufenthalt in Lyon und sein Ernst im Schulfache, insbesondere der ftanzösischen Literatur, geben ihm eine gewisse Tiefe und Nüchternheit, die gewöhnlich den Lehrern neuerer Sprachen zu fehlen pflegen. Außer dieser regen Beschäftigung lebe ich der Kunst. Die Geige, die lange Zeit von der Guitarre verdrängt war, ist wieder an der Tagesordnung und das Tyrolerlied, welches ich in Noten habe, gibt mir Blut ins Herz und Mut in die Brust, denn auf ein Tyrolerlied halte ich etwas. Herr Jäger ist brav; ich wünsche ihm gerne ein weiteres Feld. Nicht alle Menschen fühlen zwar die Ent­ behrung, die ein solches Leben gibt, aber auch nicht allen ist es ge­ geben, sich eine Bahn zum Volksleben zu brechen. Glücklich, toet'8 will; selig, wer's kann. Liebes deutsches Volk, soll der Baum deines Lebens in Freiheit und Wohlsein grünen, so muß zuförderst und vor

allen Dingen die Wurzel in der Muttererde (d.h. im Volke) stark sein.

Quellen sind der Ursprung jedes Stromes, ohne diese vertrocknet er. Ich lebe in der Mitte einer Familie, beinahe als Glied derselben.

Sie sind religiöse, gute Menschen. Mein Helles Zimmer geht auf die Sarins hinaus, die am Fuße des Hügels, worauf dies höckerige Freiburg liegt, bald trüb und bald klar vorüberrauscht. Die Höhe, auf welcher ich wohne, gibt frische Luft. Ich bin gesund und zwar ge­ sünder als zuvor. Auch ist mein Aussehen gut. Es nimmt mich gar kein Wunder, daß ich in Jferten kränkelte, denn das verschlossene Feuer, von Dir gehegt und von Dir gedämpft im Anfänge Mo­ nats Oktobers uff., ließen mich nicht mehr recht wohl sein. Denn je mehr es mir damals gelang, äußerlich meiner Gebärden Meister zu sein, je mehr unterlag mein Herz den Gefühlen, die mich nun aber so glücklich als vorhin unglücklich machten. Du magst als Weib immer inniger empfinden, stärker empfindet ein Mann. Es geht fast gut mit meiner Gesundheit. Schau, ich bin jetzt comme H saut. Das Gefühl derselben macht Tritt und Willen fest und erst wenn ich die heimat­ liche Luft atme und ich mein Herz in die Brust meiner lieben Mutter ausgeschüttet habe und alles richtig ist, dann, aber nur dann erst

werde ich an Seel und Leib ganz gesund sein. Diesen Nachmittag gehe ich mit P. Barras nach Haute-Rive,

einem schönen Bernhardinerkloster. — Schreibe noch von Steffan und wegen einer Zusammenkunft vor meiner Abreise. (Aus dem Schreibkalender.)

30. April. Gehe mit Pere Barras nach Haute-Rive, wo ein Ge­

schwisterkind von Girard Abt und der Bruder von P. Girard Procureur ist. Der Abt zeigt uns seine Gemälde. Die zwei Stücke von der Geschichte Nicolaus v. der Flühe sind herrlich. Der Procureur gibt

Wein, den ich mir tüchtig schmecken lasse. Auf dem Spaziergang

nach Hause sprechen wir über Kants Philosophie. (Aus dem Briefbuch.)

Freiburg, den 8. Mai 1820.

Teurer Vater!')... Mir selbst macht es Kummer, daß ich so oft 1) Es wird hier nur der Schluß eines Briefes wiedergegeben, der im übrigen Teile Unwesentliches über den Aufenthalt in Freiburg, Ausflüge usw. enthält.

krank bin. Sehe aber das Leben nicht an als den schönsten Schatz. Will mir Gott wenige Tage geben, — so will ich arbeiten, durch einige gute Werke sie ju verlängern. Diesmal war ich heftig krank. Leib

und Seele hat unsägliche Schmerzen gelitten. Es ist vorbei. In der Erfüllung meiner Lebensvorsätze hoffe ich an beiden zu genesen. Eile daher steudig Euch entgegen. Gott hat Euch mir erhalten. Es

ist derselbe, der mir das Leben wieder geschenkt hat. Darum betrachte ich es als Pfand und als kein Eigentum. Ihm will ich leben. O helfet mir zu meiner Gesundheit, helfet mir zu meinem Heile! An

meinen Muskeln ist nichts zu tadeln. Sie sind stark. Aber meine

Nerven sind sehr gereizt. Zwar fühle ich oft warm im Gebete, dem-ohngeachtet schreibe ich meine beständigen Tränen beim Beten meiner Körperschwäche zu. Es ist mir große Lust zu beten, aber in dem­ selben Augenblicke, wo es mir gelingt, verfließe ich und vergehe und muß mich in meiner Empfindung unterbrechen. Man hat mir in London eine Professorstelle an einem Lyceum angetragen. Der Gehalt ist 120 Louisd'or. Ein ivjähriger Aufenthalt würde mir ökonomische Mittel in die Hände geben, wodurch ich in den Stand gesetzt würde, unabhängig dem zu leben, dem ich mich geweiht habe. Ich habe sie ausgeschlagen, weil ich zuerst sehen will, ob ich ohne dieses Geld nicht auch zum Ziele gelangen kann. Es

steht mir auch später offen, wenn ich verlassen werde von den Menschen im Vaterlande. Seit meiner Krankheit fallen mir die Haare sehr stark aus. Es sind mir nicht mehr als zwei Mertel geblieben. Dieses schreibe ich vorzüglich meiner gehabten Gemütskrankheit zu. Liebe El­ tern! Fürchtet Euch weiters nicht. Ich bin jetzt gesund und ein Körper, der sonst nicht untergraben worden ist, et trägt viel und erholt sich im Augenblicke wieder. Zudem ist jetzt eine herrliche Jahreszeit zum Reisen und ich sehe jetzt viel besser aus als

vor meiner Krankheit. Ich bekomme Fleisch, habe guten Appe­ tit, fühle nie mehr Schmerzen im Körper und die Reise selbst

nach Hause wirkt wie Arzenei auf mich. Außerordentlich lieb wäre es mir, wenn Ihr mich entweder als Vater oder durch das Konsi-

storium an Glatz') in Wien empfehlen wolltet; ich wünsche näm­ lich bei meinem Aufenthalte in Wien eine Audienj mir bei dem Fürst [ ?] zu verschaffen. Roth. (Aus dem Briefbuch.)

Freiburg, den io. Mai 1820.

An Svenske in Petersburg unter der Adresse:

A Monsieur, Monsieur le Conseiller d’etat et Docteur de Svenske ä St. Petersbourg ä la grande Mestchanskai Maison de Fröhlich.

Den Herren Svenske, Bousse, Timaeff, Abadoffsky!^) Liebe Freunde! Wie Ihnen die Ueberschrift dieses Briefes sagen wird, so bin ich jetzt in Freiburg. Den 6. April verließ ich Averdon, wo ich so glücklich war. Euch, Ihr Lieben, zu finden. Meinem Willen nach wäre ich noch längere Zeit dort geblieben; die Eltern aber, und besonders meine Mutter, riefen mich, geängstigt von meiner bestän­ digen Kränklichkeit, mit dem liebenden Eltern eigenen Ungestüm nach Hause. Nun bin ich mehr als einen Monat in Freiburg, wo ich P. Girard's Schule besucht und mich etwas im Französischen ge^ übt habe, das ich wegen der Menge meiner Geschäfte in Averdon leider gar nicht betreiben konnte. Dieser Ueberladung von Ge­

schäften will ich Sie bitten es zuzuschreiben, daß ich bis jetzt Ihnen nicht geschrieben, und letztlich noch einer erschöpfenden Krankheit in den Monaten Jänner und Hornung. Ich hatte mich verliebt, unter­ drückte es, erkältete und übermüdete mich einmal beim Baden und rieb mich endlich durch den Unterricht auf. Eine Brust- und Magen­ entzündung warf mich ins Krankenbett, in dem ich oft vor Schmerz geweint habe, da ich glaubte: ich müßte aus der Welt fort, ohne

auch nur etwas getan zu haben. Vielmal, vielmal habe ich an Sie gedacht und Sie glücklich gepriesen, da von Euch Vieren auch einer sterben kann und die Zwecke Eures Lebens doch ihren Gang gehen. 1) Glatz Jakob, geb. 1776 zu Poprad i. d. Zips, gest. 1831 zu Preßburg, berühmter Pädagog und Jugendschriftsteller. Seit 1805 als Prediger, später als Konsistorialrat der ev. Gemeinde in Wien. 2) Vier Russen, die sich bei Pestalozzi vom 6. August 1818 bis 30. April 1819 aufgehalten hatten.

Jetzt bin ich im Begriffe nach Hause ju gehen und wenn meine Saaten nur einigermaßen gedeihen, so schreibe ich Ihnen, wenn nicht, so sollen

Sie auch dieses wissen. Herzlich hat mich Ihr Brief erfreut, den ich in Buchholds Zimmer las. Buchholz, Schmid, Pestalozzi Gottlieb, ich stießen auf Ihre Gesundheit an und ließen Sie und Ihre segens­ reichen Bemühungen dreimal hochleben. Nehmen Sie die Versiche­ rung, daß wir alle es redlich und von Herzen taten, daß aber beson­ ders ich Ihnen alles Glück wünsche, die solche Unternehmungen

brauchen, um aus Einem Punkte ein so unermeßliches Reich zu er­ leuchten und zu erwärmen. Wenn es auch wahr ist, daß die verstor­ benen Edlen Einfluß aus ihrem seligen Aufenthalt auf unserer Erde haben, so versammelt schon hier jede gute Sache um sich die ver­

wandten Geister und diese, Ihr lieben Freunde, werden Euch auch um­ geben, Euch Hand bieten und in einer solchen Riesenarbeit Vorschub

leisten. Die Armenanstalt ist von Clindy ins Schloß gezogen und die älteren Knaben geben bereits Unterricht. Daß diese Kinder zu Lehrern bestimmt waren, werden Sie schon wissen. Außer diesen und

mit Hülfe dieser hat Schmid noch gegen 20 unter diesem Namen ausgenommen, die aber die Hälfte des Pensionspreises zahlen. 3m

Anfang gab diese Vermischung beider Geschlechter vieles Gerede in der Stadt und von Amtswegen mißbilligte man dieses Tun. Schmid gab damals nicht nach, die Notwendigkeit aber sich doch je eher, je besser und noch vor dem Tode Pestalozzis in Harmonie mit der Stadt zu setzen, nebst einigen belehrenden Erfahrungen, haben ihn doch veranlaßt, beide Geschlechter zu separieren. Jungfer Schmid hat demnach im Zimmer von Herrn Greaves und im anstoßenden Saale, wo wir die Vorlesungen hatten, nur die Mädchen, die klei­

neren englischen Mädchen den Unterricht erteilen. Die Clindyknaben sind im Zimmer der 4. Klasse (wir haben keine 4. Klasse mehr) und diese geben Unterricht den kleineren Knaben. Die Halbpensionäre sind im Zimmer neben der Treppe und nehmen an allem Unterricht

des Schlosses Teil. Einige Tage vor meiner Abreise ging ich mit allen Clindyknaben spazieren und suchte im letzten Augenblick alles 11

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Vertrauen der Kinder, das sie auf mich setzten, dafür zu benützen, wozu jeden fühlenden Menschen ohnedem der Abschied aufzufor­ dern pflegt. Mir und Ihnen fiel das Scheiden schwer und gewiß ist es nichts Geringes, einen geistigen Faden, der die Herzen der Lehrer und Schüler umschlingt, zu zerreißen, wenn man besonders voraus­ sieht, daß man sich in diesem Leben nicht mehr sehen soll. Wie wir

beim Hause in Clindy vorbeigingen, gedachten wir alle an Sie, und Tränen rollten über meine Wangen wie über die der Kinder, die das schöne Leben in Clindy im Schlosse nicht gefunden haben. Sabine starb uns den 3. Jänner. Ruhe ihrer Asche und Frieden der Entschlafenen; sie war meine fleißigste und geschickteste Schülerin. Im Schlosse geht alles seinen Gang fort: taiiter, quaiiter1),2 nicht nach dem Prinzip, sondern in der Anwendung. Greaves ist schon seit langer Zeit mit dem Schlosse zerfallen und steckte auch den Marx^), den englischen Prediger, an, der gut im Herzen aber ohne Kraft im Willen ist und von der Unordnung in der Wäsche immer seine Jeremiaslieder anfängt. Nach Briefen aus Pverdon erfahre ich, daß Greaves nach Petersburg geht. Längst schon gab er keine Stunden mehr, sondern vertiefte sich in philosophische Schriften, die in ihm, weil er keine Basis in seinem eigenen Unterricht gehabt hat, nur wie Flöße umherschwimmen. Sie werden ja sehen. Jungfer Shep­ herd und er verstanden sich sehr gut. Letztere hat mir einiges über­ setzt und geht nach Paris. Beck besucht dieses Frühjahr seine Eltern in Böhmen, wurde zu Ende März in aller Stille getraut, kommt aber wieder zurück. Derselbe hat eine Weltkarte von 10 Fuß Höhe und Breite gezeichnet, die alle Aufmerksamkeit verdient. Perrier3)

wird unsere Anstalt verlassen, und Ferrier ist bereits nach Schnepfen­ tal abgegangen. Herr Frank, den Sie als Lehrer in Hostvyl werden gekannt haben, vertritt jetzt meine Stelle und wird durch ein Jahr von seiner Regierung unterstützt und Herr Kohn4) hat Schloßdienste 1) 2) 3) 4)

So so, mittelmäßig. Marx. Lehrer bei Pestalozzi seit 1815. Perrier aus Lyon. Im Institut seit 1817. Vielleicht Cohen, Jean Marie, 1815-25 im Institut.

bekommen. Seit meiner Abreise ist der Bruder von der Mayer als Lehrer angestellt. Buchholz bekommt eine Zulage von 25.00, ist dann

aber Biedermann, geht diesen Sommer wieder ins Bad von Aix, ist

leider, wie so mancher, unzufrieden über den Gang der Dinge im Schlosse und weissagt dem Institut mit dem Tode Pestalozzis ein unrühmliches Ende. Gottliebx) ist für majoren erklärt und es fließt dadurch dem Schlosse eine beträchtliche Geldquelle zu, die zur Auf­

rechterhaltung viel beitragen könnte, wenn ein Geist der Liebe und

der Kraft, die in jeder Begeisterung liegt, damit zurückgeholt werden könnte. Leider ist alles so frivol und wenn die Anstalt wieder zu ihrer

alten Bestimmung einer Musterschule zur Entdeckung des psycholo­ gischen Entwicklungsganges zurückkehren soll, so muß notwendig ein reger Eifer, ein warmes Interesse und ein Willen hinzutteten, der

kein Opfer scheut. So stehn die Sachen — nicht schlimmer als bei Ihrer Abreise, aber

doch nicht so gut, als Sie und ich es wünschen würden. Meine lateinische Arbeit hat mir viele Freude gemacht und der schöne Erfolg hat den Pestalozzi in seinen Ansichten über Sprach­

unterricht gerechtfertigt. Das Merkchen selbst ist noch nicht fertig, wird aber in einiger Zeit es werden. Nach demselben wird schon in Vernet, einem landwirtschaftlichen Institute bei Genf, unterrich­ tet und schmiegt sich sehr leicht an diese Lehrart an, der ich seit der Besuchung von P. Girards Schule auch zugetan bin; seitdem ich nämlich eingesehen habe, daß die Benutzung des Ehrgeizes kein

eigentlicher Bestandteil dieser Lehrart ist, sondern nur an demselben worden ist. In meinem Vaterlande will ich das Opusculum fertig

machen und alsdann können Sie es zur Ansicht und, wenn Sie es billigen, zum Gebrauch haben. Vorzüglich suche ich die mnemo­ nischen Vorteile zu benutzen und bitte Sie mir Alles mitzuteilen, was mir zur Erweiterung und Anwendung dieser Grundsätze dienen könnte. Ich bitte Sie, nicht nur mir zu schreiben, wie es Ihnen als

Personen geht, sondern vorzüglich wie es Ihnen als Schulmännern

1) Der Enkel Pestalozzis.

geht. Herr Heß aus Zürich kommt zu Herrn Murald [ ?] und dieser

könnte Ihnen, wenn Sie etwas über das Büchelchen Näheres zu erfahren wünschen, einiges sagen, obgleich ich mit ihm nur kurze Zeit darüber gesprochen habe. Nun leben Sie wohl und schreiben Sie mir bald, vergessen Sie meiner nicht! Behalten Sie in gütigem Andenken Ihren Freund Roth. (Aus dem Schreibkalender.) 10. Mai. Auf 4 Uhr habe ich die Freres Girard und Barras, Herrn

phil. Jäger und Steffan auf einen Abschiedsschmaus eingeladen. Anstatt Girard kam Chappuis. Wir waren sehr froh. Ich hatte auf den Tisch Vergißmeinnicht gestellt. Morgens nach 4 Uhr stand ich auf, ging zu Herrn Jäger, um ihn abzuholen; er lag im Bette und befand sich wegen der Ribatte [ ?] nicht wohl. Ich ging daher allein nach Schwarzenberg, von da nach Guggisberg und zurück und fand zu meinem Leidwesen keinen Brief. ii. Mai.

(Aus dem Briefbuch.) An Marie Schmid, Jferten. z. Brief.

Freiburg, den n.Mai 1820.

Liebe M. Deinen letzten Brief, der kein Datum hatte, erhielt ich den 4. April l. I. Drei Läge nachher bekam ich einen von meinem

Vater. Er schreibt mir wie vorhin wegen meiner Rückkunft, doch mild und voller Liebe. Er erlaubt mir darin, von Pestalozzi so viel Geld aufzunehmen als mir gefällig wäre, indem er es dann ihm mit großem Danke zurückerstatten wollte. Ich aber mag keins — es wäre dies das erstemal, daß ich entlehnte und überdies will ich keine Ver­ bindlichkeit haben aus Gründen, die Du leicht einsehen wirst. Schon

längst wäre ich über Tal und Berg, hätten mich nicht andere Dinge zurückgehalten. Seit 14 Tagen ist mein Leinzeug in der Wäsche und

nur erst diesen Morgen erhielt ich^s und vors zweite hatte ich noch in Jferten einige Gelder einzukassteren, die ich nicht erhalten habe. Meine Freunde, denen ich geliehen, haben vermutlich jetzt kein Geld und ich mag mein Forderungsrecht nicht mit Gewalt geltend machen. Jetzt 1) Statt April soll es hier wohl Mai heißen.

aber warte [i$] nicht länger, sondern reise von hier Sonntag oder Montag nach Bern ab. Zwei oder drei Tage, vielleicht auch nur einen,

halte ich mich in Hofivyl bei v. Fellenberg auf, mit dem ich wegen

einem Knaben sprechen will, den ich einst nach Siebenbürgen zu holen gedenke. Ein in dem Ackerbau Bewanderter, wie man es vom Jnstitllt zu Hostvyl zu erwarten berechtigt ist, ist in einem solchen

Lande ein unbezahlbares Möbel. Von Hostvyl bin ich gesonnen, über Biel durchs Münstertal nach Basel zu gehen. Wolltest Du mir nach

Basel schreiben, so müßtest Du solches in der folgenden Woche tun, weil mich sonst Dein Brief nicht mehr treffen würde. Von Basel aus schreibe ich Dir sicherlich und Du sollst alles erfahren, was ich auf dieser Reise, die ich zu Fuß mache, sehe und höre. Vergangenen Sonntag machte ich einen Ausflug in die Um­ gegend und besähe die Schlachtfelder bei Murten, wo die Schweizer 1476 das noch einmal stärkere Heer des kühnen Karls von Burgund aufs Haupt schlugen. Bei Laupen 1339 zog sich der Adel zusammen, um die junge Freiheit Berns, die ihm gefährlich zu werden drohte, zu vernichten. Er verlor aber alles, obgleich vielmal an Macht über­ legen. Die Schweizergeschichte trug ich in meiner Tasche und las die

Schlacht bei Murten auf dem Schlachtfelde selbst und die Geschichte der Schlacht bei Laupen auf dem Schlosse daselbst, ins Gras hin­

gestreckt. Die despotischen, ebenso andere Seelen, die Sklavereien nicht für den höchsten Schaden halten, begreifen so schwer, wie es möglich gewesen, daß Bauern geübte Ritter schlagen und auseinanderjagen

konnten und doch hat die Geschichte noch immer gelehrt, daß ein kleines Häuflein, von Begeisterung beseelt, mehr ausrichtet, als

große Herden, die Geld oder Ruhm zusammenruft. Gestern war ich im benachbarten Guggisberg; da wohnt ein be­

sonderer Menschenschlag. Du kennst ja ihre eigentümliche Kleidung, die besonders meiner Hausftau nicht anständig erscheint. Was tut das Kleid? Ihre Sitten sind wirklich abweichend von den übrigen

und manches würde an anderen Orten Höchstlich auffallen, was hier Sitte und Brauch ist. Die Weiber und Mädchen gehen in die Wirts­ häuser und am gestrigen Feiertag sprach ich mit mehreren. In ihren

Gesprächen zeigen sie gesunden Menschenverstand und viele Treu­ herzigkeit. Junge Leute schlafen oft beisammen; Verletzung der Keuschheit ist äußerst selten; oder daß man mit seinem Liebchen Nächte durch allein sein könnte und sich herzen und drücken ohne das sechste Gebot zu übertreten, geht manchen Leuten sehr schwer in den Kopf, die selber keine Herrschaft über sich haben und daher jeden nach ihrem geilen Sinne schätzen und beurteilen. Das Kilchgehenx) in der Nacht von Sonnabend auf den Sonntag, wo das Liebespärchen mitein­ ander schwatzt, ißt und trinkt, ist hier sehr im Schwünge, noch mehr als im Kanton von Bern und Zürich, wo dieses auch im Gebrauche ist. Schwarzenburg und Guggisberg liegt sehr hoch und von Letzterem

kommt man bis nach Freiburg immer bergab vier Stunden lang. Bei meiner Zurückkunft schmeichelte ich mir mit der Hoffnung, daß ich vielleicht von Dir einige Zeilen finden würde. Aber daß ich nichts finden konnte, weißt Du ja. Am ersten Mai ging mein Brief an Buchholz ab. Ich trete in die­ sem Briefe fest auf, glaube aber nicht ein einziges Wort geschrieben zu haben, welches mißverstanden werden könnte. Hast Du beim Empfange dieses Briefes denselben noch nicht zu lesen bekommen, so glaube ich, daß man Dir ihn aus Vorsicht verschweigen wollte. Steffan hat eigenhändig unterschrieben, nur glaube ich, hält es der Bruder für ratsamer, mich in einem Lichte erscheinen zu lassen,welches

ihm mehr Vorteil bringt. Ich für mich bin zufrieden, daß Du es nicht glaubst und Deine liebe Schwester, unsere Schutzpatronin1 2). Mir ist es mehr als wahrscheinlich, daß Steffan solches zum Bruder gesagt habe, denn über diesen Punkt schlüpfte er mir immer mit der größten Eile hinweg. Ich kann ihn aber dafür nicht züchtigen, da er von Buchholz unser Geheimnis erfahren hat, behandle ihn daher wie einen bösartigen Hund, den man streicheln muß, damit er nicht 1) Kilt, schweizerisch, Nachtbesuch des Jünglings bei dem Mädchen. Das Wort ist bis in das Altgermanische und Indogermanische zu verfolgen. Gebräuch­ liche Formen: Kiltgang, Kiltgänger; nächtlicher Besucher. Kilchgehen dürfte dialektische Form sein. 2) Katharina Schmid, siehe l, 319.

belle. In meinem Herzen danke ich Pestalozzi dafür, daß er in Deiner Gegenwart, liebe Marie, nichts gegen mich spricht. Tun sie es aber auch, so laß sie nur sprechen, mit ihren Worten schlagen sie keine Mücke tot. Buchholz hat, ehe ich noch einen Brief absandte, an mich geschrieben und schildert das Betragen Steffans bei seinem Aufent­ halt in Jferten entweder als das Betragen eines Narren oder eines Schurken. Pere Girard, dem Steffan seinen Streich auch erzählt hat, äußerte sich gegen mich in einem ähnlichen Tone. Den 9. speiste ich mit Pere Barras, H. Jäger und Chappuis nebst dem aufdringlichen Steffan aux merciers. Ich stellte auf den Tisch als Sinnbild meines Wunsches ein Gefäß mit Vergißmeinnicht. Girard ließ sich ent­ schuldigen, da ein gewisser H. Mayer aus Luzern ihm einen Besuch gemacht hatte. Wir brachten dem Pater ein Lebehoch alle zusammen; ich für mich stieß unbemerkt ans Blumengefäß, gedachte an unsern -Bund UKd geschworene Treue, schloß mit in den Wunsch meine Fa­ milie und Deine und trank mein Glas bis auf den Boden aus. Wenn es Dir an diesem Abend in den Ohren geklungen, so weißt Du jetzt warum? Daß ich Dich nicht mehr habe sprechen können, ist mir hart gefallen, doch ist mir Deine Ruhe viel zu teuer, als daß ich sie auf ein Spiel

setzen wollte. Der guten Schwester danke ich aber demohngeachtet für den Wermutstrank, denn haben wir zwei vier Augen, so hat sie allein vier, aus Anlage oder aus Erfahrung? Aus einem von bei­ den oder beiden zugleich? Ich danke ihr für ihre schwesterliche Liebe, oder, wenn Du mirs jetzt schon erlaubst zu sagen, auch für ihre Schwagerliebe mit aufrichtigem Herzen und wünschte tausendmal,

wegen ihren treuen Diensten, für sie einmal durchs Feuer springen zu können. Nicht wahr, das wollten und täten wir beide? Den fürchterlichen Tod eines Freiburger Bauernmädchens wirst Du vielleicht schon erfahren haben. Sie hat auf eine jämmerliche Weise ihr junges Leben einbüßen müssen. Beinahe alle Stimmen vereinigen sich jetzt darin, daß sie ihr Liebhaber selbst totgeschlagen habe. Ungewiß ist, ob er sie im Anfall der Weibersucht habe miß­ brauchen wollen und aus Furcht, verraten zu werden, umgebracht,

oder ob er ihr wegen Untreue das Herz aus dem Leibe getreten habe. Im ersten Falle fällt es selbst weichherzigen Seelen leicht, über ihm den Stab des Lebens zu zerbrechen, im zweiten weiß ich nicht, warum er sich nicht auch aus dem Leben geschafft habe. Nicht umsonst sieht die Bitte im Vaterunser „Herr, führe uns nicht in Versuchung". Mich hat diese Geschichte sehr beschäftigt. Hat sie ihre Unschuld be­ wahren wollen, so wartet ihrer in einer besseren Welt eine unver­

gängliche Krone, hat sie aber die geschworene Treue gebrochen, so.... so hat sie den Tod verdient. Denn auf der Erde ist kein Gericht, zu rechten gebrochene Gelübde solcher Art, und der Mensch in der Ver­ zweiflung sättigt entweder seine Rache im Blute oder bricht in schwere Anklagen vor Gott dem Allmächtigen laussi In beiden Fäl­ len wird er auch sterben müssen, aber im künftigen Leben werden sie weit auseinander sein, wir aber haben auch dann die Hoffnung, in ewiger Seligkeit beieinander zu bleiben. Ja, wir wollen beieinander bleiben unzertrennlich und ewig. Damit wir sicher sind, daß keine unserer Briefe verloren gegangen sind, will ich in der Ecke des Blattes die Zahl des Briefes mit Ziffern bezeichnen. Tue auch ein Gleiches. Roth. (Aus dem Schreibkalender.) 13. Mai. Da ich heute wieder keinen Brief bekomme, so gehe ich selber auf die Post, weil ich Unterschleif befürchtete. Hier höre ich zu meinem

Erstaunen, daß Steffan gesagt hat, daß ich bereits verreist sei und man ihm dieselben übergeben müsse. Am letzten Posttage hatte es keine Briefe, jetzt aber fand ich ein Paket von Caspar. — Am Abend

schon schrieb ich ihm ein Briefchen, worin ich ihn bat, seine Schuld zu berichtigen. Darauf eine spitzige Antwort. Er hatte indessen gegen Brenner ausgeschwatzt, aber alles gelogen. Man solle mich z. B. ohnmächtig von Jferten in die Kutsche getragen haben usw. Am Morgen schrieb ich wieder einen Zettel. Ohne Antwort. Nach dem

Essen besuche ich ihn im Prison *), worin man ihn die Nacht einge­ steckt hatte. Er hatte die Wache geschlagen. Ich zwinge ihn mir einen 1) Gefängnis.

Schuldschein aufStempelpapierausjustellen. Um z Uhr gehe ich vonFreiburgfort. Jäger, Brenner und Barras begleiten mich,

wir trinken noch etwas in einem einsam stehenden Hause. Adieu. Sm Regen komme ich in Wangen an. Schwatze mit den Bauern von Bienen. 15. Mai. Den 15. 7 Uhr in Bern. Distelzwang. Besuche Rüfft-

nacht, wo ich auch esse. Lasse mir den Paß revidieren. Spreche mit dem Herrn Prof. Ziegler und Lutz, womit ich mich über alles ver­ einige, nur darin nicht, daß es nur e i n e Methode gebe, deren Mei­

nung ich bin. Herr Ziegler setzt mir seine Idee über die künftigen Schuleinrichtungen in Bern gut auseinander. Abends bin ich mit

Studenten in der Kneipe. 16. Mai. Morgens besuche ich Herrn Prof. Hünerwadel, der mich aber nicht mehr zu erkennen schien. Gehe zum französischen Gesand­ ten Graf von Talleyrand wegen dem Passe. Abends trinkt: Müller von Schöftland K. Argau, A. S. Rüffe-

nacht von Thun und Schatzmann nebst einem gewissen Wagner, den ich zum vorigenmal nicht gesehen, bei mir 3 Bouteillen roten Wein. Bevor besorgte ich meinen Koffer auf der Douane. 17. Mai. Morgens um 5 Uhr klopft man an meine Türe und ein Neger tritt herein, der im Pulte Geld gelassen hatte. Später kommen die Freunde, auch Schatzmann, und begleiten mich bis lSchloßl Reichenbach, wo wir Kaffee trinken. Rüffenacht (wohnhaft am Zeit­ glockenturm) schenkt mir den Catull.

Um 9 Uhr in Hofwyl, wo ich ein Zimmer bekomme. Finde Herrn Braun aus Tübingen als Lehrer angestellt. Herr Hostmann spricht mit mir am Abend viel über Geographie, besehe auch die Karten von Klöden. (Aus dem Briefbuch.) An Frfeund) Simon Schreiber1 (Hermannstadt). Hofwyl b. Bern, den 17. Mai 1820.

Lieber Freund! Gerne will ich eingestehn, daß ich durch meine Nachlässigkeit im Briefschreiben von meinem Freunde gewissermaßen 1) Simon Schreiber, geb. 1796 in Hermannstadt, sollte sich nach Beendigung

ein gerechtes Mißfallen verdient habe, hoffe aber. Du werdest mir

solches nachsehen, einmal weil dies ein alter und bekannter Fehler an mir ist und zweitens, da Du mich nicht verdammen kannst, ohne nicht auch über Dich wegen demselben Vergehen den Stab zu brechen.

Deswegen glaube ich, werden wir wohl daran tun, gelinde über uns

beide zu urteilen. Die Datierung dieses Briefes wird Dir sagen, daß ich mich im Augenblicke in der großen Anstalt des Herrn von Fellenberg befinde. Schon meine Heimreise führte mich hier durch, mehr noch das In­ teresse, das ich immer an dieser wichtigen Unternehmung genommen habe. Seitdem ich mich mehr und mehr an die pädagogische Welt anzureihen suche, gewinnt in meinen Augen jede Anstalt dieser Art an Wichtigkeit, so daß es mich Mühe kostet, solche zu verlassen, ohne sie gehörig in mich ausgenommen zu haben. Zuerst muß ich Dir sagen, daß ich den 6. April das geliebte Pverdon verlassen habe. Ich schlug den Weg nach Freiburg ein. Hier hat Pater Girard, ein braver Franziskaner, die Stadtschule nach dem Muster englischer Anstalten eingerichtet. Diese Lehrart des Bell und Lancaster ist jetzt weit in der

Welt verbreitet; ihr Wesen gründet sich auf die Verteilung einer großen Klasse in mehrere Abteilungen und auf der Benutzung eines

Zöglings zum Unterricht des anderen. (Die dasige Schule hat 4 Klas­ sen und diese werden dann dem Bedürfnisse jeder einzelnen gemäß in mehrere Abteilungen zerlegt.) P. Girard hält viel darauf, daß nur

ein Lehrer den ganzen Umfang einer Klasse versehe, während in meh­ reren anderen Schulen, die ich gesehen, mehrere Lehrer jeder ein ein­ zelnes Fach, worin er stark ist, geben. Es ist dieses also wie bei uns. Den 17. Mai kam ich hier bei Herrn von Fellenberg an. (Schon bei meiner Reise nach Dverdon hatte ich die Ehre, ihn zu sehen und zu sprechen.) Seine Anstalt geht ins Große; und wenn gleich keine der Gymnasialstudien nach Tübingen begeben (wohin ihm sein Freund St. L. Roth vorausgeeilt war), um Theologie ju studieren, als das Verbot des Besuches ausländischer Universitäten ihn daran hinderte. Er hat dann die Rechte stu­ diert in Klausenburg und später als Landtagsabgeordneter und Politiker sich vielfach hervorgetan. Gest. 1878. Siehe Trausch iv, 388.

schöpferische Idee aus ihr, wie in der Pestalozzischen hervorgegangen

ist, so benützt er doch aber gute Maße. Er hat eine gelehrte Schule, eine Armenschule und eine landwirtschaftliche Anstalt. (Alle drei stel­ len ein Bild des Lebens vor.) Es macht mich so unzuftieden mit mir,

wenn ich 9—10jährige Kinder den Homer lesen sehe, da mir kaum ein Blick hinein erlaubt ist. Unser bißchen Latein entschädigt wie man­ chen anderen mich auch nicht. Das schöne griechische Altertum liegt

für uns größtenteils verschlossen, wir hatten darin im Anfänge zu un­

wissende Lehrer. Gott verzeihe es ihnen, daß ich mit nur zu wahr>em Rechtj dies mein Bekenntnis machen muß. An der Gelehrlen­ schule sind gegen 30 Lehrer angestellt. Es ist ein hoher Genuß, mit diesen Leuten umzugehen; ich wünschte Dich gern hier bei mir. Im Anfänge wollte ich nur einen Tag hier bleiben, um diesen Mann und

seine hiesigen Freunde noch einmal zu sehen. Herr von Fellenberg er­ suchte mich aber wenigstens eine Woche hier zu bleiben und hat mir auch jetzt wie zuvor eine Lehrerstelle angetragen. Ich wollte es gerne, kann es aber nicht. Meine Eltern wünschen, daß ich zurückkäme und dies ist stärker als all das Interesse, welches mich hierher fesselt. Wie

glücklich war ich nicht in Dverdon! Auch hier würde ich es sein. Von hier bin ich gesonnen, über Basel nach Straßburg zu gehen, um als­ dann über Karlsruhe, Tübingen nach Ulm zu kommen, wo ich mich einschiffen werde. Ich hoffe Dich, lieber, teurer Freund, im Herbst

laufenden Jahres noch zu umarmen und dann immer um Dich zu sein. Ach freite mich darauf. Wir wollen Freundschaft halten später, so wie wir es jetzt getan haben. Nur Furcht, zudringlich zu scheinen, hat mich abhalten können,

Deinen lieben Eltern, die ich so sehr verehre, einmal einen Brief zu schreiben. Es wäre gewissermaßen Pflicht von meiner Seite gewesen. Ich lasse mich ihnen bestens empfehlen. Deine Schwester grüße ich

herzlich. An den Buchenwald in Kleinschelken, wo ich unsere Namen in eine Buche einschnitt, habe ich mich vielfältig erinnert, an unsere Quartette, an unser ganzes sonstiges Treiben. Gehe zu meiner Schwester und küsse sie warm wie ein Bruder.

Meines Herrn Schwagers Brief mit dem Geld habe ich in Jferten

nicht abgewartet; man wird es mir nachschicken. Ich lasse ihn freunde schaftlich grüßen und ihm danken. Einen wahren Gefallen tätest Du

mir, wenn Du im Gergerischen Hause, da wo ich wie ein Kind müt-terlich, schwesterlich und brüderlich behandelt wurde, meine Grüße ausrichtetest. Während ich dies schreibe, stehen mir so viele Personen vor Augen. Es wäre mir unmöglich, alle zu nennen. Weißt du was? Grüße alle, von denen du weist, daß ich es tun würde. Roth. (Aus dem Schreibkalender.)

18. Mai. Um 7 Uhr bin ich in Dimerswyl bei Kluge, hospitiere in der Religion und griechischen Stunde. Herr Zuberbühler zeigt mir etwas vom Urdreieck von Herbert. Zu Mittag speise ich in Buchsen bei Müller. Von 2—3 bei Laner, der mir sein math. Buch seiner Methode zeigt. Von 5—6 bei Braun, wo einige Herren den Sallust lesen. Von 6—8% in der Mustkprobe. Spiele mit. Bis 11 Uhr dann wieder bei Laner. 19- Mai.

Schreibe einen Brief an Simon Schreiber'). Vergesse

das Mittagessen, gehe spazieren. Von 7—8 bei Braun im Lateinischen, von 8—9 bei Müller im Homer, von 9—10 bei Schmidt und 10—11 bei Bischoft, gehe auf 20. Mai.

sein Zimmer, sehe daselbst Schneiders lateinische Grammatik, wie auch von Zucht. Nach dem Essen spreche ich mit Hoffmann, gehe nach Dimerswyl zu Kluge, trinke da Tee und esse zu Abend bei Hern v. Meiden. Um ii Uhr bin ich wieder zu Hause. 21. Mai.

Pfingsten lese ich in Fellenbergs Rede.

Bei Wehrli auf dem Feld, es werden Schollen zerschlagen im Kartoffelfeld, später Erbsen gehackt. Von 12—1 in der Armen-schule, wo Geometrie gelehrt wird. Gebe auch Aufgaben, es macht mir Freude. Nachmittag mit Lippe über Knabeninstitution, liest mir auch etwas davon vor. Gehe mit Herr» Fellenberg, Lippe und 22. Mai.

1) Vermutlich die Reinschrift des voranstehenden Entwurfes.

jwei Knaben nach Bnchsen zu dem Grabmale eines Knaben. Um 7 bei Wehrli, der mir die Ackergerätschaften zeigt: Säemaschine, Expirator, Würfelmaschine, Wurzelreißer. 23. Mai. Sehe mit der Säemaschine säen. Spreche mit Lippe, der

mir die Steinplatten zeigt, welche Leopold gestochen hat und welche

die Vorstellungen enthalten, welche die Kinder um Neujahr gemacht haben sollen. Nach dem Essen mit Panzel und Braun im Wirts­

haus, wo wir Kaffee trinken. Nehme beim Abendessen Abschied von Fellenberg und Lippe und Bischoft. Bin dann bis 11 Uhr bei Braun, vor dem Essen bei Kluge und Zuberbühler in Dimerswyl. 24. Mai. Um 4 Uhr siehe ich auf, komme aber nur um

fort. Wehrli kommt die Treppe herunter. Trinke Kaffee mit Müller und nehme auch hier Abschied, gehe über Moosaffoltern, Diesbach, Dotjingen, Gottstadt nach B i e l, wo ich um 12 Uhr ankomme. Spreche mit Winternitz und esse mit ihm. Um 4 Uhr gehe ich mit auf einen Spaziergang in den Jura zum Wasserfalle der Suze. Schlafe in der Krone. 25. Mai. Schlafe bis 7 Uhr — gehe dann zu Winternitz, der dort eine recht schöne Stelle hat. Es ist aber keine sehr große Herzlichkeit

unter uns, obgleich nur aus Verschiedenheit der Meinungen. Er scheint mir das Leben zu leicht zu nehmen und findet selbst in Gedan­ ken einen solchen Genuß, daß er weniger hart in seinem Berufe arbeitet. Gehen an den See spazieren. Mir ist nicht wohl bei ihm; sprechen über meine Pläne und Grammatik. Er gibt mir zu, daß ich einen guten Willen habe, daß der Plan wohlfeil sei — dem ohn-

geachtet spricht er mir alles ab, warum?—weil ich nicht in die Philo­ sophie eindränge!-------- Bade im See und esse im naheliegenden Wirtshaus Käse und Brot. Um 4 Uhr geht er mit bis Bözigen, wo wir Bier trinken. Adieu. Gehe bis Tavannes durch Pierre Pertuis

mit einem Badergesellen, morgens [26. Maij ohne ihn fort. Früh­ stücke in Moutier, wo ich mein Päckchen dem Knechte gebe, der es bis nach Aesch führt. Spreche mit Glasmachern (Badensern) in Cour-

rendlin, wo ich Eier und Wein genieße. Zwischen Soyhiere und

Laufen nimmt mich ein Bote auf den Wagen. Um 7 Uhr in L a u f e n im weißen Rößli, wo ich ju Nacht esse und schlafe. 27. Mai. Derselbe Bote hatte mir versprochen, mich bis Basel mit-

junehmen und mich um 2 Uhr ;u wecken. Er hat es nicht getan. Von 5—ii ging ich nach Basel. In Aesch hole ich mein Päckchen und trinke Kaffee. Vor Aesch liegt sehr malerisch: Angstein. I n B a se l zum wilden Mann Nr. 6 das Zimmer... (Aus dem Briefbuch.) An Marie Schmid, Jferten. 4. Brief.

Basel, den 28. Mai 1820.

Liebe Marie! Ich kam hier vor Mittag den 27. l. M. an. Der Gang von Biel bis hierher durchs Münstertal gehört zu den schöneren, die man in der Schweiz machen kann. Doch ich will von vornen anfangen. Von Fribourg ging ich den 14. d. M. weg. Es begleiteten mich eine

starke Stunde weit einige Freunde, bis zu einem einsam stehenden Wirtshause, wo wir den Abschiedstrank taten. Einige Auftritte hatte ich mit Steffan, den ich so zart behandelte wie nur möglich. In mei­ nem Brief vom 11. schrieb ich Dir dieses schon. Ich hatte Steffan einiges Geld vorgestreckt und er versprach mir, solches pünktlich zu zahlen. Gegen Ende meines Aufenthaltes kam er immer seltener zu mir und war sehr schwer zu Hause zu treffen. Ich schrieb ihm daher ein gutmütiges Billet, er antwortete bösartig. Nun nahm ich den Hut, um zu ihm zu gehen, hörte aber da, daß er auf der Hauptwache festgesetzt sei. Ich ging zu ihm. Er war an den Händen stark blessiert, weil er sich auf der Wache herumgeschlagen hatte. Diese hatte ihn nachts auf der Straße angetroffen und er soll sie angegriffen haben.

Da er kein Geld hatte, so habe ich mir nun einen Schein ausstellen lassen, der über einen Monat fällig ist. Mein Hausherr hat die Be­

richtigung dieses Geschäftes übernommen. Bei einem anderen An­ lasse, den mir Steffan gab, mußte ich wegen meiner Kälte froh sein.

Du weißt, daß ich am 11. Mai nach Guggisberg ging. Es war dies ein Posttag. Steffan aber benützte meine Abwesenheit, um auf die Post zu gehen und die Briefe an mich abzufordern, da ich in mein

Vaterland abgereist sei. Glücklicherweise war keiner da, sonst wäre er

vielleicht frech genug geivesen, dieselben auch aufzubrechen. Ich sage,

zum Glück waren keine da, sonst hätte das vermutlich eine Basis für einen Kriminalprozeß geben können. An diesem Tage aber erwartete ich von Averdon aus sicherlich Briefe, war also unzufrieden darüber,

daß mir der Briefträger keinen Brief brachte. Ging daher selber auf die Post. Hier hörte ich nun, daß Steffan gesagt habe, daß ich nach Hause verreist sei. So ist es möglich, liebe Marie, daß unsere Correspondenz auf diese oder andere Weise unterschlagen werden könnte. Es ist aber wahrscheinlicher, daß meine Briefe als Deine unterschla­ gen werden. Da nun dieses immer denkbar ist, so lasse Dich dadurch ja nicht irre machen, sondern glaube immer an mich, unerschütterlich, wie Du ein Recht hast, es zu fordern und wie ich es um Dich zu ver­ dienen suchen werde. Dom Bruder haben wir dieses beinahe nicht zu fürchten, denn er hat Achtung vor den Gesetzen und weiß wohl, daß das Aufbrechen von Briefen der Post ein Staatsverbrechen ist.

Steffan aber suchte hinter mir immer große Geheimnisse und seine Neugierde verleitete ihn zu diesem Streiche, den ich ihm nur aus Ach­ tung für frühere Verhältnisse habe hingehen lassen. Unter anderen Tollheiten, die er mir zumutet und die bloß in einem echauffierten Gehirn entspringen können, ist auch das, daß ich General der Jesui­

ten sei und ein Teil meiner Traurigkeit, die man an mir in Jferten bemerkt habe, von der geheimen Nachricht herrühre, die ich aus Ruß­ land erhalten hätte, von der Vertreibung dieser Leute. Auf der an­ deren Seite scheint er mir in Freiburg einen großen Einfluß auf die Polizei zuzumuten, da er mir in Gegenwart des wachhabenden Offi­

ziers den Vorwurf machte, daß ich allein es wäre, der ihn ins Ge­ fängnis gebracht hätte. In Bern langte ich nur den folgenden Tag an, da ein starker Re­ gen mich in Wangen zu übernachten nötigte. Den 15. und 16. blieb ich in Bern und ließ mir meine Pässe von dem ftanzöfischen

und österreichischen Gesandten unterschreiben. Ich kaufte mir hier eine artige Sammlung von Schweizertrachten und Gemälden schwei­

zerischer Gegenden, die ich durchreist habe, und will einmal damit Dein Zimmer zieren. Nachdem ich am 16. meine Koffer auf die Spe-

256

D i e Heimkehr

dition gegeben, einen Habersack gekauft und bejahlt hatte, ging ich

am 17. nach Hostvyl, wo ich um 9 Uhr morgens eintraf. Herr von Fellenberg ließ mich nicht sobald fort, als ich mir vorgenommen. Schnell wurde mir ein Zimmer eingeräumt, ein Bedienter ange­ wiesen uff. Ich blieb hier vom 17. bis zum 24. An diesen 6 Tagen

habe ich vieles mit den Lehrern gesprochen und muß allen diesen Ein­ richtungen meine Zufriedenheit erteilen. Die Anstalt für die höheren Stände hat mehr als 100 Zöglinge. Die Armenanstalt jählt 40 Kna­ ben. Die Lehrerzahl ist gegen 30. Wenn ich hier hätte bleiben wollen, so hätte ich von Fellenberg eine ansehnliche Stelle erhalten und es

wären mir alle 4 Klassen des lateinischen Unterrichts anvertraut worden. Im Griechischen und in der Mathematik sind die Kinder weit, im Lateinischen hapert es ein wenig. Im ganzen herrscht große Ordnung und Fellenberg versteht es recht gut, seine Geschäfte in einem guten Gange zu erhalten. Aber eine gewisse Kälte umgibt ihn, die mir seinen Umgang eben nicht sehr anziehend macht. Die Kinder der höheren Stände haben einen Vertrag untereinander geschlossen und den Lehrern will er eine Konstitution geben. Sie haben schon eine. Sie umfaßt die Rechte und Pflichten jedes Lehrers und sollte in den nächsten Tagen wieder zur Sprache kommen. Allerdings ist da, wo nicht die Liebe herrscht, die Feststellung der bürgerlichen Ver­ hältnisse notwendig *). In das größere Detail kann ich jetzt nicht ein­ treten, weil es mich zu weit führen würde, will Dir aber einmal mündlich, wenn Du es wünschest, das Nähere mitteilen. Von Pesta­ lozzi sprach er mitleidig, vom Bruder und Dir wegwerfend. Er spricht Dir die Gefühle der Liebe und der aufopfernden Empfindungen ab und glaubt, Spekulation auf Geld sei Dein so wie Schmids Panier.

Er wußte natürlich nicht, daß er mich dadurch tief kränkte. Lippe er­ greift wohl die kleinen Regeln der Erziehung, aber ich glaube nicht, daß sein Herz eines großen Opfers fürs Wohl der Menschen fähig sei. Alle Lehrer, inwieweit ich sie kennen gelernt habe, find brav und

1) Dieses Urteil R.s trifft in allem, was sonst von Fellenberg und seiner An­ stalt bekannt ist, vollkommen zu.

liebten mich, wie wenn ich schon lange ein persönlicher Freund von ihnen gewesen wäre. Den 24. ging ich um 6 Uhr fort und kam über Gottstadt um ii Uhr bei Winternitz in Biel an. Diesem hat man schon aus Z)ver--

don geschrieben, daß ich mit Schmid zerfallen sei. Er fragte mich dar­ über. Ich sagte ihm, daß ich in aller Freundschaft geschieden sei und daß mir Pestalozzi keine Ursache gegeben habe, ihm ein solcher Feind

zu sein, wie es im Briefe geschrieben stehe. Ich muß wirttich bedauern, daß Schmid nicht klüger ist und vielleicht zu Gesprächen solcher Art selbst einen Beitrag gibt. Winternitz ist am dastgen Gymnasium Lehrer und könnte daselbst recht glücklich leben. Frank und Caspar sind seine Korrespondenten. Ich aß zu Mittag mit den dortigen Pen-sionsknaben. Die Knaben tragen Uniform und beobachten eine mili­

tärische Ordnung. Den 25. badete ich mich im Bielersee und fteute mich, daß ich wieder so viele Kraft besitze, um brav herumschwimmen zu können. Nachdem, um 4 Uhr, schied ich von Winternitz und traf auf dem Wege über den Jura einen badischen Badergesellen an, mit dem ich bis Tavannes ging. Das Merkwürdigste auf diesem Wege ist

der Pierre Pertuis. So heißt ein Weg, den die Römer durch einen Felsen gehauen haben. Die ganze Straße liegt sehr romantisch und hat mir wohl gefallen. Von Tavannes ging ich um 4 Uhr morgens fort und kam um 10 Uhr in Montier an, wo ich frühstückte. Hier gab ich meinen Habersack dem Knecht des Hauses, der ihn auf dem Wagen bis nach Aesch mitnahm. Ich aber gelangte diesen Abend nur bis Laufen und hatte das Glück, daß mich unter Delemont ein Wagen­ bote einsteigen ließ. In Laufen schlief ich im weißen Rößli. Derselbe Bote versprach mir, mich den folgenden Tag auf dem Wagen bis nach Basel zu führen. Wir sollten um 2 Uhr nachts weggehen. Ich

wurde aber nicht geweckt, mußte daher zu Fuße gehen. Um 5 Uhr ging ich fort, frühstückte in Aesch und war um 11 Uhr in Basel, von dem ich Dir im nächsten Brief schreiben will, da jetzt schon dieser Brief etwas groß ist.

Schreibe mir nach Tübingen rc. rc. II

Roth.

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[91n Frau Anna Maria Gunnesch, geb. Fay, Kleinschelken ’).] Basel, den 30. Mai i. I. d. E. 1820.

Verehrteste Frau Großmutter! Von meinen Eltern werden Sie schon erfahren haben, daß ich auf der Heimreise begriffen bin. Jetzt stehe ich an der Gren;e des schönen Schweizerlandes. Morgen oder

übermorgen werde ich nach Freiburg in Breisgau gehen. Von dort bin ich gesonnen, nach Straßburg ins Elsaß einzulenken. Ich hoffe daselbst ein ftanzösisches Theater besuchen zu können, was mir bis

jetzt nie gelungen ist, obgleich ich mehr als ein Jahr in einem fran­ zösischen Lande gelebt habe. Dann will ich wieder auf deutschen Bo­ den herüberkommen und meine Freunde in Karlsruhe besuchen. In Ulm gedenke ich mich einzuschiffen; daß ich bei dieser Route Tübingen in meinen Reiseplan einziehen werde, werden Sie stch leicht vorstel­ len, da Sie von unserem Onkel in Reußen schon wissen, wie sehr man den Universitätsort lieb zu gewinnen pflegt. Seitdem ich Jferten ver­ lassen habe, erwacht immer stärker in mir die Liebe zu den Meinigen und ich kann Gott nicht genug danken, daß er sie mir alle erhalten hat. Nur mit Mühe konnte ich den Briefwechsel selbst mit meinen Eltern unterhalten; vielleicht haben sich auch diese zu beklagen, daß ich so wenig und dazu selten geschrieben habe. Jedermann ist freilich geneigt sich zu entschuldigen — auch ich — dem ohnerachtet muß ich Ihnen, teuerste Frau Großmutter, das Geständnis machen, daß Nachlässigkeit im Briefschreiben ein alter Fehler an mir ist. Sie wer­ den mir diesen um so leichter nachsehen, da sie von meinen Eltern werden erfahren haben, daß ich teils beschäftigt und in letzterer Zeit kränklich gewesen bin. Ohne daher mich weiter zu entschuldigen, er­

greife ich vielmehr diese Muße, um Ihnen, wenn auch spät, eineu kleinen Beweis meiner großen Ehrfurcht gegen Sie an den Tag zu legen. Meine lieben Eltern haben mir geschrieben, daß Sie sich fort­ während gut befinden, was mir eine der angenehmsten Nachrichten war, die ich erhalten konnte. Je größer die Liebe zu meinen Eltern wird, und sie wächst von Tag zu Tag, je mehr treibt es mich auch 1) Die Großmutter R.s hielt sich, wie aus diesem Briefe hervorgeht, oft in

Kleinschelken, im Hause seines Vaters auf.

alle diejenigen zu lieben, die meinen Eltern so nahe stehen müssen. Wenn mir Gott die Gesundheit erhält, so werde ich im Herbste zu Hause sein. Ich freite mich darauf, daß meine Ankunft grade in eine solche Zeit fällt, wo auch Sie gewöhnlich in unserem Kleinschelken sich aufzuhalten pflegen. Auf diese Art hoffe ich an einem Plätzchen auf einmal recht viele liebe Menschen anzutreffen. Es ist übrigens merk-würdig, daß mein Weg mich in Siebenbürgen beinahe immer durch Orte führt, wo ich Freunde finden kann. In Broos, in Mühlbach sind Anverwandte von unserem Herrn Pfarrer in Reußen, meinem Herrn pnfet. In Hermannstadt treffe ich die Schwester mit ihrem

Manne, Frau Schwester Gergerin mit ihren Kindern, die mir so lieb sind wie eigene Geschwister. Zudem noch die Anverwandten mei­ nes neuen Schwagers und den Onkel in der Fleischergasse; in Stol­ zenburg den Bruder meines seligen Schwagers, dessen Andenken ich nicht genug segnen kann; dann in Reußen den Bruder meiner Mut­ ter und in Kleinschelken die elterliche Familie nebst Ihnen, verehrteste Frau Großmutterx). Es ist, wie wenn mir die Vorsehung Rosen auf den Weg hätte streuen wollen, damit ich durch die festesten Bande an das Vaterland gebunden würde. In Gedanken habe ich diese Reise schon zurückgelegt und der Gedanke schon hat so viel für mein Gefühl; was vor Vergnügen werde ich erst empfinden, wenn ich in der Tat meine Anverwandten an mein Herz drücken werde?... Grüßen Sie zunächst alle Anverwandten, dann aber, wenn ich bitten darf auch alle, die sich meiner erinnern. Ich will diesen Brief an meinen Vater adressieren, weil ich auf diese Art glaube, daß Sie denselben am sichersten erhalten werden. Leben Sie recht wohl! St. L. Roth. Straßburg, den 9. Juni 1820.

Liebe Eltern! Ich habe an Euch seit meiner Abreise von Freiburg, wenn ich nicht irre, noch nur einmal geschrieben. Durch ein regneri­ sches Wetter werde ich in jeder Stadt länger aufgehalten, als ich es eigentlich wünsche. Seitdem ich Basel betrat, ist noch nie mir das 1) Die Daten der Anverwandten enthält die Verwandtschaftstafel im I. Band.

Glück so günstig gewesen, daß ich eigentlich schöne Tage genossen hätte. Während meines Aufenthaltes in Basel regnete es beständig. Je weniger ich aber von äußeren Dingen angeregt war, je mehr ent­ faltete sich in mir selber eine schönere Stimmung. Die dortige Mis­ sionsanstalt erweckte mich; diese frommen Menschen zündeten auch in mir die Flamme des lebendigen Glaubens an. Die Worte, die ich hier hörte, waren ein Quell des Lebens, der sich wie durch eine brennende Wüste ergoß. Ich fühlte mich stark und aufgelegt, jeden Kampf zu bestehen. Jetzt ist es so tot in mir und eine weite Leere umgibt mich. Seitdem ich französische Luft atme, welken in mir die Baseler Ge­ fühle. Sie sollen aber wieder erfrischen. Denn nur diese Umgebung bringt es mit sich, daß ich nicht hier auch zu Hause sein kann. In Straßburg lebt noch die atheistische Periode fort und auf der Schnei­ derzunft erklärte erst gestern ein Buchdrucker Mayer, daß es besser ge­ tan sein würde, Voltaires Schriften zu drucken als die Bibel. Von dem Schrecken einer Revolution spricht man so kaltblütig wie von einer ganz gewöhnlichen Sache. Napoleon scheint in dieser Gegend noch viele Anhänger zu haben und wenn ich mich nicht irre, so sind in ganz Frankreich die Gemüter unzuftieden. Ein großer Teil urteilt aus eigenem Interesse und wie kann da das allgemeine Wohl ge­ fördert werden? Da ich mein Päckchen auf der deutschen Seite (in Kehl) zurückge­ lassen habe, so weiß ich jetzt nicht, von wo aus ich Euch das letztemal schrieb. Mein Briefbuch ist nämlich im Päckchen. Ich ließ aber das­ selbe wegen der Douane zurück, die hier ebenso beschwerlich als in Wien ist. Sie nützt aber auch so wenig als dort. — In Basel kam ich den 27. Mai von Laufen an. Ich logierte zum Wilden Mann. Da

ich von Freiburg einen Rekommandationsbrief an ein Basler Haus

hatte, so ging ich gleich nach dem Mittagessen zu Herrn Miville, Güterfuhrhalter. Er wohnt in Kleinbasel (jenseits des Rheins). Er schien sehr wohlhabend zu sein. Sein Haus gleicht dem Kokelburger Schlosse und in den Zimmern waren vergoldete Tapeten. Daß Basel viel reelles Vermögen besitze, beweist der Umstand, daß man zu 3. p.C. soviel Geld aufnehmen kann als man will. Er selber war,wie

ich jum ersten Male hinging, nicht ju Hause; ich ging daher zur Mutter meines Freiburger Freundes Brenner, der ein naher Anverwandter von Herrn Miville ist. Den Abend brachte ich in der Missionsanstalt zu. Durch die Unterstützung frommer Leute besteht hier seit einigen Jahren diese Anstalt zur Verbreitung des Evangeliums unter den Heiden. Als Fundament alles Glaubens gilt die heilige Schrift und ihre Hauptauslegung scheint mir darin zu bestehen, daß sie alles der Gnade zuschreiben und dem Menschen kein Verdienst einräumen. Wenn man diese Menschen sprechen hört, so wird einem sonderbar zu Mute. Einer von ihnen bildet sich zur Judenbekehrung in Polen. Hier soll der Schleier von Mosis Gesicht anfangen herabzufallen. Der Begeistersie von ihnen war v. Zaremba aus dem deutschen An­ teile von Rußland. Abends hielten sie eine Stunde, wo sie sangen und dann Missionsberichte lasen. Zum Beschlusse betete einer von ihnen ein Gebet aus dem Herzen. Den 28. war Sonntag. Herr Esch­ mann im Dienste des Herrn Miville führte mich in die Kirchen, wo­ hin er mich abholte. 3n St. Martin hörte ich den Prediger Wick und in St. Peter den Pfarrer Vonbrunn. Die Geistlichen ttagen hier eine große weiße Halskrause und über dem Frack eine Art Kürschen, wie ihn unsere Frauen tragen, nur mit dem Unterschiede, daß er un­ ten abgerundet ist und große Aermel hat. Zaremba führte mich nach Kleinbasel zu Herrn Pf. Stockmayer, der mich zum Mittagessen ein­ lud. Ich war in seiner Kinderlehre. Er sprach herzlich und die Kinder sollen, wie man mir gesagt, sehr gerne diesen religiösen Unterricht besuchen; was eben nicht häufig bei uns der Fall ist. Unsere Unter­ haltung drehte sich immer in religiösen Kreisen umher. Das Inter­ esse, das ich an der Bibel nehme, knüpfte uns nahe aneinander. Wir waren Freunde geworden. — Um 4 Uhr jauste ich bei M^° Bren­ ner, wohin ich eingeladen war und ging dann mit jüngeren Freunden und Freundinnen aus dem Hause spazieren. Den andern Tag gehe ich mit Herrn Eschmann zu einem andern Oheim meines Freundes Brenner. Er ist Gürtler. Hier sah ich aus Blech ein Gesicht von Louis xviii. im Profil und wenn man es umkehrte, war es nie­ mand anderer als Napoleon; weiters einige durchbrochene Blech-

platten, die im Schatten die schönsten Gemälde vorstellen. Später wurde im Doktorsaale, welcher im Münster liegt, eine Prämienaus­ teilung vor genommen; gebe nichts drauf. Zugleich hielten zwei neue Professoren Reden. Herr Lindner sprach über den Einfluß griech.

Sprache auf das Studium der Theologie. Er bemühte sich, in der griech. Dichtungswelt die biblische Geschichte wieder zu finden. W i e er es sagte gefiel mir besser, als w a s er sagte; fromm und beschei­ den, schon alt. Herrn Gerlach kannte ich schon von Jferten aus. Zweimal hatte er, in der Zeit, daß ich bei Pestalozzi war, diesen be­ sucht. Jung und feurig, war früher Professor in Aarau, steht jetzt an der hiesigen Universität, an der Basel wieder neue Teilnahme nimmt. Ich besuche ihn. Am Abend besucht mich Herr Best, Brenners künf­

tiger Schwager. Spiele bis Mitternacht im Wirtshause Domino, nicht mit Geld. Den folgenden Morgen war ich ganz unschlüssig, ob ich fortreisen oder noch bleiben sollte? — Gehe vormittag mit Zaremba spazieren, er schenkt mir ein Neues Testament mit dem Namensverzeichnis aller Missionszöglinge. Nachmittag lerne ich Herrn Spittler kennen. Herr Miville, der angekommen, führt mich ins Waisenhaus. Im ganzen 93 (Knaben oder Kinder), der Haus­ vater Mitz führt uns im Gebäude herum, welches vormals ein Kar­ thäuserkloster war. Bei dem Abendsegen, den die Kinder beteten, war ich zugegen. Ein Knabe stieg auf das Katheder und las ein Ge­

bet. Ja! Das Himmelreich gehört den Kindern. Herr Spittler hatte mich auf die neue Schulmeisteranstalt in Brüggen aufmerksam ge­ macht und mich eingeladen, sie zu besuchen. (Es liegt im Badischen, 3 Stunden von Basel. Diesen ganzen Tag regnete es. Die hiesige Re­ gierung hatte ein Gebäude versagt. Der Großherzog räumte ihnen alsdann dies Schloß ein.) Ich stehe daher um 3V2 auf. Zaremba kommt um 4 und ein cand. theoi. Ludwig um 5 Uhr. Herr Zeller steht der Anstalt vor. Es sollen christliche Schulmeister werden. Seit 14 Tagen war sie eröffnet. Sie teilt die Zöglinge in Brüder und Zög­

linge. Die Brüder sollen, wenn es die Gnade des Herrn zuläßt, grade in die Stellen eintreten, die andere wegen schlechter Dotierung der Stellen nicht annehmen wollen. Den Armen soll das Evangelium

gepredigt werden. Es ist nicht das kleine Vaterland allein, wohin diese Lehrer ausgesendet werden. Wo es nottut, da sollen die Hände geboten werden. Die Bibelversendung, die Missionsschule und diese Schulmeisterbildung können starke Werkzeuge in der Hand Gottes werden. Auf dem Wege erzählt dieser Ludwig und Zaremba seine Lebensgeschichte. Der erstere wollte sich viermal das Leben nehmen. Verzweiflung war die Ursache. Wunderbar verhinderte es Gott. Zuerst wollte er sich erstechen. Er ging in einen Wald an einen ab­ gelegenen Ort, aber im Augenblick, wo er sich den Stoß versetzen wollte, kam jemand den Fußsteig gegangen und er mußte es dies­ mal aussetzen, weil sonst der Verdacht auf diesen Unschuldigen ge­ fallen wäre. Ein andermal beschwerte er sich die Säcke mit Bleikugeln und ging auf die Rheinbrücke und bog sich stark über die Lehne, da­ mit man, wenn er hineinfiele, glauben solle, er hätte sich zu stark übergebogen. Er tat dies, um seinen Eltern keine Schande zu machen. Jetzt war er im Begriff sich hinunterzustürzen, als ein Freund ihn am Rocke zupfte und ihn zum Mittagessen einlud. — Er verschaffte sich Giftpulver, legte es auf das Fenster und ging nur in ein Neben­ zimmer, um einen Freund noch einmal zu sehen. Wie er zurückkam,

entstand beim Oeffnen der Türe Zugluft und nahm ihm vor seinen Augen das Pulver weg rc. Was kann ich hiezu sagen? Den ersten Juni gehe ich von Basel weg. Es regnet bald, bald scheint die Sonne, immer Wind. In Krozingen esse ich zu Mittag, sehe daselbst das Frohnleichnahmsfest 2c. Den 2. in Freiburg, wo­ hin mir ein Lehrer aus Hoftvyl, Hoffmann, einen Brief an Herrn Vogt, auch vormals Lehrer in Hoftvyl, mitgegeben hatte. Stellt Euch vor, ich treffe hier meinen Freund Holzmann aus Karlsruhe,

der mich nur an meiner Stimme erkannt haben soll, da mich meine neuen Haare so verstellt haben sollen. Dies war unvermutet. Abends speise ich im Goldenen Kopf, spreche viel mit dem Erbprinzen von Hechingen-Hohenzollern und seinem Hofmeister von Krusa. Sie füh­ len mir etwas auf den politischen Zahn. Hier mache ich die Bekannt­ schaft mit dem liebenswürdigen Postsekretär Wand, der mich auf morgen zum Essen einläd. Vormittag (3.) besuche ich das Wechsel-

recht von Tuttlinger und bei Rotbeck das Völkerrecht. Letzterer ist in der Pairskammer, ersterer war in der Deputiertenkammer der ba­ dischen Landstände. Da aber Tuttlinger zu heftig gesprochen haben

soll, so ist er, unter dem Vorwand, daß nicht jwei Professoren Juris zugleich auf der Universität entbehrt werden könnten, davon in die­

sem Jahre ausgeschlossen worden. Ich sehe, daß ich meine Nachrichten über meine Reise in diesem Briefe zu groß angelegt habe, vertröste Euch aber auf mein Tagebuch, das ich seit einiger Zeit wieder ordentlich zu führen angefangen habe1). Ich will Euch alsdann mündlich erzählen, was ich jetzt wegen Mangel an Zeit nicht habe tun können. Ich ging von Freiburg um 3 Uhr den 5. Juni weg. Schlafe in Kippenheim und kam den 6. in Straßburg an. Morgen abends bin ich in Karlsruhe, wohin ich schon heute abgegangen sein würde, wenn nicht dieses schlechte Wetter mich am Gehen verhindert hätte. Ich werde fahren. Ich bin gesund und hoffe es immer mehr zu werden. Beinahe glaube ich es mir selber nicht, daß ich schon so lange von Jferten fortgegangen bin. Ihr werdet vermutlich nichts dagegen haben. 1) D. i. die Eintragungen im Schreibkalender. Sie wurden hier, soweit die Darstellung der Briefe eine eingehendere ist, weggelassen. Höchstens verdienen folgende 3 Notizen über den Straßburger Aufenthalt der Erwähnung: 7. Juni. Von 8—9 bei Herrn Arnold im jus (ein Student ist), von 9—10 beim Münster, von 10—11% im öffentlichen Prozesse. Ein Zeugenverhör. Von ii %—i bei Herrn Kraft, der mich zu Färber, Lehrer der Normalschule, führt. Er gibt mir Rechnungstabellen. Von 1—2 zum Essen bei Herrn Dollinger. Auf dem Münster, im Dach einiger Schaden, kann nicht bis zum Knopf steigen. Der Lohnbediente S. führt mich zur Virginie und Jeanette. Fahre nach Ro­ bertsau, trinke ein Glas Wein. Theater: Graf von Burgund, hatte die zwei ersten Aufzüge versäumt. Trinke zu Hause Tee und lege mich ärgerlich zu Bette. 8. Juni. Im neuen Theater inwendig; man baut seit 12 Jahren. In der Thomaskirche... Auf der Bibliothek ein mnemonisches Buch mit einer guten Vorrede. Laufe später nur in den Straßen umher. Von 8—10 im Kränzel.

9. Juni. In die Präfektur, es ist zu früh. Trinke Kaffe, spreche mit zwei franz. Soldaten. Schlechtes Wetter. Schreibe Briefe. Mit Herrn Kraft in der Societd des arts, des Sciences et d’agriculture. Esse abends im Seminar.

Den 10. um 7 Uhr kam ich in Karlsruhe an. Ich sprang gleich vom Wagen ab und lief zum lieben Freund Becker 1)/ den Ihr aus mei­

nen vorigen Briefen hinlänglich kennt. Er ist, was er immer gegen mich war, die Freundschaft selbst. Seine liebenswürdigen Eltern haben mir ein nettes Zimmer eingeräumt und im Kreise dieser Familie ist es mir so wohl um mein Herz! Ich werde hier einige Tage bleiben und gehe dann nach Tübingen. Da Ihr mir jetzt nicht schreiben könnt, so ersuche ich Euch um so dringender, mir nun Briefe nach Wien zu schicken und soviele als Ihr nur schreiben könnet. Unterdessen lebet wohl und vergeßt nicht, was ich Euch im letzten Brief ans Herz legte. Euer Euch von ganzem Herzen liebender Sohn

St. L. Roth.

(Aus dem Schreibkalcnder.)

10. Juni. Um 3 Uhr gehe ich in die Blume,wo der Stuttgarter Kutscher

logierte. Beständig schlechtes Wetter. In Rastatt: Table d’Hote. Viele Offiziere an der Tafel. Meine Reisegefährten waren Kaufleute. Einer aus Nürnberg, einer aus Stuttgart. Abends in Karlsruhe, wo ich gleich bei Becker einkehre. Hole mir später das Päckchen. 11. Juni. Es war Sonntag. Salzer predigte in der Garnisonskirche, die von Weinbrenner erbaut ist. Zu lange Säulen. Schwer zu pre­ digen. Ein goldner Gekreuzigter. Der Maler der mißlungenen Hin­ tergrundsgemälde: Himmelfahrt, hat sich aus Verzweiflung über den Tadel erschossen. Abends waren wir im Theater, aufgeführt: Die Sängerinnen auf dem Lande, dummes Stück! — Nachmittag

katechifierte Becker. iy. Juni. Nehme Abschied bei Fr. Staatsrätin Holzmann, dann bei Herrn Maklot, Buchdrucker, mit dem ich über die Institute in Jferten spreche. Ich rekommandiere ihm den Knusert als den tätigsten

und der die Augen überall selbst hat. 20. Juni. Kneipen in der Einsiedelei (neben dem Wald und Schloß­ garten). Kätzchen und Kaninchen. Henri Wieland, ich und Becker bei Herrn Prof. Wieland, den ich aus dem Auftritt in Moudon noch 1) 1,181, Anm. 3.

kannte. Wir schmollieren, disputieren über die roten Kappen der Bar­ bierer und gehen ermüdet vom Lachen auseinander. Bei Herrn Salzer Tee. Treffe da auch Herrn Corrodi, Lehrer am Lyzeum in Zürich. 2i. Juni. Eine Viertelstunde, ehe ich abreise, spiele ich noch ein Duetto mit der Schwester Beckers Marie. Becker und Salzer kom­

men mit nach Durlach, wo wir Chokolade trinken, auch Wein. Ohnweit Durlach draußen setze ich mich in den Postwagen. In der besoffene Doktor. Sm Ritter zu Pforzheim esse und trinke ich etwas, schlechter Wein. Ohnweit Pforzheim treffe ich einen Rekru­ ten von der Reserve aus dem badischen Oberland, mit dem ich nach Tiefenbronnen gehe, wo wir übernachten (im Bären). 22. Juni. Stehe um 3 Uhr auf, fahre mit dem gestrigen Rekruten in

seinem Wägeli bis außerhalb Attingen, wo wir uns trennen. Komme dann auf dem alten Weg um 1 Uhr in Tübingen an (Hirsch.) Finde die Schwaben noch am Tische. Gehe zu Fr. Vollmer. Herr Fritz, im Haus der alten Anne, die am Sonnabend begraben worden ist, zum Ballmeister. Hetsch, Silcher, ins Museum, zu Salzers Freund: Vogel. Hole von der Post den Brief von xxx! — (Aus dem Briefbuch.) An Marie Schmid, Jferten. 5. Brief.

Tübingen, den 1. Juli 1820.

Liebe Marie! Eben schlag ich mein Briefbuch auf, um nachzusehen, der wievielte Brief daß dies sei. Zu meinem Erstaunen sehe ich, daß ich Dir seit dem 28. Mai nicht geschrieben habe, ist das möglich? Ich kann es beinahe nicht glauben. Sei nicht böse, vielgeliebte Marie! Gelt, Du verzeihst mir? Doch höre! Gleich sprang ich auf die Post und fand Deinen lieben Brief vom 4. Juni. Hier bin ich seit dem 22. Juni, wo ich um 12 Uhr von Herrenberg ankam. Wie ich an die Wirtstafel gehe, sitzen gerade von mir noch Bekannte dort. Du kannst Dir den Tumult leicht vorstellen. Sie hatten es aber bereits erfahren, daß ich hierher kommen würde, weil Freunde aus Freiburg (im Breisgau) ihnen geschrieben hatten. Nun ging es an ein Erzählen neuer und'ein Auftäumen alter Geschich­ ten. Du wirst Dich vielleicht wundern, daß ich mich hier so lange auf-

gehalten habe. Ich bildete mir es auch nicht ein. Indessen find diese Tage wie Pfeile schnell verflogen. Ich kann Dir jetzt wohl sagen, warum ich eigentlich nach Tübingen gehen mußte. Es war nicht bloß wegen dem Genusse, mein Stübchen zu sehen und meine Freunde zu sprechen, sondern verband hiemit auch noch die Absicht zu doktorie­ ren. Eben komme ich vom Buchdrucker der philosophischen Fakultät,

bei dem ich mir den Druck des Diploms bestellt habe1). 4 Tage habe

ich beinahe unausgesetzt an einer philosophischen Abhandlung ge­ arbeitet, gestern reichte ich sie ein und heute habe ich die Versicherung erhalten. Professor Eschenmayer ist Dekan und leitet das Ganze,

bei dem ich auch die notwendigen Schritte in den Formalitäten ge­ tan habe. Ich bin vielleicht der letzte Siebenbürger, der es sich ver­ schafft hat, denn ob weiterhin uns erlaubt sein wird, die österreichische Grenze wegen Studien zu verlassen, weiß ich nicht. Der Anschein scheint nicht dafür zu sprechen2). Je nun, ich heiße jetzt Doktor und was Dir lieber zu hören sein wird, ich bin gesund und habe Dich recht gern und werde mir darin nicht nur gleichbleiben, sondern Dich im­

mer mehr lieben. Sei dessen gewiß und hör auf alle Gerüchte nicht. Betrachte sie vielmehr als Proben, obgleich diese Erdichtungen zu

grob gewoben sind, als daß Deine Augen es nicht bemerkt hätten; es waren für Dich keine Proben, sondern nur Spässe, die Dich be­ lustigen mußten. Du bist ein herrliches Kind, oder wenn Dir das zu jung klingt, so heiße ich Dich ein herrliches Mädchen und wenn Dir das zu kalt klingt, so heiße ich Dich meine herrliche Braut und wenn Du mit diesem Namen noch nicht zufrieden bist, so will ich Dich zu einem Fräulein?! machen. Ich hab Dich gern, Marie, und meine Liebe wächst zu Dir in dem Grade als ich mein Vaterland mehr liebe.

Wir wollen ein tüchtiges Stück zusammenarbeiten. Ich fühle dazu eine Lust in mir, die mir auch, wenn alles bricht, der Lohn in mir sein wird. So lange wir uns lieb haben, schmeckt uns schwarzes Brot gut

und es darf uns nicht bang sein; wenn ich eine Stelle in Deutschland wollte, so würde ich bald eine bekommen. Jetzt denke ich noch nicht i) Das Doktordiplom Roths ist erhalten. 2) S. S. iS, Anm. 2.

daran; kommt Zeit, kommt Rat; ich will juerst hören, was der Vater sagt. Geht es dort nicht, so läßt sich darüber ein Mehreres sprechen. In FreiburgJ) hatte ich einige glückliche Tage mit meinen Freun­

den, die aus Tübingen hierher gekommen sind. Ich traf hier einen gewissen Holzmann, der sich zu einem Prof. Juris bildet, einen Baron

von Blittersdorf, einen Varotti. Diese kannte ich schon alle. Aus

Hostvyl aber hatte ich eine Empfehlung an einen gewissen Vogt aus Sachsen, dessen ganzes Wesen mir sehr wohl zusagte. Ich war in einer besonderen Stimmung, ich hätte allen Feinden verzeihen, die

ganze Welt umarmen können. Im Wirtshaus „Zum goldenen Kopf" lernte ich den Erbprinzen von Hechingen-Hohenzollern kennen. Die

ganze Zeit hin, daß ich dort war, kamen wir immer zusammen. Wäre er nur nicht so weit, an ihm hätte ich einen warmen Beschützer. Unsere Gespräche waren immer gewürzt von interessanten Erörte­

rungen und der Graf von Kayenek schlug in der Wärme, worin wir geraten waren, grade vor, man sollte eine Petition von Seite der Universität an den Großherzog richten, um mich als Professor dort

zu behalten. Noch kann ich nicht eines gewissen Urand vergessen, der

mir zum Andenken einen goldenen Ring schenkte. In beständig schlechtem Wetter kam ich nach Straßburg, wo die

Zollbeamten den Fuhrmann, mit dem ich wegen dem Regen einige

Stunden fuhr, mehrere Stunden aufhielten, was mir eben nicht

angenehm sein konnte. In Straßburg habe ich wenig Vergnügen ge­

habt. Der französelnde Zug konnte mir nicht gefallen, auch brachte

ich ein wenig Vorurteil mit, was fteilich nicht recht ist, aber einen in der Fremde bei einer gewissen Würde erhält. Hier ist wohl das Merk­

würdigste der Münster. Ich bestieg ihn, so hoch als man jetzt nur kann, da ein Blitz gerade bei der Spitze einiges verdorben haben soll. Man hält daher den Dachstuhl aus Besorgnis vor einem Unglück ver­

schlossen. Die Aussicht ist schön, aber der große Gedanke freute mich doch mehr, der ihn erstehen ließ. Der Mensch wird groß sein, wenn er groß denkt und über die Ameisenhaufen der Welt hinweg sieht, und wird

klein sein, selbst wenn ihn das Glück so hoch als eine Turmspitze stellt, i) Freiburg im Breisgau.

Morgen gehe ich von hier fort und werde mich über 8 Tage in Ulm einschiffen. Da ich nun diese Arbeit in Tübingen ju Ende ge­ bracht habe, so sollst Du Dich wegen Briefen nicht mehr beklagen können. Ich bedauere Deine Schwester sehr, daß sie so oft umsonst

auf die Post gegangen sein wird. Ich lasse sie herzlich grüßen und küssen. Aber richte es auch aus. Merke Dir also: Du sollst sie — herzlich — grüßen und — küssen —. Roth. (Aus dem Briefbuch.) An Herrn Professor Eschenmayer!

Tübingen, den 2. Juli 1820.

Nur schüchtern schreibe ich dies. Wenn mir nicht mein Herz das Zeugnis gäbe, daß es aus Liebe geschähe, so würde ich mich fürchten zudringlich gehalten zu werden und die Hand anstatt des Fingers zu nehmen. Ich bin so frei, um Ihnen, Herr Professor, diese Blei­

feder als ein Andenken von mir zu übersenden. Ich habe sie von meiner Braut bekommen. Nehmen Sie es nicht ungütig auf, daß ich mir diese Vertraulichkeit erlaube und glauben Sie mir, daß ich zwar jetzt weggehe, daß ich aber mit Ernst an dem philosophisch-reli­ giösen Leben, das Sie mir angezündet haben, wie ein munterer Win­ zer arbeiten werde. In vollkommener Achtung habe ich die Ehre mich

Ihnen und der Fr. Professorin in ein fteundschaftliches Andenken zu empfehlen. St. L. Roth Theolog aus Mediasch im sächsische« AnteUe des Großfürstentums Siebenbürgen. (Aus dem Briefbuch.)

Tübingen, den 3. Juli 1820.

Liebe Eltern! Morgen gehe ich von Tübingen fort. Seit dem-------bin ich hier. Ich habe in dieser Zeit manche Erinnerung aufgeftischt,

an der ich mich in kalter Zeit wärmen kann. Nur wenige, die ich kannte, fand ich noch hier. Alles geht auseinander; hieher, dorthin.

Man trifft in den Straßen nur fremde Gesichter und zu den Fenstern herunter sieht kein Auge, das uns kennt. Schulmeister Vollmer, mein Hauswirt, ist gestorben, Frau Hollandin ist begraben, Frau Weißlandin ist zur Ruhe gegangen. Sollte ich erst nach etlichen Jah-

270

D i e Heimkehr

rett nach Tübingen kommen, so wäre [kty] ein völliger Fremder. —

So wird es mir in mancher Rücksicht mit Hermannstadt, mit Me-diasch gehen. Einige werden gestorben, einige weggekommen, viele sich verändert haben. Wie verschieden aber bildet sich das Herz aus in etlichen Jahren! Man traf sich einst in jedem Gedanken, nun ist die Denkungsart ganj verschieden, man stand sich nah durchs Ge­ fühl, nun trennt und sondert grade dies. Liebe Eltern! Ein vieljäh­ riger Aufenthalt im Auslande kann einem die Fremde heimisch und die Heimat fremde machen. Ich liebe aber mein Vaterland mehr als ich es geliebt habe. Mein Her; ist größer geworden. Darum, Vater, kann eine Sinnesänderung, eine verschiedene Ausbildung des Ge­ mütes, eine verschiedene Richtung des Willens der Einzelnen, nur wenig auf mich vermögen; wie mich auch der Gedanke an diese Verschiedenheit anfröstelt, so soll er mir denn doch in psychologischer Hinsicht sehr wichtig werden. Es fragt sich, ob ich mir aus der ent­ wickelten Knospe nicht die eingehüllte Aster erklären kann. So sah ich auch hier in Tübingen manchen an: er hat sich anders ausgebildet, als ich es vermutet hätte. Manche Hoffnung ist zugrunde gegangen, mancher Wunsch erfüllt, manche Erwartung übertroffen worden. In meinen Freunden habe ich mich nicht geirrt. Das waren, sind und werden brave Leute bleiben. Die Professoren haben ihre Gesinnung gegen mich ganz erhalten. Mit Eschenmayer und Sigwart bin ich am meisten umgegangen. Bengel und Gmelin behandelten mich mit Achtung. Viele Zeit habe ich in meinem Zimmer zugebracht. Mit dem Willen, in Tübingen zu doktorieren und zu magisirieren, ging ich schon von Jferten fort; verheimlichte es Euch aber bisher, um Euch zu überraschen. Am liebsten hätte ich Thesen angegriffen und ver­ teidigt, so aber lief es mit einem Examen philosophicum und einer von mir verfertigten Abhandlung über das Wesen des Staates als

Erziehungsanstalt für unsere Bestimmung ab. Diese Arbeit mußte ich hier machen und habe damit 5 volle Tage zugebracht. Ich stand ftüh auf und arbeitete bis spät in die Nacht, sonst hätte ich längere

Zeit gebraucht. Eschenmayer ist jetzt Dekan der philosophischen Fakultät und gab mir als ein Erinnerungsmal an unser häufiges philosophisches

Gespräch sein neu erschienenes Normalrecht, worin ich mit ihm, wie er

mir sagte, ziemlich einerlei Meinung sein soll. Er hat mir sehr schön eingeschrieben. Sein Werk aber habe ich noch nicht gelesen. Ich habe bei ihm auch manchmal gegessen und er läßt sich Euch empfehlen.

Schon gestern wollte ich fortreisen — aber meine Freunde beweg­ ten mich, noch gestern zu bleiben; nun sollte ich also heute früh Weg­ gehen, — aber nun schlugen sie vor, mir einen Commers abzuhalten und ohne grob zu sein, konnte ich es nicht ausschlagen.

St. L. Roth.

Der im folgenden wiedergegebene, dem Briefbuch 1819—21 ent­ nommene Entwurf der D 0 k t 0 r a r b e i t St. L. Roths gibt nur eine annähernde Vorstellung davon, in welcher Art er das ihm von Prof. Eschenmayer gestellte Thema über dasWesendesStaat e s in der kurzen Frist von einigen Tagen bearbeitete. Die Reinschrift, d. h. also die endgültige Fassung -er Arbeit, die Roth der Philosophi­ schen Fakultät einreichte, ist in Tübingen, so unglaublich es klingen mag, verlorengegangen. Da die dortige Universttät bis heute noch in verschie­ denen Gebäuden in der Stadt verstreut untergebracht und im Laufe des letzten Jahrhunderts ihre Philosophische Fakultät des öftern «mgezogen ist, sind Doktordissertationen aus der Zeit vor 1850 überhaupt nicht er­ halten. Trotz meiner persönlichen Vorsprache und anerkennenswerten Bemühens der Behörden war die Schrift nicht auffindbar und muß wohl als endgültig verloren angesehen werden. Ihre Idee und ihr Gedankengang geht aus dem Entwurf des Brief­ buchs immerhin klar hervor. Der Pestalozzische Einfluß (Gründung des Staates auf Liebe und Familienleben) ist unverkennbar. Ebenso die zwischen den Zeilen überall hervorbrechende Abneigung des Verfassers gegen überzentralifierte Polizeistaaten, wie es damals z. B. das Metternichsche Oesterreich war. Stilistisch trägt die Fassung alle Anzeichen eines ersten Entwurfes an sich, vor allem verrät stch darin die Hast des jugend­ lichen Schreibers. „Mit dem Willen, in Tübingen zu doktorieren und magistrieren, ging ich schon von Jferten fort" heißt es im Brief vom 3. Juli 1820 an die Eltern. Keineswegs aber hatte er eine schriftliche Arbeit für diesen Zweck schon vorbereitet. Denn: „Am liebsten hätte ich Thesen ange­ griffen und verteidigt" (ebendort). Aus der ganzen Art, wie Prof.

Eschenmayer diese Doktorangelegenheit seines ehemaligen Schülers befördert hat, läßt sich erkennen, wie wohlgesinnt er ihm gewesen sein muß: Am 22. Juni traf Roth in Tübingen ein. Am 26. begann er — ver­ mutlich nach den „häufigen philosophischen Gesprächen" mit seinem freundlichen Förderer — mit der Niederschrift des Entwurfes, der in drei Tagen, wie aus den Datierungen des Textes hervorgeht, ju Papier gebracht wurde. („Ich stand frühe auf und arbeitete bis spät in die Nacht"). Am vierten Tag mag die Reinschrift hergesiellt worden sein. Am 30. Juni wurde sie eingereicht. Am 1. Juli erhielt er die „Versiche­ rung", (wohl dessen, daß sie von Eschenmayer als Doktorarbeit ange­ nommen worden sei), ging zum Buchdrucker und bestellte sich den Druck des Diploms. Im Diplom heißt es, daß ihn im Namen König Wilhelms von Württemberg der Dekan der Philosophischen Fakultät der Universi­ tät Tübingen post oblatum eruditionis specimen philosophiae doc-

torem et artium liberalium magistrum legitime creat. Es trägt die

Unterschrift Eschenmayers als Dekan und das Datum vom 4. Juli 1820. Am selben Tag verließ Roth die Stadt. Er hatte ein akademisches Husaren­ stückchen geritten.

Die wahre Absicht, die Roth mit dem damals unter Siebenbürgern seltenen Doktorhut verfolgte, mag hauptsächlich die gewesen sein, im reaktionären Wien, von wo aus der Besuch der deutschen Hochschulen verboten worden war, nicht mehr als Student angesehen zu werden. (Siehe den Brief vom 17. August 1820 an die Eltern.) Er hatte ja schon seit Jferten, wie wir wissen, seine eigenen Pläne mit der Wiener Regierung. Er wollte mit ihrer Erlaubnis und wenn möglich Unterstützung eine Lehrerbildungsanstalt in Siebenbürgen nach Pestalozzischen Grundsätzen errichten. Mit einem Studenten ohne weitere Qualifikation, sagte er sich, und käme er geradeswegs von Pestalozzi, würde man nicht verhandeln. Außerdem mag er sich gegen den zu erwartenden Vorwurf der heimat­ lichen Prüfungsbehörden: er habe mehr als die Hälfte seiner Studienzeit nicht auf Universitäten zugebracht, mit dem Beweis irgendeiner akademi­ schen Leistung haben schützen wollen. Und für sein Auftreten überhaupt in der Heimat, auf das er sich innerlich dauernd vorbereitete, schien es nicht gleichgültig zu sein, ob er als Doktor der Philosophie und Magister der freien Künste oder als Student in die Arena der sächsischen Oeffentlichkeit trat.

Das Wesen des Staates als eine Erziehungsanstalt für die Bestimmung

des Menschen

von

Stephan Ludwig Roth

Tübingen (Montag 5 Uhr), den 26. Juni 1820.

habe sonst keinen Beruf, über Staaten zu sprechen und ein X^UcteU zu fällen, als den ich mir selber gebe. Aber mich forderte die Zeit auf, über dieselben nachjudenken und ich tat dies umso un­ befangener, da allen muß am Herjen liegen, über diesen wichtigen Gegenstand mit uns ins Reine zu kommen, zumal, da die neueren

Ereignisse so mannigfaltigen Stoff zum Nachdenken darbieten. Die verschiedenen Meinungen aber, die sich so verzweifelt entgegenstehen, nötigen uns selbständig zu Werke zu gehen und weder links noch rechts etwas anzunehmen, von dem wir uns nicht selber Rechen­ schaft geben können. Die Stimmen sind so geteilt wie beinahe nie; und das Interesse setzt so verschiedene Meinungen in Umlauf, daß es mir oft vorkommt, als müsse man eine Goldwage und einen Probierstein immer bei sich haben, um nicht hintergangen zu wer­

den. Wenn es auch wahr ist, was Weise und Narren über unsere Lage sprechen, so scheint mir dennoch im allgemeinen darin ein Feh­ ler begangen zu werden, daß man nicht auf die Grundlage oder das Wesen des Staates zurückgeht. Wenn es mir erlaubt ist, meine Mei­ nung über sie zu geben, so besteht die darin, daß beide nur bei der Erscheinung des Uebels stehen bleiben, ohne nach der Quelle zu ftagen, von wo aus unser politisches Dasein versumpft. Der sich aber diesen Weg einschlägt, ist unzähligen Irrtümern ausgesetzt.

Zwar hört man nicht selten Aeußerungen, die auf den Grund zurück­ führen sollten, aber meistenteils doch handelt es sich um die Uebel, die den Sprecher selber oder seine nächste Umgebung drücken. Wenn es gut ist, so betrifft es die Quellen der pol. Uebel im Vaterlande, 18*

276

Das Wesen des Staates

oder wenn es hoch kommt, die Uebel in allen deutschen Landen. Bei der Beurteilung dieser einzelnen Erscheinungen läuft man aber im­ mer Gefahr, Fehler zu begehen. Ich will daher nicht ins einzelne ge­ hen, nicht so sehr aus Vorsicht als aus Unkenntnis derselben. Auch isi mir viel wichtiger von allen einzelnen Staaten abzusehen und

rein für uns einen Staat zu konstruieren, so wie er in der mensch­ lichen Vernunft selbst lebt. Die Quellen alsdann, die sich über unser

politisches Dasein ergießen und alles versumpfen, werden sich dann finden lassen — auch die Mittel ihrer Austrocknung. § i. Ich will niemandem unrecht tun, aber unsere Schriftsteller über den Staat stellen nicht so sehr Vor- und Musterbilder des Staats auf, als vielmehr ein Abbild der vorhandenen Staaten. Was sie hier und dort Gutes finden, stellen fie zusammen mit Fleiß und Ernst — aber wenn das Ganze fertig ist, so ist es höchstens eine verklärte Darstellung des bereits Vorhandenen. Das sieht

man zu deutlich. Je nachdem der Verfasser in einem Lande lebt, wird sein Staat eine Republik, eine Monarchie oder eine Vertrags­

regierung, und da dieses nur Formen sind, die wieder ein Wesen voraussetzen, so wird damit nur soviel bewiesen, daß es bei einer Untersuchung solcher Art nicht so sehr darauf ankomme, das Jetzt-

vorhandene zu rechtfertigen, als dem Vorhandenen ein Ziel zu stecken, nach dem es zu laufen, und einen Preis zu setzen, nachdem es zu ringen habe... Was die Formen der Regierung anbelangt, so sind sie sehr wich­ tig — aber alles beruht nicht in ihnen. Es scheint aber, als hoffe man

in neuerer Zeit das ganze Heil von ihnen und vielleicht ist die Furcht nicht ganz unbegründet, daß man über dem Bau — den Zweck des Gebäudes vergessen werde. Dieweil es immer das Höchste sein wird,

daß in diesem Gebäude ein guter Geist wohne und daß ohne diesen alle diese Bemühungen nur Werke hervorbringen werden, die über­ tünchte Gräber sind und inwendig voll von modernden Knochen. Von den Formen der Regierung kann ich daher nicht sprechen, da ich mir vorgenommen habe vom Wesen des Staates, von der Unterlage selber, vom Geist, der sie erzeugt, zu reden.

§ 2. Alle bisherigen Meinungen über den Staat lassen sich auf

drei zurückführen. Einige lassen ihn entstehen aus dem Uebergewicht des einen und der Schwäche des anderen d. h. aus dem Prinzipe der Macht; andere nehmen einen gewissen Vertrag an, wo man sich gegenseitig Rechte zugestanden und Pflichten auferlegt und angenommen habe; endlich lassen die anderen die Staaten ge­

schichtlich entstehen und zeigen wie es gekommen, daß sie so und nicht anders seien. Man sieht hieraus deutlich, daß diese drei im Grunde alle auf Geschichte sich stützen und einen gewissen Gang in der Bildung der Staaten annehmen. Diejenigen, die die Macht als Prinzip aufstellen, denken sich den Vorgang, wie er vermutlich ge­ schehen sei und geschehen würde, wenn man auch noch jetzt mehrere Individuen an einen Ort aussetzen würde, wo noch kein Herkommen und kein Gesetzbuch wäre. Die, welche einen Vertrag annehmen und aus diesem ein Rechtsverhältnis herleiten, sind späteren Ursprungs

und konnten auch nur dann eigentlich auftreten, als sich aus dem Prinzipe der Macht Grundsätze herleiten ließen, die gegen ihre Ueber­ zeugungen waren. Die endlich, welche den Staat in geschichtlichen Nachforschungen aufsuchen, leben größtenteils in der jetzigen Zeit, wo eben ein Verhältnis zwischen Volk und Regierung festgesetzt werden soll. Es ist höchst wahrscheinlich, daß sie aus dem Hinblick in die Vergangenheit nur eine wehmütige Vergleichung mit der Ge­

genwart anstellen konnten; daß sie dort ein glücklicheres Volk, einen ruhigeren besseren Zustand fanden, mithin in der Geschichte ihren idealen Staat finden. Ueber diese drei Rubriken werden sich alle Ansichten vom Staate, oder wie es auch anders heißt Naturrecht, aufteilen lassen. Es sei mir erlaubt, diese drei Meinungen durchzugehen und sie zu betrach­

ten, woraus sich ergeben wird, daß in diesen das Wesen des Staates nicht beruhen könne, sondern daß es in etwas Höherem, nämlich im Familienleben aufzusuchen sei. 1. Macht: Ach, Streit ist immer auf Erden gewesen, die Stärke aber ist nicht

immer dem Gerechten zur Seite gestanden. Wenn es daher einen

Kopf gegolten hat, war denn der Sieg immer auf der Seite dessen, der Recht gehabt? — Der Unterworfene wurde meistenteils Sklave

und mußte seine Freiheit dem Sieger als Preis überlassen. Hier in diesem Falle ist kein rechtliches Verhältnis möglich. Denn zur Gül­ tigkeit eines Rechtsverhältnisses gehört vor allen Dingen die freie Wahl bei den Interessenten, ein Verhältnis eingehen zu können oder nicht. Einer vermag alles, der andere nichts. Mit der geschwungenen Keule über dem Kopfe lassen sich wohl Gesetze diktieren, aber es ent­ steht dann die Frage, sind es gerechte? Der Mensch spricht seiner Natur nach den Besitz alles dessen an, was ihm in die Augen fällt... Die Macht will da schneiden, wo sie nicht gepflügt hat, will da ernten, wo sie nicht gesäet hat. Der Mensch ist ein wunderbares Tier! Entwickelt sich einmal in ihm die Fceßgierde des Wolfes, so steht dieser gleich die List des Fuchses zu Gebote. Hat er dort im Kampfe Leben an Leben gesetzt, so stellt er sich nun wie ein Straßen­ räuber in den Hinterhalt. Immer mag der Kampf um das köstliche Gut der Freiheit furchtbar sein, aber die tierische Herrschsucht stellt auf seinen Wegen Netze und seinen Füßen gräbt sie Fallen. Was der Stärke Widerstand leistet, verwickelt sich in die Netze, und wer diesen entrinnt, fällt in die Gruben. Man hat in neuerer Zeit gesucht den Staat zum Selbstzweck zu machen: Es sind Anstalten mancherlei Art getroffen worden, um ihn für sich selbst so auszubilden als nur möglich. Der Staat ist aber nicht Selbstzweck und darf es nie sein, und hier gleich ist ein wichtiger Standpunkt in der Ansicht des Staa­ tes, der für seine ganze übrige Organisation entsprechenden Einfluß hat. Dies ist gewissermaßen der Kreuzweg, wo sich zuerst die Ansich­ ten über das Wesen des Staates scheiden. Es ftägt sich: ist er Mittel oder Zweck? Er ist Mittel für ein Höheres und verkehrt sich und sein Wesen, wenn er etwas anderes will. Man glaube nicht, daß diese Einteilung nur wichtig auf dem Pa­ pier sei und weiters nicht viel bedeute in der Anwendung. Betrachte ich ihn als Selbstzweck, so kann er sich Sachen zu Schulden kommen

lassen, vor denen ein menschliches Herz zurückschandert. Wird der Staat als Mittel betrachtet und die Moralität als Zweck, so darf das Mittel nie gegen diesen Zweck handeln, der Staat muß eine moralische Anstalt sein. Es ist der Staat nicht mehr bloße Gesell­ schaft von Menschen jur gegenseitigen Sicherung ihres Rechtsver­ hältnisses untereinander. Dies ist seine bloß negative Seite, nämlich: das kein Unrecht geschehe. Es ist dies die Ausrottung des Unkrauts, das sonst den guten Samen erstickt. 3n seinen Charakter gehört noch notwendig das Positive, die Pflegung des Guten. Denn dazu sind wir auf Erden berufen, daß wir ein gottgefälliges Leben leben in der Hoffnung einer künftigen Seligkeit. Der Staat ist nur die große Schule dazu ... Aber wie tritt dieses bei den Plusmachern') in den Hintergrund zurück! Sie suchen das Leben eines Staates in der Zirkulation des Geldes und bedienen sich aller Mittel dies zustande zu bringen. Weil der Mensch, der viele Bedürfnisse hat, auch viel arbeiten muß, um sie zu beftiedigen, so sehen sie es gerne, wenn der LuMs wie ein Sttom sich durchs Land ergießt. Freilich erwachen daraus Kräfte, die sonst immer geschlafen hätten: aber es ist dies das Tier im Menschen, zu dessen tierischer Beftiedigung der Engel im Menschen seine Hände rühren muß wie ein Sklave. Es ist dies eine Arbeitsamkeit, die im Himmel keinen Lohn findet, denn ihr Lohn ist dahin. Geld wird er­ worben; aber in der Begünstigung der Ansprüche unserer tierischen Natur sterben unzählige Tugenden dahin, die unter einer günstigeren Pflegung gediehen wären. Sprächen wir es nur einmal frei heraus, daß kein unmoralisches Mittel zur Hebung und Beschleunigung der Staatsmaschine ge­ braucht werden dürfte, weil dies gegen den Zweck selber gehandelt wäre, wie anders würde sich das Ganze gestalten! Dazu wird es wohl kommen, aber der Gang hiezu ist schon eine Vervollkomm­ nung und so wie aus dem Geiste eines Staates Segen aller Art entspringen kann, so kann auch Unheil aller Art durch ihn entstehn. i) Ausbeutern.

Weil aber in Christus uns das Höchste erschienen ist und er unter

uns gewandelt hat zum Beweise, wessen der Mensch fähig sei und was er solle auf Erden, so wird zugleich diese Erziehungsanstalt desto

vollkommener sein, je mehr sie eine christliche wird. Den 27. Juni 1820.

Nur die Macht, die ihrer eigenen Sache das Wort redet, kann diese als Prinzip des Staates aufstellen. Denn in der Idee eines Ver­ trages liegt kein Widerspruch, vielmehr die Möglichkeit ein recht­ liches Verhältnis dadurch herbeizuführen. Ein gemeinschaftlicher

Feind trieb die Bedrohten zu einem Bündnis. Die gemeinsame Sache entstand aus Furcht des Einzelnen, als Einzelner überwunden zu werden, und aus dem Vertrauen, welches er auf den Widerstand vieler vereinigter Kräfte setzte. So bildete sich unter denen, welche sich vereinigten, ein Schutz- und Trutzbündnis. Nun sind da nur zwei Fälle möglich. Entweder sie siegten oder unterlagen. Im Falle, daß sie überwunden wurden, so erlitten sie von der Uebermacht Ge­ walt. Denn die Macht schrieb wieder das Gesetz den Schwächer» vor. Waren sie Sieger, so übten sie am Ueberwundenen wieder das Recht der Stärkern aus. Auf jeden Fall käme man damit wieder auf das Prinzip der Macht zurück. Da durch jeden Vertrag Pflichten über­ nommen werden müssen, so mag wohl das freie Kind der Natur keine

Bedingungen eingegangen sein, die es beengen könnten, außer von außen müßte der Mensch angetrieben werden, um diese eingehen zu wollen. Wie sollte nun dieses geschehen, wenn keine Veranlassung dazu von außen war. Sollte wohl bis zu einem förmlichen Vertrage unter den ersten Menschen kein rechtliches Verhältnis stattgefunden haben? (Können Menschen auch nur einen Scheffel Salz mitein­ ander essen, ohne über das Mein und Dein gesprochen zu haben, ohne etwas festzusetzen, was in der Zukunft als ausgemacht angesehen

werden müßte ?)... Es sollte ein Tempel zur Ehre einer Gottheit ge­ baut werden. Einer vermochte es nicht allein; er rief die Glaubens­ verwandten zu Hülfe, damit durch gemeinschaftliche Unterstützung der allgemeine Zweck erreicht werden könnte. Dies mag wohl später der

Fall gewesen sein; sollte aber bis dahin noch keine Gesellschaft be­ standen haben? — Setzt nicht schon dieser Willen, einen solchen Ban

vorzunehmen, bürgerliche Verhältnisse voraus?... Endlich muß in Erwägung gezogen werden, daß in dem Vertrage keine Garantie da­ für ist, daß durch den Vertrag das wahre Maß des Rechts ausge­

teilt werde. Bei der Macht konnte es darum nicht geschehen, weil da die Einwilligung durch Gewalt erzwungen wurde, oder eigentlich

keine freie Wahl siattfand. Gibt nun der Vertrag ein unumstößliches Gesetz, so könnte vors erste gegen den Zweck des Staates oder der menschlichen Bestimmung auf Erden Pflichten übernommen und Rechte erhalten werden; vors zweite liefe------------------------------------*) Es ist noch übrig die dritte Meinung über die Entstehung eines Staates und über die Ansichten, die dem Staat zum Grunde liegen. Familienleben. 1. Der geschichtlich wahrscheinlichste. 2. Der beste Typ für den Staat als Mittel: Erziehung. 3. So entstand der Staat aus Liebe, zur Basis ist daher Liebe und nicht Recht. In der persönlichen Ausbildung des Einzelnen liegt die Aufgabe

für den ganzen Staat.

Zweierlei Arten Regierung stellen sich von jeher in der Geschichte

dem Beobachter dar. Sie sind noch immer vorhanden und die Ideen dieser beiden sind in beständigem Kampfe. Auch der Einzelne stellt im Staat eine Maschine vor, die auf eine künstliche Weise zu­ sammengesetzt ist. Aemter türmen sich auf Aemter; die Geschäfte sind abgerundet und der Weg vorgeschrieben. Je bestimmter und ge­ nauer das Tun und Lassen eines jeden bezeichnet ist, je sicherer ist der Gang. Wie ein Rad in das andere greift und den Gang des Ganzen befördert, so befördert hier der Gang des Einen den Gang der Anderen. Es bedarf nur eines Druckes, damit von oben her­ unter in alle Glieder Bewegung und Tätigkeit komme. Wie aber die­ ser Druck aufhört, so hört auch die Tätigkeit und die Bewegung auf.

Ohnstreitig ist d e r Staat als Staat am vollkommensten, der die 1) Manche Stellen dieses Entwurfs find unausgeführt.

282

Das Wesen des Staates

Kraft des Einzelnen immer zum Dienste des Ganzen braucht. Stö­ rungen können nur äußerst selten vorkommen, denn nichts lebt aus ftch selber, sondern erwartet erst einen Stoß von außen, der es in Be­

wegung setze. Es mag wohl sein, daß dieser Staat seinen Gang gehe, daß er bloß als Staat betrachtet große Vorzüge habe; aber in diesem Staate hört der Mensch als Mensch auf, und seine Bildung und

die Uebung, Entfaltung und Anwendung seiner Kräfte erstreckt sich bloß auf die eine Seite des Bürgers. Sein Anteil am Staate soll ihm ja bloß ein Mittel sein zu seiner Ausbildung als Mensch. Zur Fortschaffung des Staatsschiffes soll er zwar allerdings rudern hel­ fen nach Maßgabe seiner Kräfte — aber seine ganze geistige und kör­ perliche Kraft soll nicht ganz zur Ruderkraft werden. Meine Aus­ bildung als Bürger ist gewissermaßen nur eine Auslage zur Ver­ wendung für den Schutz meiner geistigen und körperlichen Freiheit und Unabhängigkeit... Der Schulze... zuckt darüber die Achseln und meint das Dorf wäre wegen der Gerichtsstube da, und sieht den mit­ leidig an, der ihm sagt, daß die Gerichtsstube wegen dem Dorfe da sei. Dieses ist der eigentliche Philistergeist, Philistersinn und die Phi­ listertugend. Dieser Philistergeist möchte jedem einen Kreis abstecken, worin er gehen müßte und außer den er seine Füße nicht tragen dürste; dieser Philistergeist möchte jedem einen Horizont ab messen, Lis wohin er sehen und nicht sehen dürfte, dieser Philistergeist möchte jedes Menschen Kraft nur soweit ausbilden, als man damit ziehen oder schlagen oder tragen könne. Für diesen ist beim Schmiede die Hammerkraft mehr als der Arm und der Schmied, der den Hammer schwingt; für diesen ist die Schreibfertigkeit des Sekretärs mehr wert als die Hand und der Schreiber, der die Feder führt; dieser wird die Pinselkraft des Malers höher halten als den Maler und in seinen

Augen ist die Hobelfertigkeit mehr wert als der, der die Fertigkeit des Hobelns besitzt.. Darum will dieser Füße und nicht Gänger, Hände und nicht Arbeiter, Bürger und nicht Menschen...

Der Spielraum, der der Entwicklung der Kräfte im Menschen ge­ widmet ist, ist ziemlich eng. So verwächst sich eine Anlage und die übrigen verkrüppeln oder bleiben als Keime unentwickelt stehen. Die

Kräfte, die Gott m uns gelegt hat, bedürfen aber alle einer Aus­ bildung, und je vollkommner und harmonischer diese sich ausbilden, je vollkommner ist der Mensch, dessen eine Seite nur zum Dienste des Staates vorhanden ist. Er gehört sich sonst ganz. Aber diejenigen, die den Staat allein im Auge haben, vergessen dieses oder fürchten es. Sie wollen nicht, daß Ackerleute und Handwerker Menschen seien, sondern daß die Menschen nur Ackerleute und Handwerker seien. Sie fordern daher, daß alle geistige Bildung sich nach der bürgerlichen Stellung richte. Jeder soll nur wissen, was seines Amtes ist. Der Bauer, sagen sie, braucht nicht mehr Verstand, als daß er wisse, sein

Feld wohl zu bestellen, der Schreiber darf nicht weiter sehen, als was seine Augen in der Schreibstube erblicken könnten. Darum sind ja

aufgestellt die verschiedenen Aemter, Ehrenstellen und Lehrfächer, damit niemand sich um das Seinige zu bekümmern habe, und jeder nur soviel Anstrengung brauche, um seine Stelle auszuüben.

Der vorige § handelte von dem Geiste eines Staates. Es wurde darin untersucht, welcher Art er sein müßte, wenn der Staat zur Menschenbildung beitragen sollte, damit das Ziel unserer endlichen Bestimmung erreicht würde. Nur mit wenigen Worten wollen wir noch die innere Beschaffenheit oder die Verfassung desselben an­

deuten und ein flüchtiges Bild entwerfen, wie es aus der Verglei­ chung zweier hier gegenüberstehenden Prinzipe sich eigentlich selbst darstellt. Von jeher wurden zwei sich entgegengesetzte Prinzipe in dem Staate geltend gemacht. Eins schließt das andere aus und wo das eine ist, kann das andere nicht sein und nicht bleiben. So wie

sie von jeher vorhanden waren und in beständigem Kampfe be­

griffen, so dauert dieser Streit auch noch heutzutage immer fort. Nur sind nie die Gegensätze so scharf sich entgegengestellt und so

bestimmt ausgesprochen worden. Nach der einen Idee sucht man den Staat so einzurichten, daß das Ganze eine vollkommene Maschine bildet. Regelmäßigkeit und Leich­ tigkeit in der Behandlung schweben denjenigen, die diesen Grund­ satz haben, vor Augen. Es wird nach dieser Ansicht ein künstliches Gerüste in der ganzen Verwaltung erbaut, wo ein Amt sich auf das

andere stützt, alle aber von einem Punkte abhangen, der sie alle in Bewegung setzt. Diesem nach sind die Geschäfte ganz abgerundet und genau eingeteilt; der Weg jedes Geschäftsganges vor gezeichnet. Je

bestimmter und schärfer das Tun und Lassen eines jeden Jndividu-ums, das zum Staate gehört, abgemessen und vorgeschrieben ist, je mehr verspricht sich diese Ansicht von der regelmäßigen Bewegung

dieses Werkes. Wie in einem Uhrwerk ein Rad ins andere greift und den Gang des anderen bestimmt und regelt, so soll auch hier die Tätigkeit des einen die Tätigkeit des anderen bestimmen und zügeln. Aus einem einzigen Punkte geht der Trieb des Ganzen aus und wie in der Uhr die Kraft der Feder den Gang der Räder bedingt, so soll also im Staate die Regierung des Ganzen sein. Es wird hiermit also im Staatskörper eine gewisse Lethargie angenommen und das Prin­ zip des gesamten Lebens in die Herrschaft gesetzt. Wie also von dort aus ein Druck geschieht, so wird sich das Ganze in Bewegung setzen, und wie dort der Druck nachläßt, so wird alles stillstehen. Dieses Prinzip, das eine Gesellschaft nach dem Muster einer Maschine orga­ nisiert, hat vorzüglich in den geistlichen Orden und im Militär seine höchste Ausbildung erhalten. Dort war es das Gelübde des blinden Gehorsames und hier der Geist der strengsten Subordination. In neuerer Zeit besonders hat sich dieses Prinzip nach einem einzigen Mittelpunkt sehr stark ausgesprochen. Nach diesem soll, wie in einem Gewebe einer Kreuzspinne, keine, keine Erschütterung an der Periphe­ rie vor gehen können, ohne daß nicht dadurch auch im Mittelpunkt

eine Wirkung gespürt und hinwiederum soll jede Bewegung im Mit­ telpunkt in allen einzelnen Teilen gespürt und vernommen werden und Wirkungen hervorbringen. Nach der anderen Ansicht müßte sich der Mittelpunkt auflösen und sich ins Ganze verteilen. Die Regierung wäre hiermit ein regulati­ ves Prinzip (Regierung nicht Herrschaft); die Bewegung aber ginge vom Staatskörper oder vom Volke aus. Dieses Staatsleben wäre in allen Teilen verbreitet, setzte sich selber in Tätigkeit, jedes nach der

Eigentümlichkeit seiner Natur. Selbst bei einer schwachen Regierung wäre hier alles in vollem Gange, wo dort hingegen alles stillestehen

müßte, wenn die Herrschaft nachließe in ihrer Bewegung und in ihrem Trieb. Aber auch der Fall ist denkbar, daß an der Spitze der Regierung falsche Staatsregeln ergriffen würden. Die ganze Bewe­ gung des Staatskörpers würde dadurch auch eine falsche Richtung bekommen. Jedoch ist noch ein Fall denkbar, nämlich wo schlechte Menschen an der Spitze stünden, die nicht zum Wohl des Vaterlandes ihre Stelle benützten, sondern in der Lieblosigkeit des Egoismus nur sich bedächten. Könnten da nicht durch eine gottlose Benutzung der Herrschaftsgewalt dem Volke Wunden geschlagen werden, die nicht mehr zu heilen wären? Auch ist es wahrscheinlicher, daß die Bewe­ gung des Ganzen, sein Einfluß und seine Wirkung, den einzelnen Punkt betätige,als daß ein Punkt die allgemein konstituierte [?] vis inertiaex) überwinde und in Gang bringe. Ueberdies entspränge die ganze Tätigkeit der einzelnen Teile aus ihrer jedesmaligen Indi­ vidualität, und mit nach und nach bildete sich jenes große, herrliche Leben im Volke: die Vaterlandsliebe. Diese kann nur dort wachsen und stark werden, wo das Volk Anteil an der Regierung nimmt, wo jeder Einzelne für das Ganze steht und wo das allgemeine Wohl des Vaterlands zur allgemeinen Sorge, zur allgemeinen Angelegeheit wird. Hier aber ist es, wo ich vom Familienleben sprechen muß und verstanden werden kann.

Donnerstag, den 28. Juni 1820. Der Staat durch die und in der Familie. Ich nehme hier den Faden über Entstehung und Bildung des Staates wieder auf. Ich mußte ihn fallen lassen, weil ich die zwei vor­ hergehenden 88 einschieben mußte. Es kommt viel darauf an, aus welchem Stoffe sich eine Gestalt entfalte. Meistens ist schon in den Verhältnissen und Umständen der Umgebungen der Charakter des Entstandenen im voraus bedungen. Die übrige Entwicklung ist dann nur ein Aufblühen der Knospe, ein Reifen der Frucht, deren Güte oder Schönheit schon in der Knospe eingewickelt ist. Bekommt der Staat seinen Ursprung aus einem Unrecht, wie kann er, in Sünden

1) Hang zur Trägheit.

geboren, dazu dienen, den Uebeln entgegenzuarbeiten? Der gütige Schöpfer ließ den Staat gerade aus der Familie entstehen, was das schönste Verhältnis ist, was unsere Erde aufzählen kann. Das erste Menschenpaar stand durch die Ehe in einem Verhältnis zueinander. Der Mann ohne Liebe übersieht die Welt, und das Wohlgefallen, das er daran hat, ist die Besitznahme von derselben. Bis wohin sein

Auge reicht, ist alles sein. Wegen diesem Recht der Erstgeburt hätte der Mann die Welt mit keinem Manne freiwillig geteilt. Da aber zugleich die Liebe mit dem Weibe in die Welt kam, so teilte er sich in sie willig mit ihr. Aus dieser Liebe entsprang die Teilnahme an Freud und Leid des Gemahles. Hülfsleistung verband sie gegenseitig zur Dankbarkeit, diese machte es zur Pflicht, dem anderen Menschen wie­ der beizustehen. Das Recht aber, Hülfsleistung zu fordern, fand seine Wurzel in dem Vertrauen, aus welchem die erste Hülfsleistung ge­ schah und angenommen wurde. Was dem Mann gefiel, tat das Weib, und was er verlangte, trat sie ihm ab; nur was das Weib bat, wurde vom Manne getan, und was es verlangte, trat er ihr ab. Der dritte Mensch wurde geboren. Vater- und Mutterfriede nahmen ihn auf, und was die Mutter ihm an den Augen ansah, tat sie ihm zu Gefallen. Den Erstgeborenen liebte der Vater wegen der Mutter. Die Pflicht des Gehorsams hat das Kind, und die Liebe machte den Gehorsam erträglich. Noch fehlt ein Verhältnis des Staates in dieser Familie. Denn auf dem ruhet der Staat: auf dem Verhältnis des Höheren zum Nie­ deren und auf dem Verhältnis des Niederen zum Höheren, auf dem Verhältnis des Gleichen zum Gleichen. Eltern, Kinder, Ge­ schwister. Mit der Geburt meiner Geschwister wurde alles hergestellt. Sie alle verband die Liebe. Dies war am Morgen der Schöpfung der Ursprung des Staates. Nicht das Recht, sondern die Liebe baute ihn. Der erste Familien­ vater war auch der erste Gesetzgeber nicht durch die Wahl, sondern durch die Achtung. Aber dieses Gesetz war nicht auf steinernen Tafeln

geschrieben, sondern im Herzen eines jeglichen Menschen. Wie wich­ tig war es für die Menschheit, daß die ersten Menschen so alt wurden.

Denn die Ettern konnten ihre Kinder auserjiehen, und der ehrwür­ dige Ururgroßvater saß mitten in der jüngeren Wett wie ein Orakels dessen Aussprüche für heilig gehalten werden. Die Hitze der Jugend

ist vorüber, das Alter hat die Weisheit gegeben. Ein langes Leben liegt zurück und eine reiche Erfahrung steht ihm zu Gebote. Beinahe in allen Sprachen heißen die Obrigkeiten: Väter, Aelteste, Greise, und selbst bei dem Wilden, der aus Menschenschädeln trinkt und an den Knochen seiner Brüder nagt, ist das weiße Haar heilig und ehr­ würdig. Aber wie finster wird es bald darauf! Es bilden sich große Reiche, wo die verschiedenartigsten Teile nicht das Band des Staates, son­ dern die Ketten der Sklaverei zusammenhalten. Das Herkommen vertrieb der Sieger, denn das verdammte das Unrecht und belegte die Gewalttätigkeit mit Schande. Diese Dynastien dauerten nie lange, und jede Tyrannei trägt in sich den Tod. Ein Reich trat auf und stieß ein anderes um, um wieder umgestoßen zu werden. So­ lange noch das Herkommen und die Kraft der Familien noch was galt, erhielten sie sich; wie dieses verbleichte, ging der Staatskörper gewissermaßen in Fäulnis über und starb. Auf die Macht der Stärkeren wollen wir den Staat nicht bauen, das wäre eine Sünde an der Wahrheit und am Menschenrecht. Unser König, unser Fürst soll ein Vater seines Volkes sein. Jetzt stehen wir noch nicht so zueinander. Eine unglückliche Zeit hat unser Herz abgestumpft und unsere Ohren für die Stimme der Vernunft taub gemacht. Zwischen Volk und Fürst hat sich eine Partei gedrängt,

die uns das Herz des Fürsten entftemdet und ihm Besorgnisse ins Ohr sagt, daß dem Volke nicht zu trauen sei, daß Gewalt ein Recht gebe und der Fürst nicht zum lieben, sondern zum herrschen geboren sei. Wir alle hoffen eine bessere Zukunft und wünschen wenigstens einer späteren Nachwelt das Glück, das unsere Augen nicht mehr sehen werden. Aber ivir wollen dran arbeiten emsig und be­ sonnen, mit Verzichtung für uns. Denn es ist dies ein Werk von langer Zeit.

(Ende der Handschrift.)

(Aus dem Briefbuch.) An Marie Schmid, Jferten. 6. Brief.

Günzburg, den io. Juli 1820.

Liebe Marie! Ich schreibe Dir jetzt vom Schiffe. Wir liege» vor Günzburg. Das Schiff ist angebunden an der Ländex). Die Wellen der Donau plätschern daran. Die Reisenden sind ins Städtchen ge­ gangen. Ich schlafe aber im Schiffe. Gegessen haben wir schon: Suppe und Rindfleisch. Die Schiffsleute halten Rechnung. Nun setze ich mich

nieder, um noch diesen Abend an Dich zu schreiben, an die ich den ganzen Tag gedacht habe. Liebe Marie! Ich konnte es nicht anders machen, als mit Dir mich noch zu unterhalten, ehe ich schlafen gehe. Die Streusäcke liegen schon auf den Bänken herum; wenn nur diese Leute lange genug aufblieben, damit ich Dir noch einiges erzählen könnte. Ich hoffe, daß Du meinen Brief vom 1. Juli erhalten haben wirst und freue mich schon im voraus auf Deine Briefe in Wien.

In Ulm fand ich nichts von Dir, hätte so gern etwas von Dir gehört. Außerdem fand ich auf der Post nur ärgerliche Briefe aus der Schweiz. Ich erhielt die Nachricht, daß mir Steffan nicht zahlen könne und in den traurigsten Umständen fortgegangen sei. Tscheppe^) in Tü­ bingen erzählte mir, daß er wieder in Jferten gewesen sei. Was wollte er, bleibt er da oder ist er fortgegangen? Mein Hausherr aus Frei­ burg hat mich aufgefordert, ihm zu schreiben, was er nun zu tun habe? — Auch erhielt ich aus Basel einen Brief, der mich noch etwas beunruhigt. Du wirst Dich vielleicht noch erinnern, daß ich mir Dir zu Liebe von Piaget in Averdon eine Spieldose kaufen wollte, welche das Tirolerlied: Wenn ich in der Früh usw. spielte. Auch bestellte ich mir noch eine Repetieruhr für meinen Vater. Aus Freiburg schrieb ich mehreremal, wurde neulich handelseinig und schrieb an Landry, mir diese Sache zu schicken. Da ich wegging und ste noch nicht erhalten hatte, bevollmächtigte ich meine Hausleute in Freiburg, das Päck­ chen zu erheben und mir es nach Ulm zu schicken, wo ich es empfangen

und die Zahlung ä conto zurücksenden würde. Nun meldete mir ein 1) Lände, alter Ausdruck für Landungsbrücke. 2) Tscheppe, Karl, stud. phil. Aus Stockach, immatrikuliert in Tübingen 18. Nov. 1819, Schwabe, früh verstorben.

Brief aus Basel, daß dort ein Päckchen für mich angekommen sei und man mir es nach Ulm geschickt habe. Hier habe ich es nicht erhalten. Nun fragt es sich vors erste: ob dies genannte Päckchen meine Uhr und meine Dose enthielt oder nicht? Dann, warum ich es nicht er­ halten habe, und drittens, wo es jetzt ist? Mir selbst wäre es leicht ge­ wesen, diese Sachen nach Wien hinein ju nehmen, weil jede Privat­ person das Recht hat, zwei Uhren mit hinein ju nehmen. Jetzt aber bin ich in Verlegenheit, wie ich sie nach Wien bekommen werde. Ohnedem ist es noch im Zweifel, ob ich sie überhaupt bekommen

werde. Bezahlen werde ich es vermutlich müssen... Je nun, wenn ich auch das liebe Tirolerlied nicht spielen höre von der Dose, so freue ich mich desto mehr darauf, es von Dir, liebe Marie, zu hören! Indessen will ich ohnerachtet dieses Trostes mir dennoch alle Mühe geben, mich in den Besitz dieser Sachen zu setzen, die ja von Averdon kommen, wo meine Geliebte weilt. In dieser Absicht schreibe ich nächstens nach Dverdon an Landry, wo ich auch Dich will grüßen lassen; bin doch begierig, ob er's Dir ausrichtet: denn unsere Liebe kann ihm beinahe auch kein Geheimnis mehr sein. In Tübingen hielt ich mich noch etwas länger auf, ich ging erst den 4. von dort weg. Meine Freunde gaben mir ein Geleit bis Böb­ lingen. In Nußdorf an der Enz lebt H. Pfarrer Blessings, den ich schon zweimal, wie ich noch in Tübingen war, besucht habe. Dieser übersetzt das Neue Testament, seitdem er seine Anstellung hat. Für sich selbst hat er schon 5 Ausgaben gemacht. Wie er eine fertig hat, fängt er sie wieder an zu verbessern und schreibt sie wieder ins Reine. Seine Tochters liebt ein 2 jähriger Greis aus Siebenbürgen, der Pfarrer von Teckendorf ist und mit meinem Vater in Tübingen stu­ diert hat. Dieser verliebte sich in ihre Mutter, als Friederike schon ein ajähriges Kind war. Seit daß er nach Siebenbürgen ging, haben sie immer korrespondiert. Wie ihre Mutter auf dem Totenbette lag, bat sie die Tochter, den Briefwechsel fortzusetzen und nun ist die Tochter 1) Blessing, Joh. Paul, 1751—1833, seit 1816 Pfarrer von Nußdorf. 2) Friederike, geb. 1786, seit 15. April 1817 verheiratet mit dem Knopffabri­ kanten Speck aus Ludwigsburg. 11 19

und dieser Pfarrer ineinander verliebt und er hat sie förmlich gefreit. Sie hat mir nun ein von ihrem Vater übersetztes Neues Testament gegeben, um es diesem Seyfert ju überbringen. Sie ist 25 Jahre jünger als er. Dieser seltene Fall verdient gewiß den Namen der

platonischen Liebe. Ihr Mann hat immer um den Briefwechsel seiner seligen Frau gewußt, aber nie einen Brief lesen wollen. 3m Fall, daß dieser Herr Seyfert sterben sollte, so fällt mir diese Uebersetzung

anheim. 3n Nußdorf blieb ich bis den 7., wo ich vor Sonnenaufgang von der Familie begleitet fortging. 3n Stuttgart kam ich um 10 Uhr an, nachdem ich 4 Stunden diesen Vormittag zurückgelegt hatte. Von ii—3 war ich in der Gebrüder Boissereeschen Sammlung alt­ deutscher Gemälde. 3ch darf Dir nicht anfangen, eine Beschreibung davon zu machen, sonst kann ich damit nicht fertig werden. Nur soviel muß ich Dir sagen, daß durch diese Gemälde den Deutschen ein neuer Ruf erwächst. Schon war es bekannt, daß die Deutschen zuerst mit Del gemalt haben. Hiedurch aber wird auch historisch dargetan, daß die berühmte italienische Malerei von Deutschen ausgegangen und eine Schülerin sei. Nämlich van Eyck lebte schon 150 Jahre vor Albrecht Dürer und zu dieser Zeit bildete sich erst diese Schule1). Diese deutsche Schule hat es aber auch am weitesten in der Malerei ge­ bracht. Die Gebrüder Boisseree werden einen Katalog nebst einer Geschichte der Deutschen Malerei herausgeben. Ich freue mich sehr

darauf; wenn wir ihn einmal miteinander durchlesen, so will ich Dir dann noch dasjenige erzählen, was mir besonders an diesen Gemäl­ den gefiel. Ehe ich noch von Tübingen fortging, schrieb ich an Eschenmayer einen Abschiedsbrief und legte ihm zum Gegengeschenk Deine mir

geschenkte silberne Schreibfeder bei. Verzeih es mir, Marie. Ich mußte ihm etwas von Wert geben, da er mir sein neu erschienenes Buch: „Normalrecht" mit einer schmeichelhaften Inschrift geschenkt 1) Tatsächlich lebte Hubert van Eyk 1366—1426 Jan van Eyck 1386—1440 Albrecht Dürer 1471—1528 Die Stelle ist nicht recht verständlich.

hatte. Er hat mir nach Ulm ein verbindliches Billet geschrieben und mir dafür gedankt. Von Ulm aus fuhr ich mit einem Gepferde nach Langenau, wo ein Universitätsfreund meines Vaters Pfarrer ist. Morgens den io. kam ich zurück, bestieg das gemietete OrdinarischiffJ) und kam abends in Günzburg an. Hier fing ich gleich an. Dir zu schreiben, bin aber dazu wieder nicht gekommen bis heute, den 14. Juli. Wir sind etliche Stunden von Regensburg entfernt! Ich schicke Dir also diesen Brief an die Stelle des versprochenen Ulmerbriefes und werde von Wien aus gleich wieder schreiben. Unterdessen lebe wohl, liebe Seele, behalte mich lieb, grüße die Schwester. Dr. Roth. Wien, den 21. Juli 1820.

Geliebte Eltern! Den 18. ds. Mts. trat ich um 8 Uhr in Herrn Vetter Meißners Wohnung. Denselben Morgen kam ich von Nuß­ dorff herein. Hier hatten wir den vorigen Abend gelandet. Ich schlief hier im Wirtshause, was ich sonst immer auf dem Schiffe tat. Aus Tübingen ging ich von meinen Freunden begleitet nach Nußdorf, wo ich zwei Tage blieb. Diese Leute behandelten mich, wie immer, sehr fteundschaftlich. Gerne wäre ich länger geblieben. Aber eine Sehnsucht trieb mich nach Wien, die mich nicht länger hier bleiben ließ. Ich bringe eine schön geschriebene Uebersetzung des N. T. an Herrn Pfarrer Seyfert mit. Herrn Pfarrers Blessing Tochter gab mir dieselbe. Bei Gelegenheit könnt Ihr ihm dieses melden. Ich aber will mir das Vergnügen selber geben, sie ihm zu übergeben. Von Nußdorf ging ich nach Stuttgart. Ich ging vor Sonnenaufgang weg und war um io Uhr in Stuttgart. In dem kurz gemessenen Tage, wo ich mich hier aufhielt, sah ich die Gemäldesammlung der Gebrüder Boisserse. Sie enthält bloß altdeutsche Gemälde und ist einzig in ihrer Art. Früher war sie in Heidelberg, hat aber jetzt durch Vergünstigung des Königs von Württemberg ein schönes Lokal in Stuttgart bekom­ men. Es ist das Schönste, was ich je gesehen habe. Vermittels dieser i) Ordinarischiff aus lat. Ordinarius „der Reihe und Ordnung gemäß." Also hier etwa: das regelmäßig verkehrende Schiff.

2Y2

Die Heimkehr

Sammlung läßt sich historisch dartun, daß die italienische Schule eine Schülerin deutscher Kunst sei. Die allgemeine Annahme also,

daß Italien die Wiege der Malerei sei, ist also ungegründet. Von dem weiteren Erfolge dieser Untersuchung verspricht man sich mit Recht sehr viel. Es wäre überhaupt wunderlich gewesen, daß die Deutschen Erfinder der Oelfarbe gewesen wären, ohne zugleich gemalt zu haben. Van Eyck und sein Schüler Heimling lebten 150 Jahre vor Albrecht DürerT). Bei letzterem hat die deutsche Kunst ihr Mannesalter erreicht und schon bei diesem artet die himmlische Kunst in eine irdische aus, die dem Zeitgeist huldigt und der Welt gefallen will. Wir müs­ sen in unserem lieben Vaterlande manche Schätze haben, aber wir gefallen uns gar sehr im neueren und sind nicht selten geneigt, in

allen Dingen einen Fortschritt anzunehmen, wodurch wir berechtigt wären, das Neuere dem Aelteren vorzuziehen. Von Stuttgart fuhr ich mit einem rückgehenden Wagen nach Ulm. In Geislingen schliefen wir. Den anderen Tag bestellte ich mir gleich ein Wägelchen und rutschte damit nach Langenaus, an den ich schon geschrieben hatte. Herr Flaischlen war nicht zu Hause, sondern in Niederstotzingen bei seinem Sohne, der hier als Pfarrer an diesem Sonntage introduziert wurde. Aus Mangel an Zeit konnte ich nicht hinübergehen, denn da den anderen Tag das Schiff nach Wien ab­ ging, so mußte ich schon den nächsten Morgen um 8 Uhr abreisen. Die Reise auf der Donau machte das Schiff in 9 Tagen. Wir hatten immer günstiges Wetter, ausgenommen von Stein bis Nußdorff, wo unsern Lauf ein heftiger Wind aufhielt und uns längere Zeit aufhielt. Im Anfang war ich unzufrieden mit dieser Reise — sie schien mir sehr langweilig — ich söhnte mich aber in der Folge damit aus. Unsere Gesellschaft bestand in der vorderen Kajüte aus einem Herrn von Landsee, mir, einem Substitute, einem Kellner und

2 Frauenzimmern, eins aus Franffurt, das andere aus Stuttgart. Wir unterhielten uns ziemlich gut auf dem Schiffe, obgleich ich es mißmutig bestieg. Einige Briefe aus der Schweiz brachten mir un-1) Siehe 290, Anm. 1. 2) Siehe 290, letzter Absatz.

««genehme Nachrichten. Ein Freund, der mir 44 Schw. Frk. schuldig war, ist voller Schulden aus Freiburg durchgegangen und mir hat man nur soviel geschrieben, daß ich dies Geld nie bekommen würde. Darauf aber hatte ich gejählt und glaubte es sicherlich in Ulm ju finden. Ich kam in Geldverlegenheit, aus der mir aber die Ulmer Schiffsleute halfen. Ich gab ihnen meine Repetieruhr jur Sicher­ heit und erhob von ihnen das notwendige Geld. Hätte ein Lands­ mann L. ihnen ehrlich gezahlt gehabt, so hätte man mir auch ohne Sicherheit auf den Siebenbürger Namen soviel Geld gegeben, als ich gebraucht hätte. Auf der Post fand ich die 10 fl., mußte sie aber nach Tübingen schicken, da ich von dort Geld ausgenommen hatte. Sie waren mir goldene Engel: sie machten mir es möglich, mein gegebenes Wort zu halten. Herr Vetter Meißner hatte die Gefällig­ keit, einiges Geld vorzustrecken, da ich auf der Post nichts von Euch fand. Glücklich bin ich durch die Zensur gekommen, es ist mir kein Buch weggenommen worden. Das Billet ging durch mehr als 8 Hände. Nebst der Verzögerung kommt auch der Einfuhrzoll in Be­ tracht. Das bißchen Gelehrsamkeit, das man im Koffer mitbringt, kommt einem auch noch hoch zu stehen. An einem Träger hatte ich das Glück, daß er mir die Wege zeigte, die ich fahren müßte, um mir mein Geschäft zu erleichtern. Herr Meißner übergab mir den Brief, den mir der Herr Vater an uns beide geschrieben hatte, und dann auch den letzteren, der mich allein anging. Ihr spracht da auch von einem Briefe meines lieben Schwagers, worin ein Auftrag des Hermannstädter Lokalkonsisto­ riums enthalten sein soll. Steht dieser Antrag in Verbindung mit meinem Plane ? Ich bin sehr begierig darauf. Da ich aber seinen In­ halt nicht kenne, da ich den Brief nicht erhalten habe, so muß ich um einen anderen Brief bitten. Eure Ansicht würde mir sehr lieb sein, wenn Ihr sie beifügtet. Ich aber lasse meinem lieben Schwager alles Gute wünschen und versichere ihn meiner aufrichtigsten Liebe. Näch­ stens will ich ihm schreiben. Ueber den Erfolg meines hiesigen Auf­ enthaltes will ich von Zeit zu Zeit Euch Nachricht erteilen. Ich bin gesund, lebt wohl! Euer Sohn Dr. Roth.

(Aus dem Schreibkalender.) 2i. Juli. Freitag. Zahle dem Schiffsmann. Gehe auf die Haupt-inaut und Zensur. Komme glücklich durch. Gebe für den Vater einen Brief auf die Post. Miete ein Logis in der Alsergasse Nr. 72

für 20 WW. einmonatlich. Besuche den M. Henterx), der im Frei­ hause logiert Hof Nr. 1, 2. Stock, Türe rechts. 23. Juli. In Fasts1 2) Predigt von der Vaterlandsliebe. Esse mit Henter in der Leopoldstadt im goldenen Lamm. Warte vergebens auf den Henkelmüller, komme zum Henter zurück, kommt Gierend 3) dahin, gehen dann zu ihm und schlafen wegen dem Regen da. (Aus dem Briefbuch.) sAn Joh. Daniel Henrich, Bibliothekar an der Brukenthalschen Stiftung in Hermannstadt.^ Wien, den 23. Juli 1820.

Lieber Herr Schwager! Mein Brief wird wohl zu spät kommen, da der Ihrige vom 26. Mai datiert war. Seitdem sind zwei Monate verflossen. Vermutlich ist die Sache entschieden. Ich glaube dieses um so mehr, da Anfragen solcher Art meistenteils sich selber treiben, dann aber auch Sie selbst noch mich zu einer geschwisterlichen Ant­ wort verpflichten. Ich hätte auch auf der Stelle geantwortet, kam aber erst den 19. nach Wien und erhielt nur gestern Ihren Brief. Ich erkenne, lieber Herr Schwager, darin Ihr Herz, das mir wohl will, ich ersehe daraus eine Gesinnung unseres würdigen Herrn Stadt­ pfarrers, die meinem Herzen wohltut. Ich muß offenherzig gestehen, dieser Antrag hat mich überrascht und um so angenehmer, je weniger 1) Jedenfalls ein Landsmann Roth's. 2) Fä si, Karl Wilhelm, 1793—1852, ein geborener Zürcher, seit 1816 Pfarrer der reformierten Gemeinde in Wien, befand sich im Herbst 1818 in Zürich, wo Roth ihn als Gastprediger schon einmal angehört hatte. Vergleiche die Tagebucheintragung vom 13. Sept. 1818 (l, 213). Es soll dort richtig Fäsi statt Füsi heißen. Seine Biographie erschien als Neujahrsblatt zum besten des Wai­ senhauses in Zürich 1857 von Felix v. Orelli. 3) Gierend Joh. Andr., 1796—1852, ein Hermannstädter, studierte an der protest.-theol. Fakultät in Wien, später Stadtprediger von Hermannstadt, seit 1836 bis zu seinem Tod Pfarrer von Freck.

überhaupt ich mir von äußerer Handbietung für meine Lieblings­ beschäftigung versprach. Ich habe die Heltauer Schule von jeder Seite ins Auge gefaßt und bin überjeugt, daß durch fie unter der Beschüt-zung solcher Männer etwas zu machen wäre; noch mehr, ich glaube,

daß Heltau ein durchaus vorzüglicher Ort ist, wo ein Versuch mit der Einführung menschenfreundlicher Grundsätze in der Erziehung noch am meisten gelingen würde. Auch habe ich Heltau nie aus den Augen

verloren, — dem ohnerachtet bedauere ich, daß ich jetzt über diese Anftage grade nichts zu antworten weiß. Einerseits ist die ehrenvolle Er­ öffnung einer Laufbahn in Hermannsiadt mir durch eine jetzige Ab­ lehnung, oder wie soll ich es anders heißen, geschlossen und für die Zukunft gesperrt, und vors zweite konnte ich erst nach einiger Zeit eine bestimmte Antwort erteilen. Das Ja und Nein muß ich jetzt zu­ rückhallen und der Entscheidung der Sache selbst ruhig zusehen, da ich darin nichts ändern kann. Jedermann fällt es schwer, sich eine Tür zu verschließen — mir auch, die Entscheidung in mir selbst hängt von Umständen ab, die dermalen nicht in meinen Händen sind. Ich muß eben die Ereignisse aufsuchen und diese werden mir Bescheid geben. Ich aber muß nochmals sagen, daß ich innerlich gerührt bin von die­ sem Antrag und bitte Sie recht sehr, lieber Herr Schwager, Se. Hoch­ würden dem Herrn Stadtpfarrer meine Antwort mit der Versiche­ rung zu melden, daß ich seine freundschaftliche Gesinnung nie ver­ gessen würde und daß ich es für meine angenehmste Pflicht hielte, ihm persönlich dafür zu danken. (Aus dem Briefbuch.) An Marie Schmid, Jferten. (7. Brief).

Wien, den 24. Juli 1820.

Liebe Marie! Ich habe Dir zwar jetzt gar nichts zu schreiben, demohnerachtet will ich es tun, weil es mir immer ein angenehmes Ge­ schäft ist. Vor^s erste will ich damit mich etwas böse über Dich stellen. Denn auf -er Post ist kein Brief von Dir! Kein Brief! von Dir!

Jetzt eigentlich müßtest Du auch mein Gesicht dazu sehen, damit Du

meinen Zorn recht sehen könntest. Seit dem 18., daß ich in Wien bin, «ar ich noch jeden Tag auf der Post. Heute gehe ich wieder, morgen

wieder — ich werde doch endlich einen finden. Ich wohne ziemlich

weit von der Post, nämlich eine gute halbe Stunde. Hin und her un­ gefähr fünfviertel. Wie ich hoffe, so find meine Briefe vom i. Juli aus Tübingen (Nr. 5) und mein Brief in Günzburg angefangen (vom 10. Juli, Nr. 6) in Deinen Händen. Mach die Schuld bald gut und schreibe mir recht oft, denn hier in Wien kann ich es brauchen. Von hier aus, liebe Marie, hoffe ich Dir bald etwas zu schreiben. Das Ganze läßt sich nicht übel an. Ich habe noch nur an einer Türe geklopft, die ist mir freundlich aufgetan worden. Ginge es so fort, so wäre uns bald geholfen. Mein Vater hat mir einen äußerst liebreichen

väterlichen Brief geschickt. Er wundert sich darin, daß ich so bald von Jferten fortgegangen sei, indem er geglaubt habe, wir würden noch

wegen der Abreise uns in eine Korrespondenz einlassen. Er billigt meine sonstigen Entschlüsse und zeigt sich sehr empfänglich für die Ausführung meines Gedankens *), vor der nur kleine Seelen sich scheuen. Arbeite wer da kann, so lange es Tag ist; kommt der Abend, so hört die Arbeit auf. Von Siebenbürgen aus wurde mir eine Schul-stelle angetragen1 2). Ich habe sie aus Gründen suspendieren müssen.

Mein hiesiger Aufenthalt wird darüber entscheiden. Sobald mein Vater auf unserer Seite ist, so pressiert es mir nicht so sehr. Hier, hier muß nun ergiebig vorbereitet werden, alsdann bildet sich schon aus der Quelle ein Strom. Vor allen Dingen aber gilt es meine Auf­ opferung — und starke Seelen gefallen sich in dieser. Liebe Marie, es ist vielleicht möglich, daß die Umstände günstig werden, oder nicht ?

Bleiben wir uns nur lieb, so sind wir reich, vornehm, glücklich rc. Wie ich nach Wien kam, ging ich gleich zu Meißner, Prof, der Chemie am Politechnischen Institute, und hier fand ich den Brief

von meinem Vater an mich. Ich ersehe auch daraus, daß mein Vater einen langen Brief an Pestalozzi geschrieben hat. Hast Du ihn ge­ sehen ? Ich hätte Lust nach einer Copie!! Nach dem Tone, womit mir dieses mein Vater meldet, scheint ihm Pestalozzi einen andern Brief 1) Reformierung des siebenbürgischen Schulwesens, Gründung einer Lehrer­ bildungsanstalt. a) Siche den voranstehenden Brief vom 23. Juli.

geschrieben zn haben. Ich will aber doch sehen und noch warten mit meinem Schreiben. Ohnedem ist es mit dem Verlangen nach einem Brief von mir noch so eine Sache. Die Leute wissen gut, daß ich offen­ herzig bin und auf Kosten dieser, glauben sie, würden sie manches erfahren. Gegen Dich aber haben sie sich geäußert, um zu sehen, ob wir in Korrespondenz stünden. Hätte ich jetzt gleich geschrieben, so hätten sie einen sehr großen Verdacht haben können, daß ich auf die Bitte geschrieben hätte. Acht und wieder Acht!! Aufmerksamkeit. Diese Füchse müssen sich noch in ihre Schwänze verwickeln. Dr. Roth. An den Hermannsiädter Stadtpfarrer Herrn Joh. Filtsch *).

Wien, den 27. Juli 1820,

Hochwürdiger Herr! Wegen meiner Anstellung in Hermannstadt1 2) schrieb mir in den letzten Tagen mein lieber Schwager. Drei Tage war ich schon in Wien, bevor ich diesen Brief erhielt. Wie eS die Wichtigkeit der Sache erheischt und wie es die besonderen Umstände forderten, antwortete ich noch an demselbigen Tage. In dem gest­ rigen Briefe meines Vaters lag wieder ein Zettelchen von mei­ nem lieben Schwager, mit der speziellen Aufforderung, mich gegen Ew. Hochwürden und Herrn Bürgermeister Schreiber über diesen Gegenstand zu erklären. Das Erste, was mir aus dem Herzen gleich­

sam in die Feder fließt, ist ein inniger Dank, der schon groß sein müßte, wenn ich auch nur meine irdische Versorgung hiebei be­ trachten wollte. Mir erscheint dieser ehrenvolle Antrag aber noch höher, wenn ich hiedurch mich und meine Kräfte in einen Wirkungskreis versetzt sehe, den ich immer für den Mittelpunkt unseres deutschen Volkes in Siebenbürgen zu halten gewohnt bin. Nicht aber mich will ich allein im Auge behalten, habe auch deswegen schon einige

Schritte getan, die zu meinen Worten einmal den Beweis liefern werden. Wie mein Vater das Glück hatte, mit Ew. Hochwürden zusammenzukommen, so zweifle ich nicht daran, daß seine väterliche 1) Lebte 1753—1836, Stadtpfarrer von Hermannstadt 1805—1835. 2) Gemeint ist wahrscheinlich die Anstellung als Rektor der Heltauer Schule. Der Marktflecken Heltau liegt 12 km entfernt von Hermannstadt. Siehe auch die Briefe vom 29. Aug. und 2. Nov. 1820.

Liebe das Gespräch auch auf mich gelenkt haben wird. Vielleicht hat er's gesagt, daß ich vorzüglich mein Merkmal auf die Dorfschule richte und daß ich hieran dem Vaterlande ju dienen im Sinn hätte. Mein sehnlichster Wunsch wäre es, hier an der Wurzel den Wachs­ tum des Ganzen befördern zu suchen. Denn Mangel an Einfluß und einer gewissen Stelle im öffentlichen Leben verbieten es mir von selbst, das Ganze zugleich von oben und unten zu umfassen. Wenn mir also die Wahl gelassen würde, entschiede ich mich fröhlich für die Dorfschule. Gleich wichtig halte ich zwar auch die oberen Schulen,

sehe aber wohl ein, daß diese von jeher besser bedacht wurden und daß unsere ganze sächsische Einrichtung so gebraucht wird, daß hieran immer gelehrte und gebildete Männer arbeiten. Es kann nicht fehlen, daß hier Gutes gewöhnlich, öfters auch Vorzügliches ge­ tan wird, wiewohl mir nicht entgeht, daß auch in den höheren An­ stalten wieder die unteren Klassen einer vorzüglichen Aufmerksam­ keit bedürfen. In der neueren Zeit hat man, wie wir es denn alle wissen, dem allmählichen Ersterben einzelner Staaten nur durch den Einfluß tüchtiger Volksschulen ein Medikament bereiten kön­ nen. Die Fortschritte hiezu sind durch die Bemühungen patriotischer Männer weit vorgerückt und es ist jetzt hinlänglich der Wunsch vor­ handen, etwas tun zu lassen, so kann es bei den vorhandenen Mitteln viel leichter als in älterer Zeit geschehen. Durchdrungen von dem Ge­ danken, daß bei uns in der Volksschule besonders noch viel Gutes getan werden könne, hat sich mein Herz diesem ergeben. Ich bin be­

reit, mein ganzes Leben hiefür zuzubringen; mögen nun die Wege so verschieden sein, wie sie wollen, die mich hieher führen, ich gehe jeden. Man weise mir einen Winkel an, wo ich dieses ausführen kann, ich bin bereit dazu; man mache mir einen Auftrag, man er­ teile mir einen Befehl, mit vorgesireckten Händen nehme ich ihn an. Wenn Gott will, soll ich auf mich nicht Rücksicht nehmen. Ich ver­ schweige mir jetzt das nicht, daß es möglich sei, daß ich nicht im Stande wäre, es zu Ende zu führen. Dies ist mir Trost: Gott wird mein

Wollen anstatt des Vollbringens nehmen. 3n dieser Stimmung muß ich auch Ew. Hochwürden auf Ihren ehrenvollen Antrag ant-

Worten. Ich lebe der Ueberzeugung, daß Ew. Hochwürden, wie auch unser wohlweiser Herr Bürgermeister, das Wohl unserer lieben Her­ mannstadt und dessen Nähe in Rücksicht zogen, als Sie mich eines so ehrenvollen Rufes für würdig hielten. Bei dieser Liebe für Stadt und Land bitte ich nun Ew. Hochwürden mir in der Ausführung eines diesfälligen Entschlusses eine hülfreiche Hand zu reichen und bei den vielerlei Wegen, die sich einem so weit sehenden Auge er­ öffnen, nur auf das Wohl des Vaterlandes zu sehen, mich aber immer als einen Menschen zu betrachten, der fürs allgemeine Wohl nicht nur empfänglich, sondern auch bereit sei, seine Dienste, seine Kräfte, sein Leben auf den Altar des Vaterlandes zu legen. Noch nur etliche Wochen und ich habe die Ehre, dem Urteil Ew. Hochwürden persönlich meinen Wunsch, meine Hoffnung und meine Entschließung vorzulegen. Die Geschäfte, die ich hier in Wien habe, werden sich bald beendigen und es richtet meinen Mut mitten in einer allgemeinen Frivolität der Gedanke auf, daß ich zu Hause im lieben Vaterlande Männer weiß, denen das allgemeine Wohl ebenso nahe am Herzen liege. Meine Anstellung in Hermannstadt hängt daher nicht von mir, sondern von dem Wirkungskreise ab, den man mir anweisen würde. Nur eine solche unbestimmte Antwort bin ich jetzt im Stande zu geben, das andere erfordert ohnedem Umstände, die nicht in meiner Hand sind. Sollte es sich so lange verzögern lassen, bis daß ich selber »ach Hermannstadt käme, so wäre mir auf eine seltene Weise gedient. Auf jeden Fall aber stehe ich dann zur Disposition und meine Gesinnungen, die sich in mir immer mehr konsolidiert haben, bin ich dann bereit der Prüfung eines löblichen Consistorii vorzulegen, von dem es dann in spezieller Hinsicht abhängen wird, anzunehmen oder zu verwerfen, zu unterstützen oder zu ignorieren. Was aber mich an­ belangt, so will ich fortfahren, mich immer freier von meinen Inter­ essen zu machen und umso enger [ ?] dem Vaterlande mein Herz auszu­

bilden. Ich bitte Ew. Hochwürden diese meine Aeußerungen für das

anzusehen, was sie sind: Ergießungen eines Herzens, das für alles Gute schlägt und in dem Wohl des Vaterlandes den Ruhm dessen sieht,

dem allein Ehre gebührt. Genehmigen Ew. Hochwürden nochmals

meinen innigsten Dank und die Derstcherung einer unausgesetzten Hochachtung und Liebe. Euer Hochwürden in Hochachtung und Liebe zugetaner Dr. u. M. Roth. (Aus dem Schreibkalender.)

28. Juli. Schreibe einen Brief an Herrn Bürgermeister Schreiber wegen der Anfrage. Nachmittag im Henkelmüllerischen Hause Nr. 152

in der Rotensterngasse. Dann zu Schuster, Gierend ist nicht zu Hause, dagegen ist der junge Hahn da, den ich besuche, er wohnt auch in der Alsergasse Nr. 60. (Aus dem Briefbuch.)

An den Herrn Bürgermeister Schreiber ’) in Hermannstadt1 2).

Wien, den 28. Juli 1820.

Wohlweiser Herr Bürgermeister!.. .Ich befinde mich gerade jetzt in einem Zustande, wo sich einem der Wert des Lebens entscheiden soll. Es hängt gleichsam von der jetzigen Richtung ab, die ich nehme, wie teuer überhaupt derselbe anzuschlagen sei. Ich komme voller Hoffnung, voller Wünche nach Hause. Der besondere Gang, den ich von meinem Innern aufgefordert gezogen bin, macht es mir zu einer Angelegenheit, die mir über alles geht, mich vorzüglich um das Schulwesen zu be­ kümmern. Ohnedem fordert der geistliche Stand von einem jeden, ein teilnehmendes Herz für Erziehung mitzubringen. Einen beson­ deren Beruf wird sich aber der daraus machen müssen, der zu der Einsicht der Erfahrenen gelangt, daß junge Bäumchen eher zu ziehen seien als alte. Nur zu oft kommen selbst den bravsten Geistlichen Pfarrkinder unter die Hände, auf die das Evangelium von dem Sämann eine vorzügliche Anwendbarkeit findet. Aus Schuldigkeit, aus Pflicht und Dankbarkeit, noch mehr aber aus freiwilliger Ueber­

zeugung möchte ich gerne ein Arbeiter an diesem Weinberg werden. Die besonderen Umstände aber werden meine Bemühungen ent1) Schreiber Simon d. Ae., 1740—1836, der Vater des gleichnamigen Freundes 6t. L. Roth's 249, Anm. i 2) Der Brief ist sehr unleserlich, die unwichtige Einleitung fällt hier weg.

weder beschränken oder erweitern, sie könnten mir aber auch ein Sieb anstatt einem Eimer zum Schöpfen in die Hände geben. Mit diesen Blicken sehe ich auch die fragliche Sache an, wenn ich mir selbst über mein künftiges Los Rechenschaft gebe und wenn ich in Gedanken den Weg jurücklege, der noch unbetreten vor mir sich aus­ breitet. Der Ort, wo ich arbeiten werde, ist im Daterlande, ist unter meinem Volke. Belohnung und Aufforderung liegt genug in diesem. Aber das muß ich freimütig gestehen, daß ich mich gerne dahin denke, wo ich meiner wissenschaftlichen Bildung genoßt). Ich mußte bei dieser Gelegenheit [ ?] diesen Punkt berühren, da an demselben vielleicht mehr liegt, als es zuerst den Anschein hat, spreche mich daher auch gleich im Anfänge mit der Unbefangenheit aus, wie es notwendig ist, um zu wissen, was man von mir hoffen, zu erwarten und zu fordern habe. Wie ich Sr. Hochwürden dem Herrn Stadtpfarrer schrieb, so sagte ich schon daselbst, was ich jetzt die Ehre habe Ihnen, wohlweiser Herr Bürgermeister, vorzulegen. Von dieser höheren Entscheidung hängt alles ab, was in Rücksicht auf mich getan werden kann. Es ist einmal Zeit, daß sich jemand entschlösse, ffichj der wohltätigen Ab­ sicht unserer Behörden und insbesondere unserer edlen Männer hinzu­ geben, denen das Wohl des Vaterlandes am Herzen liegt; es ist einmal Zeit, daß wir jungen Leute durch die Tat beweisen, daß wir von derjenigen Liebe zum Volke durchdrungen sind, die wir im Ramen dessen verkündigen, der sich für uns geopfert hat und der für uns gelitten hat. Ich will Gott danken, wenn es mir ge­ lingt, einen Beitrag zu dem zu geben, was die Edlen unseres Volkes

schon längst und jetzt besonders in dieser bedeutungsvollen Zeit an­ zuordnen bemüht sind. Sobald ich vaterländischen Boden betreten habe, will ich mich an Sie und an alle wenden, denen ihr Amt und Ansehen, ihr inneres Bedürfnis, ihr guter Wille dazu auffordert, für das Wohl unseres Landes, für das Glück unseres Volkes zu sorgen. Gott erhalte ihr Leben und stärke sie in dem Glauben an mich und gebe mir die Kraft, bei solcher Gesinnung immer zu bleiben, damit ich der Liebe und dieses Vertrauens wert und würdig 1) Hermannstadt.

erfunden werde. Bei solcher Aussicht kann ich nur getrost in die Zu­ kunft sehen und enthalte mich bis zu meiner Rückkunft, die noch nur

kurze Zeit ausstehen kann, aller Worte, an denen ich ohnedem von der Welt übertroffen werden muß. Empfangen Sie unterdessen aus meinen dankbaren Händen die Versicherung einer ununterbrochenen, fortdauernden Liebe, Hochachtung und Danksagung. Ich empfehle mich dem Wohlwollen Ew. Wohlweisheit auch fernerhin und nehme mir die Freiheit, Ihrer vielgeliebten Familie und besonders der Frau Gemahlin mich bestens zu empfehlen. Ich verharre Ew. Wohlweisheit gehorsamer Diener und Freund

Dr. u. M. Roth. Wien, den 29. Juli 1820 *).

Geliebte Eltern! In diesen paar Tagen, die ich nun hier bin, habe ich die Hände voll zu tun gehabt. Die ersten Tage nahmen mir

Hauptmaut, Zensur, Schiffer, Logis weg. Zu Visiten ist überdies nur der Vormittag in der Regel zu gebrauchen. Sobald ich also ein­ gerichtet war, ging ich zum Konsistorialrat Wächter1 2), in dem ich einen sehr braven, würdigen Geistlichen kennen lernte. Wächter ist mein Mann. Er nahm liebreich den Gedanken auf und hat noch in seinem Herzen Kraft, vom Menschen mehr zu halten, als ihn ge­ wöhnlich die Welt darstellt. Die erdrückenden Hindernisse, die die nächtlichen Geister jedem wahren Erziehungswerke in den Weg legen, haben ihm den Mut auf den guten Gott nicht genommen. Er hofft, daß das Gute einstens siegen werde. Freilich ist auch sein Gespräch über solche Gegenstände melancholisch; auch er muß traurige Er­

fahrungen gemacht haben. Bis jetzt ist Hausknecht3) nicht mein Mann. Wenn ich ihn recht verstehe, so nimmt er das Leben wie es gewöhnlich erscheint. Es sei nichts anzufangen, man müsse es gehen lassen, wie es gehe.

So scheint er zu denken; so urteilt er; wie er tut, weiß ich nicht. Diese 1) Der Brief ist auch im Briefbuch, in geringerer Ausführlichkeit, vorhanden. 2) Wächter Johann, geb. 1867 zu Zeben iit Ungarn, seit 1805 Superintendent, seit 1819 Direktor des Protest.-theol. Studiums in Wien, gest. 1827 ebendort. 3) L 25.

höchst irreligiösen Aeußerungen sprachen diejenigen nicht aus, denen er ein Nachfolger sein soll; sie ließen sich geißeln und steinigen, wenn nur dem Armen das Evangelium gepredigt wurde. Er ist ein junger Mensch mit altersschwachen Gedanken und ich für mich spüre diese Müdigkeit im Geiste noch nicht, um mich schon jetzt in den Groß­ vaterstuhl dieser Gemächlichkeit hineinzuwerfen. Dieses Urteil, das ich mir jetzt erlaube, kann auch ungerecht sein, denn wie kann man aus einem Gespräche den Charakter erkennen? Ich wünsche mich ge­

irrt zu haben. Euch kann ich wohl dieses unreife Urteil sagen; gegen andere schweige ich — oder spreche mich nicht in dem Grade aus. Konsistorialrat GlatzT) ist mir auch nicht so lieb wie Wächter. Er

spricht sehr viel. Er besitzt viele Weltkenntnis und hat mich noch zur rechten Zeit auf etwas aufmerksam gemacht, das ich vielleicht erst später, zu meinem Schaden, bemerkt hätte. Er sagte mir, daß jede

vom Staat unterstützte Schule ohne Ausnahme sich der herge­ brachten Formen, Ansichten, Methoden, Tabellen, Prüfungsarten, Verordnungen, Anweisungen, Gutachten und Mechanismen unter­ werfen müsse. Dieses alles ließe sich nun mit einem Versuche anderer Art im geringsten nicht vereinigen. Zur Etablierung eines

abweichenden Gedankens ist ja vor allem freie Hand notwendig. Wenn man einem alles vorschreibt, so kann man oft nicht nach seiner Ueberzeugung handeln; oder besser deutsch, man wird oft gegen seine Ueberzeugung handeln müssen. Ich muß gestehen, es wurde

mir, als ich dieses hörte, angst und bang. Würde ich mich diesem Hergänge unterwerfen, so verdiente ich meiner Ueberzeugung nach

keiner Unterstützung. Man hat mir daher allgemein abgeraten mit seiner Majestät dem Kaiser zu sprechen. Bors erste würde ich diesem ertötenden Herkommen unterworfen, vors zweite tue der Kaiser nichts ohne Einholung von Landesnachrichten, von denen dann

das Ganze abhange. Die Entscheidung über diesen Gegenstand würde ganz dem Konsistorio und Gubernio überlassen. Es sei also vors erste zweckmäßiger, selbst, wenn ich mich diesem Zwange unter# werfen wollte, von unten anzufangen. Aber vors zweite würde ich 1) II, 238.

noch glücklicher sein, wenn diese Anstalt eine nationelle würde, wo ihre Organisation von unseren liberalen Grundsätzen bestimmt würde. Ohnedem sei unser Konsistorium unabhängig in seinen Ein­ richtungen und könnte in der Hinsicht Verfügungen treffen, die ihm

gefällig wären. Hierin bestand im ganzen der Rat beinahe aller drei Männer. Ich sprach auch den Bibliothekar bei dem Kanzler Grafen

von Teleki, Orsovsky, welcher mir dasselbe riet, mit dem noch merk­ würdigern Zusatze, daß der Kanzler hierin nichts tun könne und die unteren Behörden eifersüchtig würden, wenn er hierin etwas tun würde, und bei ihren notwendigen Erklärungen gerne zeigten, daß von ihrer Ansicht alles abhinge. So stehn die Sachen. Was denkt Ihr dazu, vielgeliebte Eltern! Bei so bewandten Umständen glaube ich, es sei vor diesmal besser, es nicht zu tun, sondern es bleiben zu lassen. Noch will ich Herrn Bertleff v. Sternheim1), der auf jeden Fall Referendär ist, und den Kanzler sprechen. Diese geben die Ent­ scheidung und von dieser hängt es auch ab, wie lange ich noch hier bleiben werde. Ich habe Lust zu Hause zu sein und dieses Wiener Leben gefällt mir ohnedem nicht. Nebst den zu machenden Visiten will ich noch einige Sammlungen und einige Schulen besehen. Dann halte ich mich keinen Augenblick länger hier auf. Ich werde aller Wahrscheinlichkeit nach unten die Sache zu betreiben haben. Unten scheint die Stimmung nicht ungünstig für mich zu sein. Ich nehme dieses auch aus den ehrenvollen Anftagen der Praests des Her­ mannstädter Konsistoriums ab2). Aus Media sch hinwieder erhielt ich schon längst auch Briefe von Kenst und Leutschaft, die warmes Interesse an der Pest. Methode zu nehmen scheinen3). In Schäß-

burg soll ohnedem ein gewisser Volbert schon nach dieser Methode unterrichten. In Beziehung auf Hermannstadt habe ich mit Berück­ sichtigung auf Heltau an Schwager Henrich unter dem 23., an Herrn 1) Bertleff, Mich., aus einer sieb, sächs. Familie stammend, 1812 Akzessist der stebenb. Hofkanzlei in Wien, um 1820 Referendar, in den 18406t Jahren Gubernialsckretär. 2) Der Heltauer Antrag. S. 294 ff.

3) l, 329.

Stadtpfarrer unter dem 27., an Herrn Bürgermeister unter dem 28. geschrieben, so klug und umsichtig als ich es jetzt bei meiner Lage

nur habe tun können. Es sind eigentlich, streng genommen, un­ bestimmte Briefe, aber ich habe es mit Fleiß getan, weil ich Zeit ge­ winnen wollte. Ich hoffe, daß erst bei meiner Rückkehr über das Wesentliche desselben entschieden werden wird. Der Bibliothekar Orsovsky machte mich auch darauf aufmerksam, daß wir Wallach.

Pfarreien hätten, wo ich hinlänglich Zeit zur Führung einer solchen Schule haben würde. Ich will aber nicht wegen den vielen Pfarrer­ geschäften nicht Pfarrer werden, sondern wegen dem großen Zeit­ verluste bis daß man zu einer solchen Pfarrei oder einer anderen ge­ langt. Mir ist ja jeder Winkel recht. Falls die Entscheidungen der anderen Herren auch so und auf diese Weise ausfallen, so werde ich gleich, wie ich nach Hause komme, einen Aufsatz machen, worin ich mich an das Konsistorium und an die Nation zu wenden gedenke. Es muß sich dann brechen und ich weiß, woran ich im Vaterlande bin. Professor Meißner weiß um alles; er ist in diesen Stücken mein Beichtvater. Ich habe mir zu Mittag die Kost in seinem Hause ge­ nommen. Teils aus Liebe zu ihm, seiner Frau und seiner Familie, teils aus der Geldverlegenheit, in der ich mich wirklich befinde. Ich glaubte hier schon Geld zu finden, worin ich mich aber verrechnet hatte. Das geborgte Geld habe ich verbraucht zum Schiffslohn, für einen Hut, einen Regenschirm, Abendessen usw. Ich werde gerade noch soviel haben, um den Brief an Herrn Bürgermeister frankieren zu können. Gestühsiückt habe ich ohnedem noch nicht, seitdem ich hier bin. Ich lebe aber dem ohngeachtet froh und gesund; gehe fteilich auch

manchmal nachdenkend im Zimmer auf und ab, aber es kann ja nicht anders sein! Nach Haus, nach Hause sehne ich mich und will Gott dan­ ken, wenn ich die Schwelle eines Hauses betrete, wo mich alles liebt, wo ich alles liebe. Bis dahin lebt wohl und bleibt mir gut. Dr. u. M. Roth.

Euer Sohn (Aus dem Schreibkalender.)

13. August.

Wächter

predigt

über

die Verträglichkeit.

Besuche

Fr. von Heydendorff. Lachen mit Graeser und Wagner auf dem Heimweg vom Neuling'schen Garten. 14. August. Trage meine Zeugnisse zu v. Sternheim, der mir sagt, daß er seiner Exzellenz dem Kanzler pränumerieren wolle auf eine

Mstte. Wien, den 14. August 1820.

Geliebte Eltern! Eure zwei Briefe vom 25. und 29. erhielt ich ge­ stern nachmittag. Ich beeile mich, dieselben zu beantworten. Ich tue es aber nur wie ein Mensch, der nächstens mit seinen Korresponden­ ten sprechen soll d. h. nachlässig und unumständlich. Von hier schickte ich einen Brief an Euch am 29. v. Mts. ab, also an demselben Tage, da Ihr mir schriebet. Noch erwarte ich nur eine Antwort darauf, um dieses Wien mit dem Rücken anzusehen. Ich freue mich auf mein Vaterland, auf Kleinschelken, auf Euch von ganzem Herzen. Die Art, wie sich meine Landsleute über unsern Schulstand aussprechen, lassen sich so erklären, als wäre dort ein allgemeines Bedürfnis zu seiner Verbesserung fühlbar. Es würde mir daher um so leichter werden, da ja aus diesem Gefühle diejenigen Stimmungen und Entschlüsse hervorgebracht werden könnten, die zur Ausführung meines Planes zwar nicht unumgänglich notwendig, aber doch sehr ersprießlich wären. Ich hoffe: es wird sich aus unseren Gesprächen alles ergeben, was zu meiner etwaigen Entschuldigung und Eurer Beruhigung not­

wendig wäre. Laßt immerhin menschliche Hoffnungen fahren: ihre Vergänglichkeit weist uns auf das ewig Bestehende. Die Schwärme­

reien, die ich von meinem künftigen Pfarrersleben mir, wenn auch nur selten, vormalte, kommen mir kindisch vor. Ich hatte dabei mehr mich im Auge und verhehle es nicht, daß in diesem Bilde auch ein gutes Reitpferd und ein weiches Kanapee vorkam. Herr von Sternheim, den ich auch heute gesprochen, forderte mich auf, einen Entwurf schriftlich aufzusetzen, um ihn dann dem Herrn Superintendenten und Herrn Komes vorzulegen. Er hat mir Hoff­

nung gemacht und mir versprochen, alles, was an ihm läge, sicher­ lich zur Beförderung desselben zu tun. Auf den Mittwoch gehe ich

in die Audienz zu Sr. Ex. dem Herrn Kanzler Grafen von Telekis, der davon durch Herrn von Sternheim prämoniert ist. Dies ist ja auch ein denkender Mann und dazu voll warmer, tätiger Liebe zum Vaterland. Ich will seine Meinung, seine Ansicht anhören und, wenn sie mir auch einleuchtet, benützen. Der junge Bertleff, den ich kenne,

lebt bei seinem Bruder, dem Hofkonzipisten, der nun beinahe so viel als ausgemachter Hofsekretär ist. Beide sind mir zugetan. Die Euch im Briefe vom 29. v. Mts. mitgeteilte Ansicht teilt der Hofkonzipist besonders. Bis jetzt steht unser Konsistorium so ziemlich unabhängig da — ich will nicht dazu beitragen, daß Eingriffe in seine Rechte, die von vielen verlorenen noch übrig sind, getan werden könnten. Dadurch, daß ich aber diese Konstitutionen in keine Gefahr bringen will, ist mir gar manches abgeschnilten. Ich muß schweigen, wo ich mich sonst auf das Dach gestellt hätte, um zu schreien. Ich werde nun bei dem Konsistorio und der Nation ansuchen, die mich, wie ich hoffe, nicht zwingen wird, das mit Eintrag ihrer durchzusetzen, was nur allein ihr zuliebe erdacht worden ist. Ich halte meine Freudig­ keit in mir, die mich entschädigt, wenn ich überall Krieg haben sollte. Ich glaube an die Wahrheit und Solidität dieses Planes nicht mehr als an mich selbst. Kann ich den Plan im großen nicht aus­ führen, so will ich es im kleinen tun. Dieser Entwurf von 3 starken Bogen liegt fertig-°). Ich spreche darin wie jemand, der es weiß, daß ich hiedurch dem Vaterlande nützlicher sein konnte als auf einem an­ deren Wege. Die Sache ist ruhig und klar. Wir wollen denselben miteinander durchgehen. Ihr werdet am besten wissen, was darin noch

verändert werden muß. Die abgegangenen Briefe an die Herren Filtsch und Schreiber enthielten einige Punkte, die einleitend und einladend sind. Solltet Ihr unterdessen auf Hermannstadt kommen, so könntet Ihr sie ja lesen. Ich habe große Hoffnung — bin aber auch gefaßt aufs Gegenteil. Vielleicht bin ich über 3 Wochen auf der Reise. Zuvor schreibe ich aber, wie Ihr es wünschet. 1) Graf Samuel Teleki, 1739—1822, damals flebenbürgischer Hofkanzler in Wien. Gründer der Teleki-Bibliothek in DLsLrhely. 2) Die Schrift „An den Edelsinn..Sie wird im III. Band veröffentlicht. 20*

Lebet wohl und schreibt diese Sudelei der unerträglichen Hitze mei­ nes Zimmers zu, welches gegen Mittag liegt. Gott sei mit Euch! Euer Sohn

Dr. Roth.

(Aus dem Schreibkalender.) 16. August.

Trage zu Herrn Konststorialrat Glatz meinen Auf­

satz, er soll gerade in eine Session gehen. Besuche meine Reise­ gefährtin: Louise Ren; aus Stuttgart. Ueberreiche seiner Exzellenz meinen Aufsatz. Wien, den 17. August 1820.

Geliebte Eltern! Gestern saß ich noch am Tische, wo ich eine Ab­ schrift meines Aufsatzes für den Kanzler zu Ende bringen wollte, als Herr Gräser ins Zimmer trat und mir Euren Brief vom 3. August

überbrachte. Er enthielt die Antwort auf meinen Brief vom 29. v. Mts. Derselbe muß also vom 29—3. nach Siebenbürgen geloffen sein, was ganz außerordentlich ist. Könnte ich auch so geschwind reisen! Herr Prof. Meißner hat mir bis jetzt das nötige Geld vorgestreckt. Wie ich ankam, so gab er mir zur Bezahlung der Schiffer, die mir auch geliehen hatten, 110 C. M. Für meinen hiesigen Gebrauch gab er mir 120 W. W. Ich werde es Euch, wenn Ihr es verlangt, ver­ rechnen. Hier werde ich auf einen Monat 130 Gulden brauchen, die mich mehr reuen, als wenn ich im Reiche das Doppelte ausgäbe. Ich will es Euch ganz kurz spezifizieren, was ich streng nicht einmal für mich getan habe. Mittagskost ohngefähr Abendkost

45 fl. ä 1.30 45 fl.

Logis zahle ich Stiefelputzer

20 fl. 5 fl.

Wäsche Frühstück?

3 fl15 fl. ä 30 133

Noch fehlt in dieser Rechnung die kleinere Ausgabe, die mit nach und nach in einem Monat auch was beträgt. Man geht in den Pra-

ter, trinkt ein Glas Bier, geht ins Theater, ißt Obst, kauft man sich

Tabak! Licht, Papier, hat Ausgaben für Briefe usw. Bis jetzt habe ich nicht gefrühstückt. Von den mir von den 100 C. M. übrigbleiben­ den und diesen 100 W. W. habe ich mir einen feinen Hut (16), ein paar seidene Strümpfe (13.30), Schuhe (5.30), einen Regenschirm (22) gekauft nebst etlichen Büchern. Wenn ich nur meine Schuld bezahlen könnte, so würde ich jetzt gleich abreisen. Noch will ich Herrn Schwagers Brief abwarten und das auf die Diligence gelegte Geld, um dann, wenn es möglich ist, hinunter zu reisen. Glaubt es mir nur, daß ich kein Interesse an Wien habe und daß meine Gedanken überall, nur nicht hier, sind. Wie oft habe ich schon an die Schweiz gedacht, wie oft denke ich jetzt an Sieben­ bürgen. Vielleicht ist es mir dort wohler, vielleicht kann ich dort et­ was tun, was diesem Leben einigen Wert geben könnte. Meine Doktorei, lieber Vater, sollte mir hier einen leichteren Ein­ tritt in einige Häuser verschaffen, zu denen ich unter dem Namen Student sonst schwerer zugelassen worden wäre. Der Name Student ist hier sehr verhaßt. Aus meinem Briefe vom 29. werdet Ihr nun wissen, daß ich diese Schritte nicht zu tun brauche, weswegen es mir jetzt gleichgültig ist. Gestern sagte mir Herr von Sternheim, es würde

nur etwas von Herrn Superintendenten eingereicht werden müssen, so würde die Sache keinen Anstand haben, da jetzt alles sehr gemildert wäre. Was hierin zu tun sei, werde ich erfahren; was ich tun werde, weiß ich nicht. Denn die Wiener sind wohl ein gutes Wort, aber nicht viele wert. Prof. Meißner hat auch zwei bekommen; dieselben Di­ plome liegen schon seit Jahr und Tag bei der Hofstelle. Ein Piarist

hat auch eines erhalten und darf auch keinen Gebrauch davon machen. Uebrigens ist dieses Verbot, wenn ich es mit den Augen eines Welt­ kindes ansehe, noch besser, als wie wenn es gar nicht untersagt wor­ den wäre, denn es gibt einen größeren Lärm. Was Ihr übrigens von der Scheelsucht schreibt, glaube ich am meisten. Denn unsere ganze siebenbürgische Erziehung ist darauf angelegt, uns ehrgeizig und scheelsüchtig zu machen. Immer aber ist es besser, beneidet als erbarmt zu werden. Seid nur sicher, lieber Vater, daß ich Mittel

3IQ

D i e Heimkehr

habe, wodurch die benagenden Ratten und quackenden Frösche ums Leben kommen. Solche arme Leute sind am meisten zu bedauern, denn sie machen sich sehr viel Qual. Vermutlich werden die Briefe meiner Korrespondenten aus der Schweiz unterschlagen. Allerdings ist es sonderbar, daß ich noch kei­ nen einzigen erhalten habe. Aergerlich, aber nicht unruhig bin ich

darüber. Drinnen ist nichts von politischen Sachen. Noch mutmaße ich es nur, werde es aber erfahren, ob sie mir wirklich von der Post weg­ genommen werden. Das muß doch jeder Mensch einsehen, daß das Unrecht ist, mag auch dem Staate noch so sehr daran gelegen sein, über die Stimmung des Volkes Aufschluß zu bekommen. Sollte es wirklich der Fall sein, so ist ja sonnenklar, daß ich hiedurch nur eine schlechte Meinung von diesem Befehle haben kann. Mir ist dieser

Gebrauch von polizeilichen Rechten höchst verächtlich. Gestern war ich zu seiner Exzellenz dem Kanzler Grafen von Teleki, wohin mich Herr von Sternheim führte. Unser Gespräch war sehr kurz — am Ende übergab ich ihm meinen Aussatz. Ueber sein Urteil

bin ich beinahe nicht begierig. Denn ein Mann wie er, so rechtschaffen als selten, hat schon zu viele Erfahrungen in der Welt gemacht und man braucht nur alt zu werden, so wird es nicht fehlen, auch die Grundsätze werden mürbe werden. Seines Sohnes Erzieher und Bibliothekar Herr Orsovsky wird vermutlich ihm denselben vorlesen. Es liegt mir nun alles daran, daß ich diesen präveniere. Ich sehe mich daher in die Notwendigkeit gesetzt, alle Abende in das Kaffee­ haus in die Dorotheengasse zu gehen, wo er beinahe jeden Abend zu treffen ist. Herr Hofsekretär von Sternheim ist auf meiner Seite und bringt beinahe jeden Tag einige Stunden beim Kanzler zu. Auf dem

Wege, den ich nun bei der Nation einschlagen werde, hat zwar der Kanzler keinen besonderen Einfluß; ich reihe mich aber gerne an Männer, wenn auch nur von weitem, an, die für ihr Vaterland das im großen taten, was ich im kleinen zu tun gesonnen bin. Mich nimmt es Wunder, daß Ihr von meinem Plan nichts wißt, da ich mich doch darüber geäußert zu haben erinnere. Aus dem Titel meines Aufsatzes, den ich Euch vorlegen werde, könnt Ihr das Notwendige

Schulverbesserungen in Siebenbürgen

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vor jetzt sehen: An den Edelmut und die Menschen­

freundlichkeit der Besseren unserer Zeit eine Bitte und ein Vorschlag über die Einrichtung einer Anstalt zur Erziehung und Bildung armer Kinder für den heiligen Beruf eines Schullehrers auf dem Lande. Wien, den 18. August 1820.

Wenn Ihr nichts dagegen habt, so bleibe ich diesen Winter nicht hier. Ich bin so plötzlich aus der Schweiz aufgebrochen, um nur bald bei Euch zu sein. Nun wollte ich ja viel lieber in der Schweiz als hier sein, am allerliebsten wäre ich aber zu Hause. Es sollen, wie stch hier verlautet, grade jetzt in Siebenbürgen einige Anstalten zur Verbesse­ rung der Schulen getroffen werden. Unter anderem hören wir, daß in Hermannstadt ein Lyzeum eingerichtet werden solle, wohin aus allen deutschen Städten die Studierenden sich nach abgelegtem Examen hinbegeben müßten. Mir hat jmanj auch noch dazu heim­ lich ins Ohr gesagt, daß zur Dotation vermutlich die Geistlichen den Betrag würden entrichten müssen. Das ist nichts als billig, auch wäre es vielleicht vorteilhafter, den Zehnten wallachischer Oerter zu ähnlichen Zwecken zu verwenden, einmal, weil dieser Zehnten dann der Nation nicht genommen werden kann und vors zweite, weil Geist­ liche solcher Oerter (ohne Pfarrkinder) nicht die Dienste der Nation tun können als fromme, zweckmäßig angewendete Stiftungen. Die Dorfschulen bedürfen einer vorzüglichen Aufmerksamkeit, da durch dies neue Verbot diese Schulen nur Menschen zu Inspektoren mit der Zeit bekommen, die nicht mehr als eine österreichische Vorstel­ lung vom Volksgeiste haben. Wegen der Verbesserung der Dorf­ schulen riet mir Herr von Sternheim sobald als möglich hinunter zu reisen. Anstatt des Aufenthaltes hier könnte ich lieber in Sieben­ bürgen unsere Dorfschulen genauer kennenlernen. Es ist hier gar ein zu fades Leben. Es sticht zu arg gegen das Leben in der Schweiz ab. Oft wünsche ich mich dahin. Mir wäre es sehr lieb, wenn ihr mit mir übereinstimmtet wegen meiner Heimreise. Gegen Euren Willen kann es beinahe nicht sein.

da Ihr so dringend in die Schweiz schriebt, ich sollte nach Hause kommen. Freilich bin ich etwas näher, ob aber das nicht das Gleiche ist, weiß ich nicht, denn wir können uns doch nicht sehen und dann ist es gleich, wo ich bin. An Anstalten zur Ausbildung ist ja in Wien Ueberfluß — Mangel an dem, was mir gefällt und zusagt. Die übrigen Anstalten als Bibliotheken usw. sind von einer solchen Art, daß ihrer mehr der bedarf, der z. B. Geschichte ex professo studiert. Für mich kann ich in Siebenbürgen, namentlich in Hermannstadt, Bücher genug finden. Einer Anleitung dazu bedarf ich jetzt nicht, indem ich mir selbst forthelfen kann. Geliebte Eltern! Lebet wohl, verzeihet mir, wenn ich nicht gerade so denke, wie Ihr glaubtet, daß ich um diese Zeit meiner Rückkehr sprechen würde. Liebt mich aber und helfet mir, den Frieden der Seele zu finden.. Liebet mich fort. Liebe Schwestern, gehabt Euch wohl! Wenn Gott will, so werde ich, wenn die Trauben gereift haben, bei Euch sein und dann wollen wir zusammensitzen und uns lieb haben. Gott sei mit Euch allen und gebe Euch seinen Frieden. Lebet wohl! Euer Euch von ganzem Herzen liebender Sohn, Bruder, Onkel: Roth. Wien, den 29. August 1820.

Lieber, wertgeschätzter Herr Schwager! Gestern erhielt ich Ihren Brief vom 12. ds. Mts. Ich danke Ihnen für das überschickte Geld und die mitgeteilte Nachricht. Mein unbestimmtes Schreiben wird Ihnen nicht unerklärbar sein, sobald wir miteinander gesprochen haben. 3n Briefen läßt sich sehr schlecht ein Gespräch führen. Ein vierteljähriger Briefwechsel ist nicht so gut als eine halbstündige Un­ terhaltung. So habe ich z. B. nicht gewußt, daß meine Anstellung in Hermannstadt von der Annahme des Heltauer Schulamtes abhinge. Ich glaube daher am besten zu tun, meine Heimreise anzutre-ten. Ich bespreche mich mit meinen Anverwandten. Dann ist alles bald im Reinen. Schon jetzt wäre ich zu Hause, wenn ich nicht festgehalten worden wäre vom Geld. Die übersandte Summe macht es

mir jetzt möglich. In einigen Tagen reise ich ab und im ganzen ist

hierdurch das Geschäft mehr beschleunigt als durch den umständ­ lichsten Brief. Um aber Ihnen, der Sie die Seele dieses Geschäftes

sind und um dessentwillen titl. Herr Stadtpfarrer auch einige Rück­ sicht nehmen wird, meine etwaige Entschließung mitzuteilen, so sage ich Ihnen, daß ich zu Einem wie zu dem Anderen Neigung habe. Sollte mir die Heltauer Schule nicht eine notwendige Bedingung sein zu meiner Anstellung, so hat mein Vater ja auch eine Schule. Ueberdies habe ich noch manches zu arbeiten. Es müßte die Geo­ graphie, die Geschichte, die Anwendung der Zahlen, die Verbin­ dung unseres Dialektes mit der Schriftsprache erst bearbeitet werden, was es nicht ist. Sollte es mir auf d i e se Weise möglich sein, gerech­ ten Forderungen Genüge zu leisten? Hängt nicht vom ersten Schritt vieles, vielleicht mehr noch, als ich glaube, ab? Sie sehen, vielgelieb­ ter Herr Schwager, daß diese Gedanken für mich nicht ohne Wichtig­ keit sein können, sie erzeugen daher ihrer Natur nach ohngefähr fol­ gende Fragen: „Ist die Schulttbernahme von Heltau eine notwendige und sichere Bedingung meiner Anstellung in Hermannstadt?" „Wird mir in Hermannstadt bei meinen wirklichen Anstellungen ein Raum gegeben, angemessen meinen Kräften und meinem Willen? Will man hier etwas für die Schulen tun und will man mich dabei brauchen?" „Habe ich in Heltau in der Organisierung der Schule vollkommene Freiheit? Sind da brauchbare Subjekte?" Ob man mich dann in Hermannstadt so oder so placiert ist mir eins, nur soll ich nach meiner Ueberzeugung leben und handeln kön­ nen. Dieser wegen kehre ich auch ins Vaterland zurück. Haben Sie die Freundschaft und ziehn Sie hierüber die nötigen Erkundigungen ein, damit ich zu Hause: Ja oder Nein gleich sagen könne. Heltau ist mir ein lieber Ort, ebenso Hermannstadt. Hermannstadt soll mir nur Mittel geben und ich bin sein. Geben Sie unterdessen dem titl. Stadtpfarrer und Herrn Bürgermeister diejenigen Aufklärungen, die Sie für tätlich halten. Was Sie tun, ist gut. Sagen Sie aber

»or allen Dingen, daß ich käme und eintreffen würde etliche Tage nach diesem Briefe. Leben Sie unterdessen wohl, der Herr, der Sie uns geschenkt hat, -erhalte Sie uns in Liebe und Leben. Viele Küsse meiner Schwester, viele Grüße an Freunde und Bekannte, auf baldige Umarmung. St. L. Roth.