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German Pages 722 Year 1994
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 660
Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum Struktur und Dogmatik des Grundrechtstatbestandes und der Eingriffsrechtfertigung
Von
Wolfgang Roth
Duncker & Humblot · Berlin
WOLFGANG
ROTH
Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum
Schriften zum öffentlichen Recht Band 660
Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum Struktur und Dogmatik des Grundrechtstatbestandes und der Eingriffsrechtfertigung
Von
Dr. Wolfgang Roth, LL. M.
Duncker & Humblot * Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Roth, Wolfgang: Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum : Struktur und Dogmatik des Grundrechtstatbestandes und der Eingriffsrechtfertigung / von Wolfgang Roth. — Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Schriften zum öffentlichen Recht; Bd. 660) Zugl.: Mannheim, Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08109-9 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-08109-9
Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1993/94 von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Mannheim als Dissertation angenommen. Diese Stelle ist der angemessene Ort, all jenen Dank abzustatten, die zum Gelingen der Arbeit in so vielfältiger Weise beigetragen haben. Zuvörderst gebührt Dank meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Wolf-Rüdiger Schenke, der das Thema anregte und mir bei dessen Bearbeitung, ungeachtet vieler wertvoller Hinweise, die volle wissenschaftliche Freiheit ließ. Danken möchte ich auch dem Zweitgutachter, Herrn Professor Dr. Hans-Wolfgang Arndt, der das Entstehen dieser Arbeit die Jahre über mit kritischen, aber stets wohlwollenden Augen verfolgt und sodann sein Gutachten in vorbildlich kurzer Zeit angefertigt hat. Herrn Professor Norbert Simon danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die 'Schriften zum Öffentlichen Recht* des Verlages Duncker & Humblot und allen Mitarbeitern des Verlages für die freundliche Betreuung der Veröffentlichung. Da eine Arbeit dieses Umfangs nicht ohne materielle Absicherung zu schreiben ist, gilt mein Dank ferner der Studienstiftung des Deutschen Volkes, deren finanzielle Förderung von 1988 bis 1990 das Entstehen des Hauptteils der Arbeit ermöglichte, sowie dem Land Baden-Württemberg, dessen Graduiertenstipendium 1992/93 den Abschluß der Arbeit beförderte. Meinen Eltern schulde ich Liebe und Dank für ihre nie nachlassende Unterstützung all die Jahre meines Studiums hindurch. Schließlich, doch nicht zuletzt, danke ich meinem langjährigen Kollegen und Freund, Herrn wissenschaftlichen Assistenten Dirk Looschelders, für seine stete Diskussionsbereitschaft, sowie ferner allen Kollegen für ein angenehmes Arbeitsklima und meinen Freunden, namentlich aus der Katholischen Hochschulgemeinde Mannheim, für die gemeinsam verbrachten Stunden der Muße.
Mannheim, den 4. Februar 1994
Wolfgang Roth
Gliederungsübersicht A. Einleitung
1
B. Der faktische Eingriff 1 in Rechtsprechung und Literatur
7
I.
Das klassische Eingriffsverständnis
7
II. Der Eingriffsbegriff in der neueren Literatur
33
III. Der Eingriffsbegriff in der neueren Rechtsprechung
48
IV. Zum Eingriffsverstandnis der Europäischen Menschenrechtskonvention
55
C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
65
I. Systematik der Grundrechte
66
II. Die Struktur der Abwehrrechte
90
III. Der Tatbestand der Abwehrrechte
104
IV. Der Eingriff als Erfüllung des Tatbestandes der Abwehrrechte
125
D. Die Elemente des Eingriffs I.
Der Handlungs-Zurechnungs-Komplex
129 129
II. Die Freiheitsbeeinträchtigung als Erfolgselement des Abwehrrechtstatbestandes
161
III. Die abwehrrechtlich relevanten Gefahren
179
IV. Irrelevanz eines subjektiven Abwehrrechtstatbestandes
199
V. Nicht vollendete Eingriffe in Abwehrrechte
206
E. Faktische Eingriffe in Abwehrrechte I.
Die Kategorien von Eingriffen in Abwehrrechte
225 225
II. Der abwehrrechtliche Schutz gegen faktische Eingriffe
230
III. Fallorientieite Anwendung der Eingriffskriterien
280
X
Gliederungsübersicht
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen I.
Die Gefahrschaffungsgefahr
298 298
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
329
III. Kumulative Beeinträchtigungskonstellationen
388
IV. Indirekt Verletzte
393
V. Ergebnis
395
G. Grundrechte als Leistungsrechte I.
Bedeutung und Tragweite etwaiger Leistungsrechte
II. Zur Existenz grundrechtlicher Leistungsrechte H. Die Eingriffsrechtfertigung I.
Die Rechtfertigungsproblematik
397 398 413 453 453
II. Die Schranken der Abwehrrechte
456
III. Der Vorbehalt des Gesetzes
496
IV. Der Anwendungsbereich des Vorbehalts des Gesetzes
512
V. Die Rechtfertigung faktischer Eingriffe
555
VI. Zur Praktikabilität der Rechtfertigungskriterien
649
Ergebnisse
658
Literaturverzeichnis
677
Sachverzeichnis
692
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung
1
B. Der 'Taktische Eingriff 1 in Rechtsprechung und Literatur
7
I. Das klassische Eingriffsverstandnis 1. Bedeutung der früheren Diskussion a) Der sogenannte "klassische Eingriffsbegriff' b) Problemidentitat 2. Die Eingriffsdiskussion vor 1949 a) In der Rechtsprechung aa) Preußisches Obertribunal bb) Reichsgericht cc) Preußisches Oberverwaltungsgericht b) In der Literatur aa) Otto Mayer bb) Gerhard Anschütz cc) Walter Jellinek dd) Fritz Fleiner 3. Kein "klassischer Eingriffsbegriff 1 4. Änderung der prozessualen Ausgangslage nach 1949 II. Der Eingriffsbegriff in der neueren Literatur 1. Beachtlichkeit faktischer Eingriffe 2. Darstellung und Kritik einzelner Zurechnungskriterien a) Unmittelbarkeit b) Finalitat c) Vorhersehbarkeit d) Adäquanztheorie e) Sozialadäquanz f) Theorie der wesentlichen Bedingung g) Normzwecktheorie h) Wirkungsgleichheit 3. Resümee III. Der Eingriffsbegriff in der neueren Rechtsprechung
7 7 7 8 10 10 10 12 15 21 21 24 26 27 29 32 33 33 34 35 37 40 40 42 43 43 46 47 48
X I n h a l t s v e r z e i c h n i s
IV. Zum Eingriffsverständnis der Europäischen Menschenrechtskonvention 1. Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention fur die Grundrechtsinterpretation 2. Die Beschwerdebefugnis des Verletzten und des "indirekt Verletzten" 3. Das Eingriffsverständnis unter der Europäischen Menschenrechtskonvention 4. Resümee C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte I. Systematik der Grundrechte 1. Die Funktion der Grundrechte a) Freiheit als Grundrechtsgut b) Kategorien grundrechtlicher Gewährleistungen aa) Die Gewährleistungsebene: Primäre, sekundäre und tertiäre Rechte bb) Die Dimension grundrechtlicher Gewährleistungen cc) Die Tendenz grundrechtlicher Gewährleistungen: Ist-Freiheit / Soll-Freiheit c) Typologie der Grundrechte 2. Die Grundrechte als Abwehrrechte a) Zivilrechtliche Schadensersatz- und Integritätsansprüche aa) Schadensersatzansprüche bb) Integritätsansprüche cc) Verschuldenserfordernis b) Abwehrrechtliche Sekundär- und Tertiäransprüche als Integritätsansprüche c) Zusammenfassung II. Die Struktur der Abwehrrechte 1. Allgemeine Struktur von Normen 2. Struktur der Grundrechte a) Tatbestand und Rechtsfolge b) Rechtfertigung c) Verhaltenssteuerung d) Tun und Unterlassen 3. Die Struktur der Abwehrrechte im besonderen III. Der Tatbestand der Abwehrrechte 1. Der objektive Tatbestand der Abwehrrechte a) Handlungselement aa) Grundrechtsadressat
55 55 56 58 63 65 66 66 67 71 71 73 74 74 78 79 79 81 85 85 88 90 90 94 94 95 97 99 101 104 104 104 105
Inhaltsverzeichnis
bb) Handlung (1) Die Handlungsanrechnung (2) Der Handlungswille b) Erfolgselement aa) Der Schutzbereich bb) Die Schutzbereichsbeeinträchtigung c) Kausalität und Zurechnung 2. Der subjektive Tatbestand der Abwehrrechte a) Kognitive Komponente b) Voluntative Komponente c) Verhältnis beider Komponenten IV. Der Eingriff als Erfüllung des Tatbestandes der Abwehrrechte
D. Die Elemente des Eingriffs I.
Der Handlungs-Zurechnungs-Komplex
106 106 108 111 111 113 114 118 120 121 122 125
129 129
1. 2. 3. 4.
Der Grundgedanke der materiellen Erfolgszurechnung 129 Abgrenzung zur Gefährdungshaftung 132 Zurechnungslehren in anderen Rechtsgebieten und offene Fragen 134 Die Feststellung der Gefahr 135 a) Die Basis der Gefahrbeurteilung 135 aa) Ex-ante- und Ex-post-Beurteilung 135 bb) Mögliche Beurteilungsperspektiven 137 cc) Irrelevanz objektiver Ex-ante-Erkennbarkeit 139 dd) Heranziehung allen verfügbaren Wissens 145 b) Der Grad der erforderlichen Gefahr 150 5. Das Problem der abwehrrechtlichen Gefahrrelevanz 154 a) Notwendigkeit eines Korrektivs 154 b) Originäre Begründung der abwehrrechtlichen Relevanz einer Gefahr.. 155 c) Keine abwehrrechtliche Sorgfaltswidrigkeit 157 d) Die Erfolgsbezogenheit der Gefahrrelevanz 160 II. Die Freiheitsbeeinträchtigung als Erfolgselement des Abwehrrechtstatbestandes
161
1. Elemente der Freiheit a) Zielsetzung und Zielverwirklichung - Wollen und Können b) Das Können: Natürliche und rechtliche Handlungsfähigkeit c) Das Wollen 2. Formen der Freiheitsbeeinträchtigung a) Beeinträchtigungen des Könnens aa) Beeinträchtigungen des rechtlichen Könnens bb) Beeinträchtigungen des natürlichen Könnens cc) Auswirkungen der Akzessorietät
161 161 162 166 166 166 167 176 177
XV
Inhaltsverzeichnis
b) Beeinträchtigungen des Wollens III. Die abwehrrechtlich relevanten Gefahren 1. Die Gewalt 2. Die Pression a) Gebote und Verbote: Das Dürfen b) Sonstige Pressionen aa) Zwangsmäßigkeit der Auswirkungen bb) Die Willensentschließung cc) Die Beeinträchtigung der Willensentschließungsfreiheit dd) Die Selbstverantwortlichkeit ee) Das Vernünftigkeitsprinzip ff) Selbstverantwortlichkeit und Selbstbehauptung gg) Resümee 3. Ergebnis IV. Irrelevanz eines subjektiven Abwehrrechtstatbestandes 1. 2. 3. 4.
Irrelevanz kognitiver oder voluntativer Momente Irrelevanz eines Verschuldens Objektive Wertordnung Ergebnis
V. Nicht vollendete Eingriffe in Abwehrrechte 1. Die Arten nicht vollendeter Eingriffe in Abwehrrechte 2. Funktionell gebotene Erweiterung des Eingriffsbegriffes a) Vergleichbarkeit der Rechtsfolgen b) Verhaltenssteuerungsfunktion 3. Die nicht vollendeten Eingriffe als Eingriffe in Abwehrrechte a) Unvollendete Eingriffe aa) Sichere Gefahrverwirklichung bb) Bezweckte Gefahrverwirklichung cc) Mögliche Gefahrverwirklichung dd) Unvollendete Eingriffe und die strafrechtliche Versuchsdogmatik ee) Ergebnis b) Fehlgeschlagene Eingriffe c) Bevorstehende Eingriffe 4. Ergebnis E. Faktische Eingriffe in Abwehrrechte I.
Die Kategorien von Eingriffen in Abwehrrechte
II. Der abwehrrechtliche Schutz gegen faktische Eingriffe
178 179 179 180 181 183 183 185 186 189 191 196 197 198 199 199 203 205 205 206 206 208 209 210 212 212 213 214 217 219 220 220 222 223 225 225 230
Inhaltsverzeichnis
1. Der textliche Befund a) Die Begrifflichkeit des Grundgesetzes b) Wortlautanalyse aa) Zwang bb) Zensurverbot cc) Schutz der Koalitionsfreiheit dd) Durchsuchung ee) Enteignung ff) Ergebnis c) Strukturanalyse 2. Systematische Interpretation 3. Historische Interpretation a) Pressefreiheit b) Auswanderungsfreiheit c) Vereinigungsfreiheit d) Fazit 4. Genetische Interpretation a) Enteignungsentschädigung b) Asylrecht c) Zitiergebot 5. Zwischenergebnis 6. Teleologische Interpretation: Die Schutzbedürftigkeit der Freiheit auch gegenüber faktischen Eingriffen 7. Die Irrelevanz der Beeinträchtigungsintensität a) Das "Geringfügigkeitsprinzip" aa) Ausschluß der Schutzbereichsbeeinträchtigung wegen Geringfügigkeit? bb) Bagatellvorbehalt als Rechtfertigungsgrund? b) Die Beeinträchtigungsrelevanz geringfügiger Nachteile III. Fallorientierte Anwendung der Eingriffskriterien 1. 2. 3. 4.
231 231 234 234 235 236 239 240 242 242 243 246 247 248 250 251 251 251 254 255 257 259 267 268 269 270 272 280
Fallgruppen zweipoliger Verhältnisse Schlichte Beeinträchtigungen Folgebeeinträchtigungen Ergebnis
280 282 284 296
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
298
I. Die Gefahrschaffungsgefahr 1. Arten dreipoliger Beeinträchtigungskonstellationen 2. Die Zurechenbarkeit sequentieller Fernwirkungen a) Problemstellung b) Die Schaffung einer Gefahrschaffungsgefahr
298 298 301 301 304
XV
Inhaltsverzeichnis
3. Die abwehrrechtliche Relevanz der Gefahrschaffungsgefahr a) Ablehnung eines allgemeinen abwehrrechtlichen Verantwortungsprinzips b) Die abwehrrechtlich relevante Gefahr: Das Vernünftigkeitsprinzip c) Keine Subsidiarität abwehrrechtlicher Ansprüche d) Träger öffentlicher Gewalt als Kausalmittler e) Fremde Staaten als Kausalmittler 0 Ergebnis II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen 1. Vorteilhafte Einwirkungen auf den Kausalmittler a) Erweiterung des rechtlichen Könnens des Kausalmittlers aa) Überlagerndes zweipoliges Verhältnis bb) Keine Erschöpfung im zweipoligen Verhältnis b) Erweiterung des natürlichen Könnens des Kausalmittlers aa) Wettbewerbskonstellationen / Subventionsfälle bb) Öffentliche Warnungen cc) Subventionierung privater Warnungen c) Erweiterung des Dürfens des Kausalmittlers: Staatliche Genehmigungen aa) Abwehrrechtliche Irrelevanz bloßen Nichtverbietens bb) Ansatzpunkte einer abwehrrechtlichen Verantwortlichkeit cc) Überlagerndes zweipoliges Verhältnis dd) Keine Erschöpfung in zweipoligen Verhältnissen (1) Die Genehmigung als Einwirkung auf den Kausalmittler (2) Die Beeinträchtigung des natürlichen Könnens ee) Baurechtliche Nachbarklagen d) Zwischenergebnis 2. Nachteilige Einwirkungen auf den Kausalmittler a) Kein genereller Ausschluß der Zurechenbarkeit b) Unterlassene Nachteilsabwehr: Das Selbstbehauptungsprinzip c) Ausnahmen vom Selbstbehauptungsprinzip aa) Erfolglose Selbstbehauptung: Die Relevanz der Rechtmäßigkeit für die Zurechnung bb) Uninteressante Selbstbehauptung: Minderes Interesse des Kausalmittlers cc) Verhinderte Selbstbehauptung: Einschüchterung des Kausalmittlers dd) Unnötige Selbstbehauptung: Nachteüsabwälzung d) Zwischenergebnis 3. Neutrale Einwirkungen auf den Kausalmittler
307 307 312 315 321 325 328 329 329 329 330 333 336 336 339 341 342 342 344 346 348 348 350 355 361 361 362 363 366 366 375 377 380 381 381
Inhaltsverzeichnis
III. Kumulative Beeinträchtigungskonstellationen 1. Isolierte Wirkmechanismen 2. Nicht isolierte Wirkmechanismen
388 388 391
IV. Indirekt Verletzte
393
V. Ergebnis
395
G. Grundrechte als Leistungsrechte I.
Bedeutung und Tragweite etwaiger Leistungsrechte
398
1. Abgrenzung von Abwehr- und Leistungsrechten a) Privatschulsubventionierung b) Das Gleichheitsrecht als Abwehrrecht c) Prozeßkostenhilfe d) Fazit 2. Subjektiv-rechtlicher Charakter der Leistungsrechte
398 398 401 406 409 410
II. Zur Existenz grundrechtlicher Leistungsrechte 1. Bewahrungsrechte auf Schutz und Beistand a) Benannte Bewahrungsrechte b) Unbenannte Bewahrungsrechte aa) Grundrechtliche Schutzrechte bb) Grundrechtliche Beistandsrechte c) Inhaltliche Reichweite der Bewahrungsrechte 2. Förderungsrechte a) Benannte Förderungsrechte b) Unbenannte Förderungsrechte c) Inhaltliche Reichweite der Förderungsrechte 3. Keine durchgreifenden Einwände gegen Leistungsrechte a) Unmöglichkeit b) Unbestimmtheit c) Unmittelbare Vollziehbarkeit d) Grundgesetzliche Kompetenzordnung e) Gewaltenteilung f) Resümee H.Die Eingriffsrechtfertigung I.
Die Rechtfertigungsproblematik
II. Die Schranken der Abwehrrechte 1. Dogmatik der Abwehrrechtsschranken a) Die Konstituierung von Abwehrrechtsschranken 2 Roth
397
413 413 413 414 415 420 421 423 423 425 433 436 436 438 439 442 443 452 453 453 456 456 456
Inhaltsverzeichnis
XVffl
aa) Das Prinzip der praktischen Konkordanz bb) Explizite und implizite Abwehrrechtsschranken cc) Schrankenbegründende Kollisionslagen ( 1 ) Grundrechtskollisionen (a) Entstehung (b) Limitierungen (c) Konstellationen von Grundrechtskollisionen (2) Verfassungskollisionen (a) Entstehung (b) Konstellationen von Verfassungskollisionen b) Die Aktivierung von Abwehrrechtsschranken c) Die Aktualisierung von Abwehrrechtsschranken 2. Kompetentielle und substantielle Aspekte der Schrankenaktivierung bzw. -aktualisierung a) Der Vorbehalt des Gesetzes als kompetentielle Schrankenvoraussetzung b) Die substantiellen Schrankenvoraussetzungen 3. Das System der Abwehrrechtsschranken a) Strukturen der Abwehrrechtsschranken b) Die Wesensnatur von Abwehrrechtsschranken aa) Zum Freiheitsverständnis des Grundgesetzes bb) Tatbestandsausschließende Pflichtenkollision c) Die Aktivierung von Abwehrrechtsschranken III. Der Vorbehalt des Gesetzes 1. Der Geltungsgrund des Vorbehalts des Gesetzes a) Demokratische Vorbehaltskomponente b) Rechtsstaatliche Vorbehaltskomponente c) Gewaltenteilungsprinzip d) Abwehrrechtlicher Vorbehalt des Gesetzes 2. Grenzen des Prinzips des Vorbehalts des Gesetzes a) Demokratietheoretisch fundierte Begrenzungen aa) Keine alleinige demokratische Legitimation des Parlaments bb) Beschränkung des Parlaments auf das Wesentliche b) Rechtsstaatliche Begrenzungen c) Gewaltenteilung d) Resümee IV. Der Anwendungsbereich des Vorbehalts des Gesetzes 1. Keine ausnahmslose Geltung eines Vorbehalts des Gesetzes 2. Kein Vorbehalt des Gesetzes zur Aktivierung von Schutzbereichsschranken a) Konzeptionelle Deplaziertheit eines Vorbehalts des Gesetzes bei Grundrechtskollisionen
456 459 461 461 461 463 464 470 470 473 475 476 476 476 479 481 481 482 483 488 493 496 496 496 500 501 502 503 503 504 ...505 507 510 511 512 512 515 516
Inhaltsverzeichnis
b) Funktionslosigkeit eines Vorbehalts des Gesetzes bei Grundrechtskollisionen aa) Gesetzliche Durchsetzungsanordnung und Schrankenaktivierung bb) Materielle Determination der Schutzbereichsschranken c) Rechtsstaatliche Unbedenklichkeit d) Gewaltenteilungsprinzip e) Mißliche Konsequenzen aa) Das Handlungsdilemma bb) Der Lähmungseffekt f) Fehlwertungen g) Anhaltspunkte im Grundgesetz aa) Benannte Grundrechtskollisionsfalle bb) Benannte Verfassungskollisionsfalle 3. Ergebnis und praktische Konsequenzen V. Die Rechtfertigung faktischer Eingriffe 1. Die Gefahrschaffung als Gegenstand der Rechtfertigung 2. Die Relativität der Rechtswidrigkeitsbewertung a) Die Trägerbezogenheit der Abwehrrechte b) Die Tatbestandsbezogenheit von Rechtswidrigkeitsbewertungen 3. Die materielle Rechtfertigung faktischer Eingriffe a) Der Maßstab der Rechtfertigung b) Annexe Gefahrschaffungen c) Die Veränderlichkeit der materiellen Rechtmäßigkeitsbewertung aa) Neue Erkenntnisse über die Gefahrschaffung bb) Neue Erkenntnisse über die Rechtfertigungsgründe d) Die Aufopferungsentschädigung als Rechtmäßigkeitsbedingung aa) Dogmatische Begründung bb) Konsequenzen für die Höhe der Entschädigung 4. Die kompetentielle Rechtfertigung faktischer Eingriffe a) Einhaltung der allgemeinen Kompetenzordnung b) Geltung des Vorbehalts des Gesetzes für faktische Eingriffe aa) Die "klassische" Vorbehaltsformel bb) Der Vorbehalt des Gesetzes bei faktischen Eingriffen c) Die gebotene Regelungsdichte der Eingriffsermächtigung aa) Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung (1) Vergleich von Eingriffsermächtigung und Verordnungsermächtigung (2) Das Bestimmen von Inhalt, Zweck und Ausmaß bb) Das Bestimmtheitsgebot
517 517 521 526 526 531 531 533 537 540 540 547 549 555 555 558 559 565 573 574 577 580 582 583 587 587 592 595 595 596 597 598 600 602 602 604 606
Inhaltsverzeichnis
X
(1) Generalklauseln als Eingriffsermächtigungen 606 (a) Statthaftigkeit von Generalklauseln 607 (b) Die Generalklausel als Durchsetzungsanordnung 610 (2) Bestimmtheit von Zweck und Inhalt 611 (3) Bestimmtheit des Ausmaßes 615 cc) Ergebnis 615 5. Die formelle Rechtfertigung faktischer Eingriffe 616 a) Die Problematik 616 b) Der Anwendungsbereich des Zitiergebotes 617 c) Die Tragweite des Zitiergebotes 619 aa) Die Klarstellungsfunktion des Zitiergebotes 620 bb) Die Bedeutung der Zitierung für die Interpretation des Gesetzes ..622 cc) Der Gegenstand der Zitierpflicht 623 (1) Zitierung der bezweckten primären Gefahrschaffungen 624 (2) Keine Zitierung der nicht bezweckten annexen Gefahrschaffungen 625 d) Ergebnis 630 6. Rechtmäßige Alternativeingriffe 631 a) Problematik 631 b) Dogmatische Einordnung rechtmäßiger Alternativeingriffe 632 aa) Dogmatisch-konstruktive Verortung 632 bb) Dogmatische Fundierung rechtmäßiger Alternativeingriffe 636 c) Voraussetzungen der Berücksichtigung rechtmäßiger Alternativeingriffe 641 d) Fallgruppen rechtmäßiger Alternativeingriffe 645 VI. Zur Praktikabilität der Rechtfertigungskriterien 1. Zur kompetentiellen Rechtfertigung 2. Zur formellen Rechtfertigung: Das Zitiergebot 3. Zur materiellen Rechtfertigung
649 649 651 653
Ergebnisse
658
Literaturverzeichnis
677
Sachverzeichnis
692
Abkürzungsverzeichnis1 Collection
Collection of Décisions / Recueil de Décisions
EGMR
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
E.H.R.R.
European Human Rights Report
EKMR
Europäische Kommission für Menschenrechte
EMRK
Europäische Menschenrechtskonvention (Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. 1952 II S. 685)
Entwürfe
Parlamentarischer Rat, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Entwürfe), Formulierungen der Fachausschüsse, des Allgemeinen Redaktionsausschusses, des Hauptausschusses und des Plenums, Bonn 1948/49
Eur. Com. H.R.
European Commission of Human Rights
Eur. Court H.R.
European Court of Human Rights
Gruchot
Beiträge zur Erläuterung des Deutschen Rechts, begründet von Gruchot
HA-Steno
Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, Stenographische Protokolle, Bonn 1948/49
MEPolG
Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder (Text s. etwa bei Schenke, Polizeiund Ordnungsrecht, Anhang)
OTr
Königliches Ober-Tribunal (Preußen)
OTrE
Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Königlichen Ober-Tribunals
PrALR
Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten vom 1. Juni 1794, Neue Ausgabe 1817 in 4 Bänden
PrGS
Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten
* Dieses Abkürzungsverzeichnis fuhrt nur die weniger geläufigen Abkürzungen auf. Die übrigen verwandten Abkürzungen sind allgemein gebräuchlich; auf ihre Aufnahme wurde daher verzichtet. S. diesbezüglich Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 4. Aufl. 1992.
xxn
Abkurzungsverzeichnis
PrOVG
Preußisches Oberverwaltungsgericht
PrOVGE
Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Preußischen Oberverwaltungsgerichtes
PrVBL
Preußisches Verwaltungsblatt
PrVerfUrk
Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850
RGBl.
Reichsgesetzblatt
Striethorsts Archiv
Archiv für Rechtsfalle aus der Praxis der Rechtsanwälte des Königlichen Ober-Tribunals, ab Band 23: Archiv für Rechtsfalle, die zur Entscheidung des Königlichen OberTribunals gelangt sind, Hrsg. Theodor Striethorst
v.
versus (gegen)
Vol.
Volume (Band)
WRV
Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 (Weimarer Reichsverfassung)
Yearbook
Yearbook of the European Convention on Human Rights / Annuaire de la Convention Européenne des Droits de l'Homme
A. Einleitung Das Schreiben einer Einleitung zu einer Arbeit über " faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum" stellt den Verfasser vor ein Dilemma: Verstünde sich von selbst, was unter einem "faktischen Eingriff zu verstehen ist, hätte ein großer Teil dieser Arbeit nicht geschrieben werden müssen; ist die Bedeutung des Begriffes aber nicht klar, so stünde am Anfang sinnvollerweise eine Erläuterung desselben - allein, der Umfang der Arbeit zeigt, daß eine solche weit über das in einer Einleitung zu Leistende hinausginge. Nicht nur geht es in dieser Arbeit um eine Lösung des Problems der "faktischen Eingriffe", das Problem selbst bedarf zuvor einer genauen Definition. "Eingriffe in Freiheit und Eigentum" sind seit langem geläufig 1 und besitzen eine in ihrem Kern sichere Bedeutung: wenn der Staat dem Bürger ein Handeln ge- oder verbietet oder ihm durch Enteignimg sein Eigentum entzieht, so greift er nach jedem denkbaren Verständnis in die Freiheit oder das Eigentum des Betroffenen ein. Die "faktischen Eingriffe" hingegen umfassen geradezu die weniger eindeutigen Konstellationen, in denen der Staat eben nicht Befehle als unzweifelhafte Äußerungen hoheitlicher Macht erteilt, sondern sich wesentlich subtilerer wenngleich nicht notwendig weniger effektiver - Methoden bedient. Die Vielzahl staatlicher Einwirkungsmöglichkeiten auf den einzelnen spiegelt die Komplexität des Lebens in der modernen Gesellschaft wider. Diese hat den Menschen nie gekannte Entfaltungsmöglichkeiten eröffnet und ihnen hierdurch neue Freiheiten erschlossen. Notwendiges Korrelat jeder Freiheitserweiterung ist indessen die Vervielfachung der Gefahren für diese so erweiterte Freiheit, denn je mehr man besitzt, desto mehr kann einem genommen werden. Hinzu kommt, daß zusätzliche Entfaltungschancen neue Konflikte unter den Bürgern heraufbeschwören und so die Ordnungsmacht des Staates fordern; in der Wahrnehmung dieser Ordnungsaufgaben liegen wiederum Gefahren für die individuelle Freiheit begründet. Schließlich birgt nicht nur die Freiheitserweiterung selbst ihre Risiken in sich; allein die technologische und organisatorische Entwicklung stellt dem Staat fortwährend neue Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung, deren Umsetzung beschwerend auf Freiheit und Eigentum der Bürger zurückwirken kann.
1 Vgl. hierzu Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 117 ff., auch mit Nachweisen, daß die "Freiheit und EigentunT-Formel im Sinne einer "ganzheitlichen Bezeichnung der persönlichen und sachlichen Freiheitssphäre des Bürgers" zu verstehen ist (S. 132).
2
A. Einleitung
Schon die in Teil B dieser Arbeit aufgenommenen Fallbeispiele illustrieren die unüberschaubare Vielfalt von Situationen, in denen sich Bürger in der Wahrnehmung ihrer Freiheit oder im Genuß ihres Eigentums beeinträchtigt fühlen; sie geben zugleich einen Eindruck von der eminenten Bedeutung des mit dem Stichwort des "(faktischen) Eingriffs" angesprochenen Problemkreises. Die Grundrechte sind nicht nur für das gesamte Staatsverständnis des Grundgesetzes konstitutiv, bilden seine oberste Leitidee und eine Schranke für jedes staatliche Handeln. Sie beherrschen zunehmend das Bewußtsein der Bürger unseres Staates und werden immer bereitwilliger insbesondere im gerichtlichen Klagewege allen ungenehmen staatlichen Entscheidungen und Maßnahmen entgegengehalten. Der einzelne ist immer weniger gewillt, erlittene Nachteile und Interesseneinbußen als Unglück oder Schicksal hinzunehmen, sondern betrachtet sie als Unrecht, für das jemand, und das heißt zunehmend: der Staat, einzustehen habe. Während es zwar dem einfachen Gesetzgeber unbenommen ist, dem einzelnen auf einfachgesetzlicher Ebene die rechtliche Möglichkeit und Macht zur Durchsetzung seiner Interessen zu verleihen, so sind doch bei Abwesenheit solch einfachgesetzlich eingeräumter subjektiver Rechte die Grundrechte der einzige Ansatzpunkt, dieses Ziel zu verfolgen und den Staat in Verantwortung zu nehmen. Der Begriff des "Eingriffs" nimmt hier eine erste Trennung von Streu und Weizen vor: ohne Eingriff in seine Rechte vermag kein Bürger den Staat in seine Schranken zu verweisen; er mag die fragliche Maßnahme politisch bekämpfen, doch rechtlich hat er sie dann hinzunehmen. Der "Eingriff" grenzt in diesem Sinne die Sphäre des vom Bürger einer Rechtskontrolle zuführbaren von der des nur objektivrechtlich gebundenen oder gar rein politischen staatlichen Handelns ab. Die Untersuchung beginnt mit einer Bestandsaufnahme und Darstellung von Rechtsprechung und Literatur zu dem interessierenden Themenkreis. Damit soll nicht nur den Anforderungen an die Vollständigkeit einer Arbeit genügt werden, sondern, wie schon erwähnt, auch ein erster - intuitiver - Zugang zu dem Problemkreis des "faktischen Eingriffs" erschlossen werden. Es wird nicht verkannt, daß die Positionierung dieses Überblicks am Anfang der Arbeit, insofern ja der Begriff des "faktischen Eingriffs" nicht selbsterläuternd und damit das Themenfeld nicht eindeutig abgesteckt ist, das theoretische Bedenken provozieren könnte, inwieweit es möglich ist, Beispiele für ein noch nicht präzise definiertes Problem anzugeben. Indessen müßte auch das gliederungsmäßige Vorziehen der eigenen Problemdefinition Schwierigkeiten mit sich bringen: Eine theoretische Problembeschreibung genügt nur dann praktischen Anforderungen, wenn sie die tatsächlich entstehenden und diskutierten Probleme erfaßt; wenn dann lediglich Beispiele angeführt werden, die der eigenen Definition unterfallen, ließe sich leicht mutmaßen, die Beispiele seien definitionsgerecht gefiltert worden. Es kann aber nicht darum gehen, Beispiele als Beleg für die Tauglichkeit des eigenen Lösungsansatzes zu finden, sondern
A. Einleitung
umgekehrt muß sich dieser Ansatz an den in der (gerichtlichen) Praxis auftauchenden Fragestellungen messen lassen. Die Fallbeispiele an den Anfang zu stellen, entspricht im übrigen auch der tatsächlichen Entstehungsweise dieser Arbeit, an deren Beginn die Frage stand, welche Konstellationen nicht eindeutiger Eingriffe in Freiheit und Eigentum Rechtsprechung und Literatur bei allen terminologischen und dogmatischen Unklarheiten im Detail - beschäftigt haben und diskutiert werden. Im Rahmen dieser Bestandsaufnahme wurde die vorgefundene Terminologie durchweg beibehalten, da die Einführung einer eigenen Begrifflichkeit einerseits bereits eine Verfälschung dargestellt, andererseits aber auch eine Vielzahl bestehender Unklarheiten fälschlich geglättet hätte. Im Rahmen der Bestandsaufnahme in Teil B wird ein solches Ausmaß an Unklarheit in Rechtsprechung und Literatur offenbar werden, daß jeder Versuch der Entwicklung eines Eingriffsbegriffes von vornherein aussichtslos erscheinen muß, sofern er nicht ganz grundsätzlich angelegt ist. Da "faktische Eingriffe" in Freiheit und Eigentum einen Ausschnitt aus dem Gesamtkomplex der "Eingriffe" darstellen, werden in den Teilen C und D zunächst Funktion und Struktur der "Eingriffe" im Gesamtsystem der Grundrechte analysiert sowie eine detaillierte Untersuchung einzelner Elemente des Eingriffs angestellt. In Teil E ist sodann die Definition des "faktischen Eingriffs" und seine Untersuchung auf etwaige Besonderheiten möglich, während in Teil F die Ausweitung des Eingriffsbegriffes auf komplexere Sachverhaltskonstellationen unternommen wird. Teil G mit seiner gedrängten Betrachtung grundrechtlicher Leistungsansprüche dient erstens der Vervollständigung des Systems der Grundrechte, in welches der Eingriffsbegriff einzuordnen ist, bildet vor allem aber eine Hinleitung auf den abschließenden Teil H, welcher sich mit der Rechtfertigimg faktischer Eingriffe in Freiheit und Eigentum zu befassen hat: Das bloße Vorliegen eines Eingriffs zieht nämlich keine praktischen Folgen nach sich, sofern der Staat zur Vornahme des Eingriffs grundgesetzlich berechtigt ist. Die Anlage dieser Arbeit mußte notwendigerweise ziemlich umfassend geraten. Denn die Tragweite der Bestimmung "faktischer Eingriffe" für das gesamte Wirken des Staates erzwingt die Berücksichtigung der Auswirkungen des Eingriffsbegriffes auf das gesamte System. Kein Rechtsbegriff darf isoliert von dem System gesehen werden, in das er eingebettet ist, und wenn man sich auch oft über die Wertungen streiten mag, die einzelnen Begriffsbestimmungen zugrundeliegen - jedenfalls muß das System widerspruchsfrei sein und zu in sich konsistenten praktikablen Ergebnissen führen. Ohne daher einen ohnehin unerfüllbaren Anspruch auf Vollständigkeit bei der Behandlung von Vorfragen und Folgeproblemen zu erheben, geht es doch immerhin darum, aufzuzeigen, daß sich der hier entwickelte Eingriffsbegriff sinnvoll in ein allgemei-
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A. Einleitung
nes System der Grundrechte einordnen läßt. Das aber ist notwendige Voraussetzung jedes sinnvollen Eingriffsbegriffes. Die in dieser Arbeit entwickelte systematische Einordnimg mancher Rechtsfiguren weicht, ebenso wie die Terminologie, teilweise von der gebräuchlichen ab. Da systematische Gebäude, ähnlich wie Definitionen, solange sie nur widerspruchsfrei sind, nicht richtig oder falsch sein können, sondern am Maßstab der Zweckmäßigkeit zu messen sind, soll damit keineswegs impliziert werden, die hier vorgeschlagene Terminologie und Systematik sei die einzig mögliche. Indessen ist andererseits festzustellen, daß ein nicht geringer Teil der Unklarheiten und Streitigkeiten auf dem Gebiete der Eingriffsproblematik auf das Konto unzweckmäßiger Terminologien und Systembildungen geht. Unzweckmäßig, weil mißverständlich, ist etwa eine Terminologie, die dogmatisch verschiedene Phänomene mit demselben Begriff versieht, während es umgekehrt angeraten erscheint, für verwandte Phänomene verwandte Begriffe zu bilden. Entsprechend soll eine Systematik dogmatische Zusammenhänge und Verwandtschaften transparent machen und verdeutlichen; sie ist zweckmäßig, wenn sie dieses Ziel erreicht. Wie sinnvoll ein gegebenes System erscheint, richtet sich auch danach, ob das Augenmerk primär auf die dogmatischen Gemeinsamkeiten gelegt wird oder aber auf die Unterschiede. Ziel der Systematisierungen im Rahmen dieser Arbeit ist es durchweg, die Gemeinsamkeiten verwandter dogmatischer Figuren und Probleme herauszustellen, ohne dabei die bestehenden Unterschiede zu verwischen. Vermieden werden soll jedoch die oftmals festzustellende Fixierung auf die Unterschiede, die nur zu oft - vermittelt über die systematische Differenzierung - zu einer auch dogmatischen Verselbständigung fuhrt, bis schließlich eigentlich eng verwandte und ähnliche dogmatische Figuren nach gänzlich verschiedenen Kriterien behandelt werden. Das aber fuhrt regelmäßig zu Wertungsbrüchen, wenn nicht gar Wertungswidersprüchen, und hierin liegt die Ursache mancher dogmatischer Fehlleistung. Eine sinnvolle Systematik hilft Wertungswidersprüche zu vermeiden und dient damit auch der dogmatischen Konsistenz und Einheitlichkeit. Bei alledem ist freilich zu beachten, daß aus rein systembedingten oder konstruktiven Setzungen niemals dogmatische Folgerungen gezogen werden dürfen; denn wenn auch eine sinnvolle Systematik Zusammenhänge erhellt, so kann sie diese doch nicht erzeugen. Eine Anmerkung zur Methode der Untersuchung sei schon hier gestattet. An verschiedenen Stellen dieser Arbeit wird die straf-, zivil- oder polizeirechtliche Dogmatik zum Ausgangspunkt der Diskussion gemacht. Damit soll weder ein Anspruch auf Vollständigkeit noch auf eine erschöpfende Behandlung der in jenen Rechtsgebieten bestehenden Probleme erhoben werden. Es ist jedoch ein Gebot der Redlichkeit, auch Fundstellen aus Gebieten, die außerhalb des Kerns der eigentlichen Arbeit liegen, anzugeben, wenn jene Gedanken für die eigene Arbeit fruchtbar gemacht werden. In diesem Sinne sind diese Verweise
A. Einleitung
zunächst als Beleg für die Herkunft verschiedentlich behandelter Kategorien zu verstehen. Sofern nicht anders vermerkt, folgt diese Arbeit der für zutreffend gehaltenen herrschenden Meinung in jenen Rechtsgebieten. Die Betrachtung der Dogmatik anderer Rechtsgebiete darf natürlich nie im Sinne einer unbesehenen Übernahme jener Lösungsansätze für die vorliegend zu behandelnden Probleme verstanden werden. So erweckt etwa Bedenken, mit welcher Selbstverständlichkeit der BGH meinte, die im Rahmen der zivilrechtlichen Deliktshaftung anerkannten Grundsätze über die Schadenszurechnung auch auf öffentlich-rechtliche Entschädigungsansprüche anwenden zu können: "Das Berufungsgericht geht ... zutreffend davon aus, daß für die infragestehenden öffentlich-rechtlichen Ersatzansprüche hinsichtlich der ursächlichen Zurechnung des Schadens die Grundsätze gelten müssen, die auch im Rahmen der zivilrechtlichen Deliktshaftung anerkannt sind. " 2 Das ist durchaus nicht selbstverständlich. Denn auch soweit Art. 14 Abs. 3 Satz 4 und Art. 34 Satz 3 GG die Entscheidung über öffentlich-rechtliche Entschädigungsansprüche den Zivilgerichten zuweisen, entstammen die verschiedenen Ansprüche doch verschiedenen Rechtsgebieten, und die Zurechnung kann nicht unbesehen ohne Berücksichtigung der in den verschiedenen Rechtsgebieten jeweils geltenden unterschiedlichen materiell-rechtlichen Wertungen erfolgen. Der der Aussage des BGH zugrundeliegende Gedanke ist gleichwohl richtig: Ähnlich gelagerte Probleme haben, auch wenn sie in verschiedenen Rechtsgebieten entstehen, wenn nicht gleiche, so doch regelmäßig zumindest vergleichbare Lösungen. Der Blick in andere Rechtsgebiete hat daher unter zwei Gesichtspunkten zu erfolgen. Erstens lohnt es sich allemal, gerade das dogmatisch ausgefeilte Zivil- und Strafrecht daraufhin zu untersuchen, ob sie übertragbare Lösungsansätze entwickelt haben. Zweitens ist aber auch im Sinne einer Einheit der Rechtsordnung auf die Konsistenz der Wertungen zu achten: Soweit die materiellen Gemeinsamkeiten reichen, sollten auch die dogmatischen Strukturen parallel verlaufen. Nur wo materielle Unterschiede bestehen, müssen auch die Strukturen abweichen. Wenn man die Gründe analysiert, die hinter den in anderen Rechtsgebieten zu vergleichbaren Problemen gefundenen Lösungen stehen, läßt sich ein Zugang zur Beantwortung mancher der vorliegend aufgeworfenen Fragen erschließen. Gleich, ob diese Gründe als auch im Bereich der Grundrechte geltend anerkannt werden oder nicht, jedenfalls kann eine solche Vorgehensweise die Problemlösung vereinfachen, weil nicht in einem von jeder Dogmatik freien Raum geforscht werden muß, sondern auf eine anderswo bereits entwickelte Dogmatik zurückgegriffen werden kann. Dadurch wird es möglich, die Diskussion auf die entscheidenden Punkte zu konzentrieren.
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BGH, JZ 1979, 33.
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Abschließend sei vor einer fehlgehenden Erwartungshaltung hinsichtlich des Resultats dieser Untersuchung gewarnt: Als Ergebnis darf nicht eine kurze, einfache Formel erwartet werden, die sich auf beliebige Sachverhalte anwenden ließe und ohne weiteres Zutun gleichsam mechanisch das präzise Ergebnis lieferte. Angesichts der Mannigfaltigkeit faktischer Eingriffe in Freiheit und Eigentum ist solches gar nicht möglich. Ja, Theorien, die solches behaupteten, müßten geradezu suspekt erscheinen und könnten als grob vereinfachend einer großen Zahl von Konstellationen nicht gerecht werden. Juristische Entscheidungen gerade auch im Verfassungsrecht lassen sich nicht bis zum letzten rationalisieren3 in dem Sinne, daß jeder mit ratio Begabte, sofern er nur von dieser Gebrauch macht, notwendig zum selben Ergebnis käme. Denn rechtliche Fragen sind regelmäßig nicht ohne eine Wertung zu entscheiden. Zwar wird diese Wertung oftmals nicht offengelegt und erfolgt stillschweigend. Das mag im Ergebnis unschädlich und hinnehmbar sein, solange die Wertung evident oder aufgrund vielfacher Erfahrung und Bewährung bestätigt und insofern unangefochten ist. Problemfalle zeichnen sich aber gerade dadurch aus, daß sie keiner Evidenzwertung zugänglich und auch herkömmliche Entscheidimgsmuster unzulänglich sind. Die wesentliche Aufgabe wissenschaftlicher Arbeit ist dann nicht die Propagierung holzschnittartiger Lösungsformeln, sondern das Herausarbeiten der Wertungsprobleme und das Aufzeigen der relevanten Wertungskriterien 4. Damit ist zwar nicht garantiert, daß verschiedene zur Entscheidung Berufene stets zu gleichen Ergebnissen kämen; dem Wesen der Wertung ist eben diese Letztungewißheit immanent. Aber zumindest ist die Diskussion strukturiert; man weiß, worauf es ankommt, welche Fragen zu stellen und zu beantworten sind - und streitet nicht um Belanglosigkeiten, bis man aufgrund irrelevanter Erwägungen zu einem Ergebnis kommt, das sowohl richtig als auch falsch sein mag, jedenfalls aber jeder stichhaltigen Begründung ermangelt. Wenn schon oftmals eine Dezision unumgänglich ist, dann sollte sie wenigstens von den zutreffenden Erwägungen geleitet werden und innerhalb eines Systems erfolgen, das Wertungswidersprüche und Ungereimtheiten möglichst aufdeckt und vermeiden hilft. Nur dadurch läßt sich eine Entscheidungsharmonie bezüglich faktischer Eingriffe in Freiheit und Eigentum herstellen.
Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 76. 4
Vgl. Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 76; ihm folgend Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 89. Gegen "schneidige Formeln" auch Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 283; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 186.
B. Der "faktische Eingriff 1 in Rechtsprechung und Literatur Die in diesem Teil der Arbeit vorzunehmende Bestandsaufnahme über die Behandlung des Problems der faktischen Eingriffe in Rechtsprechung und Literatur 1 soll sich im ersten Abschnitt der Lage vor Inkrafttreten des Grundgesetzes zuwenden, bevor auf jene nach 1949 einzugehen ist.
I . Das klassische Eingriffsverständnis 1. Bedeutung der früheren Diskussion Neben der Befriedigung des allgemeinen rechtshistorischen Interesses an der Diskussion um den Eingriffsbegriff vor Geltung des Grundgesetzes sprechen vornehmlich zwei Gründe dafür, das "klassische" Eingriffsverstandnis wenigstens kurz aufzuzeigen: die Verteilung der Argumentationslast und die Problemidentitat. a) Der sogenannte "klassische Eingriffsbegriff" Die überwiegende Zahl der Stimmen sieht einen regelrechten "klassischen Eingriffsbegriff". Unter einem Eingriff sei nach "klassischer" Auffassung nur ein rechtlicher Hoheitsakt zu verstehen gewesen, der, mit Befehl und Zwang angeordnet bzw. durchgesetzt, unmittelbar und final die rechtliche Stellung des Betroffenen (in belastender Weise) regelte2. Teilweise wird gar behauptet,
1 Die Bestandsaufnahme muß unter Verwendung der voigefundenen Terminologie erfolgen, da es nicht möglich wäre, Rechtsprechung und Literatur die ab Teil C zu entwickelnde eigene Begrifflichkeit überzustülpen, ohne den Diskussionsstand zu verfalschen und zu glätten, was nicht zu glätten ist. 2 Vgl. BVerwGE 87, 37, 41; 90, 112, 121; Badura, Die Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand, S. 845; Bleckmann, Grundrechte, S. 336; Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373 f.; Discher, JuS 1993, 464; Eckhoff,\ Der Gmndrechtseingriff, S. 175 f.; Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 213; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 61; Kloepfer, Umweltrecht, § 2 Rdnr 5; Kraft, BayVBl. 1992, 458; Meyn, JuS 1990, 632; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 271; Scherzberg, DVB1. 1989, 1128; Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit, S. 272; ähnlich Gronefeld, Preisgabe und Ersatz, S. 118 f.; Hoppe, DVB1. 1981, 311; Lübbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 42 und NJW 1987, 2705: Imperative als klassische Instrumente staatlicher
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B. Der "faktische Eingriff in Rechtsprechung und Literatur
für das Vorliegen der Unmittelbarkeit sei erforderlich gewesen, daß der Hoheits-, insbesondere Verwaltungsakt an den Betroffenen adressiert war 3 . Nun kann sicher, wie auch immer der Begriff letztlich zu definieren ist, nicht zweifelhaft sein, daß ein Eingriff vorliegt, wenn die genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Von diesem Ausgangspunkt aus stellt sich jedoch die gesamte spätere Diskussion um den Eingriffsbegriff lediglich als eine Frage der "Ausweitung" dieses engen "klassischen" dar 4 . Damit wird eine Argumentationslast für denjenigen begründet, der einen weiteren Eingriffsbegriff befürwortet, weil ein Abrücken des Grundgesetzes von einem fest gefügten Rechtsinstitut nicht ohne weiteres zu unterstellen wäre, sondern anzunehmen ist, die Verwendimg überkommener Rechtsbegriffe und Institute bezwecke auch die Inkorporation der überkommenen Bedeutung, sofern es nicht entgegenstehende Anhaltspunkte im Grundgesetz gibt. Fraglich ist nur, ob dem "klassischen" Eingriffsverständnis die genannten Kriterien tatsächlich zugrunde lagen. b) Problemidentität Die früheren Aussagen zum Eingriffsverständnis sind ferner deshalb von unmittelbarer Bedeutung, weil auch frühere Verfassungen Grundrechte vorsahen, bei denen sich die Frage nach Eingriffen in gleicher Weise wie bei den Grundrechten des Grundgesetzes stellte: Die beispielsweise in den Art. 3 ff. der Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 18505 festgelegten "Rechte der Preußen" boten zwar keinen Schutz gegen legislative Maßnahmen6, wohl aber gegen die richterliche und vollziehende Gewalt, insbesondere als Ansprüche auf Unterlassung von Verwaltungsakten7. Gleiches galt für die in den Art. 109 bis 165 der Weimarer Reichsverfassung vom
Verhaltenssteuemng; Ossenbühl, Umweltpflege, S. 14 f.; Ramsauer, VerwArch 1981, 89, 92; Stober, GewArch 1993, 141 f. 3 Bleckmann, Grundrechte, S. 337; Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373; Eckhoff,\ Grundrechtseingriff, S. 145. 4 Vgl. Badura, Die Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand, S. 845; Bleckmann, Grundrechte, S. 337 ff.; Eckhoff\ Der Grundrechtseingriff, S. 173 ff.; Ossenbühl, Umweltpflege, S. 20, 24 f.; Pieroth/Schlink, Gnindrechte, Rdnr 273 ff.; Ramsauer, VerwArch 1981, 92 f. (allerdings mit dem Hinweis, daß die Diskussion z.T. unter anderen Überschriften erfolgte). 5
PiGS 1850 S. 17 (Nr. 3212).
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Anschätz, Verfassungsurkunde, S. 94: "Ansprüche von Individuen gegen den Staat als Gesetzgeber, sei es auf Unterlassung oder Zurücknahme eines legislativen Aktes [gehören] nach unseren Rechtsanschauungen zu den Unmöglichkeiten." Soweit Thoma, Vorbehalt, S. 220 f. den Grundrechten wegen Art. 109 PrVerfUrk eine "gewisse gesetzaufhebende Funktion" zuerkennen wollte, ist zu beachten, daß er dies nur auf Gesetze bezog, die bei Inkrafttreten der PrVerfUrk bereits bestanden und insofern schlicht den Satz 'lex posterior derogat priori* anwandte; einen Schutz gegen künftige legislative Akte sah auch er nicht vor. 7
Anschütz, Verfassungsurkunde, S. 96.
Der
I. Das klassische Eingriffsverstndnis
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11. August 19198 aufgenommenen Grundrechte. Wenngleich sie in gewissem Maße sogar gegen gesetzgeberische Akte schützten9, lag auch ihre Bedeutung noch primär in dem Schutz gegen Judikative und Exekutive 10 . Diese Schutzrichtung haben die Grundrechte früherer Verfassungen mit denen des Grundgesetzes gemeinsam, so daß jedenfalls insoweit die Probleme hinsichtlich eventueller Eingriffe identisch sind. Überhaupt stellt(e) sich die Eingriffsproblematik unabhängig von einer verfassungsmäßigen Gewährleistung von Grundrechten als ein allgemeines rechtsstaatliches Problem von Eingriffen in Freiheit und Eigentum11 oder, wie Walter Jellinek 12 es nannte, bei jedem "Eingriff in die Rechtssphäre des einzelnen". Konkret diskutiert wurden diese Probleme dort, wo sie sich in der juristischen Praxis stellten (und auch heute noch stellen): prozeßrechtlich bei der Klagebefugnis 13, materiellrechtlich bei der Begründetheit einer Klage, insbesondere im Rahmen der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung 14 oder im Hinblick auf öffentlich-rechtliche Entschädigungsansprüche15. Die Frage, was ein "Eingriff" sei, wurde insofern nicht abstrakt typologisch betrachtet, sondern funktional, als jeweilige Voraussetzung etwa einer Anfechtungsklage oder eines Entschädigungsanspruchs. Die diskutierten Fälle und Konstellationen sind heute nicht minder relevant als damals; ihre Skizzierung vermag daher zugleich einen ersten Eindruck von der Eingriffsproblematik zu vermitteln.
8 RGBl. 1919 S. 1383. ^ Vgl. die berühmte Entscheidung des Reichsgerichtes vom 4.11.1925, RGZ 111, 320, 322 ff., und zuvor schon z.B. RGZ 102, 161, 164 v. 28.4.1921, sowie PiOVG, PrVBl. 46 [1925], 559 v. 24.2.1925; zustimmend v.Stqff, in Nipperdey, Grundrechte, Bd. 1, Art. 102-104, S. 105; ablehnend Tatarin-Tarnheiden, in Nipperdey, Grundrechte, Bd. 3, Art. 165, S. 526 Fn. 25; für formelle Gesetze ein allgemeines richterliches Prüfungs- und Verwerfungsrecht ablehnend Anschätz, Reichsverfassung, Art. 70 Anm. 3 ff., Art. 102 Anm. 3 f. (ein solches Recht billigte er indes dem Staatsgerichtshof (Art. 108 WRV) zu).
s. dazu Anschütz, Reichsverfassung, vor Art. 109 Anm. 7; Thoma, in Nipperdey, Grundrechte, Bd. 1, S. 33 ff. ** Vgl. Anschütz, Verfassungsurkunde, S. 96 f., der die Grundrechte der PrVerfUrk nicht als Enumeration der persönlichen Freiheitsrechte ansah, sondern auch "unerwähnt gebliebene Bestandteile der individuellen Freiheitssphäre" anerkannte; ders., PrVBl. 22 [1900/01], 84; Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht I, 1. Aufl. 1895, S. 108 f.; Fleiner, Institutionen, 3. Aufl. 1913, S. 122. 1 2
Verwaltungsrecht, S. 122,
1 3
Vgl. etwa PiOVGE 1, 327, 329 ff.; 38, 447, 451; W. Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 295; Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht I, S. 126 f. 1 4 1 5
Vgl. etwa PrOVG, PrVBl. 21 [1899/1900], 25; Fleiner, Institutionen, S. 130 f.
Vgl. Fleiner, Institutionen, S. 289 ff.; Otto Mayer, S. 295 ff.
Deutsches Verwaltungsrecht n ,
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B. Der "faktische Eingriff" in Rechtsprechung und Literatur
2. Die Eingriffsdiskussion vor 1949 a) In der Rechtsprechung aa) Preußisches Obertribunal Das Plenum des Preußischen Obertribunals stellte am 1. Juli 1850 als Ausgangspunkt seiner Rechtsprechung fest: "Ob aber eine solche bloße Eigenthumshandlung (des Fiskus) vorliege, oder vom Staate vermöge des ihm zustehenden Hoheitsrechts in die Privatrechte des Anderen eingegriffen sei, hängt von den Umständen des einzelnen Falles ab." 1 6 Für das OTr war hiernach die entscheidende Frage die nach der Reichweite der allgemeinen, auch dem Staat als Fiskus zukommenden Eigentümerrechte, und nicht eine bestimmte Art des Gebrauchmachens von dem Eigentum; es entschied die Grenze, nicht die Form des Gebrauchs. War diese Grenze überschritten, so lag ein Eingriff vor, unabhängig von der Handlungsform. In einem Urteil vom 20. Dezember 1853 entschied das OTr dann auch folgenden Fall 1 7 : Eine Stadtbehörde erhöhte eine Straße dermaßen, daß der Kläger nur noch über eine Treppe Zugang zu seinem anliegenden Grundstück hatte, und dieses mit Fahrzeugen nicht mehr befahren konnte. Das OTr gab der auf § 75 Einleitung PrALR 1 8 gestützten Entschädigungsklage statt. Die Gemeinde habe sich bei der Ausführung der Erhöhungsarbeiten nicht mehr im Rahmen ihres Privateigentums bewegt 19 , vielmehr "die gesetzlichen Schranken des Eigenthums zum Nachteil des Klägers bei der Erhöhung des Straßenpflasters überschritten" 20. Der Kläger konnte dieser Erhöhung selbst indes nicht widersprechen, da sie im öffentlichen Interesse notwendig war, mußte daher seinen Unterlassimgsanspruch aufopfern. Hiernach wurde "durch die Erhöhung der ...Straße in das Eigenthumsrecht des Klägers eingegriffen", so daß er zu entschädigen war. Das OTr zögerte somit nicht, eine einfach vorge1 6
OTrE 20 [1851], 3, 9; vgl. auch OTr, Striethorsts Archiv 6 [1853], 220, 222; 8 [1853], 337, 344. 1 7 Striethorsts Archiv 11 [1854], 164. 1 8 Die noch verschiedentlich interessierenden §§ 73 ff. Einleitung PrALR haben folgenden Wortlaut: "§73. Ein jedes Mitglied des Staats ist, das Wohl und die Sicherheit des gemeinen Wesens, nach dem Verhältnisse seines Standes und Vermögens, zu unterstützen verpflichtet. § 74. Einzelne Rechte und Vortheile der Mitglieder des Staats müssen den Rechten und Pflichten zur Beförderung des gemeinschaftlichen Wohls, wenn zwischen beiden ein wirklicher Widerspruch (Collision) eintritt, nachstehn. § 75. Dagegen ist der Staat demjenigen, welcher seine besondern Rechte und Vortheile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genöthigt wird, zu entschädigen gehalten." 1 9 Andernfalls wäre nach dem Plenarbeschluß OTrE 20 [1851], 3 ein Entschädigungsanspruch von vornherein ausgeschlossen gewesen. 2 0 Striethorsts Archiv 11 [1854], 164, 167.
I. Das klassische Eingriffsverstandnis
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nommene Straßenerhöhung als anspruchsbegründende Maßnahme anzuerkennen, und zwar ungeachtet dessen, daß dem Anlieger gegenüber keine Duldungsverfugung ergangen war. Zwar wäre dem OTr zufolge der Anlieger primär auf privatrechtlichen Eigentumsschutz verwiesen. Das war ihm hier jedoch wegen des öffentlichen Bedürfnisses "gesetzlich versagt" 21. Insofern ließe sich erwägen, ob nicht das OTr im gesetzlichen Ausschluß des Abwehrrechts den eigentlich entschädigungspflichtigen Eingriff sah. Einer solchen Interpretation steht aber entgegen, daß erstens nicht das Gesetz den Schaden des Klägers verursachte, sondern erst die konkrete Baumaßnahme, und daß zweitens das OTr in ständiger Rechtsprechung davon ausging, daß es für gesetzliche Eingriffe keine Entschädigung nach § 75 Einleitung PrALR geben könne, weil die Kabinettsordre vom 4. Dezember 1831 22 Gesetze von der Entschädigungspflicht ausnahm23. Das OTr sah daher den Eingriff nicht in dem gesetzlichen Ausschluß des Unterlassungsanspruchs, sondern in der Straßenerhöhung selbst. Daß diese aber ein Rechtsakt wäre, wird nirgends behauptet. So nahm auch das Urteil des OTr vom 14. Juli 1865 24 zwar ausdrücklich Gesetze von der Entschädigungspflicht aus, hielt aber als Resultat fest, "daß die §§ 70 und 75 der Einleitung zum Allg. Landrecht nur auf den Fall Anwendung finden, wenn das Privat-Eigenthum Einzelner durch eine Verwalrwrtgsmaaßregel beeinträchtigt wird oder verloren geht" 25 . Die Betonung lag wie die Hervorhebung im Original beweist - auf "Verwaltung", nicht auf "Maßregel", wie es hier überhaupt nur auf die Abgrenzung Gesetzgebung Verwaltung ankam und nicht etwa auf eine Eingrenzung der Natur des entschädigungsrelevanten Verwaltungshandelns. Ein weiteres Beispiel aus der Rechtsprechung des OTr 2 6 : Um einem drohenden Dammbruch zu vermeiden, ordnete die Deichbehörde einen Durchstich an. Dabei wurden die Grundstücke der Kläger überflutet und beschädigt, und diese forderten nun Entschädigung vom Deichverband. Das OTr ging zunächst davon aus, daß der Durchstich als "polizeiliche Maaßregel" rechtmäßig "angeordnet und durchgeführt" wurde 27 . Dabei hinderte den Entschädigungsanspruch nicht, daß diese Anordnung nicht den Klägern gegenüber erging. Gleichwohl konnten sie aus ihren Eigentumsrechten nicht gegen den Durchstich vorgehen, sondern mußten dem Gesamtinteresse weichen. Das war 2 1
Ebd., S. 168.
2 2
PiGS 1831 S. 255 ff. (Nr. 1330).
2 3
OTrE 17 [1849], 374, 380; OTr, Striethorsts Archiv 50 [1864], 139, 142; 60 [1866], 111,
116 ff. 2 4
Striethorsts Archiv 60 [1866], 111.
2 5
Ebd., S. 119 (Hervorhebung im Original).
2 6
Striethorsts Archiv 6 [1853], 220 (Urteil v. 2.7.1852). Ebd., S. 221.
2 7
3 Roth
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B. Der "faktische Eingriff in Rechtsprechung und Literatur
entscheidend. "Die Entschädigungspflicht des Verklagten tritt ein, weil die Versandung die unmittelbare und vorherzusehende Folge des mit Vorbedacht unternommenen Durchstichs", also nicht zufällig war 2 8 . Kriterien waren hier also Unmittelbarkeit und Vorhersehbarkeit der Folge, nicht eine bestimmte Handlungsform. Abschließend folgender bezeichnender Fall 2 9 : Die beklagte Stadt hatte beim Bau einer Straße ein Grundstück des Klägers herangezogen, ohne es zuvor enteignet zu haben. Der Kläger forderte mit Erfolg Entschädigung. Nach Ansicht des OTr fand "der Anspruch des Klägers sein Fundament in den §§ 7375 der Einleitung zum Allgem. Landrecht und in dem Art. 9 des Staatsgrundgesetzes vom 31. Januar 1850" 30 . Entscheidend war, daß der Bau der Straße im öffentlichen Interesse erfolgte und der Kläger sein Eigentum dem nicht vorenthalten durfte. "Die Thatsache, daß die klägerische Parzelle dem geordneten Expropriationsverfahren nicht unterlegen hat, kann die Verklagte nicht besser stellen, als wenn ein solches Verfahren stattgehabt hätte. Durch den Mangel desselben wird die faktische Entziehung des Eigenthums des Klägers und die hieraus folgende Entschädigungspflicht der Verklagten nicht beseitigt"^. bb) Reichsgericht Auch das RG hatte es im hier interessierenden Themenkreis primär mit Entschädigungsansprüchen zu tun. So forderte in dem mit Urteil vom 3. April 1903 3 2 entschiedenen Fall der Kläger, Inhaber eines Fische-reiprivilegs, vom beklagten Staat Entschädigung für die aufgrund einer vorgenommenen Flußregulierung entstandenen Beeinträchtigungen der Fischerei. Die auf § 75 Einleitung PrALR gestützte Klage hatte dem Grunde nach Erfolg: "... als das die Entschädigungspflicht begründende Moment stellt sich ... der Umstand dar, daß es sich um eine Stromregulierung handelt, welche auch ungeachtet des etwaigen Widerspruchs von Interessenten durchgesetzt werden sollte und kraft der rechtlichen Machtstellung des Staates durchgesetzt werden konnte... Gerade dafür, daß dem Privatrecht seine Geltendmachung im Interesse des öffentlichen Wohles versagt wird, ist ein Entschädigungsanspruch vorgesehen. Es liegt eine öffentlichrechtliche Einschränkung eines Rechts an einer Sache vor, welche der Entziehung dieses Rechts, wie auch der des Eigentums selbst,
2 8
Ebd., S. 223 f.
2 9
OTr, Striethorsts Archiv 52 [1864], 20 (Urteil v. 12.10.1863).
3 0 Ebd., S. 22. Die Miterwähnung des Art. 9 PrVerfUrk ist übrigens bemerkenswert. Das OTr führe aber leider nicht näher aus, ob es auch allein auf das Eigentumsgrundrecht gestützt Entschädigung gewähren wollte. 3 1 3 2
Ebd., S. 23 (Hervorhebung im Original). RGZ 54, 260.
I. Das klassische Eingriffsverstandnis
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im Grundsatze gleich zu achten ist" 33 . "Als ein Eingriff in das Fischereirecht müssen ... solche Veränderungen des Stromes betrachtet werden, durch welche entweder die Fischerei überhaupt ganz oder zum Teil aufgehoben oder eine der Bedeutung nach dem gleiche Folge herbeigeführt wird. Die gegenteilige Annahme würde mit dem Begriffe eines Rechts kaum noch vereinbar bleiben." 34 . Diese Beeinträchtigungen beruhten "auf den am Strome vorgenommenen Arbeiten in deijenigen Gestalt, in welcher diese geplant waren und dem Plane entsprechend ausgeführt sind" 35 und nicht auf einem von der Anordnung der Maßnahmen abweichenden Versehen, welches mithin nicht zu dulden, sondern abzuwehren gewesen wäre. "Ob aber die Strombauverwaltung bei Anordnung der Maßnahmen oder bei ihrer Durchführung die nachteiligen Wirkungen für die Fischerei vorausgesehen oder doch für wahrscheinlich gehalten hat, muß als unerheblich erscheinen"36. Das RG entschied ferner einen Fall, in dem ein Eigentümer einen Schaden an seiner Wiese durch Grundwassersenkung aufgrund einer von der preußischen Staatsregierung vorgenommenen Flußregulierung erlitt 37 . Der auf § 75 Einleitung PrALR bzw. allgemeines Eigentumsrecht gestützte Entschädigungsanspruch scheiterte am Fehlen einer Rechtsbeeinträchtigung, nicht an dem fehlenden Eingriffscharakter dieser Maßnahme: "Eine Einwirkung liegt allerdings vor; sie findet ihre Ursache in dem natürlichen Zusammenhang, in welchem der Grundwasserstand eines Grundstücks mit dem Grundwasserstand benachbarter Grundstücke und dem Wasserstande der in der Nähe befindlichen Gewässer steht" 38 . In einem vergleichbaren Fall 3 9 - Versiegen einer Quelle und Bodenabsenkung nach Inbetriebnahme eines Wasserwerkes durch die Gemeinde - scheiterte der Kläger wiederum mit seinem Entschädigungsbegehren aus § 75 Einleitung PrALR. Nun aber nicht, weil kein Eingriff vorgelegen hätte, oder weil kein Recht beeinträchtigt gewesen wäre, sondern weil die Gemeinde fiskalisch handelte und daher der Eingriff nach §§ 903, 1004 BGB abzuwehren war. "Wenn der Eigentümer weder durch ein besonderes Gesetz noch durch eine Verwaltungsmaßregel gezwungen ist, den Eingriff in sein Eigentum zu dul-
3 3
Ebd., S. 264.
3 4
Ebd., S. 267 f. Ebd., S. 263.
3 5 3 6
Ebd., S. 264.
3 7
RGZ 64, 24 (Urteil v. 3.7.1906).
3 8
Ebd., S. 26; in demselben Sinne auch die Urteile des RG vom 7.5. und 26.6.1912, Gruchot 56, 1112 bzw. 1115: Entschädigungsansprüche scheiterten an fehlender Rechtsverletzung, nicht daran, daß Stromregulierung bzw. Durchstich nicht als Eingriffe in Betracht kamen. 3 9 RG, Gruchot 54, 635 (Urteil v. 4.12.1909).
14
B. Der "faktische Eingriff" in Rechtsprechung und Literatur
den, so ist er eben nicht genötigt, die betreffenden Rechte aus dem Eigentum aufzuopfern. w 4 ° In einem reichsgerichtlichen Urteil vom 12. Mai 1903 41 ging es um folgenden Fall: Infolge des Baus einer Eisenbahnstrecke wurde eine überquerte Straße gesperrt. Der Eigentümer derselben verlangte Entschädigung. Das RG gab dem, obschon ein Enteignungsverfahren nicht durchgeführt worden war in Übereinstimmung mit dem O T r 4 2 - grundsätzlich statt. Der Streckenteil sei dem Eisenbahnkörper einverleibt, und dieser Zustand auch staatlich geschützt. Dadurch "hat der Beklagte ... im Ergebnis vollständig erreicht, was im Enteignungsverfahren erreicht werden konnte, und in gleicher Weise ist dem Kläger sein Grundeigentum materiell entzogen; das ihm bleibende Eigentumsrecht behält für ihn keinen weiteren Wert, als daß, wenn die Richtung der Eisenbahn in Zukunft verlegt werden sollte, sein Recht wieder zur Geltung kommen kann. Ein solches Ergebnis will das Gesetz nicht. Das Grundeigentum soll nur gegen Entschädigung entzogen oder beschränkt werden können" 43 . Entscheidend sei, "daß durch die Gewährung des Enteignungsrechts in Verbindung mit dem den Anlagen zuteil werdenden staatlichen Schutze virtuell eine Entziehimg des Grundeigentums aus Gründen des öffentlichen Wohles bewirkt ist. Haben die Verhältnisse tatsächlich dahin geführt, daß dies ohne ein die Interessen des Grundeigentümers sicherndes Verfahren geschehen ist, so darf der Unternehmer ... daraus Vorteile nicht ziehen" 44 . In einem anderen Fall forderte ein Patentinhaber vom Militärfiskus Entschädigung für die Nutzung seines Patentes durch die Militärverwaltung. Hier führte das R G 4 5 aus, daß zwar nach § 5 Abs. 2 PatG 46 der Reichskanzler bestimmen könne, das Patent solle für das Heer etc. benutzt werden, und daß dies dann eine nach dem PatG entschädigungspflichtige Enteignung des Patents darstelle (Zwangslizenz), daß aber die Erklärung des Reichskanzlers 4 0 Ebd., S. 640 (Hervorhebung durch Verfasser). Übrigens verstand das RG "Verwaltungsmaß regel" als Oberbegriff für alles Verwaltungshandeln, wie das "insbesondere" in seiner Formulierung "durch eine Verwaltungsmaßregel, insbesondere durch die Anordnung einer Verwaltungsbehörde" auf S. 639 belegt. 4 1 4 2
RGZ 55, 7. OTr, Striethorsts Archiv 52 [1864], 20.
4 3
RGZ 55, 7, 12. Ebd., S. 20; ebenso RG, Gruchot 54, 1186, 1189 (Urteil v. 23.2.1910), worin es um die Beeinträchtigung einer Grunddienstbarkeit aufgrund eines Eisenbahnbaues ohne vorangegangenes Enteignungsverfahren ging. In beiden Fällen fand das Preußische Enteignungsgesetz v. 11.6.1874 (PrGS 1874 S. 221 (Nr. 8207)) Anwendung. Daraus ergab sich die Besonderheit, daß der Eisenbahnfiskus nicht unmittelbar zur Zahlung einer Entschädigung verurteilt wurde, sondern zur nachträglichen Beantragung eines Planfeststellungsverfahrens, in dessen Rahmen die Entschädigung festzusetzen war. An der - vorliegend allein interessierenden - Bejahung eines Eigentumseingriffs durch das RG ändert das nichts. 4 4
4 5 4 6
Gruchot 56, 1119 (Urteil v. 19.6.1912). PatG v. 7.4.1891, RGBl. 1891 S. 79; entspricht § 13 I PatG v. 16.12.1980.
I. Das klassische Eingriffsverstandnis
15
"nicht als einziger Fall der Enteignung anerkannt werden" könne. "Die Benutzung der geschützten Erfindung ist ihr gleichzustellen. Der Patentinhaber muß befugt sein, geltend zu machen, daß eine Enteignung seines Patents trotz fehlender Enteignungsverfugimg doch tatsächlich stattgefunden hat." 4 7 "Irgend etwas weiteres als der Nachweis der Benutzung" sei nicht erforderlich; auf den subjektiven Tatbestand komme es nicht an. Das RG betonte ferner ausdrücklich, daß dieses Verständnis des PatG einen Anwendungsfall des § 75 Einleitung PrALR darstelle 48, welcher den allgemeinen Entschädigungsgrundsatz normierte. "Daß der angebliche Eingriff in das Recht des Klägers nicht mit Bewußtsein vorgenommen sein würde", sei in dessen Rahmen ebenso unerheblich wie nach dem PatG. "Auch für den § 75 Einl. z. ALR ist es anerkannt, daß es genügt, wenn durch eine von der zuständigen Stelle im Interesse der Allgemeinheit getroffene Maßnahme dem einzelnen ein Rechtsopfer tatsächlich zugemutet wird. " 4 9 cc) Preußisches Oberverwaltungsgericht Das PrOVG hatte - im Gegensatz zum OTr bzw. RG - aufgrund seiner Stellung als Verwaltungsgericht nicht mit Entschädigungsansprüchen zu tun, sondern mit der Anfechtung der Verwaltungsmaßnahme selbst. Die Eingriffsproblematik stellte sich hier im Rahmen der Klagebefugnis. Dabei entschied sich das PrOVG bereits 1876, zu Beginn seiner Tätigkeit, gegen die "Adressatentheorie". In dem bekannten "Trunkenbold-Fall" (polizeiliches Verbot an Gastwirte, dem benannten "Trunkenbold" Branntwein auszuschenken) ließ es nämlich, obwohl sich die Verfügung an die Wirte richtete, deren Anfechtung durch den "Trunkenbold" zu 5 0 : "Entscheidend für die Beantwortung der hier in Rede stehenden Frage ist vielmehr zunächst, daß jene polizeiliche Verfügung nicht nur rechtlich nicht geschützte Interessen des F., sondern auch die Rechtssphäre desselben berührt und in diese positiv eingreift, insofern der Beschwerdeführer sämmtlichen Wirthen seines Aufenthaltsortes als notorischer Trunkenbold bezeichnet, also in Beziehung auf ihn eine Thatsache behauptet und verbreitet wird, welche ... objektiv eine Minderung seiner Ehre involvirt" 51 .
4 7
Gruchot 56, 1119, 1121.
4 8
Ebd., S. 1122; ebenso RGZ 102, 390 (Urteil v. 28.9.1921). RG, Gruchot 56, 1123 (Hervoihebung durch Verfasser).
4 9 5 0 5 1
PrOVGE 1, 327 (Urteil v. 9.5.1876).
PrOVGE 1, 327, 330. Der Kläger, ein Böttcher, hatte sich übrigens auf eine Störung im Betrieb seines Gewerbes (!) berufen, da er seine Kunden, eben die Wirte, nicht mehr aufsuchen könne. Vgl. auch PrOVG, PrVBl. 21 [1899/1900], 25 (Urteil v. 28.3.1899): Eingriff in den Rechtskreis des Klagers.
16
B. Der "faktische Eingriff in Rechtsprechung und Literatur
Auch in seinem Urteil vom 9. Februar 1878 gestand das PrOVG 5 2 einem Kläger die Anfechtungsklage zu, obwohl er nicht Adressat der Verfügung war. Die Eigentümer zweier Wiesen fochten hierin erfolgreich die einem anderen gegenüber ergangene Anordnung der Vertiefung eines Grabens an, welche die Überflutung ihrer Wiesen zur Folge hatte. Das PrOVG führte zu § 80 Kreisordnung vom 13. Dezember 1872 53 in Verbindung mit § 6 des Gesetzes über die Zulässigkeit des Rechtsweges in Beziehung auf polizeiliche Verfügungen vom 11. Mai 1842 54 aus: "Der dem zum Grunde liegende gesetzgeberische Gedanke ist der, daß die Rechtsprechung des Verwaltungsrichters überall da eintreten soll, wo Seitens eines Rechtssubjektes behauptet wird, daß sein Recht durch eine polizeiliche Verfügimg gegen das Gesetz verletzt werde. Lediglich die Behauptung der Rechtsverletzung ist die Voraussetzung der Klage; es fehlt an einem genügenden Anhalt für die Unterscheidung der Fälle, wo Deijenige, dem ein Handeln oder Unterlassen aufgegeben wird, hierin eine Verletzung seiner eigenen Rechte behauptet, von denen, wo ein Dritter sich beschwert, daß die angeordnete Handlung oder Unterlassung in seine Rechte gesetzwidrig eingreife" 55. Ein besonders interessanter Sachverhalt lag dem Urteil vom 28. Oktober 1880 56 zugrunde: Ein Versicherungsnehmer begehrte von der Versicherungsgesellschaft Zahlung einer Feuerversicherungssumme. Diese wollte an sich zahlen, sah sich hieran aber dadurch gehindert, daß die Polizeibehörde die Genehmigung zur Auszahlung verweigerte. Der Versicherungsnehmer verklagte daraufhin die Behörde auf Erteilung der Zustimmung, und das PrOVG ließ die Klage zu (zur Aufklärung der inhaltlichen Berechtigung der Verweigerung zurückverweisend): die Voraussetzungen für eine Klage aus den §§30 ff. des Zuständigkeitsgesetzes vom 26. Juli 1876 57 seien gegeben. "Wesentlich maßgebend ist dabei einerseits die Absicht, in welcher die Beklagte die angefochtene Verfügung erlassen hat, die dem Ausdruck der Verfügung zukommende innere Bedeutung, andererseits - im Zusammenhange hiermit - das Ziel, welches der Kläger, dem Vorgehen der Beklagten entgegentretend, verfolgt. In ersterer Beziehung hat die Beklagte, von der Gesellschaft um die Genehmigung zur Auszahlung angegangen, ... die Genehmigung zu ertheilen sich außer Stande erklärt - und das in der ... klar erhellenden Absicht, die Gesellschaft 'im Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit' - an anderer Stelle werden die Worte: 'des Beispiels wegen' gebraucht - zur Vorenthaltung
5 2
PrOVGE 3, 217.
5 3
PrGS 1872 S. 661 (Nr. 8080); später aufgehoben durch § 159 und ersetzt durch §§ 127 ff. Landesvenvaltungsgesetz v. 30.7.1883 (PrGS 1883 S. 195 (Nr. 8951)). 5 4
PrGS 1842 S. 192 (Nr. 2273).
5 5
PrOVGE 3, 217, 222.
5 6
PrOVGE 7, 310. PrGS 1876 S. 297 (Nr. 8446).
5 7
I. Das klassische Eingriffsverstandnis
17
der Zahlung zu bestimmen. Nachdem nun die Gesellschaft dieser Absicht überall entsprechend in ihren Entschließungen sich thatsächlich hat bestimmen lassen, gilt es für den Kläger - anlangend ferner das Ziel der Klage - zunächst nur, einen anderweitigen Ausspruch der zuständigen Stelle herbeizuführen in dem Sinne, daß die von der Beklagten auf jene Entschließung geübte Einwirkung - soweit das eben noch möglich - wieder ungeschehen gemacht wird. Darin ist der sachliche Kern der Klage zu erblicken... Wie das Oberverwaltungsgericht bereits mehrfach ausgesprochen hat, steht Demjenigen, in dessen Rechtsgebiet wider seinen Willen durch eine polizeiliche Verfügung eingegriffen worden ist, selbstständig das Recht der Klage im Verwaltungsstreitverfahren zu - gleichviel, ob die polizeiliche Verfügung in ihrer äußeren Gestalt sich unmittelbar gegen ihn oder zunächst gegen einen Dritten richtet... Nun wird aber durch die Einspruchserklärung, welche die beklagte Polizeiverwaltung in Ausübung ihrer Polizeigewalt... der Versicherungsgesellschaft Th. gegenüber abgegeben hat, insofern in die Rechtssphäre und zwar zunächst in Vermögensrechte des Klägers eingegriffen, als die gedachte Gesellschaft, so lange der polizeiliche Widerspruch besteht, eine Brandentschädigung an den Kläger zu zahlen sich weigert, jene Einsprucherklärung daher für den Kläger ein thatsächliches Hindernis, in den Genuß der Entschädigungssumme zu treten, bildet. Wenn die Beklagte dem gegenüber ihre Verfügung mit dem Hinweis darauf, daß dieselbe die Gesellschaft in deren Verhältnis zum Kläger nicht binde und jedenfalls von diesem im Wege der Civilklage wirkungslos gemacht werden könne, als eine dem Kläger unschädliche darzustellen sucht, so ist dabei übersehen, daß die Gesellschaft - ob zu Recht oder zu Unrecht, ist hier nicht zu untersuchen - sich thatsächlich durch die Verfügung für gebunden erachtet und daß schon in dem Zwange zur Anstellung einer Civilklage ein Eingriff in die Rechte der Klägers liegt, gegen welchen derselbe den im Verwaltungsstreitverfahren gegebenen Rechtsschutz suchen kann" 58 . Dieses Urteil ist dreifach bemerkenswert. Erstens war wiederum eine Maßnahme in Streit, die nicht dem Kläger gegenüber vorgenommen wurde, sondern der Versicherungsgesellschaft als einem Dritten. Zweitens war für das PrOVG nicht entscheidend, ob diese Äußerung dem Dritten gegenüber eine Bindungswirkung als Verwaltungsakt entfaltete; es genügte die dahingehende Absicht der Behörde und das dementsprechende Verhalten der Gesellschaft. Und drittens wurde der Kläger nicht auf die Zivilklage gegen die Gesellschaft verwiesen, da bereits das - die Gesellschaft war ja eigentlich zahlungswillig in seine Rechte eingriffe. Die Grenze der Anfechtungsmöglichkeit des Nichtadressaten zeigte das PrOVG in seinem Urteil vom 30. März 1887 59 auf. Darin wies es die An5 8 5 9
PrOVGE 7, 310, 312 ff. PrOVGE 15, 416.
18
B. Der "faktische Eingriff" in Rechtsprechung und Literatur
fechtungsklage einer Stadtgemeinde gegen eine Anordnung des Polizeipräsidenten ab, welche die Einweisung der geschlechtskranken B. in ein Krankenhaus zum Inhalt hatte. "Die Parteien sind sich darüber einig, daß das Ersuchen des Beklagten um Einweisung der B. in das städtische Krankenhaus ... keine polizeiliche Anordnung und Auflage, sondern eine Requisition darstellt, der gegenüber der Magistrat die völlig freie Entschließung, ihr zu entsprechen oder nicht, behielt... Die polizeilichen Verfügungen, welche im vorliegenden Falle ergangen sind, bestehen in der Anordnung ... gegen die B. mit allen in derselben enthaltenen Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit..." 60 . Ein Eingriff in die Rechte der Stadt komme folglich nur unter zwei Aspekten in Betracht. Der erste - Verursachung sachlicher Kosten im Rahmen der der Ortspolizeiverwaltung - scheitere daran, daß die die Kosten verursachende Verbringung in das Krankenhaus von der Ortspolizeibehörde vorgenommen wurde, Kommune und Polizeibehörde sich aber nicht derart selbständig gegenüberstanden, wie es für die Annahme einer Verfügung erforderlich gewesen wäre 61 . Zweitens mußte aber auch die Belastung auf dem Gebiet der Armenpflege unbeachtet bleiben. Es sei zwar das Interesse der Stadtgemeinde berührt, nicht aber in ihre Rechte unmittelbar eingegriffen. "... vielmehr handelt es sich ... um Wirkungen auf dem Rechtsgebiete der Stadtgemeinde, die nicht das Ziel oder doch die unmittelbare nach Lage der Sache nothwendige Folge der polizeilichen Verfügung sind, sondern von dem Zusammentreffen verschiedener, dem Wirkungskreise der Polizei entrückter Umstände abhängen, derartig, daß die Polizeibehörde regelmäßig gar nicht in der Lage sein wird, sie zu übersehen, und daß, wenn dieselbe gleichwohl versuchen wollte, sie zu berücksichtigen, ein solches Verfahren regelmäßig den Vorwurf der Unsachlichkeit und der Verwischung der Grenzen der Zuständigkeit begründen würde" 6 2 . Die Erstreckung der Anfechtungsberechtigung auf Nichtadressaten fand demnach seine Grenze darin, daß dieser eine Rechtsverletzung rügen können mußte. "Die Rechtsmittel gegen polizeiliche Verfügungen sind also dritten Personen nur im Falle eines unmittelbaren Eingriffs in ihre Vermögensrechte gegeben. Ein mittelbares finanzielles Interesse genügt nicht" 63 . Wie das zu verstehen ist, verdeutlicht das Urteil vom 13. Februar 1901 6 4 . Der "Oekonom H." betrieb in den Räumlichkeiten einer Bierbrauerei eine Gaststätte. Sowohl H. als auch die Brauerei, eine Aktiengesellschaft, klagten
6 0
Ebd., S. 419.
6 1
Ebd., S. 420 f. Ebd., S. 422 f.
6 2
6 3 PrOVGE 38, 376, 379 (Urteil v. 17.12.1900, Hervorhebungen im Original); ebenso PrOVGE 48, 245, 247 (Urteil v. 8.1.1906). 6 4
PrOVGE 39, 292.
I. Das klassische Eingriffsverstandnis
19
gegen eine Verlängerung der Polizeistunde, der "Oekonom H." mit Erfolg. Die Klage der Brauerei wurde als unzulässig abgewiesen. "Denn wenn auch die Rechtsmittel zur Anfechtung einer polizeilichen Verfugung nicht bloß dem zustehen, an den die Verfügung sich richtet, sondern auch dem, dessen Rechte im Falle ihrer Ausführung verletzt werden würden, so gilt das doch nur für eine Rechtsverletzung, deren Abwehr selbständig und unabhängig von dem Verhalten desjenigen, an den sich die Verfügung richtet, gegenüber der Polizeibehörde betrieben werden kann. Was hier aber in Betracht kommt, ist nur das Interesse, das die Gesellschaft als Eigenthümerin der Räumlichkeiten und als Lieferantin des Bieres an dem Betriebe der Schankwirthschaft hat, und dieses Interesse könnte gegenüber der Polizeibehörde augenscheinlich dann nicht geltend gemacht werden, wenn der Schankwirth mit der Anordnung einverstanden gewesen wäre ... weil es eben Rechte der Gesellschaft gegenüber der Polizeibehörde auf die Art der Regelung der Polizeistunde für den Schankwirth nicht zu begründen vermag" 65 . In einem spiegelbildlichen Fall 6 6 klagten der Pächter und der Verpächter einer Molkerei gegen den Widerruf der dem Pächter erteilten Genehmigung zum Betrieb eines (genehmigungspflichtigen) Milchhandelsbetriebes. Die Klage des Verpächters wurde als unzulässig abgewiesen: "Ein polizeiliches Vorgehen gegen den Pächter eines wirtschaftlichen Unternehmens gibt dem Verpächter und Eigentümer nicht ohne weiteres auf Grund des Pachtverhältnisses und der dadurch zwischen Pächter und Verpächter bestehenden rechtlichen und wirtschaftlichen Beziehungen ein selbständiges Recht der Abwehr solcher polizeilichen Maßnahmen. Unter Berufung auf eine Verletzung der Rechte des Pächters kann der Verpächter den Rechtsmittelweg gegen polizeiliche Verfügungen nicht beschreiten. Nur wenn eine polizeiliche Verfügung in seinen Rechtskreis unmittelbar eingreift, steht ihm ein Beschwerderecht zu... Die Schließung des in der Hand des Klägers Z. befindlichen Betriebs beschränkte die R.er Molkerei an sich nicht in der Ausübung ihrer Rechte als Eigentümerin. Sie wurde in der Verfügungsgewalt über die ihr gehörige Molkereieinrichtung dadurch noch nicht behindert. Lediglich finanzielle Rückschläge aber, die sie zu erwarten hatte, weil der Pächter den Betrieb nicht weiterführen konnte, bedeuteten keinen unmittelbaren Eingriff in ihre Rechte. Wenn auch ihre wirtschaftlichen Interessen als Verpächterin dadurch in Mitleidenschaft gezogen wurden, daß der Pächter gezwungen wurde, den Betrieb aufzugeben, so blieben doch ihre aus dem Pachtverhältnis und aus dem Eigentum fließenden Rechtsansprüche dadurch unberührt" 67.
6 5
Ebd., S. 295 f.
6 6
PrOVGE 95, 111 (Urteil, v. 1.11.1934).
6 7
Ebd., S. 117 f.
20
B. Der "faktische Eingriff" in Rechtsprechung und Literatur
Die Klage des Pächters war, soweit sie den Widerruf der Genehmigung und die Unterbindung des Milchhandelsbetriebes betraf, unbegründet. Er rügte aber außerdem - und insofern ist der Fall von weiterem Interesse daß sich die Schließung nicht auf den Milchhandelsbetrieb beschränkt, sondern auch auf den nichterlaubnispflichtigen Milchverarbeitungsbetrieb erstreckt habe. Diese Rüge war erheblich. Damit wäre nämlich die Polizei über das in der (rechtmäßigen) Untersagungsverfügung gesetzte Ziel hinausgegangen, würde "wesentlich mehr und anderes zur Ausführung gebracht haben, als der maßgebliche polizeiliche Befehl enthielt. Die Schließung des erlaubten Betriebs des Klägers Z. würde nicht von vornherein als eine zur Ausführung der polizeilichen Verfügung zur Schließung des unerlaubten Betriebs gehörige Folgeerscheinung ... gelten können, sondern eine neue selbständige polizeiliche Maßregel bedeuten, die ... der Anfechtung im ordentlichen Rechtsmittelweg unterworfen ist. Daran ändert sich auch nichts, wenn sich die Polizei in ihren Handlungen lediglich von der Absicht hat leiten lassen, die Vollstreckung der besagten polizeilichen Verfügung durchzuführen. Denn ob es sich um Maßnahmen zur Vollstreckung einer polizeilichen Verfügung oder um ein neues selbständiges polizeiliches Einschreiten handelt, kann nicht nach dem zugrunde liegenden Willen der betr. polizeilichen Organe beurteilt werden, sondern richtet sich danach, in welcher Weise die polizeiliche Tätigkeit nach außen in Erscheinung tritt und zur Auswirkung gelangt"68. Eine nochmalige Erweiterung der Klagemöglichkeit ergab sich schließlich durch das Urteil des PrOVG vom 27. September 1900 69 . Die Polizeibehörde hatte hier dem Nachbarn des Klägers aufgegeben, die von einer Treppe ausgehende Gefahr wahlweise durch Anbringung eines (den Zugang zum Gewerbebetrieb des Klägers erschwerenden) Geländers oder sonstige geeignete Maßnahmen zu beseitigen. Nachdem der Nachbar, eine katholische Kirchengemeinde, das Geländer angebracht hatte, wandte sich der Kläger erfolgreich gegen die Anordnung. "Unerheblich ist es ferner, daß in der ... Verfügung dem Adressaten die Wahl gelassen worden war, das Geländer anzubringen oder andere Vorkehrungen zu treffen... ihr allein blieb die Wahl überlassen, der Kläger hatte keinerlei Einfluß darauf; stellte die katholische Kirchengemeinde das Geländer auf, machte sie also nach dieser Richtung von ihrem Wahlrechte Gebrauch, wie es thatsächlich nachher geschehen ist, so war dadurch die polizeiliche Auflage erledigt. " 7 0 Die Rechtsprechung des PrOVG läßt sich nach alledem folgendermaßen charakterisieren: Gefordert wurde stets die Unmittelbarkeit des Eingriffs in ein Recht. "Unmittelbarkeit" wurde aber erstens nicht so verstanden, daß der Be-
6 8
Ebd., S. 118 f.
6 9
PiOVGE 38, 447. Ebd., S. 451 f.
7 0
I. Das klassische Eingriffsverstandnis
21
troffene Adressat der Verfügung sein mußte. Und zweitens stand ihr nicht entgegen, daß die eigentlich belastende Handlung die eines Privaten war, ja sogar eine, die dieser aufgrund (jedenfalls partiell) freier Entschließung vornahm (vgl. den Geländer-Fall: seitens der Behörde hätte der Nachbar auch die andere Alternative wählen können). Das Unmittelbarkeitserfordernis ist daher nicht handlungs-, sondern erfolgsbezogen zu verstehen. Das PrOVG stellte dem "unmittelbaren Eingriff in ein Vermögensrecht" die Beeinträchtigung des "mittelbaren finanziellen Interesses" gegenüber71. Damit korrespondierten Unmittelbarkeit und Recht, sowie Mittelbarkeit und Interesse (Nichtrecht). Die Unmittelbarkeit wurde stets bejaht, wenn sich die hoheitliche Maßnahme im Ergebnis - und sei es auch vermittelt über die Handlung eines Privaten - als Rechtsbeeinträchtigung auswirkte; verneint wurde die Unmittelbarkeit hingegen, wenn kein Recht, sondern ein bloßes, nicht geschütztes Interesse betroffen war. Die Ausgrenzung des bloß mittelbaren Vermögensinteresses erfolgte zwar explizit nur in solchen Fällen, in denen ein Nichtadressat eine bestimmte Maßnahme anfocht, um so ein Ausufern des Kreises potentiell Anfechtungsberechtigter zu verhindern, und dem sonst völlig unbestimmbaren Kreis von möglicherweise beeinträchtigten Interessen Herr zu werden 72 . Das darf jedoch nicht überbewertet werden. Denn die Beeinträchtigimg eines bloßen Interesses hätte selbst dem Adressaten - obschon dieser aus handlungsbezogener Sicht unmittelbar betroffen wäre - nie zur Anfechtung der Maßnahme berechtigt. Auch er mußte selbstverständlich die Beeinträchtigung eines Rechtes geltend machen können. Er war nur insofern in einer besseren Lage, als er sich pauschal auf Freiheit und Eigentum berufen konnte, so daß eine Interessenbeeinträchtigung in der Regel zugleich eine Rechtsbeeinträchtigimg darstellte; ein Schluß, der beim Nichtadressaten nicht zwingend war. Letzterer mußte die Rechtsbeeinträchtigung jeweils begründen; der topos der "Unmittelbarkeit" war nur ein anderer Name dafür und insofern ein erfolgsbezogenes Charakteristikum. b) In der Literatur aa) Otto Mayer Eine ausdrückliche Definition, was ein "Eingriff" sei, findet sich bei Otto Mayer nicht; was er im Rahmen einer Anfechtungsklage sachlich darunter verstand, ergibt sich indes aus seiner Bestimmung des Beschwerdeberechtigten als desjenigen, "wer durch den anzufechtenden Beschluß beschwert wurde, indem
7 1 7 2
PrOVGE 38, 376, 379 (Hervorhebungen im Original). So ausdrücklich PiOVGE 15, 416, 418.
22
B. Der "faktische Eingriff in Rechtsprechung und Literatur
dieser über ihn erging, bestimmte, was für ihn Rechtens sein sollte, und das rechtswidriger- oder unbilligerweise zu seinem Nachteil" 73 . Dies wird noch dahin präzisiert, daß das Anzufechtende nicht die Gestalt eines Befehls an den Beschwerdeführer zu haben brauche, daß es vielmehr genüge, "daß es in irgend einer Weise gegen sein Recht und seine Freiheit gerichtet sei" 74 , daß der Befehl in anderer Weise auf ihn zurückwirke 75. Fraglich ist indes, was Otto Mayer meinte, wenn er an anderer Stelle ausführte, daß Eingriffe in die Grundrechte der Preußischen Verfassungsurkunde auch "einfach via facti im Einzelfalle" vorkommen könnten 76 , und den Zweck des Gesetzesvorbehalts gerade auch im "Ausschluß thatsächlicher Eingriffe ohne gesetzliche Grundlage" sah 77 . Dies könnte als Aussage zugunsten eines bestimmten Eingriffsverständnisses verstanden werden. Zu beachten ist aber, daß er den tatsächlichen Eingriff "ohne alle rechtssatzmäßige Regelung" dem Eingriff bei vorhandener Regelung gegenüberstellte78. Auch bei den von ihm genannten Beispielen der Verhaftung und Enteignung stellte er nicht auf eine bestimmte Handlungsform ab, sondern unterschied danach, ob sie eine gesetzliche Grundlage haben oder bloß gemäß einer Dienstanweisung erfolgen 79. Seine Ausführungen stehen im Zusammenhang mit der Frage, ob sich die Grundrechte nur gegen untergesetzliche Normen (insbesondere Verordnungen) richten, oder auch gegen einzelne Eingriffe 80 . Ihm kam es mithin auf die Grundlage des Eingriffs an, nicht auf dessen Art. Das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage machte ihn in seinen Augen zu einem "thatsächlichen", nicht eine bestimmte Modalität. Insofern ist seinen diesbezüglichen Ausführungen keine weitere Klärung seines Eingriffsbegriffes zu entringen, und er hat das Problem des "thatsächlichen Eingriffs" in seinem späteren Werk 8 1 auch nicht mehr aufgegriffen. Aufschlußreich sind aber seine Ausführungen im Zusammenhang mit öffentlich-rechtlichen Entschädigungsansprüchen82. Deren Voraussetzung83 ist 7 3
Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht I, S. 127, S. 159 Fn. 18.
7 4
Ebd., S. 127 Fn. 9.
7 5
Ebd., S. 237.
7 6
Otto Mayer, AöR 18, 101. ders., Deutsches Verwaltungsrecht I, 1. Aufl. 1895, S. 75 Fn. 11; ders., AöR 18, 103.
7 7 7 8
ders., Deutsches Verwaltungsrecht I, 1. Aufl. 1895, S. 75 Fn. 11; ders., AöR 18, 101.
7 9
ders., AöR 18, 101.
8 0 Vgl. Otto Mayer, AöR 18, 100 ff.; dazu auch Anschütz, Verfassungsurkunde, Alt. 5 Anm. 3, S. 134; Thoma, Vorbehalt, S. 217. 8 1 8 2
Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 3. Aufl.
Zum Institut der öffentlich-rechtlichen Entschädigung und seiner Begründung vgl. Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht II, S. 295 ff.; Fleiner, Institutionen, S. 295 ff.; Anschätz, VerwArch 5, 5 ff. 8 3 Als weitere, hier nicht interessierende Voraussetzung forderte Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht II, S. 306 ff., eine ungleiche Belastung, ein besonderes Opfer des Betroffenen in seinen Werten.
I. Das klassische Eingriffsverstandnis
23
nach Otto Mayer**, daß dem Einzelnen durch die öffentliche Verwaltung ein wirtschaftlicher Nachteil zugefugt wird. Dabei kämen verschiedene Einwirkungsformen in Betracht: erstens Verwaltungsakte; zweitens Handlungen, die "an sich rechtlich gleichgültig" sind, den Betroffenen "gar nicht oder nur sehr unwesentlich" berühren (also keine Verwaltungsakte im engeren Sinn darstellen), an die aber das Gesetz rechtlich belastende Wirkungen knüpft; drittens könne die Verwaltung unter Umständen auch ohne alle rechtliche Bestimmtheit des Eingriffs "mit der Tat" 85 gegen Privateigentum vorgehen. Als Beispiel für die 3. Gruppe nannte er etwa Manöverschäden, die abirrende Polizeikugel, Funkensprühen einer Eisenbahnlokomotive, Schäden, die ein Postwagen verursacht, Versumpfung eines Grundstückes durch Undichtwerden eines Schiffahrtskanales. Unerheblich sei es dabei, ob "der Eingriff absichtlich geschieht". So unterschieden sich etwa Manöverschäden von der Enteignung durch die fehlende Absicht: "es wird einfach rücksichtslos vorgegangen mit dem öffentlichen Geschäft, nicht um ein bestimmtes Eigentum zu treffen, sondern gleichgültig dafür" 86 . So wolle man bei militärischen Schießständen nicht, daß die Kugeln zum Acker hinüberflögen, "aber man läßt schießen auf die Gefahr hin, daß das geschieht und die Leute verletzt werden; ebenso wie die Patrouille auf den entfliehenden Arrestanten schießt, obwohl es naheliegt, auf der belebten Straße einen Vorübergehenden zu treffen". Die öffentliche Verwaltung trage also allgemein die Gefahr für rücksichtsloses Vorgehen oder für ihre "gefährlichen Unternehmungen"87. Auf Verschulden oder Rechtswidrigkeit komme es nicht an 8 8 . "Die Verursachung genügt"89. Eine solche Verursachung könne sogar anzunehmen sein, wo es an einem eigentlichen Eingriff fehle: ein Unterlassen genüge im Falle einer "übernommenen Gefahr", wenn der Schaden hätte verhütet werden können; das betrifft Fälle einer Verkehrseröffhung oder Ingewahrsamnahme von Sachen90. Neben den rücksichtslosen 8 4
Deutsches Verwaltungsrecht H, S. 300 f.
8 5
Ebd., S. 301 (Hervorhebung im Original). Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht II, S. 301 (Hervorhebung im Original).
8 6 8 7
oo
Ebd., S. 301.
Die Rechtmäßigkeit der genannten Maßnahmen folgte für Otto Mayer ohnehin aus der Notwendigkeit der Verwirklichung der Staatszwecke, vgl. etwa Deutsches Verwaltungsrecht n , S. 119, 128. 8 9 Ebd., S. 302 (Hervorhebung im Original). 9 0 Ebd., S. 303. Kritisch Otto Mayer, ebd., S. 303 Fn. 14 dabei zur Rechtsprechung, die diese Fälle mit Hilfe zivilrechtlicher Konstruktionen zu lösen suchte: RGZ 48, 255 (Urteil v. 14.2.1901) lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein eingeschriebener Brief aus dem Ausland war wegen Übergewichtes von der Post an die Zollverwaltung abgegeben worden und dort abhanden gekommen. Der Absender (Kläger) verlangte von dieser Schadensersatz. Dem Grunde nach mit Erfolg. Zwar nicht aus Transportvertrag, der nicht zwischen ihm und der Zollverwaltung geschlossen war, aber doch nicht bloß aus außerkontraktlicher Schadenshaftung, sondern vertraglich oder quasivertraglich. In Betracht komme entweder ein Vertrag zwischen Post und Zollbehörde zugunsten des Absenders. Man könne aber auch eine "unmittelbare gesetzliche Verpflichtung durch Analogie einer vertragsmäßigen, also eine sog. quasikontraktliche " annehmen. "Daß diese obligatio quasi ex contractu in den Quellen des ge-
24
B. Der "faktische Eingriff" in Rechtsprechung und Literatur
Unternehmungen und den Fällen übernommener Gefahr sah Otto Mayer noch die Schädigung durch unerlaubte Handlungen, die nicht auf dem Willen der öffentlichen Verwaltung beruhten, sondern auf einem "Fehlgehen ihrer Mittel" 91 und sowohl "beim obrigkeitlichen Ausspruch wie bei der einfachen Tat" auftreten könne 92 . bb) Gerhard Anschütz Von Interesse sind hier die Ausführungen Anschütz' zur Entschädigungspflicht nach § 75 Einleitung PrALR. Sein Ausgangspunkt ist, daß danach "ganz allgemein" für Aufopferung zu entschädigen war. "Auf die Form des zur Aufopferung nöthigenden Staatsaktes kam es hiernach so wenig an, wie auf seine materielle Natur..." 93 . Diesen Rechtszustand sah er zwar durch die Kabinettsordre vom 4. Dezember 1831 94 dahingehend geändert, daß die Gesetzgebimg, die Judikative sowie bestimmte Majestäts- und Hoheitsrechte von einer Entschädigungspflicht ausgenommen, diese also auf "Einrichtungen in der Verwaltung" 95 beschränkt wurden 96 . Aufgrund dieser "negativen Begriffsbestimmung" 97 kam er so zu seiner Aussage, als anspruchserzeugende
meinen Rechtes nicht besonders erwähnt ist, würde natürlich nicht im Wege stehen; denn für neue öffentlichrechtliche Verhältnisse, die jenen unbekannt sind, müssen die privatrechtlichen Konsequenzen nach Analogie der in jenen geregelten Thatbestände gezogen werden" (ebd., S. 258, Hervorhebung im Original). In RGZ 54, 53 (Urteil v. 23.2.1903) war ein Passant auf einer eisglatten öffentlichen Treppe gestürzt und verlangte von der Gemeinde Schadensersatz. Dieser wurde nach § 823 I BGB zugesprochen, aus dem sich eine außerkontraktliche Schadensersatzpflicht auch für rechtswidrige Unterlassungen eigebe. Denn "wer immer, sei es Staat, Gemeinde oder Privater, sich dem Publikum gegenüber zu einer Leistung, welche dessen Wohlfahrt fordern soll, verbunden und eine entsprechende Einrichtung - wie durch den Bau einer Straße - getroffen habe, der sei fortan nicht mehr pflichtenlos; zwar trete er durch Erfüllung der im öffentlichen Recht gebotenen Verpflichtung nicht in ein Vertragsverhältnis zu dem Publikum, wohl aber stelle sein fehlerhaftes Handeln oder Unterlassen, die Übertretung jener Pflicht eine injuria ... dar" (ebd., S. 57). "Eine privatrechtliche Verantwortlichkeit wird dadurch, daß dem Grundstücksbesitzer die Unterhaltung des Weges als öffentlichrechtliche Pflicht obliegt, nicht ausgeschlossen. Wird in Vernachlässigung dieser Obliegenheit zugleich diejenige Sorgfalt verabsäumt, welche im Rechtsverkehr nach dem bürgerlichen Gesetze zu beobachten ist, so gehört die daraus erwachsende Haftung dem Gebiete des Privatrechts an, und auf diesem Gebiet können auch die Korporationen des öffentlichen Rechts keine gesonderte Rechtsstellung beanspruchen. Es ist nicht einzusehen, daß eine Gemeinde von der Haftung, die eine Privatperson als Grundstücksbesitzer treffen würde, um deswillen befreit sein sollte, weil das Grundstück ein öffentlicher Weg oder Platz, und der Gemeinde venvaltungsrechtlich die Unterhaltung zugewiesen ist" (ebd., S. 59, Hervorhebung im Original). Otto Mayer, Deutsches Veiwaltungsrecht II, S. 304 (Hervorhebung im Original). 9 2 9 3
Ebd., S. 304. Anschätz, VerwArch 5, 86.
9 4
PrGS 1831 S. 255 (Nr. 1330).
9 5
Rechtsgutachten des Staatsministeriums vom 16.11.1831, PrGS 1831 S. 257. Anschätz, VerwArch 5, 84 ff. Ebd., S. 99.
9 6 9 7
I. Das klassische Eingriffsverstndnis
25
Staatsakte kämen "alle Verfugungen auf dem Gebiet der inneren Verwaltung" in Betracht 98. Da "Verfügung" hier im Gegensatz zu Rechtsnorm, Rechtsprechung und gewissen Majestätsakten zu verstehen ist, muß man diese Stelle keineswegs als Beschränkung auf Verwaltungsakte im heutigen Sinn verstehen. "Verfügungen" sind, wie im Ursprung des § 75 Einleitung PrALR, alle staatlichen Akte unter Ausschluß der genannten Bereiche. Dahin deutet auch das Beispiel des Hinüberfliegens militärischer Geschosse vom Schießplatz auf das Nachbargrundstück, und zwar selbst wenn es an einer entsprechenden militärischen Anordnung hierzu fehlt 99 . Es geht hier um Verwaltungsakte als Gegensatz zu Gesetzgebungsakten, im Sinn eines "Einzelaktes" gegenüber einer allgemeinen N o r m 1 0 0 , nicht um eine rechtstechnische Charakterisierung dieses Einzelaktes. Dem entsprechend führte Anschütz an späterer Stelle 101 aus, Entschädigungsansprüche könnten "gestützt werden auf 'Einrichtungen in der Verwaltung', z.B. auf die Vornahme öffentlicher Arbeiten, die Verwaltung öffentlicher Anstalten..., weiterhin und namentlich auch auf polizeiliche Verfügungen, welche in das Privateigentum eingreifen". Das weist deutlich darauf hin, daß für ihn Verwaltungsakte zwar als hauptsächliche, nicht aber als einzige Form entschädigungsbegründender Eingriffe Bedeutung hatten 102 . Dem entspricht auch, wenn er den Sinn der Freiheitsgewährleistung des Art. 5 PrVerfUrk 103 primär darin sah, zu verhindern, "daß die Verwaltung, was zu 'verordnen' ihr im Hinblick auf Art. 62 nicht gestattet ist, durch Verfügungen, durch tatsächliche Akte und Eingriffe ins Werk setzt... 'Beschränkungen' im Sinne des zweiten Satzes sind administrative Beschränkungen, Verwaltungsakte jeder Art und Form" 1 0 4 . Das zielt auf eine Ausgrenzung der Legislative, nicht auf eine Eingrenzung des eingriffsrelevanten Verwaltungshandelns.
9 8
Ebd., S. 101.
9 9
Ebd., S. 95 f.; daß er sich dabei gegen eine eventuelle Unterlassungs- bzw. Schadensersatzklage wandte, beruht nicht darauf, daß er hier keinen Eingriff in das Eigentum sah, sondern in der Annahme, es handle sich hier um unmittelbare Ausübung von Staatshoheit. 1 0 0 Vgl. Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 329. 1 0 1
1 (Y)
Anschätz, Verfassungsurkunde, S. 176.
Vgl. auch Anschütz, Reichsverfassung, Art. 153, S. 713, wonach für die Enteignung allein die Auferlegung eines besonderen Opfers begriffswesentlich sei; hierzu gehöre nicht notwendig eine Ubereignung, sie könne "sich auch in anderen Tatsachlichkeiten, wie Aufnötigung von Vermögenseinbußen, Zerstörung von Sachen, Vernichtung von Rechten ohne Übereignung, verkörpern". 1 (Y? "Die persönliche Freiheit ist gewährleistet. Die Bedingungen und Formen, unter welchen eine Beschränkung derselben, insbesondere eine Verhaftung zulässig ist, werden durch das Gesetz bestimmt." 1 0 4 Anschütz, Verfassungsurkunde, S. 134 (Hervorhebungen im Original).
26
B. Der "faktische Eingriff" in Rechtsprechung und Literatur
Nach Art. 5 PrVerfUrk sei es der gesetzgebenden Gewalt vorbehalten, die Freiheit zu beschranken. Folglich "kann jede andere Gewalt im Staate, insbesondere die vollziehende Gewalt, die Verwaltung, diese Machtbefugnis nur erlangen kraft Gesetzes, durch gesetzliche Ermächtigung, gleichviel ob sie die Beschränkungen in das Gewand abstrakter Vorschriften (Verordnungen) kleiden oder im konkreten Einzelfalle durch Gebote, Verbote oder tatsächliche exekutivische Eingriffe geltend machen w i l l " 1 0 5 . Anschütz stellte hier den Gebzw. Verboten ausdrücklich die "tatsächlichen exekutivischen Eingriffe" als Beschränkung der Freiheit gleich, denn "Wort und Begriff der 'Beschränkungen' [seien] nicht eng, sondern weit auszulegen"106. cc) Walter Jellinek Walter Jellinek billigte das formliche 107 Beschwerderecht zunächst nur dem "rechtlich Beteiligten" zu, das ist der "von einer Verfügung Getroffene oder mit einem Antrag Abgewiesene", der Empfanger eines schriftlichen Verwaltungsaktes. Sofern aber solche Verfügungen auch in die Rechte eines Dritten eingriffen, sei auch dieser "mittelbar Getroffene", "soweit er sich beschwert fühlen kann", anfechtungsberechtigt 108. Diese Erweiterung des Kreises der Anfechtungsberechtigten sei "notwendig zum Schutz gegen Umgehungen" 109 . Jellinek erweiterte den Kreis der Anfechtungsberechtigten darüberhinaus noch mehr, indem er eine Anfechtung auch von - wie er sie bezeichnete "polizeilichen Eingriffen tatsächlicher A r t " 1 1 0 , "Verwaltungsakten tatsächlicher A r t " 1 1 1 oder "tatsächlichen Eingriffen" 112 zuließ 1 1 3 . Als Beispiele für solche tatsächlichen Eingriffe nannte er dabei etwa Bespitzelung, Überwachung, Verbringen zur Wache, Vornahme von Änderungen an einer Person oder Sache 114 . Dabei orientierte er sich freilich am Befehl und begründete die Anfechtbarkeit solcher Maßnahmen systematisch damit, daß er ihnen einen immanenten Duldungsbefehl zuerkannte 115.
1 0 5
Ebd., s. 134 (Hervorhebung im Original).
1 0 6
Ebd., S. 135.
1 0 7 Im Gegensatz zur formlosen Beschwerde, die z.B. "auch ein Freund des Ausgewiesenen einlegen" könne, Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 295. 1 0 8
Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 295.
1 0 9
ders., Gesetz, S. 248.
1 1 0
Ebd. Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 258.
1 1 1 1 1 2
ders., Gesetz, S. 207.
1 1 3
ders., Verwaltungsrecht, S. 258; Gesetz, S. 248.
1 1 4
ders., Gesetz, S. 204 f. ders., Verwaltungsrecht, S. 258; in Gesetz, S. 206 f., sprach er noch - weniger weit gehend - von der "Begründung einer Duldungspflicht", die er an die "Begründung einer Gehorsamspflicht" (Befehl) anlehnen wollte. 1 1 5
I. Das klassische Eingriffsverstandnis
27
Im Bereich öffentlich-rechtlicher Entschädigung forderte er Entschädigung auch für "mittelbare Enteignungen", wie er die Fälle verstand, bei denen die Verwaltung ein Grundstück (oder auch ein Patent) in Anspruch nimmt, ohne zuvor ein Enteignungsverfahren durchzuführen; der Verwaltung dürfe nämlich kein Vorteil daraus erwachsen, daß sie das ordnungsgemäße Verfahren umgeht 1 1 6 . dd) Fritz Fleiner Fleiner definierte den obrigkeitlichen Eingriff als "Gebot oder Verbot, das den Bürger in seiner Freiheit beschränkt oder ihm die Pflicht zu einem Dulden oder zu einer positiven Leistung zugunsten der öffentlichen Verwaltung auferlegt" 117 . Voraussetzung für eine Beschwerde sei ein unmittelbarer Eingriff in rechtlich anerkannte Interessen; wer "bloß von den mittelbaren Wirkungen einer Verfügung eine Schädigung seiner ökonomischen Lage befürchtet", sei nicht beschwerdebefugt 118. Dasselbe führte er zur Klagebefugnis aus 1 1 9 . Nicht ausdrücklich sagte er, ob er damit Beschwerde- bzw. Klagebefugnis auf den Adressaten einer Maßnahme beschränken wollte 1 2 0 , oder ob sie auch Nichtadressaten zukommen kann. Daß er aber aber letzteres meinte, ergibt sich daraus, daß er ausdrücklich die Popularklage, also Klagen von Personen ohne eigenes persönliches Interesse 121, ausschloß122. Da der Adressat einer Maßnahme niemals ausgeschlossener Popularkläger sein kann, jeder Popularkläger also Nichtadressat ist, hätte Fleiner die Popularklage nicht ausdrücklich ausschließen müssen, wenn die Klagebefugnis sowieso auf Adressaten beschränkt wäre. Vielmehr ist davon auszugehen, daß es auch Nichtadressaten gibt, die, weil persönlich rechtlich betroffen, nicht Popularkläger sind; sie müssen aus vorgenanntem Grund klagebefugt sein. Mit anderen Worten: aus der Nichtadressierung folgt nicht das persönliche rechtliche Desinteresse. Im Zusammenhang mit der öffentlich-rechtlichen Entschädigung legte Fleiner dar, daß als Eingriff in das Eigentum primär die Enteignung vorkomme, daß es aber auch vielfältige sonstige schädigende Einwirkungen auf das private Vermögen gebe, die als die "notwendigen und unausbleiblichen Folgen der Verwaltungstätigkeit" objektiv den Schaden verursachten und insofern als ent-
1 1 6
ders., Verwaltungsrecht, S. 329 f.
1 1 7
Fleiner, Institutionen, S. 131. Ebd., S. 232 (unter Berufung auf PrOVGE 38, 376).
1 1 8 1 1 9
Ebd., S. 265 f.
1 2 0
So verstehen ihn Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373 Fn. 2 (die von ihnen zitierte 1. Aufl. der Institutionen, 1911, S. 220 f. entspricht 8. Aufl. 1928, S. 232). 1 2 1 Gemeint ist "ohne persönliches rechtliches Interesse"; denn wer versucht schon zu klagen, ohne überhaupt irgend ein persönliches Interesse an der Sache zu haben? 1 2 2 Institutionen, S. 266 f.
4 Roth
28
B. Der "faktische Eingriff in Rechtsprechung und Literatur
schädigungspflichtige Eingriffe in Betracht zu ziehen seien 123 . Die Grundsätze des Enteignungsrechts wollte er jedenfalls dort anwenden, "wo der Staat mit Hilfe seiner Befehlsgewalt ein dem Bürger zustehendes ... Einzelrecht in einer Weise der öffentlichen Verwaltung dienstbar macht, die es nach seinen wesentlichen Richtungen der Verfügung des Privaten entzieht" 124 . Dann liege ein "expropriationsähnlicher Tatbestand"125 vor. Neben der Enteignung (bzw. ähnlichen Tatbeständen) erkannte er weitere staatliche Eingriffe an, die zwar nicht auf die Übertragung von Rechten hinausliefen, aber gleichwohl Beschränkungen der individuellen Freiheit und der Eigentumsfreiheit darstellten. Als Beispiele hierfür nannte er das Nutzloswerden von Fabrikeinrichtungen infolge des Verbots bestimmter Stoffe, die Lahmlegung privater Abfuhrunternehmungen durch Kommunalisierung der Fäkalienabfuhr, die Aufhebung der Privatschlächtereien durch Einführung eines Schlachthauszwanges, sowie Bausperren 126. Als eine in solchen Fällen greifende und Entschädigung gewährende Norm sah er dabei § 75 Einleitung PrALR127. Nach seinen Formulierungen und der Mehrzahl seiner Beispiele scheint Fleiner grundsätzlich davon ausgegangen zu sein, daß eine Eingriffsmaßnahme rechtlichen Charakter haben, entweder Rechtsnorm oder hoheitlichen Befehl etc. darstellen müsse. Ausdrücklich beschränkte er sich indessen nicht hierauf. Zudem deuten weitere Beispiele darauf hin, daß er auch andere Fälle sah: Unklar ist freilich sein Beispiel der "Schädigung einer Fähre infolge der durch die Errichtung einer Brücke bedingten Entziehung der Kundschaft". Denn zwar ließe sich ein rechtlicher Charakter eines Brückenbaus nur schwer konstruieren. Indes stützte in dem von Fleiner angeführten Fall vor dem preußischen Obertribunal 128 der Kläger sein Entschädigungsverlagen auf die staatliche Konzession zur Brückenanlage, und damit letztlich doch auf einen Rechtsakt. Auch das Beispiel der "Tötung eines Passanten bei der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnimg durch das Militär" ist nicht eindeutig, da es sich bei den zitierten Reichsgerichts-Entscheidungen129 jeweils um Amtshaftungsprozesse handelte, und hier allerdings klar ist, daß auch Beamtenhandeln ohne Rechtscharakter diese Haftung begründen kann 1 3 0 .
1 2 3
Ebd., S. 290 f.
1 2 4
Ebd., S. 293. Ebd., S. 294. Ebd., S. 290 f., 294 f.
1 2 5 1 2 6 1 2 7
Ebd., S. 295.
1 2 8
OTr, Striethorsts Archiv 24 [1857], 1 ff.
1 2 9
RGZ 104, 257, 260; 104, 346; 104, 362. Weil § 839 BGB insofern einen Fall der unerlaubten Handlungen regelt, bei denen es auf eine bestimmte Handlungsform nicht ankommt; vgl. RGZ 74, 250, 252; 94, 102, 103 f.; Oegg, in RGRK, 7. Aufl. 1929, § 839 Anm. 1, S. 624. 1 3 0
I. Das klassische Eingriffsverstndnis
29
Fleiners Beispiel der "Schädigungen der Fischerei durch Flußregulierungen" zeigt nun aber, daß er zwar im Normalfall davon ausgegangen sein mag, daß lediglich eine hoheitliche Maßnahme mit rechtlichem Charakter (Rechtsnorm, Verwaltungsakt) zu einem entschädigungspflichtigen Eingriff führe, daß er dies jedoch nicht als ausschlaggebend ansah. Davon, daß auch die bloß tatsächlich vorgenommene Flußregulierung, und damit ein vom Staat ausgehendes Handeln ohne Rechtscharakter, einen Eigentumseingriff darstellen kann, ging er - wie schon die Nebeneinanderstellung seiner Beispiele zeigt als selbstverständlich aus 1 3 1 .
3. Kein "klassischer EingrifFsbegrifF" Aus dem Vorstehenden ergibt sich, daß es einen einheitlichen, allgemein akzeptierten "klassischen Eingriffsbegriff" vor 1949 nicht gab 1 3 2 . Von den angeblichen Kriterien des "klassischen Eingriffsbegriffs" wurde lediglich durchweg eine Beeinträchtigimg eines Rechts gefordert, während bloße Interesseneinbußen nicht genügten133. Die erforderliche Beeinträchtigung eines rechtlich geschützten Interesses darf jedoch nicht über die Irrelevanz der Rechtsnatur der beeinträchtigenden Aktes täuschen. Vielmehr war kein Hoheitsakt mit Rechtscharakter erforderlich, insbesondere nicht ein Verwaltungsakt, sondern es genügte jedes hoheitliche Handeln 134 . Schließlich wurde weder eine strikte Unmittelbarkeit oder gar Adressierung 135, noch eine Finalität vorausgesetzt. Nicht eines der obersten Gerichte beschränkte sich auf den behaupteten
1 3 1 In den Urteilen RGZ 64, 24; RG, Gruchot 56, 1112; 56, 1115, auf die Fleiner Bezug nimmt, scheiterten die Kläger nur an einer mangelnden Rechtsverletzung. Daß die vorgenommenen Änderungen des Flußlaufs einen Eingriff begründen konnten, wurde nicht in Zweifel gezogen. 1 3 2 Ebenso Di Fabio, JZ 1993, 694 Fn. 44; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 134. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 106 weist darauf hin, daß es auch keinen "klassischen Enteignungsbegriff" gab, dieser sich vielmehr als "zeitbedingter technischer Begriff der Enteignungsgesetze" darstellt. 1 3 3 Ebenso Bernhardt, JZ 1963, 303. 1 3 4 So im Ergebnis auch Scherzberg, Grundrechtsschutz, S. 17 Fn. 3, der allerdings als Beleg nur unzutreffenderweise den polizeilichen Schlagstockeinsatz anfuhrt, der von einem "fiktiven Duldungsgebot" begleitet gewesen sei. In der Tat wurde dieser Duldungsbefehl nämlich nicht als "fiktiv", sondern als konkludent verstanden (das ist ein bedeutsamer dogmatischer Unterschied!). Scherzbergs Beispiel wurde eher die l/nentbehrlichkeit des Vorliegens einer rechtlichen Maßnahme bezeugen. Die oben dargestellten Beispiele zeigen jedoch, daß schlicht-hoheitlichen Eingriffen keineswegs durchweg ein konkludenter Duldungsbefehl zugeschrieben wurde (unzutreffend Roth, Drittbetroffenheit, S. 137 Fn. 38), so daß die Irrelevanz der Rechtsnatur der Maßnahme festzustellen ist. nc Auch Bernhardt, JZ 1963, 303 weist darauf hin, daß kein prinzipieller Unterschied bezüglich des Anfechtungsrechts des Adressaten und eines Dritten gemacht wurde. Falsch daher Bleckmann, Grundrechte, S. 337; Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373; Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 145.
30
B. Der "faktische Eingriff in Rechtsprechung und Literatur
"klassischen EingriffsbegrifF, und auch die fuhrenden Autoren 136 gingen, mit Nuancen im einzelnen, deutlich darüber hinaus 137 . Insofern ist von größerem Interesse, was jeweils nicht als Voraussetzung für das Vorliegen eines Eingriffs gefordert wurde. Die als die Merkmale des "klassischen Eingriffsbegriffes" angeführten Kriterien wurden nicht als kumulativ notwendige Bedingungen für die Annahme eines Eingriffs verstanden, sondern als alternativ notwendige oder gar hinreichende 138. Natürlich läßt sich die ganz überwiegende Zahl der von den Gerichten und Autoren behandelten Eingriffsfalle dem "klassischen Eingriffsbegriff" unterordnen. Das erklärt sich aber einfach aus dem Umstand, daß das Verwaltungshandeln in Form von Verwaltungsakten das gewöhnliche ist, und daß unbeabsichtigte oder nur mittelbare Rechtsbeeinträchtigungen eher selten sind (es wäre ja auch überaus bedenklich, häuften sich solche Fälle!). Dieses numerische Verhältnis schlägt sich in der Statistik der Entscheidungen dergestalt nieder, daß "klassische Eingriffe" weit überwiegen. Das ist aber heutzutage selbstverständlich genauso. Mit der Frage, ob sich der Eingriffsbegriff auf den "klassischen" beschränkte, darf das nicht verwechselt werden, und die Untersuchung hat ja auch gezeigt, daß "nicht-klassische" Eingriffe durchaus behandelt wurden, und zwar mit einiger Selbstverständlichkeit und nicht als die große Ausnahme 139 .
1 3 6 Wenn sich Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373 Fn. 2 hinsichtlich des Unmittelbarkeitserfordernisses auf Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht I, S. 159 Fn. 18 und Fleiner, Institutionen 1911, S. 220 f. ( = S. 231 f. der 8. Aufl.) berufen, haben sie, jedenfalls so wie sie "Unmittelbarkeit" verstehen, beide Autoren verkannt; bei Otto Mayer übersehen sie Deutsches Verwaltungsrecht I, S. 127 Fn. 9; zu Fleiner s. vorstehend B 1 2 b dd. 1 3 7 Wenn, wie Bleckmann, Grundrechte, S. 337 und Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 175 durchaus richtig feststellen, der "klassische EingriffsbegrifT "in der Zeit seiner Geltung" nie "ausdrücklich und zusammenfassend entwickelt" wurde, so hat dies seinen Grund nicht in einem Versäumnis der damaligen Autoren, sondern liegt schlicht darin begründet, daß es diesen "klassischen" Eingriffsbegriff nicht gab und also nichts Derartiges zu formulieren war. Auch Sachs, N V w Z 1991, 640 Fn. 37 versteht den "klassischen" als einen "aus heutiger Sicht gebildeten EingriffsbegrifT, doch bleibt angesichts der aus der Debatte um den "klassischen EingriffsbegrifT entstandenen Verwirrung und oft auch Irreleitung der Diskussion dunkel, welchen Gewinn es bringen soll, einen nie gebrauchten Begriff quasi rückwirkend zu erfinden. 1 3 8 Hierin liegt der etwa bei Eckhoff, Der GrundrechtseingrifT, S. 175 deutlich werdende logische Fehler. Wenn der eine frühere Autor den Eingriff durch das Merkmal gekennzeichnet sah und der andere durch , dann ist zwar eine Maßnahme, die kumulativ erfüllt, für beide ein Eingriff. Daraus ergibt sich aber eben nicht, daß den gemeinsamen feststehenden Eingriffsbegriff ausmachte; allenfalls wäre zu sagen, der Eingriff sei als verstanden worden. Falls möglich, wäre indessen ein zu finden, das sowohl dem hinter stehenden als auch dem hinter stehenden telos Genüge tut. Diese Eigenschaft ergibt sich indessen aus einer Abstraktion sowohl von als auch von , und nicht aus der Kumulation . Zu diesem logischen Problem s. noch unten E I I 5. 1 3 9 So auch Schwabe, DVB1. 1988, 1056 Fn. 3 hinsichtlich der Eigentumsgarantie des Art. 153 W R V .
I. Das klassische Eingriffsverstndnis
31
Es beruht auf einem Mißverständnis, wenn gesagt w i r d 1 4 0 , die behauptete Begrenzung der grundrechtsrelevanten auf die "klassischen Eingriffe" habe sich daraus ergeben, daß nach den damaligen Verwaltungsgerichtsgesetzen die gerichtliche Anfechtung auf Verwaltungsakte beschränkt war. Hierzu ist anzumerken: § 1 des Gesetzes über die Zulässigkeit des Rechtsweges in Beziehung auf polizeiliche Verfügungen vom 11. Mai 1842 1 4 1 und §§ 127 ff. des Gesetzes über die allgemeine Landesverwaltung (Landesverwaltungsgesetz) vom 30. Juli 1883 1 4 2 gewährten in bestimmten Fällen Rechtsmittel (Beschwerde, Klage) gegen "polizeiliche Verfügungen". Hierunter wurden in ständiger Rechtsprechung nicht sämtliche Amtshandlungen oder Verfügungen eines zuständigen Beamten in polizeilichen Angelegenheiten verstanden, sondern nur solche, die ein Gebot oder Verbot aussprachen 143, "wenn nicht an den Geschädigten selbst, so doch an eine bestimmte Person, oder daß sie in den Rechtskreis des Geschädigten unmittelbar eingreift" 144 . "Wo jedoch eine Thätigkeit des Dritten nicht in Frage kommt, sondern allein die Polizei (auch nicht an Stelle des Dritten, sondern lediglich für sich selbst) thätig wird, liegt eine polizeiliche Verfügung im Sinne des § 127 des Landesverwaltungsgesetzes nicht vor" 1 4 5 . Diese Bestimmungen enthielten eine enumerative Normierung der Zulässigkeit eines Rechtsmittels146, und keine an eine (behauptete) Rechtsverletzung geknüpfte generalklauselartige Rechtswegeröffhung nach Art des § 40 Abs. 1 VwGO. Sie gewährten enumerativ und folglich selektiv Rechtsschutz (eben gegen Verbote bzw. Gebote) und versagten so in allen anderen Fällen einen behördlichen oder gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Maßnahmen selbst. Indessen wurde damit keineswegs deren möglicher Eingriffscharakter geleugnet; vielmehr blieb gerade dann ein Entschädigungsanspruch denkbar, wenn ein Rechtsschutz gegen die eingreifende Maßnahme selbst versagt war: "Dulde und liquidiere!" 147 Auch den genannten Bestimmungen ist daher keine restriktive Eingriffsdefinition zu entnehmen. Im Gegensatz zu der durch das Reden von einem (engen) "klassischen Eingriffsbe-
1 4 0 1 4 1
So Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373. PrGS 1842 S. 192 (Nr. 2273).
1 4 2
PrGS 1883 S. 195 (Nr. 8951).
1 4 3
PrOVGE 34, 429, 430 f.; 39, 200, 202.
1 4 4
RG, JW 1915, 932, 933; RGZ 101, 24. PrOVGE 20, 426, 429.
1 4 5
146 y g j Fleiner, Institutionen, S. 254 ff.: Generalklausel hinsichtlich polizeilicher Verfugungen, Enumerationsmethode im übrigen; Schenke, in BK, Art. 19 IV (Zweitb. 1982) Rdnr 18; Ule, Verwaltungsprozeßrecht, S. 32: "partielle Generalklausel". 1 4 7 Vgl. RG, JW 1915, 932, 933 zur Zulässigkeit des Rechtsweges für eine Schadensersatzklage aufgrund einer Maßnahme, die keine "polizeiliche Verfugung" im genannten Sinne darstellte; vgl. auch Gerichtshof zur Entscheidung der Kompetenzkonflikte, PrVBl. 43 [1921/22], 310, 311, und ferner RGZ 101, 24 f.
32
B. Der "faktische Eingriff" in Rechtsprechung und Literatur
griff" erzeugten Schein träfe deshalb, wenn man denn eine "Argumentationslast" anerkennte, diese eher die Befürworter eines engen Eingriffsbegriffes 148.
4« Änderung der prozessualen Ausgangslage nach 1949 Mit Inkrafttreten des Grundgesetzes änderten sich die Voraussetzungen, unter denen die Eingriffsproblematik zu diskutieren war, in einem bedeutsamen Punkt. Art. 19 Abs. 4 GG stellt eine verfassungsrechtliche generalklauselartige Rechtsschutzgarantie gegen alle Formen von Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt dar 1 4 9 , und § 40 Abs. 1 VwGO eröffnet - in Nachfolge etwa des § 22 Abs. 1 VGG Württ.-Bad. 150 oder des § 22 Abs. 1 MilRegVO Nr. 165 B r Z 1 5 1 - als Generalklausel den Weg zu den Verwaltungsgerichten 1 5 2 . Damit ist die Zulässigkeit des Verwaltungsrechtsweges nicht mehr, wie nach dem alten Recht, an den Begriff des Verwaltungsaktes geknüpft 153 . Ebensowenig ist der betroffene Bürger nunmehr bei Maßnahmen, die keine Verwaltungsakte darstellen, auf spätere Entschädigungsansprüche beschränkt. Er kann vielmehr gegen alle Akte öffentlicher Gewalt vorgehen, unabhängig von ihrem rechtlichen Charakter, vorausgesetzt nur, daß sie in seine Rechte eingreifen 154 . Die Änderung gegenüber der früheren Rechtslage besteht also nicht in einer Ausweitung des Eingriffsbegriffes, sondern in einer prozessual ermöglichten Überwindung des "Dulde und liquidiere"-Prinzips auch in bezug auf staatliche Maßnahmen, die keine Verwaltungsakte darstellen. Zusammen mit der Bedeutung der Grundrechte und dem stetigen Anwachsen der staatlichen Betätigimg in allen Bereichen des Lebens und der Gesellschaft mußte so der Begriff des Eingriffs in Freiheit und Eigentum zu dem entscheidenden in der Diskussion werden. Diese Nachkriegsentwicklung soll hier nicht im einzelnen dargestellt werden 155 . Es genügt vielmehr, in den folgenden Abschnitten den heutigen Stand der Diskussion zu skizzieren. 1 4 8 Natürlich wäre der Rückzug auf solche formale Positionen völlig unbefriedigend; deshalb wird in den Teilen C, D und E dieser Arbeit eine materielle Ableitung des Eingriffsbegriffes vorzunehmen sein. 1 4 9 v.Mangoldt, Schriftlicher Bericht, S. 13; Schenke, in BK, Art. 19 I V (Zweitb. 1982) Rdnr 62, 285; Schmidt-Afimann, in Maunz/Dürig, GG, Art. 19 I V (Lfg. 1985) Rdnr 6. 150 Württemberg-Badisches Gesetz Nr. 110 über die Verwaltungsgerichtsbarkeit v. 16.10.1946 (Regierungsblatt 1946 S. 221). 1 5 1 Verordnung Nr. 165 der Militärregierung über die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der britischen Zone v. 15.9.1948 (Verordnungsblatt für die Britische Zone 1948 S. 263). 1 5 2 Eyermann/Fröhler, VwGO, § 40 Rdnr 121; Kopp, VwGO, § 40 Rdnr 1; Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, Rdnr 8, 86; Ule, Verwaltungsprozeßrecht, S. 34 f. 1 5 3
Eckhoff,
Der Grondrechtseingriff, S.86 f.; Ule, Verwaltungsprozeßrecht, S. 34.
1 5 4
Vgl. Schenke, in BK, Art. 19 IV (Zweitb. 1982) Rdnr 283 ff.; Ule, Verwaltungsprozeßrecht, S. 200 ff. 155 Ygi dazu näher etwa Gronefeld, Preisgabe und Ersatz, S. 13 ff. zur Entwicklung des Eingriffsbegriffes im Bereich der Enteignung.
I I . Der Eingriffsbegriff in der neueren Literatur 1. Beachtlichkeit faktischer Eingriffe Es besteht heute nahezu allgemein Einigkeit in der rechtswissenschaftlichen Literatur, daß die Grundrechte grundsätzlich Schutz gegenüber - wie auch immer im Einzelfall definierten - faktischen Eingriffen bieten1. Zugleich wird aber betont, nicht jede staatliche Handlung, die irgendeine dem Grundrechtsträger nachteilige Folge kausal verursache, könne als ein solcher Eingriff angesehen werden, da sonst der Staat aufgrund der vielfältigen dann entstehenden Rechtfertigungs- und Haftungsfolgen handlungsunfähig zu werden drohe 2. Die für erforderlich erachtete Begrenzung wird auf zwei Arten unternommen. Ein Ansatz ist, bereits die Kausalität so eng zu fassen, daß eine zusätzliche Zurechnungsbegrenzung weitgehend entbehrlich wird, ein anderer, es bei einem weiten Kausalitätsverständnis zu belassen und die Lösung in restriktiven Zurechnungskriterien zu suchen. Im ersteren Sinne wird beispielsweise eine 1 Alexy, Theorie, S. 277; Badura, Die Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand, S. 846; Badura, JZ 1993, 38; Bieback, RdA 1983, 272; Bleckmann, Grundrechte, S. 337 ff.; Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373 ff.; Brohm, NJW 1980, 862 f.; Di Fabio, JZ 1993, 694 f.; Discher, JuS 1993, 464; Dolde, Behördliche Warnungen, S. 11; Ehlers, W D S t R L 51 [1992], 221; Erichsen, Jura 1979, 335; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 42 ff.; Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 171; Gronefeld, Preisgabe und Ersatz, S. 98; Henke, DÖV 1984, 10; Heintzen, VerwArch 1990, 537; R. Hermes, Parlamentsgesetz, S. 111; Herren, Faktische Beeinträchtigungen, S. 58; Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 5 I (Lfg. 1982) Rdnr 75, 90 f.; Hoßnann, DVB1. 1969, 203; Hoppe, DVB1. 1981, 311; Huber, Konkurrenzschutz, S. 231; Jarass, N V w Z 1984, 476; Kirchhof, Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 189 f.; Kloepfer, Umweltrecht, § 2 Rdnr 5; ders., JZ 1984, 687; Kraft, BayVBl. 1992, 458; Krölls, GewArch 1992, 283; Kutschern, Bestandsschutz, S. 89; Lerche, DÖV 1961, 490; Löhr, in Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, § 31 Rdnr 86; Lübbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 47, 264; Martens, W D S t R L 30 [1972], 13 f.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 8 Rdnr 11; Menger, NJW 1980, 1829; v.Mutius, VerwArch 1977, 77 f.; Ossenbähl, Staatshaftungsrecht, S. 113, 143, 189 f.; Papier, in Maunz/Dürig, GG, Art. 14 (Lfg. 1983) Rdnr 161; ders., DVB1. 1984, 805; Philipp, Staatliche Verbraucherinformationen, S. 90; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 274; Pietzcker, Grundrechtsbetroffenheit, S. 143; Ramsauer, VerwArch 1981, 99 ff.; Rausch, DVB1. 1969, 173; Rittner/Stephan, GewArch 1985, 183; Schack, D Ö V 1961, 730; Schenke, WiVerw 1978, 229; Scherzberg, DVB1. 1989, 1136; Scholz, NJW 1969, 1044 f.; Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit, S. 272 f.; Schulte, DVB1. 1988, 517; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 176 ff.; Sodan, DÖV 1987, 863; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 1207; Stober, GewArch 1993, 142. Zweifel gegenüber einem "sehr weiten EingriffsbegrifF äußern neuerdings Wahl/Masing, JZ 1990, 553; vgl. auch Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit, S. 281. 2 Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 381; Friauf, DVB1. 1971, 682; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 75, 120; Gronefeld, Preisgabe und Ersatz, S. 98; Kimminich, JuS 1969, 351; Kutschera, Bestandsschutz, S. 89; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 1207; Wagner, NJW 1966, 570; ähnlich Sodan, Kollegiale Funktionsträger, S. 517 f., 524.
34
B. Der "faktische Eingriff in Rechtsprechung und Literatur
Kausalkette gefordert, bei der "hinreichend sichere Anhaltspunkte" bestünden, "daß der entscheidende Anstoß zu dem Ereignis, welches den Effekt unmittelbar verursacht hat, von einem Verhalten öffentlicher Gewalt ausgegangen ist" 3 . Doch freilich kommt auch eine solche Formel nicht ohne Wertungsbegriffe aus: denn was ist "hinreichend sicher" oder "entscheidend", was genau heißt "unmittelbar verursacht"? Daher wird überwiegend die Kausalität im Sinne der Äquivalenztheorie verstanden: "kausal" heißt jede Handlung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele. Die gewünschte Begrenzung bleibt damit einer wertenden Zurechnung überlassen4. Fast allgemein besteht Einigkeit darüber, daß man die echten Eingriffe (oder Beeinträchtigungen, wie manche sagen) von den bloßen, grundrechtlich unbedeutenden Belästigungen abgrenzen müsse. Letztere sollen die Fälle erfassen, in denen der Nachteil so geringfügig ist, daß ihn der Bürger als unerheblich ohne weiteres hinnehmen könne und müsse. Insofern wird eine gewisse Intensität des Nachteils gefordert 5. Jedoch wird auch in den Fällen, in denen die Intensität des verursachten Nachteils als hoch genug angesehen wird, allgemein eine weitere Einschränkung der Zurechenbarkeit befürwortet.
2. Darstellung und Kritik einzelner Zurechnungskriterien Nach welchen Kriterien die Zurechnung erfolgen soll, ist umstritten. Eine vollständige Übersicht zu geben, ist hier ebenso unmöglich wie im Bereich der Rechtsprechung6. Im wesentlichen werden folgende Kriterien genannt, teils alleine, teils in Verbindung miteinander: Unmittelbarkeit, Finalität, Vorhersehbarkeit, Adäquanz, Sozialadäquanz, Wesentlichkeit der Bedingimg, Normzweck und Wirkungsgleichheit. Diese Zurechnungskriterien sollen nachfolgend kurz betrachtet werden. 3 Sodan, Kollegiale Funktionstrager, S. 519; vgl. auch Ramsauers Kriterium der "Dichte der Erfolgsbeziehung" (Die faktischen Beeinträchtigungen, S. 174 sowie VerwArch 1981, 103 f.); ähnlich auch Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 380: maßgeblicher Einfluß auf den Erfolg. 4 Vgl. hierzu Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, § 36 ffl c, S. 258 ff. 5 Badura, Die Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand, S. 840; Bernhardt, JZ 1963, 307; Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 380; Detterbeck, Z U M 1990, 375; Di Fabio, JZ 1993, 695; Eckhoff,; Der Grundrechtseingriff, S. 243 , 278; Erichsen, in Isensee/Kirchhof, HStR V I , § 152 Rdnr 80; Heintzen, DVB1. 1988, 626; Huber, Konkurrenzschutz, S. 234 ff.; Isensee, in Isensee/ Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 66; Jarass, N V w Z 1984, 476; Jarass/Pieroth, GG, Alt. 20 Rdnr 31; Rutschern, Bestandsschutz, S. 95; Unck, NJW 1984, 2437 f.; LUbbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 191; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 278, 283; Probandi, GewArch 1985, 194; Ramsauer, Die faktischen Beeinträchtigungen, S. 175 f. und VerwArch 1981, 104; Rittner/Stephan, GewArchiv 1985, 183; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 230 f.; Scherzberg, DVB1. 1989, 1136; Scholz, JuS 1976, 235; Sodan, Kollegiale Funktionsträger, S. 519 f. und DÖV 1987, 863; Stern, Staatsrecht HI/1, S. 1207; mit Einschränkungen auch Schenke, WiVerw 1978, 236, 237. Zu dieser Frage s. unten E I I 7. 6 So bereits Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 18 f. vor 20 Jahren.
II. Der Eingriffsbegriff in der neueren Literatur
35
a) Unmittelbarkeit Grundsätzlich auf das Unmittelbarkeitskriterium zwecks Zurechnungsbegrenzung stützt sich etwa Wagner 7, wobei er Unmittelbarkeit als Ausschluß von Auswirkungen über ein Zwischenglied oder eine Zwischenursache zwischen staatlichem Verhalten und Beeinträchtigung versteht, jedoch darauf hinweist, daß es letztlich eine Wertungsfrage sei, ob eine Schadensfolge vom Staat in Kauf genommen und daher entschädigt werden müsse. Für die Fälle der Drittbeeinträchtigimg aufgrund einer Begünstigung des Dritten rückt er von dem Unmittelbarkeitskriterium ab und bejaht einen Eingriff. Wolff/Bachof sehen als Voraussetzung eines Entschädigungsanspruchs aus Aufopferung bzw. enteignungsgleichem Eingriff "eine durch ... innerstaatliches hoheitliches Handeln verursachte unmittelbare Beeinträchtigung eines bestehenden Vermögenswerten Rechts, die dem Betroffenen im Interesse des gemeinen Wohls ein besonderes Opfer auferlegt" 8. Zielgerichtetheit sei nicht erforderlich 9, wohl aber Unmittelbarkeit der hoheitlichen Einwirkung auf Leben, Gesundheit, Ehre oder Eigentum. Auch der - auf Aufopferungsfragen bezogene - Wolff/Bachof sehe Eingriffsbegriff ist also entscheidend durch das Unmittelbarkeitserfordernis charakterisiert, wobei sie dieses Kriterium streng durchhalten und daher anders als Wagner eine Aufopferungsentschädigung im Falle der Drittbeeinträchtigimg aufgrund einer Begünstigung eines Privaten ablehnen10. Ahnlich versteht auch Sodan Unmittelbarkeit dahin, daß die nachteilige Wirkung ohne Hinzutreten weiterer Faktoren allein aus dem Verhalten des Hoheitsträgers resultieren muß und nicht das Hinzutreten weiterer Ereignisse erfordern darf 11 . Gegen die Heranziehung eines im Sinne des Fehlens von Zwischengliedern oder Zwischenursachen verstandenen Unmittelbarkeitskriteriums ist jedoch einzuwenden, daß es immer beliebig viele Zwischenursachen gibt, so daß es bei einer solchen "Unmittelbarkeit" letztlich doch nur darum gehen kann, welche Zwischenursache als "eigenständig" oder "rechtlich relevant" anzusehen ist 1 2 . Letztere Fragen bleiben aber bei der Verwendung des Unmittelbarkeits-
7
NJW 1966, 572 ff.; ebenso Reißmüller, JZ 1960, 122. Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, § 61 H, S. 537 (Hervorhebungen im Original); desgleichen Papier, in Maunz/Dürig, GG, Art. 34 (Lfg. 1987) Rdnr 55. 8
9 Anders allerdings Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht m , § 125 Rdnr 6, wo sie allgemein die Zielgerichtetheit von Eingriffen voraussetzen.
Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, § 61 U a 2, S. 537; sie verweisen stattdessen mit Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 365 auf eine öffentlich-rechtliche Vorteilsausgleichung, s. dazu nachfolgend. 1 1 Vgl. Sodan, Kollegiale Funktionsträger, S. 496; ähnlich Huber, Konkurrenzschutz, S. 232 f.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 8 Rdnr 13, § 26 Rdnr 16. 1 2 Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 209; Olivet, N V w Z 1986, 434; Papier, AöR 98 [1973], 544; Schulze-Osterloh, Eigentumsopferentschädigung, S. 145 f.
36
B. Der "faktische Eingriff in Rechtsprechung und Literatur
kriteriums ungeklärt. Sehr treffend wird dieses Kriterium daher als "BlankettbegrifP bezeichnet, dessen Unbestimmtheit "geradezu dessen Wesen" ausmacht13, 1 4 , als "Gehäuse", in dem alle Zurechnungserwägungen untergebracht werden können 15 . Zutreffend hat das BVerwG daher bemerkt, daß "das Begriffspaar 'immittelbar - mittelbar' ... jedenfalls kaum geeignet [ist], zu einer praktikablen und für den Bürger berechenbaren Abgrenzung beizutragen" 16 . Das Unmittelbarkeitserfordernis führt so nur in eine fruchtlose begriffsjuristische Diskussion über die Bedeutung der "Unmittelbarkeit", während es bei der Zurechnung letztlich um eine Wertung geht 17 . Das erkennt auch Wagner völlig richtig, doch zieht er nicht die Konsequenz, auf das Unmittelbarkeitskriterium zu verzichten. Solange die hinter der "Unmittelbarkeit" stehenden Wertungen nicht präzisiert werden können, ist dieses Merkmal zu unbestimmt, um das aufgeworfene Zurechnungsproblem zu entscheiden18, birgt vielmehr die Gefahr einer Beliebigkeit und des Einfließenlassens rational nicht nachzuvollziehender Wertungen 19; doch wenn die maßgeblichen Wertungskriterien erarbeitet sind, wird die "Unmittelbarkeit" als eigenständiges Kriterium überflüssig. Außer der begrifflichen Unschärfe 20 spricht entscheidend gegen das Unmittelbarkeitserfordernis, daß es sich normativ nicht begründen läßt. Die Beru1 3 Schulze-Osterloh, rung, S. 365.
Eigentumsopferentschädigung, S. 145; Steinberg/Lubberg er, Aufopfe-
1 4
A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 93 allerdings begrüßt diese Unbestimmtheit des Unmittelbarkeitskriteriums aufgrund seiner "Offenheit für eine Weitung im Einzelfall", da die Einzelfallgerechtigkeit "Vorrang vor klaren, formalen, 'rechtssicheren' Maßstäben" habe. - Abgesehen davon, daß zur Bestimmung dessen, was in concreto als "gerecht" zu gelten hat, das Kriterium der Rechtssicherheit von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist, ist gegen diese Sichtweise einzuwenden, daß gerade die Verwendung eines Begriffes, der wie die "Unmittelbarkeit" den (wenngleich verfehlten) Anspruch eines klaren Abgrenzungskriteriums erhebt, die Gefahr in sich trägt, daß die Gerechtigkeit im konkreten Fall auf der Strecke bleibt. Fehlleitende Blankettbegriffe sind tunlichst zu vermeiden. Nicht überzeugend daher auch das Plädoyer von Di Fabio, JZ 1993, 697 für eine "elastische Handhabung des Unmittelbarkeitskriteriums". 1 5
Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 210.
1 6
BVerwG, N V w Z 1991, 980, 981. 1 7 Vgl. Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 375, 1056 f.; Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 79; Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 211 f.; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 24, 89 Fn. 145; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 207 ff.; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 51; Sass, Art. 14 GG, S. 228 f.; Schulze-Osterloh, Eigentumsopferentschädigung, S. 148 f.; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 181; ders., DVB1. 1988, 1056 f. 1 8 Vgl. auch Goppert, Der enteignungsgleiche Eingriff, S. 44 f.; Kirchhof, "mittelbares" Einwirken, S. 56 f. 1 9
Verwalten durch
Sass, Art. 14 GG, S. 229. Welche Schwierigkeiten eine exakte Definition der "Unmittelbarkeit" bereitet, zeigt sich daran, daß eine solche selbst dem so um präzise Begrifflichkeit bemühten PrALR nicht gelang: Nach Teil I, Titel 3, § 4 heißen Folgen "unmittelbar", "die aus einer Handlung, an und für sich betrachtet, nach dem natürlichen und gewöhnlichen Laufe der Dinge zu entstehen pflegen", während nach § 5 "mittelbar" diejenigen Folgen heißen, "die nur aus der Verbindung der Handlung mit einem andern von derselben verschiedenen Ereignis, oder mit einer nicht gewöhnlichen Beschaffenheit, entstanden sind". - § 4 unternimmt gar keine Definition von "Unmittelbarkeit",
II. Der Eingriffsbegriff in der neueren Literatur
37
fang auf eine erforderliche Unmittelbarkeit basiert auf der richtigen Überlegung, daß die Verantwortung des Staates irgendwo enden muß; daß diese Begrenzung aber anhand eines formalen Kriteriums der Unmittelbarkeit erfolgen soll und nicht anhand materieller Kriterien bedürfte einer Begründung, die von den Anhängern des Unmittelbarkeitskriteriums nicht geliefert wird 2 1 . Eine "Unmittelbarkeit" als Zurechnungskriterium fordert auch Gronefeld 22. Diese versteht er aber nicht im Sinne eines fehlenden Zwischengliedes personeller oder sachlicher Art zwischen der hoheitlichen Tätigkeit und der Beeinträchtigung, sondern im Sinne einer "gewissen engen Beziehung" zwischen eingetretenem Nachteil und ursächlicher Maßnahme23. Dies präzisiert er dahin, daß ein "enger äußerer und innerer Zusammenhang" im Sinne einer "spezifischen Auswirkung" des natürlichen Vorgangs hoheitlichen Handelns erforderlich sein soll, welches dann der Fall sei, wenn die Beeinträchtigung "ihrer sachlichen Eigenart, ihrer Struktur nach in den Rahmen dieser hoheitlichen Betätigung fallt" 24 . Entsprechend will auch Bleckmann 25 "ganz entfernte Kausalitäten" ausscheiden und hierzu am Unmittelbarkeitserfordernis festhalten. Doch auch diese Ansichten haben ihre mangelnde Bestimmtheit gegen sich. b) Finalität Als dezidierter Verfechter des Finalitätskriteriums ist Forsthoff zu nennen. Als Eingriffe im Sinne des Enteignungs- und Aufopferungsrechts definiert er ein staatliches Handeln, welches unmittelbar 26 sowie wissentlich und willentlich gegen die (Vermögenswerten) Rechte eines einzelnen gerichtet ist und da-
sondern stellt eine wertende Betrachtung an, die eine frühe Formulierung der Adäquanztheorie (s. nachfolgend d) darstellt. Erst § 5 versucht durch die Heranziehung des "anderen Ereignisses" eine phänomenologische Beschreibung der Mittelbarkeit, hält das jedoch nicht durch und rekurriert wieder auf eine wertende Betrachtung. Derselben Schwierigkeit unterliegt heute Heintzen, VerwArch 1990, 544 f.: "Je mittelbarer ein Eingriff erfolgt, ... desto mehr kommt es auf das Verhalten Dritter an". Da diese regelmäßig nicht an die Grundrechte gebunden seien, biete das grundrechtliche Eingriffsverbot keinen Schutz. Dann fahrt er fort: "Die öffentliche Warnung ist als polizeilich motivierte Maßnahme dem Staat mittelbar zuzurechnen; die Vermittlung des Warnungseffekts durch Dritte tritt darüber zurück. Die Warnung wirkt insofern 'unmittelbarer* als die Empfehlung." - Letztere Wertung mag zutreffen, doch ihre Diskussion unter der Überschrift der "Unmittelbarkeit" kann nur Verwirrung stiften. 2 1 Vgl. Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 209, 213; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 89 f. Fn. 145; Papier, DVB1. 1984, 805; Ramsauer, VerwArch 1981, 95 f. 2 2
Preisgabe und Ersatz, S. 100, 136 ff.
Gronefeld, Preisgabe und Ersatz, S. 100; ähnlich Ramsauer, Die faktischen Beeinträchtigungen, S. 174 und VerwArch 1981, 103 f. im Rahmen seiner "Dichte der Erfolgsbeziehung. 2 4
Gronefeld,
2 5
Staatsrecht, S. 342 f. Forsthoff; Verwaltungsrecht, S. 365.
2 6
Preisgabe und Ersatz, S. 139.
38
B. Der "faktische Eingriff in Rechtsprechung und Literatur
mit eine Schädigung des Betroffenen herbeiführt 27. "Denn Eingriff ist nur, was eingreifen soll, nicht was zufallig oder wenigstens ungewollt geschieht". Und er fragt weiter, "ob der ungezielte Eingriff nicht ein sprachliches und logisches Unding ist" 28 . Forsthoff erkennt natürlich, daß Schäden nicht immer auf einem so definierten Eingriff beruhen. Um der in Konsequenz dieses engen Eingriffsbegriffes drohenden Unbilligkeit zu entgehen, greift er auf die Rechtsinstitute der öffentlich-rechtlichen Gefahrdungshaftung bzw. Vorteilsausgleichung zurück. Entschädigung aus öffentlich-rechtlicher Gefahrdungshaftung sei dann zu gewähren, wenn ein Sach- oder Körperschaden als unmittelbare Folge der Realisierung einer Gefahr eintritt, die von staatlicher Seite geschaffen wurde und sich als eine das allgemeine Lebensrisiko eindeutig übersteigende individuelle und außergewöhnliche Gefahr darstellt 29 (Beispiele: abirrende Polizeikugel, Inbrandsetzen eines Waldes durch Funkenflug einer Dampflokomotive). Der Geschädigte sei quasi "Opfer eines 'Betriebsunfalls'", der nur durch den - untragbaren - Verzicht auf Wahrnehmung der staatlichen Funktion sicher zu vermeiden sei; die Verwaltung stehe dem Schaden daher näher als das Opfer 30 . Auf die öffentlich-rechtliche Vorteilsausgleichung will Forsthoff dann zurückgreifen, wenn die Behörde einem Privaten eine begünstigende Rechtsstellung einräumt, "deren Ausübung notwendig und vorhersehbar Dritten Schaden zufügt". Dann fehle es zwar mangels Unmittelbarkeit an einem Eingriff, die Belastung sei bloß "notwendiger Reflex der Begünstigung"31. Das begründe einen Anspruch gegen den Begünstigten auf Schadlosstellung, wobei die Behörde für eine Durchsetzbarkeit dieses Anspruchs zu sorgen habe 32 . Ganz ähnlich stellt auch Friauf 3 auf die Finalität der hoheitlichen Maßnahme als entscheidendes Element ab. Es komme auf die freiheitsbeschränkende Funktion einer Maßnahme an. Damit fallen nach Friauf alle "rein objektiv-zufalligen Beeinträchtigungen" aus dem Schutzbereich der Grundrechte heraus; ein grundrechtliches Abwehrrecht stehe ihnen nicht entgegen34. Um den aus dieser Ansicht sonst folgenden Unbilligkeiten zu begegnen, verweist Friauf ähnlich wie Forsthoff auf denkbare Entschädigungsansprüche.
2 7
Ebd., S. 359.
2 8
Ebd., S. 347; zustimmend Schuck, JZ 1961, 373. Forsthoff, Venvaltungsrecht, S. 363; ahnlich Salzwedel, duneshaftung im Falle "eingriffsloser Hoheitsschäden". Forsthoff, Venvaltungsrecht, S. 361. 2 9
3 1
Ebd., S. 365.
3 2
Ebd., S. 366 f.
3 3
AöR 87 [1962], 103: Gefahr-
DVB1. 1971, 681; desgleichen Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht ffl, § 125 Rdnr 6. In ähnlicher Weise stellt neuestens Badura, JZ 1993, 38 f. auf eine als "Zweckverfolgung" der Exekutive verstandene Finalität ab, um grundrechtsbeeinträchtigende Wirkungen zu individualisieren und "diffus" entstandene Beeinträchtigungen auszuscheiden. 3 4
II. Der Eingriffsbegriff in der neueren Literatur
39
Finalität darf in keinem Fall so verstanden werden, daß es dem Handelnden als Endziel auf den Grundrechtseingriff ankäme35. Denn wer wollte schon eingreifen nur um des Eingreifens willen? Regelmäßig wird vielmehr ein ganz bestimmtes weitergehendes Ziel verfolgt, auf welches das Verhalten letztlich gerichtet ist, und die Beeinträchtigung des Grundrechtsgutes wird nur als notwendiges Zwischenziel bezweckt, d.h. jeder finale Eingriff ist als zweckhaft zu verstehen. Die Ansicht Forsthoffs und Friaufs ist indes einigen Einwendungen ausgesetzt: Zunächst ist ihr gänzlich handlungsbezogenes Eingriffsverständnis keineswegs selbstverständlich; mit einem erfolgsbezogenen Eingriffsverständnis sind auch "ungezielte Eingriffe" denkbar und kein "logisches Unding"; über die bloße Behauptung eines vorgefaßten (obschon durchaus möglichen) Eingriffsbegriffes geht ihre Argumentation insofern nicht hinaus. Auch vom Ergebnis her drohen mit einem ausschließlichen Finalitätskriterium Unbilligkeiten, weil es für die Betroffenen keinen Unterschied bedeutet, wie es zu ihrer Beeinträchtigung kam 3 6 . Das Ausweichen auf die öffentlich-rechtliche Gefährdungshaftung bzw. Vorteilsausgleichung oder sonstiger Entschädigungsansprüche zwecks Vermeidung solcher Unbilligkeiten vermag nicht zu befriedigen. Insbesondere wären diese Ansprüche nicht grundrechtlich abgesichert, weil sie nach Forsthoff und Friauf nur greifen, wenn ein Eingriff in Freiheit und Eigentum gerade nicht vorliegt. Außerdem tauscht Forsthoff bei der Gefährdungshaftung sein vergleichsweise klares Kriterium der Finalität - und um diese Klarheit geht es ihm ja gerade 37 - gegen das der Unmittelbarkeit ein, welches ebenso unbestimmt bleibt wie der Begriff der "individuellen und außergewöhnlichen" Gefahr. Mißlich erscheint ferner, daß nach der vorgeschlagenen Vorteilsausgleichung in allen Fällen der Drittbeeinträchtigung aufgrund einer vorteilhaften Einwirkung auf den Dritten der Beeinträchtigte selbst dann, wenn die Behörde den Schaden als notwendig vorhersah, auf einen bloßen Anspruch gegen den begünstigten Dritten beschränkt sein soll. Die Finalität als entscheidendes Eingriffskriterium ist schon von daher abzulehnen 38 . In der neuesten Literatur wird deshalb zumeist, soweit überhaupt noch auf das Merkmal der Finalität abgehoben wird, dieses nicht mehr als notwendiges Kriterium betrachtet in dem Sinne, daß ohne Finalität ein Eingriff zu vernei3 5 Vgl. Badura, JZ 1993, 38 ("grundrechtseinschränkende Wirkung als solche" braucht nicht bezweckt zu sein); A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 215; Sachs, N V w Z 1991, 640 (keine "Intention zur Grundrechtsverletzung" erforderlich). 3 6 Gronefeld, Preisgabe und Ersatz, S. 15; Kutschern, Bestandsschutz, S. 93; Sass, Art. 14 GG, S. 227; Schwabe, Gmndrechtsdogmatik, S. 181 f. 3 7
S. aber Schulze-Osterloh, Eigentumsopferentschädigung, S. 135 ff. dazu, daß das Finalitätskriterium ohnehin seine Unschärfen aufweist. Das konzediert auch A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 214 ff. 3 8 So auch Ramsauer, VeiwArch 1981, 98, Schulte, DVB1. 1988, 517.
40
B. Der "faktische Eingriff in Rechtsprechung und Literatur
nen wäre, wohl aber noch als hinreichende Bedingung39, oder doch jedenfalls als (mehr oder weniger starkes) Indiz für das Vorliegen eines Eingriffs 40 . Auf die Frage nach der Berechtigimg des Finalitätskriteriums wird an späterer Stelle zurückzukommen sein 41 . c) Vorhersehbarkeit Als ein weiteres, dem Finalitätskriterium verwandtes Kriterium wird die Vorhersehbarkeit genannt, d.h. es wird gefragt, ob der beeinträchtigende Erfolg für den handelnden Hoheitsträger im Zeitpunkt seines Handelns vorhersehbar war 4 2 . d) Adäquanztheorie Manche wollen die gebotene Zurechnungsbegrenzung über die Forderung nach einer Adäquanz des Kausalzusammenhanges erreichen 43. Insoweit dieser Maßstab nicht weiter präzisiert wird, ist anzunehmen, daß er sich auf den im Zivilrecht sehr verbreiteten Adäquanzbegriff bezieht, auf den zurückzugreifen sich ohnehin anbietet. Danach ist adäquat kausal jedes Ereignis, das im allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Um-
3 9
Alberts, N V w Z 1992, 1165; Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 377; Denninger, in AK, vor Art. 1 Rdnr 43; Di Fabio, JZ 1993, 695; Discher, JuS 1993, 465; Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 196, 231; Huber, Konkurrenzschutz, S. 233 f.; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 208 f., 291; Sass, Art. 14 GG, S. 232 f. Das entspricht übrigens der Wertung von Teil I, Titel 3, § 12 PrALR, worin eine Haftung des Handelnden "für alle Folgen ohne Unterschied, die nach seiner Absicht aus der Handlung entstehen sollten, ob sie gleich nur zufallig entstanden sind", angeordnet wurde. 4 0 Vgl. Borchert, NJW 1985, 2742; ferner Ramsauer, Die faktischen Beeinträchtigungen, S. 174 und VerwArch 1981, 103 f., der im Rahmen seiner "Dichte der Erfolgsbeziehung" auch auf die "Intention, die Zielrichtung der Maßnahme" abstellt; desgleichen Erichsen, in Isensee/Kirchhof, HStR V I , § 152 Rdnr 84. 4 1 4 2
S. unten D I V 1.
Bleckmann, Grundrechte, S. 340 f.; Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 380; Erichsen, in Isensee/Kirchhof, HStR V I , § 152 Rdnr 84; Evers, Privatsphäre und Ämter für Verfassungsschutz, S. 137; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 67; Schulte, DVB1. 1988, 518; wohl auch Menger, NJW 1980, 1830. Ähnlich Discher, JuS 1993, 465 f., der das Merkmal der Vorhersehbarkeit objektivierend im Sinne einer "Typizität" versteht. Nach Teil I, Titel 3, §§ 6, 8 PrALR schloß fehlende Vorhersehbarkeit übrigens die Haftung für "mittelbare", nicht aber für "unmittelbare" Folgen aus. Zum Vorhersehbarkeitskriterium s. unten D I 4 und D I V 1. 4 3 Evers, Privatsphäre und Ämter für Verfassungsschutz, S. 137; Huber, Konkurrenzschutz, S. 233; Roßnagel, UPR 1990, 86; Salzwedel, AöR 87 [1962], 101; Sass, Art. 14 GG, S. 233; Schmidt-Aßmann, in Maunz/Dürig, GG, Art. 19 I V (Lfg. 1985) Rdnr 171.
. Der Eingriffsbegriff in der neueren
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standen geeignet ist, einen Erfolg der eingetretenen Art herbeizuführen 44. In diesem Sinne soll etwa nach Kirchhof die staatliche Haftung für "atypische Wirkungen" polizeilicher Eingriffe ausgeschlossen sein 45 . Die Adäquanzformel geht zurück auf die Überlegungen von v.Kries zum Strafrecht, wonach es nicht genügen sollte, daß ein rechtswidriges Verhalten den Erfolg im Sinne der Äquivalenztheorie als conditio sine qua non konkret verursachte, sondern vielmehr die "Tendenz" besitzen, d.h. generell geeignet sein muß, den Erfolg herbeizuführen. Diesen erforderlichen "generellen ursächlichen Zusammenhang" sah er darin, "daß gewisse Handlungen die Möglichkeit eines verletzenden Erfolges vermehren" 46. Die Betonung lag bei alledem auf der generellen Eignung zur Erfolgsherbeiführung, auf der Erfolgswahrscheinlichkeit. Das wird auch in den Arbeiten Engischs deutlich, nach welchem ein Tim nur dann adäquate Ursache eines Erfolges heißt, "wenn gerade es den Erfolgseintritt wahrscheinlich macht, d.h. wenn nicht die gleiche oder annähernd gleiche Tendenz zum Erfolg schon ohne Rücksicht auf das Tun bestanden hat" 4 7 . Eine solche Feststellung hält er nur in dem Falle für möglich, daß der "Erfolg als nicht schlechthin unwahrscheinliche Folge" zu erwarten war. Seine Definiton des Adäquanzbegriffes lautet demnach wie folgt: Die adäquaten Verhaltensweisen seien "die in Richtung auf den Erfolg gefährlichen Handlungen"; inadäquat sei, was nur "zufällig" den Erfolg nach sich ziehe, also die "(relativ) ungefährlichen Handlungen"48. Die Entwicklung des Adäquanzbegriffes in Zivil- und Strafrecht diente der Haftungs- bzw. Strafbarkeitsbeschränkung, weil man es als unbillig empfand, jemanden für Erfolge einstehen zu lassen, die er zwar äquivalent kausal verursachte, die aber so unwahrscheinlich waren, daß sie als Zufälligkeiten erschienen. Aus dieser Haftungs- und Strafbarkeitsbegrenzungsfunktion ergibt sich auch, weshalb die (obschon nachträgliche) Beurteilung der Adäquanz stets aus der Sicht ex ante erfolgt, d.h. nach dem Wissensstand im Zeitpunkt des Handelns (sog. objektive nachträgliche Prognose 49 ) 50 . Dieser Ausgangspunkt ist 4 4 RGZ 133, 126, 127; 135, 149, 154; BGHZ 7, 198, 204; 57, 137, 141 (st. RSpr.); Lorenz, Allgemeines Schuldrecht, S. 435 ff.; Palandt/Heinrichs, BGB, vor § 249 Rdnr 59; Staudinger/ Medicus, BGB, § 249 Rdnr 43; vgl. ferner Jescheck, Strafrecht, S. 256. 4 5
Kirchhof,
DÖV 1976, 457.
4 6
v.Kries, ZStW 9 [1889], 531 f. (Hervorhebung im Original); ebenso Soergel/Mertens, BGB, vor § 249 Rdnr 120. 4 7 4 8
Engisch, Kausalität, S. 46 f.; ähnlich ders., Untersuchungen, S. 74.
Engisch, Kausalität, S. 47. 4 9 Die Beurteilung ist "objektiv", weil nicht auf die Urteilsfähigkeit des konkreten Täters und auf seine Sicht abgestellt wird, sondern auf die eines objektiven Beobachters; sie erfolgt "nachträglich", nämlich im Prozeß; aber sie erfolgt gleichwohl als "Prognose", weil sich der Richter in den Handlungszeitpunkt zurückversetzen und die Adäquanz des Erfolges aus der Exante-Sicht beurteilen muß.
42
B. Der "faktische Eingriff" in Rechtsprechung und Literatur
es, der die Frage nach der generellen Tendenz indiziert: Bei einer Ex-anteBetrachtung kann nur gefragt werden, ob die vorzunehmende Handlung im allgemeinen die Tragweite hat, die Wahrscheinlichkeit des Erfolges zu vermehren, weil von dem betroffenen Bürger nicht mehr verlangt werden soll, als daß er die nicht ganz unwahrscheinlichen Folgen seines Handelns bedenkt. Auf die Adäquanztheorie wird noch zurückzukommen sein 51 . e) Sozialadäquanz Stern 52 stellt für die Zurechnimg - ohne nähere Erläuterung - auf die Sozialadäquanz des Kausalzusammenhanges ab. Damit dürfte er sich an die im Polizeirecht teilweise vertretene Theorie der rechtswidrigen Verursachimg anlehnen, nach welcher zurechenbar nur eine Störung ist, die ihre Ursache in einem rechtswidrigen Verhalten hat, d.h. einem Verhalten, mit welchem der Störer seine Rechte überschreitet 53. Das wiederum klingt an zivil- und strafrechtliche Meinungen an, nach denen sozial adäquate, d.h. im Rahmen der sozialen Handlungsfreiheit liegende Handlungen von der Haftung oder Strafbarkeit ausgenommen sind 54 . Ganz grundsätzlich ist gegen die Heranziehung des Kriteriums der Sozialadäquanz einzuwenden, daß selbst wenn es klare Maßstäbe zur Bestimmung dessen gäbe 55 , was einem Bürger als "sozial adäquat" zivil-, straf- und polizeirechtlich erlaubt ist, diese Maßstäbe nicht einfach auf die Beurteilung staatlichen Handelns übertragen werden könnten; was für einen Bürger üblich und angemessen ist, muß es für den Staat durchaus nicht sein 56 . Von dem Einwand fehlender Übertragbarkeit abgesehen, besitzt das Kriterium der Sozialadäquanz aber auch entscheidende inhärente Schwächen. Erstens kommt auch diese Theorie nicht umhin, den erforderlichen Zusammenhang zwischen dem rechtswidrigen Verhalten und dem Erfolg anzugeben; soweit man dazu auf die Adaquanztheorie zurückgriffe, ist auf das Vorstehende zu verweisen. Und 5 0 BGHZ 79, 259, 262; Larenz, Allgemeines Schuldrecht, S. 436; Palandt/Heinrichs, vor § 249 Rdnr 60; Soergel/Mertens, BGB, vor § 249 Rdnr 121; Staudinger/Medicus, 249 Rdnr 45;ferner Engisch, Untersuchungen, S. 81. 5 1 5 2 5 3
BGB, BGB, §
S. unten D I 3 und 4 b. Staatsrecht m / 1 , S. 1207. Schnur, DVB1. 1962, 3, 8.
5 4
BGHSt 23, 226, 228 erkennt in der Sozialadäquanz sogar ein die ganze Rechtsordnung erfassendes Prinzip. Vgl. im übrigen mit unterschiedlichen Nuancen im einzelnen BGHZ 24, 21, 26; Jescheck, Strafrecht, S. 226 f.; Larenz, Besonderes Schuldrecht, S. 609 ff.; Palandt/Thomas, BGB, § 823 Rdnr 40; Soergel/Zeuner, BGB, § 823 Rdnr 3. 5 5 Hirsch, in LK StGB, vor § 32 Rdnr 29 und A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 295 f. weisen zutreffend auf die Unbestimmtheit des Begriffes der Sozialadäquanz hin. 5 6 Eckhoff, Der Gmndrechtseingriff, S. 251; vgl. auch Kreßel, Haftungsrecht, S. 132 gegen eine Argumentation mit dem topos des "allgemeinen Lebensrisikos
I . Der Eingriffsbegriff in der neueren
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zweitens müßte diese Theorie angeben, wann ein nicht mehr sozial adäquates, rechtswidriges Verhalten vorliegt. Da dies bereits im Polizeirecht nicht gelingt 5 7 , ist nicht ersichtlich, wie sie vorliegend weiterhelfen soll. Auch das Abstellen auf die Sozialadäquanz als Zurechnungskriterium läßt daher das vorliegende Problem ungelöst. f) Theorie der wesentlichen Bedingung Neuestens hat Kreßel vorgeschlagen, den Zurechnungszusammenhang in Anlehnung an die im Sozialrecht entwickelte Theorie der wesentlichen Bedingung 58 danach zu bestimmen, ob das hoheitliche Handeln "als wesentliche Bedingung" des Erfolges angesehen werden kann 59 . Mit dieser Formel verbleiben zweifellos "im Einzelfall genügend Wertungsmöglichkeiten"60, doch dürfte dies entgegen Kreßel keine Stärke dieser Formel, sondern viel eher ihre Schwäche sein. Da es sämtlichen Kausalitäts- und Zurechnungstheorien im Kern gerade um die Bestimmung geht, wann wertungsmäßig davon auszugehen ist, daß der Träger öffentlicher Gewalt die "wesentliche" Verantwortung zu tragen hat, verspricht der Rückgriff auf eine derart allgemeine Formel keinen Erkenntnisfortschritt. g) Normzwecktheorie Einen allgemeineren Ansatz wählt Ramsaue^. Er will im Einzelfall anhand des Norm- oder Schutzzwecks des betreffenden Grundrechtes beantworten, ob eine Beeinträchtigung Ausdruck der Gefahr ist, gegen die das Grundrecht Schutz bieten soll; ist das der Fall, so liege ein Eingriff vor. Dieser Ansatz ist sowohl richtig wie auch trivial, weil das Abstellen auf den Normzweck eines Grundrechtes nichts anderes ist als die Frage nach seinem telos 62 , der in der Tat letztlich entscheidend sein muß. Eine eigene "Theorie" ergibt das noch nicht. Und insofern eine "Normzwecklehre" nicht lediglich als trivialer Hinweis auf die Relevanz von Sinn und Zweck der Norm verstanden wird, son5 7 Vgl. dazu Drews/Wacke/Vogel/Martens, Ordnungsrecht, Rdnr 90.
Gefahrenabwehr, S. 312 f.; Schenke, Polizei- und
5 8
S. z.B. BSG, VersR 1988, 1083; BSGE69, 108, 111.
5 9
Kreßel, Haftungsrecht, S. 85 f.
6 0
Kreßel, Haftungsrecht, S. 85.
6 1
VerwArch 1981, 102; zustimmend Alexy, Theorie, S. 211 f.; Discher, JuS 1993, 466; R. Hermes, Parlamentsgesetz, S. 112; Jarass, N V w Z 1984, 476 f.; Lübbe-Wolf,\ NJW 1987, 2711; Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit, S. 278 f.; Schulte, DVB1. 1988, 517; ähnlich auch Goppert, Der enteignungsgleiche Eingriff, S. 62. Sass, Art. 14 GG, S. 230 f. stimmt dem Schutzzweckansatz grundsätzlich zu, fordert aber weitere Präzisierungen. Bender, VB1BW 1985, 203 f. verbindet Adäquanz- und Schutzzweckerwägungen. 6 2 Vgl. zu dieser grundsätzlichen Schwäche aller "Schutzzwecktheorien" Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 84; Staudinger/Medicus, BGB, § 249 Rdnr 43.
5 Roth
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B. Der "faktische Eingriff" in Rechtsprechung und Literatur
dem als eigenständige Eingriffsdefinition, ist sie sogar gefährlich, weil sie den Blick auf die eigentlich relevanten Kriterien verstellen und ein Einfallstor darstellen kann, schlicht das eigene Rechtsempfinden ohne nähere Begründung als grundgesetzlichen Normzweck auszugeben63. Zwar meint Olivei 64 in bezug auf die Haftungszurechnung im Rahmen des enteignungsgleichen Eingriffs, die (auch von ihm verfolgte) Schutzzwecklehre erschöpfe sich nicht in der "rechtsmethodischen Selbstverständlichkeit" der Auslegung der Norm, sondern erfordere eine Wertung dieser Norm in bezug auf den jeweils vorliegenden Schadensfall. Sie sei "eine Wertung dieses Falles selbst unter dem Gesichtspunkt von Schadensverteilungsregeln", die auf "eine angemessene Abgrenzung der jeweiligen Verantwortungsbereiche" ziele. "Diese Wertungen, deren begriffliche Zusammenfassung und Exemplifizierung durch eine ... umfangreiche Kasuistik stellen die Schutzzwecklehre dar". Das mag richtig sein, doch eine Lehre, die letztlich nur auf eine "umfangreiche Kasuistik" verweisen kann, ist nicht sonderlich hilfreich. Ramsauer versucht daher eine weitere Präzisierung der Schutzzwecklehre. Für ihn ist der Schutzzweck der Grundrechte dahingehend beschränkt, daß sie keinen Schutz gegen Beeinträchtigungen bieten sollen, "die als Ausfluß des allgemeinen Lebensrisikos unabhängig von ihrer Rechtmäßigkeit von jedermann hinzunehmen sind" 65 . Zur näheren Abgrenzung dieses allgemeinen Lebensrisikos nennt er drei Unterkriterien 66, die die Betrachtung des Normzweckes zwar nicht entbehrlich machen, aber doch erleichtern sollen: Erstens die "Dichte der Erfolgsbeziehung" zwischen der Handlung und dem Erfolg 67 , die durch die Finalität der Handlung und die Unmittelbarkeit der Wirkung bestimmt wird; zweitens die Intensität der Beeinträchtigimg, die um so höher sein müsse, je geringer die Dichte der Erfolgsbeziehung ist; und drittens die Grundrechtsbezogenheit der Beeinträchtigung68. Die Schutzzwecklehre sieht sich indes auch in Gestalt ihrer Präzisierung einer Reihe von Einwänden ausgesetzt. Bereits ihre Grundannahme ist so nicht haltbar. Die Ausnahme des allgemeinen Lebensrisikos aus dem Schutzzweck orientiert sich an den entsprechenden im Zivilrecht vertretenen Auffassun-
6 3 Vgl. hierzu Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 82 ff.; ferner Kutschern, Bestandsschutz, S. 97; Philipp, Staatliche Verbraucherinformationen, S. 142; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 315. 6 4 N V w Z 1986, 437. 6 5
Ramsauer, VerwArch 1981, 103.
6 6
Ramsauer, Die faktischen Beeinträchtigungen, S. 174 ff. und VerwArch 1981, 103 ff.
6 7
Zustimmend Erichsen, in Isensee/Kirchhof, HStR V I , § 152 Rdnr 84. Vgl. auch Badura, Die Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand, S. 853: Grundrechtsspezifität; Denninger, in AK, vor Art. 1 Rdnr 43: Bestimmung des Grundrechtsbezugs der Beeinträchtigung im Einzelfall. 6 8
I . Der Eingriffsbegriff in der neueren
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gen 6 9 , krankt aber daran, daß im Grundrechtsbereich ganz andere Wertungen gelten 70 : Die Ausnahme des allgemeinen Lebensrisikos dient der Haftungsbeschränkung und basiert auf der Annahme, daß sich die Beziehungen gleichgestellter Bürger einer umfassenden Normierung entziehen; jeder Mensch ist in die Gemeinschaft eingebunden, ohne die er nicht leben kann, muß aber im Austausch dafür gewisse nicht vermeidbare Risiken hinzunehmen bereit sein. Ebenso wie er das allgemeine Lebensrisiko tragen muß, ist er seinerseits von der Verantwortlichkeit freigestellt, wenn er innerhalb dieses Risikos einen anderen schädigt. Eben diese Gleichstellung und wechselseitige Haftungsfreistellung besteht im Verhältnis von Bürger und Staat nicht 71 . Die "Zugehörigkeit zu der vom Grundgesetz vorausgesetzten sozialen Gemeinschaft" 72 mag zwar die Last mit sich bringen, die gemeinschaftsimmanenten Risiken tragen zu müssen, doch die "soziale Gemeinschaft" wird nur von den Bürgern gebildet; Bürger und Staat hingegen stehen gerade nicht in "sozialer Gemeinschaft". Es ist nicht ersichtlich, warum es ein "allgemeines Lebensrisiko" darstellen soll, von einem Träger öffentlicher Gewalt in seinen Grundrechten beeinträchtigt zu werden, und gar, wenn das rechtswidrigerweise geschieht73. "Allgemeines Lebensrisiko" kann ja nicht bedeuten, daß etwas statistisch regelmäßig vorkommt; daß solche Beeinträchtigungen vorkommen, ist evident, nur gibt es keinen allgemeinen Satz, daß das öfters Vorkommende auch zu dulden sei! Auch die einzelnen Präzisierangskriterien sind nicht bedenkenfrei. Hinter dem topos der "Dichte der Erfolgsbeziehung" verbergen sich bei Ramsauer nur die kombinierten Kriterien der Finalität 74 und der Unmittelbarkeit, die er selbst als unscharf bzw. normativ nicht abgesichert bezeichnet; insbesondere definiert er nicht, was unter der "Unmittelbarkeit" zu verstehen sein soll. Ob die Kombination zweier zweifelhafter Kriterien ein besseres neues Kriterium ergibt, erscheint doch sehr fraglich. Nicht zu überzeugen vermag auch seine 6 9 BGHZ 58, 162, 169; Grunsky, in MünchKomm BGB, vor § 249 Rdnr 72; Mertens, in MünchKomm BGB, § 823 Rdnr 15a; Palandt/Heinrichs, BGB, vor § 249 Rdnr 88; Soergel/ Mertens, BGB, vor § 249 Rdnr 128. Kritisch allerdings Larenz, Allgemeines Schuldrecht, S. 448; Mohnhaupt/Reich, NJW 1967, 759 unter Hinweis auf die Unbestimmtheit des Begriffs des "allgemeinen Lebensrisikos". 7 0 Vgl. auch den ähnlichen Einwand gegen die Heranziehung des Sozialadäquanz-Kriteriums vorstehend e). 7 1
Ebenso Eckhoff,
7 2
BVeiwG, N V w Z 1984, 514, 515.
Der Gnindrechtseingriff, S. 267.
Gegen eine pauschale Berufung auf ein "allgemeines Lebensrisiko" auch Sass, Art. 14 GG, S. 231. 7 4 Insofern ist, wie A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 209 zutreffend feststellt, die "vehemente Ablehnung des Finalitätskriteriums durch verschiedene Anhänger der Schutzzwecklehre nicht ganz nachvollziehbar". - Das belegt freilich nicht die Richtigkeit des Finalitätskriteriums (die Einwände der Anhänger der Schutzzwecklehre gegen das Finalitätskriterium werden ja nicht dadurch unrichtig, daß sie es indirekt auch selbst verwenden!), sondern weist auf die Unschlüssigkeit der so ausgestalteten Schutzzwecklehre hin.
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B. Der "faktische Eingriff" in Rechtsprechung und Literatur
Ansicht, die Intensität einer Beeinträchtigung müsse um so höher sein, je "loser" die Beziehung zwischen Handlung und Erfolg ist 7 5 : Es kann für die Zurechnung eines Erfolges keine Rolle spielen, ob ein Schaden von 1 D M oder 1.000.000 D M entstanden ist! Wenig präzise ist schließlich das Kriterium der Grundrechtsbezogenheit 76. h) Wirkungsgleichheit Angesichts der Schwierigkeiten, denen alle bisherigen Zurechnungstheorien begegnen, soll es nach einer sehr starken Ansicht überhaupt nicht entscheidend auf die Wirkungsweise des Beeinträchtigungsmechanismus, die Modalität des Eingriffs ankommen, sondern auf die Wirkungsgleichheit, d.h. darauf, ob der Effekt der fraglichen Maßnahme dem eines rechtlichen Eingriffs gleich- oder nahekommt77, ob also eine "faktische Befehlsäquivalenz" 78 vorliegt. Haug begründet dies damit, daß ein mittelbar Betroffener (das ist jeder, der zwar nicht Adressat einer hoheitlichen Maßnahme ist, aber von den "Ausstrahlungen, wenn auch nur rein tatsächlicher Art", des Rechtsverhältnisses betroffen wird, welches die hoheitliche Maßnahme zwischen dem Hoheitsträger und dem Adressaten begründet 79) ebenso ein der Staatsgewalt unterworfener Bürger sei wie der Adressat einer Maßnahme; es gebe daher keinen einleuchtenden Grund, zwischen beiden zu unterscheiden. Es müsse mithin genügen, daß sich die hoheitliche Maßnahme negativ auf seine Grundrechte auswirke 80 .
7 5 Ramsauer, VerwArch 1981, 104 f. Ihm folgend Huber, Konkurrenzschutz, S. 237; Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit, S. 279. 7 6 Eckhoff, Der Gnindrechtseingriff, S. 267; Lübbe-Wolff, NJW 1987, 2709; Philipp, Staatliche Verbraucherinformationen, S. 103; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 314; Schulte, DVB1. 1988, 517. 7 7 Bleckmann, Grundrechte, S. 342; Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 376; Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 78; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 62, 166 These 8; Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, S. 32; Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 171, 214; Herren, Faktische Beeinträchtigungen, S. 63; Hoffmann, DVB1. 1969, 203; Kirchhof, Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 51; Kutschern, Bestandsschutz, S. 99 f.; Lerche, in Isensee/ Kirchhof, HStR V , § 121 Rdnr 50, 52; Lübbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 267; Robbers, AfP 1990, 86; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 160, 291; Schenke, Der Staat 1976, 560; Scherzberg, Grundrechtsschutz, S. 176; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 12 Rdnr 22; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 193; Sodan, Kollegiale Funktionsträger, S. 523; ders., DÖV 1987, 863. Ebenso auch Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 171; die dann von Eckhoff, ebd., S. 237 f. geäußerte Kritik (!) am Kriterium der "eingriffsgleichen Wirkung" bemht auf seiner unzulässigen Gleichsetzung oder Verwechslung der Begriffe "eingriffsähnliche Wirkung" und "eingriffsähnliche Maßnahme". Diesen Fehler begeht die Theorie der Wirkungsgleichheit aber gerade nicht, so daß Eckhoffs Kritik fehlgeht. 7 8 7 9
Lübbe-Wolff,
Eingriffsdogmatik, S. 276.
Haug, Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde bei mittelbarer Verletzung eines Grundrechts, S. 36. 8 0 Ebd., S. 42 f., 48, 89.
I . Der Eingriffsbegriff in der neueren
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Das Abstellen auf die Wirkungsgleichheit ist zunächst sicher insofern richtig, als dann, wenn der faktisch Betroffene (wie immer er auch zu definieren ist) nicht auf eine vergleichbare Weise nachteilig betroffen ist wie der von einem Ge- oder Verbot Getroffene, evidentermaßen kein Grund besteht, einen Eingriff in Freiheit und Eigentum anzunehmen. Daß nämlich gegen faktische Eingriffe ein weitergehender Schutz gegeben sei, wird zurecht von niemandem behauptet. Doch damit bleiben zwei wesentliche Fragen offen: Erstens muß angegeben werden, wann eine solche Wirkungsgleichheit besteht. Und zweitens ist fraglich, ob das allein genügt. Angesichts der zwischen den unterschiedlichen Fallgruppen bestehenden Unterschiede kann man sich nicht einfach auf die Gleichheit aller Bürger berufen; es wäre vielmehr nachzuweisen, daß diese Unterschiede irrelevant sind und keinen differenzierten Schutz rechtfertigen. Damit geht es um die Frage, ob die Wirkungsgleichheit lediglich notwendige oder womöglich hinreichende Bedingung für grundrechtlichen Schutz ist.
3. Resümee Sämtliche diskutierte Zurechnungskriterien weisen auf Gesichtspunkte hin, die - intuitiv - in der einen oder anderen Weise bestimmend zu sein scheinen, doch kann keines vollends befriedigen. Auch die Kombination der verschiedenen Kriterien hilft nicht weiter, da je einzeln fragwürdige Kriterien auch zusammen kein besseres Kriterium ergeben können. Aufgrund dieser Ungeklärtheit und der Vielgestaltigkeit der Fälle verzichten manche ganz auf die Angabe einer Abgrenzungsformel 81 und nehmen eine Einzelfallbetrachtung vor 8 2 . Jedoch hilft auch das nicht weiter, da in deren Rahmen, soll das Ergebnis irgend nachvollzieh- und berechenbar sein, letztlich doch irgendwelche konkreteren Kriterien herangezogen werden müssen. Aufgabe der Wissenschaft ist die Herausarbeitung von Kriterien, die einerseits nicht den Bedenken unterliegen, welchen die in diesem Abschnitt dargestellten Ansätze ausgesetzt sind, und die andererseits nicht die Entscheidung konkreter Fälle völlig dem Belieben der zur Entscheidung Berufenen ausliefern 83.
8 1 Gronefeld, Preisgabe und Ersatz, S. 139 f. wendet sich gegen "formalisierte, zeitgebundene Begriffe"; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 67 gegen "Grobformeln". S. auch Sass, Art. 14 GG, S. 232; Schulze-Osterloh, Eigentumsopferentschädigung, S. 150, 187 f. 8 2 Denninger, in AK, vor Ait. 1 Rdnr 43; Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 80 ("individuell angepaßte Lösung" für die verschiedenen Fallgruppen); Huber, Konkurrenzschutz, S. 282 f. (Vorliegen eines Eingriffs hängt "maßgeblich von den Bedingungen des konkreten Einzelfalls ab"); Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 67 ("Arbeit am Einzelfall"); Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit, S. 280 ("kasuistisch-empirische Lösung"); vgl. auch Olivet, N V w Z 1986, 437; Pieroth/Schlink, Gmndrechte, Rdnr 283. 8 3
Vgl. DiFabio, JZ 1993, 695 ("Billigkeitsabwägung").
I I I . Der Eingriffsbegriff in der neueren Rechtsprechung Angesichts der bestehenden großen Uneinigkeit in der Literatur kann nicht verwundern, daß auch die Gerichte bislang zu keiner einheitlichen oder gar klaren Linie bezüglich des Problems faktischer Eingriffe in Freiheit und Eigentum gefunden haben. Da selbst die Obergerichte immer nur Einzelfalle zu entscheiden haben - womit notwendigerweise ein fallbezogen begrenztes Blickfeld einhergeht - und nicht umfassend systematisch arbeiten können1, hat es die Rechtsprechung natürlich schwer, ein stimmiges Gesamtkonzept zu entwickeln, wenn aus der Literatur unzureichende dogmatische Hilfestellung kommt. Andererseits ist doch festzustellen, daß es in keinem anderen Bereich so wenig gelungen ist, wenigstens in den Grundzügen Einigkeit in der Judikatur herzustellen. Einen umfassenden oder gar erschöpfenden Überblick über die neuere Rechtsprechung zu der Thematik der faktischen Eingriffe in Freiheit und Eigentum zu geben, ist ob der Vielzahl der entschiedenen Fälle ausgeschlossen2. Zudem schiene es ein fruchtloses Unterfangen, einen solchen Überblick geben zu wollen. Denn zwar besteht, wenn man von einigen Judikaten absieht3, praktisch Übereinstimmung, daß die Grundrechte nicht nur gegen rechtliche, sondern auch gegen "faktische Eingriffe" Schutz gewähren4. Jedoch worin das Merkmal "faktischer Eingriffe" liegt, genauer: wodurch sich jene staatlichen Maßnahmen, die als grundrechtsrelevante Eingriffe (seien sie nun rechtlicher oder anderer Natur) zu qualifizieren sind, von den irrelevanten Nicht-Eingriffen unterscheiden, ist völlig ungeklärt.
1 Rüfher, in Erichsen/Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 50 Rdnr 1; Schäfer, Praxis des Strafverfahrens, Rdnr 857. 2 Das stellte Ramsauer, Die faktischen Beeinträchtigungen, S. 33 bereits 1979 völlig zu Recht fest, und die Situation hat sich zwischenzeitlich keineswegs zum Einfacheren gewandelt. 3 BVerfGE 76, 1, 42 - Wartefrist für Ehegattennachzug ("Diese Wirkung stellt sich jedoch allenfalls als tatsächliche, mittelbare Beeinträchtigung der Freiheit der Eheschließung ... dar, die diese Freiheit als solche nicht bemhit."); HessStGH, N V w Z 1983, 542, 543 - Bauvorlagenberechtigung ("wird nur in mittelbarer, faktischer Weise ... betroffen"); OVG Münster, InfAuslR 1989, 286, 287 - Beförderungsverbot an Fluggesellschaften ("Ein Eingriff im modernen Sinne liegt nicht vor, weil die Regelung nicht innerhalb des Schutzbereichs ... ein bestimmtes Verhalten vorschreibt oder verbietet."). 4 S. nur BVerfGE 6, 273 , 278 - Steuerliche Nichtabzugsfahigkeit von Parteispenden; BVerfGE 49, 24, 47 - Kontaktsperre; BVerfGE 50, 16, 27 f. - Mißbilligende Belehrung; BVerfGE 82, 209, 223 f. - Krankenhausfmanzieningsgesetz; BGHZ 84, 261, 266 - Erschwernisse bei der Jagd; BGHZ 94, 373, 374 - Rheinfahren-Fall; BVerwGE 71, 183, 191 f. - Transparenzliste; BVerwGE 75, 109, 115 f. - Landwiitschaflssubventionen; BayVGH, BayVBl. 1987, 435, 436 - Verhinderte Werbesendung; V G Berlin, DVB1. 1975, 268, 271 - Berliner Pressesubventionen.
. Der Eingriffsbegriff in der neueren Rechtsprechung
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Zur Lösung des Problems wird eine schier unüberschaubare Zahl der verschiedenartigsten topoi herangezogen. Sehr häufig wird der Eingriffsbegriff durch subjektivierende Momente gekennzeichnet. Vor allem wird dabei auf die Zielrichtung, Finalität oder Absicht abgestellt5, doch heben andere Entscheidungen auch darauf ab, daß in Kenntnis der Erfolgsmöglichkeit gehandelt wurde 6, der Erfolg in Kauf genommen7, bewußt und gewollt hingenommen8, vorhergesehen9 oder jedenfalls vorhersehbar 10 war, womöglich sich gar aufdrängte 11. Eine sehr starke Gruppe zeichnet sich dadurch aus, daß auf eher objektivierende Faktoren abgestellt wird. So sollen auch ungezielte, tatsächliche Beeinträchtigungen genügen12, werden die tatsächlichen Auswirkungen wie etwa wirtschaftliche Unmöglichkeit betont13. Oftmals wird auf den Zweck der Maßnahme gesehen14 oder gesagt, die Beeinträchtigung müsse Hauptzweck und nicht nur Nebenfolge sein 15 , typische16 oder spezifische 17 Folge der Handlung sein oder in ihrer objektiven Tendenz liegen 18 . Andere topoi sind etwa die Zurechenbarkeit 19, der innere 20 oder enge Zusammenhang21, die Zwangsläufigkeit 22, die Wirkungsgleichheit 23, die Umge5 BVerfGE 6, 273, 278 - Steuerliche Nichtabzugsfähigkeit von Parteispenden; BVerfGE 66, 39, 59 f., 63 - NATO-Doppelbeschluß; BVerfGE 76, 1, 72 - Wartefrist für Ehegattennachzug; BVerwGE 71, 183, 193 f. - Transparenzliste; BVerwGE 75, 109, 115 - Landwirtschaftssubventionen; BVerwGE 82, 76, 79 - "Transzendentale Meditation"; BVerwGE 87, 37, 42 f. - Glykolweinlisten; BVerwGE 90, 112, 120 - Osho-Bewegung ü: "Zielrichtung des Verwaltungshandelns ein tragendes Kriterium für die Annahme eines Grundrechtseingriffs"; BVerwG, N V w Z 1984, 514, 515 - Pächter-Fall; OVG Münster, NJW 1986, 2783 - Glykolweinlisten; V G Berlin, DVB1. 1975 , 268, 271 - Berliner Pressesubventionen. 6 7 8 9
OVG Münster, DVB1. 1990, 999, 1000 - Osho-Bewegung. BVerwGE 82, 76, 79 - "Transzendentale Meditation". BVerfGE 84, 239, 272 - Ungleichmäßige Besteuerung. BVerwGE 82, 76, 79 - "Transzendentale Meditation".
1 0 BVerfGE 30, 227, 243 - Vereinsnamen; V G Berlin, DVB1. 1975, 268, 271 - Berliner Pressesubventionen. 1 1
BVerfGE 84, 239, 272 - Ungleichmäßige Besteuerung.
1 2
BVerfGE 76, 1, 72 - Wartefrist für Ehegattennachzug.
1 3
BVerfGE 13, 181, 185 ff. - Schankerlaubnissteuer; BVerfGE 46, 120, 137 - Direktrufverordnung; BVerfGE 82, 209, 223 - Krankenhausfinanzierungsgesetz; BVerwGE 65, 167, 174 Stuttgarter Klett-Passage; BVerwGE 75, 109, 115 - Landwirtschaftssubventionen. 1 4 BVerfGE 6, 273, 278 - Steuerliche Nichtabzugsfähigkeit von Parteispenden; BVerfGE 41, 231, 241; 52, 42, 54 - Kommunalrechtliches Vertretungsverbot; V G Berlin, DVB1. 1975, 268, 271 - Berliner Pressesubventionen. 1 5
BVerfGE 6, 55, 77 - Ehegattenbesteuerung; BVerwGE 71, 183, 193 f. - Transparenzliste. BVerfGE 30, 227, 243 - Vereinsnamen; BGHZ 92, 34, 41, 49 f. - Heranrückende Wohnbebauung; BGHZ 99, 249, 254 f. - "Feindliches Grün"; BGHZ 100, 335, 338 - Vandalismus. 1 6
1 7 BVerwGE 65, 167, 173 - Stuttgarter Klett-Passage; BVerwGE 71, 183, 193 f. - Transparenzliste; OVG Münster, NJW 1986, 2783 - Glykolweinlisten. 1 8 BVerfGE 13, 181, 186 - Schankerlaubnissteuer; BVerfGE 49, 24, 47 - Kontaktsperre; BVerfGE 52, 42, 54 - Kommunalrechtliches Vertretungsverbot; BVerwGE 75, 109, 115 Land wirtschaftssubventionen. 1 9 BVerfGE 66, 39, 60 - NATO-Doppelbeschluß; BGHZ 84, 261, 265 - Erschwernisse bei der Jagd; BGHZ 106, 313, 316 - Haftentschädigung.
50
B. Der "faktische Eingriff in Rechtsprechung und Literatur
hungsgefahr 24, die Herrschaft über den Erfolg 25 und der Schutzzweck26. Während einerseits gesagt wird, bloße Adäquanz genüge nicht, da es nicht zu einer Gefahrdungshaftung kommen dürfe 27 , wird andererseits nach der Gefahrdung 28 oder Gefahrverwirklichung 29 gefragt. Schließlich wird oft die Unmittelbarkeit betont 30 , während ebensooft deren Irrelevanz hervorgehoben wird 3 1 , sofern nicht als Mittelweg bei "mittelbaren" Eingriffen zusätzliche besondere Anforderungen gestellt werden 32 . Die meisten dieser topoi werden nirgendwo präzise definiert und zumeist nur rein floskelhaft gebraucht; sie wegzulassen wäre oftmals unschädlich, ja würde der größeren Klarheit dienen, wie etwa dieses Beispiel zeigt: Der Antragsteller "kann geltend machen, durch das Einwirken der Antragsgegnerin auf den Beigeladenen ... unmittelbar in seiner Berufsausübung beeinträchtigt zu werden" 33 . Welche Leerformelhaftigkeit gerade dem Unmittelbarkeitskriterium zukommt, erweist sich etwa an den Fällen der Abgabe einander widersprechender Lichtzeichen durch eine Lichtzeicheiianlage (sog. "feindliches 2 0
BGHZ 100, 335, 338 - Vandalismus.
2 1
BVerfGE 13, 181, 186 - Schankerlaubnissteuer; BVerfGE 16, 147, 162 - Werkfernverkehr; BVerfGE 52, 42, 54 - Kommunalrechtliches Vertretungsverbot; BVerwGE 75, 109, 115 Landwirtschaftssubventionen; BVerwGE 90, 112, 121 - Osho-Bewegung II. 2 2 BGHZ 76, 387, 392 - Fluglotsenstreik; BGHZ 99, 249, 254 f. - "Feindliches Grün"; BVerwGE 90, 112, 121 - Osho-Bewegung II. 2 3 BVerfGE 13 , 230, 232 f. - Ladenschlußzeiten; BVerfGE 21, 12, 27 - Organschaft; BVerwGE 71, 183, 195 - Transparenzlisten. 2 4 BVerfGE 6, 55, 82 - Ehegattenbesteuerung; BayVGH, BayVBl. 1987, 435, 437 - Verhinderte Werbesendung. 2 5 BVerfGE 66, 39, 62 f. - NATO-Doppelbeschluß; BVerwGE 90, 112, 121 - Osho-Bewegung n. 2 6
BVerwGE 71, 183, 194 - Transparenzlisten; BVenvG, N V w Z 1984, 514, 515 - Pächter-
Fall. 2 7
BGHZ 100, 335, 338 - Vandalismus.
2 8
BVerfGE 76, 1, 69 f. - Wartefrist für Ehegattennachzug; OLG Celle, JZ 1961, 372 Schießübungen im Wald. 2 9 BGHZ 92, 34, 38 - Heranrückende Wohnbebauung; BGHZ 100, 335, 338 - Vandalismus; BGHZ 106, 313, 322 - Haftentschädigung. 3 0 BVerfGE 51, 386, 395 - Ausweisung ausländischer Ehegatten; BVerfGE 76, 1, 42 - Wartefrist für Ehegattennachzug; HessStGH, N V w Z 1983, 542, 543 - Bauvorlagenberechtigung; BGHZ 31, 1, 2 f. - KPD-Verbotsfolgen; BGHZ 54, 332, 338 - "Feindliches Grün"; BGHZ 84, 261, 265 - Erschwernisse bei der Jagd; BGHZ 92, 34, 41 - Heranrückende Wohnbebauung; BGHZ 99, 249, 254 f. - "Feindliches Grün"; V G H Mannheim, DÖV 1979, 338, 339 - Röntgenuntersuchung; ferner V G H Mannheim, VB1BW 1993, 26, 28 zur vergleichbaren Problematik des Eingriffs in das Recht auf gemeindliche Selbstverwaltung. 3 1
BVerfGE 13, 181, 185 f. - Schankerlaubnissteuer; BVerfGE 46, 120, 137 - Direktrufverordnung; BVerwGE 65, 167, 171 - Stuttgarter Klett-Passage; BVerwGE 75, 109, 115 - Landwirtschaftssubventionen; BayVGH, BayVBl. 1987, 435, 436 - Verhinderte Werbesendung; V G Berlin, DVB1. 1975, 268, 271 - Berliner Pressesubventionen. 3 2 BVerwGE 50, 282, 287 f. - Notweg: bei "mittelbaren" Eingriffen ist eine "besondere Schwere" der Beeinträchtigung erforderlich. 3 3 BayVGH, BayVBl. 1987, 435, 436 (Hervorhebung durch Verfasser).
HI. Der Eingriffsbegriff in der neueren Rechtsprechung
51
Grün"). Während der BGH ursprünglich die geforderte "Unmittelbarkeit" der Schadensverursachung und damit die eigentumsrechtliche Entschädigungspflicht der beklagten Gemeinde deswegen verneinte, weil letztere zwar eine Gefahrenlage geschaffen, diese aber erst durch das Hinzutreten weiterer Umstände im weiteren Verlauf zu dem Schaden geführt habe 34 , bejaht er nunmehr die "Unmittelbarkeit": "Die im Ausstrahlen des sogenannten feindlichen Grüns liegende rechtswidrige Maßnahme hat das unrichtige ... Verhalten der Klägerin und des J. und damit den Unfall unmittelbar verursacht. Beide hatten ... bei Rotlicht an der Kreuzung gehalten. Als sie das Lichtzeichen 'Grün' erhielten, bedeutete das für sie nicht nur 'freie Fahrt 1, sondern auch die Anordnung, die Kreuzung zügig, wenn auch nicht unachtsam, zu überqueren... Bei Befolgung dieser Anordnimg mußte es nahezu zwangsläufig zu einem Zusammenstoß der Fahrzeuge der Klägerin und des J. auf der Kreuzung kommen. Es läßt sich daher sagen, daß sich die rechtswidrige Maßnahme nach ihrer Eigenart unmittelbar auf das Sacheigentum der Klägerin ausgewirkt hat" 3 5 . Entsprechend: "Ein unmittelbarer Eingriff liegt aber schon immer dann vor, wenn im Rahmen einer durch staatliche Betätigung geschaffenen besonderen Gefährdungslage im Hinblick auf deren Eigenart eine naheliegende Verletzung eines Rechtsgutes von vornherein ... in Kauf genommen werden muß" 3 6 . Ahnlich: "Der vorausgesetzte unmittelbare Zusammenhang zwischen Maßnahme und Eingriffsfolge wird auch so umschrieben, daß das dem einzelnen auferlegte Sonderopfer eine notwendige, aus der Eigenart der hoheitlichen Maßnahme sich ergebende Folge darstellen muß" 37 . Letztere Kriterien sind in Wahrheit keine "Umschreibung" der "Unmittelbarkeit", sondern etwas völlig anderes. Wenngleich hiernach immerhin deutlich wird, daß die "Unmittelbarkeit" nicht dem Wortsinne nach verwendet wird, sondern eine Wertung angestellt werden soll, so bleiben doch die maßgeblichen Gesichtspunkte (Inkaufnahme? Gefährdung? Zwangsläufigkeit? Eigenart?) sowohl ihrerseits Undefiniert als auch in ihrem Verhältnis zueinander ungeklärt. Die Verwirrung wird dadurch noch potenziert, daß die Gerichte, wie bereits in vorstehendem Beispiel belegt, die verschiedenen topoi oftmals kombinieren, ohne wiederum klarzustellen, ob es sich dann um kumulative oder alternative Voraussetzungen für die Annahme eines Eingriffs handelt. Symptomatisch sind etwa Ausführungen wie diese: "Diese Folgen sind ... beabsichtigt und im übrigen vorhergesehen und in Kauf genommen. Sie müssen daher ... als Grundrechtseingriffe behandelt werden." 38 Hier bleibt völlig dunkel, welches der drei genannten verschiedenen Kriterien eigentlich relevant sein soll. 3 4
BGHZ 54, 332, 338.
3 5
BGHZ 99, 249, 254 f. (Hervorhebungen durch Verfasser).
3 6
OLG Celle, JZ 1961, 372 (Hervorhebungen durch Verfasser).
3 7
BGHZ 76, 387, 392 (Hervorhebungen durch Verfasser). BVerwGE 82, 76, 79 (Hervorhebungen durch Verfasser).
3 8
52
B. Der "faktische Eingriff" in Rechtsprechung und Literatur
Keineswegs klarer ist auch eine Begründung wie diese: "Hier handelt es sich nur formell um eine Reflexwirkung, nicht aber nach Bedeutung und Zielrichtung der angegriffenen Norm... Zweck und Hauptwirkung der Regelung liegen vielmehr in dem Anreiz, den Parteien Betrage zu spenden... Die durch die Norm ... Begünstigten sind nach alledem sowohl faktisch wie nach der Absicht des Gesetzgebers die Parteien; damit wird aber eine von dieser Regelung ausgeschlossene Partei von dieser Bestimmung ... betroffen" 39. Wie weit die Verwirrung geht, wird ersichtlich, wenn sogar innerhalb ein und derselben Entscheidung nicht nur verschiedenartige, sondern gegensätzliche Eingriffskriterien Verwendung finden. Als besonders markantes Beispiel hierfür ist die Wartefrist-Entscheidung des BVerfG 40 anzuführen. Infolge der gesetzlichen Festlegung einer "Wartefrist für Ehegattennachzug" mußte eine zwischen einem in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ausländer (der eine Aufenthaltsberechtigung besitzt) und dessen im Ausland lebenden ausländischen Ehegatten geschlossene Ehe bereits mehrere Jahre bestehen (Ehebestandszeit), bevor der im Ausland lebende nachzugswillige Ehegatte eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten konnte. Die Problematik dieser Wartezeitregelung wird deutlich, wenn man sich die Alternativen vor Augen führt, die hiernach aufenthaltsberechtigte Ausländer, die eine solche Ehe beabsichtigen, zu erwägen haben: Wenn sie die Ehe schließen, haben sie nur die Wahl, 1. entweder in ihr Heimatland zurückzukehren (und damit ihre hiesige Aufenthaltsberechtigung aufzugeben), um sofort als Familie zusammenleben zu können, oder 2. hier zu bleiben und auf ihr Zusammenleben zu verzichten. Oder 3. sie verzichten im Hinblick auf diese Schwierigkeiten gleich völlig auf die Eheschließung. Mit einer Verfassungsbeschwerde wurde - über Art. 2 Abs. 1 GG hinaus - ein Eingriff in Art. 6 Abs. 1 G G 4 1 geltend gemacht. Zur Beantwortung der Frage, ob ein Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG vorlag, hob das BVerfG zunächst auf dessen Schutzbereich ab. Soweit dieser die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung umfasse, greife die Wartezeitregelung nicht ein. Denn zwar könne sie dazu führen, daß ein in Deutschland lebender Ausländer auf die Eheschließung mit einem im Ausland lebenden Ausländer verzichte. "Diese Wirkung stellt sich jedoch allenfalls als tatsächliche, mittelbare Beeinträchtigimg der Freiheit der Eheschließung und Familiengründung dar, die diese Freiheit als solche nicht berührt. " 4 2
3 9 4 0
BVerfGE 6, 273, 278 (Hervorhebungen durch Verfasser).
BVerfGE 76, 1. Siehe Eur. Court H.R., Abdulaziz, Cabales & Balkandali Königreich, Series A No. 94 (Urteil v. 28.5.1985) zu einem vergleichbaren Fall.
v. Vereinigtes
4 1 Soweit die Wartezeitregelung Probleme hinsichtlich des Nachzugs gemeinsamer Kinder aufwarf, ging es um Art. 6 I I GG. 4 2 BVerfGE 76, 1, 42 (Hervorhebungen durch Verfasser).
. Der Eingriffsbegriff in der neueren Rechtsprechung
53
Anders stellte sich die Situation nach Ansicht des BVerfG dar, wenn die Eheschließung erfolgte. Denn Art. 6 Abs. 1 GG umfaßt auch das Recht auf eheliches und familiäres Zusammenleben . In dieses Recht jedoch werde durch die genannte 1. oder 2. Alternative eingegriffen. "Der den Betroffenen auferlegte Zwang, für geraume Zeit eine räumliche Trennung von ihren Angehörigen hinzunehmen oder ein bestehendes Aufenthaltsrecht endgültig aufzugeben und die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, ist geeignet, Ehe- und Familienleben zu beeinträchtigen und muß sich daher an Art. 6 Abs. 1 GG messen lassen"43. Das BVerfG untersuchte diesbezüglich genau die Lage, in die die Wartezeitregelung ausländische Ehepaare bringen mußte: Entscheidend komme hinzu, daß die Regelung ausnahmslos junge Ehen betreffe. "Die den Eheleuten abverlangte Entscheidung zwischen der Hinnahme einer langen Trennungszeit oder einer Übersiedlung ins Ausland fällt damit in die erste Zeit des (beabsichtigten) Zusammenlebens, ... in der die Anforderungen, die eheliche Gemeinschaft und Elternschaft an die Betroffenen stellen, erstmals erfahren werden und bewältigt werden müssen. Deshalb stellt es regelmäßig eine schwere Belastung und Gefährdung für eine junge Ehe dar, wenn die Eheleute vor die Entscheidung gestellt werden, für einen Zeitraum von drei Jahren allenfalls in Abständen von mehreren Monaten besuchsweise zusammenleben zu können oder unter vollständiger Aufgabe einer über Jahre erarbeiteten wirtschaftlichen und sozialen Stellung in der Bundesrepublik Deutschland ins Ausland übersiedeln zu müssen. Die Forderung nach einer dreijährigen Ehebestandszeit kann ferner deshalb zu einer Gefährdung der von ihr betroffenen Ehen führen, weil jung verheiratete Eheleute häufig nicht in der Lage sein werden, die Folgen einer mehij ährigen Trennung einzuschätzen und sich unter Verkennung der mit ihr verbundenen Gefährdungen gegen eine umgehende Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft im jeweiligen Heimatland entscheiden werden" 44 . Aufgrund dieser Belastungen und Gefährdungen der Ehe bejahte das BVerfG einen Eingriff in das Recht auf eheliches Zusammenleben. Das BVerfG prüfte sodann als Drittes, ob die Wartezeitregelung als weitere Folgebeeinträchtigung auch einen Eingriff in das Aufenthaltsrecht des bereits im Bundesgebiet lebenden ausländischen Ehegatten darstellte, weil er, wenn er die eheliche Lebensgemeinschaft herstellen wollte, in sein Heimatland zurückgehen und Deutschland hätte verlassen müssen. Es verneinte das. "Die vorübergehende Hinderung des von den Beschwerdeführern angestrebten Nachzugs ließ das Recht zum Aufenthalt, das ihre im Bundesgebiet lebenden Ange4 3 Ebd., S. 44; ganz ähnlich wird S. 48 die Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Art. 6 I I 1 GG begründet, wo Kinder betroffen sind: "Der für die Ehegatten durch die in Rede stehende Aufenthaltsversagung begründete Zwang, eine Trennung ihrer Familien hinzunehmen oder einen bestehenden Aufenthalt im Bundesgebiet zu beenden, war geeignet, für Pflege und Erziehung ihrer Kinder erhebliche Belastungen mit sich zu bringen. Derartige Belastungen werden vom Anwendungsbereich des Art. 6 I I 1 GG erfaßt." Vgl. hierzu bereits BVerwGE 42, 133, 136. 4 4
BVerfGE 76, 1, 69 f.
54
B. Der "faktische Eingriff" in Rechtsprechung und Literatur
hörigen erlangt haben, unberührt. Soweit diese Hinderung darauf gerichtet war, die Eheleute anzuregen, ihr eheliches und familiäres Leben im gemeinsamen Heimatland zu führen, wurden bestehende aufenthaltsrechtliche Positionen nicht mit rechtlicher Wirkung und gezielt, sondern lediglich tatsächlich beeinträchtigt. Eine solche Einwirkung unterfallt als ungezielte, tatsächliche Beeinträchtigung nicht dem Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 G G " 4 5 . Diese Begründungsebenen des BVerfG sind in sich widersprüchlich: Der angeblich fehlende Eingriff in die Eheschließungsfreiheit wird damit begründet, hier gehe es nur um "tatsächliche, mittelbare" Folgen, der angeblich fehlende Eingriff in das Aufenthaltsrecht damit, dieses sei nicht "gezielt, sondern lediglich tatsächlich" beeinträchtigt worden. Der hingegen angenommene Eingriff in das Recht auf eheliches Zusammenleben wird dagegen ausführlich mit den tatsächlichen (!) Schwierigkeiten des Getrenntlebens für junge Ehepaare begründet, wiewohl alle denkbaren Eheprobleme aus dem jeweiligen Verhalten der Eheleute resultieren und insofern nicht weniger "mittelbar" wären als eine Entscheidung gegen eine Eheschließung; daß zudem die Eheschwierigkeiten "gezielt" herbeigeführt werden sollten, ist dem Gesetzgeber auch nicht zu unterstellen. Das BVerfG begründet nicht, warum ein und dasselbe Kriterium einmal einen Eingriff ausschließen soll und ein anderes Mal nicht. Zwar mag es theoretisch denkbar sein, je nach betroffenem Grundrecht unterschiedliche Eingriffsbegriffe zu postulieren. Daß jedoch eine solche Differenzierung gar innerhalb ein und desselben Schutzbereiches angebracht sein sollte, je nachdem, ob die Eheschließungs- oder die Zusammenlebensfreiheit betroffen ist, kann von vornherein nicht überzeugen. Nach alledem ist zu konstatieren, daß es dem BVerfG hier nicht einmal gelungen ist, auch nur die innere Stimmigkeit seiner Entscheidung zu gewährleisten, ganz abgesehen davon, daß es gar nicht erst den Versuch einer Begründung für die herangezogenen Kriterien unternimmt. Als Resümee ist daher lediglich festzuhalten, daß in der Rechtsprechung allgemeine Konfusion über den Eingriffsbegriff herrscht.
4 5
BVerfGE 76, 1, 72 (Hervorhebungen durch Verfasser).
IV. Zum Eingriffsverständnis der Europäischen Menschenrechtskonvention 1. Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention für die Grundrechtsinterpretation Ein Exkurs zur Europäischen Menschenrechtskonvention ließe sich zunächst aus rechtsvergleichendem Interesse rechtfertigen, da sich die Frage nach "faktischen Eingriffen in Freiheit und Eigentum" für alle Verfassungen und Gesetze stellt, welche Bürger- und Menschenrechte garantieren. Allgemeine rechtsvergleichende Untersuchungen sollen hier aber, um nicht den Rahmen dieser Arbeit zu sprengen, nicht angestellt werden. Die Befassung gerade mit der Europäischen Menschenrechtskonvention legitimiert sich aus zwei besonderen Gründen. Erstens gilt diese Konvention nebst Zusatzprotokollen als einfaches Bundesgesetz1, so daß, wenngleich eine Verfassungsbeschwerde nicht auf eine Verletzung ihrer Garantien gestützt werden kann2, alle Träger öffentlicher Gewalt und auch die Gerichte sie zu beachten haben, was gerade dann wichtig wäre, garantierte sie über die Grundrechte hinausgehende Rechte. Die Tragweite der Europäischen Menschenrechtskonvention geht jedoch darüber noch hinaus. Die Bundesrepublik Deutschland ist durch den Beitritt zu dieser Konvention die völkerrechtliche Verpflichtung zur Achtung ihrer Bestimmungen und Erfüllung der auferlegten Pflichten eingegangen. Diese Verpflichtung trifft alle staatlichen Organe3, einschließlich aller Gerichte und des Bundesverfassungsgerichtes. Sie äußert sich insbesondere in dem Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Interpretation: alle innerstaatlichen Normen sind im Zweifel so auszulegen, daß sie möglichst nicht im Widerspruch zu den völkerrechtlichen Pflichten des Staates stehen4. Das gilt für alle Normen, unabhängig von ihrem innerstaatlichen Rang. Daher sind auch die Grundrechte im Zweifel so auszulegen, daß sie mit den Menschenrechten der Konvention in Einklang stehen, wenn anders dem Anspruch der Konvention nicht Genüge
* Gesetz v. 7.8.1952 über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. H S. 685). 2 BVerfGE 10, 271, 274; 64, 135, 157; 74, 102, 128; Bleckmann, Grundrechte, S. 44; Sommermann, AöR 114 [1989], 408 f. 3 Dohm, Völkerrecht, Band m , S. 109. 4 Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Band I, S. 107; Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 25 (Lfg. 1964) Rdnr 30; Sommermann, AöR 114 [1989], 415 f.; Verdross /Simma, Universelles Völkerrecht, § 860; vgl. auch Dohm, Völkerrecht, Band m , S. 107 f.
56
B. Der "faktische Eingriff" in Rechtsprechung und Literatur
getan werden kann5. Das ist im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde aber regelmäßig der Fall, da sie ohne Rückgriff auf die Grundrechte keinen Erfolg haben kann. Das gilt unabhängig davon, ob und daß die Europäische Menschenrechtskonvention zusätzlich auch einfachgesetzliches nationales Recht ist. "Inhalt und Entwicklungsstand" der Europäischen Menschenrechtskonvention sind daher auch nach Ansicht des BVerfG bei der Auslegung des Grundgesetzes heranzuziehen6. Ist die Auslegung eines Grundrechts zweifelhaft, gibt es insbesondere eine weitere und eine engere Auslegungsmöglichkeit, und gewährt die Europäische Menschenrechtskonvention ein denselben Schutzbereich betreffendes weitgefaßtes Menschenrecht, so ist daher auch das Grundrecht weit auszulegen7. Deshalb ist es von großem Interesse, welche Position die Europäische Menschenrechtskonvention im Themenfeld "faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum" bezieht. Nachfolgend ist daher wenigstens kurz die Rechtsprechung der maßgeblichen Organe darzustellen8.
2. Die Beschwerdebefugnis des Verletzten und des "indirekt Verletzten"9 Ausgangspunkt der Bestimmimg des Eingriffsbegriffes der Europäischen Menschenrechtskonvention ist deren Art. 25 Abs. 1, wonach Menschenrechtsbeschwerde zur EKMR nur erheben kann, wer behauptet, in seinen garantierten Rechten verletzt zu sein 10 . Als "Verletzter" wird in ständiger Rechtsprechung jede "Person, die durch das streitbefangene Tun oder Unterlassen direkt betroffen ist" 11 angesehen.
5
Sommermann, AöR 114 [1989], 416.
6
BVerfGE 74, 358, 370; 83, 119, 128; vgl. auch BVerfGE 19, 342, 347 f.; 27, 71, 82 allgemein zur Bedeutung internationaler Menschenrechtskonventionen. 7 Dies gilt unabhängig davon, ob ein - zweifelhafter - auf Art. 1 U GG stützbarer allgemeiner Grundsatz einer "menschenrechtsfreundlichen Auslegung" des Grundgesetzes (Bleckmann, Grundrechte, S. 44; Sommermann, AöR 114 [1989], 416 ff.; dagegen v.Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 1 Rdnr 85) anzuerkennen ist. 8 Eine Auseinandersetzung auch mit der diesbezüglichen Literatur müßte den Rahmen dieser Untersuchung sprengen und muß daher unterbleiben. 9 Sämtliche Übersetzungen in diesem und dem nächsten Kapitel vom Verfasser. 1 0
"claiming to be the victim of a violation" (engl.) - "qui se prétend victime d'une violation"
(frz.). 1 1 "la personne directement concernée par l'acte ou l'omission litigieux" (frz.) - "the person directly affected by the act or omission which is in issue" (engl.); vgl. z.B. Eur. Court H.R., De Wilde , Ooms & Versyp v. Belgien, Series A No. 14, S. 11 Ziff. 23, (Urteil v. 10.3.1972); Eckle v. Bundesrepublik Deutschland, Series A No. 51, S. 30 Ziff. 66 (Urteil v. 15.7.1982); Inze v. Österreich, Series A No. 126, S. 16 Ziff. 32 (Urteil v. 28.10.1987).
I V . Zum Eingriffsverständnis der Europäischen Menschenrechtskonvention
57
Dieses Verständnis der Beschwerdebefugnis wird allerdings nicht strikt durchgehalten. Darüber hinaus findet sich in der Rechtsprechung nämlich die Vorstellung des "indirekt Verletzten" 12. Als Verletzter im Sinne des Art. 25 Abs. 1 EMRK könne jeder Angehörige des direkt Verletzten, aber auch jeder Dritte gelten und die Menschenrechtsbeschwerde zur EKMR "in eigenem Namen erheben, wenn er durch diese Verletzung einen Nachteil erlitten oder sonst ein schutzwürdiges persönliches Interesse an der Beendigung dieser Verletzung hat" 13 . Dieses dem Ausschluß der Popularklage dienende einschränkende Kriterium stellt freilich keine Besonderheit dar, da auch ein "direkt Verletzter" solche "materiellen oder ideellen Schäden" geltend machen können muß, um seine Beschwerdebefugnis darzutun 14. In mehreren Fällen gingen die EKMR und der EGMR stillschweigend von diesen Grundsätzen aus und behandelten die Beschwerden "indirekt Verletzter" als zulässig: In X. v. Belgien sah die E K M R 1 5 eine Witwe als Verletzte im Sinne des Art. 25 Abs. 1 EMRK an, die rügte, ihr Mann sei unter Verletzung des Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) getötet worden; in Amekrane v. Vereinigtes Königreich 16 konnten die Witwe und die Kinder u.a. die Verletzung des Art. 3 EMRK (Verbot inhumaner Behandlung) rügen, wurden also implizit als Verletzte im Sinne des Art. 25 Abs. 1 EMRK betrachtet; in Paton v. Vereinigtes Königreich 17 akzeptierte die EKMR, daß der Antragsteller "als potentieller Vater durch den Abbruch der Schwangerschaft seiner Frau so eng betroffen wurde", daß er als Verletzter im Sinne des Art. 25 Abs. 1 EMRK einen Verstoß der relevanten, die Abtreibung zulassenden Gesetze gegen die Europäische Menschenrechtskonvention rügen konnte 18 . Im Fall Nölkenbockhoff v. Bundesrepublik Deutschland 19 ließ der EGMR die Beschwerde einer Witwe zu, die rügte, zu Lasten ihres verstorbenen Ehe"indirect victim" (engl.), vgl. Digest of Strasbourg Case-Law relating to the European Convention on Human Rights, Vol. 4, 1985, S. 390. Eur. Com. H.R., 1 Yearbook 162: "pourrait de sa propre initiative saisir la Commission, en tant que cette violation lui causerait un préjudice ou en tant qu'il aurrait un intérêt personnel valable à obtenir qu'il soit mis fin à cette violation" (frz.) = Digest, Vol. 4, S. 390: "could refer the matter to the Commission on his own initiative in so far as that violation was prejudicial to him or in so far as he had a valid personal interest in the termination of that violation" (engl.); sowie Digest, ebd., S. 389: "who would suffer damages ... or who would habe a valid personal interest". 1 4 Eur. Com. H.R., Digest, Vol. 4, S. 373: "an applicant cannot claim to be the 'victim' of an infringement of the said right unless that infringement has caused him material or moral injury". 1 3
Entscheidung v. 21.5.1969, 12 Yearbook 175 = 30 Collection 11.
1 6
Entscheidung v. 11.12.1973, 16 Yearbook 356, 388 (Ziff. 30) = 44 Collection 101, 114 (Ziff. 30). 1 7 Entscheidung v. 13.5.1980, 3 E.H.R.R. 408, 411, Ziff. 2. 1 8 Der EGMR hieß diese Rechtsprechung der EKMR ausdrücklich gut, s. Deweer v. Belgien, Series A No. 35, S. 19 Ziff. 37 (Urteil v. 27.2.1980). 1 9 Eur. Court H.R., Series A No. 123, S. 64 ff. (Urteil v. 25.8.1987).
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B. Der "faktische Eingriff" in Rechtsprechung und Literatur
mannes sei die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK dadurch verletzt worden, daß zwar das Strafverfahren aufgrund seines Todes eingestellt, aber wegen weiterbestehenden Tatverdachts eine Kostenerstattung gemäß § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO verweigert wurde. "Sie kann, als Erbin des Verstorbenen, sowohl ein legitimes materielles Interesse, als auch, für sich selbst und ihre Familie, ein ideelles Interesse daran aufweisen, ihren verstorbenen Ehegatten von jeder Schuldfeststellung entlastet zu sehen"20. Sie sei daher beschwerdebefugte Verletzte im Sinne des Art. 25 Abs. 1 EMRK. Inwieweit es möglich ist, diese Vorstellung des "indirekt Verletzten" auf das Grundgesetz zu übertragen, erscheint fraglich. Hierbei geht es nämlich nicht um Konstellationen, wo ein "indirekt Beeinträchtigter" eine Verletzung seiner eigenen Rechte geltend macht; der "indirekt Verletzte" nach Art. 25 Abs. 1 EMRK macht vielmehr die Verletzung eines Rechtes geltend, in welchem er selbst gerade nicht betroffen ist (Recht auf Leben, Verbot inhumaner Behandlung, Unschuldsvermutung). Es fällt freilich auf, daß in allen diesen Fällen der "direkt Verletzte" verstorben war und daher eine Menschenrechtsbeschwerde durch diesen gar nicht mehr in Betracht kam. Auch ist zu beachten, daß die Europäische Menschenrechtskonvention keine dem Art. 2 Abs. 1 GG entsprechende die allgemeine Handlungsfreiheit schützende Vorschrift kennt, auf die sich "indirekt Verletzte" gegebenenfalls berufen könnten, um eine eigene Rechtsbeeinträchtigung darzutun; so bleibt nur, ihnen wenigstens die Berufung auf das Menschenrecht des "direkt Verletzten" zu ermöglichen. Ob eine Übertragimg dieser Grundsätze in der Bereich der Grundrechte möglich und auch erforderlich ist, bleibt an späterer Stelle zu untersuchen21.
3. Das EingrifFsyerständnis unter der Europäischen Menschenrechtskonvention In der Judikatur zur Europäischen Menschenrechtskonvention finden sich eine Reihe von Entscheidungen, die von einem weiten Eingriffsverständnis zeugen. Im Fall Klass und andere v. Bundesrepublik Deutschland 22, der Menschenrechtsbeschwerde gegen das Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnis (G 10) 2 3 , ging es, wie schon in dem vorausgegange-
2 0 Ebd., S. 77 f. Ziff. 33: "un intérêt matériel légitime ... un intérêt moral" (frz.) - "a legitimate material interest ... a moral interest (engl.); mit dem Hinweis, daß auch der Vorprüfungsausschuß des BVerfG am 30.9.1982 [unveröffentlicht] die vorausgegangene Verfassungsbeschwerde nicht mangels Beschwerdebefugnis {"locus standi ") zurückgewiesen hatte. 2 1
S. unten F I V .
2 2
Eur. Court H.R., Series A No. 28 (Urteil v. 6.9.1978). G 10 v. 13.8.1968, BGBl. I S. 949.
2 3
I V . Zum Eingriffsverständnis der Europäischen Menschenrechtskonvention
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nen Verfahren vor dem BVerfG 24 , um die Frage, ob die Beschwerdeführer einen Eingriff in ihr Recht auf Achtung ihres Privatlebens bzw. Briefverkehrs (Art. 8 EMRK) geltend machen konnten. Der EGMR bejahte dies in Übereinstimmung mit dem BVerfG 25 : bereits die bloße Existenz von geheimen Überwachungsmöglichkeiten oder von Gesetzen, die solche Maßnahmen erlauben, könne die Beschwerdebefugnis nach Art. 25 Abs. 1 EMRK begründen. Sonst liefe Art. 8 EMRK Gefahr leerzulaufen 26. Unzweifelhaft sei die Durchfuhrung geheimer Überwachungsmaßnahmen ein Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK. Doch bereits die bloße Existenz entsprechender Gesetze stelle fur die potentiell Betroffenen "eine drohende Überwachungsgefahr" 27 dar, die die Kommunikationsfreiheit betreffe. Im Fall Inze v. Österreich 28 hatte der Beschwerdeführer, unehelicher Sohn der Erblasserin, mit seinem Halbbruder, dem ehelichen Sohn der Erblasserin, einen gerichtlichen Vergleich geschlossen, in dem er gegen eine geringe Abfindung auf jeden Anspruch auf den hinterlassenen Erbhof verzichtete. Dem vorausgegangen war ein rechtskräftiges Urteil des Obersten Gerichtshofes, in welchem eine Bestimmung des einschlägigen Erbhöfegesetzes als rechtmäßig angesehen wurde, die in der Erbfolge ehelichen Kindern Vorrang vor unehelichen einräumte. Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung des Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 1 des 1. Protokolls (also eine gleichheitswidrige Verletzung seiner Vermögensrechte). Dieser Rüge stand nach Ansicht des EGMR nicht der freiwillig geschlossene gerichtliche Vergleich entgegen. Denn die Beschwerde richte sich letztlich gegen das Gesetz, das dem unehelichen Beschwerdeführer die Aussicht auf den Erbhof nahm; der Vergleich habe nur die finanziellen Folgen gemildert. Außerdem sei der Vergleich zu einer Zeit geschlossen worden, als der Oberste Gerichtshof letztinstanzlich zu seinen Ungunsten entschieden hatte, und er keine Aussicht auf das Erbe mehr haben konnte. "Er befand sich somit in einer unterlegenen Position, und schloß den Vergleich als das kleinere Übel ab" 2 9 . Folglich sei er "Verletzter" im Sinne des Art. 25 EMRK. In dem Fall Barberà, Messegué & Jabardo v. Spanien 30 ging es um das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren (Art. 6 EMRK). Die Beschwerdeführer, Angeklagte in einem Terroristenprozeß, wurden am Vorabend der Verhand2 4
BVerfGE 30, 1 (Urteil v. 15.12.1970).
2 5
BVerfGE 30, 1, 16 f.
2 6
Eur. Court H.R., ebd., S. 18 f. Ziff. 34 ff.
11
Ebd., S. 21 Ziff. 41: "une menace de surveillance" (frz.) - "a menace of surveillance" (enel.). 2 8 Eur. Court H.R., Sériés A No. 126 (Urteil v. 28.10.1987). 2Q Ebd., S. 16 Ziff. 33: "Se trouvant donc en position d'infériorité, il a souscrit à l'accord comme à un moindre mal" (frz.) - "He was therefore in a position of inferiority, and accepted the settlement as the lesser of two evils" (engl.). 3 0 Eur. Court H.R., Series A No. 146 (Urteil v. 6.12.1988). 6 Roth
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B. Der "faktische Eingriff" in Rechtsprechung und Literatur
lung in einem Gefangenentransportwagen über 600 km weit zum Ort der Gerichtsverhandlung gebracht. Sie kamen früh morgens dort an; die Gerichtsverhandlung begann um 10 Uhr 30. Der EGRM sah hierin - zusammen mit anderen Punkten - eine Verletzung des Grundsatzes eines "fair trial": Die Beschwerdeführer "mußten sich in einem Zustand verminderter physischer und psychischer Widerstandskraft einer Verhandlung stellen, die angesichts der Schwere der Anschuldigung und der Höhe der möglichen Strafen von allergrößter Bedeutung für sie war. Trotz der Unterstützung durch ihre Verteidiger ... mußte dieser schon an sich bedauerliche Umstand ohne jeden Zweifel ihre Position in einem entscheidenden Moment schwächen, in dem sie alle ihre Kräfte zu ihrer Verteidigung brauchten, insbesondere um sich ihrer Vernehmung zu Beginn der Verhandlung zu stellen und um sich wirkungsvoll mit ihren Verteidigern beraten zu können"31. Ganz entsprechend sah der EGMR eine Beeinträchtigimg des Rechts auf ein faires Verfahren im Fall 5. v. Schweiz, in dem es um die Überwachung der Gespräche eines Untersuchungshäftlings mit seinem Verteidiger ging: "Könnte ein Anwalt sich nicht ohne eine solche Überwachung mit seinem Mandanten unterhalten und so vertrauliche Instruktionen erhalten, verlöre sein Beistand viel seines Nutzens, während die Konvention den Schutz praktischer und effektiver Rechte bezweckt"32. Im Fall Golder v. Vereinigtes Königreich hatte der E G M R 3 3 folgende Menschenrechtsbeschwerde zu entscheiden: Der Strafgefangene Golder beabsichtigte eine Verleumdungsklage gegen einen Aufseher zu erheben und wollte sich zu diesem Zweck brieflich mit einem Anwalt in Verbindung setzen. Die hierzu erforderliche Erlaubnis wurde ihm verweigert. Der EGMR sah hierin nicht nur einen Eingriff in die durch Art. 8 Abs. 1 EMRK garantierte Achtung des Briefverkehrs (denn wenn unstrittig die Zensur oder das Zurückhalten eines Briefes unter Art. 8 EMRK fielen, müsse dies erst recht für die am weitesten reichende Behinderung gelten, nämlich das Verbot, überhaupt einen o1
Ebd., S. 31 Ziff. 70: "MM... devaient ainsi se trouver dans un état de moindre résistance physique et morale quand ils abordèrent une audience très importante pour eux, vu la gravité des infractions qu'on leur reprochait et des peines qu'ils encouraient. Malgré l'assistance de leurs conseils ... ce fait par lui-même regrettable affaiblit sans nul doute leur position à une moment crucial où ils avaient besoin de tous leurs moyens pour se défendre, et notamment pour affronter leur interrogatoire dès l'ouverture de l'audience et pour se concerter avec leurs avocats" (frz.) "... thus had to face a trial that was vitally important for them, in view of the seriousness of the charges against them and the sentences that might be passed, in a state which must have been one of lowered physical and mental resistance. Despite the assistance of their lawyers ... this circumstance, regrettable in itself, must have weakened their position at a vital moment when they needed all their resources to defend themselves and, in particular, to face up questioning at the very start of the trial and to consult effectively with their counsel" (engl.). 3 2 Eur. Court H.R., S. v. Schweiz, Series A No. 220, S. 16 Ziff. 48 (Urteil v. 28.11.1991). Vgl. auch Eur. Court H.R., Campbell v. Vereinigtes Königreich, Series A No. 233, S. 16 Ziff. 33 (Urteil v. 25.3.1992). 3 3 Eur. Court H.R., Series A No. 18 (Urteil v. 21.2.1975).
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Briefverkehr aufzunehmen 34), sondern auch einen Eingriff in Art. 6 Abs. 1 EMRK. Zwar stelle Art. 6 Abs. 1 EMRK explizit nur bestimmte Prozeßgarantien zugunsten anhängiger Verfahren auf, doch sei nicht anzunehmen, daß er nicht auch das umfasse, was den Genuß dieser Rechte erst ermögliche: nämlich den Zugang zum Gericht 35 . In dieses Recht auf Zugang zum Gericht habe der Minister zwar nicht durch ein formelles Verbot eingegriffen, doch habe er ihn faktisch daran gehindert, die Klage zu erheben 36, indem er ihn den Kontakt zu seinem Anwalt verwehrte. "Eine faktische Behinderung kann der Konvention in gleicher Weise wie ein rechtliches Hindernis zuwiderlaufen" 37. Um die Reichweite des Rechts auf Achtung des Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK ging es in den Fällen Abdulaziz, Cabales & Balkandali v. Vereinigtes Königreich 38: Die Antragstellerinnen, selbst ausländischer Staatsangehörigkeit, doch Inhaberinnen unbegrenzter Aufenthaltsgenehmigungen, hatten ausländische Ehegatten geheiratet; letzteren wurde nun der Zuzug in das Vereinigte Königreich werweigert. Der EGMR ließ die Beschwerden der Frauen z u 3 9 , obgleich ihr aufenthaltsrechtlicher Status nicht berührt war. Eine Verletzung des von Art. 8 EMRK umfaßten Rechtes auf eheliches Zusammenleben scheiterte freilich, weil er keine Pflicht begründe, die Wahl der Eheleute hinsichtlich des Wohnortes zu respektieren 40, und nicht dargetan sei, daß die Antragstellerinnen gehindert wären, sich in ihren eigenen Heimatstaaten oder den ihrer Gatten familiär niederzulassen, oder daß dies aus besonderen Gründen nicht von ihnen erwartet werden könnte 41 . Eine Weiterentwicklung dieser Rechtsprechung erfolgte in Berrehab v. Niederlande* 2: Der Vater eines mindeijährigen Mädchens hatte als Ausländer aufgrund seiner Ehe mit der niederländischen Mutter des Kindes eine zeitlich begrenzte Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Nachdem diese Ehe geschieden worden war, wurde die Aufenthaltsgenehmigung nicht wieder verlängert, mit 3 4
Ebd., S. 20 Ziff. 43.
3 5
Ebd., S. 18 Ziff. 35.
3 6 Ebd., S. 13 Ziff. 26: "il l'a empêché en fait d'engager une action" (frz.) - "did in fact prevent him from commencing an action" (engl.). 3 7 Ebd., "Or un obstacle de fait peut enfreindre la Convention à l'égal d'un obstacle juridique" (frz.) - "Hindrance in fact can contravene the Convention just like a legal impediment" (engl.). î 8
Eur. Court H.R., Series A No. 94 (Urteil v. 28.5.1985).
3 9
Ebd., S. 31 Ziff. 60.
4 0
Vgl. zu diesem Problem auch BVerfGE 76, 1, 79 f.
4 1 Eur. Court. H.R., Series A No. 94, S. 34 Ziff. 68. Darin liegt der Unterschied zu BVerfGE 76, 1, 44, wo der "Zwang, ... ein bestehendes Aufenthaltsrecht endgültig aufzugeben und die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen" offenbar als ein solcher Nachteil betrachtet wurde, der es unzumutbar erscheinen ließ, die Betroffenen auf ihre Heimatländer zu verweisen. Der EGMR sah allerdings im konkreten Fall eine gegen Art. 8 i.V.m. Art. 14 EKMR verstoßende Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes. 4 2
Eur. Court H.R., Series A No. 138 (Urteil v. 21.6.1988).
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B. Der "faktische Eingriff in Rechtsprechung und Literatur
der Folge möglicher Ausweisimg. Sowohl der Vater als auch die Tochter (diese vertreten durch ihre Mutter) rügten eine Verletzung des Art. 8 EMRK, letztere obschon sie selbst nicht von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen war 4 3 . Der EGMR folgte dem. Denn das Recht auf Achtung der Familie umfasse auch den Kontakt des Vaters zu seinem Kind, selbst wenn das Kind nach der Scheidung der Eltern bei der Mutter lebt. Den Hinweis der Regierung, der Vater könne sein Umgangsrecht dadurch ausüben, daß er von seinem Heimatland (Marokko) mit zeitlich befristeten Visa in die Niederlande reisen könne, ließ der EGMR nicht gelten: "Diese Möglichkeit war nach den Umstanden des Falles eine ziemlich theoretische... Praktisch hinderten die beiden streitigen Maßnahmen die Antragsteller an der Aufrechterhaltung eines regelmäßigen Kontaktes miteinander" 44. Um die Frage der Zulässigkeit von "closed shop agreements" ging es in Young, James & Webster v. Vereinigtes Königreich 45. British Rail, die britische Staatseisenbahn, hatte mit zwei Gewerkschaften eine Vereinbarung geschlossen, derzufolge nur Mitglieder dieser Gewerkschaften beschäftigt werden durften (sog. "closed shop"). Die drei Beschwerdeführer rügten nach ihrer Entlassung eine Verletzung der durch Art. 11 Abs. 1 EMRK geschützten negativen Vereinigungsfreiheit. Der EGMR gab den Beschwerden statt. Zunächst ließ er dahinstehen, ob man den Staat selbst als Arbeitgeber ansehen oder seine Verantwortlichkeit mit seiner Kontrolle über British Rail begründen könnte. Seine Verantwortlichkeit für die gerügte Maßnahme ergebe sich nämlich aus Art. 1 EMRK. Danach sichern die Mitgliedstaaten allen ihrer Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen die niedergeschriebenen Rechte und Freiheiten zu. "Mithin, wenn die Verletzung eines dieser Rechte oder einer dieser Freiheiten aus der Nichtbeachtung dieser Verpflichtung durch die innerstaatliche Gesetzgebung resultiert, ergibt sich daraus die Verantwortlichkeit des Staates für diese Verletzung". Da die Entlassungen gesetzmäßig waren, sei auf dieser Basis der britische Staat verantwortlich 46. Den Eingriff in Art. 11 Abs. 1 EMRK begründete der EGMR wie folgt: Die Beschwerdeführer hätten, um ihrer Entlassung zu entgehen, einer der zwei Gewerkschaften beitreten müssen, doch stelle die Drohung mit einer Entlassung nebst Verlust des Le-
4 3 Ebd., S. 13 Ziff. 18. Die ebenfalls eingelegte Beschwerde der Mutter war allerdings unzulässig, da zwischen ihr und dem Auszuweisenden nach der Scheidung keine familienrechtlichen Bande mehr bestanden. 4 4 Ebd., S. 14 Ziff. 23: "dans les circonstances de la cause, il s'agissait là d'une possibilité plutôt théorique... Les deux mesures litigieuses empêchèrent donc pratiquement les requérants de garder entre eux des contacts réguliers" (frz.) - "This possibility was a somewhat theoretical one in the circumstances of the case... The two disputed measures thus in practice prevented the applicants from maintaining regular contacts with each other" (engl.). 4 5 4 6
Eur. Court H.R., Series A No. 44 (Urteil v. 13.8.1981). Ebd., S. 20 Ziff. 49.
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bensunterhaltes "eine besonders schwere Form der Druckausübung"47 dar, die im konkreten Fall den Kern der durch Art. 11 EMRK gewährleisteten Freiheit betreffe. Um Fragen der staatlichen Verantwortlichkeit für das Handeln anderer ging es auch in jenen Urteilen, in denen sich der EGMR damit zu befassen hatte, ob die Auslieferung einer Person durch einen Vertragspartner der Europäischen Menschenrechtskonvention an einen NichtVertragspartner, wo dieser Person Folter oder unmenschliche Behandlung droht, selbst unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen kann. Der EGMR hat diese Frage bejaht: Es sei nicht möglich, "die Vertragsparteien von ihrer Verantwortlichkeit nach Art. 3 für jedwede vorhersehbare außerhalb ihres Machtbereiches erlittene Folge einer Auslieferung loszusprechen"48. "Sofern eine Auslieferung nachteilige Folgen für die Ausübimg eines durch die Konvention garantierten Rechtes hat, kann sie, vorausgesetzt diese Folgen sind nicht zu fernliegend, die Pflicht des Vertragsstaates gemäß der betreffenden Bestimmung ins Spiel bringen" 49. Diese Verantwortlichkeit resultiere aus der Vornahme eines Aktes, der es als "direkte Folge" mit sich bringt, jener unzulässigen Behandlung ausgesetzt zu sein 50 . Daher werfe eine Auslieferungsentscheidung ein Problem im Hinblick auf Art. 3 EMRK auf, wenn "ernste und unbezweifelbare Gründe für die Annahme bestehen, daß die betreffende Person im Falle der Auslieferung einem realen Risiko ausgesetzt ist", gefoltert oder unmenschlich behandelt zu werden 51 .
4. Resümee Die EKMR und der EGMR benutzen zwar keinen expliziten, feststehenden Eingriffsbegriff. Die dargestellten Fälle zeigen aber jedenfalls, daß sie kein enges, sondern eher ein weites Eingriffsverständnis vertreten. Zwar muß in ein Recht des Beschwerdeführers eingegriffen worden sein bzw. der "indirekt Verletzte" ein bestimmtes Rechtsschutzinteresse aufweisen, doch ob dieser 4 7 Ebd., S. 22 f. Ziff. 55: "a most serious form of compulsion" (engl.) - "une forme très grave de contrainte" (frz.). 4 8 Eur. Court H.R., Soering v. Vereinigtes Königreich, Series A No. 161, S. 34 Ziff. 86 (Urteil v. 7.7.1989); ebenso Eur. Court H.R., Vilvarajah u.a. v. Vereinigtes Königreich, Series A No. 215, S. 36 Ziff. 108 (Urteil v. 30.10.1991). 4 9 Eur. Court H.R., Soering v. Vereinigtes Königreich , Series A No. 161, S. 33 Ziff. 85: "s'il ne s'agit pas de répercussions trop lointaines" (fiz.) - "assuming that the consequences are not too remote" (engl.). 5 0 5 1
Eur. Court H.R., Cruz Varaz u.a. v. Schweden , Series A No. 201, S. 28 Ziff. 69.
Eur. Court H.R., Soering v. Vereinigtes Königreich, Series A No. 161, S. 35 Ziff. 91; der französische Text ("lorsqu'il y a des motifs sérieux et avérés") und der englische ("where substantial grounds have been shown") weichen hier in ihren Anforderungen voneinander ab. Bestätigt in Eur. Court H.R., Cruz Varaz u.a. v. Schweden, Series A No. 201, S. 28 Ziff. 69.
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B. Der "faktische Eingriff" in Rechtsprechung und Literatur
Eingriff durch ein rechtliches Ge- oder Verbot erfolgt oder durch schlicht-hoheitliches Handeln, spielt ebensowenig eine Rolle wie die Finalität; auch ist nicht ersichtlich, daß auf ein bestimmtes Unmittelbarkeitskriterium zurückgegriffen würde. Entscheidend kommt es jeweils darauf an, der Europäischen Menschenrechtskonvention effektive Geltung zu verschaffen. Zusammenfassen läßt sich dieser Ansatz mit dem obersten Leitsatz für die Interpretation der Europäischen Menschenrechtskonvention: "Die Konvention soll nicht theoretische oder illusorische, sondern praktische und effektive Rechte schützen"52.
5 2 Eur. Court H.R., Airey v. Irland , Series A No. 32, S. 12 Ziff. 24 (Urteil v. 9.10.1979): "La Convention a pour but de protéger des droits non pas théoriques ou illusoires, mais concrets et effectifs." (frz.) - "The Convention is intended to guarantee not rights that are theoretical or illusory but rights that are practical and effective." (engl.). Diese Formel entspricht standiger Rechtsprechung, s. Eur. Court H.R., "Belgischer Sprachenstreit", Series A No. 6, S. 31 Ziff. 3 f.; Artico v. Italien, Series A No. 37, S. 16 Ziff. 33; Soering v. Vereinigtes Königreich, Series A No. 161, S. 34 Ziff. 87; S. v. Schweiz, Series A No. 220, S. 16 Ziff. 48.
C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte Die in Teil B gegebene Übersicht über Rechtsprechung und Literatur sowohl vor Inkrafttreten als auch unter der Geltung des Grundgesetzes ermöglicht einerseits - ungeachtet der vielen Differenzen und Unstimmigkeiten im Detail eine ungefähre, vielleicht intuitive Vorstellung von der überaus komplexen Problematik der "faktischen Eingriffe in Freiheit und Eigentum". Andererseits wird angesichts der bestehenden Unklarheiten über das rechte Verständnis eines praktikablen Begriffes der "faktischen Eingriffe" deutlich, daß die Untersuchung grundsätzlich angelegt werden muß. Die für und gegen die verschiedenen vorgeschlagenen Definitionsansätze vorgebrachten Argumente wurden schon so oft ausgetauscht, daß ihre bloß wiederholte und wiederholende Diskussion keinen Erfolg oder auch nur Erkenntnisfortschritt verspricht. Die Diskussion des Eingriffsbegriffes auf der Basis ungeklärter und oftmals unausgesprochener Prämissen muß, wie die Debatten der vergangenen Zeit demonstrieren, letztlich fruchtlos bleiben. Grundvoraussetzung einer erfolgversprechenden Lösimg ist ein genaues Problemverständnis, und dieses ist nur anhand einer eingehenden Analyse der grundrechtlichen Funktionen und Strukturen zu gewinnen. Die Definition des Begriffs des "faktischen Eingriffs in Freiheit und Eigentum" setzt deshalb die Einordnung des mit "Eingriff" zu bezeichnenden Phänomens in das System der Grundrechte voraus. Nur wenn seine Funktion geklärt ist, kann eine überzeugende Begriffsherleitung gelingen. Ohne eine solche vorangehende Sinn- und Zweckbestimmung müßte jede Definition letztlich eine rein begriffsjuristische Übung bleiben, die einen mehr oder minder willkürlich gewählten Ausdruck definiert und dieses "Ergebnis" der Lösung konkreter Probleme quasi überstülpt. Nur eine präzise Definition und systematische Lokalisierung des Problems eröffnet daher den Weg zu der entscheidenden inhaltlichen Betrachtung. Da "faktische Eingriffe" einen Unterfall der "Eingriffe" bilden und insofern deren Strukturmerkmale teilen müssen, bietet sich an, die Untersuchung von Funktion und Struktur zunächst allgemein auf "Eingriffe in Freiheit und Eigentum" zu erstrecken (Teile C und D), ehe dann die Besonderheiten der "faktischen Eingriffe" zu klären sind (Teile E und F).
I. Systematik der Grundrechte In diesem Abschnitt ist jene Systematik zu entwickeln und darzustellen, die eine Einordnung des "(faktischen) Eingriffs'' in den Grundrechtskontext gestattet und damit später einen Definitionsansatz ermöglichen soll.
1. Die Funktion der Grundrechte Die Grundrechte sind Rechtsnormen1, die dem Schutz bestimmter Rechtsgüter dienen2, und zwar deijenigen, die der Verfassungs(gesetz)geber für so wichtig und hochrangig einschätzte, daß er ihren Schutz nicht dem einfachen Gesetz überlassen wollte, sondern ihnen durch Aufnahme in Grundrechtsbestimmungen Verfassungsrang einräumte3 {Grundrechtsgüter). Als solche Grundrechtsgüter sind etwa zu nennen: Würde des Menschen, freie Entfaltung der Persönlichkeit, Leben, Gesundheit, gleiche Behandlung, Freiheit des Gewissens und der Meinungsäußerung, usw. 4 . Dem korrespondieren die Grundrechte? Recht auf Achtung und Schutz der Würde, Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Recht auf Gleichbehandlung, Recht auf freies Gewissen, Recht auf freie Meinungsäußerung usw., sowie die Grundrechtsbestimmungen 6 Art. 1, 2, 3, 4, 5 GG usw. Die Grundrechte begründen dabei nicht nur - wie alle Rechtsnormen - objektivrechtlich die Pflicht des Normunterworfenen zur Normbefol-
1 BVerfGE 21, 73, 78; Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, S. 61; v.Mangoldt/Klein/Starck , GG, Art. 1 m Rdnr 122; F. Müller , Die Positivitat der Grundrechte, S. 41; Stern , Staatsrecht Ul/ 1, S. 477; vgl. ferner Alexy, Theorie, S. 40 (zu beachten ist, daß die hier gebrauchte Terminologie etwas von der Alexys abweicht. Wo hier die Begriffe Grundrechtsbestimmung - Grundrecht - Grundrechtsgut gebraucht werden, stellt er Grundrechtsbestimmung Gnindrechtsnorm - grundrechtliches Schutzgut gegenüber, vgl. Alexy, Thorie, S. 54, 253 f.). 2 BVerfGE 50, 290, 337; 61, 82, 100 f.; 75, 192, 195; Grabitz , Freiheit und Verfassungsrecht, S. 252; v.Mangoldt/Klein/Starck , GG, Art. 1 m Rdnr 109; OssenbÜht , Umweltpflege, S. 16; Pieroth/ScMink , Grundrechte, Rdnr 72 ff.; Pietzcker , Grundrechtsbetroffenheit, S. 143; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 152; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 1575. 3 4
Vgl. Lorenz , Methodenlehre, S. 339; Alexy, Theorie, S. 407. Vgl. BVerfGE 61, 82, 100.
5 Alexy, Theorie, S. 54 ff., der die Grundrechte auch Grundrechtsnormen nennt; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 623. 6 Alexy , Theorie, S. 54. Fohmann , EuGRZ 1985, 55 spricht von "Grundrechtsvorschrift" und "Grundrechtsnorm". Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 9 unterscheidet Grundrechtsbestimmung und Grundrecht als Grundrechte im "objektiven" und "subjektiven Sinn".
I. Systematik der Grundrechte
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gung, sondern geben als anerkanntermaßen subjektive Rechte7 den Grundrechtsträgern selbst ein Befolgungsrecht. a) Freiheit als Grundrechtsgut Wenngleich die verschiedenen Grundrechtsgüter und die sie schützenden Grundrechte sich im einzelnen unterscheiden, so stellt sich doch die Frage, ob sie nicht etwas gemeinsam haben. Das ist zu bejahen. Sie dienen letztlich alle demselben Zweck, nämlich dem Menschen ein ihm würdiges Leben zu sichern. Art. 1 Abs. 1 GG deklariert die Menschenwürde als obersten Wert 8 und macht deren Achtung und Schutz zur primären Aufgabe aller staatlichen Gewalt der Bundesrepublik Deutschland9 - die von den Überlebenden gezogene Lehre aus dem Unrecht von Nationalsozialismus, Sozialismus/Kommunismus und Kriegsverbrechen, die nicht nur Millionen Menschen das Leben kosteten, sondern auch die Würde Ungezählter verletzten 10. "Darum" bekennt sich das Deutsche Volk zu den Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft (Art. 1 Abs. 2 GG). Die Menschenrechte sind auf die Menschenwürde bezogen11, ihr Zweck ist der Schutz der Menschenwürde 12. Die Menschenrechte werden als überpositives Recht anerkannt 13 und sodann gemäß Art. 1 Abs. 3 GG über die Grundrechte in positives Recht transformiert 14 . Die Grundrechte teilen deshalb den Zweck der Menschenrechte, sind
7 BVerfGE 6, 386, 387; 50, 290, 337; BVerfG, NJW 1987, 2501 (st. Rspr.); Gallwas , Faktische Beeinträchtigungen, S. 127 f.; Grabitz , Freiheit und Verfassungsrecht, S. 3; Huber , Konkurrenzschutz, S. 174; Kreßel, Haftungsrecht, S. 13; v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Alt. 1 ffl Rdnr 123; Pietzcker , Grundrechtsbetroffenheit, S. 139; Schenke , Rechtsschutz, S. 61 ff.; Schwabe , Grundrechtsdogmatik, S. 17; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 532. 8 BVerfGE 5, 85, 204; 6, 32, 41; 45, 187, 227; Wintrich , BayVBl. 1957, 137; Düng, in Maunz/Dürig, GG, Art. 1 (Lfg. 1958) Rdnr 14; Schmidt-Bleibtreu/Klein , GG, Art. 1 Rdnr 15; Stern , Staatsrecht ffl/1, S. 23; Zippelius , in BK, Art. 1 (Drittb. 1989) Rdnr 2. 9 Vgl. BVerfGE 5, 85, 138; v.Mangoldt/Klein/Starck m / 1 , S. 27 f.
, GG, Alt. 1 Rdnr 13; Stern, Staatsrecht
1 0
Vgl. dazu BVerfGE 5, 85, 137 f.; v.Mangoldt , Schriftlicher Bericht, S. 5; v.Mangoldt/ Klein/Starck , GG, Art. 1 Rdnr 1, 7; Kunig, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 1 Rdnr 6 f.; Maunz/ Zippelius , Deutsches Staatsrecht, S. 178; v.Münch, in v.Münch, GG, Art. 1 Rdnr 1 f.; Pieroth/ Schlink , Grundrechte, Rdnr 397 ff.; Schmidt-Bleibtreu/Klein , GG, Alt. 1 Rdnr 3; Zippelius , in BK, Art. 1 (Drittb. 1989) Rdnr 11. 1 1 Wintrich, BayVBl. 1957, 138; Bryde, in v.Münch, GG, Art. 79 Rdnr 35; Dürig, in Maunz/Dürig, GG, Alt. 1 (Lfg. 1958) Rdnr 79 f.; v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 Rdnr 84. 1 2 Vgl. Bleckmann, Grundrechte, S. 129; Dürig, in Maunz/Dürig, GG, Art. 1 (Lfg. 1958) Rdnr 55; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 33 f., 37. 1 3
BGHZ 11, 81+, 84+ (Anhang C); Zippelius, in BK, Art. 1 (Drittb. 1989) Rdnr 104. Vgl. Bleckmann, Grundrechte, S. 58; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 60 f.; Isensee, Das staatliche Gewaltmonopol, S. 50; v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 Rdnr 17, 91; F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 41; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 59; Stern, Staatsrecht ffl/1, S. 43 f. 1 4
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C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
auf die Achtung und den Schutz der Menschenwürde hin angelegt15, sind "eine der notwendigsten Grundlagen" für die Achtung der Menschenwürde 16. Die Menschenwürde ist ideeller Ausgangs- und Endpunkt der Einzelgrundrechte 17 , wenngleich selbstverständlich die einzelnen Grundrechte teilweise über das hinausgehen, was zum Erhalt der Würde notwendig wäre, und weiter gehende Rechtspositionen einräumen 18. Letzteres folgt schon aus Art. 79 Abs. 3 GG, der die Möglichkeit erkennen läßt, Grundrechte zum Nachteil der Bürger abzuändern, ohne die Menschenwürde zu tangieren 19. Der Mensch ist nach dem Menschenbild des Grundgesetzes ein zwar gemeinschaftsbezogenes und -gebundenes, aber gleichwohl autonomes Individuum 20 . Die das Gemeinwesen bildenden Menschen sollen in freiem und demokratischem Zusammenwirken dessen, und in eigener Zuständigkeit ihr eigenes Leben bestimmen21. In dieser Selbstbestimmimg verwirklicht sich die Würde des Menschen22, und nur so kann verhindert werden, daß der Mensch zum Objekt staatlichen Handelns23 herabgewürdigt wird. Eben dies ist aber der Zweck der einzelnen Grundrechte: sie sichern dem Menschen den Freiraum, den er zu seiner Selbstverwirklichung braucht, garantieren also "Freiheit". Ohne ein Mindestmaß an Freiheit kann sich die geistig-sittliche Person nicht entfalten 24. "Um seiner Würde willen muß [dem Menschen] eine möglichst weitgehende Entfaltung seiner Persönlichkeit gesichert werden" 25 . Die Freiheit stellt eine notwendige Bedingimg der Men-
1 5 BVerfGE 65, 1, 41; vgl. auch BVerfGE 17, 1, 6: das Bekenntnis zur Menschenwürde "beherrscht" auch Art. 2 I GG; Zippelius, in BK, Art. 1 (Drittb. 1989) Rdnr 20: Verständnis der Einzelgrundrechte von Art. 1 I GG her; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 57; LübbeWolff, Eingriffsdogmatik, S. 80; Stern, Staatsrecht ffl/1, S. 35 f. 1 6 1 7
v.Mangoldt, Schriftlicher Bericht, S. 5. Vgl. Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 177.
1 8 Vgl. Bleckmann, Gmndrechte, S. 60; Dürig, in Maunz/Dürig, GG, Art. 1 (Lfg. 1958) Rdnr 80; v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 Rdnr 91; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 161; Stern, Staatsrecht m/1, S. 44. 1 9 Bryde, in v.Münch, GG, Art. 79 Rdnr 36; Dürig, in Maunz/Dürig, GG, Art. 1 (Lfg. 1958) Rdnr 81; v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 Rdnr 92. 2 0 BVerfGE 4, 7, 15 f.; 8, 274, 329; 27, 1, 7; 50, 166, 175; Dürig, in Maunz/Dürig, GG, Art. 1 (Lfg. 1958) Rdnr 46 ff.; Gick, JuS 1988, 586; v.Mangoldt, Schriftlicher Bericht, S. 6; v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 57; Stern, Staatsrecht ffl/1, S. 31 f.; Zippelius, in BK, Art. 1 (Drittb. 1989) Rdnr 14. 2 1
Vgl. BVerfGE 5, 85, 204 f.; BGHZ 63, 196, 198; Wintrich,
2 2
Vgl. BVerfGE 45, 187, 227; 65, 1, 41.
BayVBl. 1957, 138.
2 3 Vgl. BVerfGE 9, 89, 95; 27, 1, 6; 45, 187, 228; s. aber 30, 1, 25 f.; BVerwGE 1, 159, 161; BGHZ 6, 270, 276; Wintrich, BayVBl. 1957, 139; Alexy, Theorie, S. 322; Dürig, in Maunz/Dürig, GG, Art. 1 (Lfg. 1958) Rdnr 28; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 179; Zipjpelius, in BK, Art. 1 (Drittb. 1989) Rdnr 63.
* 4 BVerfGE 4, 7, 15. 2 5 BVerfGE 5, 85, 204; Gick, JuS 1988, 586; Zippelius, in BK, Art. 1 (Drittb. 1989) Rdnr 31.
I. Systematik der Grundrechte
69
schenwürde dar 2 6 . Würde und Freiheit gehören deshalb zusammen, sind unteilbar 27 . Wie es nur eine Würde gibt, so auch nur eine Freiheit 28 ; die einzelnen Freiheiten sollen diese eine Freiheit nach verschiedenen Richtungen hin konkretisieren 29. Was Menschenwürde ist, läßt sich nicht abschließend normativ festlegen 30. Daher mußten die Voraussetzungen ihrer Verwirklichung normiert werden 31 . Art. 1 Abs. 1 GG macht die Würde selbst unmittelbar zum Schutzgut; alle anderen Grundrechte dagegen erklären einzelne Freiheiten zu Grundrechtsgütern. "Freiheit1* als gemeinsames Schutzgut ist aber instrumental auf die Menschwürde bezogen. Dies ermöglicht nun zwar keine philosophische Definition von "Freiheit", wohl aber eine juristische 32; in dem Sinne nämlich, daß es hier nur um die Funktion dieses Begriffes im Rahmen des Grundgesetzes33 geht: Bezogen auf die Würde des einzelnen ist Freiheit zu verstehen als Chance zur Verwirklichung selbstgesetzter (autonomer) Ziele 34, die Macht zur Selbstbeherrschung und Selbstbestimmung über das eigene Sein und Tun 3 5 . Sie gewährleistet wie das BVerfG mit Blick auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ausgeführt hat 3 6 "dem Einzelnen einen Rechtsraum, in dem er sich die Lebensform zu geben vermag, die seiner Überzeugimg entspricht".
2 6
Alexy , Theorie, S. 321.
2 7
Vgl. Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 138; Dürig , in Maunz/Dürig, GG, Art. 1 (Lfg. 1958) Rdnr 87. 2 8 Vgl. Dürig , in Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I (Lfg. 1958) Rdnr 3: Einheitlichkeit der Freiheit; G. JelUnek, System, S. 103 f. 2 9 Vgl. Dürig , in Maunz/Dürig, GG, Art. 1 (Lfg. 1958) Rdnr 86. 3 0 Vgl. BVerfGE 30, 1, 25 f.; Alexy , Theorie, S. 322; Dürig , in Maunz/Dürig, GG, Art. 1 (Lfg. 1958) Rdnr 28; v.Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 1 Rdnr 13; Maunz/Zippelius , Deutsches Staatsrecht, S. 179 f.; v.Münch , in v.Münch, GG, Art. 1 Rdnr 14; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 400 ff.; Zippelius , in BK, Art. 1 (Drittb. 1989) Rdnr 14 ff. 3 1 Vgl. Bryde, in v.Münch, GG, Art. 79 Rdnr 36; Gallwas , Faktische Beeinträchtigungen, S. 60; Zippelius , in BK Art. 1 (Drittb. 1989) Rdnr 13. 3 2
Vgl. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, S. 53; Alexy , Theorie, S. 195. Daß und wie das Freiheitsverständnis vom jeweils akzeptierten Menschenbild abhängig ist, verdeutlicht gut der historische Überblick bei Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 50 ff. Insoweit das Menschenbild des Grundgesetzes aufgrund der gemachten Erfahrungen von Vorstellungen früherer Zeiten abweicht, ergeben sich daher auch Unterschiede hinsichtlich des Freiheitsbegriffes und des Freiheitsschutzes. J J
3 4
Vgl. BVerfGE 5, 85, 204; 45, 187, 227; 9, 83, 88: Freiheit als Voraussetzung für die "aktive Gestaltung der Lebensführung durch den Grundrechtsträger selbst"; BGH, NJW 1961, 1397, 1398; Gallwas , JA 1986, 484; Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, S. 53; Kreßel, Haftungsrecht, S. 15; v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 Rdnr 7; Ossenbühl, Umweltpflege, S. 16; Sachs, VerwArch 1985, 418: "Selbstbestimmung"; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 1 Rdnr 1, 15: eigenverantwortliche Lebensgestaltung; Schwabe , Gnindrechtsdogmatik, S. 14: "Vermögen, sein Verhalten selbst zu bestimmen"; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 641: Selbstbestimmung; Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 172. 3 5 3 6
RGSt 48, 346, 348. BVerfGE 12, 1, 3.
70
C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
Diese Definition deckt sich nicht zufallig mit deijenigen der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG als dem Recht, zu tun und zu lassen, was man will 3 7 : also erstens etwas zu wollen, und zweitens das Gewollte zu tun 3 8 ; d.h. sein Handeln so einzurichten, wie man es für richtig hält 3 9 . Denn wenn das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit als "Muttergrundrecht" 40 alle anderen Grundrechte umschließt, die nur in bezug auf einzelne, besonders wichtige oder nach geschichtlicher Erfahrung besonders gefährdete Teilbereiche eine speziellere41 Regelung darstellen 42 und eine rechtlich stärker abgesicherte Position43 verleihen, dann muß die Definition der allgemeinen Handlungsfreiheit als der generellen im Grundsatz auch für die speziellen Freiheiten gelten 44 . Nachfolgend soll daher die so verstandene Freiheit immer dann, wenn es nicht auf die Besonderheiten einzelner Grundrechte ankommt, als das gemeinsame Grundrechtsgut aller Grundrechte angesehen werden. Damit läßt sich allgemein als Schutzzweck der Grundrechte der Schutz der Freiheit definieren 4 5 . 3 7 Seit BVerfGE 6, 32, 36 st. RSpr., s. jüngst BVerfGE 80, 137, 154; Alexy, Theorie, S. 309 ff.; Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, S. 60 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 421; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 2 Rdnr 4 f. Vgl. aber Suhr, JZ 1980, 173 dazu, daß Art. 2 I GG auch von der Genese her nicht als uneingeschränkte Freiheit zur Willkür gedacht war, sondern als eine Entfaltungsfreiheit, die auch die Rechte der anderen bedenkt. Von daher verstehen sich die Schranken des Art. 2 I GG von selbst. Vgl. ferner Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 184 und Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 197 unter Bezugnahme auf Art. 4 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789: "alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet". 3 8
-IQ
Vgl. BVerfGE 65, 1,42 f.
Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 185. 4 0 BGHZ 24, 72, 78; Düng, in Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I (Lig. 1958) Rdnr 8; Kunig, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rdnr 90. Vgl. BVerfGE 49, 15, 23: allgemeine Handlungsfreiheit als "umfassender Ausdruck der persönlichen Freiheitssphäre und zugleich Ausgangspunkt aller subjektiven Abwehrrechte". Die Kritik von F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 43 und v.Münch, in v.Münch, GG, Art. 2 Rdnr 77 hiergegen überzeugt nicht, weil zwar die Grundrechtsbestimmung Art. 2 I GG neueren Datums ist als die Vorgänger der spezielleren Grundrechtsbestimmungen, nicht aber die dahinterstehende Idee der allgemeinen Handlungsfreiheit, die schon anerkannt war, lange bevor einzelne ihrer Ausformungen normiert wurden. Vgl. auch Alexy, Theorie, S. 336 f. 4 1 Vgl. z.B. BVerfGE 82, 209, 223: Art. 12 I GG "konkretisiert das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit im Bereich der individuellen Leistung und Existenzerhaltung". 4 2 Vgl. BVerfGE 4, 52, 57; 13, 181, 185; 67, 157, 171; Düng, in Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I (Lfg. 1958) Rdnr 8; Gallwas, JA 1986, 485; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 186; v.Münch, in v.Münch, GG, Art. 2 Rdnr 77; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 196; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 2 Rdnr 10. 4 3
Vgl. BVerfGE 6, 32, 37.
4 4
Auch das Gleichheitsrecht des Art. 3 GG kann in diesem Sinne als Freiheitsrecht verstanden werden, nämlich als Freiheit von Diskriminierung, die es dem Staat verbietet, den einzelnen in der Umsetzung seiner Vorstellungen durch willkürliche Unterscheidungen zu behindern, oder ihn in seinem Streben, anderen gleich zu sein, zu beeinträchtigen. Zu Art. 3 GG s. näher unten Gilb. 4 5
Ähnlich Stern, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 109 Rdnr 42.
I. Systematik der Grundrechte
b) Kategorien grundrechtlicher
71
Gewährleistungen
Die Kernaussage, die Grundrechte schützten die Freiheit, darf nicht zu der Annahme verleiten, dieser Schutz sei in genau einer Form gewährleistet. Vielmehr lassen sich anhand der Ebene, Dimension und Tendenz grundrechtlicher Gewährleistungen verschiedene Kategorien bilden. aa) Die Gewährleistungsebene: Primäre, sekundäre und tertiäre Rechte Die Grundrechte sind gleichermaßen subjektive46 wie absolute Rechte 47. Ihre Charakterisierung als absolute Rechte48 rechtfertigt sich daraus, daß sie wie in Art. 1 Abs. 3 GG ausdrucklich normiert - gegen die gesamte Staatsgewalt wirken 49 und sämtliche Träger öffentlicher Gewalt verpflichten, ihr Handeln so einzurichten, daß das Grundrechtsgut nicht (rechtswidrigerweise) beeinträchtigt wird 5 0 . Die Grundrechte erschöpfen sich jedoch nicht in diesem primären Recht auf Achtung und Befolgung. Vielmehr wohnt ihnen ein Rechtsmachtmoment inne 51 , das es ermöglichen soll, den grundrechtlichen Schutzzweck auch dann noch zu verfolgen, wenn der Grundrechtsadressat das primäre Recht (in rechtswidriger Weise) nicht beachtet. Dann nämlich erwachsen dem einzelnen Grundrechtsträger echte subjektive Ansprüche gegen den betreffenden Träger öffentlicher Gewalt, welche dem Schutz und der gerichtlichen Durchsetzung jenes verletzten primären Rechts dienen 52 . Die Grundrechte beinhalten hierzu ein ganzes Bündel von Ansprüchen 53, die man als "Hilfsansprüche" zur Sicherung des primären Rechts bezeichnen kann 54 und die als Sekundäransprüche nur in Betracht kommen, wenn das im Grundrecht manifestierte primäre Recht mißachtet wird 5 5 . Als solche Sekundäransprüche sind, ohne daß es erforderlich wäre, sie 4 6
S. vorstehend C I 1 . Schenke , in BK, Art. 19 I V (Zweitb. 1982) Rdnr 299; ders., Verwaltungsprozeßrecht, Rdnr 385 f.; Stern , Staatsrecht m / 1 , S. 563. 4 8 Zum Wesen absoluter Rechte vgl. allgemein Enneccerus/Nipperdey , BGB AT 1/2, S. 1363 f.; Lorenz , Allgemeiner Teil, S. 228 f.; Schenke , in BK, Art. 19 I V (Zweitb. 1982) Rdnr 301; Soergel/Walter , BGB, § 194 Rdnr 5; Staudinger/Dilcher , BGB, § 194 Rdnr 29. 4 9 Vgl. Stern , Staatsrecht m / 1 , S. 565. 4 7
5 0
Ähnlich BVerfGE 19, 253, 257; 29, 402, 408; Schenke , Rechtsschutz, S. 68.
5 1
Vgl. Henke , DÖV 1984, 3; Schenke , Rechtsschutz, S. 73 ff.; Stern , Staatsrecht m / 1 , S. 558 ff. 5 2 BVerfGE 61, 82, 113 ("Störungsabwehranspruch ... zum Schutze eines Grundrechts"); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 72; Schenke , Rechtsschutz, S. 78 f.; ders., in BK, Art. 19 I V (Zweitb. 1982) Rdnr 299 ff.; Schoch, Jura 1993, 481; Stern , Staatsrecht m / 1 , S. 565 f.; vgl. auch Zippe lius, Juristische Methodenlehre, S. 3. 5 3 Vgl. Schwabe , Grundrechtsdogmatik, S. 21 f.; Stern , Staatsrecht m / 1 , S. 587 ff. 5 4
Schenke , Rechtsschutz, S. 68 f.; den., DVB1. 1990, 330. Vgl. Fohmann, EuGRZ 1985, 56; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 126 f.; Schenke , in BK, Art. 19 I V (Zweitb. 1982) Rdnr 299; ferner MoHok, Die Verwaltung 1992, 5 5
72
C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
hier näher zu präzisieren 56, etwa Ansprüche auf Unterlassung, (Folgen-) Beseitigung oder eine bestimmte Leistung zu nennen. Wenn sich diese Sekundäransprüche als ungenügend erweisen, dem Schutzzweck der Grundrechte genüge zu tun, ist weiter an einen Tertiäranspruch auf Entschädigung zu denken. Während das primäre Recht hiernach ein absolutes ist, sind die sekundären und tertiären Rechte relative Rechte gegen den das primäre Recht verletzenden Träger öffentlicher Gewalt und stellen gerichtlich durchsetzbare Ansprüche dar 5 7 . Die Angewiesenheit des primären Rechts auf die sekundären bzw. tertiären Rechte (Ansprüche), sowie die innere Bezogenheit der letzteren auf das primäre, machen das Wesen der Grundrechte als absolute und eben auch subjektive Rechte aus 58 . Der Ausdruck des "Sekundären" bzw. "Tertiären" ist hierbei im Sinne einer Subsidiarität zu verstehen, weil der im Naßauskiesungsbeschluß aufgestellte Satz des BVerfG, es gebe kein Wahlrecht des "Dulde und Liquidiere", sondern zunächst müsse man gegen die hoheitliche Maßnahme vorzugehen versuchen und nur wenn dies fehlschlage, komme Entschädigimg in Betracht 59, verallgemeinerungsfähig ist. Subsidiarität ist freilich nicht gleichbedeutend mit Minderwertigkeit. Die Subsidiarität ist nur im Sinne einer Verwirklichungsreihenfolge zu verstehen, nicht aber als gestufte Wichtigkeit. Das sekundäre Recht ist nicht weniger "wert" als das primäre, das tertiäre nicht weniger als das sekundäre, sondern das jeweils subsidiäre tritt an die Stelle des eigentlichen. Die unterschiedlichen Gewährleistungsebenen sind verschieden, aber in dem Sinne gleichwertig, daß sie sämtlich die effektive Beachtung des Grundrechtes bezwecken. Auf welche Art und Weise die grundrechtlichen Sekundär- und Tertiäransprüche im einfachen materiellen Recht sowie in Verfahrens- und prozeßrecht376; ähnlich Kreßel, Haftungsrecht, S. 13 ff., der allerdings Primär- und Sekundäransprüche nicht ausreichend unterscheidet. 5 6
S. dazu näher unten C 12 b. Dahinstehen kann, inwieweit es dogmatisch-konstruktiv möglich ist, auch auf primärer Ebene echte Ansprüche anzunehmen, zu welchen sich die Grundrechte konkretisieren, sobald sich ein Träger öffentlicher Gewalt anschickt, das absolute Recht zu mißachten. In diese Richtung geht etwa die Formulierung, der einzelne habe einen "grundrechtlichen Anspruch, durch die Staatsgewalt nicht mit einem Nachteil belastet zu werden, der nicht in der verfassungsmäßigen Ordnung begründet ist", BVerfGE 9, 83, 88; BVerwGE 30, 191, 198; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 8 Rdnr 11. Praktische Auswirkungen hat diese Frage nicht. 5 7
5 8
Vgl. Schenke, Rechtsschutz, S. 69 f.; ders., in BK, Art. 19 I V (Zweitb. 1982) Rdnr 289,
299. 5 9 BVerfGE 58, 300, 324; BGHZ 90, 17, 31 ff.; Di Fabio, JZ 1993, 696; Ehlers, W D S t R L 51 [1992], 244; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 132 ff.; Heinz/Schmitt, N V w Z 1992, 520; Morlok, Die Verwaltung 1992, 385; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 217 f.; Pieroth/ Schlink, Grundrechte, Rdnr 1034, 1044; Steinberg/Lubberger, Aufopferung, S. 346. Ähnlich bereits RG, Gruchot 54, 635, 640 zu § 75 Einleitung PrALR.
I. Systematik der Grundrechte
73
licher Hinsicht zu verwirklichen sind, ist eine Frage für sich. Die Art der materiellen Umsetzung ist auf der grundrechtlichen Ebene ebensowenig zu entscheiden60 wie das Verfahren ihrer Durchsetzung, d.h. ob sie etwa qua Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage, Leistungs- oder Unterlassungsklage, Verfassungsbeschwerde oder Normenkontrolle etc. durchzusetzen sind, ja sogar in welchem Gerichtszweig und nach welchem Prozeßrecht. Die Grundrechte als subjektive Rechte verlangen nur, daß überhaupt eine materielle Umsetzung erfolgt sowie irgend ein effektiver und sinnvoller Rechtsschutz besteht; wie dieses konkret ausgestaltet ist, obliegt der Entscheidung des zuständigen einfachen Gesetzgebers. Mit diesem Thema befaßt sich die vorliegende Arbeit nicht. bb) Die Dimension grundrechtlicher Gewährleistungen Grundrechtliche Gewährleistungen lassen sich nicht nur nach der jeweiligen Ebene unterscheiden, sondern auch nach der Richtung, aus welcher der Freiheit als dem Grundrechtsgut Gefahren drohen. Einbußen an Freiheit können erstens durch den Staat hervorgerufen werden, zweitens durch staatsfremde Akteure (private Dritte oder fremde Staatsgewalten61), und drittens können Grundrechtsgüter aufgrund von Natur- und sonstigen unkontrollierten (unverantworteten), ja unter Umständen auch in der Person des Betroffenen begründeten Ereignissen und Gegebenheiten (z.B. Naturkatastrophen, Krankheit, Alter, Armut) Schaden nehmen. Dementsprechend lassen sich drei Zielrichtungen grundrechtlicher Gewährleistungen unterscheiden, je nachdem, gegen welche jener Gefahrentypen Abhilfe zu schaffen ist 6 2 : Erstens Rechte auf Achtung der betreffenden Grundrechtsgüter durch den Staat; zweitens Rechte des Inhalts, daß der Staat die Grundrechtsgüter einer Person gegen Angriffe durch Dritte zu schützen habe; drittens Rechte auf Beistand und Unterstützung zur Abwehr der aus nicht drittverantworteten oder persönlichen, sozusagen "anonym-schicksalhaften" 63 Ereignissen resultierenden Gefahren für Grundrechtsgüter. Im Grundgesetz selbst deutet insbesondere Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ("zu achten und zu schützen") darauf hin, daß die Grundrechte nicht ein-, sondern mehrdimensional ausgerichtet sind. Es mag hier dahinstehen, ob die Grundrechte des Grundgesetzes tatsächlich in sämtliche dieser Richtungen wirken; das wird an späterer
6 0
Schenke , DVB1. 1990, 332.
6 1
BVerfGE 55, 349, 364; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 350; E. Klein , NJW 1989, 1633.
6 2 Die Unterscheidung wird hier danach getroffen, wogegen sich das Grundrecht richtet, nicht an wen. Dazu, daß als Adressat der Grundrechte lediglich der Staat in Betracht kommt, näher unten C I I I 1 a aa. 6 3 G. Hermes , Grundrecht auf Schutz, S. 231.
74
C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
Stelle zu untersuchen sein 64 . Es genügt hier festzuhalten, daß als Grundrechtsdimensionen nur diese in Betracht kommen. cc) Die Tendenz grundrechtlicher Gewährleistungen: Ist-Freiheit / Soll-Freiheit Ausgehend von dem Zustand eines Grundrechtsgutes zu einem bestimmten Zeitpunkt, können Grundrechte nur entweder vor einer Verschlechterung dieses Zustands schützen oder auf eine Verbesserung dieses Zustands gerichtet sein 65 . Bezogen auf die Freiheit, die der Grundrechtsträger zu einem bestimmten Zeitpunkt genießt, kann man auch davon sprechen, daß die betreffenden Grundrechte entweder vor einer Beeinträchtigung dieser Freiheit schützen oder auf eine Mehrung dieser Freiheit gerichtet sind. Im ersten Fall geht es den Grundrechten um den Erhalt des Ist-Zustands des Grundrechtsgutes (Ist-Freiheit), d.h. im zeitlichen Verlauf betrachtet soll der Ist-Zustand nicht hinter den War-Zustand zurückfallen. Der War-Zustand ist dabei der zum Vergleichsmaßstab werdende vorherige Zustand des Grundrechtsgutes. Im zweiten Fall geht es um die Verbesserung des Zustands des Grundrechtsgutes, indem der Ist-Zustand angehoben werden soll. Nun ist freilich die Freiheit und insbesondere das Streben nach Freiheit theoretisch unbegrenzt. Soweit man überhaupt eine staatliche Verantwortlichkeit für eine Verbesserung des Zustands von Grundrechtsgütern annehmen kann, könnte es nicht um eine Verbesserung ad infinitum gehen66. Vielmehr wäre eine Obergrenze als Soll-Bestand anzunehmen, bis zu welchem der Ist-Zustand allenfalls anzuheben wäre (Soll-Freiheit). c) Typologie der Grundrechte Durch die Kombination der letzten beiden der vorgenannten Kategorien lassen sich zunächst sechs Subkategorien denkbarer grundrechtlicher Gewährleistungen bilden: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Recht auf Achtung der Ist-Freiheit; Recht auf Schutz der Ist-Freiheit; Recht auf Unterstützung der Ist-Freiheit; Recht auf Achtung der Soll-Freiheit; Recht auf Schutz der Soll-Freiheit; Recht auf Unterstützung der Soll-Freiheit.
6 4
S. unten C 1 2 und G H.
6 5
Ähnlich Murswiek, WiVerw 1986, 185 f. Ähnlich Schwabe, Gmndrechtsdogmatik, S. 264.
6 6
I. Systematik der Grundrechte
75
Nun zeigt sich jedoch, daß sich die Untergruppen 4., 5. und 6. nicht sinnvoll voneinander trennen lassen. Zunächst könnte ein gegen den Staat gerichtetes Recht auf Achtung der Soll-Freiheit schlicht bedeuten, daß der Staat, sofern der Soll-Bestand erreicht ist, diesen nicht beeinträchtigen darf. Das stellte aber keinen Unterschied zur Achtung der Ist-Freiheit dar. Damit sich ein Unterschied zwischen dem auf die Ist- und dem auf die Soll-Freiheit bezogenen Achtungsrecht ergibt, muß letzteres die Verpflichtung des Staates beinhalten, für die Erreichung der Soll-Freiheit zu sorgen. Damit deckt er sich indes mit dem Schutz- und dem Unterstützungsrecht bezüglich der Soll-Freiheit. Denn sofern überhaupt ein Recht auf Achtung der Soll-Freiheit besteht, muß der Staat diese bewirken, wann immer sie unterschritten ist, ungeachtet der Ursache ihrer Unterschreitung, also auch wenn sie aufgrund des Einflusses Dritter oder unverantworteter Ereignisse nicht erreicht ist. Zwar richtete sich ein Recht auf Achtung der Soll-Freiheit nur gegen den Staat, und insofern spielte eine Soll-Unterschreitung aufgrund sonstiger Begebenheiten keine Rolle. Da das Soll-Achtungsrecht aber gerade über das Ist-Achtungsrecht hinausgehen soll, kann er nicht auf Situationen beschränkt sein, in denen die Soll-Unterschreitung dem Staat zuzuschreiben ist. Und umgekehrt ergäbe ein Schutzbzw. Unterstützungsrecht bezüglich einer Soll-Freiheit wenig Sinn, wäre er nicht von einem entsprechenden Achtungsrecht begleitet. Die Verpflichtung zur Herstellung einer Soll-Freiheit ist mithin sinnvoll nur als einheitliche denkbar. Die letzten drei Untergruppen sollen daher als einheitliches Recht verstanden werden; es heiße hier Förderungsrecht. Damit lassen sich vier Typen von Grundrechten unterscheiden67: Abwehrrechte verpflichten den Staat, den Ist-Zustand an Freiheit zu achten und geben dem Grundrechtsträger die Rechtsmacht, Nichtachtung abzuwehren; Schutzrechte gewährleisten ein Recht auf staatlichen Schutz der Ist-Freiheit gegen Angriffe durch Dritte; Beistandsrechte geben ein Recht auf staatlichen Beistand zum Erhalt der Ist-Freiheit gegenüber nicht drittverantworteten oder persönlichen Gefahren; Förderungsrechte schließlich verpflichten den Staat, einen bestimmten Soll-Zustand an Freiheit zu verwirklichen, indem er dem Berechtigten die hierzu erforderliche Förderung zuteil werden läßt. Insoweit bei Schutz- und Beistandsrechten die Bewahrung der Ist-Freiheit gegenüber nicht-staatlichen Gefahren im Zentrum steht, lassen sie sich als Bewahrungsrechte verstehen. Da sich ohne weiteres der Unterschied aufdrängt, ob der Staat lediglich selbst die Ist-Freiheit zu achten hat, oder ob er darüber hinaus die Ist- bzw. Soll-Freiheit gegenüber nicht-staatlichen Gefah6 7
Vgl. hieizu mit im einzelnen unterschiedlicher Typologie und Terminologie BVerfGE 35, 79, 114; 39, 1, 42; Alexy, Theorie, S. 410; Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 118; G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 119, 231 f.; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 350; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 32 ff., 47; Murswiek,, WiVerw 1986, 180 Fn. 3, 185 f.; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 728 ff.; ders., in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 109 Rdnr 41 ff. 7 Roth
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C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
ren garantieren muß, bietet sich eine kategorische Unterscheidung zwischen den Abwehrrechten und allen übrigen an, welche hier als Leistungsrechte bezeichnet werden sollen. Damit erhält man folgende Typologie denkbarer Grundrechtsgehalte:
Grundrechte
Abwehrrechte
Leistungsrechte
Bewahrungsrechte
Schutzrechte
Förderungsrechte
Beistandsrechte
Während der materielle Unterschied von Abwehr- und Leistungsrechten als solchen ohne weiteres offenbar ist, mag die Unterscheidung von Beistandsund Förderungsrechten nicht sofort einleuchten. Es ist jedoch zu vergegenwärtigen, welchen Unterschied es macht, ob eine Verpflichtung zum Erhalt der Ist-Freiheit besteht, was den Begünstigten durch eine Garantie ihres status quo Sicherheit zu geben vermag - aber womöglich denjenigen wenig hilft, die ohnehin wenig 68 , und jedenfalls denen nichts nützt, die gar nichts zu bewahren haben; oder ob eine Pflicht zur Verwirklichung einer Soll-Freiheit durch Förderung besteht, was durch die Garantie eines Minimalstatus Sicherheit gibt - insbesondere jenen, die sonst nichts oder wenig hätten, dagegen aber denen nur bedingt hilft, deren Ist-Freiheit bereits über dem garantierten Soll liegt. Abwehr- und Förderungsrechte können zusammentreffen, wenn der Staat entgegen einem (unterstellten) Förderungsrecht nicht nur die Herstellung der Soll-Freiheit unterläßt, sondern statt dessen gar noch den bestehenden ohnehin ungenügenden Ist-Zustand weiter beeinträchtigt69. Der (sekundäre) Abwehr6 8 Freilich können gerade die, die wenig haben, auf dessen Erhalt besonders angewiesen sein, könnte doch schon eine kleine Einbuße ins Nichts fuhren. 6 9 Vgl. Lerche, AöR 90 [1965], 352.
I. Systematik der Grundrechte
77
anspruch auf Rückgängigmachung der Freiheitsbeeinträchtigung und der damit konkurrierende Förderungsanspruch auf Herbeiführung der Soll-Freiheit sind dogmatisch zu trennen, doch geht freilich der Förderungsanspruch weiter und schließt den anderen Anspruch notwendig in sich ein 7 0 . Abschließend ist darauf hinzuweisen, daß sich die genannten Rechte zwar auf ihrer primären Ebene unterscheiden, nicht notwendig aber in ihren Sekundär» oder gar Tertiäransprüchen. So richten sich die primären Abwehrrechte gegen ein Tun des Staates, welches die fragliche Ist-Freiheits-Minderung hervorrufen könnte, sind insofern auf ein Unterlassen gerichtet. Die abwehrrechtlichen Sekundäransprüche sind zwar - als Unterlassungsansprüche - auch auf ein Unterlassen gerichtet; als (Folgen)Beseitigungsansprüche können sie aber gegebenenfalls auch auf ein Tun gehen71. Das primär gegen ein Tun gerichtete Abwehrrecht kann daher auf der Sekundärebene sowohl auf ein Unterlassen als auch auf ein Tim gehen. Umgekehrt fordern die Leistungsrechte grundsätzlich ein hoheitliches Tim, das Ergreifen der erforderlichen Maßnahmen, ohne welche die betreffenden Ziele nicht zu erreichen sind. Hiernach können sich sowohl aus den (sekundären bzw. tertiären) Abwehr- als auch den Leistungsansprüchen Tätigkeitspflichten ergeben. Diese besitzen jedoch einen je verschiedenen Ursprung und sind insofern streng zu unterscheiden72: Die abwehrrechtliche Tätigkeitspflicht setzt, etwa beim abwehrrechtlichen Beseitigungsanspruch73, eine vorangegangene (rechtswidrige) Freiheitsbeeinträchtigung voraus, aus welcher sich nun der Sekundaranspruch auf ein bestimmtes Tätigwerden herleitet. Die aus dem Abwehranspruch entspringende Tätigkeitspflicht ist deshalb "derivativ", wohingegen die sich aus einem Leistungsanspruch ergebende "originär" ist 7 4 . Ist indes die Ist-Freiheit gesichert oder die Soll-Freiheit erreicht, so richten sich die Schutz-, Beistands- und Förderungsrechte auf das Unterlassen des Abbaues solcher Einrichtungen und Sicherungsmaßnahmen, die den Weiterbestand dieses Ist- bzw. Soll-Zustands garantieren 75. Auch die primär ge-
7 0
Vgl. Schenke , Rechtsschutz, S. 169. Schwabe , Grundrechtsdogmatik, S. 202 weist zu Recht daraufhin, daß ein Anspruch auf Erteilung einer Erlaubnis oft nur der Kompensation eines vorherigen Verbotes dient, und daher obschon ein Tun - "Reflex" eines Abwehrrechtes ist. Ebenso Pieroth/Schlink , Grundrechte, Rdnr 340. 11 Diesen Unterschied verwischt Bleckmann , Grundrechte, S. 219. 7 3 Vgl. Pieroth/Schlink , Grundrechte, Rdnr 340. 7 1
7 4 Zu diesen Begriffen vgl. Bleckmann , Grundrechte, S. 207; v.Mangoldt/Klein/Starck , GG, Art. 3 Rdnr 100; v.Münch , in v.Münch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 20; Pieroth/Schlink , Grundrechte, Rdnr 74. 7 5 Ähnlich Isensee , in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 90. Dadurch werden sie freilich nicht zu Abwehrrechten. Grimm , Die Zukunft der Verfassung, S. 236 bemängelt daher treffend das "Zwanghafte" im Versuch, die Dogmatik der Abwehrrechte auf die Leistungsrechte zu übertragen.
78
C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
gen ein Unterlassen gerichteten Leistungsrechte können daher auf der Sekundärebene sowohl auf ein Unterlassen als auch auf ein Tun gehen. Deshalb lassen sich Abwehr- und Leistungsrechte nicht einfach danach abgrenzen, ob sie in concreto ein Tun oder ein Unterlassen verlangen, da erstere eben auch auf ein Tun und letztere auf ein Unterlassen gerichtet sein können 7 6 . Auch die Benennung als "positive" oder "negative" Rechte ist insofern wenig aussagekräftig. Ihre Abgrenzung ist vielmehr nach dem Inhalt des primären Rechts vorzunehmen: Abwehr- und Bewahrungsrechte garantieren den Ist-Zustand der Freiheit gegenüber staatlichen bzw. dritten Beeinträchtigungen, Förderungsrechte den Soll-Bestand.
2. Die Grundrechte als Abwehrrechte Ob und inwieweit den Grundrechten des Grundgesetzes eine Leistungsfunktion in dem vorstehend beschriebenen Sinn zukommt, ist nicht ganz unproblematisch. Das mag jedoch einstweilen dahinstehen77. Unzweifelhaft und zu Recht allgemein anerkannt ist jedenfalls ihr geschichtlich gewachsener78 Charakter als Abwehrrechte 79. Das ergibt sich schon aus dem Wortlaut der Grundrechtsbestimmungen, denen es zumindest um die Wahrung des Bestandes der jeweiligen Grundrechtsgüter geht. Ohnehin ist der Abwehrrechtscharakter der Mindestinhalt von Grundrechten, die ohne ihn praktisch funktionslos und undenkbar wären. Daß die Grundrechte abwehrrechtlichen Charakter haben, ergibt sich ferner aus der Natur der ihnen aufgrund ihrer subjektiven Rechtsnatur anerkanntermaßen zugeschriebenen Sekundär- und Tertiäransprüche, d.h. der Unterlassungs-, (Folgen)Beseitigungs- und Entschädigungsansprüche80. Diese stellen
7 6 Vgl. Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 697. Abzulehnen insofern Alexy, Theorie, S. 225 , 402; Läbbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 33 f. 7 7 7 8
S. hierzu unten Teil G. Hierzu Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 50 ff., 68 ff.
7 9 BVerfGE 7, 198, 204; 61, 82, 100 f.; Alexy, Theorie, S. 397; Blaesing, Grondrechtskollisionen, S. 52 f.; Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 83 ff.; Huber, Konkurrenzschutz, S. 174 f.; Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, S. 58 f.; v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 16; Ossenbühl, NJW 1976, 2100 f.; Steiger, Mensch und Umwelt, S. 39; Stern, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 109 Rdnr 41. 8 0 Vgl. zu den abwehrrechtlichen Unterlassung- und Beseitigungsansprüchen Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 128 ff.; Henke, DOV 1984, 3; Laubinger, VerwArch 1989, 298 ff.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 240 ff.; Papier, in Maunz/Dürig, GG, Art. 34 (Lfg. 1987) Rdnr 58; Rösslein, Der Folgenbeseitigungsanspruch, S. 65 ff.; Schoch, VerwArch 1988, 37; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 198 f.; Stern, Staatsrecht ffl/1, S. 671 ff. Im Hinblick auf die (Folgen)Beseitigungsansprüche greift es zu kurz, wenn Kirchhof, Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 82 Abwehransprüche nur gegen eine bevorstehende Nichtachtung des Abwehrrechts gerichtet sieht.
I. Systematik der Grundrechte
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sich nämlich sämtlich als auf den Erhalt der Ist-Freiheit gerichtete Integritätsansprüche dar, woraus folgt, daß auch das primäre Recht auf die Integrität des Ist-Zustands der Grundrechtsgüter gerichtet sein muß. Diese Wesenseigenschaft der abwehrrechtlichen Sekundär- und Tertiäransprüche wiederum wird deutlich anhand eines Vergleiches mit entsprechenden zivilrechtlichen Ansprüchen 81, ein Vergleich, der in besonderer Weise das Wesen der Abwehrrechte zu erhellen geeignet ist. a) Zivilrechtliche
Schadensersatz - und Integritätsansprüche
Im Zivilrecht lassen sich als Reaktion auf Rechts(guts)verletzungen zwei Gruppen gesetzlicher Ansprüche unterscheiden: Schadensersatz- und Integritätsansprüche. aa) Schadensersatzansprüche Schadensersatzansprüche richten sich gemäß § 249 Satz 1 BGB auf die Herstellung des Zustands, der ohne den die Schadensersatzpflicht begründenden Umstand bestehen würde (Naturalrestitution). Soweit der ursprüngliche Zustand ohne diesen Umstand weiterbestanden hätte, ist er wiederherzustellen; Schadensersatzansprüche haben insofern echte Restitutionsfunktion. Sie besitzen aber auch Kompensationsfunktion. Sie zeigt sich darin, daß, falls Naturalrestitution ausscheidet, der gesamte Schaden, einschließlich des entgangenen Gewinnes (§ 252 Satz 1 BGB 8 2 ), zu ersetzen ist, der dadurch entstand, daß sich der Zustand, der im Zeitpunkt des zum Schadensersatz verpflichtenden Ereignisses bestand, ohne dieses Ereignis anders weiterentwickelt hätte 83 . Gesetzliche Schadensersatzansprüche setzen durchweg Verschulden voraus 84 , und haben insofern, auch wenn das Schadensersatzrecht des BGB keinen pönalen Charakter hat 8 5 , eine strukturelle Ähnlichkeit mit strafrechtlichen
8 1 Die Parallelität von Abwehrrechten und absoluten Rechten des Privatrechts heben auch Kreßel, Haftungsrecht, S. 46 f.; Schenke , DVB1. 1990, 330; Schürmann , Öffentlichkeitsarbeit, S. 270 hervor. 8 2 § 252 Satz 1 BGB hat nur klarstellende Funktion, BGHZ 98, 212, 219; Palandt/Heinrichs, BGB, § 252 Rdnr 1; Staudinger/Medicus, BGB, § 252 Rdnr 1. 8 3 Vgl. Grunsky, in MünchKomm BGB, § 249 Rdnr 3; Soergel/Mertens , BGB, § 249 Rdnr 4; Staudinger/Medicus, BGB, § 249 Rdnr 1. 8 4 Vgl. etwa §§ 823 I, U 1; 827 Satz 1 BGB, Larenz, Besonderes Schuldrecht, S. 595; Medicus, Schuldrecht H, S. 351; Zippelius , Rechtsphilosophie, S. 224. Gleiches gilt für vertragliche Schadensersatzanspriiche, vgl. etwa §§ 275 I, 285, 307 I, 325 I 1, 326 BGB, sowie die culpa in contrahendo und die positive Forderungsverletzung. 8 5 Palandt/Heinrichs, BGB, vor § 249 Rdnr 4; Soergel/Mertens , BGB, vor § 249 Rdnr 27. Auf die historisch gemeinsamen Wurzeln von Schadensersatz- und Strafrecht weist Zippelius , Rechtsphilosophie, S. 224 f. hin.
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C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
Sanktionen. Das Verschuldenserfordernis bewirkt eine Haftungseinschränkung. Diese rechtfertigt sich daraus, daß die aus der Naturalrestitution folgende Totalreparation 86 für den Verpflichteten einschneidende Konsequenzen haben kann, zumal ja dem auf Geschädigtenseite entstandenen Schaden kein entsprechender Gewinn auf der Schädigerseite gegenüberstehen muß 8 7 . Der "Ersatz des Schadens" beseitigt nicht den Schaden, sondern verlagert seine Last vom Geschädigten auf den Ersatzverpflichteten 88. Bei Schadensersatzansprüchen kann es mit anderen Worten nur darum gehen, den entstandenen Schaden zuzuweisen89. Der Geschädigte trägt seinen Schaden selbst, wenn die Schädigimg für den Verursacher nicht vorhersehbar war, weil die zivilrechtliche Schadensersatzpflicht in der Regel wenigstens Fahrlässigkeit voraussetzt90, und diese wiederum objektive Erkennbarkeit 91. Die einzige Alternative hierzu, nämlich den Schädiger einseitig zu belasten, wäre nicht minder tragisch, so daß der unverschuldet - weil unvorhersehbar - herbeigeführte Schaden als Zufall betrachtet wird und es beim Grundsatz 'casum sentit dominus' bleibt 92 . Eine Ausnahme vom Verschuldenserfordernis besteht nur in den Fällen, wo ein bestimmtes gefährliches Verhalten im Interesse der Allgemeinheit erlaubt und damit den abstrakt Gefährdeten seine Hinnahme zugemutet, zum Ausgleich dessen jedoch eine verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung statuiert wird (z.B. §§ 833 Satz 1 BGB, 7 Abs. 1 StVG, 1 ProdHaftG, 33 Abs. 1 LuftVG, 1 ff. HaftPflG, 22 WHG, 25 AtomG, 84 A M G ) 9 3 . Auf eine subjektive Erkennbarkeit des Erfolges kommt es dann nicht an. Bezeichnenderweise ist jedoch in solchen Fällen das Prinzip der Totalreparation und damit auch der jedenfalls wirtschaftlichen Naturalrestitution zumeist eingeschränkt94, indem Haftungshöchstgrenzen für die Gefährdungshaftung vorgesehen sind. Und jedenfalls kann der Haftpflichtige sein Haftungsrisiko entweder über seine Abnehmer oder eine Versicherung letztlich sozialisieren 95, was der Gefährdungshaftung ihre sonst drohende Unbilligkeit nimmt. Auf ähnlichen Er8 6 Palandt/Heinrichs, BGB, vor § 249 Rdnr 6; Soergel/Mertens, BGB, vor § 249 Rdnr 17; Staudinger/Medicus, BGB, § 249 Rdnr 2. 8 7 Vgl. Kirchhof \ Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 73 zur Amtshaftung. 8 8
Picker, Der negatorische Beseitigungsanspruch, S. 51.
8 9
Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 222.
9 0
BGHZ 39, 281,285.
9 1
Palandt/Heinrichs,
BGB, § 276 Rdnr 20; Soergel/Wolf
BGB, § 276 Rdnr 99.
9 2
Vgl. Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/2, S. 1270 ff. 9 3 Vgl. dazu Deutsch, NJW 1992, 73 ff.; Lorenz, Besonderes Schuldrecht, S. 698 ff.; Medicus, Bürgerliches Recht, Rdnr 604; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 306 ff.; Soergel/Zeuner, BGB, vor § 823 Rdnr 14 ff. 9 4 9 5
Soergel/Mertens,
BGB, vor § 249 Rdnr 4.
Deutsch, NJW 1992, 74 f.; Mertens, in MünchKomm BGB, vor § 823 Rdnr 19; Soergel/Zeuner, BGB, vor § 823 Rdnr 12.
I. Systematik der Grundrechte
81
wägungen beruht die verschuldensunabhängige Haftung nach § 829 BGB. Da den Unzurechnungsfähigen nicht jeder Bewegungs- und Aktionsspielraum genommen werden kann, und somit die anderen die damit verbundenen Gefahren hinzunehmen haben, bedürfen letztere einer haftungsrechtlichen Absicherung 96 . Im Gegenzug verhindert die Ausgestaltung des § 829 BGB eine unbillige Inanspruchnahme der Schuldunfahigen. bb) Integritätsansprüche Die Integritätsansprüche unterscheiden sich von den Schadensersatzansprüchen in ihren Funktionen und Voraussetzungen. Sie zielen entweder, wie die bereicherungsrechtlichen (§§ 812 ff. BGB) oder dinglichen (z.B. §§ 861 Abs. 1, 985, 1007 BGB) Herausgabeansprüche, auf die Wiederherstellung des dem endgültigen Zuweisungsgehalt einer Rechtsposition entsprechenden Zustands97 und dienen so der Korrektur irregulärer Vermögenszuordnungen 98. Oder aber sie zielen wie die Unterlassungs- bzw. Beseitigungsansprüche (etwa §§ 862 Abs. 1, 1004 BGB) auf die Verhinderung bzw. Rückgängigmachung der Beeinträchtigung eines Rechtes oder Rechtsguts. Bei keinem dieser Ansprüche kommt es auf ein Verschulden des Verpflichteten an 9 9 ; es genügt die (rechtswidrige) Beeinträchtigimg bzw. Gefahrdung des geschützten Rechtes oder Rechtsguts. Der Unterschied dieser Ansprüche zu den Schadensersatzansprüchen ist in folgendem zu sehen: Der Verpflichtete muß nicht einen hypothetischen Zustand zumindest wirtschaftlich herbeiführen, sondern nur einen gegenwärtig fortbestehenden Störungszustand beenden. Schadensersatzansprüche können einen Schädiger unter Umständen erheblich schlechter stellen als er ohne das schädigende Ereignis stünde, wohingegen die Integritätsansprüche den Ver-
9 6
Mertens , in MünchKomm BGB, § 829 Rdnr 2. Vgl. BGHZ 82, 299, 306; Lorenz , Besonderes Schuldrecht, S. 532 f.; Medicus , Bürgerliches Recht, Rdnr 712; Soergel/Mühl , BGB, vor § 812 Rdnr 2, zur Eingriffskondiktion. Ähnlich Palandt/Heinrichs , BGB, vor § 812 Rdnr 2. Das hierzu Gesagte gilt allgemein für Herausgabeansprüche: § 903 BGB weist das Besitzrecht dem Eigentümer zu, über § 985 BGB wird das realisiert. Vgl. ferner Staudinger/Gursky, BGB, § 1004 Rdnr 20: § 1004 BGB als Rechtsbehelf gegen "faktische Rechtsusurpation, gegen tatsachliche Einwirkungen, die sich als Übergriffe in die Befugnisse des Eigentümers darstellen" (Hervorhebung im Original). 9 7
9 8 lieb , in MünchKomm BGB, § 818 Rdnr 50, zu den Ansprüchen aus ungerechtfertigter Bereicherung. 9 9 Bei §§ 812 ff. und 985 BGB ist das evident. Bei §§ 861 f. BGB ist Voraussetzung nur verbotene Eigenmacht (§ 858 I BGB), die kein Verschulden voraussetzt, Palandt/Bassenge , BGB, § 858 Rdnr 1; Soergel/Mühl , BGB, § 858 Rdnr 7. Auch der Störer nach § 1004 I BGB muß nicht schuldhaft handeln, BGHZ 110, 313, 317; Medicus, Bürgerliches Recht, Rdnr 628 ff.; Palandt/Bassenge , BGB, § 1004 Rdnr 10; Papier , AöR 98 [1973], 547; Soergel/Mühl , BGB, § 1004 Rdnr 83; Staudinger/Gursky, BGB, § 1004 Rdnr
20.
82
C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
pflichteten nicht schlechter stellen, als er ohne das diesen Anspruch begründende Ereignis stünde. Diese Aussage ist naher zu begründen. 1. Zunächst versteht sich von selbst, daß aufgrund von Unterlassungsansprüchen, die ja nur auf das schlichte Unterlassen der die Beeinträchtigung bewirkenden Handlung gehen, der Verpflichtete nicht anders steht, als er ohnedies stünde. 2. Auch Herausgabeansprüche sind unproblematisch Integritätsansprüche, da sie schon inhaltlich auf den gehabten Gegenstand beschränkt sind. Die Herausgabepflicht aus § 985 BGB entfällt mit dem Verlust des Besitzes 100 , und der bereicherungsrechtliche Herausgabeanspruch entfällt mit dem Verlust des Erlangten. Der bereicherungsrechtliche Schutz des Verpflichteten zeigt sich besonders deutlich in § 818 Abs. 3 BGB. Nach diesem obersten Grundsatz des Bereicherungsrechts 101 soll der gutgläubig in die Bereicherungssituation geratene Verpflichtete davor bewahrt werden, zur Erfüllung des Anspruchs ein über die Herausgabe des (noch vorhandenen) Erlangten hinausgehendes eigenes Vermögensopfer erbringen zu müssen 102 . Zwar ergibt sich insoweit auch eine gewisse Einschränkung des Integritätsgedankens. Diese Regelung ist aber keine Abkehr vom grundsätzlichen Versuch einer Integritätswahrung, sondern Ergebnis einer Interessenabwägung in einer Situation, in der - eben weil das Erlangte ersatzlos weggefallen ist - einer der Beteiligten notwendig eine Einbuße erleiden muß. § 818 Abs. 3 BGB sieht hier denjenigen als schutzwürdig an, der zwar zunächst etwas erlangt hatte, bei dem aber sodann eine Entreicherung eintrat 103 . Die Abwägung geht hier gerade deswegen, im Unterschied zu Schadensersatzansprüchen, zugunsten des an sich Verpflichteten aus, weil die Bereicherungsansprüche kein Verschulden voraussetzen. Der Schutz des § 818 Abs. 3 BGB endet dementsprechend systemkonform in dem Moment, in dem Bösgläubigkeit eintritt (§§ 818 Abs. 4, 819, 820 B G B ) 1 0 4 . Die Bösgläubigkeit übernimmt hier die Funktion, die dem Verschulden bei Schadensersatzansprüchen zukommt, und führt zu einer größeren Schutzwürdigkeit der Integrität des Berechtigten. Die Parallele zwischen Bösgläubigkeit und Verschulden ist
1 0 0
Picker, Der negatorische Beseitigungsanspruch, S. 54.
1 0 1
BGHZ 1, 75, 81; Palandt/THomas,
BGB, § 818 Rdnr 27; Zippelius, Rechtsphilosophie,
S. 227. 1 0 2 BGHZ 55, 128, 134; BGH, W M 1978, 708, 711; Larenz, Besonderes Schuldrecht, S. 577; Ueb, in MünchKomm BGB, § 818 Rdnr 47; Palandt/Thomas, BGB, § 818 Rdnr 27; Soergel/Mühly BGB, § 818 Rdnr 52. 1 0 3 Vgl. Larenz, Besonderes Schuldrecht, S. 576; Ueb, Rdnr 49.
in MünchKomm BGB, § 818
1 0 4 BGHZ 55, 128, 135; Larenz, Besonderes Schuldrecht, S. 584; Palandt/Thomas, BGB, § 819 Rdnr 1; Soergel/Mühl, BGB, § 818 Rdnr 98; Staudinger/Lorenz, BGB, § 818 Rdnr 49, 52, § 8 1 9 Rdnr 15. Eine Berufung auf den Wegfall der Bereicherung kann sich dann nur noch über die allgemeinen Vorschriften ergeben, z.B. § 275 BGB, wobei freilich auch § 287 BGB zu beachten ist.
I. Systematik der Grundrechte
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indes nicht nur eine funktionelle, sondern auch eine substantielle. Die Bösgläubigkeit bezieht sich darauf, daß der Empfanger die Rechtsgrundlosigkeit kennt oder jedenfalls mit ihr angesichts der Klageerhebung rechnen muß. Wenn er das Erlangte in einer solchen Situation nicht herausgibt, so liegt zwar nicht in bezug auf eine spätere Unmöglichkeit der Herausgabe, wohl aber hinsichtlich der Nichtherausgabe selbst ein Verschulden vor, das allenfalls dann entfiele, befände er sich in einem entschuldbaren Rechtsirrtum über seine Herausgabepflicht. Bösgläubigkeit und Verschulden liegen folglich zumeist zusammen v o r 1 0 5 , und es ist insoweit nur folgerichtig, wenn dies über § 818 Abs. 4 BGB und die Unanwendbarkeit des § 818 Abs. 3 BGB zu einer Haftung nach den allgemeinen Vorschriften führt 1 0 6 . Auch die Vorschrift des § 818 Abs. 2 BGB ändert an dieser Privilegierung des Bereicherungsschuldners nichts. Danach ist zwar im Falle der Unmöglichkeit der Herausgabe des Erlangten Wertersatz zu leisten, doch dieser stellt keinen Schadensersatz dar. Der Wertersatz tritt vielmehr an die Stelle des herauszugebenden Etwas und richtet sich nach dem objektiven Verkehrswert, nicht nach seinem Wert für den Berechtigten und schon gar nicht nach dessen möglichem Schaden107. Der objektive Verkehrswert ist per definitionem für den Berechtigten und den Verpflichteten identisch. Der Wert des (herauszugebenden) Gehabten und der des (herausverlangten) Entbehrten ist also gleich. Damit garantiert § 818 Abs. 2 BGB die wenigstens wirtschaftliche korrekte Abgrenzung der jeweiligen Rechtssphären, dient mithin dem Integritätsschutz. Man gelangt so über § 818 Abs. 2 BGB zu einer (verschuldensunabhängigen) zivilrechtlichen Entschädigung bei dauerhaftem Entzug von Rechtspositionen, wenn auch nur im Rahmen der fortbestehenden Bereicherung. Damit bestätigt gerade die Regelung des § 818 Abs. 2 und 3 BGB die These, daß Herausgabeansprüche - und zwar auch in der Form von Wertersatzansprüchen - keine Schadensersatzansprüche darstellen und dem Verpflichteten zum Ausgleich für ihre Verschuldensunabhängigkeit nur eine begrenzte Last aufbürden. 3. Komplizierter scheint die Situation bei den Beseitigungsansprüchen zu sein. Wenngleich Einigkeit besteht, daß Beseitigung der Beeinträchtigung nicht Beseitigimg des Schadens bedeutet und daher nicht Schadensersatz zu leisten i s t 1 0 8 , so ist doch die genaue Tragweite dieser Pflicht strittig 109 . Rich-
1 0 5 Vgl. Palandt/Thomas , BGB, § 818 Rdnr 54, § 819 Rdnr 9; Soergel/Mühl , BGB, § 818 Rdnr 98; Staudinger/Lorenz , BGB, § 818 Rdnr 51. 1 0 6 Vgl. BGHZ 83, 293, 299. 1 0 7 BGHZ 82, 299, 307; Ueb , in MünchKomm BGB, § 818 Rdnr 35; Palandt/Thomas , BGB, § 818 Rdnr 19; Soergel/Mühl , BGB, § 818 Rdnr 33; Staudinger/Lorenz, BGB, § 818 Rdnr
26. 1 0 8 Medicus , Bürgerliches Recht, Rdnr 629; Soergel/Mühl , BGB, § 1004 Rdnr 112; Staudinger/Gursky, BGB, § 1004 Rdnr 96.
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tigerweise ist nicht die Beseitigung der Beeinträchtigungsfolgen gemeint (das bedeutete Schadensersatz), sondern die Beseitigung der Beeinträchtigungsursache 1 1 0 : Entziehimg und Vorenthaltung des Besitzes sind aus § 1004 Abs. 1 BGB nicht deswegen ausgenommen, weil sie keine Beeinträchtigungen des Eigentums darstellten, sondern weil sie in §§ 985 ff. BGB eine Sonderregelung gefunden haben 111 . Die Besitzentziehung wird durch Herausgabe der Sache beseitigt, nicht durch Beseitigung der Nachteile, die dem Eigentümer aufgrund dieser Besitzentziehung entstanden sind; diese kann er nur qua Schadensersatz liquidieren (vgl. § 993 Abs. 1 BGB). Dieses von § 985 BGB vorgegebene Muster ist auf § 1004 BGB zu übertragen 112: beseitigt wird der die Beeinträchtigung bewirkende Umstand, nicht das Bewirkte. In allen Fällen, in denen es um Integritätsansprüche geht, entspricht die Beeinträchtigung der Rechtsposition des Rechtsinhabers einer Ausweitung der faktischen Position des Störers 113 : er hat den Besitz an einer Sache oder einen sonstigen Gegenstand inne, der an sich dem andern gebührt; er nimmt eine Handlung vor (droht jedenfalls damit), die die Rechte des anderen beeinträchtigt und die nur der andere selbst vornehmen dürfte; oder er hat eine Anlage, von welcher die Störung des fremden Rechtskreises ausgeht bzw. ist für einen Zustand verantwortlich, der eine solche Wirkung h a t 1 1 4 . Die Integritätsansprüche bezwecken nichts anderes als die richtige Abgrenzung der Rechtssphären. Der Verpflichtete muß sich, damit die Rechtsposition des Berechtigten gewahrt wird, auf die ihm zustehende Rechtsposition beschränken, und hat die hierzu nötigen Handlungen vorzunehmen 115. Das heißt, es ist (für die Zukunft) auch faktisch der Zustand herzustellen, der dem Inhalt der Rechtsposition des Beeinträchtigten entspricht 116. Im Falle des § 1004 BGB z.B. muß der Verpflichtete alles Erforderliche unternehmen, damit er nicht (mehr) durch sein Handeln oder die Beschaffenheit oder räumliche Lage seiner Sachen tatsächliche Befugnisse in Anspruch nimmt, die § 903 BGB exklusiv dem andern zuweist 117 . 1 0 9 Vgl. Medicus, in MünchKomm BGB, § 1004 Rdnr 61; Soergel/Mühl, BGB, § 1004 Rdnr 112: Beseitigung der Beeinträchtigung heißt Vornahme des contrarius actus der störenden Tätigkeit. Dagegen Staudinger/Gursky, BGB, § 1004 Rdnr 96. 1 1 0 Medicus, in MünchKomm BGB, § 1004 Rdnr 59; Palandt/Bassenge, BGB, § 1004 Rdnr 22; Pikart, in BGB-RGRK, § 1004 Rdnr 90; Soergel/Mühl, BGB, § 1004 Rdnr 112 f. 1 1 1 Vgl. Baur/Stürner, Sachenrecht, § 12 I 1. 112 Yg| picker, Der negatorische Beseitigungsanspruch, S. 54. 1 1 3
Picker, Der negatorische Beseitigungsanspruch, S. 50.
1 1 4
Vgl. Baur/Stürner, Sachenrecht, § 12 HI; Medicus, in MünchKomm BGB, § 1004 Rdnr 36 ff.; Palandt/Bassenge, BGB, § 1004 Rdnr 16 ff.; Soergel/Mühl, BGB, § 1004 Rdnr 86 ff.; Staudinger/Gursky, BGB, § 1004 Rdnr 73 ff. 115 Ygj Kreßel, Haftungsrecht, S. 48; Picker, Der negatorische Beseitigungsanspruch, S. 157; Pikart, in BGB-RGRK, § 1004 Rdnr 91; Staudinger/Gursky, BGB, § 1004 Rdnr 98. 1 1 6 1 1 7
Vgl. Pikart, in BGB-RGRK, § 1004 Rdnr 89; Staudinger/Gursky, Staudinger/Gursky, BGB, § 1004 Rdnr 97.
BGB, § 1004 Rdnr 97.
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85
Durch die Beseitigung des die Beeinträchtigung bewirkenden Umstands wird der Störer hinsichtlich seines Übergreifens in den fremden Rechtskreis so gestellt wie er zuvor stand. Zwar muß er die Kosten der Beseitigung tragen 118 und ist insoweit belastet. Im übrigen bleiben aber die Güter des Störers erhalten, so daß er das Risiko, wenn er eine zu einer Beeinträchtigung eines anderen führende Handlung vornimmt, kalkulieren kann: es ist auf die Kosten der Störungsbeseitigung beschränkt. Auch hier zeigt sich die Parallele zu § 985 BGB, bei dem der herausgabepflichtige Besitzer (nur) die Kosten der Herausgabe trägt 1 1 9 . cc) Verschuldenserfordernis Bei den Integritätsansprüchen geht es um die (Wiederherstellung der richtigen Abgrenzung der Rechtssphären, um die Wahrung der Rechtsintegrität, während Schadensersatzansprüche dem Ausgleich von in einer fremden Rechtssphäre angerichteten Schäden dienen, unabhängig davon, ob mit einer Schädigung eine Ausdehnung des Rechtskreises des Schädigers zu Lasten des Geschädigten verbunden ist. Die Tragweite der Schadensersatzpflicht erklärt das anspruchsbeschränkende Verschuldenserfordernis. Daß im Gegensatz dazu die Integritätsansprüche geringere Voraussetzungen haben als die Schadensersatzansprüche und jedenfalls verschuldensunabhängig sein müssen, folgt aus dieser unterschiedlichen Funktion. Setzten Integritätsansprüche ein Verschulden voraus, käme es nämlich bei schuldlosen Übergriffen in fremde Rechtspositionen zu einer dauerhaften, weil nicht abwehrbaren Rechtsusurpation, zu einer Verschiebimg der Grenzen der Rechtssphären120. b) Abwehrrechtliche Sekundär- und Tertiäransprüche ah Integritätsansprüche Unter Zugrundelegung der vorstehend bei den zivilrechtlichen Anspruchsgruppen getroffenen Unterscheidungen sind die abwehrrechtlichen Sekundärund Tertiäransprüche als Integritätsansprüche 121 zu charakterisieren, die dem Erhalt des Ist-Zustands an Freiheit zu dienen bestimmt sind. Die Charakterisierung dieser Ansprüche als Integritätsansprüche bedarf freilich der Begründung, soweit es sich nicht um abwehrrechtliche (vorbeugende) Unterlassungs-
1 1 8 Baur/Stürner, Sachenrecht, § 12 I V lb; Palandt/Bassenge, BGB, § 1004 Rdnr 24; Picker, Der negatorische Beseitigungsanspruch, S. 165; Soergel/Mühl, BGB, § 1004 Rdnr 118. 1 1 9 BGHZ 104, 304, 306; Medicus, in MünchKomm BGB, § 985 Rdnr 20; Soergel/Mühl, BGB, § 985 Rdnr 16. 1 2 0 Picker, Der negatorische Beseitigungsanspruch, S. 56 f. 1X 1 Kreßel, Haftungsrecht, S. 30, 137 f. nennt die Sekundäransprüche ähnlich "Bestandsschutzansprüche ".
86
C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
anspräche 122 handelt; denn daß es bei diesen um die Wahrung der Integrität, d.h. des Ist-Zustands des jeweiligen Grundrechtsgutes geht, ist evident. Der Integritätswahrung dienen zunächst die abwehrrechtlichen Sekundäransprüche auf Beseitigung des das primäre Abwehrrecht verletzenden Aktes selbst (actio negatoria) 123 . Genügt dies allein nicht, weil dieser Akt bereits Folgen gezeitigt hat, so sind auch diese zu beseitigen124. Diese Folgenbeseitigungsansprüche125 sind grundsätzlich auf die Wiederherstellung des status quo ante gerichtet, d.h. sie verpflichten zu einer Herstellung des früheren, vor der Beeinträchtigung gegebenen (oder eines entsprechenden) Zustands (beschränkte Naturalrestitution) 126. Da der Folgenbeseitigungsanspruch einen andauernden rechtswidrigen Zustand voraussetzt 127 und daher insoweit ausscheidet, als der herbeigeführte Zustand legalisiert wurde 1 2 8 , d.h. soweit der Ist-Zustand zulässig geändert wurde, läßt sich gleichbedeutend sagen, daß der im Zeitpunkt der Geltendmachung rechtmäßige, der de-jure-Zustand herzustellen i s t 1 2 9 ; das heißt, es geht letztlich um die Herstellung der richtigen Abgrenzung des Rechtskreises des Bürgers, um die Wahrung seiner abwehrrechtlichen Integrität 130 . Der verpflichtete Staat muß alles tun, was hierzu erforderlich i s t 1 3 1 (ebenso wie ein Verpflichteter im Falle des § 1004 Abs. 1 Satz 1 B G B 1 3 2 ) , jedoch nicht mehr, und keineswegs muß er sämtliche nachteiligen Folgen der Beeinträchtigung beseitigen133. Der Folgenbeseitigungsanspruch
1 2 2
Dazu eingehend Laubinger, VerwArch 1989, 261 ff., insbes. 289 ff.
1 2 3
Morlok, Die Verwaltung 1992, 378 f.; Rüjher, in Erichsen/Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 53 Rdnr 19, 21. 1 2 4
Ehlers, W D S t R L 51 [1992], 243; Morlok, Die Verwaltung 1992, 379 ff.; Papier, NJW 1974, 1798; Rüjher, in Erichsen/Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 53 Rdnr 20, 22; Schoch, Jura 1993, 481; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 198 f. 1 2 5
Dazu eingehend Schoch, VerwArch 1988, 1 ff. m.v.N.
1 2 6
BVerwGE 69, 366, 371; V G H Mannheim, NVwZ-RR 1990, 449; Kirchhof, Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 72; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 255; Schioer, JA 1992, 41; Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, § 54 I I f, S. 478. Dazu, daß die Wiederherstellung auch einen "dynamischen Zustand" betreffen kann, s. Brugger, AöR 112 [1987], 414 f. 1 2 7 BVerwGE 82, 76, 95; V G H Mannheim, VB1BW 1985, 65, 66; 1993, 26, 27; Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, Rdnr 507; Schoch, Jura 1993, 483. 1 2 8 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 29 Rdnr 15; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 263; Schoch, VerwArch 1988, 52. 1 2 9 Eyermann(Fröhler, mäßigkeitsrestitution .
VwGO, § 80 Rdnr 54b; Morlok, Die Verwaltung 1992, 376: Recht-
1 3 0 Vgl. Brugger, AöR 112 [1987], 414; Krefiel, Haftungsrecht, S. 65 f.; Rösslein, Der Folgenbeseitigungsanspruch, S. 80; Scherzberg, DVB1. 1989, 1135 f.; Schoch, VerwArch 1988, 38. 1 3 1 1 3 2
Schoch, VerwArch 1988, 46.
S. vorstehend a bb. Zu eng versteht Papier, in MünchKomm BGB, § 839 Rdnr 80 die Beseitigungspflicht nach § 1004 BGB. 1 3 3 Folgenbeseitigungsanspruch als Beeintrachtigungsbeseitigungsanspruch, BVerwGE 69, 366, 368 f.; vgl. ferner Rösslein, Der Folgenbeseitigungsanspruch, S. 81 f., 87; Schioer, JA 1992, 41; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 196 spricht von einem Störungsbeseitigungsan-
I. Systematik der Grundrechte
87
ist kein auf die Herstellung des hypothetisch ohne die Beeinträchtigung entstandenen Zustandes gerichteter Schadensersatzanspruch134, sondern bezweckt lediglich die "restitutio in integrum" 135 . Scheiden Sekundäransprüche etwa aufgrund einer tatsächlichen oder infolge einer (aus verfassungskonformen Gründen gegebenen) rechtlichen Unmöglichkeit der Wiederherstellung der Integrität des Grundrechtsgutes aus 1 3 6 , oder erweisen sie sich als ungenügend, so kommen in bezug auf sämtliche 137 Grundrechtsgüter tertiäre 138 Entschädigungsansprüche in Betracht. Diese sind ihrem Wesen nach keine Schadensersatzansprüche139. Die Entschädigung ist nicht darauf gerichtet, die Beeinträchtigung ungeschehen zu machen, sondern soll die dadurch herbeigeführte Wertänderung ausgleichen140. Die Entschädigung zielt danach zwar nicht bestandsmäßig, aber doch wertmäßig auf einen
Spruch; a.A. M. Redeker , DÖV 1987, 198, der einen umfassenden Wiedergutmachungsanspruch annimmt. 1 3 4 Vgl. zum Ganzen BVerwGE 28, 155, 164 f.; 69, 366; Eyermann/Fröhler , VwGO, § 80 Rdnr 54 ff.; Kopp , VwGO, § 113 Rdnr 38 ff.; Kreßel, Haftungsrecht, S. 57 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 29 Rdnr 1 ff.; Papier, in Maunz/Dürig, GG, Art. 34 (Lfg. 1987) Rdnr 58 f.; ders., in MünchKomm BGB, § 839 Rdnr 75; Schock, VerwArch 1988, 44 ff. 1 3 5
BVerwG, Buchholz 232, § 8 BBG, Nr. 4; ferner Schock, Jura 1993, 481, 484.
1 3 6
Vgl. BVerwG, N V w Z 1987, 49, 50; V G H München, DVB1. 1981, 1158, 1159; V G H Mannheim, VB1BW 1993, 26, 28; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 29 Rdnr 14; Schioer, JA 1992, 43 f.; Schock, Jura 1993, 485; Steinberg/Lubberger, Aufopferung, S. 346 ff. 1 3 7 Eingehend Schenke, NJW 1991, 1780 ff.; ebenso Ehlers, W D S t R L 51 [1992], 244 Fn. 170; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 26 Rdnr 76; Steinberg/Lubberger, Aufopferung, S. 352; zu restriktiv Rinne, DVB1. 1993, 870 f. Auch Kunig, Jura 1992, 556 f. konzediert, daß eine Einbeziehung sämtlicher Freiheiten in den Anwendungsbereich tertiärer Entschädigungsansprüche "aus Gerechtigkeitsgründen naheliegen kann". Wenn er gleichwohl meint, jene Abwehrrechte "dürften dies nicht tragen", kann dies nicht überzeugen. Mit einer solch vagen Behauptung kann nicht begründet werden, wieso es bei manchen Abwehrrechten grundsätzlich ausgeschlossen sein sollte, das erkannte Gerechtigkeitsbedürfnis durch die Gewährung tertiärer Entschädigungsansprüche zu befriedigen. In der Rechtsprechung sind tertiäre Entschädigungsansprüche - außer als Enteignungsentschädigung - zwar in Ansehung von Schäden an Leben und Gesundheit, Freiheit und Ehre entstanden (vgl. dazu Kimig, Jura 1992, 556), doch hat die Rechtsprechung tertiäre Entschädigungsansprüche nie abschließend auf diesen Kreis von Grundrechtsgütern bezogen {Schenke, NJW 1991, 1779 f. m.N. aus der Judikatur). Alle Grundrechtsgüter sind grundsätzlich gleich schutzwürdig, so daß es keinen zureichenden Grund für eine kategorische Differenzierung zwischen verschiedenen Grundrechtsgütern gibt, die einzelnen Abwehrrechten die Zuordnung tertiärer Entschädigungsansprüche versagte {Schenke, NJW 1991, 1781). Die einzelnen Freiheiten konkretisieren lediglich die als einheitliche zu verstehende Freiheit des Menschen (s. oben C I 1 a), die insgesamt und nicht nur in einzelnen Aspekten effektiv zu schützen ist (vgl. Schenke, NJW 1991, 1781). Es überzeugte daher nicht, einzelne Freiheiten willkürlich, nämlich nur als Folge der fallbezogenen Entwicklung der Rechtsprechung dadurch abzuwerten, daß ihnen keine tertiären Entschädigungsansprüche zugemessen werden. 1 3 8 S. oben C I 1 b aa. Die Subsidiarität der Entschädigungsansprüche findet ihre zivilrechtliche Entsprechung in § 818 TL BGB. 1 3 9 Vgl. BGH, NJW 1972, 1574, 1575; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 26 Rdnr 82, § 27 Rdnr 18; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S 220. 1 4 0 Vgl. BGHZ 57, 359, 368; Gronefeld, Preisgabe und Ersatz, S. 105.
88
C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
Integritätserhalt 141. Der Umstand, daß hier Kompensation zu leisten ist und nicht Restitution 142 , macht den Entschädigungsanspruch nicht zu einem Schadensersatzanspruch. Die Entschädigimg hat nämlich die gleiche Funktion wie der Wertersatz nach § 818 Abs. 2 BGB. Aus dieser Integritätserhaltungsfunktion erklärt sich auch, weshalb Entschädigung auch dann zu leisten ist, wenn die dem Bürger entstandenen Nachteile größer sind als die dem Staat erwachsenen Vorteile 143 . Zwar könnte man fragen, ob nicht, wenn man auf die Entschädigung den Rechtsgedanken des § 818 Abs. 2 BGB überträgt, auch der des § 818 Abs. 3 BGB anzuwenden wäre. Hierbei ist aber zu bedenken: Das Gegenstück zu der Integritätseinbuße des Bürgers ist nicht in einem dem Staat tatsächlich entstandenen Vorteil zu sehen, auf welchen die Entschädigung zu beschränken wäre, sondern in dem Eingegriffenhaben. "Erlangt" hat der Staat eben die Position, die der Bürger einbüßte, und die zu entrichtende Entschädigung muß dem "Wert" dieser abwehrrechtlichen Position entsprechen. Da man davon ausgehen muß, daß der Staat nicht "luxusweise" Grundrechtsgüter beeinträchtigt, sondern nur erforderlichenfalls, stellt die Entschädigung für ihn eine Aufwendung dar, die er auf jeden Fall machen mußte, um die betreffende zur Beeinträchtigung führende Maßnahme durchführen zu können; insofern käme eine Berufung des Staates auf eine "Entreicherung" selbst dann nicht in Betracht 144 , wenn man den Rechtsgedanken des § 818 Abs. 3 BGB gelten lassen wollte, weil eine Entreicherung hinsichtlich notwendiger Aufwendungen ausscheidet145. c) Zusammenfassung Die Grundrechte als Abwehrrechte umfassen ein primäres Recht auf Achtung der Integrität des jeweiligen Grundrechtsgutes, sekundäre Unterlassungsund (Folgen)Beseitigungs-, sowie tertiäre Entschädigungsansprüche. Allen diesen Ansprüchen geht es um den Erhalt der Integrität von Grundrechtsgü-
1 4 1 Vgl. Ehlers, VVDStRL 51 [1992], 243: "Wiedergutmachung". Das verkennt Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 683 ff. Nicht überzeugend auch Heinz/Schmitt, N V w Z 1992, 520 und Osterloh, DVB1. 1991, 913, die hier lediglich von einer "Billigkeitsentschädigung" für "besonders gelagerte Härtefalle" sprechen und damit sowohl Umfang als auch abwehrrechtliche Fundierung der tertiären Entschädigungsansprüche verkennen. 1 4 2 Bettermann, in Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte m / 2 , S. 862; Gronefeld, Preisgabe und Ersatz, S. 107; Morlok, Die Verwaltung 1992, 381 f. 1 4 3 Vgl. BGHZ 36, 379, 388; Bettermann, in Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte m / 2 , S. 863; Goppert, Der enteignungsgleiche Eingriff, S. 143; Ossenbiihl, Staatshaftungsrecht, S. 113 f. 1 4 4
So im Ergebnis auch BVerwGE 6, 323, 327 f.; 36, 108, 113 f.; 60, 208, 211; Morlok, Die Verwaltung 1992, 391. 1 4 5 Vgl. Lorenz, Besonderes Schuldrecht, S. 575; Lieb, in MünchKomm BGB, § 818 Rdnr 73, 75; Soergel/Mühl, BGB, § 818 Rdnr 67; Staudinger/Lorenz, BGB, § 818 Rdnr 35. Das verkennt Goppert, Der enteignungsgleiche Eingriff, S. 142 ff. bei seiner Kritik.
I. Systematik der Grundrechte
89
tern, d.h. um die Sicherung des Ist-Zustands der Freiheit. Das primäre Recht fordert die Achtung des Ist-Zustands, die Sekundäransprüche gehen auf die Unterlassung der Beeinträchtigung bzw. Wiederherstellung der beeinträchtigten Freiheit, und der Tertiäranspruch schließlich greift im Falle einer irreversiblen Beeinträchtigung des Grundrechtsgutes, welche nicht mehr anders als durch materielle Entschädigimg wenigstens wertmäßig auszugleichen ist.
IL Die Struktur der Abwehrrechte Nachdem es bisher darum ging, das Wesen der Abwehrrechte zu definieren, soll es nachfolgend um ihre Struktur gehen, anhand derer sodann die strukturelle Verortung des "Eingriffs" erfolgen kann. Dabei wird zu beachten sein, daß die Struktur einer Norm dienende Funktion hat, insofern sie nämlich den materiellen Gehalt der Norm umsetzen soll; es wäre vom Ansatz her verfehlt, Strukturen zu entwerfen, die dem materiellen Anliegen der Norm nicht gerecht werden könnten.
1. Allgemeine Struktur von Normen Eine Rechtsnorm verknüpft einen Tatbestand mit einer Rechtsfolge dergestalt, daß auf jeden konkreten Sachverhalt, welcher zu der durch den Tatbestand abstrakt definierten Menge von Sachverhalten gehört, die bestimmte Rechtsfolge angewandt werden soll1. Wie auf der Tatbestandsseite der Norm Tatbestand und hierunter zu subsumierender (konkreter) Sachverhalt zu unterscheiden sind, so sind auf der Rechtsfolgenseite abstrakte und konkrete Rechtsfolge auseinanderzuhalten2. Die abstrakte Rechtsfolge stellt eine Funktion dar, die den subsumierten konkreten Sachverhalt auf einen modifizierten Sachverhalt (die konkrete Rechtsfolge) abbildet, d.h. die konkrete Geltung der zuvor nur allgemein umschriebenen Rechtsfolgeanordnung ausspricht3.
1 Vgl. dazu Engisch, Einfühlung, S. 15 ff.; Lorenz, Methodenlehre, S. 251 f., 256; MayerMaly, Rechtswissenschaft, S. 32; F. Müller, Die Positivitat der Grundrechte, S. 41; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 25; ferner Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. I V , S. 202 ff., der bei seiner "Fallnorm" freilich vom konkreten Sachverhalt ausgeht, statt wie die h.L. vom Tatbestand und damit abstrakten Sachverhalten; Pawlowsb, Methodenlehre, Rdnr 93 will zusatzlich die normativ-sachliche Begründung der Norm in ihre Beschreibung hineinnehmen. 2 Vgl. Engisch, Einführung, S. 18 f., der die "abstrakte Rechtsfolge" zur Unterscheidung von der konkreten "Rechtsfolgeanordnung" nennt. 3 Die mathematisch-logische Struktur einer Rechtsnorm laßt sich wie folgt darstellen, wenn man den Sachverhalt SV, den Tatbestand TB und die Rechtsfolge RF abkürzt:
SV € TB
>
RF
Lorenz, Methodenlehre, S. 271 schreibt SV = TB, gibt jedoch zu (ebd., Fn. 34), daß das Gleichheitszeichen das Gemeinte nur schlecht treffe. Das aus der Mengenlehre geläufige € Zeichen ("ist Element von") beschreibt das Verhältnis von Sachverhalt und Tatbestand hingegen im Lorenz'sehen Sinne präzise. Der Tatbestand beschreibt durch die Aufzählung von Tatbestandsmerkmalen eine Menge von Sachverhalten: TB =
{SV
| TBMpTBM^ ...,TBMn}
91
II. Die Struktur der Abwehrrechte
Der Sachverhalt ist ein Ausschnitt aus der Lebenswirklichkeit. Diese ist in ihrem Bezug auf Rechtsnormen in einem umfassenden Sinn zu verstehen: nicht nur die äußere, raum-zeitliche, sinnlich wahrnehmbare, sondern auch die innere, psychische, nur gedanklich faßbare Wirklichkeit kann von Normrelevanz sein4. Weitergehend umfaßt die Wirklichkeit in diesem Sinn über die äußere und innere hinaus auch die der Rechtsakte (Rechtsnormen, Verwaltungsakte). Denn auch Rechtsakte existieren. Sie sind zwar keine sinnlich wahrnehmbaren Bestandteile der äußeren Wirklichkeit; man kann sie auch nicht der inneren Wirklichkeit zurechnen, da sie zwar auch gedankliche Gebilde sind, jedoch nicht kraft der Haltung eines Subjektes Wirklichkeit werden, sondern kraft der intersubjektiv wirksamen Geltungsanordnung der Rechtsordnung. Für die Adressaten wie für den den Rechtsakt Erlassenden und die Begünstigten sind Rechtsakte aufgrund dieser Geltungsanordnung, wenn sie erst einmal rechtswirksam erlassen sind, grundsätzlich ebenso existent wie alle Fakten der (äußeren oder inneren) Wirklichkeit. Die Gesamtheit der Rechtsakte konstituiert auf diese Weise eine der äußeren Wirklichkeit vergleichbare "Rechtsaktswirklichkeit". Dieses Verständnis ist deshalb von Interesse, weil damit Rechtsakte ohne weiteres als sachverhaltsrelevant begriffen und auch einer Rechtsfolge unterworfen werden können. Im folgenden sollen die äußere und die Rechtsaktswirklichkeit zu der objektiven Wirklichkeit zusammengefaßt, und die innere als die subjektive Wirklichkeit verstanden werden. Nun sind natürlich auch die Subjekte, an die sich die Rechtsnormen richten, Teil der objektiven und subjektiven Wirklichkeit. Sie stehen dieser jedoch nicht passiv gegenüber, sondern aktiv, können sie durch ihr "Verhalten" beeinflussen und verändern. Zunächst stellt jede äußere, raum-zeitliche Änderung eines Subjektes eine Änderung der äußeren Wirklichkeit dar, und jede äußere Nichtänderung läßt die äußere Wirklichkeit unverändert 5. Diese sich unmittelbar in der äußeren Wirklichkeit umsetzenden raum-zeitlichen Änderungen (das Tun) bzw. Nichtänderungen (das Unterlassen) des Subjektes sind seine Handlungen lies: der Tatbestand ist eine Menge von Sachverhalten, die die Tatbestandsmerkmale T B M j bis T B M n erfüllen. Subsumtion bedeutet nichts anderes als die Prüfung, ob ein konkreter Lebenssachverhalt SV* Element dieser Menge ist. Gehört der konkrete Sachverhalt SV* zu dieser Menge (d.h. falls SV* € TB), so tritt die Rechtsfolge ein. Die Rechtsfolge wiederum ist eine Funktion, die SV* auf die konkrete Rechtsfolge abbildet und auf diese Weise angibt, was für den konkreten Sachverhalt rechtens sein soll: RF:
SV*
>
rf(SV*)
Die vollständige mathematisch-logische Beschreibung der Anwendung einer Rechtsnorm auf einen konkreten Sachverhalt lautet demnach wie folgt: 4 5
SV* € { S V | T B M j ... T B M n } Vgl. Engisch, Einführung, S. 33.
>
rf(SV*)
Vgl. BGH, VRS 61, 213; Lackner, StGB, § 13 Rdnr 2; Lorenz, Methodenlehre, S. 285.
^ Zu dieser Begrifflichkeit der Handlung als Tun oder Unterlassen vgl. etwa Alexy, Theorie, S. 173; Enneccerus/Nipperdey, BGB AT 1/2, S. 861; Lackner, StGB, § 13 Rdnr 2 ff. Andere 8 Roth
92
C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrechte
Wie nun Rechtsakte selbst als Teil der Wirklichkeit angesehen wurden, so läßt sich über diese äußeren Handlungen hinaus auch der Erlaß von Rechtsakten als eine Handlung auffassen. So setzt etwa die Verabschiedung eines Gesetzes nicht bloß eine raum-zeitliche Handlung der Mitglieder des gesetzgebenden Organs voraus, sondern stellt gleichzeitig eine normative Handlung des Gesetzgebers als solchem dar 7 , die sich ohne weiteres durch Ingeltungsetzen des Gesetzes in einer Änderung der Wirklichkeit der Rechtsakte umsetzt. Entsprechendes gilt etwa für den Erlaß eines Verwaltungsaktes, der eben nicht einfach eine äußere Handlung des fraglichen Beamten ist, sondern vor allem eine normative Handlung des betreffenden Trägers öffentlicher Gewalt. Daß die Möglichkeit der Erfassung solcher Rechtsaktssetzungshandlungen als tatbestands- oder rechtsfolgenrelevantes Handeln gerade im Zusammenhang mit Grundrechten von Bedeutung ist, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Im Gegensatz zu den Handlungen als Teil der objektiven Wirklichkeit soll die einen Teil der subjektiven Wirklichkeit darstellende innere Einstellung eines Subjektes zu der objektiven und subjektiven Wirklichkeit und insbesondere zu seinen Handlungen als seine Haltung bezeichnet werden. Handlung und Haltung zusammen bilden das Verhalten des Subjektes und beschreiben eindeutig und vollständig seine Relation zur Wirklichkeit. Aufgabe und Funktion des Tatbestandes ist die Bestimmung, bei Vorliegen welchen konkreten Sachverhalts die Rechtsfolge eintreten soll. Theoretisch stünde es dem Normgeber frei, den Tatbestand wegzulassen und auf diese Weise den Eintritt der Rechtsfolge entweder nie oder stets anzuordnen. Soll eine Norm indes wenigstens einen potentiellen Anwendungsfall haben, und zugleich wenigstens einen potentiellen Nichtanwendungsfall, so müssen qua Normierung eines Tatbestandes relevante Sachverhalte von irrelevanten abgegrenzt werden 8. Der Normgeber muß, mit anderen Worten, nicht nur die jeweilige Rechtsfolge setzen, sondern zumindest konkludent auch festlegen, in welchen Fällen diese eintreten soll. Da hierbei auf die Anwendbarkeit der Norm Bedacht zu nehmen ist 9 , kann der Normgeber, wo es um die Rechtsfolgenanordnung für zu unterscheidende Sachverhalte geht, sinnvoll nur an in der objektiven und subjektiven Wirkbetonen mehr die Unterschiede und verstehen nur das Tun als Handlung, während Tun und Unterlassen als "Verhalten" zusammengefaßt werden, z.B. Stree, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rdnr 139; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 27. Da jedoch das "Verhalten" nach dem allgemeinen Sprachsinn auch die subjektive Komponente mit umfaßt, sollen hier die rein äußeren Vorgänge des Tuns bzw. Unterlassens als Handlung bezeichnet werden. Da rechtlich relevantes Unterlassen kein unbestimmtes Nichts-Tun, sondern ein bestimmtes Nicht-Tun ist (s. hierzu C I I 2 d), bestehen keine durchgreifenden Bedenken, auch dieses als Handlung anzusehen, Enneccerus/Nipperdey, BGB A T 1/2, S. 861 f. 7
BVerfGE 6, 257, 264.
8
Vgl. Engisch, Einfühlung, S. 17. Vgl. Maycr-Maty, Rechtswissenschaft, S. 33 f.
9
II. Die Struktur der Abwehrrechte
93
lichkeit auffindbare Abgrenzungskriterien anknüpfen. Theoretisch stehen ihm drei Möglichkeiten für die erforderliche tatbestandliche Sachverhaltsdefinition offen: Erstens kann auf Ereignisse (raum-zeitliche Änderungen oder Nichtänderungen der Wirklichkeit), die nicht in einem Verhalten bestehen, abgestellt werden; zweitens auf ein Verhalten der Subjekte; drittens auf eine bestimmte Verknüpfung eines Verhaltens und eines Ereignisses10. Für welche dieser drei Möglichkeiten sich der Normgeber entscheidet, hangt von den verfolgten Zwecken ab. Kennt der Tatbestand kein Verhaltenselement, sondern stellt er ausschließlich auf ein Ereignis ab (1. Alternative), so genügt jeder Eintritt dieses Ereignisses, um die Rechtsfolge eintreten zu lassen. Da in diesem Fall ein Abgrenzungskriterium außer dem Ereignis nicht vorgesehen ist, trifft die Rechtsfolge ohne weiteres jedes in der Rechtsnorm bezeichnete Subjekt. Sie tritt insofern unbedingt ein, wobei die Unbedingtheit nicht absolut zu verstehen ist (immerhin stellt der Eintritt des Ereignisses eine Bedingung dar), sondern subjektbezogen: Da es auf ein Verhalten des von der Rechtsfolge Betroffenen nicht ankommt, kann er sich nicht gegen den Eintritt der Rechtsfolge wappnen; sie tritt verhaltensunabhängig und in dem Sinne unbedingt ein. Dem Betroffenen würde auf diese Weise eine strikte Garantenstellung aufgebürdet, was zwar logisch möglich ist, regelmäßig aber nicht sinnvoll sein wird. Will der Normgeber deshalb einen subjektbezogenen Tatbestand vorsehen, kommt nur die Anknüpfung an das Verhalten des betreffenden Subjekts in Betracht 11, entweder an dieses alleine (2. Alternative), oder in einer festzulegenden Verknüpfung mit einem Ereignis (3. Alternative). Das Ereignis würde sich im letzteren Fall, wenn nicht einfach eine beliebige Handlung mit einem beliebigen Ereignis willkürlich verknüpft, sondern auf einen - näher festzulegenden - inneren Zusammenhang geachtet wird, als Wirkung der Handlung und die Verknüpfimg als Zurechnung verstehen lassen; der gesamte zur Wirkung führende Vorgang würde so zum Bewirkungsvorgang 12. Eine Handlung kann freilich viele Wirkungen haben. Rechtlich interessant wird eine Wirkung erst, wenn eine Norm diese als tatbestandlich relevant betrachtet; sie heiße dann (tatbestandsmäßiger) Erfolg der Handlung. Die Frage, ob in objektiver Hinsicht nur auf die Handlung abgestellt wird, oder auch auf den Erfolg (entsprechend lassen sich plakativ Handlungs- und Erfolgstatbestände unterscheiden13), hängt dabei von den zugrundeliegenden
1 0
Ähnlich Kirchhof,
1 1
Vgl. Schünemann, JA 1975, 442.
Unterschiedliche Rechtswidrigkeiten, S. 5.
1 2
Vgl. Kirchhof Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 6 zum 'Verwalten* als staatlich gesetztem Bewirkungsvorgang. 1 3 Vgl. die Unterscheidung Tätigkeits-/Erfolgsdelikte im Strafrecht, Jescheck, Strafrecht, S. 234 ff.
94
C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
Werten ab 1 4 . Denkbar ist, an eine Handlung allein anzuknüpfen, wenn diese an sich - etwa aus ethischen Gründen - negativ bewertet wird und ihr deshalb entgegengesteuert werden soll. Wertet man die Handlung (bei isolierter Betrachtung) dagegen als neutral oder jedenfalls nicht allein entscheidend, und geht es nicht ausschließlich darum, was einer tut oder unterläßt, sondern auch, was er damit bewirkt, wird die Heranziehung auch eines Erfolges als einer von der Handlung unterschiedenen Wirkung 15 unerläßlich 16. Der Tatbestand einer Norm wird dann auf eine Handlung in der äußeren oder der Rechtsaktswirklichkeit und einen dieser Handlung zurechenbaren Erfolg abstellen, sowie - wenn der Normgeber die Verhaltenssteuerung nicht allein an äußere Vorgänge knüpfen will - zusätzlich subjektive Elemente aufweisen, die sich auf die Haltung des Subjektes beziehen.
2. Struktur der Grundrechte a) Tatbestand und Rechtsfolge Auch die Grundrechte sind Rechtsnormen. Sie weisen dementsprechend die allgemeine Struktur von Rechtsnormen auf: ein Grundrechtstatbestand, an den bestimmte Rechtsfolgen geknüpft sind 17 . Diese Aussage scheint zwar im Wortlaut der Grundrechtsbestimmungen keine Stütze zu finden. Darin werden zunächst einmal vornehmlich Rechte garantiert 18, für unantastbar19 oder unverletzlich 20 erklärt, oder dem Grundrechtsadressaten Verbote auferlegt 21. Nur ganz vereinzelt werden ausdrücklich Ansprüche gegeben22, die dem einzelnen als konkret handhabbare Rechtsfolgen zugute kommen können, während ja sinnvolle Normen "operationale" (d.h. vollziehbare, handhabbare) Rechtsfolgen anordnen müssen23. Ihnen muß "ein zum unmittelbaren Vollzug
1 4 1 5
Vgl. Engisch, Einfuhrung, S. 167; zum Strafrecht Jescheck, Strafrecht, S. 215 m.w.N. Jescheck, Strafrecht, S. 234.
1 6 Vgl. für das Strafrecht Engisch, Einführung, S. 165; Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rdnr 59. 1 7 Vgl. mit Unterschieden im einzelnen Alexy, Theorie, S. 272 ff.; Bleckmann, Grundrechte, S. 328; Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 10; v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 Rdnr 170. 1 8 Art. 2 I, ü 1; 3 I, H; 4 H; 5 I, ffl 1; 6 H; 7 U, IV; 8 I; 9 I, ffl; 11 I; 12 I; 14 I 1; 16a I; 17; 19 I V GG. 1 9
Art. 1 I 1 GG.
2 0
Art. 2 H 2; 4 I; 10 I; 13 I GG.
2 1
Art. 3 ffl; 4 ffl; 6 HI; 12 U; 16 I, U GG. Art. 1 12; 6 I, I V , V GG.
2 2
2 3 Eine Norm muß geltungs- und bindungsfahig sein, vgl. BVerfGE 25, 167, 182; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 1197.
II. Die Struktur der Abwehrrechte
95
geeigneter präziser Rechtsgehalt" innewohnen24. Das muß auch fur Grundrechte gelten, da andernfalls Art. 1 Abs. 3 GG Grundrechte nicht zu unmittelbar geltendem Recht erklären könnte 25 . Und in der Tat, "Unantastbarkeit" oder "Unverletzlichkeit" sind keine operationalen Rechtsfolgen. Jedoch besitzt nur das Grundrecht als Rechtsnorm die allgemeine Rechtsnormstruktur. Die Grundrechtsbestimmung dagegen, als oftmals feierliche Deklaration eines Grundrechts ist hierin frei; es genügt, daß Tatbestand und Rechtsfolge angedeutet sind 26 . Die Operationalität ergibt sich erst daraus, daß in den Begriff "Unverletzlichkeit" operational Rechtsfolgen implizit hineingedacht werden. Als operational Rechtsfolgen kommen insbesondere die Sekundär- und Tertiäransprüche in Betracht, die man im allgemeinen im Auge hat, wenn von der "Rechtsfolge" der Grundrechte die Rede ist. b) Rechtfertigung Die Beschreibung der Grundrechtsstruktur bliebe unvollständig ohne die Beachtung der z.B. in Art. 13 Abs. 2 und 3 GG angesprochenen Rechtfertigung. Es wäre danach ungenau zu sagen, gemäß Art. 13 GG sollten Wohnungen gegen Durchsuchungen geschützt werden. Wie sich aus Art. 13 Abs. 2 GG ergibt, können Durchsuchungen rechtmäßig sein; der Schutz besteht effektiv nur gegen rechtswidrige Durchsuchungen. Das Grundgesetz geht davon aus, daß der Staat grundrechtliche Tatbestände erfüllt und erfüllen muß. Es mißbilligt das nicht per se, sondern läßt vielmehr rechtmäßige Tatbestandserfüllungen zu und schließt nur die rechtswidrigen aus 27 . Die Grundrechte schützen insofern nicht unterschiedslos, sondern - differenzierend - nur vor rechtswidrigen Tatbestandsverwirklichungen, und die konkrete Rechtsfolge (die Sekundär- bzw. Tertiäransprüche) tritt nur ein, wenn es an der erforderlichen Rechtfertigung fehlt 28 . Von daher ist zu erwägen, ob diese Rechtfertigung einen "negativen" Bestandteil des Tatbestands29 um-
2 4 BVerfGE 8, 210, 216; vgl. ferner BVerfGE 3, 225, 239 ff. zu Art. 3 H GG; Rösslein, Der Folgenbeseitigungsanspruch, S. 77.
Vgl. Dürig, in Maunz/Dürig, GG, Art. 1 (Lfg. 1958) Rdnr 93: "Vermutung für eine Vollziehbarkeit der Grundrechtsnormen unmittelbar von Verfassungs wegen"; Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, S. 66. Vgl. Alexy, Theorie, S. 43 dazu, daß eine Norm auf vielfache Weise ausgedrückt werden kann. 2 7
Vgl. Eckhoff,
Der Gnindrechtseingriff, S. 22; Schlink, EuGRZ 1984, 457.
2 8
Vgl. Bleckmann, Grundrechte, S. 324; Eckhoff, Der Gnindrechtseingriff, S. 22; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 38, 40; Morlok, Die Verwaltung 1992, 384; SchulzeOsterloh, Eigentumsopferentschädigung, S. 164. 2 9 Vgl. die Diskussion um die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen im Strafrecht, Jakobs, Strafrecht AT, Rdnr 6/59; Jescheck, Strafrecht, S. 224 ff.; Lenckner, in Schönke/ Schröder, StGB, vor § 13 Rdnr 15 ff. m.w.N.
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C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
schreibt, weil ihr Fehlen Voraussetzung für den Eintritt der Rechtsfolge ist 3 0 , oder ob das Fehlen der Rechtmäßigkeit eine vom Tatbestand verschiedene Bedingimg der Rechtsfolge darstellt. Auf das Ergebnis hat die unterschiedliche Konstruktion letztlich zwar keine Auswirkungen 31. Der konstruktiven und terminologischen Klarheit wegen 32 soll gleichwohl der zweiten Ansicht gefolgt werden, die die Rechtswidrigkeit als vom Tatbestand getrennte weitere Bedingung der Rechtsfolge versteht 33. Dieses Strukturverständnis hat mehrere Vorteile: Erstens entspricht es eher der Formulierung der Grundrechtsbestimmungen, die Rechtfertigungserfordernisse nahezu durchweg in eigenen Sätzen oder gar Absätzen artikulieren. Und zweitens bringt dies besser zum Ausdruck, daß, ehe die Rechtfertigung betrachtet wird, der Tatbestand erfüllt sein muß 34 . So kann man etwa im Rahmen des Art. 13 GG die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme überhaupt nicht beurteilen, bevor man sie nicht zuvor als (tatbestandsmäßige) Durchsuchimg oder als sonstigen Eingriff klassifiziert hat, weil hiervon die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen abhängen35. Die Tatbestandserfüllung ist so der Rechtfertigung logisch vorgeordnet 36. Die hier abgelehnte Terminologie würde die Rechtfertigungsproblematik in fragwürdiger Weise in die logische Ebene der Tatbestandsmäßigkeit ziehen und damit eine - siehe Art. 13 Abs. 2 und 3 GG - nicht gegebene Austauschbarkeit von Tatbestands- und Rechtfertigungsprüfimg suggerieren.
3 0
So Gronefeld,
Preisgabe und Ersatz, S. 111.
3 1
Vgl. zur Parallele im Strafrecht Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rdnr 19. Alexy, Theorie, S. 278 ist, weil er die Gesamtheit aller Bedingungen der Rechtsfolge als "Grundrechtstatbestand" definieren will, gezwungen, zwischen einem "Grundrechtstatbestand im weiteren Sinne* und einem "Grundrechtstatbestand im engeren Sinne" zu unterscheiden. Der Tatbestand im weiteren Sinne umfaßt den im engeren Sinne zuzuglich der "Schrankenklausel", unter welcher er S. 253 ff. die Rechtfertigungsproblematik diskutiert. - Die hier vorgeschlagene Terminologie vermeidet diese Doppelbedeutung von "Grundrechtstatbestand", indem zwischen Grundrechtstatbestand und Rechtfertigungsprüfung unterschieden wird. Der Sache nach stimmt dies jedoch mit der Konzeption Alexys überein. 3 3
Die logische Struktur der Grundrechte ist daher wie folgt zu ergänzen:
3 4
Für das Strafrecht ähnlich Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rdnr 18.
[(SV € TB) a Rechtswidrigkeit]
>
RF
3 5 Dem widerspricht nicht, daß etwa das BVerfG gelegentlich aus Rationalisierungsgründen die Tatbestandsmäßigkeit "offenläßt" und sich gleich der (offensichtlichen) Rechtmäßigkeit zuwendet (vgl. z.B. BVerfGE 72, 175, 200). Dabei handelt es sich strukturell um eine "Wahrunterstellung": die Rechtmäßigkeit wird in Hinsicht auf eine unterstellte Tatbestandserfüllung untersucht. Vgl. ebenso BVerwGE 82, 76, 78 f., wo ein Eingriff in Art. 4 I GG unterstellt und sofort die Rechtmäßigkeit desselben untersucht und bejaht wird. Es ist selbstverständlich nicht möglich, die Tatbestandserfüllung zu unterstellen, wenn sie als rechtswidrig anzusehen wäre. 3 6
Vgl. M. Wolff, Reichsverfassung und Eigentum, S. 20 zum logischen Vorrang des Enteignungsbegriffes vor den Enteignungsvoraussetzungen. Desgleichen Gronefeld, Preisgabe und Ersatz, S. 55.
II. Die Struktur der Abwehrrechte
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Für die Trennung von Tatbestand und Rechtfertigung spricht drittens auch eine materielle Überlegung über deren Verhältnis zueinander: Nur ein nicht beachtetes Primärrecht kann einen Rechtfertigungszwang auslösen. Zöge man die Rechtfertigung in dessen Tatbestand hinein, so hätte das die eigenartige Konsequenz, daß die Nichtbeachtung des Primärrechts von der Rechtswidrigkeit dieser Nichtbeachtung abhinge. Die Rechtfertigimg gibt ein Recht zur Nichtbeachtung des bestehenden Primärrechts, schließt also die Rechtswidrigkeit seiner Nichtbeachtung aus, aber freilich nicht die Tatsache der Nichtbeachtung als solches; sie hindert dadurch allerdings das Entstehen von Sekundär» und Tertiäransprüchen. Dem Tatbestand geht es um Beachtung oder Nichtbeachtung des Primärrechts, der Rechtfertigung um die Rechtmäßigkeit dieser Nichtbeachtung. Diese unterschiedliche Funktion läßt die strukturelle Trennung angeraten erscheinen37. Schließlich dienen Tatbestand und Rechtfertigungsmoment auch verschiedenen Zwecken, so daß auch hiernach eine strukturelle Unterscheidung angeraten erscheint. Der Tatbestand grenzt die Sphäre des einzelnen von der des Staates ab, während es bei der (materiellen) Rechtfertigung nicht um die Sphärenabgrenzung geht, sondern vielmehr die Bürgersphäre als gegeben vorausgesetzt und nur die (ausnahmsweise) Gestattung des hoheitlichen Eindringens in diese geregelt wird. Und bei den kompetentiellen und formellen Rechtfertigungsvoraussetzungen geht es überhaupt nicht mehr um die Bürgersphäre, sondern um die als Bedingung für die Rechtmäßigkeit des Eindringens in die Bürgersphäre staatlicherseits zu beachtenden Kompetenzen und Formen, Probleme also, die innerhalb der Sphäre des Staates angesiedelt sind 38 . Hiernach ergibt sich allgemein für die Normstruktur der Grundrechte: Der Tatbestand des grundrechtlichen Primärrechts definiert die grundrechtlich relevanten Sachverhalte. Fällt ein konkreter Sachverhalt unter diesen Tatbestand, so besteht das primäre Abwehr- bzw. Leistungsrecht. Beachtet der Grundrechtsgebundene dieses Primärrecht nicht, so löst das wiederum einen grundrechtlichen Rechtfertigungszwang aus, und nur wenn die erforderliche Rechtfertigung mißlingt, werden grundrechtliche Sekundär- bzw. Tertiäransprüche ausgelöst, die dem Grundrecht doch noch effektiv Geltung verschaffen sollen. c) Verhaltenssteuerung Das grundrechtliche Primärrecht ist nach dem Gesagten, wiewohl rechtlich bindend, im Falle rechtswidriger Nichtbeachtung nur mittels der Sekundär-
3 7 Ein weiterer Grund für eine solche Trennung ergibt sich bei der Betrachtung von Unterlassungsfällen. S. dazu nachfolgend unter d. 3 8 Zur Rechtfertigungsproblematik s. eingehend unten Teil H , speziell Abschnitt H V .
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C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
bzw. (eingeschränkt) Tertiäransprüche realisierbar. Das heißt indes nicht, es wäre unbedeutend. Gerade diesem primären Recht kommt eine Verhaltenssteuerungsfunktion zu 3 9 : es steuert das Verhalten des Grundrechtsgebundenen in Richtung auf eine Respektierung der den Grundrechten zugrunde liegenden Werte. Verhaltenssteuerung meint natürlich nicht, daß das Primärrecht das Verhalten der Grundrechtsgebundenen immittelbar determiniert oder dirigiert. Diese entscheiden vielmehr selbst, wie sie agieren sollen. "VerhaltenssteuerungN meint vielmehr die Einwirkung auf diesen Entscheidungsprozeß mit dem Ziel, unerwünschte Entscheidungen zu unterbinden 40. Das absolute Primärrecht stellt einen Maßstab dar, der die Entscheidungen mit bestimmen soll. Es gibt Handlungsrichtlinien, die der Staat, dessen prinzipielle Rechtstreue vorausgesetzt werden kann, gewöhnlich beachten wird ("positive Prävention" 41 ). Insofern geht es um eine vorweggenommene Selbstkontrolle des Verhaltens 42. Die Sekundär- und Tertiäransprüche unterstützen und verstärken diesen Prozeß der Selbstkontrolle noch: Da der Grundrechtsgebundene mit ihnen rechnen muß, wenn er das primäre Recht verletzt, indizieren sie eine besonders sorgfältige Selbstkontrolle. Er muß sich, mit anderen Worten, über die möglichen Konsequenzen seines Handelns klar werden 43 . Zwar dienen Sekundär- und Tertiäransprüche, weil sie erst greifen, nachdem der Grundrechtsadressat das Primärrecht ungerechtfertigterweise mißachtet hat, nicht einer Verhaltenssteuerung im eigentlichen Sinne des Wortes, da einem bereits stattgefundenen Verhalten nicht mehr, sozusagen mit Rückwirkung, "entgegengesteuert" werden kann. Wenn dennoch auch hier von einer "Verhaltenssteuerung" gesprochen werden kann, so eben deshalb, weil bereits der Umstand, daß eine spätere Beurteilung des Verhaltens erfolgen wird, zu einem vorherigen Überdenken des fraglichen Vorhabens Anlaß gibt, quasi im Sinne einer "negativen Prävention". Wenn damit gesagt werden kann, daß Grundrechte der "Verhaltenssteuerung" dienen, so ist immerhin zu berücksichtigen, daß diese, insofern nämlich die Freiheit der Grundrechtsträger von bloßen Haltungen des Grund3 9 Ähnlich Eckhoff, Der Gnindrechtseingriff, S. 247 f.; Ehlers, W D S t R L 51 [1992], 235; Scherzberg, DVB1. 1989, 1133. 4 0
Ähnlich Kirchhof\ Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 27. Ähnlich Kirchhof, Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 203. Zum Präventionsgedanken im Strafrecht vgl. BVerfGE 45, 187, 254 ff.; BGHSt 24, 40, 44 ff.; Jescheck, Strafrecht, S. 4, 58 ff.; Stree, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 38 Rdnr 2 ff. Die dortige Unterscheidung von General- und Spezialprävention läßt sich nur bedingt auf den Grundrechtsbereich übertragen, da hier der Staat - wenn auch in verschiedenen Ausformungen - als einziges Handlungssubiekt in Betracht kommt. 4 1
4 2 Vgl. in diesem Zusammenhang zur Funktion der Junktimsklausel des Art. 14 m 2 GG BVerfGE 4, 219, 235; 46, 268, 287; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 121; Pieroth/ Schlink, Grundrechte, Rdnr 1033. 4 3 Vgl. Gronefeld, Preisgabe und Ersatz, S. 63, 77 zur Funktion von Junktimsklausel (Art. 14 m 2 GG) und Zitiergebot (Art. 19 12 GG). Ferner BVerfGE 5, 13, 16; BVerwG, NJW 1970, 908, 909.
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rechtsgebundenen nicht beeinflußt wird, auf die Handlungen des letzteren abzielen müssen44. Allerdings werden sie mittelbar Haltungen deshalb zu bestimmen suchen, weil eine Handlungssteuerung eine Einwirkung auf die Haltung voraussetzt, die zu der gewünschten Handlung motivieren soll 4 5 . Grundrechte als Bestimmungsnormen dienen so, indem sie um der Handlungssteuerung willen auf die Haltung einwirken müssen, allgemein der Verhaltenssteuerung, sind "verhaltensleitende Normen" 46 . d) Tun und Unterlassen Als Handlung des Grundrechtsgebundenen kommt im Grunde sowohl ein Tun als auch ein Unterlassen in Betracht, wobei das Tun als raum-zeitliche Änderung des Subjektes zugleich ohne weiteres und unmittelbar selbst eine Wirklichkeitsänderung darstellt, während das Unterlassen eine Subjekt- und wirklichkeitsbezogene Nichtänderung bedeutet47. Bezogen auf die Rechtsaktswirklichkeit ist das Tun ein Ingeltungsetzen eines Rechtsaktes, welches sich ohne weiteres in einer Änderung dieser Wirklichkeit umsetzt; das Unterlassen ist eine Nichtänderung dieser Rechtsaktswirklichkeit48. Insofern sind das Tun und das Unterlassen von ihrem Erscheinungsbild her klar zu unterscheiden49. Zwar wird ein Unterlassen, d.h. die subjektbezogene Nichtänderung, nur im Kontext einer von anderen Subjekten oder von Naturkräften bewirkten Wirklichkeitsänderung relevant und deshalb regelmäßig als Nichthindern einer solchen Wirklichkeitsänderung empfunden. Ein Unterlassen impliziert indes nicht notwendig die Konstanz der Wirklichkeit, sondern vielmehr nur, daß eine etwaige Wirklichkeitsänderung nicht durch das Tun des betrachteten Subjektes bewirkt wird. Trotz dieser phänomenologisch an sich klaren Unterscheidung von Tim und Unterlassen besteht deswegen ein Problem, weil kaum ein Rechtssubjekt je wirklich "unterläßt". Von seltenen Ausnahmefällen abgesehen, tut jeder zu jedem Zeitpunkt irgend etwas, und tut zugleich unendlich viel anderes nicht 50 . Das wirft das Problem auf, woran für den Handlungsbegriff anzuknüpfen ist. 4 4 Vgl. in dem Zusammenhang schon Teil I, Titel 3, § 2 PrALR: "Nur äußere freye Handlungen können durch Gesetze bestimmt werden." 4 5
Vgl. Kirchhof,
4 6
Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 39 f.
Vgl. hierzu Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 190; ferner Kirchhof "mittelbares" Einwirken, S. 77 f. 4 7
Verwalten durch
S. o b e n C H l .
4 8
Nicht überzeugend insoweit die Abgrenzung von Schneider, AöR 89 [1964], 25 f., 50. Die Entscheidung, ob der Gesetzgeber etwas tut oder unterläßt, muß anhand des materiellen Kriteriums der Änderung der Rechtsaktswirklichkeit getroffen werden, nicht nach der beliebig austauschbaren Gesetzesformulierung (vgl. dazu BVerfGE 17, 1, 23). Wie hier kritisch auch Lerche, AöR 90 [1965], 343; Schenke, Rechtsschutz, S. 184 f. 4 9 5 0
Vgl. Rudolphi, in SK StGB, vor § 13 (Lfg. 1992) Rdnr 1. Vgl. Lilbbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 40; Schneider, AöR 89 [1964], 27.
100
C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
Unproblematisch ist es, wenn ein Rechtssubjekt in einem gegebenen Zeitpunkt etwas tut, weil dieses Tim ein zur Anknüpfung geeigneter, d.h. greifbarer und identifizierbarer Ausschnitt aus der Wirklichkeit ist. Eine Betrachtung des Handlungselements wird daher stets mit der Untersuchung des Tuns beginnen. Wenn sich dieses als bei rechtlicher Wertung irrelevant erweist, bleibt aber nur der Rückgriff auf das Unterlassen. Doch hier verhält es sich ganz anders. An welches der unendlich vielen Nicht-Tun ist anzuknüpfen? Hier hilft folgende Überlegung: Wie ein Tun nur in bezug auf einen bestimmten Erfolg rechtlich relevant ist, so ist auch ein Unterlasssen nur in Relation auf einen rechtlich relevanten Erfolg zu definieren, und daß das betreffende Subjekt statt dessen etwas anderes getan hat, interessiert nicht 51 . Als ein "Unterlassen" im normativen Sinn ist daher sowohl jedes phänomenologische Unterlassen (jede Nichtänderung der Wirklichkeit) anzusehen als auch jedes phänomenologische Tun, das nur deswegen relevant für den Erfolg wurde, weil statt dessen ein gedachtes anderes Tun (eine andere Änderung der Wirklichkeit) den Erfolg vermieden haben würde. Ein Tun im phänomenologischen Sinn ist - erfolgsbezogen definiert - ein Unterlassen im rechtlichen Sinn, wenn statt dieses Tuns ein anderes Tun erforderlich gewesen wäre, um den Erfolg zu verhindern 52. Beispiel: Ein Beamter unterläßt die Bearbeitung eines Bauantrags im rechtlichen Sinn nicht nur dann, wenn er schläft ( = Unterlassen im natürlichen Sinn), sondern auch, wenn er statt dessen Kaffee trinkt ( = rechtlich irrelevantes anderes Tun) oder einen anderen Antrag bearbeitet ( = rechtlich relevantes anderes Tun). Da ein Rechtssubjekt, ob es nun phänomenologisch etwas tut oder unterläßt, tatsächlich stets unendlich viele Taten unterläßt, können nicht alle Unterlassungen rechtlich relevant sein. Rechtlich interessiert nicht das Unterlassen als solches, sondern das unterlassene Tun. Die Identifikation dieses unterlassenen Tuns ist nur im Hinblick auf das vom Recht Geforderte möglich: rechtlich relevantes Unterlassen ist das Unterlassen eines rechtlich geforderten Tuns 53.
5 1
Vgl. Stree, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rdnr 139.
5 2
Vgl. zur Parallelproblematik im Strafrecht BGHSt 6, 1, 2; BGH, StV 1985, 229; Jescheck, Strafrecht, S. 559; Stree, in Schönke/Schröder, StGB, § 13 Rdnr 61. 5 3 Vgl. BVerfGE 6, 257, 264; BVerwGE 9, 78, 80 f.; Düng, in Maunz/Dürig, GG, Art. 2 U (Lfg. 1958) Rdnr 26; Huber, Konkurrenzschutz, S. 227 f.; Lerche, AöR 90 [1965], 351; Schenke, NJW 1991, 1788; Schneider, AöR 89 [1964], 27; Steinbergfbubberger, Aufopferung, S. 358; Stern, in BK, Alt. 93 (Zweitb. 1982) Rdnr 633. Von einem solchen Unterlassungsbegriff geht offenbar auch Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 11 Fn. 3 aus. Schenke, Rechtsschutz, S. 168 nimmt entsprechend ein Unterlassen des Gesetzgebers dann an, wenn dieser einer Verpflichtung zum Erlaß einer Norm nicht (vollständig) nachgekommen ist. Vgl. auch Wagner, NJW 1966, 570, der jedoch zu Unrecht das Unterlassen von Rechtshandlungen aus dem Handlungsbegriff ausnimmt. Nicht überzeugend Kreßel, Haftungsrecht, S. 35. Zum strafrechtlichen Unterlassungsbegriff vgl. BGHSt 21, 50, 53 f.; Jescheck, in L K StGB, vor § 13 Rdnr 85; Rudolphi, in SK StGB, vor § 13 (Lfg. 1992) Rdnr 4; Stree, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rdnr 139.
II. Die Struktur der Abwehrrechte
101
Das Unterlassen ist mithin nicht ein unbestimmtes Nichts-Tun, sondern ein bestimmtes Nicht-Tun. Für das Handlungselement des Grundrechtstatbestands ergibt sich daraus: Nur ein gegen eine grundrechtliche Tätigkeitspflicht verstoßendes Unterlassen kommt als tatbestandsmäßiges Unterlassen und damit als tatbestandsmäßiges Handeln in Betracht. Auch die Ermöglichung der Identifikation des grundrechtsrelevanten Unterlassens zeigt übrigens, daß sinnvollerweise die Rechtfertigungsfrage nicht in den Tatbestand des Grundrechts einbezogen wird. Sonst ließe nämlich die Rechtfertigung das Primärrecht bereits tatbestandlich entfallen, womit die Identifikation des Unterlassens, um dessen Rechtfertigung es geht, unmöglich wird. Um diesen konstruktiven Zirkel zu vermeiden, sollte die Rechtfertigung der Nichtbeachtung des Rechtes auf ein bestimmtes Tun nicht anders behandelt werden wie die Rechtfertigung sonst54. Ob das Unterlassen rechtmäßig oder rechtswidrig ist, ist dann wiederum eine Angelegenheit der Rechtfertigung eines eventuellen so identifizierten Unterlassens.
3. Die Struktur der Abwehrrechte im besonderen Die Abwehrrechte weisen zunächst sämtliche beschriebenen allgemeinen Strukturmerkmale der Grundrechte auf. Aufgrund ihrer Funktion besitzen sie jedoch einige strukturelle Spezifika, die sie von den Leistungsrechten unterscheidet. Letztere verpflichten den Staat, durch Dritte oder sonstwie bewirkten Verschlechterungen der Ist-Freiheit entgegenzutreten bzw. eine bestimmte Soll-Freiheit ungeachtet des Grundes für ihr Nichtbestehen herbeizuführen. Die Leistungspflichten entstehen unabhängig von, und in diesem Sinne imbedingt durch staatliches Verhalten; sie fallen also unter die oben 55 als 1. Alternative genannte Möglichkeit der Sachverhaltsabgrenzung: Die fraglichen Leistungspflichten stehen auf der Rechtsfolgenseite des Leistungsrechts, während die Tatbestandsseite schlicht auf ein bestimmtes Ereignis abhebt, nämlich die Beeinträchtigung der Ist-Freiheit bzw. das Unterschreiten der Soll-Freiheit. Tritt ein solches Ereignis auf, so entsteht ein primäres Leistungsrecht, für dessen etwaige Nichterfüllung sich der Staat rechtfertigen muß, andernfalls leistungsrechtliche Sekundär- oder Tertiäransprüche entstünden. Abwehrrechte sind dagegen durch staatliches Verhalten bedingt. Sie richten sich gegen durch den Staat bewirkte Ist-Zustands-Verschlechterungen und müssen deshalb auf ihrer Tatbestandsseite ein Verhaltenselement aufweisen. 5 4 Nähme man hingegen an, die Tätigkeitspflicht enthielte bereits auf Tatbestandsebene Pflichtwidrigkeitselemente, und faßte man deshalb Tätigkeitspflicht und Rechtfertigung in eins, hätte das auch die seltsame Konsequenz, daß es kein rechtmäßiges Unterlassen gäbe, sondern nur rechtswidriges (so aber in der Tat Lübbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 27). 5 5
S. o b e n C D 1.
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C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
Die Vorstellung, solche Erfolge lösten erst einen Abwehranspruch aus, wäre aber schief, weil sich das Abwehrrecht von vornherein gegen eine Ist-Zustands-Verschlechterung wendet. Der Staat kann auf ihn zurückgehende IstFreiheits-Beeinträchtigungen nur dadurch "abwehren", daß er sie erst gar nicht herbeiführt. Anders als bei Leistungsrechten ist bei Abwehrrechten die fragliche Achtungspflicht bereits Gegenstand des Tatbestandes des primären Rechts. In diesem Sinne fallen Tatbestand und Rechtsfolge zusammen, und man spricht deshalb besser davon, daß jede auf Nichtachtung beruhende IstFreiheits-Beeinträchtigung direkt einen Rechtfertigungszwang begründet (und nicht erst einen - ohnehin bereits unerfüllt gebliebenen und insofern obsoleten - primären Achtungsanspruch), sowie im Falle des Mißlingens der Rechtfertigung abwehrrechtliche Sekundär- und Tertiäransprüche auslöst. Die besondere Struktur des abwehrrechtlichen Tatbestandes beruht letztlich auf einer unterschiedlichen Wirkungsweise der mit den Grundrechten bezweckten Verhaltenssteuerung. Zwar liegen allen Grundrechten objektivrechtliche Wertungen zugrunde, die sie als "Bewertungsnormen" ausweisen, doch dienen die Grundrechte als subjektive Rechte stets auch der Steuerung, der "Bestimmung" des Verhaltens des Grundrechtsadressaten, was sie als "Bestimmungsnormen" kennzeichnet56. Der Staat kann indes Dritte und sonstige Ereignisse nicht im gleichen Sinne steuern wie sein eigenes Verhalten. Da verhaltenssteuernde Normen stets die Möglichkeit des gewünschten Verhaltens beachten müssen57, kann ein Leistungsrecht nicht schon deshalb als mißachtet gelten, weil es zur Beeinträchtigimg der Ist-Freiheit bzw. zum Unterschreiten der Soll-Freiheit kommt, sondern erst dann, wenn der Staat seine dadurch ausgelöste Leistungspflicht vernachlässigt, wohingegen das primäre Abwehrrecht schon dann nicht beachtet ist, wenn sich der Ist-Zustand verschlechtert, welches dann ohne weiteres einen Rechtfertigungszwang ausübt. Als tatbestandliche Besonderheit der Abwehrrechte ist ferner zu beachten, daß als tatbestandsrelevantes Handeln lediglich ein Tun, nicht aber ein Unterlassen in Betracht kommt 58 . Denn nur die Existenz eines Rechts auf ein spezifisches Tun ermöglicht die Identifikation eines tatbestandsrelevanten Unterlassens, und ein solches Recht auf ein bestimmtes Tun besteht auf der primären Abwehrrechtsebene nicht. Das abwehrrechtliche Primärrecht verpflichtet den Staat lediglich zur Achtung des Ist-Zustands der Grundrechtsgüter; das ist stets durch ein Unterlassen möglich und beinhaltet keine Pflicht zu einem 5 6 Zu der Unterscheidung von Bewertungs- und Bestimmungsnormen vgl. etwa Engisch, Einführung, S. 27; Kaufmann, Normentheorie, S. 76. 5 7 Kirchhof, Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 77; Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 267 f. 5 8 Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 164; Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 279 ff.; Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 235; Herren, Faktische Beeinträchtigungen, S. 113; Lübbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 33, 42; vgl. BGHZ 118, 253, 260 f. Verfehlt Kreßel, Haftungsrecht, S. 35 ff.
II. Die Struktur der Abwehrrechte
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Tun. Natürlich kommen abwehrrechtliche Sekundär- oder Terf/tfransprüche auf ein bestimmtes Tun in Betracht, doch können diese nicht eine für das Primärrecht maßgebliche Pflicht zu einem Tim begründen. Primare Rechte auf ein Tun mag es daher bei den auf eine Leistung (Schutz, Beistand oder Förderung) gerichteten Leistungsrechten geben 59 , jedenfalls aber nicht bei den Abwehrrechten. Da sich bei Abwehrrechten die zur Identifikation rechtlich relevanten Unterlassens notwendige Tätigkeitspflicht nur aus einer zuvor durch positives Tun bewirkten Verschlechterung der Ist-Freiheit ergeben kann, können alle abwehrrechtlichen Sekundär- und Tertiäransprüche an dieses Tun angeknüpft werden. Auf ein nachfolgendes etwaiges Unterlassen kommt es nicht an; es hätte in bezug auf das bereits beeinträchtigte Grundrechtsgut keine eigenständige Bedeutung und ist daher insoweit ohne Bedeutung. Soweit es um Abwehrrechte geht, besteht also keine Notwendigkeit, auch ein Unterlassen als Handlung aufzufassen. Ein Unterlassen als eigenständige Handlungsform ist deshalb allenfalls in bezug auf Grundrechte in ihrer leistungsrechtlichen Funktion von Interesse. Bei Abwehrrechten indes handelt es sich bei der Diskussion des "Eingriffs durch Unterlassen" letztlich um ein Scheinproblem 60. Insgesamt ist festzuhalten, daß zwar selbstverständlich alle Grundrechte einen Tatbestand haben müssen, daß es aber nicht einen völlig einheitlichen "Grundrechtstatbestand" geben kann, sondern vielmehr strukturell und materiell unterschiedliche Abwehrrechts- und Leistungsrechtstatbestände. Die Untersuchung wird sich im folgenden dem Tatbestand der Abwehrrechte zuwenden.
5 9
S. dazu unten Teil G. Steht beispielsweise eine bestimmte Freiheitsausübung (z.B. Berufsausübung, Grundstücksbebauung) unter einem gesetzlichen Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, so spielt das Unterlassen der Erteilung der beantragten Genehmigung letztlich keine eigenständige Rolle. Denn bereits das gesetzliche Verbot stellt ein für das Abwehrrecht tatbestandsrelevantes Handeln dar, und in der Tat fugt ja das Nichtgenehmigen dem bestehenden Verbot nichts hinzu. Der bei Erfüllung der Zulassungsvoraussetzungen bestehende Erlaubnisanspruch ergibt sich als abwehrrechtliche Reaktion auf das gesetzliche Verbot, da ein solches Verbot nur verhältnismäßig ist, wenn zugleich denjenigen, bei denen die Verbotsgründe nicht vorliegen, ein Anspruch auf Genehmigungserteilung zugebilligt wird. Dieser Anspruch geht in der Tat auf ein bestimmtes Tun, und kann insofern auch durch das Unterlassen der Genehmigungserteilung mißachtet werden (vgl. insoweit BGHZ 118, 253, 261). Für den Handlungsbegriff auf der Ebene des abwehrrechtlichen Primärrechts kommt es darauf aber nicht mehr entscheidend an, weil alle Folgen bereits an das gesetzliche Verbot zu knüpfen sind. In dem Moment, in dem sämtliche Erlaubnisvoraussetzungen erfüllt sind, wird die Aufrechterhaltung des Verbotes materiell rechtswidrig; die Nichterteilung der Genehmigung erscheint nur auf den ersten Blick als "qualifiziertes Unterlassen" (so BGHZ 118, 253, 261); in Wahrheit liegt im Verbot als rechtlichem Dauerakt ein fortgesetztes positives Tun in der Rechtsaktswirklichkeit vor. 6 0
III. Der Tatbestand der Abwehrrechte Nachfolgend ist der Tatbestand der Abwehrrechte zu untersuchen. Dabei ist im Auge zu behalten, daß der Tatbestand (und damit seine vom Normgeber zu bestimmenden Elemente) als Teil einer Rechtsnorm nicht anders als die Rechtsfolgenanordnung Gegenstand normativer Setzung ist. Handlung und Erfolg nebst Zurechnung sowie die Haltung sind normative Elemente der Norm, soweit die Norm diese Elemente für relevant erklärt. Je nachdem, ob die Abgrenzungskriterien der objektiven (d.h. der äußeren bzw. der Rechtsakts-) Wirklichkeit, oder der subjektiven (d.h. der inneren) Wirklichkeit entstammen, soll zwischen dem objektiven und dem subjektiven Tatbestand unterschieden werden.
1. Der objektive Tatbestand der Abwehrrechte In objektiver Hinsicht bezieht sich der Abwehrrechtstatbestand auf eine in der objektiven Wirklichkeit identifizierbare Handlung und einen entsprechenden Erfolg, die durch ein normatives Zurechnungselement miteinander verknüpft sind. Diese Struktur ergibt sich zwingend aus der Schutz- und Verhaltenssteuerungsfunktion der Grundrechte als Abwehrrechte. Ihr Schutzzweck erfordert, auf einen bestimmten Erfolg abzustellen, nämlich eine wie auch immer zu verstehende Verschlechterung des Ist-Zustands der Grundrechtsgüter, und die Verhaltenssteuerungsfunktion gebietet, an eine wie auch immer geartete Handlung des Grundrechtsadressaten anzuknüpfen. Da die Abwehrrechte nicht die einzelnen zu verbietenden Handlungen aufzählen können, müssen sie durch die Beschreibung maßgeblicher Eigenschaften allgemeine Kriterien für die Identifikation abwehrrechtsrelevanter Handlungen aufstellen. Im nachfolgenden sollen die einzelnen Tatbestandselemente kurz betrachtet werden. a) Handlungselement Das Handlungselement des Abwehrrechtstatbestandes muß eine Handlung des Grundrechtsadressaten fordern, desjenigen also, der durch das Grundrecht gebunden ist, weil es hier um die Steuerung seines Verhaltens geht.
. Der Tatbestand der Abwehrrechte
105
aa) Grundrechtsadressat Nach h.M. binden die Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG nur die öffentliche Gewalt unmittelbar, nicht aber Private 1, sofern diese nicht als Beliehene punktuell öffentliche Gewalt ausüben2. Umstritten ist, ob es für die Bindung nach Art. 1 Abs. 3 GG darauf ankommt, ob ein Organ der öffentlichen Gewalt oder ob jemand in der Funktion der öffentlichen Gewalt handelte. Nach der zutreffenden h.M. ist die funktionelle Sicht vorzuziehen, da sich die spezielle Schutzbedürftigkeit, die die Grundrechte befriedigen sollen, nicht daraus ergibt, wer gehandelt hat, sondern mit welcher Macht 3 . Davon ist freilich im Bereich des sogenannten Verwaltungsprivatrechts eine Ausnahme zu machen4: auch wenn der Staat hier bloß privatrechtlich handelt, also auf hoheitliche Maßnahmen verzichtet, muß er an die Grundrechte gebunden sein, weil er sich dieser Bindung nicht durch eine "Flucht ins Privatrecht" entziehen können darf 5. Damit bleibt der Fiskalbereich, nämlich die privatrechtlichen Hilfsgeschäfte sowie die erwerbswirtschaftliche Betätigung der Verwaltung von der (unmittelbaren) Grundrechtsbindung ausgenommen6. (Wobei freilich hier die sogenannte "mittelbare Grundrechtsbindung" der Privaten zu beachten ist, die sich aus der unmittelbaren Grundrechtsgeltung auch im Privatrecht ergibt 7, und die gegenüber staatlichen Einheiten noch stärker ins Gewicht fallen muß als im Verhältnis zu Privaten.) Im folgenden soll von dieser zutreffenden h.M. hinsichtlich der Grundrechtsadressaten ausgegangen werden: Grundrechtsgebunden sind nur die Träger öffentlicher Gewalt, d.h. grundsätzlich alle juristischen Personen des öffentlichen Rechts (Bund, Länder, Gemeinden, sonstige Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, sowie die
1 BVerfGE 66, 116, 135; Blaesing, Gnindrechtskollisionen, S. 57 ff.; Conans, JuS 1989, 162; Düng, in Maunz/Dürig, GG, Art. 1 (Lfg. 1958) Rdnr 100 ff., 127 ff.; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 355; Kloepfer, Umweltrecht, § 2 Rdnr 8; Lübbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 160 f.; v.Mangolät/Klein/Starck, GG, Art. 1 Rdnr 156; F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 39. 2 v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 Rdnr 146; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 202; Denninger, in AK, Art. 1 H , m Rdnr 28; vgl. auch BVerfGE 10, 302, 327. 3
Vgl. Hendrichs, in v.Münch, GG, Art. 19 Rdnr 43.
4
Vgl. hierzu BGHZ 91, 84, 96 f.; Düng, in Maunz/Dürig, GG, Art. 1 (Lfg. 1958) Rdnr 136 f.; v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 35; Schenke, in BK, Art. 19 I V (Zweitb. 1982) Rdnr 191. 5 Hoppe, DVB1. 1981, 311; Maunz/Zippelius, 1985, 586.
Deutsches Staatsrecht, S. 151; Zechlin, NJW
6 Dürig, in Maunz/Dürig, GG, Art. 1 (Lfg. 1958) Rdnr 135; a.A. Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 347 f.; Huber, Konkurrenzschutz, S. 315; Jarass/Pieroth, GG, Art. 1 Rdnr 18. 7 BVerfGE 73, 261, 269; Conans, JuS 1989, 162; Dürig, in Maunz/Dürig, GG, Art. 1 (Lfg. 1958) Rdnr 131; Hesse, EuGRZ 1978, 437; Lübbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 162 ff.; Maunz/ Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 150 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 210; Zippelius, in BK, Art. 1 (Drittb. 1989) Rdnr 36. Ähnlich, aber weiter einschränkend v.Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 1 Rdnr 198 ff.
106
C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
Beliehenen)8. Dieses Verständnis wird zugrunde gelegt, wenn in dieser Arbeit kurz vom "Staat" die Rede ist. bb) Handlung Daß für Abwehrrechte als tatbestandsrelevantes Handeln lediglich ein Tun in Betracht kommt, wurde bereits dargelegt9. Damit sind jedoch keineswegs sämtliche Fragen geklärt. (1) Die Handlungsanrechnung Der Staat als bloß gedankliches Gebilde kann in natura überhaupt nicht "handeln". Das können nur Menschen10. Damit stellt sich die Frage, welches Handeln von Menschen als staatliches Handeln verstanden werden soll. Niemand kann von sich aus für den Staat handeln, wenn ihm nicht vom Staat die Macht, für ihn zu handeln, verliehen wurde. Ein solchermaßen Befugter (Amtswalter) hört natürlich nicht auf, auch Bürger zu sein, der für sich privat handeln kann. Menschliches Handeln kann daher nur als staatliches gewertet werden, wenn ein Amtswalter in Ausübung dieser Befugnis handelt, und damit das Handeln des Staates "realisiert" 11. Es lassen sich zwei Konstellationen unterscheiden. Unproblematisch ist zunächst die Handlungsanrechnung bei Rechtsakten: Ein Privater als solcher kann keine Gesetze oder Verwaltungsakte erlassen. Folglich muß jede Handlung eines Amtswalters, die im Erlaß eines solchen Rechtsaktes besteht, ohne weiteres als staatliche Handlung verstanden und als solche dem Staat zu- oder besser: angerechnet werden. Schwierig zu beurteilen kann nur der Fall schlichter Akte sein, d.h. solcher, die nicht im Erlaß von Rechtsakten bestehen. Da solche Handlungen jedenfalls im Prinzip auch von Privaten vorgenommen werden können, stellt sich hier in der Tat das Anrechnungsproblem, wann menschliches Handeln dem Staat anzurechnen und als staatliches Handeln zu werten ist. Es liegt nahe, sich bei der Lösung dieses Anrechnungsproblems an die Grundsätze anzulehnen, die zu Art. 34 GG ausgearbeitet worden sind, worin eine Übernahme der Haftung durch den Staat für von Amtswaltern durch Amtspflichtverletzungen angerichtete Schäden angeordnet ist. Eine solche Einstandspflicht ergibt nämlich nur Sinn, wenn die amtspflichtverletzende Handlung als im Grunde staatliche gewertet wird. Art. 34 GG kommen zwei 8 Vgl. Kunig, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 1 Rdnr 35, 51; v.Münch, in v.Münch, GG, Art. 1 Rdnr 47; Schenke, in BK, Art. 19 I V (Zweitb. 1982) Rdnr 168 ff. 9
S. oben C I I 3. Pieroth, N V w Z 1984, 685; Wolff/Bachof, 1 1 BVerfGE 9, 268, 282. 1 0
Verwaltungsrecht I, § 73 m a, S. 34.
. Der Tatbestand der Abwehrrechte
107
Funktionen zu 1 2 , die beide den Anrechnungsgedanken bestätigen. Es soll verhindert werden, daß der Amtsträger aus Furcht vor persönlicher Haftung vor einer dem Staat dienenden Amtstätigkeit zurückschreckt, worin sich zeigt, daß es bei der Anordnung der privativen Übernahme der nach § 839 BGB an sich den Amtsträger treffenden Haftung letzten Endes um die Funktionsfähigkeit des Staates geht. Nur daraus, und weil er die Amtstätigkeit in seinem Interesse veranlaßt 13, rechtfertigt sich die Bestimmung des Art. 34 GG. Dem Bürger garantiert Art. 34 GG einen zahlungsfähigen Schuldner; auch dahinter steht die Wertung des Handelns des Amtswalters als staatliches Handeln, denn welchen Grund gäbe es sonst für die Übernahme einer solchen Garantie? Die rechtlichen Fragen und Wertungen sind daher bei Art. 34 GG dieselben wie vorliegend. Mit Wirkung für und gegen den Staat kann daher jede Person handeln, die von einem Träger öffentlicher Gewalt mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse, und sei es auch nur rein tatsächlich, betraut worden ist 1 4 , d.h. den Auftrag zur Erledigung spezifisch staatlicher Funktionen erhalten hat (Amtswalter) 15. Wer das im einzelnen ist, und welche genaue Funktion im Staatsaufbau diese Person einnimmt, ist unerheblich, da dies aus der Sicht des zu schützenden Grundrechtsträgers ohnehin rein zufällig und willkürlich ist 1 6 . Die so bestimmte Person darf nicht als Privater und nur gelegentlich einer Amtstätigkeit gehandelt haben, sondern muß gerade in ihrer Eigenschaft als mit der Durchführung staatlicher Angelegenheiten betrauter Amtswalter auf einem Gebiet, in dem der Staat grundrechtlich gebunden ist 1 7 , gehandelt haben. Die erforderliche dienstliche Tätigkeit 18 scheitert natürlich nicht schon daran, daß der Amtsträger seine dienstlichen Befugnisse überschreitet, sondern 1 2 Vgl. Dagtoglou , in BK, Art. 34 (Zweitb. 1970) Rdnr 2; Maurer , Allgemeines Verwaltungsrecht, § 25 Rdnr 5; Meyer , in v.Münch, GG, Art. 34 Rdnr 3; Papier , in Maunz/Dürig, GG, Art. 34 (Lfg. 1987) Rdnr 12. 1 3
Vgl. Maurer , Allgemeines Verwaltungsrecht, § 25 Rdnr 6.
1 4
Zu Art. 34 GG vgl. BGHZ 62, 372, 378; Dagtoglou , in BK, Art. 34 (Zweitb. 1970) Rdnr 80; Kreft, in BGB-RGRK, § 839 Rdnr 50, 140 f.; Maurer , Allgemeines Verwaltungsrecht, § 25 Rdnr 12; Meyer , in v.Münch, GG, Art. 34 Rdnr 32, 34; Papier , in Maunz/Dürig, GG, Art. 34 (Lfg. 1987) Rdnr 90; Soergel/Glaser , BGB, § 839 Rdnr 70 f. Für das Polizeirecht Drews/Wacke/Vogel/Martens , Gefahrenabwehr, S. 341. 1 5 1 6 1 7
Dagtoglou , in BK, Art. 34 (Zweitb. 1970) Rdnr 79. Dagtoglou , in BK, Art. 34 (Zweitb. 1970) Rdnr 79; Forsthoff,
Verwaltungsrecht, S. 322.
Vgl. Meyer , in v.Münch, GG, Art. 34 Rdnr 44.
1 8 Wenn innerdienstliche Maßnahmen aus dem Handlungsbegriff ausgeklammert werden (so Wagner , NJW 1966, 570), so ist das insofern zwar selbstverständlich, als eine Maßnahme, die den hoheitlichen Bereich noch nicht verlassen hat, keine Beeinträchtigung fremder Grundrechtsgüter hervorrufen kann. Indessen kann man nicht ein staatliches Handeln einfach dadurch negieren, daß man es als "innerdienstlich" bezeichnet. Wenn es nämlich eine Beeinträchtigung hervorgerufen hat, weil es nach außen gedrungen ist, so hat es aufgehört, "innerdienstlich" zu sein. (Ähnlich Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 379.) Insofern beruht die Ansicht Wagners auf einem Zirkelschluß.
9 Roth
108
C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
ist erst dann ausgeschlossen, wenn der erforderliche innere Zusammenhang von Handlung und Amtsausübung fehlt 19 . Dieser im einzelnen schwierigen Frage braucht hier nicht weiter nachgegangen zu werden; es sei auf die Diskussion zu Art. 34 GG verwiesen 20. Als Faustregel kann aber gelten: der erforderliche innere Zusammenhang besteht dann, wenn der Amtsträger in der Erwartung oder Hoffnung auf eine Billigung seiner Handlung durch diejenigen, denen er rechenschaftspflichtig ist, handelt; er besteht nicht, wenn ihm von vornherein klar ist, daß eine solche Billigung nicht in Betracht kommt 21 . (2) Der Handlungswille Die Frage nach der Relevanz eines Handlungswillens des Amtswalters wirft ein von Kimminich gebildeter Fall auf, daß ein herabfallender Dachziegel einen Polizisten so unglücklich trifft, daß sich unversehens ein Schuß aus der Dienstpistole löst und einen Passanten verletzt 22 . In diesem Fall "will" der Polizist nicht schießen, und es könnte allenfalls darum gehen, ob nicht der Staat schon allein deswegen, weil er den Polizisten mit der Waffe ausgerüstet und auf den Streifengang geschickt hat, Verantwortung für den Erfolg zu übernehmen hat. Allerdings ist zu bedenken, daß die Abwehrrechte Verhaltenssteuerungsfunktion haben 23 ; die Einwirkung auf die Handlungsmotivation hat aber zur Mindestvoraussetzung, daß die Handlung motivationsgesteuert ist, d.h. der Amtsträger wenigstens darüber entscheiden kann, ob und gegebenenfalls wie er handelt. Staatliches Handeln ist stets zugerechnetes menschliches Handeln. Damit stellt sich die Frage, was als zurechenbares menschliches Handeln in diesem Zusammenhang zu verstehen ist. In Zivil- und Strafrecht wird als rechtlich relevantes menschliches Handeln allgemein nur das gewillkürte Körperverhal-
1 9 Vgl. zu Art. 34 GG BGHZ 11, 181, 185 f.; 42, 176; Dagtoglou, in BK, Art. 34 (Zweitb. 1970) Rdnr 99; Forsthoff,\ Veiwaltungsrecht, S. 323; Kreft, in BGB-RGRK, § 839 Rdnr 124; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 25 Rdnr 15; Meyer, in v.Münch, GG, Art. 34 Rdnr 45; Papier, in Maunz/Dürig, GG, Art. 34 (Lfg. 1987) Rdnr 140; Soergel/Glaser, BGB, § 839 Rdnr 86; Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, § 64 ffld, S. 566. 2 0
S. etwa den Systematisierungsversuch von Dagtoglou, in BK, Art. 34 (Zweitb. 1970) Rdnr
100 ff. 2 1 Vgl. BGHZ 42, 176, 178, wo ebenfalls auf die Zielsetzung der handelnden Person abgestellt wird; das verfolgte Ziel müsse dem Bereich hoheitlicher Betätigung zuzurechnen sein. Ebenso Papier, in MünchKomm BGB, § 839 Rdnr 162. 2 2 Kimminich, in BK, Art. 14 (Drittb. 1976) Rdnr 266; die Terminologie Kimminichs war insofern etwas unscharf, als er dieses Beispiel unter der Überschrift 'Finalität des Eingriffsbegriffes' diskutierte, es hier aber nicht darum geht, ob der Polizist den Bürger zielgerichtet verletzt, sondern ob das Schießen selbst willensgesteuert ist. Die Lage unterscheidet sich also grundsätzlich von der, wo der Polizist (mit Handlungswillen!) auf einen Verbrecher schießt, aber (insofern nicht final) den unbeteiligten Passanten trifft. 2 3
S. oben C H 2 c .
. Der Tatbestand der Abwehrrechte
109
ten verstanden 24, an welchem es fehlt, wenn es am natürlichen Handlungswillen mangelt. Ohne daß es nötig ist, auf die vielfältigen Handlungsbegriffe einzugehen25, ist dort jedenfalls allgemeine Ansicht, von einer rechtlich relevanten Handlung könne nicht gesprochen werden in Fällen von vis absoluta, Bewußtlosigkeit oder rein instinktiven, willensmäßig nicht steuerbaren Reflexbewegungen 26. Wo es aufgrund solcher Umstände an einem relevanten menschlichen Handeln fehlt, erscheint es daher fraglich, ob hier noch etwas sinnvoll dem Staat als sein Handeln zugerechnet werden kann; es mag etwa merkwürdig erscheinen, das "Handeln" z.B. eines bewußtlosen Amtsträgers ohne weiteres als staatliches Handeln anzuerkennen. Auch ließe sich auf das in Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB vorausgesetzte Verständnis amtswalterischer Handlungen verweisen, wonach der Ausdruck "in Ausübung ... verletzen" schwerlich auf solche mangels natürlichen Handlungswillens vom natürlichen Handlungsbegriff ausgenommenen Konstellationen anzuwenden sein kann. Zudem scheint die Einbeziehung solcher Fälle den denkbaren Verantwortungsbereich des Staates auf eine Weise auszudehnen, die der Intention der Abwehrrechte als Bestimmungsnormen nicht mehr entspricht. Andererseits ist der Handlungsbegriff in verschiedenen Rechtsgebieten nicht notwendig identisch27. Im Polizeirecht etwa wird auch vom Handlungsstörer nicht verlangt, daß er einen Handlungswillen gehabt oder bewußt gehandelt habe 28 , so daß der Polizei selbst aus einer nicht von einem Willen gesteuerten Handlung Eingriffsbefugnisse gegen den Störer erwachsen können. Es erscheint umgekehrt daher keineswegs als ausgeschlossen, dem Bürger auch dann abwehrrechtliche Ansprüche gegen den Staat zuzubilligen, wenn ein Amtsträger ohne Handlungswillen Grundrechtsgüter beeinträchtigt. Diese Überlegung wird durch einen Seitenblick auf § 1004 BGB bestätigt. Zwar wird zu dieser Bestimmung gesagt, die abzuwehrende Beeinträchtigung müsse auf eine Willensentscheidung des in Anspruch genommenen Störers zu-
2 4 Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rdnr 37 ff.; Staudinger/Schäfer, BGB, § 823 Rdnr 2; Steffen, in BGB-RGRK, § 823 Rdnr 72; vgl. auch Soergel/Hefermehl, BGB, vor § 116 Rdnr 15; Staudinger/Dilcher, BGB, vor § 116 Rdnr 17 zum Handlungswillen im Rahmen von Willenserklärungen. 2 5 S. dazu ausfuhrlich Jescheck, Strafrecht, S. 196 ff.; ders., in LK StGB, vor § 13 Rdnr 22 ff.; Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rdnr 23 ff.; Raxin, Strafrecht AT I, § 8 Rdnr 7 ff.; Rudolphi, in SK StGB, vor § 1 (Lfg. 1990) Rdnr 17 ff. 2 6 Jescheck, Strafrecht, S. 201 f.; ders., in LK StGB, vor § 13 Rdnr 32 f.; Jakobs, Strafrecht AT, Rdnr 6/36 ff.; Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rdnr 38 ff.; Roxin, Strafrecht AT I, § 8 Rdnr 42; Rudolphi, in SK StGB, vor § 1 (Lfg. 1990) Rdnr 21; Steffen, in BGBRGRK, § 823 Rdnr 72. 2 7 2 8
Vgl. Wolff/Bachof,
Verwaltungsrecht I, § 32 V b, S. 214.
Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 293, 307. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr 88 weist daraufhin, daß es auf eine Verschuldensfahigkeit nicht ankommt.
110
C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
rückzuführen sein 29 . Damit fallen jedenfalls Störungen, die ausschließlich auf Naturereignisse zurückzuführen sind, nicht unter § 1004 BGB 3 0 ; das braucht freilich hier nicht zu interessieren, da es bei Abwehrrechten eben um bloße Naturereignisse nicht geht. Nun wird aber auch behauptet, daß z.B. Deliktsbzw. Geschäftsunfähige nicht Störer nach § 1004 BGB sein könnten 31 . Doch das ist allenfalls vor dem Hintergrund tragbar, daß in allen solchen Fällen fehlender Verantwortlichkeit eine andere Person als Verantwortlicher eintritt (z.B. gesetzlicher Vertreter) 32. Gerade das scheidet hinsichtlich des Staates aus. Verneinte man seine Verantwortlichkeit mangels Handlungswillens des Amtsträgers, träte niemand an seine Stelle, und dem Bürger verbliebe die Beeinträchtigung endgültig. Die Verhaltenssteuerungsfunktion darf demgegenüber nicht überbewertet werden. Zwar sollen die Abwehrrechte motivierend so auf die Träger öffentlicher Gewalt einwirken, daß grundrechtswidrige Erfolge erst gar nicht eintreten. Wenn nun aber diese Motivationseinwirkung ausfällt, darf das nicht zu Lasten des Bürgers gehen. Primär kommt den Abwehrrechten ein Schutzzweck zu, der auch dann noch sinnvoll zu verfolgen ist, wenn die Verhaltenssteuerung fehlschlägt. Ein willensunfahiger Amtswalter mag zwar das primäre Abwehrrecht nicht beachten können, die gegen den Träger öffentlicher Gewalt gerichteten Sekundär- und Tertiäransprüche aber bleiben allemal sinnvoll. Die mit dem Absehen von einem Handlungswillen einhergehende potentielle Ausweitung der abwehrrechtlichen Verantwortlichkeit sollte um so leichter fallen, als sie im Ergebnis nur minimal ist: Forderte man einen Handlungswillen, so wäre man mit der Feststellung, dieser habe dem Amtswalter in einer bestimmten Situation gefehlt, nämlich keineswegs am Ende der Untersuchung. Zumindest wäre dann zu fragen, ob dem nicht eine noch bewußt vorgenommene Handlung vorausging, aus der sich eine staatliche Verantwortung ableiten ließe; im Beispielsfall Kimminichs müßte etwa untersucht werden, ob der Polizist die Waffe ungesichert bei sich trug und sich bloß deshalb der herabfallende Dachziegel so unglücklich auswirkte 33. Der konstruktive Unterschied ist nicht irrelevant. Je früher die abwehrrechtlich relevante Handlung 2 9 Medicus, in MünchKomm BGB, § 1004 Rdnr 12; Palandt/Bassenge, BGB, § 1004 Rdnr 16; Pikart, in BGB-RGRK, § 1004 Rdnr 58 f.; Soergel/Mühl, BGB, § 1004 Rdnr 87.
Allgemeine Ansicht, Palandt/Bassenge, BGB, § 1004 Rdnr 6; Soergel/ 1004 Rdnr 105; Staudinger/Gursky, BGB, § 1004 Rdnr 36.
Mühl, BGB, §
3 1 Pikart, in BGB-RGRK, § 1004 Rdnr 59. Das ist zwar zweifelhaft, RGZ 109, 272, 276; Staudinger/Gursky, BGB, § 1004 Rdnr 91, kann hier aber dahinstehen. 3 2 3 3
Vgl. Pikart,
in BGB-RGRK, § 1004 Rdnr 59; Staudinger/Gursky,
BGB, § 1004 Rdnr 91.
Noch weitergehend wäre sogar zu diskutieren, ob nicht entsprechend den Grundgedanken der strafrechtlichen actio libera in causa (vgl. BGHSt 17, 259; 21, 381; Jescheck, Strafrecht, S. 401 ff.; Lange, in LK StGB, § 21 Rdnr 71 f.; Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, § 20 Rdnr 33 ff.; Rudolphi, in SK StGB, § 20 (Lfg. 1989) Rdnr 28 ff.) jedenfalls dann, wenn der Amtstrager den Ausfall der Steuerungsfahigkeit selbst zu verantworten hat, schon diese Verantwortlichkeit zur Fiktion des Handlungswillens hinreichen müßte.
. Der Tatbestand der Abwehrrechte
111
angesiedelt wird, desto länger wird die Kausalkette bis zum Erfolg und desto problematischer kann die Zurechnung werden, ganz egal nach welchen Kriterien diese vorzunehmen ist. Die richtige Lösung liegt in der Mitte der beiden Extreme. Auszugehen ist von der Überlegung, daß der Staat nur durch Menschen handeln kann und er diese so nehmen muß, wie sie sind, also auch einschließlich der Gefahr, daß sie unter Umständen die Fähigkeit zur Willenssteuerung verlieren. Auch der Bürger muß diese Gefahr als solche hinnehmen. Sollte aber dieser Fall eintreten, so darf die Last nicht dem Bürger verbleiben; vielmehr muß ihm dann wenigstens über die Sekundär- und Tertiäransprüche die Möglichkeit zuwachsen, die Folgen dieses Ausfalles auf den Staat abzuwälzen. Indessen, auch wenn man von einem HandlungsvW/few absieht, mindestens vorliegen muß ein auf den Staat zurückzuführendes Handeln. Aus diesem Grund ist ein Handeln unter vis absoluta nicht als grundrechtsrelevantes Handeln anzusehen; hier agiert nicht der Staat, sondern die die absolute Gewalt ausübende Person oder Naturgewalt. Der Lösung Kimminichs für seinen Beispielsfall ist daher zuzustimmen: ein herabfallender Dachziegel übt vis absoluta aus, so daß es an einem staatlichen Handeln fehlt. Dagegen ist relevantes staatliches Handeln anzunehmen, wenn der Amtswalter aufgrund von Bewußtseinsstörungen, Krankheit oder unkontrollierbaren Reflexen nicht willensgesteuert agiert, denn nur die Zurechnung solcher in der Person des Amtswalters begründeter Defizite der Handlungssteuerung vermag dem Schutzzweck der Grundrechte gerecht zu werden. Zur Entscheidung, ob der Betreffende dabei als Privater oder als Amtsträger handelte, kann nun freilich nicht mehr auf seine innere Einstellung abgehoben werden; die Formel ist dahingehend zu modifizieren, ob er in dem Moment, in dem die Steuerungsfähigkeit ausfiel, als Privater oder in Ausübung einer Amtstätigkeit handelte. b) Erfolgselement aa) Der Schutzbereich Ausgangspunkt eines jeden möglichen abwehrrechtlichen Schutzes ist der Schutzbereich des Abwehrrechts 34, auch Garantie-, Gewährleistungs- 35,
3 4 Vgl. dazu BVerfGE 73, 261, 270; Alcxy, Theorie, S. 273; Denninger, in AK, vor Art. 1 Rdnr 43; Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 11; Huber, Konkurrenzschutz, S. 175; Lerche, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 121 Rdnr 11 ff.; v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 ffl Rdnr 170 f.; v. Münch, in v.Munch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 48; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 229 ff.; Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit, S. 262 ff.; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 152 f. 3 5 Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 70; ders., JA 1986, 485.
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C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
Norm- 3 6 oder Geltungsbereich genannt. Der Schutzbereich eines Abwehrrechts beschreibt den geschützten Wirkungskreis 37, d.h. den Ausschnitt der Lebenswirklichkeit 38, innerhalb dessen ein Verhalten des Grundrechtsträgers sich als Teil der Freiheit darstellt 39, trennt also Grundrechtsgüter von nicht bzw. nicht abwehrrechtlich geschützten Interessen ab 4 0 . Nur wenn das, worin sich der Grundrechtsträger bedroht oder beeinträchtigt sieht, in den Schutzbereich eines Abwehrrechts fallt, kommt überhaupt abwehrrechtlicher Schutz in Betracht 41. Wenig glücklich ist es, wenn der Schutzbereich selbst als Tatbe-
3 6 OVG Berlin, OVGE 15, 120, 128; Denninger, in AK, vor Art. 1 Rdnr 47; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 310. 3 7
OVG Lüneburg, DÖV 1983, 251, 253.
3 8
Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 310; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 40. Vgl. z.B. BVerfGE 76, 1, 41 f.
3 9 4 0
Zu den Grenzen und Schranken des Schutzbereiches s. eingehend unten H I I 3.
4 1
Eine bedenkliche Relativierung der Freiheit findet sich im Anschluß an BVerwGE 54, 211, 221 bei Erichsen, Jura 1987, 369; Krebs, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 19 Rdnr 60; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 8 Rdnr 13, sowie besonders deutlich bei Scherzberg, Grundrechtsschutz, S. 151: damit "nicht jede subjektiv empfundene Einbuße in den Grundrechtsschutz einbezogen" werde, verbleibe dem Gesetzgeber die Entscheidung über die "interessengemäße Grundrechtsausübung"; der Gesetzgeber habe "die Rechtssphäre des Bürgers bei der Grundrechtswahrnehmung auszugestalten und eine Bestimmung darüber zu treffen, welche grundrechtsbezogenen Interessen an staatlichem Verhalten als schutzwürdig anzusehen und zu subjektiven Rechten des Bürgers auszugestalten sind. Eine generelle Gewährung verfassungsunmittelbaren Interessenschutzes läßt sich den Grundrechten deshalb nicht entnehmen." Demgegenüber ist festzustellen, daß die Entscheidung, welche Interessenbetätigung als abwehrrechtlich geschützte Freiheitsausübung anzusehen ist, die Rechtsfrage der Interpretation des Schutzbereichs der Abwehrrechte ausmacht (vgl. BVerwGE 22, 286, 288), welche letztverbindlich dem BVerfG obliegt, und - mit partieller Ausnahme des gemäß Art. 14 I 2 GG normgeprägten Eigentumsrechts (Lerche, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 121 Rdnr 2) - nicht dem Gesetzgeber zur "Entscheidung" zugewiesen ist, da dieser sonst die effektive Abwehrrechtsbindung unterlaufen könnte. Wie hier BVerwGE 22, 286, 288; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 51, 53; Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 140 f.; Lerche, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 121 Rdnr 3; Scholz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 12 (Lfg. 1981) Rdnr 24 f. Die selbstverständliche Befugnis (und Pflicht) des Gesetzgebers zur Ausgestaltung auch abwehrrechtsrelevanter Rechtsinstitute bedeutet nicht, daß er bestimmen dürfte, welche Interessen abwehrrechtlich geschützt sein sollen; umgekehrt ist er vielmehr bei der Erfüllung dieser Aufgabe durch die Festlegungen der Schutzbereiche gebunden und muß diese Vorentscheidung bei der Ausgestaltung der einfachen Gesetze beachten, damit sie den abwehrrechtlich geschützten Interessen gerecht werden. Soweit Lerche, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 121 Rdnr 15 die begrifflichen Inhalte der Schutzbereiche "schon durch die vom Grundgesetz vorgefundene Rechtsordnung, in unmittelbarem Verbund mit den 'in der gesellschaftlichen Wirklichkeit herrschenden Vorstellungen', näher definiert" sieht, so ist dem zu entgegnen, daß die etwaige Anknüpfung des Grundgesetzes an vorgefundene Rechtsinstitute nicht eine einfachgesetzliche Definitionsmacht anerkennt, sondern vielmehr nur bezeugt, daß nach Auffassung des Verfassungsgebers die fragliche Rechtslage zum damaligen Zeitpunkt den "in der gesellschaftlichen Wirklichkeit herrschenden Vorstellungen" entsprach. Außer bei Art. 14 GG wollte der Verfassungsgeber damit aber nicht etwa eine dynamische Verweisung auf das einfache Gesetz zur Definition der Schutzbereiche der Abwehrrechte aussprechen. Daß es dem einfachen Gesetzgeber unbenommen ist, über den Gehalt der Abwehrrechte hinaus weitere subjektive Rechte einzuräumen, versteht sich von selbst. Sofern dann bereits diese Rechte die Freiheit schützen, bedarf es keines Rückgriffs auf die Abwehrrechte (dahin wohl
III. Der Tatbestand der Abwehrrechte
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stand des Abwehrrechts bezeichnet wird 4 2 . Rechtsfolgen lassen sich nämlich sinnvoll nicht an den Schutzbereich, sondern nur an eine Beeinträchtigung der qua Schutzbereich definierten und geschützten Freiheit eines Grundrechtsträgers knüpfen 43. bb) Die Schutzbereichsbeeinträchtigung Den Abwehrrechten geht es um den Schutz der Freiheit als Grundrechtsgut. Sie sollen Beeinträchtigungen44 der Ist-Freiheit entgegensteuern, bzw. falls dies nicht erfolgreich ist, durch die Auslösung von Rechtfertigungszwängen und erforderlichenfalls Sekundär- und Tertiäransprüchen einen dem Grundgesetz gemäßen Freiheitszustand gewährleisten. Die Grundrechtsgutsbeeinträchtigung als notwendige Voraussetzung für die Auslösimg dieser Folgen ist damit notwendiges Tatbestandselement der Abwehrrechte; in der Tat stellt sie den für Abwehrrechte notwendigen tatbestandsrelevanten Erfolg dar. Da - wie vorstehend gezeigt - Grundrechtsgut und Schutzbereich des Abwehrrechts in der Weise korrelieren, daß der Schutzbereich Grundrechtsgüter von sonstigen abwehrrechtlich nicht geschützten Interessen abgrenzt, kann man statt Grundrechtsgutsbeeinträchtigung auch Schutzbereichsbeeinträchtigung sagen. Beide Begriffe sind gleichwertig 45, nur sieht der erste die Beeinträchtigung vom Grundrechtsgut, der zweite vom Grundrecht her. "SchutzbereichsbeeinträchtigungM betont damit, daß die Rechtsanwendung von der Norm ausgehen muß und mit deren Auslegung beginnt. Ob ein Grundrechtsgut beeinträchtigt ist, kann erst am Ende der Betrachtung stehen, nachdem der Schutzbereich ermittelt und dessen Beeinträchtigung festgestellt wurde. Wohlgemerkt, eine solche Beeinträchtigung ist zwar notwendige, aber keineswegs hinreichende Voraussetzung für einen grundrechtlich gewährleisteten Abwehranspruch, weil die Beeinträchtigung des Schutzbereichs rechtmäßig sein kann, so daß ein im Einzelfall aktueller oder effektiver Schutz nicht beSchmidt-Aßmann, in Maunz/Dürig, GG, Art. 19 IV (Lfg. 1985) Rdnr 127; insofern zutreffend Krebs, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 19 Rdnr 60). Der etwaige Anwendungsworrang einfachen Rechts bedeutet aber keinesfalls einen Definitionsvorrang dahin, daß auf diese Weise der einfache Gesetzgeber über den Inhalt der Abwehrrechte bestimmen könnte. 4 2 So etwa Bleckmann, Grundrechte, S. 328; Huber, Konkurrenzschutz, S. 175 f.; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 37; v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 m Rdnr 170 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 229; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 1197. Alexy, Theorie, S. 276 gebraucht hier die Begriffe Schutzbereich im engeren und im weiteren Sinn. Sein "Schutzbereich im engeren Sinne" deckt sich mit dem hier gebrauchten Schutzbereichsbegriff, sein "Schutzbereich im weiteren Sinne" soll mit dem Tatbestand inhaltlich kongruent sein. 4 3
Insoweit zutreffend Bleckmann, Grundrechte, S. 325.
4 4
Die Frage, ob jede nachteilige Änderung des Ist-Zustands als abwehrrechtlich relevant betrachtet werden kann oder ob ein bestimmtes Ausmaß an nachteiliger Änderung erforderlich ist, soll zunächst offenbleiben. S. dazu unten E E 7. 4 5 Ist ein Grundrechtsgut beeinträchtigt, so notwendig auch der Schutzbereich des betreffenden Abwehrrechts, und umgekehrt.
114
C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
steht 46 . Logisch vorrangige 47 Frage jeder Abwehrrechtsanwendung ist, ob ein Verhalten eines Grundrechtsträgers überhaupt als Freiheitsausübung vom Schutzbereich eines Abwehrrechts erfaßt wird. Nur wenn das der Fall ist, stellt sich als nächstes die Frage 48 , ob die inkriminierte Maßnahme den Schutzbereich beeinträchtigt 49. Und nur wenn das der Fall ist, stellt sich die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Maßnahme50. c) Kausalität und Zurechnung Wie die Verknüpfimg zwischen Handlung und Erfolg, d.h. die Zurechnung 51 im einzelnen zu bestimmen ist, bleibt der späteren Untersuchung vorbehalten52. Mindestvoraussetzung für jede wie auch immer definierte Zurechnung ist jedoch die Kausalität zwischen Handlung und Erfolg: die Handlung muß Ursache des Erfolges, der Erfolg Wirkung der Handlung sein. Das ist in allen Rechtsgebieten, soweit es um Erfolgstatbestände geht, anerkannt 53 und gilt auch für den Bereich der Abwehrrechte 54. Sähe man nämlich vom Kausalitätserfordernis ab, so könnte man gleich ganz auf das Handlungselement verzichten und schlicht auf den Beeinträchtigungs"erfolg" abstellen, weil dann ja jede beliebige Handlung neben dem Ereignis den objektiven Tatbestand erfüllte.
4 6 Bleckmann, Grundrechte, S. 330; Denninger, in AK, vor Art. 1 Rdnr 43; Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 11; Lübbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 26; v.Münch, in v.Munch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 48; Schwabe, Gmndrechtsdogmatik, S. 152. 4 7
v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 48.
4 8
Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 310.
4 9 Dabei soll freilich nicht verkannt werden, daß die Fragen nach Bestimmung bzw. Beeinträchtigung des Schutzbereichs nicht selten ineinanderfließen. 5 0 Zu diesem Prüfungsschema Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 38; Jarass, N V w Z 1984, 476; Lübbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 25 f.; Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit, S. 270 f. 5 1 Von dieser Zurechnung des Erfolges ist natürlich das Problem, wann eine menschliche Handlung dem Staat als staatliche Handlung angerechnet werden kann, streng zu unterscheiden. Unscharf daher Huber, Konkurrenzschutz, S. 230 mit Fn. 293. Zur Handlungsanrechnung s. oben C m 1 a bb (1). 5 2
S. unten D I.
5 3
Zum Strafrecht vgl. nur RGSt 1, 373, 374; 77, 17, 18; BGHSt 1, 332; 31, 96, 98; 33, 61, 63; Jescheck, Strafrecht, S. 249; Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rdnr 71 ff.; Rudolphi, in SK StGB, vor § 1 (Lfg. 1990) Rdnr 38 ff., jeweils m.w.N. Zum Zivilrecht vgl. BGHZ 2, 138, 141; Grunsky, in MünchKomm BGB, vor § 249 Rdnr 36; Palandt/Heinrichs, BGB, vor § 249 Rdnr 54; Soergel/Mertens, BGB, vor § 249 Rdnr 116. Zum Polizeirecht vgl. z.B. Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 311; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr 88. 5 4 BVerfGE 66, 39, 60; Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 380; Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 278; Gassner, DÖV 1981, 616; Kreßel, Haftungsrecht, S. 85; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 26 Rdnr 16; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 274; Ramsauer, VerwArch 1981, 99; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 288; Sodan, Kollegiale Funktionsträger, S. 518 f.; vgl. ferner BVerwG, N V w Z 1991, 980, 981.
. Der Tatbestand der Abwehrrechte
115
Naher zu konkretisieren ist allerdings die Bedeutung von "Kausalität". Ursache im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn ist die Gesamtheit aller notwendigen und hinreichenden Bedingungen, bei deren Vorliegen die Wirkung jeweils eintritt. Versteht man "Ursache" jedoch nicht nur modal, sondern (auch) temporal, so wird deutlich, daß Handlung und Erfolg für gewöhnlich durch eine Kausalkette (d.h. eine Kette von Ursachen und Wirkungen) verbunden sind, die eine Reihe jeweils in der Außenwelt zeitlich nachfolgender Veränderungen darstellt. Aus der Handlungsperspektive ist die Kausalkette prospektiv als in die Zukunft gerichtete Wirkungskette zu sehen: Die Handlung ist (erste) Ursache für eine (erste) Wirkung, diese Wirkung ist ihrerseits (zweite) Ursache für eine (zweite) Wirkung, diese wiederum (dritte) Ursache für eine (dritte) Wirkung, und immer so fort, bis als letzte dieser Wirkungen der tatbestandsrelevante Erfolg eintritt. Aus der Erfolgsperspektive ist die Kausalkette retrospektiv eine in die Vergangenheit gerichtete Ursachenkette: Der Erfolg hat eine Ursache, doch insofern diese ihrerseits Wirkung ist, hat sie eine Ursache, auch diese hat eine Ursache, und so weiter, bis als erste Ursache die fragliche Handlung steht. Aus welcher Perspektive man die Kausalkette auch betrachtet: sämtliche dieser Ursachen und Wirkungen sind als ihre infinitesimal kleinen Glieder aus naturwissenschaftlicher Sicht gleichwertig. Aus juristisch wertender Sicht ragen indes eine Form von Ursachen und eine Art der Wirkung heraus: die Handlungen als Ursachen und die Grundrechtsgutsbeeinträchtigung als Wirkung. Alle Ursachen, die nicht Handlungen von Rechtssubjekten sind (also alle Veränderungen der imbelebten Materie 55 und der Pflanzenwelt sowie alles Tierverhalten 56), können daher aus der naturwissenschaftlichen Kausalkette ebenso eliminiert werden wie alle nicht tatbestandsrelevanten Wirkungen, so daß man eine juristische Kausalkette erhält, die allein aus Handlungen von Rechtssubjekten und dem tatbestandsrelevanten Erfolg besteht. Doch auch im Rahmen einer solchen nach rechtlichen Gesichtspunkten reduzierten Kausalkette sind die verbleibenden einzelnen Handlungen als Teilursachen des Erfolges gleich notwendig und gleichwertig ("äquivalent")57. Die Äquivalenztheorie betrachtet daher als kausal jede Handlung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele, die also conditio sine qua non für den Erfolg ist 5 8 . Die Formel der Äquivalenztheorie ist jedoch
5 5 Kirchhof, Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 22 ff. spricht von "real-mechanischen Wirkungsfolgen". 5 6 5 7
Etwa die Möwen und Krähen im bekannten Mülldeponiefall, BGH, NJW 1980, 770.
Vgl. dazu Jescheck , Strafrecht, S. 249; Palandt/Heinrichs, BGB, vor § 249 Rdnr 57; Rudolpfü , in SK StGB, vor § 1 (Lfg. 1990) Rdnr 39 f. 5 8 Ihr folgen Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 278; Huber, Konkurrenzschutz, S. 230.
116
C. Funktion und S t k t u r des Eingriffs in Abwehrrechte
zwei Einwanden ausgesetzt59: Erstens fuhrt der Vergleich des wirklichen Geschehens mit dem hypothetischen in die Irre, wenn eine Reserveursache bereitstand, die in concreto zwar nicht wirksam wurde, aber eingreift, sobald man die fragliche Handlung hinwegdenkt, und genau denselben Erfolg herbeifuhrt. Vor allem aber setzt die conditio-sine-qua-non-Formel voraus, daß die gesetzmäßigen Beziehungen zwischen der fraglichen Handlung und der Wirkung bereits bekannt sind. Denn sonst ließe sich die Frage, was passiert, wenn die Handlung hinweggedacht wird, gar nicht beantworten. Daher bringt die Äquivalenztheorie, sofern man sie als selbständige Kausalitätsformel versteht, und nicht als griffige "Ausfilterungsformer 60, keinerlei Gewinn. Vorzuziehen ist demgegenüber, mit der Formel von der gesetzmäßigen Bedingung darauf abzustellen, ob sich an eine Handlung zeitlich nachfolgende Veränderungen in der Außenwelt angeschlossen haben, die mit der Handlung gesetzmäßig verbunden waren und sich deshalb als Erfolg darstellen 61. Auch diese Formel beantwortet natürlich nicht eigentlich die Kausalitätsfrage. Sie lenkt aber den Blick auf die entscheidungsrelevanten Punkte, indem sie die Bedeutung der Feststellung naturgesetzlicher Kausalität hervorhebt 62. Naturgesetzliche Kausalität darf dabei nicht als naturgesetzliche Zwangsläufigkeit mißverstanden werden. Es gibt viele Fälle, in denen auch die Naturwissenschaften ex ante allenfalls Aussagen über die Wahrscheinlichkeit bestimmter Ereignisse machen kann 63 ; die Vorhersage des konkreten nächsten Ergebnisses ist dann unmöglich, was freilich nicht bedeutet, daß es, nachdem es eingetreten ist, naturwissenschaftlich nicht erfaßt werden könnte. Insbesondere kann dort, wo menschliche Entscheidungen im Kausalverlauf wirksam werden, nicht naturwissenschaftlich faßbar 64 von einer "Zwangsläufigkeit"
5 9 Engisch, Kausalität, S. 16; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 522 f.; Jakobs, Strafrecht AT, Rdnr 7/9 ff.; Jescheck, Strafrecht, S. 253 f.; ders., in L K StGB, vor § 13 Rdnr 50; Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rdnr 74; Roxin, Strafrecht AT, § 11 Rdnr 11 ff.; Rudolphi, in SK StGB, vor § 1 (Lfg. 1990) Rdnr 40. 6 0
Frisch, Tatbestandsmaßiges Verhalten, S. 522.
6 1
BVerfGE 66, 39, 61 f.; Engisch, Kausalität, S. 21; sowie die vorstehend Genannten. Ähnlich Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 523. 6 2 6 3
Roxin, Strafrecht AT, § 11 Rdnr 14.
Vgl. Roxin, Strafrecht AT, § 11 Rdnr 3. Auch Anhänger strikter Determinismuslehren können menschliche Entscheidungen nicht prognostizieren und damit ihre Ansicht empirisch unter Beweis stellen, sondern lediglich im nachhinein behaupten, daß es so habe kommen müssen. Damit ist ihre Determinismushypothese weder empirisch verifizier- noch falsifizierbar, und provoziert so erhebliche wissenschaftstheoretische Bedenken. Hingegen ist der Gedanke von (freilich nicht unbegrenzter) Freiheit menschlichen Entscheiden immerhin eine Realität des menschlichen Bewußtseins, und hat immerhin den empirischen Befund für sich, daß Entscheidungsprognosen unmöglich sind. Auch dies stellt zwar letztlich keinen zwingenden Beweis dar, rechtfertigt aber jedenfalls hinreichend, bei normativen Setzungen zur Regelung menschlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens vom Bestehen von Entscheidungsfreiheit auszugehen. Vgl. hierzu Jescheck, Strafrecht AT, S. 370; Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rdnr 110. 6 4
. Der Tatbestand der Abwehrrechte
117
solcher Entscheidungen gesprochen werden, obschon gleichwohl Kausalität besteht. Die Feststellung der gesetzmäßigen Bedingimg erfolgt immer retrospektiv, also ex post nach Eintritt des Erfolges. So fragt ja auch die Äquivalenzformel nach dem Ergebnis eines hypothetischen Eliminationsvorganges, der sich auf vergangene Geschehnisse bezieht: Wäre derselbe (realiter eingetretene!) Erfolg eingetreten, wenn die fragliche Handlung unterblieben wäre? Nicht wird gefragt: Was wird geschehen, wenn diese Handlung vorgenommen wird oder unterbleibt? Eine solche Frage wäre streng genommen auch gar nicht zu beantworten, da prospektivisch zumeist nur eine Aussage über das mögliche Ergebnis und nicht über das sichere Ergebnis zu machen ist, zumal bei einer Beurteilung ex ante ein auf überholenden Bedingungen beruhender Erfolg nicht zu eliminieren ist 6 5 . Wenn der Kausalverlauf in einer konkreten Begebenheit feststeht, kommt es deshalb nicht auf seine Wiederholbarkeit in exakt gleicher Weise an. Von diesem Verständnis der Kausalität soll nachfolgend als Mindestvoraussetzung der Zurechenbarkeit ausgegangen werden 66 . Mindestvoraussetzung deswegen, weil diese Formel außerordentlich weit reicht und viele Ereignisse als Ursache mit einbezieht, die bei rechtlich wertender Betrachtung schwerlich zuzurechnen sein können67; insofern gilt für die Abwehrrechte nichts anderes als in sonstigen Rechtsgebieten, wo durchweg anerkannt ist, daß nicht alles, was kausal ist 6 8 , auch zugerechnet werden kann, sondern daß Kausalität eine zwar notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung der Erfolgszurechnung ist69» 7 0 . Die Zurechnung darf damit gerade nicht außer- oder vornormativ im Sinne etwa einer naturwissenschaftlichen Kausalität verstanden werden 71 . Natürlich 6 5
Jakobs , Strafrecht AT, Rdnr 7/13.
6 6
Vgl. BVerfGE 66, 39, 62, worin die "erfahrungsgesetzliche Verbindung" von der weiteren Frage der Zurechenbarkeit unterschieden wird. 6 7 Vgl. Eckhoff, Der Gnindrechtseingriff, S. 271; Gallwas , Faktische Beeinträchtigungen, S. 21 f.; Huber , Konkurrenzschutz, S. 230 f.; Kirchhof, Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 94, 191 f.; Kreßel, Haftungsrecht, S. 85 f.; Olivet, N V w Z 1986, 434; Ramsauer, Die faktischen Beeinträchtigungen, S. 54 f.; A. Roth , Drittbetroffenheit, S. 161 f.; Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 223. 6 8 Was zu tun ist, wenn das (naturwissenschaftliche) Wissen nicht ausreicht, die Gesetzmäßigkeit der Wirkung positiv festzustellen bzw. sicher zu verneinen, es also zu einem naturwissenschaftlichen non liquet kommt, ist an anderer Stelle zu behandeln. S. unten D 1 4 a dd. 6 9
Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 524 f.
Man stelle sich nur den krassen Fall vor, daß ein Verwarnungsgeld wegen Falschparkens den Fahrzeughalter so erbittert, daß er Selbstmord begeht, oder ihn so in Rage bringt, daß er Amok läuft. Kausalität zwischen Verwarnungsgeld und seinem bzw. dem Tod der Opfer ist zweifellos gegeben, aber daß dieser Erfolg der Straßenverkehrsbehörde wertungsmäßig nicht zuzurechnen sein kann, ist evident. Das Beispiel ist zur Verdeutlichung bewußt kraß gewählt, doch leider kommen solche und ähnliche "Kurzschlußhandlungen" durchaus vor. 7 1 Vgl. Jescheck , Strafrecht, S. 250; Mayer-Maly , Rechtswissenschaft, S. 201; Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 223.
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C. Funktion und Struktur des Eingriffs in Abwehrrechte
stünde es dem Normgeber frei, eine solche Kausalität zum Zweck der Zurechnung heranzuziehen, doch diese Heranziehung stellte eine normative Entscheidung dar; und ob diese getroffen wurde, ist nicht außernormativ zu beantworten, sondern nur aus dem "normativen Sinn des Gesetzes"72 selbst. Immerhin besteht ein Unterschied: Die Frage, an welche Handlung und an welchen Erfolg angeknüpft werden soll, ist eine normative; Handlung und Erfolg sind als objektive Vorgänge gleichwohl Gegenstand der Anschauung. Die Zurechnung dagegen ist rein normativ; sie kann (anders als die naturwissenschaftliche Kausalität) weder Gegenstand der Anschauimg noch einer auf Anschauung aufbauenden Überlegung sein, sondern nur der normativen Setzung und Wertung 73 .
2. Der subjektive Tatbestand der Abwehrrechte Wenn ein Träger hoheitlicher Gewalt eine Handlung plant oder vornimmt, stellt sich nicht nur - objektiv - die Frage, ob und gegebenenfalls wie diese Handlung zu einer Beeinträchtigimg eines Grundrechtsgutes führt und ob ein solcher Erfolg zugerechnet werden soll. Daneben tritt die Frage der Relevanz seiner Haltung, d.h. der subjektiven Einstellung dieses Hoheitsträgers gegenüber diesem (etwaigen) Erfolg. Um überhaupt eine begründbare Aussage über Relevanz oder Irrelevanz der Haltung sowie über die etwaige Form der Berücksichtigung einer solchen Haltung machen zu können, ist es nötig, sich Klarheit über die denkbaren Bestandteile eines etwaigen subjektiven Abwehrrechtstatbestandes zu verschaffen. Das soll - ohne seine Relevanz zu präjudizieren - Gegenstand dieses Kapitels sein. Zunächst könnte es auch bei einem etwaigen subjektiven Abwehrrechtstatbestand wiederum nur darum gehen, die Haltung von Amtswaltern dem Staat als seine Haltung anzurechnen74. Erforderlich hierzu ist dabei jedenfalls die amtliche und nicht nur rein private Haltung eines Amtswalters 75, also die subjektive Einstellung gegenüber dem Erfolg gerade in seiner Eigenschaft als Amtswalter. Problematisch ist allerdings, ob es auf einen beliebigen Amtswalter ankommt oder auf denjenigen, der handelt. Mit anderen Worten: wird ein Handeln in einer bestimmten Haltung dem Staat angerechnet oder ein Handeln und eine Haltung? In Anlehnung an die zu § 48 Abs. 4 VwVfG überwiegend 7 2
Lorenz, Methodenlehre, S. 318.
7 3
Vgl. Deutsch, Haftungsrecht I, S. 148; Eckhoff Der Gnindrechtseingriff, S. 270 f.; Engisch, Kausalität, S. 44; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 50 f.; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 24. 7 4
-JC / J
Vgl. Pieroth, N V w Z 1984, 685.
Vgl. Kopp, VwVfG, § 48 Rdnr 99a zu dem vergleichbaren Problem der Kenntnis im Rahmen des § 48 I V VwVfG. Aktenkundigkeit genügt stets, um die Kenntnis des Trägers öffentlicher Gewalt zu begründen, OVG Berlin, DVB1. 1983, 354, 355; Pieroth, N V w Z 1984, 685.
III. Der Tatbestand der Abwehrrechte
119
vertretene Ansicht76 könnte man sagen, es komme auf die Haltung speziell des handelnden Amtswalters an, weil nur dessen Haltung seinem Handeln den Sinn gibt. Eine solche Sicht wäre hier nicht überzeugend. In § 48 VwVfG geht es um die Rücknahme von Verwaltungsakten. Daher hat es, trotz mancher Bedenken, einiges für sich, auf die Kenntnis gerade des für die Rücknahmeentscheidung zuständigen Amtswalters abzustellen. Vorliegend geht es aber nicht um die Vornahme einer speziellen Handlung mit ihren besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen, sondern um ein Verhalten, das zu einer Beeinträchtigung von Grundrechtsgütern führt. Soweit der subjektive Tatbestand von Bedeutung ist, kann der abwehrrechtliche Schutz nicht davon abhängig sein, wie die - aus der Sicht des Bürgers zufällige - interne Zuständigkeitsverteilung geregelt ist 7 7 . Die Haltung ist dem Träger öffentlicher Gewalt genauso anzurechnen wie die Handlungen seiner Amtswalter 78; sie ist folglich als die Haltung des Trägers öffentlicher Gewalt anzusehen. Innerhalb des Trägers öffentlicher Gewalt kommt es auf eine Individualisierung der Amtswalter nicht an 7 9 , denn dem Bürger stehen nicht je selbständig agierende Amtswalter gegenüber, sondern ein Träger öffentlicher Gewalt, der als ein ganzheitliches Rechtssubjekt nach außen in Erscheinung tritt 80 , ohne daß den Bürger interne Beziehungen zu interessieren brauchten. Das konkrete Wissen und Bewußtsein einzelner Amtswalter ist daher nicht maßgebend81. Bevor über die etwaige Relevanz eines subjektiven Tatbestandes für Abwehrrechte entschieden werden kann, ist eine Analyse vorzunehmen, wie ein solcher subjektiver Abwehrrechtstatbestand gestaltet sein könnte. Phänomenologisch kommen zwei Komponenten in Betracht, eine kognitive und eine voluntative82.
7 6 Vgl. BVerwGE (GS) 70, 356, 364; BVerwG, N V w Z 1986, 119; Erichsen, in Erichsen/ Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 16 Rdnr 29; Klappstein, in Knack, VwVfG, § 48 Anm 5.3.1; Kopp, VwVfG, § 48 Rdnr 99a; Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 48 Rdnr 155; a.A. OVG Berlin, DVB1. 1983, 354, 355; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rdnr 35; Pieroth, N V w Z 1984, 685; Schoch, N V w Z 1985, 885; diese Problematik ist hier nicht zu entscheiden. 7 7 7 8 7 9
Vgl. OVG Berlin, DVB1. 1983, 354, 356. Vgl. Pieroth, N V w Z 1984, 685. Vgl. Papier, in Maunz/Dürig, GG, Art. 34 (Lfg. 1987) Rdnr 105 zur Parallele bei Art. 34
GG. 8 0 Vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rdnr 35; Pieroth, N V w Z 1984, 685; Schoch, N V w Z 1985, 885. 8 1 Vgl. OVG Berlin, DVB1. 1983, 354, 355 f.; ferner Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 207 in bezug auf Verwaltungsakte.
B
Komplizierter gestaltet sich die Kausalitätsfrage in dreipoligen Verhältnissen, wenn nicht nur der Träger öffentlicher Gewalt und der die Beeinträchtigung seiner Grundrechtsgüter rügende Bürger, sondern noch ein anderer beteiligt ist. Eine Kausalkette kann nämlich so beschaffen sein, daß eine Handlung die Wirkung hat, die Willensbildung einer Person derart zu beeinflussen, daß ihre Willensentschließung in eine Handlung mündet, als deren Wirkung der fragliche Erfolg eintritt ("psychische Kausalität")3. Die Handlung dieser die Kausalität vermittelnden Person (Kausalmittler A) ist damit Wirkung der Ausgangshandlung und Ursache des Enderfolges zugleich. Aus der Sicht der Ausgangshandlung gibt es dann - nach Eliminierung der juristisch unbedeutenden Kettenglieder - zwei relevante Wirkungen: die in der Kausalkette als nächstes folgende wirkungsnächste Handlung und der wirkungsfernere Enderfolg (die Fernwirkung). Dem entsprechen zwei Personen: der Kausalmittler als der Wirkungsnächste und die Person, bei welcher der Enderfolg eintritt, als der Wirkungsfernere. Diese Begrifflichkeit sieht die Kausalkette aus der Perspektive der Ausgangshandlung. Betrachtet man sie vom Enderfolg aus, so stellt sich der Kausalmittler als Ursachennächster dar, und das die Ausgangshandlung vornehmende Rechtssubjekt als Ursachenfernerer. Der Wirkungsnächste einer hoheitlichen Maßnahme ist als deren Adressat anzusehen. Veranlaßt die staatliche Maßnahme den Adressaten, der dadurch zum Kausalmittler wird, seinerseits zu einer Handlung, die als wirkungsferneren Enderfolg eine Grundrechtsgutsbeeinträchtigung des betroffenen Bürgers bewirkt, so liegt eine sequentielle Beeinträchtigungskonstellation vor, die wie folgt zu skizzieren ist: S
>
K
>
B
Solche sequentiellen Wirkmechanismen werden häufig als Fälle der Drittbeeinträchtigung bezeichnet5, da hierin nicht der Adressat der hoheitlichen
3 Jakobs, Strafrecht AT, Rdnr 7/27; Soergel/Mertens, Medicus, BGB, § 249 Rdnr 61.
BGB, vor § 249 Rdnr 137; Staudinger/
4 Kirchhof \ Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 46 spricht vom "Einwirkungsmittler". Vorliegend wird der Begriff des Kausalmittlers bevoizugt, weil dieser nicht nur die Wirkung, sondern auch die Ursache vermittelt. 5 Ramsauer, Die faktischen Beeinträchtigungen, S. 39; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 24. Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 13 f. nennt diese Gruppe die Reflex-Nebenwirkungen; vgl. auch Kirchhof, Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 57; Schwabe, Grund-
21 Roth
300
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
Maßnahme selbst, sondern ein aus der Sicht des Staates "Dritter" als Nichtadressat die Grundrechtsgutsbeeinträchtigung geltend macht6. Die Bezeichnung als "Dritter" ist jedoch nur in bezug auf den Wirkmechanismus sinnvoll; prozessual ist jener "Dritte" hingegen keineswegs Dritter, sondern Hauptbeteiligter, soweit er die Verletzung seiner Abwehrrechte rügt. Um möglichen Mißverständnissen vorzubeugen und der plastischen Deutlichkeit halber soll daher in dieser Arbeit der Begriff der sequentiellen Beeinträchtigung Verwendung finden. Die sequentielle Wirkungskette kann durch Einschaltung weiterer Kausalmittler erweitert werden: S
>
Kj
>
K
>
2
B
Dreipolige Verhältnisse brauchen jedoch nicht sequentielle Wirkmechanismen aufzuweisen. Möglich ist, daß der sich beeinträchtigt sehende Bürger (B) die Beeinträchtigung seiner Grundrechtsgüter weder allein auf den Staat noch auf das Handeln eines anderen Privaten zurückzuführen vermag, sondern vielmehr in ihr die kumulative Wirkung sowohl einer Handlung des Staates (S) als auch des anderen (A) erkennt. Der Staat und der andere führen hier die Beeinträchtigung zusammen herbei. Dabei mag der Dritte seinerseits von staatlicher Einwirkung frei sein, also unabhängig, isoliert vom Staat und nicht als Kausalmittler des Staates handeln. Bei einer solchen isoliert kumulativen Beeinträchtigungskonstellation gibt es aus der Sicht des beeinträchtigten B zwei gleichberechtigte Ursachennächste, nämlich den Staat S und den isoliert handelnden anderen A, aber eben keinen Kausalmittler und keinen Staat als Ursachenferneren: S
>
B
K
>
B
301
M
->
M;
->
M-
Diese Struktur läßt sich in die Verhältnisse S
>
Mj
und
S
>
M2
und
S
>
M3
auflösen, die je für sich gelten und nur aus gesetzes- oder verwaltungstechnischen Gründen in einer Maßnahme zusammengefaßt sind (z.B. als Allgemeinverfügung gemäß § 35 S. 2 VwVfG). Läßt sich ein Wirkmechanismus auf lauter zweipolige Bürger-Staat-Verhältnisse reduzieren, so gelten ohne weiteres die allgemeinen Regeln7.
2. Die Zurechenbarkeit sequentieller Fernwirkungen a) Problemstellung Sowohl in den sequentiellen als auch den nicht isoliert kumulativen Wirkmechanismen wird der grundrechtsgutsbeeinträchtigende Enderfolg (jedenfalls auch) über den Kausalmittler vermittelt. Jede staatliche Einwirkung auf den Kausalmittler, wenn sie nur überhaupt den Anstoß dazu gibt, daß dieser den Wirkungsferneren beeinträchtigende Handlungen vornimmt, ist hiermit kausal für den Enderfolg 8. Das heißt aber nicht notwendig, daß der Enderfolg stets zuzurechnen wäre. Immerhin liegt in solchen Situationen die ursachennächste n So kann jedes Vereinsmitglied ein Vereinsverbot als einen Eingriff in seine Vereinigungsfreiheit (Art. 9 I GG) anfechten, V G H Mannheim, NJW 1990, 61. Entgegen dem V G H Mannheim, ebd. und VB1BW 1985, 133, ist dabei allerdings unerheblich, ob auch der Verein selbst gegen das Vereinsverbot klagt, weil Art. 9 I GG das Recht auf Bestehen des Vereins sowohl dem Verein als auch den einzelnen Mitgliedern garantiert, BVerfGE 13, 174, 175; BVerfG, NJW 1990, 37, 38. Vgl. für Art. 4 GG auch BVerfGE 83, 341, 351 f. - Baha'i. 8 Vgl. Robbers, AfP 1990, 87; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 221 f. Nicht übeizeugend Kirchhof \ Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 193 f.
302
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
Handlung (auch) beim Kausalmittler, wahrend der Staat nur als Ursachenfernerer auf den Plan tritt. Wenngleich hier der Träger öffentlicher Gewalt dergestalt auf den Kausalmittler einwirkt, daß dieser zu der den Enderfolg verursachenden Handlung veranlaßt wird, kann er nicht für jedwede Fernwirkung verantwortlich sein, die ein Kausalmittler bewirkt. Eine solche umfassende staatliche Verantwortlichkeit vertrüge sich nicht mit dem Grundgedanken der gerade durch die Abwehrrechte zu schutzenden Freiheit, daß der Bürger originäre und eigentliche Verantwortung tragen (können) muß. Diese Freiheit ist auch in seiner Beziehung zu anderen Grundrechtsträgern ernst zu nehmen und darf nicht durch eine überlagernde staatliche Allverantwortlichkeit unterminiert werden. Der Grundrechtsträger, der für sich Freiheit einfordert, muß auch die Freiheit des anderen akzeptieren, und damit auch, daß der Staat nicht für alle und alles verantwortlich sein kann 9 . Andererseits wäre es unerträglich und inakzeptabel, den Staat nie für solche Fernwirkungen einstehen zu lassen, könnte er sich doch dann nur zu leicht durch ein bloßes Zwischenschieben privater Kausalmittler aus seiner abwehrrechtlichen Verantwortlichkeit stehlen. Daß die Abwehrrechte nicht auf den Schutz der Adressaten staatlicher Maßnahmen beschränkt sein können, sondern eben unter bestimmten Voraussetzungen auch die über eine sequentielle Wirkungskette beeinträchtigten Grundrechtsträger schützen müssen, ist deshalb zu Recht unbestritten10; die Abwehrrechte sind nicht auf einzelne Wirkmechanismen beschränkt. Der Kern des Problems besteht somit darin, wann eine durch einen ursachennächsten privaten 11 Kausalmittler verursachte Beeinträchtigung der Grundrechtsgüter des Wirkungsferneren dem ursachenferneren Staat zuzurechnen ist, wann also der Kausalmittler nicht nur in seiner privaten Kapazität einen anderen Bürger schädigt, sondern ihn als Mittelsperson des Staates beeinträchtigt. Mit anderen Worten: Wann ist der Staat für das Handeln des Privaten verantwortlich zu machen? Wann ist der Dritte nicht nur Kausalmittler, sondern Zurechnungsmittleft Das Problem der Verantwortlichkeit für das Handeln dritter Personen taucht in sämtlichen Teilrechtsgebieten auf, etwa dem Polizei-, Straf- und Zivilrecht. Zumeist wird die Zurechnung eines Erfolges bei Dazwischentreten eines Dritten unter dem Stichwort "Unterbrechung" des Kausal- oder Zurechnungs9
Ähnlich Kirchhof,
Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 28; Pietzcker,
JZ 1985,
210. 1 0 Vgl. Bischer, JuS 1993, 464; Dolde, Behördliche Warnungen, S. 11 f.; Ehlers, W D S t R L 51 [1992], 221; Gassner, DÖV 1981, 616; Philipp, Staatliche Verbraucherinformationen, S. 89 f.; Schmidt, NJW 1967, 1640 f. nebst Fn. 63. 1 1 Vorauszusetzen ist, daß der Dritte nicht Beliehener ist. Dann läge nämlich keine sequentielle Beeinträchtigung vor, sondern schlicht ein zweipoliges Staat-Bürger-Verhältnis, weshalb sich dann die Zurechnung nach den allgemeinen Regeln für solche Falle richtete.
I. Die Gefahrschaffngsgefahr
303
Zusammenhanges diskutiert 12. Man geht aus von dem ersten Handeln, verfolgt den Kausalverlauf vorwärts und fragt, ob die Zurechenbarkeit aufgrund des dazwischengeschobenen Handelns des Dritten (unter Wertungsgesichtspunkten) ausgeschlossen sei. Diese Betrachtungsweise resultiert aus einem auch die Zurechnimg aus einer Ex-ante-Sicht im Handlungszeitpunkt beurteilenden Ansatz. Wie gesehen13, ist die Zurechnung indes ex post zu beurteilen. Ausgangspunkt sollte daher der Erfolg sein, und von diesem ausgehend ist der Kausalverlauf rückwärts zu verfolgen, bis man entweder irgendwann bei der aus der Sicht des Erfolgszeitpunktes - in der Vergangenheit liegenden infrage kommenden Handlung anlangt oder aber diese verfehlt. Geht man so vor, so gelangt man vom Beeinträchtigungserfolg zunächst zum ursachennäheren Handeln des Dritten, und das Problem der Zurechenbarkeit des Erfolges ist dann keines der "Unterbrechung", sondern vielmehr der Konstituierung eines Zurechnungszusammenhanges14. Dieses rechtstheoretische Problem mag letztlich dahinstehen. Ob aus der Perspektive des staatlichen Handelns die Zurechnungskette zum Erfolg dank dem Dritten "unterbrochen" wird, oder ob sie aus der Perspektive des Erfolges über den Dritten zum staatlichen Handeln herzustellen ist - materiell geht es stets um die Rolle des Dritten für die Zurechnung. Das Zurechnungsproblem bei Mitwirkung von Dritten existiert in zwei Varianten: Erstens kann die dritte Person wegen Mindeijährigkeit, Geistesschwäche etc. für ihr Handeln unverantwortlich sein; zweitens mag es um eine voll verantwortliche Person gehen. Nim ist es sicherlich nicht möglich, dem Staat eine allgemeine Zusatzverantwortung 15 für nicht verantwortliche Personen aufzubürden. Für solche Personen haben die Personensorgeberechtigten und Aufsichtspflichtigen einzustehen, regelmäßig nicht der Staat qua abwehrrechtlicher Verantwortlichkeit. Andererseits können solche Personen nicht generell als Zurechnungsmittler ausgeschieden werden. Jedenfalls muß, wenn in einer bestimmten Situation der Staat sich sogar das Handeln eines voll verantwortlichen Erwachsenen zurechnen lassen müßte, dies erst recht für das eines nicht (voll) Verantwortlichen gelten. Der entscheidenden Frage, wann sich ein Träger öffentlicher Gewalt das Handeln eines voll verantwortlichen Kausalmitt-
1 2 BVerwG, N V w Z 1991, 980, 981; Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 377; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 222, 311. Zum Strafrecht vgl. etwa BGHSt 4, 360, 361; Jescheck, in LK StGB, vor § 13 Rdnr 53. Zum Zivilrecht vgl. BGHZ 106, 313, 316; Soergel/Mertens, BGB, vor § 249 Rdnr 140, 143; Staudinger/Medicus, BGB, § 249 Rdnr 61; Staudinger/Schäfer, BGB, vor § 823 Rdnr 100. 1 3 1 4
S. oben D I 4 a.
Zutreffend Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rdnr 77. Ähnlich Kirchhof Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 8. 1 5 Zur polizeirechtlichen Zusatzverantwortlichkeit für Mindeijährige, Geisteskranke sowie weisungsgebundene Verrichtungsgehilfen vgl. Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 308 f.; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr 94.
304
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
lers zurechnen lassen muß, ist nun nachzugehen. Ob dann eine Modifikation angezeigt ist, um auch die anderen Fälle zu erfassen, wird sich zeigen. b) Die Schaffung einer Gefahrschaffungsgefahr Der Lösung des Zurechnungsproblems in sequentiellen Konstellationen kann man sich nähern, wenn man die sequentielle Kausalkette weiter analysiert. Die Kette S
>
K
>
B
läßt sich in zwei Glieder aufspalten, die jeweils zweipolige Verhältnisse markieren: S
>
K
und
K
>
B
Die Bestimmung der Zurechnungskriterien im ersten dieser Kettenglieder hat davon auszugehen, daß hier keine grundsätzlich andere Interessenlage als im rein zweipoligen Bürger-Staat-Verhältnis gegeben ist. In beiden Fällen geht es um die Zurechnung der Willensentschließung des betroffenen Adressaten zu der psychischen Einflußnahme durch den Staat; die Willensentschließung bleibt zwar eine des Adressaten, aber soweit das Wollen nicht souverän ist, wird ihr Inhalt wertend dem Staat zugeschrieben. Zwar muß im zweipoligen Bürger-Staat-Verhältnis diese Entscheidung des betroffenen Bürgers auf den wunschwidrigen Nichtgebrauch seiner eigenen Freiheit gehen, weil sonst ein abwehrrechtliches Problem nicht entstünde. Die Frage der Freiheitsbeeinträchtigung ist jedoch ein Problem des Erfolgselementes des Abwehrrechtstatbestandes und nicht ein eigentliches Problem der Zurechnung. Für die Zurechenbarkeit der Willensentschließung des Adressaten als solcher spielt keine Rolle, ob sich diese in einem wunschwidrigen Nichtgebrauch der eigenen Freiheit oder um die Vornahme einer beliebigen anderen Handlung verwirklicht, die der Adressat nicht als eigene Freiheitsbeeinträchtigung erfährt. Deshalb funktioniert die Zurechnung unabhängig von den konkreten Auswirkungen der vom Staat hervorgerufenen Willensentschließung. Es ist daher konsequent, die Zurechnung im ersten dieser Kettenglieder, also im Verhältnis vom Staat zum Kausalmittler, nach denselben Grundsätzen vorzunehmen, die schon im rein zweipoligen Bürger-Staat-Verhältnis gelten. Mit anderen Worten, es ist zu fragen, ob der Staat eine abwehrrechtlich relevante Gefahr in Richtung auf die Willensentschließung und die daraus resultierende Handlung des Kausalmittlers geschaffen hat. Zu beachten ist bei der Bestimmung der abwehrrechtlichen Relevanz allerdings, daß der Kausalmittler nicht notwendig in seiner eigenen Freiheit beeinträchtigt sein muß; das hat Auswirkungen im Hin-
I. Die Gefahrschaffngsgefahr
305
blick auf das Vernünftigkeitsprinzip, und insofern kann eine Modifikation der abwehrrechtlichen Gefahrrelevanz notig sein. Hinsichtlich der Zurechnung im zweipoligen Glied der Bürger untereinander ist zu erwägen, ob auch diese nach der abwehrrechtlichen Zurechnungslehre erfolgen soll oder z.B. nach straf- bzw. zivilrechtlichen Kriterien 16 . Letztere sind indessen enger und schließen die Zurechnung in weiterem Umfang aus als die abwehrrechtliche Zurechnungstheorie. Der Staat darf aber keinen Vorteil in bezug auf die Zurechenbarkeit daraus ziehen, daß er nicht selbst als Ursachennächster handelt, sondern ein Privater als Kausalmittler eingeschoben ist. Die Zurechnung des bei dem wirkungsferneren B eintretenden Enderfolges zu der Handlung des Kausalmittlers K ist daher nach denselben Grundsätzen vorzunehmen, die gälten, handelte der Staat S selbst an der Stelle des Kausalmittlers. Wenn nun beide Zurechnungskettenglieder demselben Zurechnungskriterium der Gefahrschaffung folgen, so bietet sich dieses Kriterium auch zur Zurechnung der Fernwirkung an, wenn es gelingt, beide Kettenglieder sinnvoll zu verknüpfen. Ansatzpunkt für diese Verknüpfimg muß die Verbindungsstelle beider Glieder sein, also der Kausalmittler. In ihm muß sich eine durch den Träger öffentlicher Gewalt geschaffene Gefahr der Vornahme einer Handlung verwirklichen, die ihrerseits eine Gefahr für die Grundrechtsgüter des Wirkungsferneren schafft. Der Enderfolg ist dann als Fernwirkung anzusehen und dem Träger öffentlicher Gewalt zuzurechnen, wenn 1. die hoheitliche Ausgangshandlung eine wirkungsnähere Gefahr dahingehend geschaffen hat, daß sich die wirkungsnächste Person (der Kausalmittler) zur Schaffung einer Gefahr für die Grundrechtsgüter des Wirkungsferneren entschließen könnte, 2. sich diese wirkungsnächste Gefahr in der Schaffung der wirkungsferneren Gefahr realisierte, indem der Kausalmittler eine solche gefährdende Handlung vorgenommen hat, und wenn 3. sich dann diese wirkungsfernere Gefahr im Enderfolg verwirklicht 17 . Mit anderen Worten: Der Beeinträchtigungserfolg ist der Ausgangshandlung dann zuzurechnen, wenn diese die Gefahr der Gefahrschaffung durch den Kausalmittler schuf also eine Gefahrschaffungsgefahr darstellte, und sich dann die deshalb vom Kausalmittler geschaffene Gefahr im Enderfolg realisierte. Verwirklicht sich in der Handlung des Kausalmittlers eine solche Gefahrschaffungsgefahr, so ist der Kausalmittler als Zurechnungsmittler anzusehen 1 8 . 1 6
Zu diesen s. oben D 13.
1 7
Bei den nicht vollendeten Eingriffen sind die Realisierungsstufen sinngemäß zu modifi-
zieren. 1 8
Zu eng ist demgegenüber das von G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 82 vorgeschlagene Zurechnungskriterium, die staatliche Einwirkung auf den Kausalmittler müsse "konstitutiv" in dem Sinne sein, "daß allein seine Unterlassung die Beeinträchtigung durch den Dritten un-
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F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
Indes stellt sich auch in Ansehung der Schaffung der Gefahrschaffungsgefahr die Frage nach der abwehrrechtlichen Relevanz dieser Einwirkung auf den Kausalmittler. Im zweipoligen Verhältnis ist die Zurechenbarkeit trotz Kausalität dann zu verneinen, wenn es am Zwangsmäßigen fehlt, d.h. wenn sich der Betroffene vernünftig dem Beeinträchtigungserfolg entziehen kann; entsprechend ist auch hier zu fragen, inwieweit die Zurechnung an der Irrelevanz der Gefahrschaffungsgefahr scheitern kann. Um dieses Problem der abwehrrechtlichen Relevanz der Gefahrschaffungsgefahr wird es im folgenden gehen.
möglich macht". - Die logischen Konsequenzen dieser Forderung verstoßen gegen abwehrrechtliche Wertungen. Wenn nämlich "allein" die Unterlassung der Einwirkung auf den Kausalmittler (also schon diese Unterlassung und keine andere) die Beeinträchtigung "unmöglich" machen soll, so müßte diese Einwirkung sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingung des Enderfolges sein: notwendige Bedingung deshalb, weil ihr Unterlassen sonst überhaupt keine Auswirkung auf den Enderfolg hätte; hinreichende Bedingung deshalb, weil ja das Unterbleiben einer anderen Ursache nicht genügen soll ("allein"): wenn "allein" ihr Unterlassen - und nichts anderes - den Erfolg verhindern kann, so kann es außer ihr keine weitere notwendige Bedingung des Erfolges geben (weil auch deren Unterlassung den Erfolg verhinderte); eine Bedingung für einen Erfolg aber, die neben sich keine weitere notwendige Bedingung kennt, ist eine hinreichende Bedingung dieses Erfolges. Nun zeigte sich aber, daß die Gefahrschaffung im zweipoligen Verhältnis weder notwendige noch hinreichende Bedingung des Beeinträchtigungserfolges sein muß (s. oben D i l ) . Das gleiche muß auch in dreipoligen Verhältnissen gelten. Entschiede man anders, käme man wiederum zu wertungsmäßig nicht überzeugenden Ergebnissen. Erstens darf nicht gefordert werden, die Schaffung der Gefahrschaffungsgefahr müsse hinreichende Bedingung für die Beeinträchtigung des Wirkungsferneren sein. Dies kann nämlich schon deswegen nicht richtig sein, weil ein (u.U. heroischer) Kausalmittler nahezu jeder Einwirkung widerstehen und dadurch den Wirkungsferneren "retten" kann, und deshalb praktisch nie "allein" die Unterlassung der staatlichen Einwirkung auf den Kausalmittler den Enderfolg "unmöglich" macht. Und jedenfalls dann, wenn die staatlich geschaffene Gefahrschaffungsgefahr zwar nicht hinreichende, dafür aber eine von mehreren kumulativ notwendigen Bedingungen für den Enderfolg ist (so daß auch die Unterlassung einer anderen kumulativen Bedingungen den Enderfolg verhinderte), könnte ihr entgegen G. Hermes niemals pauschal die abwehrrechtliche Relevanz abgesprochen werden. Zweitens darf aber nicht einmal vorausgesetzt werden, daß die Gefahrschaffungsgefahr notwendige Bedingung für den Enderfolg sein müsse. Andernfalls wären nämlich die Gefahrerhöhungen seitens des Staates nicht zu erfassen. Wenn auch ohne staatliche Einwirkung auf den einen Bürger eine gewisse Gefahr für die Grundrechtsgüter des anderen besteht, weil der erste ohnehin eine entsprechende Handlung erwägt, so ist keineswegs sicher, daß "allein" das Unterlassen der staatlichen Einwirkung den Erfolg verhindern könnte, oder ob hierzu nicht vielmehr positive staatliche Schutzmaßnahmen erforderlich wären (vgl. hierzu G. Hermes, ebd., S. 97). Insofern ist die staatliche Einwirkung für die Begründung der Gefahr gewiß nicht "konstitutiv". Das kann aber nichts daran ändern, daß der Betroffene gleichwohl abwehrrechtlich gegen eine solche hoheitliche Erhöhung der ursachennächsten Gefahr und also gegen die Schaffung der (zusätzlichen) Gefahrschaffungsgefahr vorgehen können muß, und dem Träger öffentlicher Gewalt der Einwand abzuschneiden ist, der Erfolg wäre ohnehin eingetreten (a.A. G. Hermes, ebd., S. 89 f.). Aus der (mehr oder weniger großen) Beeinträchtigungsgeneigtheit eines Bürgers folgt keinesfalls, daß der Staat in abwehrrechtlich unbeachtlicher Weise noch eins "draufsatteln" und den Kausalmittler in seinem Vorhaben bestärken oder (psychisch) unterstützen und damit die Gefahrdung des Wirkungsferneren noch vergrößern dürfte.
I. Die Gefahrschafngsgefahr
307
3. Die abwehrrechtliche Relevanz der Gefahrschaffungsgefahr a) Ablehnung eines allgemeinen abwehrrechtlichen
Verantwortungsprinzips
Eine dem vorstehend entwickelten Ansatz für die Zurechnung der Fernwirkung entsprechende Überlegung wird im Strafrecht angestellt, wenn mit der Theorie der objektiven Zurechnung danach gefragt wird, ob sich im Erfolg die vom Erstverursacher geschaffene Gefahr verwirklicht hat oder eine selbständige, neue, erst vom Dritten geschaffene 19. Dabei soll es aber nicht genügen, wenn die Ausgangsgefahr bloß die Gefahr schuf, daß der Dritte sich frei zu einer eigenen Gefahrschaffung entscheiden könnte; der Zurechnung des auf diese Weise verursachten Erfolges (wenn also die Gefahr bloß mittelbar über das Medium eines fremden Willens geschaffen wurde) steht das sogenannte Verantwortungsprinzip 20 entgegen, wonach jeder grundsätzlich nur für sich selbst einzustehen hat, nicht aber für das Handeln anderer 21, käme es doch sonst zu einer massiven Beeinträchtigung der eigenen Handlungsfreiheit 22. Eine solche Gefahrschaffung ist, wenn nicht ausnahmsweise mittelbare Täterschaft vorliegt 23 , allenfalls als Anstiftung oder Beihilfe faßbar 24 , nach denen der Verletzungserfolg nicht täterschaftlich zugerechnet wird, sondern eigene Tatbestände diesen besonderen Beitrag des Teilnehmers bei der Herbeiführung des Erfolges erfassen, welcher Beitrag freilich von einem besonderen, objektiv deliktischen Sinnbezug geprägt sein muß, um nicht zu einer unangemessenen Ausweitung der als Teilnahmehandlung verbotenen Handlungsweisen zu kommen 25 . Wie weit das strafrechtliche Verantwortungsprinzip reicht, wird daran deutlich, daß selbst die Nötigung zum Begehen einer Straftat grundsätzlich als Anstiftung und nicht als mittelbare Täterschaft gewertet wird 2 6 , es sei denn, die Nötigung begründete eine Notstandslage nach § 35 StGB, d.h. eine gegenwärtige Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit, welche den Ausführenden zum schuldlosen Werkzeug machte; erst dann wird mittelbare Täterschaft an-
1 9 Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rdnr 102; Rudolphi, in SK StGB, vor § 1 (Lfe. 1990) Rdnr 72. 2 0 Jescheck, Strafrecht, S. 601 Fn. 4; Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rdnr 100. 2 1
Vgl. dazu Cramer, in Schönke/Schröder, StGB, § 15 Rdnr 148; Frisch, Tatbestandsmaßiges Verhalten, S. 240 f.; Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rdnr 100; Rudolphi, in SK StGB, vor § 1 (Lfg. 1990) Rdnr 72. 2 2 Frisch, Tatbestandsmaßiges Verhalten, S. 240 f., 351 f. 2 3
Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rdnr 101a; so im Fall BGHSt 35, 347,
353 f. 2 4
Cramer, in Schönke/Schröder, StGB, § 15 Rdnr 148.
2 5
Vgl. zu diesem Problemkreis eingehend Frisch, Tatbestandsmaßiges Verhalten, S. 280 ff.,
337 ff. 2 6
Vgl. Horn, in SK StGB, § 240 (Lfg. 1990) Rdnr 45; Roxin, in LK StGB, § 25 Rdnr 89.
308
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
genommen27. Eine täterschaftliche Zurechnung an den Hintermann trotz voller Verantwortlichkeit des Vordermanns wird allenfalls in den seltenen Konstellationen einer Tatherrschaft kraft organisatorischen Machtapparates über die Figur des "Täters hinter dem Täter" bejaht 28 . Das Verantwortungsprinzip gestattet hiernach die täterschaftliche Zurechnung des Enderfolges in der Sequenz regelmäßig nur dann, wenn die Willensentschließungsfähigkeit des ausfuhrenden Vordermanns eingeschränkt ist; die bloße NichtSouveränität seines Wollens genügt nicht, sofern die Beeinträchtigung seiner Willensentschließungsfreiheit nicht so massiv ist, daß sie als nahezu beseitigt gelten kann. Ganz ähnlich wird im Zivilrecht die sequentielle Zurechnung bei einem frei verantwortlichen Eingreifen Dritter grundsätzlich verneint 29 , und nach denselben Kriterien wie bei den Herausforderungsfällen 30 nur dann bejaht, wenn sich der Kausalmittler zu seinem einen andern schädigenden Handeln herausgefordert fühlen durfte 31 . Ein anderes gilt nur, wenn der Schutzzweck der verletzten Norm sogar in diesem Sinne nicht "herausgeforderte" Handlungen Dritter erfaßt 32 ; das ist etwa der Fall, wenn Sicherungen abgebaut wurden, d.h. wenn dem geschädigten Rechtsgut eine Schutzfunktion gegen solche Handlungen Dritter zukam, so daß aufgrund seiner Schädigung der Schutz gegen (nicht herausgeforderte) Handlungen Dritter entfiel 33 . Auch im Polizeirecht ist die Zurechenbarkeit der Handlungen Dritter eher die Ausnahme. Nach der Figur des Zweckveranlassers ist Handlungsstörer der Veranlasser einer durch einen anderen hervorgerufenen Gefahr nur dann, wenn zwischen der Veranlassung und der die Gefahr herbeiführenden Handlung ein durch objektive Umstände vermittelter enger innerer Zusammenhang besteht34. Freilich stellt sich dabei die ein Wertungsproblem darstellende und noch nicht zufriedenstellend beantwortete Frage, wann ein solcher enger innerer Zusammenhang gegeben ist.
2 7 RGSt 64, 30, 32; BGH, NStZ 1986, 547; Cramer, in Schönke/Schröder, StGB, § 25 Rdnr 35; Jakobs, Strafrecht AT, Rdnr 21/94; Jescheck, Strafrecht, S. 606. 2 8
Roxin, in LK StGB, § 25 Rdnr 88: mittelbare Täterschaft. Mittäterschaft, sofern die Ausfuhrenden voll verantwortliche Täter sind, nehmen dagegen an Jakobs, Strafrecht A T , Rdnr 21/103; Jescheck, Strafrecht, S. 607; Samson, in SK StGB, § 25 (Lfg. 1985) Rdnr 36. 2 9 BGHZ 58, 162, 167; 101, 215, 220. Vgl. auch Grunsky, 249 Rdnr 58.
in MünchKomm, BGB, vor §
3 0
S. oben D ffl 2 b ee. BGHZ 58, 162, 167 - Gehwegfall; Grunsky, in MünchKomm, BGB, vor § 249 Rdnr 64; Soergel/Mertens, BGB, vor § 249 Rdnr 140. 3 1
3 2
Vgl. Palandt/Heinrichs,
BGB, vor § 249 Rdnr 76; Staudinger/Medicus,
BGB, § 249 Rdnr
68 ff. 3 3 3 4
BGH, JZ 1979, 33 - Weidezaun; Soergel/Mertens,
BGB, vor § 249 Rdnr 140.
Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr 91; Drews/Wacke/Vogel/Martens, abwehr, S. 315.
Gefahren-
I. Die Gefahrschaffngsgefahr
309
Das fuhrt zu der Frage, ob ein vergleichbares Verantwortungsprinzip auch im Abwehrrechtsbereich anzuerkennen ist. Hiernach wäre die Zurechnung in allen Fällen der Ausübung unwiderstehlichen Zwanges (vis absoluta) auf den Kausalmittler unzweifelhaft (wenn nicht in solchen Situationen gleich "mittelbare Täterschaft" des Trägers öffentlicher Gewalt angenommen wird, so daß es ohnehin an einer sequentiellen Beeinträchtigungslage fehlt). Ferner könnte man bei dem Kausalmittler gegenüber ergehenden durchsetzbaren Geoder Verboten oder einer ausgeübten sonstigen "geistigen Gewalt" 35 kaum von einer souveränen Entscheidung desselben sprechen, und auch nach dem Verantwortungsprinzip die Fernwirkung zurechnen. Indessen entfiele diese Zurechnung, wenn der Staat allenfalls motivierend auf den Kausalmittler einwirkt, dieser im übrigen jedoch Herr seiner Entscheidung bleibt 36 . (Bejahte man ein solches Verantwortungsprinzip, so wäre anschließend die Einfuhrung eines Institutes "staatliche Anstiftung" zu prüfen.) Ein solches Verantwortungsprinzip ist im vorliegenden Kontext nicht anzuerkennen. Es setzt gleichgestellte Rechtssubjekte voraus, die je für sich selbstverantwortlich tätig sind, und regelmäßig auch genug damit zu tun haben, nicht selbst fremde Rechtsgüter zu verletzen. Ihnen fehlt wechselseitig erstens die Macht und zweitens das Recht, dem anderen Vorschriften über dessen Handeln zu machen37. Es müßte zu einer nicht akzeptablen Ausweitung der strafrechtlichen Verantwortung führen, anerkennte man ein solches Verantwortungsprinzip nicht 38 ; der strafwürdige Unrechtsgehalt einer solchen Motivationseinwirkung ist adäquat über die StrafVorschriften für Anstiftung und Beihilfe abzudecken. Dieselbe Gefahr einer Überdehnung der Verantwortlichkeit Privater für das Handeln Dritter bestünde auch bei einer Nichtanerkennung dieses Prinzips im Polizei- bzw. Zivilrecht 39 . Anders stellt sich die Lage im Abwehrrechtsbereich dar. Der Staat und der Kausalmittler sind keine gleichgestellten Rechtssubjekte40. Schon von daher spricht kein durchschlagendes Argument grundsätzlich gegen eine Verantwortlichkeit des Staates für
3 5
Philipp, Staatliche Verbraucherinformationen, S. 140.
So Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 80 f.: kein staatlicher Eingriff bei privatautonomen Entscheidungen anderer Büiger; Philipp, Staatliche Verbraucherinformationen, S. 140: staatliche Verantwortung nur bei fehlender Entscheidungsfreiheit des Kausalmittlers. 3 7 Aus diesem Grunde verneinte BGHZ 58, 162, 168 eine Verantwortlichkeit des Unfallverursachers für die Gehwegbeschädigung durch ungeduldig Überholende: der Unfallverursacher sei "weder tatsächlich in der Lage noch rechtlich verpflichtet" gewesen, die anderen am Befahren des Gehwegs zu hindern. 3 8 Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 240 f.; Samson, in SK StGB, Anh § 16 (Lfg. 1989) Rdnr 21. 3 9 4 0
Vgl. Steffen,
in BGB-RGRK, § 823 Rdnr 85.
Vgl. Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen, S. 22. Zu einer Ausnahme bei Trägern öffentlicher Gewalt bzw. fremden Staaten als Kausalmittlern s. nachfolgend d und e.
310
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das Handeln des Kausalmittlers, zumal er auch die erforderliche Kontrollmacht besitzt 41 . Entscheidend ist aber folgendes: Das strafrechtliche Verantwortungsprinzip entläßt zwar den Hintermann aus seiner strafrechtlichen Verantwortung als Täter (nicht als Anstifter oder Gehilfe), nicht aber den Vordermann, der als unmittelbarer Täter strafbar bleibt 42 . Insofern beeinträchtigt es nicht den strafrechtlichen Schutz des Opfers. Auch im Zivilrecht wirkt sich das Verantwortungsprinzip lediglich dahin aus, daß sich der Anspruchsberechtigte nur an den verantwortlichen ursachennächsten Störer oder Schädiger halten kann, und nicht in gleicher Weise auch an den ursachenferneren Veranlasser. Ebenso kann die Polizei auch dann, wenn der Veranlasser nicht als Zweckveranlasser zu werten ist, immer noch gegen den Störer einschreiten43. Ein abwehrrechtliches Verantwortungsprinzip hätte jedoch die logische Konsequenz der abwehrrechtlichen Schutzlosstellung des betroffenen Grundrechtsträgers: Der ursachennächste Kausalmittler ist als Privater an Grundrechte nicht gebunden44, und der Staat (als Ursachenfernerer) könnte sich unter Berufimg auf die Verantwortung des Kausalmittlers seiner eigenen abwehrrechtlichen Verantwortlichkeit entziehen45. Der Staat könnte also bei Anerkennung eines Verantwortungsprinzips nicht nur durch Zwischenschaltung eines Privaten sich aus seiner abwehrrechtlichen Verantwortlichkeit stehlen, er könnte darüber hinaus, was noch schlimmer ist, den Grundrechtsträger abwehrrechtlich überhaupt schutzlos stellen, weil ja der private Kausalmittler nicht in die staatliche Grundrechtsbindung eintritt. Deshalb darf sich der Staat nicht durch Zwischenschaltung Privater seinen abwehrrechtlichen Bindungen entziehen46. Die unhaltbaren Konsequenzen eines abwehrrechtlichen Verantwortungsprinzips ließen sich nur auf zwei Wegen vermeiden. Entweder wählte man eine "Anstiftungs"konstruktion, indem man die abwehrrechtliche Verantwortlichkeit des Trägers öffentlicher Gewalt mit der "Anstiftung" (Motivationsbeeinflussung oder -Veranlassimg) des Privaten begründete. Diese "Anstiftung" wäre freilich, da der Private selbst abwehrrechtlich nicht verantwortlich ist, notwendig nichtakzessorisch, also originär, und begründete damit eine
4 1
Vgl. Bleckmann/Eckhoff,
4 2
Frisch, Tatbestandsmaßiges Veihalten, S. 241; Jescheck, Strafrecht, S. 601.
DVB1. 1988, 377 f.
4 3 Die Forderung von Robbers, Afp 1990, 87, der Staat dürfe abwehrrechtlich nicht besser gestellt werden als der polizeirechtlich als Zweckveranlasser in Anspruch zu nehmende Störer, trifft zu, geht jedoch noch nicht weit genug; s. im Text nachfolgend. 4 4 S. oben C m 1 a aa. 4 5 Vgl. Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 80. 4 6
116.
BVerwGE 90, 11, 124; Alberts, N V w Z 1992, 1165 Fn. 15; s. auch BVerwGE 75, 109,
I. Die Gefahrschafngsgefahr
311
eigene Verantwortlichkeit des Staates47. Eine solche Konstruktion wäre unnötig kompliziert; vielmehr ist der Träger öffentlicher Gewalt selbst normativ als Eingreifender anzuerkennen48. Eine andere Möglichkeit zur Vermeidung unbilliger Ergebnisse wäre, den Staat zwar abwehrrechtlich aus der Pflicht zu entlassen, ihn jedoch leistungs-, und zwar insbesondere schütz- und beistandsrechtlich in die Pflicht zu nehmen 4 9 , den Wirkungsferneren vor unzumutbaren Beeinträchtigungen durch den Kausalmittler zu bewahren 50. Obschon eine solche Konstruktion auf manche Konstellationen in der Tat paßt 51 , überzeugte sie in dieser Allgemeinheit nicht zur Rettung eines generellen abwehrrechtlichen Verantwortungsprinzips. Es ist nämlich durchaus ein Unterschied, ob sich ein Bürger aus freien Stükken dazu entschließt, Güter eines anderen zu beeinträchtigen, und der Staat hiergegen Schutz und Beistand gewähren soll, oder ob ein Kausalmittler nach einer vorherigen staatlichen Einwirkung zu einem solchen Entschluß kommt 52 . Daß eine solche Einwirkung nach der hier vertretenen Ansicht erforderlich ist, ergibt sich aus der Notwendigkeit, daß der Träger öffentlicher Gewalt die Gefahr für eine solche Entscheidung des Kausalmittlers schaffen muß. Tut er dies aber, so sind, auch wenn diese Einwirkung nicht die Autonomie des Kausalmittlers aufhebt, doch Existenz und Bedeutung der staatlichen Einwirkung nicht zu ignorieren, sondern vielmehr eine abwehrrechtlich relevante Gefahrschaffungsgefahr anzunehmen, sofern die nachfolgend herauszuarbeitenden Kriterien erfüllt sind. Schließlich wäre es auch konstruktiv merkwürdig, daß der Staat Schutz und Beistand gegen ein privates Handeln gewähren soll, welches er selbst durch seine vorgängige Einwirkung auf den Kausalmittler hervorgerufen hat. Nach alledem ist ein allgemeines abwehrrechtliches Verantwortungsprinzip nicht anzuerkennen53. Vielmehr kann der Wirkungsfernere grundsätzlich auch dann abwehrrechtlich gegen die staatliche Einwirkung auf den Kausalmittler vorgehen, wenn letzterer noch selbstverantwortlich entscheiden kann.
4 7 Die Akzessorietät gehört zum Wesen jeder strafrechtlichen Teilnahme wie z.B. der Anstiftung, vgl. Cramer, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 25 Rdnr 23; Jescheck, Strafrecht, S. 593; Samson, in SK StGB, vor § 26 (Lfg. 1985) Rdnr 2. Das ist aber zu verallgemeinern: Eine "nichtakzessorische Teilnahme" ist ein Widerspruch in sich und meint letztlich eine selbständige "Haupttat". 4 8 Ähnlich Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 377. Zur Jescheck, Strafrecht, S. 607; Roxin, in LK StGB, § 25 Rdnr 93. 4 9
Zu den Leistungsrechten s. oben C 11 b und c sowie unten G.
5 0
Hierfür Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 80 f. S. unten F TL 1 c aa. Vgl. Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 80, 206 f.
5 1 5 2
strafrechtlichen
Parallele
vgl.
5 3 In bezug auf Abwehrrechte folgt das aus dem Gesagten. Bei Leistungsrechten wäre es ohnehin unanwendbar, da der Staat dort ja gerade auch gegen Einflüsse des Dritten wirken müßte.
312
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
Das steht übrigens nicht im Widerspruch zur Anerkennimg eines Prinzips der abwehrrechtlichten S^Z&rtverantwortlichkeit 54. Bei diesem geht es um die Verantwortlichkeit fiir die eigenen Grundrechtsgüter. Hier ist ein strengerer Maßstab dafür anzulegen, welchen Pressionen zu widerstehen ist, als dort, wo es um die Grundrechtsgüter anderer geht. Das Selbstverantwortlichkeitsprinzip befreit den Staat allenfalls von der Verantwortung für die Beeinträchtigung der Freiheit des Kausalmittlers, während ein allgemeines Verantwortungsprinzip den Staat von jeder Verantwortung für die Beeinträchtigung der Freiheit des Wirkungsferneren freistellte! b) Die abwehrrechtlich
relevante Gefahr: Das Vernünftigkeitsprinzip
Die Ablehnung eines allgemeinen Verantwortungsprinzips bedeutet zunächst nur, daß die staatliche Verantwortlichkeit nicht allein aufgrund der Eigenverantwortlichkeit des Kausalmittlers entfällt; daraus folgt aber nicht, daß sie stets bestünde, ganz unabhängig von jeder Entscheidung des Kausalmittlers 55. Fraglich ist vielmehr, ob nicht gewisse freie Entscheidungen des Kausalmittlers die Erfolgszurechenbarkeit ausschließen. Ansatzpunkt ist die Verbindungsstelle der beiden Zurechnungskettenglieder, der Kausalmittler. In ihm muß sich die durch den Träger öffentlicher Gewalt geschaffene Gefahr der Vornahme einer Handlung verwirklichen, die eine grundrechtsgutsrelevante Gefahr für den Wirkungsferneren begründet. Da es hierbei nicht um die Grundrechtsgüter des Kausalmittlers geht, sondern um die des Wirkungsferneren, spielt es keine Rolle, ob die Handlung des Staates eine Gefahr für die Grundrechtsgüter des Kausalmittlers schafft. Entscheidend ist nur, ob sie eine Gefahr in Richtung auf die Schaffung einer Gefahr für die Grundrechtsgüter des wirkungsferneren Betroffenen durch den Kausalmittler schafft. Da es nicht um die Grundrechtsgüter des Kausalmittlers geht, ist kein Platz für eine Anwendung des Kriteriums der Zwangsmäßigkeit, welches im zweipoligen Verhältnis die abwehrrechtliche Relevanz der Gefahrschaffung begründet. Zwar ist die Beziehung von Staat und Kausalmittler eine zweipolige, doch ist nicht außer acht zu lassen, daß sie Teil eines dreipoligen Verhältnisses ist, was zu einer entsprechenden Modifikation der abwehrrechtlichen Gefahrrelevanz führen muß. Selbstverständlich muß das Kriterium des Zwangsmäßigen insofern übernommen werden, als es sich auf den Enderfolg bezieht; denn wenn der Wirkungsfernere der durch den Kausalmittler geschaffenen Beeinträchtigungsgefahr nicht unterworfen ist, besteht wiederum kein abwehrrechtliches Schutzbedürfhis. Indessen ist das Problem nicht, wonach sich die 5 4 5 5
S. oben D ffl 2 b ff. Insofern zutreffend BVerwG, N V w Z 1991, 980, 981.
I. Die Gefahrschaffngsgefahr
313
Zurechnung des Enderfolges zum Kausalmittler richtet, sondern wie die Zurechnung der Handlung des Kausalmittlers zum Staat erfolgen soll. Entscheidend ist daher nicht ein Zwang, sondern die psychische Einflußnahme in Richtung auf die Gefahrschaffung. Ob diese so geartet ist, die Freiheit des Kausalmittlers im Sinne des Verantwortungsprinzips einzuschränken, ist dabei unerheblich. Entscheidend ist vielmehr, ob der Staat hinreichend motivationsbestimmend gewirkt hat 5 6 , was primär von der Intensität seiner Einwirkung 57 auf den Kausalmittler abhängt. Es ist mit Ex-post-Wissen zu fragen, ob die Einwirkung auf den Willensbildungsprozeß stark genug und somit geeignet war, die fragliche Entscheidung des Kausalmittlers hervorzurufen. Von einer hinreichenden Motivationseinwirkung ist dann auszugehen, wenn für den Kausalmittler in der vom Staat geschaffenen Lage die Vornahme eben der Handlung vernünftig ist, welche die Beeinträchtigungsgefahr für den Wirkungsferneren schafft. Denn als Vernunftwesen strebt der Mensch grundsätzlich die für ihn vorteilhaften Folgen an, und diese seine Natur ist bei der Bestimmung der Zurechnungskriterien zu beachten. Entscheidendes Kriterium ist mithin, ob die Handlung des Kausalmittlers als vernünftige Konsequenz der Situation anzusehen ist, in die er durch den Staat gebracht wurde, oder ob sie das Resultat einer davon unabhängigen Entschließung des Kausalmittlers ist 5 8 . Die Entscheidung des Kausalmittlers stellt zunächst unproblematisch eine Gefahrverwirklichung dar, wenn sie die einzig mögliche in der staatlicherseits geschaffenen Lage war. Standen ihm hingegen mehrere Entscheidimgsmöglichkeiten offen, so ist eine Gefahrverwirklichung dann anzunehmen, wenn er sich für die ihm vorteilhafteste oder bei mehreren gleich vorteilhaften für eine von diesen entschied59. Eine nicht zurechenbare unvernünftige Entscheidung ist dagegen dann gegeben, wenn der Kausalmittler unter Anlegung eines konkret-objektivierenden Betrachtungsmaßstabs (es kommt auf die objektivierende Sichtweise einer Person in der konkreten Situation des Kausalmittlers an 6 0 ) eine ihm nachteiligere Alternative wählt. Ebensowenig nämlich wie dem Normgeber ein Verhalten eines Normunterworfenen zugerechnet werden kann, welches über den Norminhalt hinausgeht61 (denn zwar begründet die Norm-
5 6 Vgl. Gramm, Der Staat 1991, 77: der Staat muß die Entscheidung des Kausalmittlers "entscheidend in Gang gebracht" haben. 5 7
Vgl. dazu Kirchhof,\
Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 40 ff.
5 8
Ähnlich A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 311; zum Zivilrecht BGHZ 57, 25, 29; Grunsky, in MünchKomm BGB, vor § 249 Rdnr 57; Medicus, Bürgerliches Recht, Rdnr 653. Vgl. auch BVeiwGE 69, 266, 373. Zu eng daher Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 377 f., die die Zurechenbarkeit nur bejahen, wenn die Entschließung des Kausalmittlers Folge eines Ge- oder Verbotes oder sonst "notwendige" Folge einer staatlichen Einwirkung auf ihn ist. Zu eng auch Robbers, AfP 1990, 87, der eine "naheliegende" Folge fordert. 5 9
Vgl. den Geländer-Fall des PiOVG, PrOVGE 38, 447, 451 f.
6 0
Vgl. oben D m 2 b ee. BVerfGE 52, 283, 302.
6 1
314
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
setzung die Möglichkeit eines Normverstoßes, doch läßt sich ein Normverstoß nicht als Verwirklichung einer in der Norm angelegten Gefahr in Richtung auf einen Normverstoß verstehen, sondern ist als Ergebnis der Entscheidung des Normunterworfenen anzusehen), kann es dem Staat zugerechnet werden, wenn sich der Kausalmittler unvernünftig verhält. Dann verwirklicht sich nicht die in der staatlicherseits geschaffenen Situation angelegte Gefahr, sondern die Unvernunft eines einzelnen62. Die Gefahr irrationalen Entscheidens und Handelns eines Privaten ist keine abwehrrechtsrelevante Gefahr, sondern eine im Bürger-Bürger-Verhältnis abzumachende Angelegenheit, für die nun in der Tat auf ein gewisses allgemeines Lebensrisiko innerhalb der sozialen Gemeinschaft verwiesen werden kann 63 , weil insofern ein jeder seine Mitbürger so nehmen muß, wie sie sind. Die Zurechnung ist letzten Endes eine Wertungsfrage, deren Beantwortung sich danach richtet, ob es des abwehrrechtlichen Schutzes bedarf. Da der Staat von dem privaten Kausalmittler nicht irrationales Handeln erwarten oder fordern kann, ist es nur billig, wenn der Wirkungsfernere abwehrrechtlichen Schutz erhält, um sich einer ihm infolge rationalen Handelns dieses Kausalmittlers erwachsenden Beeinträchtigung erwehren zu können. Umgekehrt kann der Wirkungsfernere nicht ebensolchen abwehrrechtlichen Schutz gegen irrationales Handeln des Kausalmittlers in Anspruch nehmen wollen. Mag er nun einen zivilrechtlichen Anspruch gegen den Kausalmittler auf rationales Handeln haben oder nicht - den Staat geht das jenseits eventueller Schutzpflichten 6 4 genauso wenig an wie sonst eine Gesetzesverletzung. Gegen irrationales Handeln des Kausalmittlers ist ein Rückgriff auf die Abwehrrechte daher nicht angezeigt. Ein weiterer Grund für die abwehrrechtliche Irrelevanz irrationalen Handelns des Kausalmittlers ergibt sich auch hier wieder ergebnisorientiert im Hinblick auf die Rechtfertigungsfolge. Rechnete man dem Staat auch die grundrechtsgutsbeeinträchtigende Fernwirkung zu, die infolge unvernünftigen Handelns des Kausalmittlers eintritt, so müßte der Staat diese als Eingriff in die Abwehrrechte des Wirkungsferneren rechtfertigen. Das ist aber beinahe per definitionem unmöglich, da unvernünftig herbeigeführte Beeinträchtigungen unnötig und vermeidbar sind und daher jedenfalls gegen das Übermaßverbot verstoßen. Es kann nicht Sinn und Zweck der Abwehrrechte sein, qua Abwehrrechtsverletzung den Staat für alles irrationale Handeln der Bürger einstehen zu lassen, nur weil der Staat überhaupt Anlaß zu einem Handeln gab. Eine Entscheidung zu veranlassen schafft im Hinblick auf den Menschen Nach BGHZ 106, 313, 322 sind Aufopferungsansprüche mangels Zurechenbarkeit ausgeschlossen, wenn der Verletzte zwar aus Veranlassung des zum Ersatz verpflichtenden Umstands gehandelt hat, seine Maßnahme jedoch "außerhalb aller diskutablen Dispositionen steht". 6 3 6 4
Vgl. dazu oben B U 2 g. S. dazu unten G D 1 b aa.
315
I. Die Gefahrschafngsgefahr
als rationales Wesen keine abwehrrechtlich relevante Gefahr unvernünftigen Handelns. Hingegen impliziert das Ernstnehmen des Menschen die Zurechung seiner veranlaßten vernünftigen Entscheidungen. Damit bestimmt sich auch in sequentiellen Beeinträchtigungskonstellationen die abwehrrechtliche Gefahrrelevanz nach dem Vernünfiigkeitsprinzip: Dem Staat zurechenbar ist die Fernwirkung dann, wenn das Schaffen der wirkungsferneren Gefahr eine in der staatlicherseits geschaffenen Situation vernünftige Entscheidung des Kausalmittlers war, wenn sie m.a.W. als vernünftige Reaktion des Kausalmittlers auf die Gefahrschaffungsgefahr anzusehen ist. Nicht zurechenbar ist die wirkungsfernere Gefahr, wenn ihre Schaffung für den Kausalmittler eine unvernünftige Entscheidimg darstellt. Daß es möglich ist, die abwehrrechtliche Relevanz der Gefahrschaffung im zweipoligen bzw. der Schaffung der Gefahrschaffungsgefahr im dreipoligen Verhältnis nach demselben Prinzip (nämlich dem Vernünftigkeitsprinzip) zu bestimmen, bestätigt die Kohärenz des so entwickelten Systems und vereinfacht die Darstellung und Anwendung der Handlungs-Zurechnungs-Formel. Es ist aber darauf hinzuweisen, daß die Identität der Relevanzformel nicht auch als inhaltliche Identität zu verstehen ist. Die Relevanzformel weist auf die anzustellende entscheidungserhebliche Weitung hin, beantwortet aber selbstverständlich nicht die Wertungsfrage selbst. Daß sich sowohl im zweials auch im dreipoligen Verhältnis dieselbe Wertungsfrage stellt, heißt nicht, daß sie notwendig in gleicher Weise zu beantworten wäre. Was eine vernünftige Entscheidung ist, hängt für den Wirkungsnächsten eben auch davon ab, ob eigene Grundrechtgüter auf dem Spiel stehen, oder nur solche eines Wirkungsferneren. Im ersteren Fall spielt der Gedanke der Selbstverantwortlichkeit eine maßgebliche Rolle. Abstrakt läßt sich diese Problematik nicht weiter konkretisieren; zu diesem Punkt ist daher auf die nachfolgende eingehende Fallbetrachtung zu verweisen 65. c) Keine Subsidiarität
abwehrrechtlicher
Ansprüche
Ist nach dem vorstehend Gesagten und sogleich weiter zu Präzisierenden die Zurechnung der Fernwirkung zu bejahen, so stellt sich gleichwohl die Frage, ob damit in jedem Fall ein abwehrrechtlicher Sekundär- oder Tertiäranspruch gegen den betreffenden Träger öffentlicher Gewalt gegeben sein soll, oder ob nicht der Beeinträchtigte zunächst darauf zu verweisen ist, zivilrechtlich gegen den Kausalmittler vorzugehen, und ihm abwehrrechtlichen Schutz nur zuzusprechen, falls das nicht möglich sein sollte. Treten also abwehrrechtliche Ansprüche des Beeinträchtigten gegen den Staat als subsidiär hinter etwaigen zi-
6 5
s. nachfolgend F II.
22 Roth
316
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
vilrechtlichen Ansprüchen gegen den Kausalmittler zurück? 66 Bei der Beantwortung dieser Frage ist zunächst davon auszugehen, daß eventuelle zivilrechtliche Ansprüche gegen den Kausalmittler nicht dadurch ausgeschlossen werden, daß dem Beeinträchtigten womöglich auch abwehrrechtliche Ansprüche gegen den Staat zustehen. Die Abwehrrechte sollen nämlich erstens die Position des Bürgers stärken und nicht ihm sonst gegebene zivilrechtliche Ansprüche nehmen, und dienen zweitens auch nicht der Befreiung Privater von gegen sie gerichteten zivilrechtlichen Ansprüchen anderer. Aus der Möglichkeit eines solchen Vorgehens gegen den Kausalmittler folgt freilich nicht die Pflicht dazu. Gegen die Annahme einer solchen Pflicht wäre allerdings nicht einzuwenden, daß eine eventuelle einfachgesetzliche zivilrechtliche Rechtsschutzmöglichkeit nicht die sich auf verfassungsrechtlicher Ebene abspielende und abwehrrechtlich begründete Zurechenbarkeit der Beeinträchtigung ausschließen könne. Zwar ist richtig, daß, wenn der Beeinträchtigungserfolg dem Träger öffentlicher Gewalt zuzurechnen wäre, irgendwelche einfachgesetzlichen Ansprüche daran nichts ändern könnten. Fraglich ist aber, inwieweit überhaupt von der Schaffung einer relevanten Gefahr gesprochen werden kann, wenn sich der Beeinträchtigte des Nachteils durch eine Zivilklage gegen den Kausalmittler zu erwehren vermag. Das spezifische Rechtsschutzbedürfhis, welches die Abwehrrechte zu befriedigen suchen, besteht in der Limitierung der einseitigen Definitionsmacht des Staates, in dem Schutz vor zwangsmäßiger Unterwerfung unter eine Freiheitsbeschneidung67, und - so könnte man argumentieren - eine solche Zwangslage bestehe nicht, wenn man zivilrechtlich gegen den Kausalmittler vorgehen kann. Eine solche Vorrangigkeit des Zivilrechtsschutzes setzte natürlich erstens voraus, daß der Kausalmittler überhaupt irgendwelche (quasi)vertragliche oder gesetzliche Ansprüche ausgelöst hat, mit denen auf zivilrechtlichem Weg die (Rechts)Güter geschützt werden können, die aus grundgesetzlicher Sicht Grundrechtsgüter sind; und zweitens dürfte jedenfalls die staatliche Maßnahme sich nicht dergestalt auf den Zivilrechtsschutz auswirken, daß sie die Obsiegenschancen des Beeinträchtigten gegen den Kausalmittler minderte oder gar ausschlösse. "Die Kläger ... auf den Zivilrechtsweg gleichsam zu verweisen, ließe sich aber nur dann rechtfertigen, wenn sie im Zivilrechtsweg auch für den Fall, daß die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigimg bestandskräftig wird, uneingeschränkt ihre Rechte wahren können. " 6 8 In der Praxis problematisch ist bereits die Hauptvoraussetzung einer möglichen Subsidiarität abwehrrechtlicher Sekundär- oder Tertiäransprüche, nämlich das tatsächliche Bestehen zur Nachteilsabwehr genügender zivilrechtlicher 6 6
Hierfür Kraft,
6 7
S. oben D ffl 2 b aa. BVeiwGE 50, 282, 289.
6 8
BayVBl. 1992, 460 f. In diese Richtung wohl auch BVerwGE 50, 282, 289.
I. Die Gefahrschafingsgefahr
317
Ansprüche. Die Berechtigung solcher Ansprüche wird oft streitig und zweifelhaft sein und sich womöglich erst in einem langwierigen Prozeß klären lassen. Sollte sich an dessen Ende das Nichtbestehen oder Ungenügen der zivilrechtlichen Ansprüche herausstellen, hätte der Betroffene wertvolle Zeit verloren, effektiv sogleich gegen den Träger öffentlicher Gewalt vorzugehen. Die Gefahr eines solchen Ungenügens besteht insbesondere auch deswegen, weil die zivilrechtlichen Ansprüche andere materiell- und prozeßrechtliche Voraussetzungen als die abwehrrechtlichen haben und deshalb diese Ansprüche oftmals materiell inkongruent sein werden. Keine geringeren Probleme wirft auch die Erfüllung der zweiten vorgenannten Bedingung auf. Exemplarisch hierfür ist das Notweg-Urteil des BVerwG 6 9 . Die Baugenehmigungsbehörde hatte dem Bauherrn eine Baugenehmigung erteilt, die mangels zureichender Erschließung (Fehlen eines Zufahrtsweges) des zu bebauenden Grundstücks objektiv rechtswidrig war. Dessen Nachbarn fochten die Baugenehmigung an, weil sie nach erfolgter Bebauung das Entstehen eines Notwegrechts gemäß § 917 BGB befürchteten. Das BVerwG verwies die Nachbarn zu Recht nicht auf eine zivilrechtliche Nachbarklage, sondern verhalf der auf Art. 14 GG gestützten Anfechtungsklage zum Erfolg: "Sollte die Baugenehmigimg bestandskräftig werden, so würde die von ihr ausgehende Feststellungswirkung zum Nachteil der Kläger auf die im Zivilprozeß zu beurteilende Rechtslage von Einfluß sein. Die zivilrechtlichen Abwehrrechte der Kläger wären dann geschmälert, so daß die Möglichkeit besteht, daß die Kläger in einem etwaigen Zivilprozeß an den Auswirkungen der (etwa) bestandskräftigen Baugenehmigung scheitern. Dann aber kann den Klägern ein gegen die Baugenehmigung gerichteter Rechtsschutz nicht vorenthalten werden" 70 . Denn die in § 917 Abs. 1 BGB vorausgesetzte "ordnungsmäßige Benutzung" liege regelmäßig nicht vor, wenn die Bebauung bzw. Nutzung nach öffentlichem Recht unzulässig ist, und zwar jedenfalls dann, wenn sich diese Unzulässigkeit aus einer "notwegerheblichen" mangelnden Erschließung ergibt. "Ist nach der materiellen Rechtslage die Bebauung in einer sich auf ein Notwegrecht auswirkenden Weise unzulässig, so schmälert eine gleichwohl erteilte und folglich rechtswidrige Baugenehmigung die zivilrechtlichen Abwehrmöglichkeiten des durch den Notweg Belasteten. Eine Baugenehmigung stellt verbindlich fest, daß das Vorhaben mit dem gesamten im Zeitpunkt der Genehmigung geltenden öffentlichen Recht übereinstimmt... Das wirkt sich voraussetzungsgemäß gerade dann aus, wenn die Baugenehmigung rechtswidrig ist; denn auch in diesem Fall stellt die Baugenehmigung - wenn auch materiell zu Unrecht - fest, daß die Bebauung dem öffentlichen Recht entspreche. Mit Eintritt der Unanfechtbarkeit schneidet eine solche - rechtswidrige - Baugenehmigung demjenigen, der sich im Zivilprozeß 6 9 7 0
BVerwGE 50, 282. Ebd., S. 289.
318
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
gegen die Inanspruchnahme aus § 917 Abs. 1 BGB zu wehren sucht, den Vortrag ab, die der Inanspruchnahme zugrunde liegende Benutzung des Nachbargrundstücks sei schon deshalb nicht ordnungsmäßig, weil sie dem öffentlichen Recht widerspreche" 71. In dieser Behinderung der zivilrechtlichen Verteidigungsmöglichkeit "liegt, wenn die Baugenehmigung objektv rechtswidrig ist, ein vom öffentlichen Recht ausgehender Eingriff in das Eigentum, gegen den sich der Betroffene mit den Rechtsbehelfen des öffentlichen Rechts wehren kann" 72 . Wenn freilich einmal eine hinreichende Kongruenz existierender Ansprüche bestünde73 und die hoheitliche Maßnahme sich auch nicht nachteilig auf etwaige zivilrechtliche Rechtsschutzmöglichkeiten auswirkt, so könnten zwei Gründe für die Vorrangigkeit letzterer angeführt werden. Erstens ist der Dritte als Kausalmittler der Ursachennächste und steht dem Erfolg in dieser Eigenschaft näher als der ursachenfernere Träger öffentlicher Gewalt. Und zweitens kommt bei einem irrational handelnden Dritten überhaupt nur ein zivilrechtlicher Schutz in Betracht, so daß es billig erscheinen könnte, dem zivilrechtlichen Schutz bei einen rational handelnden Dritten wenigstens Vorrang zuzusprechen. Gleichwohl sprechen die besseren Gründe gegen eine solche Vorrangigkeit. Erstens greift der Hinweis auf den irrational handelnden Kausalmittler nicht, weil hier bereits die abwehrrechtliche Gefahrrelevanz fehlt; mit einer Subsidiarität der abwehrrechtlichen Ansprüche hat das nichts zu tun. Zweitens trifft es nicht zu, daß der Träger öffentlicher Gewalt keine Zwangslage schafft, wenn er zur Erhebung einer zivilrechtlichen Klage gegen den Kausalmittler nötigt. Denn auch der Zwang, den Zivilrechtsweg beschreiten zu müssen, um seine Grundrechtsgüter zu schützen, stellt eine Beschneidung des freien Innehabens dieser Güter dar und ist ein relevanter Erfolg 74 ; dies gilt zumal im Hinblick auf das Risiko, das mit einem Zivilprozeß verbunden ist: der Beeinträchtigte trüge nämlich selbst im Obsiegensfall voll das Kosten- und Vollstreckungsrisiko, sollte der unterlegene Kausalmittler leistungsunwillig oder -unfähig sein. Dazu tritt drittens eine ergebnisorientierte Überlegung: Richtig ist zwar, daß der Kausalmittler Ursachennächster ist, doch immerhin setzte der Träger öffentlicher Gewalt die erste Ursache. Da der abwehrrechtliche Anspruch gegen den Träger öffentlicher Gewalt im Ergebnis nur gegeben ist, 7 1 Ebd., S. 290; zu den nachteiligen Wirkungen öffentlich-rechtlicher (Ausnahme)Genehmigungen auf zivilrechtliche Abwehranspriiche vgl. BGH, L M § 823 (Bf) BGB Nr. 61 Bl. 3; BGHZ 66, 354, 356 f. 7 2 7 3
BVerwGE 50, 282,291.
Eine solche Kongruenz kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der Kausalmittler öffentlich-rechtliche Vorschriften verletzt hat, die drittschützende Wirkung entfalten und daher vom Wirkungsferneren mit Hilfe des § 823 n BGB durchgesetzt werden können, vgl. dazu Breuer, DVB1. 1983, 436; Konrad, BayVBl. 1984, 36 f. 7 4 So bereits PrOVGE 7, 310, 314 im Feuerversicherungs-Fall (oben B I 2 a cc).
I. Die Gefahrschaffngsgefahr
319
wenn die Setzung dieser ersten Ursache dem Wirkungsferneren gegenüber rechtswidrig war, hieße die Postulierung einer Subsidiarität abwehrrechtlicher Ansprüche, daß der Staat rechtswidrigerweise Gefahren dahingehend schaffen könnte, daß Kausalmittler Grundrechtsgüter beeinträchtigen, ohne daß der Beeinträchtigte direkt gegen diese Gefahrschaffungsgefahr vorgehen könnte. Der Staat schüfe eine Gefahr, doch anstatt diese und deren Folgen selbst zu beseitigen, müßte zuerst der Beeinträchtigte sehen, wie er ihre Folgen in privater Auseinandersetzung mit dem Dritten beseitigen könnte. Das befriedigt nicht, da der Staat nicht trotz des Gewichtes seiner Maßnahme sich seiner Verantwortung entziehen können darf 75 . Die Bedenken, die das im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG aufwerfen müßte, liegen auf der Hand: Der hierin garantierte Rechtsschutz muß sich als solcher gegen den Träger öffentlicher Gewalt richten, der die Grundrechtsgutsbeeinträchtigung durch die Schaffung einer abwehrrechtlich relevanten Gefahrschaffungsgefahr zurechenbar hervorgerufen hat. Diese grundgesetzliche Verbürgimg würde durch einen Verweis auf etwaige zivilrechtliche Ansprüche gegen den privaten Kausalmittler nicht erfüllt. Es läßt sich auch nicht einwenden, dadurch würde die Auseinandersetzung zwischen Privaten auf die Bürger-Staat-Ebene verlagert und ein "Stellvertreterkrieg" 76 gefuhrt. Das Gegenteil ist richtig: Die Anerkennung einer Subsidiarität abwehrrechtlicher Ansprüche verlagerte den in der hoheitlichen Schaffung einer Gefahrschaffungsgefahr angelegten Konflikt zwischen Staat und Bürger auf die Bürger-Bürger-Ebene, und hieran hat nicht nur der Wirkungsfernere regelmäßig kein Interesse, auch dem Kausalmittler käme dies zumeist eher ungelegen77. Der Einwand des "Stellvertreterkrieges" verwechselt zwei verschiedene Ebenen von Interessen, von denen nur die eine für den Tatbestand der Abwehrrechte bedeutsam, während die andere auf der Rechtfertigungsebene zu verorten ist. Den Abwehrrechten geht es um den effektiven Schutz der Freiheit des Wirkungsferneren, und deshalb kann es allein auf das effektive Vorliegen einer Gefahrschaffungsgefahr ankommen. Die Abwehrrechte schützen in diesem Sinne rein formal das materielle Interesse des Wirkungsferneren, unbehelligt zu bleiben. Welches materielle Interesse der Staat mit der Schaffimg der Gefahrschaffungsgefahr verfolgt hat, ist lediglich eine Frage seines Motives, das auf der Ebene der Rechtfertigungsprüfung eine Rolle spielen kann, nicht aber auf der des Abwehrrechtstatbestandes. Selbst wenn der Kausalmittler ein starkes materielles und auch rechtlich anerkanntes
7 5 Vgl. Schmidt-Aßmann, ParodU BauR 1985, 423 f. 7 6 7 7
in Maunz/Dürig, GG, Art. 19 I V (Lfg. 1985) Rdnr 172; ferner
Boepfer, Umweltrecht, § 2 Rdnr 6; Kraft, Vgl. ParodU BauR 1985, 424.
BayVBl. 1992, 461 Fn. 60.
320
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
Eigeninteresse an der staatlichen Maßnahme haben sollte78» 7 9 , so ist demgegenüber immerhin zu berücksichtigen, daß auch der fragliche Träger öffentlicher Gewalt ein gewisses materielles Interesse an der Maßnahme haben und ein (auch) öffentliches Interesse verfolgen muß, da er sie sonst nicht vornähme 80 . Und jedenfalls befreit das etwaige Privatinteresse den Staat nicht von seiner abwehrrechtlichen Verantwortlichkeit gegenüber der formalen Position des Wirkungsferneren 81; es ändert nichts daran, daß der Streit aus abwehrrechlicher Perspektive primär zwischen dem Staat und dem anderen besteht, weil ohne die staatliche Schaffung der Gefahrschaffungsgefahr der Bürger-Bürger-Konflikt nicht oder jedenfalls nur mit geringerer Wahrscheinlichkeit ausgebrochen wäre 82 . Im Ergebnis ist daher festzuhalten: Schafft der Staat eine Gefahr dahingehend, daß ein Bürger einen anderen beeinträchtigt, so kann er sich seiner Verantwortung dafür nicht durch einen Verweis auf zivilrechtlichen Rechtsschutz gegen den Kausalmittler entziehen83, sondern kann unmittelbar abwehrrecht-
7 8 Vgl. insoweit BVerfGE 35, 263, 270 f.; BVeiwG, DVB1. 1970, 62, 64; V G H München, BauR 1990, 700, 701; Pietzcker, JZ 1985, 213; Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen, S. 5 f., 19. 7 9 Im Prozeß des Wirkungsferneren gegen den Träger öffentlicher Gewalt ist der Kausalmittler deshalb regelmäßig beizuladen, vgl. Schenke, DVB1. 1990, 333; ferner ders., Verwaltungsprozeßrecht, Rdnr 466 ff. 8 0
Vgl. V G H München, BauR 1990, 700, 701, daß das öffentliche Interesse bei der Abwägung der Privatinteressen den Ausschlag geben kann; ferner Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen, S. 27. 8 1 Vgl. V G H Mannheim, BRS 46 Nr. 174, S. 402, 404, der treffend betont, Hauptaufgabe der Baurechtsbehörde sei nicht, lediglich sicherzustellen, daß keine Nachbarrechte verletzt werden, sondern überhaupt nur rechtmäßige Baugenehmigungen zu erteilen. Das öffentliche Interesse an der Realisierung des Rechts besteht allemal unabhängig vom materiell-wirtschaftlichen Interesse Privater. Unzutreffend verkürzend daher die Situationsbeschreibung von BVerfGE 35, 263, 271, daß bei einer Nachbarklage gegen eine Baugenehmigung "eigentlich nur" eine Auseinandersetzung zwischen Nachbarn vorliege. Auch bei der Nachbarklage geht es um die richtige Anwendung des auch für die Baugenehmigungsbehörde verbindlichen Rechts. 8 2 Besteht hiernach sehr wohl ein abwehrrechtlicher Streit zwischen Bürger und Staat, so überzeugt schon deswegen nicht der Vorschlag von Kraft, BayVBl. 1992, 461, den Prozeß aus Gründen der "Systemgerechtigkeit" zivilrechtlich zwischen den beteiligten Bürgern austragen zu lassen. Nicht nachvollziehbar ist zudem seine Ansicht, dem die Baugenehmigung erfolgreich anfechtenden Nachbarn müsse aus Gründen der "prozessualen Zweckmäßigkeit" versagt sein, einen Folgenbeseitigungsanspruch gegen den Träger öffentlicher Gewalt geltend zu machen; vielmehr sei er auf die Zivilklage gegen den Bauherrn beschränkt. Denn dies nötigt den Nachbarn zur Führung zweier Prozesse vor verschiedenen Gerichten (Anfechtungsklage gegen die Baugenehmigung plus Störungsklage gegen den Bauherrn), während § 113 1 2 VwGO eine prozessual zweckmäßige und ökonomische Möglichkeit vorsieht, im Anfechtungsprozeß zugleich einen Folgenbeseitigungsanspnich durchzusetzen. Vgl. dazu Schenke, DVB1. 1990, 334; ders., Verwaltungsprozeßrecht, Rdnr 248 ff. 8 3 Hiervon geht auch BGHZ 106, 313, 317 f. - Haftentschädigung - aus, wonach "die Zurechenbarkeit des entstandenen Schadens auch nicht durch das möglicherweise vertragswidrige Verhalten der Vertreter der C. Volksbank ausgeschlossen" wird, denn "[d]aß ein Geschäftsmann die Inhaftierung seines Geschäftspartners zum Anlaß nimmt, die geschäftlichen Beziehungen zu ihm abzubrechen, ist nichts Ungewöhnliches", mag das auch vertragswidrig gewesen sein.
I. Die Gefahrschaffngsgefahr
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lieh in Anspruch genommen werden 84 . Dem Beeinträchtigten ist dabei ähnlich wie zwischen Gesamtschuldnern die Wahl zu lassen, ob er abwehrrechtlich gegen den Träger öffentlicher Gewalt oder - falls möglich - zivilrechtlich gegen den Kausalmittler vorgehen will 8 5 . Entscheidet er sich für letzteres, reüssiert er und beseitigt er so einen eventuell erlittenen Nachteil, so kann er natürlich nicht zusätzlich noch abwehrrechtliche Sekundäransprüche geltend machen; tertiäre Entschädigungsansprüche (soweit das Vorgehen gegen den Kausalmittler nicht alle Nachteile verhindern konnte) und gegebenenfalls eine Feststellungsklage gegen den Träger öffentlicher Gewalt bleiben aber allemal denkbar. d) Träger öffentlicher
Gewalt als Kausalmittler
Die vorstehenden Überlegungen haben ergeben, daß ein Träger öffentlicher Gewalt, der eine Gefahr dahin geschaffen hat, daß ein Bürger wiederum eine Gefahr für die Grundrechtsgüter eines anderen schafft, sich nicht allein schon durch eine solche Zwischenschaltung eines Privaten als Kausalmittler seiner abwehrrechtlichen Bindimg entziehen kann. Auch treten die abwehrrechtlichen Ansprüche des Beeinträchtigten nicht als subsidiär hinter etwaige zivilrechtliche Ansprüche gegen den Kausalmittler zurück. Anders ist die Lage aber dann, wenn ein Träger öffentlicher Gewalt Kausalmittler ist. Das ist immer dann der Fall, wenn ein Träger öffentlicher Gewalt auf einen anderen in der Weise einwirkt, daß letzterer zu einer abwehrrechtlich relevanten Gefahrschaffung schreitet. Fälle solcher Art sind vielfältig. Am bedeutsamsten ist natürlich der Erlaß einer Rechtsnorm, in deren Vollzug die Verwaltung oder Gerichte Grundrechtsgüter beeinträchtigten. An der Zurechenbarkeit dieser Beeinträchtigung zum Normerlaß ist regelmäßig nicht zu zweifeln, weil der Erlaß einer Norm die Gefahr ihrer Anwendung und ihres Vollzugs in sich trägt: "Allerdings können die ... Norm und eine nachfolgende weitere Norm oder Maßnahme auch in einem rechtlich geordneten Zusammenwirken zur Errei-
8 4 Dies gilt wohlgemerkt nur in Ansehung eines Kausalmittlers, d.h. wenn der Träger öffentlicher Gewalt zuvor eine abwehrrechtlich relevante Gefahrschaffungsgefahr geschaffen hat. Entschließt sich ein Privater ohne eine solche vorherige staatliche Einwirkung zur Beeinträchtigung eines anderen, dann ist der Staat abwehrrechtlich nicht zur Verantwortung zu ziehen. Der Beeinträchtigte mag dann vielleicht Schutzansprüche besitzen (Konrad, BayVBl. 1984, 73), doch insoweit diese nur auf das erforderliche Minimum gehen, ist es in solchen Lagen gerechtfertigt, den Beeinträchtigten auf das Ergreifen - effektiver - zivilrechtlicher Rechtsschutzmöglichkeiten zu verweisen, ehe er hoheitlichen (insbesondere polizeilichen) Schutz beanspruchen kann; vgl. dazu Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 238 f.; Konrad, BayVBl. 1984, 35 f., 71 f.; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr 21. S. hierzu unten G i l l c. 8 5 Auch die von Breuer, DVB1. 1983, 434, 438 geäußerten Bedenken gegen die damit verbundene "DoppeigleisigkeitH des Rechtsschutzes (Rechtsunsicherheit, Verfahrenskumulation, Verzögerungen) können nicht dazu führen, dem Wirkungsferneren den abwehrrechtlichen Rechtsschutz zu verkürzen. Die Entscheidung ist ihm zu überlassen, den besten Weg zur Wahrung seiner Rechte zu wählen.
322
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
chung eines bestimmten Ziels stehen mit der Folge, daß der Nachteil eines Betroffenen dann - jedenfalls teilweise - auch der (...) ersten Norm zuzurechnen ist" 8 6 . Die Zurechenbarkeit ist ferner gegeben bei verbindlichen Weisungen übergeordneter Behörden, deren Befolgung durch die angewiesene Behörde zu einem Eingriff in Abwehrrechte führt, sowie in dem Fall, daß eine Behörde auf das Einvernehmen seitens einer anderen angewiesen ist und es mangels Erteilung dieses Einvernehmens zu dem Eingriff in die Abwehrrechte des Bürgers kommt 87 . In einer solchen Situation stellt sich das Verantwortungsproblem ganz anders dar. Während beim privaten Kausalmittler ein Verantwortungsprinzip abzulehnen war, weil sonst der Beeinträchtigte ohne jeden abwehrrechtlichen Schutz dastünde, trifft den Träger öffentlicher Gewalt als Kausalmittler ohne weiteres eine eigene abwehrrechtliche Verantwortung. Während es daher im ersteren Fall um des abwehrrechtlichen Schutzes willen ausgeschlossen ist, den beschwerten Grundrechtsträger zunächst auf die Inanspruchnahme des privaten Kausalmittlers zu beschränken, spricht bei hoheitlichen Kausalmittlern grundsätzlich nichts dagegen, wenn die Verfahrens- und Prozeßordnungen vorrangig auf dessen Inanspruchnahme verweisen. Denkbar ist allerdings auch, daß Gesetz oder Verfahrensordnung die abwehrrechtliche Inanspruchnahme des hoheitlichen Kausalmittlers ausschließen und den Grundrechtsträger sogleich auf den ursachenferneren Träger öffentlicher Gewalt verweisen 88. Durch solche Regelungen wird dem Bürger weder ein zusätzlicher Prozeß noch ein zusätzliches Prozeßrisiko aufgebürdet, da hinsichtlich der abwehrrechtlichen Bindung kein Unterschied zwischen verschiedenen Trägern öffentlicher Gewalt zu machen ist 8 9 . Regelmäßig wird es freilich zweckmäßiger sein, wenn überhaupt eine Regelung getroffen wird, den Grundrechtsträger auf die Inanspruchnahme des hoheitlichen Kausalmittlers zu verweisen. Für den Bürger liegt dessen Inanspruchnahme ohnehin auf der Hand, da er sich so keine Gedanken über die vorhergehenden staatsinternen Abläufe machen muß. Auch mit dem staatsorganisatorischen Gefüge stimmt ein solches abwehrrechtliches Vorgehen gegen 8 6
BVerwG, N V w Z 1991, 980, 981 f. Zur Zurechenbarkeit von Beeinträchtigungen bei gestuften Normgebungen vgl. ferner BVerwG, DVB1. 1988, 499 f.; N V w Z 1989, 458, 460. 8 7
Z.B. Eingriff in Art. 14 GG, wenn die Baugenehmigungsbehörde infolge der - obgleich rechtswidrigen - Versagung des erforderlichen gemeindlichen Einvernehmens die Baugenehminicht erteilen darf, vgl. BGHZ 99, 262, 272 f.; 118, 253, 260 ff.; 118, 263, 265. Da die Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes nicht als solche isoliert angefochten werden kann, ist für die Anfechtungsklage nur der Träger öffentlicher Gewalt passivlegitimiert (§ 78 I VwGO), der den Verwaltungsakt erläßt, nicht der, der ihn bekanntgibt, ungeachtet dessen, daß der Verwaltungsakt erst mit Bekanntgabe wirksam wird. Vgl. zu einem solchen Fall O V G Koblenz, N V w Z 1985, 666. 8 9 Dazu, daß die abwehrrechtliche Verantwortlichkeit der beteiligten Träger öffentlicher Gewalt natürlich nicht dadurch entfallen kann, daß sie sich wechselseitig die Verantwortung zuschöben, treffend BGHZ 118, 253, 261 f.
I. Die Gefahrschaffngsgefahr
323
den hoheitlichen Kausalmittler besser überein als ein direkter Durchgriff auf den ursachenferneren Träger öffentlicher Gewalt: Exekutive 90 und Judikative etwa sind gehalten, zu vollziehende oder anzuwendende Gesetze auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen und dürfen sie insbesondere auch bei Verstößen gegen Abwehrrechte nicht anwenden91. Auch Weisungen sind auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen und gegebenenfalls im Wege der Remonstration anzugreifen. Muß aber das jeweils letzte Glied der staatlichen Entscheidungsund Vollzugskette auch das Vorangegangene auf seine Vereinbarkeit mit den Abwehrrechten prüfen, statt blindlings zu gehorchen und zu vollziehen, so ist es durchaus sinnvoll, eben hier anzusetzen. Infolge der Prüfungspflicht des Normanwenders wäre übrigens, sofern die Nichtigkeit der Norm offensichtlich ist, ein etwa infolge der "Vollziehung" der Norm bewirkter Eingriff in Abwehrrechte dem Normgeber nicht zuzurechnen. Denn der Erlaß einer offensichtlich nichtigen Norm schafft keine abwehrrechtlich relevante Gefahr, weil sie die Exekutive vernünftigerweise nicht anwenden kann. Liegt jedoch keine solche offensichtliche Nichtigkeit vor und ist die Nichtigkeit unerkannt geblieben, so besteht die Gefahr des Normvollzuges92. Dann kann es eine durchaus vernünftige Entscheidung sein, die Norm zu vollziehen, und zwar selbst dann, wenn der Grundrechtsträger bereits Bedenken gegen ihre Rechtmäßigkeit vorgebracht hat. In einem solchen Fall ist dem Normgeber der im Vollzug der nichtigen Norm gelegene Eingriff abwehrrechtlich zuzurechnen93. Das gleiche gilt überhaupt immer dann, wenn der ursachenfernere Träger öffentlicher Gewalt eine rechtlich oder tatsächlich so komplizierte Lage schafft, daß die Entscheidimg des Kausalmittlers zwar im Ergebnis falsch sein mag, aber angesichts der Schwierigkeiten nicht als offensichtlich verfehlt und damit "unvernünftig" erscheinen kann 94 . Zu beachten ist aber zweierlei. Mag auch Verfahrens- oder prozeßrechtlich eine Beschränkung auf die Inanspruchnahme des hoheitlichen Kausalmittlers angeordnet sein, so hat dies keine Auswirkung auf etwaige materiell-rechtli9 0 Zur Prüfungspflicht der Exekutive s. allgemein Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (Lfe. 1980) Rdnr V I 30; Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rdnr 26. 1
Solche Normen sind entweder schlicht außer acht zu lassen oder jedenfalls im Wege abstrakter oder konkreter Normenkontrollen (Art. 93 I Nr. 2, 100 I GG) zu Fall zu bringen. 9 2
BGHZ 92, 34, 38.
9 3
BGHZ 92, 34 hat daher zutreffend (auch) die Gemeinde für die Schäden verantwortlich gemacht, die dem Kläger infolge der vom Landratsamt auf der Grundlage des gemeindlichen Bebauungsplans erteilten Baugenehmigungen entstanden waren, und zwar ungeachtet dessen, daß der Kläger bereits vor Erteilung jener Baugenehmigungen ein Normenkontrollverfahren gemäß § 47 I Nr. 1 VwGO gegen den Bebauungsplan angestrengt hatte. 9 4 Vgl. BGHZ 92, 34, 50: "Dadurch, daß sich die Wohnbebauung aufgrund fehlerhafter Planungen der Beklagten näher an den emittierenden Betrieb der Kläger herangeschoben hatte, wurde die Entscheidung des Landratsamtes über den Vorbescheidsantrag der Kläger erheblich kompliziert. Daher würde es noch zu den typischen Folgen der Fehlplanung der Beklagten gehören, daß das Landratsamt die Frage des Bestandsschutzes unrichtig beurteilt hat.*
324
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
che Sekundär- und Tertiäransprüche gegen den ursachenferneren Träger öffentlicher Gewalt. Daß etwa prozeßrechtlich gegen eine auf eine rechtswidrige Norm gestützte Verwaltungsmaßnahme vorzugehen ist, heißt nicht, daß sich der sekundäre Abwehranspruch nicht auch gegen die gesetzgebende Körperschaft selbst richtete; prozessual darf allenfalls die prinzipale Normenkontrolle oder Normenverwerfung 95 ausgeschlossen werden, nicht aber die inzidente, weil der Grundrechtsträger sonst keine Möglichkeit hätte, seine gegen die Rechtsnorm gerichteten Abwehrrechte durchzusetzen96. Zweitens wäre eine prozessuale Beschränkung auf die Inanspruchnahme des hoheitlichen Kausalmittlers dann unzulässig, wenn nur durch einen prozessualen Durchgriff auf den ursachenferneren Träger öffentlicher Gewalt die Abwehrrechte effektiv wahrzunehmen sind. Hiervon ist etwa dann auszugehen, wenn infolge der Gefahrschaffung durch den Ursachenferneren ein Kausalmittler mehrmals oder gar mehrere Kausalmittler Eingriffe in Abwehrrechte des Betroffenen vornehmen, so daß es für diesen unzumutbar wäre, gegen die mehreren Maßnahmen einzeln vorzugehen, sondern er sogleich gegen die Ausgangsgefahr abwehrrechtlich effektiv vorgehen können muß 97 . Ist keine (abwehrrechtlich zulässige) Bestimmung dahin getroffen, welchen von mehreren Trägern öffentlicher Gewalt der betroffene Grundrechtsträger abwehrrechtlich in Anspruch zu nehmen hat, so ist ihm im Sinne einer größtmöglichen Effektuierung seiner Abwehrrechte die Wahl zwischen den Trägern öffentlicher Gewalt zu lassen, die insofern nach der Art von Gesamtschuldnern abwehrrechtlich verantwortlich sind 98 . Bedeutung hat dies insbesondere für die abwehrrechtlichen Tertiäransprüche 99. 9 5 Ein durch eine Rechtsnorm in seinen Abwehrrechten verletzter Grundrechtsträger hat keinen sekundären Abwehranspruch auf Nichtigerklärung der Norm mit Wirkung erga omnes, wie es Kennzeichen von Normenkontrollen ist; abwehrrechtlich wäre auch eine bloße Normverwerfung im Sinne einer Nichtanwendung der Norm im konkreten Fall statthaft. S. dazu unten H V 2. 9 6 Vgl. dazu Schenke, Rechtsschutz, S. 147 ff.; ders. y in BK, Art. 19 I V (Zweitb. 1982) Rdnr 270; Schmidt-Aßmann, in Maunz/Dürig, GG, Art. 19 I V (Lfg. 1985) Rdnr 73 f. 9 7 Vgl. Schenke, Rechtsschutz, S. 152 ff.; ders., in BK, Art. 19 I V (Zweitb. 1982) Rdnr 271; Schmidt-Aßmann, in Maunz/Dürig, GG, Art. 19 I V (Lfg. 1985) Rdnr 75. Zur diesbezüglichen Bedeutung des § 47 VwGO s. BVerwGE 56, 172, 178; 68, 12, 16. Als Beispiel s. etwa BGHZ 92, 34, 50: Der Nachbar muß nicht jede einzelne Baugenehmigung anfechten, um sich seinen Entschädigungsanspruch gegen die Gemeinde zu erhalten, wenn dies eine unzumutbare Vielzahl präventiver Abwehrklagen erforderte; vielmehr genügt die Einleitung eines Normenkontrollverfahrens gegen den Bebauungsplan als Grundlage dieser Baugenehmigungen. Als weitere Beispiele sind zu nennen Steuer- und Subventionsgesetze, Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, Rdnr 397 f. 9 8 So jetzt ausdrücklich BGHZ 118, 253, 262 in bezug auf Entschädigungsansprüche (mißverständlich ist allerdings, wenn hierbei von "deliktsrechtlicher" Gesamtschuldnerschaft gesprochen wird: im Unterschied zu BGHZ 118, 263, wo es um deliktische Amtshaftungsansprüche gemäß § 839 BGB ging, lag BGHZ 118, 253 nämlich gerade kein deliktischer Schadensersatzanspruch, sondern ein Entschädigungsanspruch aus enteignungsgleichem Eingriff zugrunde). 9 9 BGHZ 92, 34 gab daher zutreffend einer Entschädigungsklage gegen die Gemeinde statt, die den rechtswidrigen Bebauungsplan erlassen hatte, obschon der eigentliche Schaden erst in-
I. Die Gefahrschaffiingsgefahr
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e) Fremde Staaten als Kausalmittler Einen besonderen Fall von Kausalmittlern stellen fremde Staaten dar: Es ist vorstellbar, daß die deutsche öffentliche Gewalt (namentlich die Bundesregierung) auf die Regierung eines anderen Staates dergestalt einwirkt, daß diese der deutschen Personal- oder Gebietshoheit unterliegende Grundrechtsträger beeinträchtigt. Diese Konstellation lag etwa der Entscheidung zum NATODoppelbeschluß100 zugrunde. Darin ging es unter anderem darum, ob es der Bundesregierung als Eingriff in die Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit zuzurechnen gewesen wäre, wenn die von der Bundesregierung gestattete Dislozierung bestimmter mit nuklearen Gefechtsköpfen ausgerüsteter Raketen auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland die Gefahr eines von der (damaligen) Sowjetunion zu führenden (nuklearen) Präventivschlages gegen diese Raketen erhöht und damit die hiesigen Bürger erhöhten Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt hätte. Fraglich ist zunächst, ob mit dem BVerfG die abwehrrechtliche Relevanz dieser Gefahrschaffung und damit die Zurechenbarkeit mit folgender Überlegung prinzipiell zu verneinen ist: Ein allgemeines abwehrrechtliches Verantwortungsprinzip wurde oben 101 mit dem Argument abgelehnt, Grundrechtsträger und Staat seien keine gleichrangigen Rechtssubjekte, wohingegen die Sowjetunion und die Bundesrepublik Deutschland gleich souveräne Staaten sind, von denen keiner die Befugnis hat, über Maßnahmen des anderen zu bestimmen 102 . Von daher erscheint es auf den ersten Blick einleuchtend, die ursachennächste Sowjetunion als allein verantwortlich anzusehen: "Selbst wenn man davon ausginge, eine derartige erfahrungsgesetzliche Verbindung läge vor, könnte die von den Beschwerdeführern angenommene neue Gefahrenlage der Bundesrepublik Deutschland grundrechtlich nicht zugerechnet werden. Denn die befürchtete Lage würde entscheidend erst durch einen eigenständigen Entschluß deutscher Hoheitsgewalt nicht unterstehender Organe eines fremden souveränen Staates herbeigeführt... Jedenfalls könnte ihr nicht schlechthin jedes Ergebnis eines an ihr eigenes Vorverhalten anknüpfenden Verhaltens eines fremden Staates zugerechnet werden. Die Folge ... ist der an das Grundgesetz gebundenen Hoheitsgewalt aber dann nicht zuzurechnen, wenn sie nicht die Herrschaft über den Eintritt dieser Folge hat. Ist die Bundesrepublik Deutschland aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen gehindert, auf einen Geschehensablauf, der zu einem Eingriff in ein grundrechtlich geschütztes Rechtsgut führt, durch Steuerung ... Einfluß zu nehmen, kann ihr das Ergebnis dieses Geschehensablaufs verfassungsrechtlich nicht als Folge ihres eigefolge der durch das Landratsamt erteilten, aber auf diesen Bebauungsplan gestützten Baugenehmigungen entstand. 1 0 0
BVerfGE 66, 39. S. oben F I 3 a. 102 Ygj dazu Verdross /Simma, Universelles Völkerrecht, §§ 454 ff. 1 0 1
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F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
nen Verhaltens zugerechnet werden. Die verfassungsrechtliche Verantwortlichkeit der an das Grundgesetz gebundenen Hoheitsgewalt und damit auch der Schutzbereich der Grundrechte ... endet grundsatzlich dort, wo ein Vorgang in seinem wesentlichen Verlauf von einem fremden Staat nach seinem, von der Bundesrepublik Deutschland unabhängigen Willen gestaltet wird" 1 0 3 . Die Argumentation des BVerfG ist indes anfechtbar. Sie verfängt schon von ihrer - zunächst plausibel erscheinenden - Prämisse her nicht, daß die Idee der völkerrechtlichen Souveränität eine Verantwortlichkeit und Haftung eines Staates fur das Handeln eines anderen notwendig ausschließe. Selbst im diesbezüglich große Zurückhaltung übenden allgemeinen Völkerrecht wird nicht grundsätzlich ausgeschlossen, daß ein Staat einem dritten Staat gegenüber für das Handeln eines anderen Staates haften kann, selbst wenn letzterer völlig souverän handelt 104 . In diesem Zusammenhang ist ferner die Rechtsprechung des EGMR zu den Auslieferungsfällen 105 von Interesse, wonach unter der Europäischen Menschenrechtskonvention es nicht generell möglich ist, "die Vertragsparteien von ihrer Verantwortlichkeit nach Art. 3 für jedwede vorhersehbare außerhalb ihres Machtbereiches erlittene Folge einer Auslieferung loszusprechen" 106. Allein der Umstand, daß ein bestimmter Akt von einem Staat in voller Souveränität vorgenommen wird, befreit also selbst nach dem Völkerrecht einen anderen Staat nicht notwendig von jeder eigenen Verantwortlichkeit. Das Souveränitätsargument des BVerfG ist schon von daher keineswegs zwingend. Jedenfalls aber steht die Souveränität fremder Staaten nicht der abwehrrechtlichen Verantwortlichkeit deutscher Hoheitsträger nach dem Grundgesetz entgegen 107 . Gewiß ist im Hinblick auf den Grundsatz des ultra posse nemo obligatur richtig, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht verpflichtet sein kann, vor Eingriffen zu schützen, über die sie weder rechtliche noch tatsächliche Handlungsmacht hat, so daß ihr Grundrechtsgutsbeeinträchtigungen insoweit nicht zuzurechnen sein können. Indessen ging es im konkreten Fall nicht um die Verletzung irgendwelcher Schutzpflichten der Bundesrepublik Deutschland gegenüber ihren Bürgern vor Eingriffen seitens der Sowjetunion, sondern darum, ob sie selbst eine abwehrrechtlich relevante Gefahr für Leib und Leben geschaffen hatte. Der durchaus richtige Hinweis auf die Eigenverantwortlichkeit der Sowjetunion besagt zu der entscheidenden Frage nichts: Ist 1 0 3
BVerfGE 66, 39, 62; ebenso Heintzen, DVB1. 1988, 622.
1 0 4
Beispielsweise wenn ein Staat Beihilfe zu völkerrechtswidrigen Akten eines anderen souveränen Staates leistet, Verdross /Simma, Universelles Völkerrecht, § 1285; vgl. ferner Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Band ffl, S. 17: "wegen Komplizität". 1 0 5
S. oben B I V 3.
1 0 6
Eur. Court H.R., Soering v. Vereinigtes Königreich, Sériés A No. 161, S. 34 Ziff. 86; Vilvarajah v. Vereinigtes Königreich, Sériés A No. 215, S. 36 Ziff. 108. 1 0 7 Vgl. BVerwG, DVB1. 1992, 844, 848, daß grundrechtliche Gewährleistungen inhaltlich weiter gehen können als nach dem Völkerrecht vorgegeben.
I. Die Gefahrschaffngsgefahr
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der Erfolg zurechenbar, wenn ein Träger öffentlicher Gewalt die Gefahr schafft, daß ein eigenverantwortlicher und seiner Kontrolle (rechtlich oder tatsächlich) entzogener Kausalmittler die Bürger in ihren Grundrechten beeinträchtigt? Das ist zu bejahen. Die Zurechnungsgrundlage ist nämlich nicht die Herrschaft über den Kausalmittler, sondern die Gefahrschaffung. Man könnte sogar sagen: Gerade weil der Bundesrepublik Deutschland die Herrschaft über die Sowjetunion fehlte, war diese Gefahrschaffung abwehrrechtlich relevant, wenn sie eine Kausalreihe in Gang setzte, die zu dem fraglichen Erfolg führen konnte. Gerade wer die Herrschaft über den Geschehensablauf verliert, sobald er ihn in Gang gesetzt hat, muß sich schon für dieses Ingangsetzen verantworten. Das "Lostreten einer Lawine" ist ja gerade deshalb so gefährlich, weil man sie hinterher nicht mehr aufhalten kann! 1 0 8 . Die Bundesrepublik Deutschland darf sich ihrer abwehrrechtlichen Verantwortlichkeit nicht dadurch entziehen und den Bürger abwehrrechtlich schutzlos stellen, daß sie einen anderen Staat zwischenschaltet, indem sie auf diesen derart einwirkt, daß dieser womöglich das Grundrechtsgut beeinträchtigt. Denn die Abwehrrechte stehen - zumal dann, wenn die Beeinträchtigungsfolgen wiederum im Inland eintreten - auch einer solchen Umgehung entgegen 1 0 9 . Allein daß die Maßnahme der deutschen öffentlichen Gewalt eine Entscheidung des fremden Hoheitsträgers erforderlich macht und insofern zunächst im Ausland Platz greifen mag, ändert hieran nichts. Das BVerfG hat zutreffend festgestellt, daß die Grundrechte die deutsche öffentliche Gewalt auch dann binden, "soweit Wirkungen ihrer Betätigung außerhalb des Hoheitsbereichs der Bundesrepublik Deutschland eintreten" 110 . Man stelle sich nur den Extremfall vor, die deutsche Regierung stiftete eine fremde Regierung an, in jenem Land befindliche und der deutschen Regierung ungenehme Personen zu liquidieren! Dieser krasse Fall zeigt deutlich, daß die abwehrrechtliche Relevanz einer Gefahrschaffung nicht allein durch das Dazwischentreten eines auswärtigen Staates ausgeschlossen sein kann 1 1 1 . Zwar ist zweifellos jede auswärtige Macht selbst für ihre Handlungen verantwortlich, doch dies entläßt die deutsche Staatsgewalt nicht aus ihrer Bindung an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG), die sie auch zu beachten hat, 1 0 8 Nicht überzeugend daher auch Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 276 f., der auf die Möglichkeit zur "Kontrolle" durch die deutsche öffentliche Gewalt abstellt, hingegen die "tatsächliche Förderung" der Handlung der ausländischen Macht nicht genügen lassen will. 1 0 9 Vgl. BVerwG, DVB1. 1992, 844, 848, daß es eine unstatthafte Umgehung der Abwehrrechte darstellte, im Ausland "Barrieren" gegen ihre Wahrnehmung zu errichten, die in Deutschland unzulässig wären. 1 1 0
BVerfGE 6, 290, 295; 57, 9, 23; Jarass/Pieroth, GG, Präambel Rdnr 6; Kunig, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 1 Rdnr 53. 1 1 1 Befremdlich Heintzen, DVB1. 1988, 622, der selbst in solchen Fällen in der fremden Souveränität eine strikte Zurechenbarkeitsgrenze sieht. Unabhängig von jedem dogmatischen Verständnis ist ein solches Ergebnis schlechterdings unhaltbar.
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F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
wenn sie auf fremde Staaten einwirkt 112 ; dabei spielt keine Rolle, ob die Bundesrepublik Deutschland einen völkerrechtlichen Anspruch oder lediglich eine tatsächliche Aussicht oder Hoffnung auf jenes erbetene Handeln hat, oder ob sie jenes Handeln sogar furchten mag. Bereits die Einwirkung auf die ausländische Macht muß sich daher an abwehrrechtlichen Maßstäben messen lassen. Der Bundesrepublik Deutschland würde entgegen dem BVerfG keineswegs das Handeln eines fremden Staates zugerechnet werden; die Zurechenbarkeit ist vielmehr darin fundiert, daß sie selbst die Gefahr eines solchen Handelns des fremden Staates begründet hat. Kommen hiernach auch fremde Staaten als Kausalmittler in Betracht, so scheiterte die abwehrrechtliche Relevanz der Aufstellung der Raketen in Vollzug des NATO-Doppelbeschlusses nicht schon daran, daß die eventuelle Angriffsentscheidimg von einer fremden Regierung zu treffen gewesen wäre; angesichts der - zu unterstellenden 113 - Gefahrschaffungsgefahr war deshalb die abwehrrechtliche Relevanz derselben nach dem Vernünftigkeitsprinzip zu prüfen 114 . f) Ergebnis Die Schaffung einer Gefahr für die Grundrechtsgüter des Wirkungsferneren durch den Kausalmittler, sowie ihre Verwirklichung im Beeinträchtigungserfolg, ist dem Staat dann zuzurechnen, wenn er eine abwehrrechtlich relevante Gefahrschaffungsgefahr geschaffen hat. Das ist dann der Fall, wenn er den Kausalmittler in eine Situation gebracht hat, in der die Schaffung der wirkungsferneren Gefahr eine in dieser Lage des Kausalmittlers vernünftige Entscheidung darstellte. Diese Definition ist aufgrund der ineinander verwobenen gestaffelten Gefahrenebenen naturgemäß komplex und kompliziert - was allerdings nur getreulich die Komplexität des aufzulösenden vielschichtigen Sachverhaltes widerspiegelt -; im Laufe der nachfolgenden Fallbetrachtung werden aber die einzelnen Elemente der Definition konkretisiert sowie ihre praktische Umsetzung demonstriert werden.
1 1 2 Vgl. Jarass/Pieroth, 23 f. - Auslieferungsersuchen.
GG, Art. 1 Rdnr 20. Insofern nicht überzeugend BVerfGE 57, 9,
1 1 3 Nicht überzeugend lehnte BVerfGE 66, 39, 59 ff. die Annahme einer Gefahrschaffungsgefahr ab, weil "verfassungsgerichtlich nicht feststellbar" sei, ob und welchen Einfluß die Stationierung auf die Entscheidungen der Sowjetunion habe, es hierfür vielmehr "an rechtlich maßgeblichen Kriterien" fehle, und "anhand rechtlicher Maßstabe nicht zu beurteilen" sei, ob hier eine Gefahr geschaffen worden sei. Allein der Umstand, daß eine gerichtliche Sachverhaltsaufklärung unmöglich ist, fuhrt nicht zur rechtlichen Irrelevanz der fraglichen Tatsachen und zu einer politischen Beurteilungsprärogative. Vielmehr mußte nach Beweislastregeln verfahren werden. Danach war eine (wenngleich geringe) Gefahr anzunehmen. Das BVerfG prüfte daher zu Recht, wie bei "angenommener neuer Gefahrenlage" zu entscheiden war (ebd., S. 62). 1 1 4 S. dazu unten F U 2 c dd.
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen Gegenstand dieses Abschnitts ist die nähere Bestimmung der abwehrrechtlichen Relevanz von Einwirkungen des Staates auf den Kausalmittler, d.h. die Erörterung, wann von einer abwehrrechtlich relevanten Schaffung einer Gefahrschaffungsgefahr in sequentiellen Beeinträchtigungskonstellationen auszugehen ist. Zur Begründung der Zurechenbarkeit der Fernwirkung kommt es nach dem Vernünftigkeitsprinzip maßgeblich darauf an, ob die Willensentschließung des Kausalmittlers und damit seine Handlung als vernünftige Reaktion auf die vorangegangene Einwirkung seitens des Staates anzusehen sind1. Es liegt nun auf der Hand, daß die Tendenz dieser staatlichen Einwirkung, also ob sie sich aus der Sicht des Kausalmittlers für ihn vorteilhaft, nachteilig oder neutral auswirkt 2, eine mitbestimmende Bedeutung für die Beurteilung haben muß, welches die in seiner Lage vernünftige Entscheidung ist. Aus diesem Grunde bietet sich an, im Rahmen der nachfolgenden Analyse zwischen diesen Fallgruppen zu unterscheiden.
1. Vorteilhafte Einwirkungen auf den Kausalmittler Aus dem Vernünftigkeitsprinzip ergibt sich zunächst unschwer, daß die abwehrrechtliche Relevanz der Gefahrschaffungsgefahr regelmäßig zu bejahen ist, wenn der Staat dem Kausalmittler einen Vorteil gewährt, dessen vernünftige Ausnutzung durch den Kausalmittler zu der Schaffung der Gefahr für die Grundrechtsgüter des Wirkungsferneren führt. Die Vorteilsgewährung kann dabei sowohl das Können als auch die Ebene des Dürfens des Kausalmittlers betreffen. a) Erweiterung
des rechtlichen Könnens des Kausalmittlers
Wenn der Staat das rechtliche Können einer Person in der Form erweitert, daß er ihr eine rechtliche Handlungsfähigkeit einräumt, deren Ausnutzung einem anderen Nachteile bringt, so scheint hierin improblematisch eine abwehrrechtlich relevante Schaffimg einer Gefahrschaffungsgefahr zu liegen, weil es vernünftig ist, rechtliches Können auszunutzen. Indessen ist die Lage teilweise einfacher, teilweise aber auch wesentlich komplizierter, als eine solche allein 1 2
S. vorstehend F 13 b. So auch die Unterscheidung von Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 182.
330
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
auf den sequentiellen Wirkmechanismus abhebende Vorstellung erfassen kann. Einfacher ist die Lage insofern, als der sequentielle Wirkmechanismus von einem rein zweipoligen Bürger-Staat-Verhältnis überlagert sein und ein Eingriff bereits in diesem vorliegen kann, so daß es nicht mehr auf das dreipolige Verhältnis ankäme. Komplizierter wird die Lage aber dadurch, daß es, soweit ein überlagerndes zweipoliges Verhältnis nicht zur vollständigen Erfassung der Konstellation genügt, in der Sequenz zur Feststellung eines Eingriffs in Abwehrrechte des Wirkungsferneren nicht nur auf die Einwirkung auf den Kausalmittler ankommt (damit ist lediglich das Problem der Zurechenbarkeit angesprochen), sondern auf den Beeinträchtigungserfolg beim Wirkungsferneren: die prinzipielle Bejahung der Zurechenbarkeit entbindet nicht von einer genauen Beurteilung des Beeinträchtigungserfolges! Diese Punkte bedürfen eingehender Behandlung. aa) Überlagerndes zweipoliges Verhältnis Das Problem der Überlagerung des dreipoligen durch ein zweipoliges Verhältnis läßt sich etwa am Problem der Mitbestimmung in Tendenzbetrieben darstellen, wie es im Mitbestimmungsbeschluß des BVerfG 3 angeklungen ist. Angenommen, ein Betriebsverfassungsgesetz räumte (im Gegensatz zu der Vorschrift des § 118 BetrVG 19724) dem Betriebsrat tatsächlich unbeschränkte Mitbestimmungsbefugnisse auch in Tendenzbetrieben wie etwa Verlagen ein. Damit schüfe es die Gefahr, daß der Betriebsrat diese wahrnähme; aus der Sicht des Betriebsrates wäre die Wahrnehmung seiner Befugnisse sogar die einzig rationale Entscheidung. Eben diese Befugniswahrnehmung begründete wiederum die Gefahr, daß der Verleger als eigentlicher Tendenzträger die Tendenz seiner Zeitimg nicht mehr frei bestimmen könnte, was eine Beeinträchtigimg seiner durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG geschützten Freiheit bedeutete. Es läge bei dieser Sichtweise eine Konstellation vor, in welcher eine staatliche Ausgangsmaßnahme (das BetrVG), vermittelt über eine vernünftige Entscheidung eines Kausalmittlers, der damit auch zum Zurechnungsmittler würde (des Betriebsrates), eine abwehrrechtlich relevante Gefahr (für die verlegerische Freiheit) begründete; der Erlaß eines solchen Gesetzes konstituierte insofern eine Gefahrschaffungsgefahr. Dieser Umstand, daß nicht der Staat selbst in die Tendenzfestlegung eingriffe, sondern nur einen privaten Dritten dazu ermächtigte, veranlaßte das BVerfG denn auch, für einen solchen (angenommenen) Fall nur einen "mittelbaren" Eingriff anzunehmen: "Dem Staat sind insoweit nicht nur unmittelbare Eingriffe, vor allem in Gestalt eigener Einflußnahme auf die Tendenz von Zeitungen verwehrt; er darf auch nicht durch rechtliche Regelungen die Presse fremden - nichtstaatlichen - Einflüssen 3 4
BVerfGE 52, 283. Betriebsverfassungsgesetz v. 15.1.1972 (BGBl. I S . 13).
. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
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unterwerfen oder öffnen, die mit dem durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG begründeten Postulat unvereinbar wären, der Freiheit der Presse Rechnung zu tragen"5. Indessen zeigt eine genaue Betrachtung, daß die Einordnung als sequentielle Beeinträchtigungskonstellation hier unnötig kompliziert wäre, weil tatsächlich ein einfacherer Wirkmechanismus vorliegt. Die Einräumung einer Mitbestimmungsbefugnis gewährt dem Begünstigten rechtliche Handlungsfähigkeiten, die er zuvor nicht hatte, und erweitert damit sein rechtliches Können: er kann nun mit rechtlicher Wirkung auf alle die Vorgänge in seinem Sinne Einfluß nehmen, für die ihm diese Macht gegeben wurde 6. Für diese Diagnose ist unerheblich, daß dieses rechtliche Können nicht gegenüber dem Staat, sondern gegenüber dem Verleger zum Tragen kommt, da es diesbezüglich nur auf die Indienststellung staatlicher Machtmittel zu dem nicht-staatlichen Zweck ankommt7. In einer solchen Verleihung von rechtlicher Handlungsfähigkeit an den Betriebsrat läge indessen logisch zwingend eine Einschränkung des rechtlichen Könnens des Verlegers, da dieser nicht mehr, wie es zuvor der Fall war, rechtlich gesichert eigenständig die Tendenz seiner Zeitung festlegen könnte. Was diesen Fall wie eine sequentielle Beeinträchtigungskonstellation aussehen läßt, ist die Gesetzestechnik des BetrVG, das (wie sollte es aber anders sein?) positiv aufzählt, welche Befugnisse dem Betriebsrat gegeben, und nicht negativ, welche dem Verleger genommen werden. Die Zurechenbarkeit der Einschränkung des rechtlichen Könnens des Verlegers wäre zwar auch dann unproblematisch, wenn man eine sequentielle Beeinträchtigung bejahte; indessen ist es nicht sinnvoll, eine unnötig komplizierte Situationsbeschreibung anzunehmen. Vielmehr ist hier festzuhalten, daß ein dreipoliges Verhältnis (Verleger-Betriebsrat-Staat) durch ein zweipoliges (Verleger-Staat) überlagert wird, wenn der Staat das rechtliche Können des Verlegers einschränkt, um es dem Betriebsrat zu verleihen. Denn die Feststellung der Einschränkung rechtlicher Freiheit im zweipoligen Verhältnis ist unabhängig davon, zu wessen Gunsten sie erfolgt, ob zugunsten eines Trägers öffentlicher Gewalt oder des Betriebsrates, da es insoweit ausschließlich auf die Lage des in seiner Freiheit betroffenen Verlegers ankommt. Freilich ist auch im zweipoligen Verhältnis das Erfolgselement zu beachten. Um einen solchen Erfolg bejahen zu können, müßte die (drittbegünstigende) Einschränkung des rechtlichen Könnens nicht nur eine abwehrrechtlich uner5
BVerfGE 52, 283 , 296.
6
Mitbestimmungsbefugnisse können natürlich unterschiedlich weit reichen, vgl. etwa Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, § 230 I. Daraufbraucht hier nicht näher eingegangen zu werden. 7 S. oben D H 1 b. 23 Roth
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F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
hebliche Zurücknahme, sondern eine echte Beeinträchtigung darstellen8. Hieran könnte es im Mitbestimmungs-Beispiel fehlen. Denn das BetrVG als formelles Gesetz kommt grundsätzlich als Neudefinition der sich aus anderen Gesetzen ergebenden unternehmerischen und verlegerischen Befugnisse des Tendenzträgers in Betracht. Allerdings wäre zu beachten, daß eine solche einschränkende Neudefinition der rechtlichen Befugnisse des Verlegers deshalb als Beeinträchtigung seines rechtlichen Könnens anzusehen wäre, weil er den Titel zur Ausübung der bisherigen Befugnisse durch eigene Leistung erworben hat (nämlich durch den Erwerb bzw. Aufbau des Verlages). Jedoch müßte diese Beeinträchtigung der verlegerischen Freiheit nicht rechtswidrig sein, sofern sich hierfür genügende Rechtfertigungsgründe fänden. (Eine absolute Grenze jeder einschränkenden Neudefinition des verlegerischen rechtlichen Könnens bildete freilich der Soll-Wert des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG 9 . Dieser stellt eine absolute Grenze auf, wie weit die Mitbestimmungsbefugnisse des Betriebsrates gehen dürfen. Soll-Wert verlegerischer Freiheit ist, daß durch eventuell eingeräumte Mitbestimmungsbefugnisse nicht die geistig-ideellen Vorstellungen des Unternehmers einer ernsthaften Beeinträchtigung durch den Betriebsrat ausgesetzt werden dürfen 10 .) Das vorstehend Gesagte ist verallgemeinerungsfähig: Insoweit die Verleihung rechtlichen Könnens an den einen notwendigerweise spiegelbildlich die Einschränkung des rechtlichen Könnens eines anderen bedeutet, wird die sequentielle Beeinträchtigungskonstellation durch ein zweipoliges Bürger-StaatVerhältnis überlagert, nur eben mit der Besonderheit, daß nicht ein Träger öffentlicher Gewalt, sondern ein privater Dritter davon profitiert. In Anlehnung an strafrechtsdogmatische Figuren 11 kann man in einer solchen Lage von einer Stoffgleichheit sprechen12: Wenn die Erweiterung des rechtlichen Könnens des einen spiegelbildlich identisch ist mit der Einschränkung des rechtlichen Könnens des anderen, so ist ohne weiteres vom Vorliegen eines zweipoligen Verhältnisses auszugehen. Diese Feststellimg gilt unabhängig davon, ob der Dritte seine ihm neu verliehene rechtliche Handlungsfähigkeit auch gebraucht, weil es nur auf die Minderung des rechtlichen Könnens des Beschwerten ankommt. Erforderlich bleibt freilich allemal die Erfüllung des Erfolgselementes: das rechtliche Können des Betroffenen darf also nicht lediglich zurückgenommen, 8
S. dazu oben D U 2 a aa. Insofern wird sachlich treffend vom Tendenzschutz gesprochen, BVerfGE 52, 283, 296; BAG, AP Nr. 4 zu § 118 BetrVG 1972. 1 0 Vgl. dazu BAG, AP Nr. 4, 7, 18 zu § 118 BetrVG 1972; BVerfGE 52, 283, 300 ff.; zum Ganzen Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, § 214 m 5. 9
1 1
Vgl. das Erfordernis der "Stoffgleichheit" beim Betrug, daß der erstrebte Vermögensvoiteil Kehrseite des Schadens sein muß, BGHSt 6, 115, 116; 34, 379, 391; Cramer, in Schönke/ Schröder, StGB, § 263 Rdnr 168; Lackner, StGB, § 263 Rdnr 59. 1 2 Vgl. Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen, S. 12.
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
333
es muß beeinträchtigt sein 13 . Ein deprivativer Eingriff in die Abwehrrechte des Beschwerten durch die Beeinträchtigung seines rechtlichen Könnens liegt daher zum einen vor, wenn ein unterrangiger Rechtsakt dem Dritten über dessen gesetzlich begründete Befugnisse hinaus rechtliches Können verleiht und dadurch spiegelbildlich das rechtliche Können des Beschwerten beeinträchtigt (so etwa wenn ein Verwaltungsakt einem Bürger Befugnisse gegenüber einem anderen einräumte, die über die schon vom Gesetz vorgesehenen hinausgehen). Sofern es sich hingegen um die gesetzliche Neudefinition des rechtlichen Könnens handelt, liegt aus der Sicht dessen, der rechtliche Handlungsfähigkeit einbüßt, eine Rücknahme seines rechtlichen Könnens vor, die nur dann als abwehrrechtlich relevante Beeinträchtigung anzusehen ist, wenn er durch eigene Leistung einen Titel erworben hatte, welchen den Fortbestand dieses rechtlichen Könnens unter besonderen Vertrauensschutz stellt; dann liegt wiederum ein deprivativer Eingriff in das betroffene Abwehrrecht vor. Auch in Abwesenheit eines solchen Vertrauenstatbestands kann die Rücknahme des rechtlichen Könnens noch ihre Grenze in einem etwaigen forderungsrechtlichen Soll-Wert des Grundrechtsgutes finden, in dessen Schutzbereich das zurückgenommene rechtliche Können fiel. bb) Keine Erschöpfung im zweipoligen Verhältnis Es ist allerdings nicht möglich, bei der Untersuchung eines etwa überlagernden zweipoligen Verhältnisses stehen zu bleiben. Denn eine solche Überlagerung kann erfolgen, muß es aber nicht, da es an der Stoffgleichheit fehlen kann, und vor allem braucht sich das dreipolige Verhältnis nicht in einem solchen zweipoligen zu erschöpfen. Zum ersten ist es keineswegs zwingend, daß die Erweiterung des rechtlichen Könnens des Kausalmittlers spiegelbildlich eine Einschränkung des rechtlichen Könnens des Wirkungsferneren bedeutet. Als Beispiele sind der Fall betreffend die Bauvorlagenberechtigung und der Rheinfähren-Fall zu nennen. Im ersten Fall war durch eine Änderung landesgesetzlicher Vorschriften auch anderen Berufsgruppen als Architekten eine (beschränkte) Bauvorlagenberechtigung zugebilligt worden. Den hiergegen gerichteten Normenkontrollantrag eines Architekten wies der HessStGH im Ergebnis zu Recht ab 1 4 . Festzustellen war zunächst, daß die Verleihung der Bauvorlagenberechtigung zwar eine Erweiterung des rechtlichen Könnens jener Berufsgruppen darstellte, doch gerade nicht kehrseitig eine Beschränkung des rechtlichen Könnens der Architekten mit sich brachte: rechtlich konnten die Architekten diese Funktion wie zuvor ausüben15. Insofern dasselbe gilt für
1 3
Vgl. hierzu oben D Q 2 a aa.
1 4
HessStGH, N V w Z 1983, 542. Zutreffend HessStGH, N V w Z 1983, 542, 543.
1 5
334
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
den Rheinfähren-Fall 16. Die Kläger betrieben als Inhaber einer (unter Art. 14 Abs. 1 GG fallenden) Fährgerechtigkeit eine Rheinfähre, deren Betrieb sie als unrentabel einstellen mußten, nachdem die beklagte Bundesrepublik Deutschland nur 3 km entfernt eine Autobahnbrücke dem Verkehr widmete und fortan die meisten Autofahrer jene Brücke benutzten. Auch hier fehlte es an einer Beeinträchtigung des rechtlichen Könnens der Kläger. Durch die Verleihung der Fährgerechtigkeit hatte sich der Staat nicht des Rechtes begeben, Brücken zu bauen; die von den Klägern innegehabte Rechtsposition war insoweit von Anfang an beschränkt. War aber das durch die Verleihung der Fährgerechtigkeit eingeräumte rechtliche Können von vornherein durch die Möglichkeit eines zukünftigen Brückenbaus begrenzt, so konnte der später erfolgte Bau der Brücke das rechtliche Können nicht berühren. Beeinträchtigt konnte in beiden Fällen allenfalls das natürliche Können der Betroffenen sein, nämlich die natürliche Fähigkeit der Architekten, im bisherigen Umfang von ihrer Bauvorlagenberechtigung Gebrauch zu machen, bzw. der natürliche Wert des Fährbetriebes. Denkbar ist zweitens auch, daß zwar das rechtliche Können des Wirkungsferneren bereits durch die Erweiterung der rechtlichen Handlungsfähigkeit beeinträchtigt ist, daß es aber gleichwohl zusätzlich auf die Beeinträchtigimg des natürlichen Könnens ankommt17. Die Beeinträchtigung des rechtlichen und damit auch des hierzu akzessorischen natürlichen Könnens besteht zwar unabhängig davon, ob der begünstigte Kausalmittler von seinem neu verliehenden rechtlichen Können Gebrauch macht. Doch ob er dies tut, hat Bedeutung für den Inhalt der Sekundär- und Tertiäransprüche. Das läßt sich wiederum am Mitbestimmungs-Beispiel zeigen: Wurden dem Betriebsrat Mitbestimmungsbefugnisse verliehen, so ist dadurch zwar das rechtliche Können des Verlegers beeinträchtigt. Eine ganz andere Frage ist jedoch, ob der Betriebsrat von seinen rechtlichen Befugnissen tatsächlich Gebrauch macht. Tut er dies nämlich nicht, so könnte der Verleger rein tatsächlich nach wie vor seine Entscheidungen selbständig treffen, auch wenn diese Fähigkeit rechtlich nicht mehr geschützt wäre. Sobald indessen der Betriebsrat seine Befugnisse wahrnähme, büßte der Verleger auch noch dieses natürliche Können ein. Da die Wahrnehmung von Befugnissen in der Regel vernünfig ist, wären dem Staat auch die dann eintretenden Folgen zuzurechnen. Daß somit der Eingriff in die verlegerische Freiheit unter zwei unterschiedlichen Erfolgsaspekten gegeben wäre, kann insbesondere im Hinblick auf sekundäre und tertiäre Abwehransprüche von Bedeutung sein, weil der Staat eben nicht nur für die Beeinträchtigung des rechtlichen Könnens, sondern auch für die tatsächlichen Folgen verantwortlich wäre.
1 6 1 7
BGHZ 94, 373. S. oben D TL 2 a cc.
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
335
Untersucht man nun, ob im Fall der Bauvorlagenberechtigung, wenn schon nicht das rechtliche, so vielleicht das naturliche Können des Architekten in abwehrrechtlich beachtlicher Weise beeinträchtigt war, so ist zunächst festzuhalten, daß die zutreffende Verneinung jedenfalls entgegen dem HessStGH nicht war, der Architekt sei "nur in mittelbar, faktischer Weise, nicht hingegen 'unmittelbar1 in seinen Rechten betroffen", da er nicht Adressat der angegriffenen Norm sei 18 . Darauf kam es nicht an 1 9 . Entscheidend war vielmehr folgendes: Das rechtliche Können (die Fähigkeit, wirksam eine Bauvorlage einzureichen) wurde durch einfaches Landesgesetz verliehen. Es konnte daher auch durch ebensolches Gesetz (unter Beachtung etwaiger Vertrauensgesichtspunkte und bis zur Grenze eines eventuellen Soll-Wertes) wieder aufgehoben werden, wobei dann weder eine Beeinträchtigung des rechtlichen Könnens hätte geltend gemacht werden können, noch eine Beeinträchtigung des natürlichen Könnens, weil letzteres, soweit es sich auf den Gebrauch der rechtlichen Handlungsfähigkeit bezieht, akzessorisch ist und ohnehin nur in dessen Rahmen besteht20. Es kann nichts anderes gelten, wenn das Landesgesetz, ohne das rechtliche Können des Architekten förmlich zurückzunehmen, nur eine Bestimmimg trifft, welche auf das akzessorische natürliche Können zurückwirkt und es reduziert. Infolgedessen lag nicht nur keine Beeinträchtigung des abwehrrechtlich geschützten rechtlichen Könnens des Architekten vor, sondern auch keine nicht-akzessorische Beeinträchtigung seines natürlichen Könnens, so daß seine Klage mangels Eingriffs in seine rechtliche oder natürliche Berufsfreiheit erfolglos bleiben mußte. Das gleiche war im Rheinfähren-Fall zu konstatieren. Das rechtliche Können der Fährenbetreiber war, wie schon dargelegt, nicht beeinträchtigt worden. Ihr natürliches Können indessen war als akzessorisches nur im Rahmen ihrer rechtlichen Handlungsfreiheit geschützt und wurde nicht dadurch beeinträchtigt, daß ein anderer das Recht zum Brückenbau erwarb. Der BGH stellte daher zutreffend fest, daß das frühere Nichtvorhandensein einer Brücke nur eine vom Schutzbereich der Fährgerechtigkeit nicht erfaßte günstige faktische Gelegenheit war, die nunmehr entschädigungslos entfiel 21 .
1 8 1 9 2 0 2 1
HessStGH, N V w Z 1983, 542, 543; ähnlich bereits HessStGH, ESVGH 25, 38, 40. Gegen das Unmittelbarkeitskriterium s. oben B H 2 a und E I I 6 a.E. S. oben D U 2 a cc.
BGHZ 94, 373, 376 f. Mit nahezu identischer Begründung wies übrigens bereits das OTr, Striethorsts Archiv 24 [1857], 1, 4 f. (Urteil v. 25.9.1856) eine entsprechende Klage ab: die Fährgerechtigkeit beinhalte nicht die Befugnis zum Brückenbau, vielmehr seien Fährbetrieb und Brückenanlage jeweils selbständig ausübbare und nutzbare Rechte; der Inhaber der Fährgerechtigkeit könne daher nicht gegen den Brückenbau vorgehen. Die faktische Verminderung des Ertrages der Fährgerechtsame sei hinzunehmen, da, wer sich seines Rechtes innerhalb der gewöhnlichen Schranken bedient, die einem anderen daraus erwachsenden Nachteile nicht zu ersetzen brauche.
336
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
b) Erweiterung
des natürlichen Könnens des Kausalmittlers
Der Staat kann den Kausalmittler nicht nur durch die Erweiterung seiner rechtlichen Handlungsfähigkeit begünstigen, sondern auch durch das tatsächliche Zurverfugungstellen von Mitteln, Hilfen und Informationen, die das natürliche Können des Kausalmittlers erweitern und deren Nutzung sodann den Wirkungsferneren beschwert. aa) Wettbewerbskonstellationen / Subventionsfälle Wettbewerbskonstellationen22 sind sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen mit in der Regel vier Kettengliedern: Die staatliche Maßnahme verschafft dem Konkurrenten Kostenvorteile, die er natürlich nutzt, um sie in Form lukrativer Preisangebote an seine potentiellen Kunden weiterzugeben; diese wiederum kontrahieren vernünftigerweise mit dem, der zu den günstigsten Preisen anbietet, und der nicht begünstigte Wirkungsfernere hat das Nachsehen. Beeinträchtigt ist seine (zumindest durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte) natürliche Fähigkeit, am Wettbewerb teilzunehmen, der Wert seiner Wettbewerbsfreiheit 23. Da sich in dieser Beeinträchtigung, vermittelt durch die je vernünftigen Entscheidungen der Konkurrenten und Kunden, die in der staatlichen Bevorzugung der Konkurrenten angelegte Gefahr verwirklicht, ist an der Zurechenbarkeit dieses Beeinträchtigungserfolges nicht zu zweifeln. Das BVerfG hat diesen Mechanismus bereits sehr früh in seinen zwei Entscheidungen24 zum Umsatzsteuersystem und zur steuerlichen Behandlung der " Organschaft" entlarvt. Diese Entscheidungen sind auch deswegen von Interesse, weil sie gut demonstrieren, auf welch subtile Art und Weise Benachteiligungen geschaffen werden können und wie wichtig eine genaue Analyse des Beeinträchtigungsmechanismus ist. Es ging im wesentlichen um Folgendes: Umsatzsteuerpflichtig waren alle entgeltlichen Warenlieferungen eines Unternehmens an einen Abnehmer ("Außenlieferungen"), nicht aber lieferungsartige Vorgänge innerhalb desselben Unternehmens, etwa von einem Betrieb zum anderen ("Innenlieferungen"). Die Organschaft-Regelung 25 stellte Lieferungen innerhalb eines "Organkreises", also zwischen Unternehmen, von denen eines das andere tatsächlich beherrscht, oder die beide demselben tatsächlich herrschenden Unternehmen untergeordnet sind, umsatzsteuerrechtlich den Innen2 2 2 3 2 4
Vgl. dazu den Überblick bei Rittner/Stephan, GewArch 1985, 179 ff. Zum Problem des Eingriffs in das Gleichheitsrecht des Art. 3 I GG s. unten G i l b .
BVerfGE 18, 1 (zur Zulässigkeitsfrage); 21, 12 (zur Begründetheit). Sie ergab sich aus § 2 des Umsatzsteueigesetzes i.d.F. v. 1.9.1951 (BGBl. I S. 791), Art. 2 des Neunten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes v. 18.10.1957 (BGBl. I S. 1743) und Art. 1 Nr. 1 des Elften Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes v. 16.8.1961 (BGBl. I S. 1330); dem entspricht heute § 2 Abs. 2 UStG 1980 v. 26.11.1979 (BGBl. I S. 1953) i.d.F. des Steuerbereinigungsgesetzes 1986 v. 19.12.1985 (BGBl. I S. 2436). 2 5
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
337
lieferungen gleich, obschon privatrechtlich Außenlieferungen vorlagen. Dies wirkte sich insbesondere für kleinere, keinem Organkreis angehörige und folglich ausschließlich auf Außenlieferungen angewiesene Unternehmen dahin aus, daß ein Endprodukt mit insgesamt höherer Umsatzsteuer und damit betriebswirtschaftlichen Selbstkosten hergestellt wurde als es bei der Organschaft unterfallenden Unternehmen der Fall war, die durch die steuerliche Regelung tatsächliche Kostenvorteile gewannen. Das BVerfG ließ die Verfassungsbeschwerden gegen diese Regelung zu, denn es "muß genügen, daß die als nichtig gerügte Steuernorm, hier also die Organschaft, den Konkurrenten der Beschwerdeführer rechtliche Vorteile bringt, die die Wettbewerbsfähigkeit der Beschwerdeführer mindern, und daß die darin liegende Benachteiligung ... wegfallen würde, wenn die Steuernorm für nichtig erklärt würde. Daß die Beschwerdeführer in ihrer Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den von der Organschaft bevorzugten Konkurrenzunternehmen benachteiligt sind, liegt, wenigstens für den Regelfall, auf der Hand" 26 . Aus den gleichen Gründen ließ das BVerfG die Verfassungsbeschwerde auch unmittelbar gegen die sog. kumulative Allphasenbruttoumsatzsteuer z u 2 7 , nach der die Umsatzsteuer bei jeder Außenlieferung erneut anfiel, und zwar auch hinsichtlich der anläßlich einer vorausgegangenen Außenlieferung bereits versteuerten Phasen, so daß sich die Steuer kumulierte und einstufige Unternehmen eine Beeinträchtigung ihrer Wettbewerbsfähigkeit gegenüber mehrstufigen bzw. Organschafts-Unternehmen erfuhren. Dies konstatierte das BVerfG in seinem zweiten Urteil auch hinsichtlich der Begründetheit. Zwar sei eine völlig wettbewerbsneutrale Steuer kaum denkbar, da jede Steuer in das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte eingreife; jedoch seien der Gestaltungsfreiheit des Steuergesetzgebers gewisse äußerste Grenzen gesetzt. "Die wirtschaftlich ungleiche Wirkung einer Regelung darf ein gewisses Maß nicht übersteigen"28. Zwar sei die Umsatzsteuer auf Abwälzung angelegt, was auch regelmäßig erfolge. "Diese Möglichkeit ... schließt aber die Erfahrungstatsache nicht aus, daß die Konkurrenzfähigkeit des Unternehmens in weitestem Umfange gerade von seinen Selbstkosten abhängt"29» 3 0 . 2 6 BVerfGE 18, 1, 12; dem folgend BVerwGE 60, 154, 160 - Krankenhausfinanzierungsgesetz. 2 7 2 8 2 9
-JA
BVerfGE 18, 1, 17. BVerfGE 21, 12, 27. Ebd., S. 32.
Das BVerfG lehnte jedoch - aus fiskalischen Gründen und aufgrund der Unmöglichkeit, "bei dem umfassenden Steuergegenstand eine Formulierung, die den nichtigen Teil von dem gültigen justiziabel abgrenzen würde", zu finden - selbst eine Teilnichtigerklärung ab, und gab dem Gesetzgeber auf, eine Reform durchzufuhren. "Schließlich ist für ... die Beschwerdeführerinnen die zeitweise Weitelgeltung des Gesetzes ... nicht völlig unerträglich... Nur die Verbesserung der Wettbewerbslage, um die es den Beschwerdeführerinnen eigentlich geht ... tritt nicht
338
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
Setzt der Staat Daten für den Wettbewerb, so liegt nur dann kein Eingriff in die Wettbewerbsfreiheit vor, wenn diese Datensetzung wettbewerbsneutral erfolgt 31 , also für alle Konkurrenten gleichermaßen gilt und keinem einen Vorteil gibt 3 2 . Solche Rahmenbedingungen für den Wettbewerb müssen für alle Wettbewerber gleichermaßen gelten. Kreiert der Staat unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen, so stellen diese keinen allgemeinen "Rahmen" mehr dar, sondern eine Wettbewerbsbeeinträchtigung 33. In einer unterschiedlichen Datensetzung liegt daher ein (rechtfertigungsbedürfiiger) Eingriff in die Wettbewerbsfreiheit, gleich ob diese den einen belastet oder den anderen begünstigt 34 . Ein Eingriff in die Berufs- oder Wettbewerbsfreiheit ist insbesondere in den Subventionsfällen 35 unzweifelhaft 36: Die den einen gewährten Subventionen stellen einen von außen stammenden, d.h. nicht ihrer Teilnahme am Wettbewerb entspringenden Vorteil dar, der sie zu Modernisierungen oder sonstigen Maßnahmen befähigt, die ihnen im weiteren Wettbewerb eine bessere Ausgangsposition verschaffen, und dadurch die Nichtsubventionierten belastet. "Die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit begünstigter Unternehmen ist unlösbar verbunden mit einer Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit der nicht geförderten Konkurrenzunternehmen" 37. Der Sache nach gleich, aber nicht auf die Wettbewerbs-, sondern direkt auf die Berufsfreiheit gestützt, hat das BVerfG deshalb zutreffend zum Krankenhausfinanzierungsgesetz entschieden, daß infolge des verursachten "erheblichen Kostennachteils" die natürliche Berufsfreiheit jener Kliniken beeinträchtigt worden sei, die nicht in alsbald ein. Indes ist sie nur hinausgeschoben; sie wird aber ... in absehbarer Zeit verwirklicht werden. Diese sichere Aussicht allein muß sich schon heute dahin auswirken, daß ihre Wettbewerbslage, auf lange Sicht gesehen, verbessert erscheint" (ebd., S. 40 ff.). Letzteres ist eine milde ausgedrückt - erstaunliche Begründung, da dem benachteiligten Unternehmen in der gegenwärtigen Wettbewerbssituation nicht mit einer Aussicht auf Besserung geholfen ist. Zu hoffen bleibt, daß die betroffenen Unternehmen nicht bis zur Verabschiedung der Neuregelung in Konkurs gefallen sind. Die Frage eventueller Entschädigung für die bis zur Neuregelung entstehenden Nachteile wurde in dem Urteil nicht angesprochen. 3 1
Vgl. BVerfGE21, 12,31.
3 2
Selbstverständlich können aber auch wettbewerbsneutrale Maßnahmen in die Berufsfreiheit als solche eingreifen und diesbezüglich rechtfertigungsbedürftig sein. 3 3
Bedenklich daher Miebach, JuS 1987, 959 f.
3 4
Vgl. BVerfGE 12, 151, 167.
3 5
Eine Systematisierung dieser Fälle unternimmt Lübbe-Wolff,
Eingriffsdogmatik, S. 215 ff.
3 6
Vgl. BVerwGE 30, 191, 197; Arndt, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Rdnr 194; Badura, Die Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand, S. 840, 852; Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, S. 111; G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 89; Huber, Konkurrenzschutz, S. 381; Miebach, JuS 1987, 960; Papier, DVB1. 1984, 810; Rittner/Stephan, GewArch 1985, 184 f.; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 308, 377; Schenke, Der Staat 1976, 560 f.; ders., WiVerw 1978, 236; Schmidt, NJW 1967, 1636 ff.; Scholz, NJW 1969, 1044 f.; Vogel, W D S t R L 24 [1966], 154; restriktiver Stober, GewArch 1993, 143 f. 3 7 V G Berlin, DÖV 1974, 100, 102; DVB1. 1975, 268, 269; ähnlich OVG Berlin, NJW 1975, 1938, 1939 mit dem zutreffenden Hinweis darauf, daß der umworbene Kundenkreis nicht beliebig vermehrbar und ausdehnungsfahig sein kann. Vgl. ferner Detterbeck, Z U M 1990, 374.
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
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den Krankenhausfinanzierungsplan aufgenommen und dadurch vom Erhalt von Subventionen ausgeschlossen worden waren 38 . Wie dabei deutlich wird, ist es unerheblich, ob der dem Dritten gewährte Vorteil durch eine rechtliche Maßnahme oder schlicht-hoheitlich herbeigeführt wird 3 9 . Für den Konkurrenten zählt nur die Tatsache der Gefahrschaffung, nicht worin sie rechtlich ihren Ursprung hat. Gerade auch in einer Wettbewerbssituation ist ohne Belang, ob der Staat diese durch Rechtsakte handelnd beeinflußt oder durch Einsatz seiner überlegenen Finanzmittel. Aus abwehrrechtlicher Sicht spielt insofern die (umstrittene) Rechtsnatur von Subventionen 4 0 keine Rolle. Entsprechend sind auch die Fälle als Eingriffe in Art. 12 Abs. 1, 14 oder 2 Abs. 1 GG anzusehen, in denen von Trägern öffentlicher Gewalt beherrschte Unternehmen nur scheinbar unternehmerisch im Wettbewerb tätig werden, tatsächlich aber den Boden unternehmerischen und betriebswirtschaftlichen Handelns verlassen und unter Einsatz nur dem Staat zu Gebote stehender (Finanzmittel eine Wettbewerbspolitik betreiben, die privatwirtschaftlich denkende Unternehmen nicht betreiben würden 41 (Eingriff durch "defizitäre Konkurrenz" 42). bb) Öffentliche Warnungen Die Fallgruppe der öffentlichen Warnungen zeichnet sich als sequentielle Beeinträchtigungskonstellation dadurch aus, daß ein Träger öffentlicher Gewalt durch die Verbreitung von Informationsmaterial oder durch öffentliche Aufrufe an die Bürger als potentielle Abnehmer oder Interessenten vor der An- oder Entgegennahme bestimmter Leistungen eines Produzenten oder sonstigen Anbieters warnt, sei es aus Gründen des Schutzes des einzelnen oder der Allgemeinheit. Exemplarisch sind hier die Fälle der Glykolweinlisten43
3 8 3 9
BVerfGE 82, 209, 223 f., 229 f. Badura, Die Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand, S. 851 f.
4 0 Vgl. dazu etwa Arndt, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Rdnr 195 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 17 Rdnr 11 ff. m.w.N. 4 1 Badura, Die Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand, S. 851; Huber, Konkurrenzschutz, S. 318; Scholz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 12 (Lfg. 1981) Rdnr 104, 401. Zu weit geht aber Krölls, GewArch 1992, 283 f., wenn er in jeder staatlichen Wettbewerbsteilnahme einen Eingriff in Art. 12 I, 14 oder 2 I GG sieht. Da diese Abwehrrechte die Freiheit zum Wettbewerb schützen, nicht aber eine Freiheit von Wettbewerb, und da sie ferner keine private Wirtschaftsordnung als solche gewährleisten (s. unten F I I 3 a.E.), kann die bloße staatliche Teilnahme am Wettbewerb ohne Einsatz staatlicher Macht- oder Finanzmittel keine Beeinträchtigung ihrer Schutzbereiche darstellen. 4 2 4 3
Krölls, GewArch 1992, 287. BVerwGE 87, 37; OVG Münster, NJW 1986, 2783.
340
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
und der "Transzendentalen Meditation" 44 zu nennen. Im ersten Fall hatte der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit nach Aufdeckung einer großangelegten Weinpanscherei mit Diethylenglykol zur Warnung der Verbraucher vor möglichen Gesundheitsgefahren beim Verzehr diethylenglykolhaltigen Weines Listen mit den Namen der betroffenen Abfüller und der Bezeichnung der gepanschten Weine herausgegeben. Im zweiten Fall warnte die Bundesregierung in einer Publikation über Jugendsekten auch vor den Machenschaften der "Transzendentalen Meditation". Da solche mit der Autorität des Staates ausgestattete Warnungen und Wertungen45 die Gefahr begründen, von den Bürgern ernstgenommen zu werden und potentielle Interessenten abzuschrecken, so daß Anbieter Einbußen erleiden können 46 , kann die Gefahrrelevanz solcher Warnungen und die Zurechenbarkeit daraus resultierender Erfolge füglich nicht bestritten werden 47 . Vielmehr müssen diese Folgen "mit ihrem vollen Gewicht dem Staat zugerechnet und wegen ihrer freiheitsmindernden Bedeutung als Grundrechtseingriffe behandelt werden" 48 . Das eigentliche Problem öffentlicher Warnungen liegt indessen darin, ob überhaupt ein abwehrrechtlich relevanter Erfolg eingetreten ist. Soweit dies eine Frage der Auslegung der jeweils in Betracht kommenden Schutzbereiche ist, ist das nicht Gegenstand dieser Arbeit. Gleichwohl bietet der Glykolweinlisten-Fall bereits hier Anlaß zu einer kurzen Anmerkung. Da weder Art. 12 Abs. 1 noch Art. 14 GG eine allgemein unerlaubte, sozialschädliche gewerbliche Betätigimg schützen49, lag, wie das OVG Münster zu Recht feststellte, jedenfalls insoweit keine Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes vor, als der Umsatz diethylenglykolhaltigen Weines selbst unter der öffentlichen Warnung litt 5 0 . Nicht überzeugend ist aber die Argumentation des OVG Münster, soweit sie den Rückgang des Umsatzes unschädlicher Weine betrifft. Insoweit
4 4 BVerwGE 82, 76; bestätigt durch BVerfG (1. Kammer des 1. Senats), NJW 1989, 3269; ferner BVerwG, NJW 1991, 1770 - Osho-Bewegung I; BVerwGE 90, 112 - Osho-Bewegung II. 4 5
Zutreffend BVerwGE 71, 183, 194 f.; 82, 76, 79.
4 6
Kirchhof\ Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 41. Dazu, daß nicht erforderlich ist, daß die Beeinträchtigung bereits eingetreten ist, sofern sie nur überhaupt möglich ist, s. oben D V 3 a. 4 7 Die grundsätzliche Verantwortung des Staates für die Folgen öffentlicher Empfehlungen ist einfachgesetzlich in § 51 I BSeuchenG anerkannt, wonach der Staat für Impfschäden einzustehen hat, gleich ob die Impfung durch Gesetz vorgeschrieben, aufgrund Gesetzes angeordnet oder öffentlich empfohlen war. 4 8 BVerwGE 82, 76, 79; vgl. auch BVerwGE 71, 183, 194 f.; zustimmend Di Fabio, JZ 1993, 697; ferner Huber, Konkurrenzschutz, S. 361 ff. 4 9 Vgl. hierzu BVerfGE 7, 377, 397; BVerwGE 22, 286, 289; Gubelt, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 12 Rdnr 8 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 905 f.; Scholz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 12 (Lfg. 1981) Rdnr 28; kritisch gegenüber diesem Kriterium Gröschner, JZ 1992, 629; Jarass/Pieroth, GG, Art. 12 Rdnr 6. 5 0 OVG Münster, NJW 1986, 2783; ebenso Kloepfer, Umweltrecht, § 4 Rdnr 156.
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
341
lag eine Folgebeeinträchtigungslage vor: die betreffenden Grundrechtsgüter der Abfüller wurden in einem stärkeren Maße beeinträchtigt, als es dem eigentlichen Zweck der Warnung entsprach. An der "Mittelbarkeit" konnte die Zurechenbarkeit des Umsatzrückgangs glykolfreier Weine nicht scheitern: Die Veröffentlichung einer Liste der glykolhaltigen Weine begründete die Gefahr der allgemeinen Meidimg der aufgeführten Abfüller. Selbst wenn die Liste die einzelnen als glykolhaltig identifizierten Weine exakt aufführte, war es für die Abnehmer (Zwischenhändler oder Endverbraucher) vernünftig, diese Abfüller ganz zu meiden, da sie aufgrund des erschütterten Vertrauens in diese erstens Glykol auch in nicht indizierten Weinen befürchtet haben und zweitens jedenfalls die Endverbraucher beim Weinkauf nicht mit langen Listen herumlaufen, sondern sich schlicht die Namen der fraglichen Abfüller gemerkt haben dürften 5 1 . Da es für die Zurechenbarkeit entgegen dem OVG Münster auch nicht auf die Finalität oder objektive Tendenz der Veröffentlichung ankam, hätte das Gericht entweder die Frage, ob tatsächlich eine Schutzbereichsbeeinträchtigung vorlag, genauer untersuchen oder sich der Rechtfertigimg des anzunehmenden Eingriffs zuwenden müssen. In der Tat bot dieser Fall nämlich Anlaß zum Zweifel, ob wirklich die abwehrrechtlich geschützte Freiheit der betroffenen Abfüller beeinträchtigt war 5 2 . cc) Subventionierung privater Warnungen Gewissermaßen eine Kombination der beiden vorgenannten Fallgruppen der Subvention und der öffentlichen Warnung stellen Fälle dar, in denen der Staat die vor dem Wirkungsferneren warnende Tätigkeit des Kausalmittlers subventioniert 53 . Zu Recht hat daher das BVerwG in der von der Bundesrepublik Deutschland betriebenen finanziellen Förderung eines privaten Vereins, der die Öffentlichkeit vor dem Wirken bestimmter Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften warnt, als abwehrrechtlich relevante Gefährdung der (unterstellten 54) Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaft letzterer und damit als Eingriff in Art. 4 Abs. 1 GG beurteilt 55. "Die von der Beklagten geforderten Aktivitäten des Beigeladenen führen auf Seiten der betroffenen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften dazu, daß ihre Ausbreitung be5 1 Vgl. Dolde, Behördliche Warnungen, S. 16 f., daß der Verbraucher die etwaige Begrenzung der Warnung auf spezifische Produkte nicht nachvollzieht. 5 2
S. dazu unten H IV 3.
5 3
In dieser Zwischenschaltung eines Kausalmittlers unterscheiden sich BVerwG, NJW 1991, 1770 und BVerwGE 90, 112 - Osho-Bewegung I und TL. 5 4 BVerwGE 90, 112, 122 ging allerdings zu pauschal mit dem Einwand um, die Warnungen seien zum Schutze der Bürger notwendig gewesen. Träfe dies nämlich zu, so hätte eine Grundrechtskollisionslage vorgelegen, so daß die Tätigkeit der Osho-Bewegung womöglich eben nicht in den Schutzbereich des Art. 4 I GG gefallen wäre. S. dazu unten H IV 3. 5 5 BVerwGE 90, 112 - Osho-Bewegung ü; ebenso OVG Münster, DVB1. 1990, 999; SchatzSchneider, NJW 1991, 3203.
342
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
hindert und ihre Rolle in der religiös-weltanschaulichen Auseinandersetzung geschwächt wird, also zu Nachteilen in dem von Art. 4 Abs. 1 GG geschützten Freiheitsraum" 56. c) Erweiterung
des Dürfens des Kausalmittlers:
Staatliche Genehmigungen
Überaus schwierige dogmatische Probleme bereitet die Konstellation der Erweiterung des Dürfens des Kausalmittlers, wenn die dem Kausalmittler infolge der Erweiterung seines Dürfens erlaubte Tätigkeit zu einer Beeinträchtigung von Grundrechtsgütern des Wirkungsferneren führt oder zu führen droht. Dann erhebt sich die Frage, ob bzw. inwieweit der Wirkungsfernere abwehrrechtlich gegen die Erweiterung des Dürfens vorgehen kann. Das Dürfen kann nur dadurch erweitert werden, daß entweder ein bestehendes Verbot generell aufgehoben oder aber durch die Erteilung einer Genehmigung für einen konkreten Fall außer Geltung gesetzt wird. Letztere Fallgruppe kann daher unter der Überschrift der abwehrrechtlichen Relevanz staatlicher Genehmigungen privater Tätigkeiten diskutiert werden. Aus der Sicht des Wirkungsferneren geht es insofern um die Bedeutung der Abwehrrechte als H Genehmigungsabwehransprüche"57. aa) Abwehrrechtliche Irrelevanz bloßen Nichtverbietens Keine Probleme bereitet die Bejahung der abwehrrechtlichen Relevanz von Erweiterungen des Dürfens für jene Ansicht, die ohnehin eine abwehrrechtliche Verantwortlichkeit des Staates schon aus dem bloßen Nichtverbieten einer privaten Handlung ableitet58. Wenn nämlich bereits ein solches bloßes Nichtverbieten einen Eingriff in die Abwehrrechte begründete, wofern jemand sein Dürfen ausnutzt und ein anderer dadurch in seinen Grundrechtsgütern beeinträchtigt wird, so wäre erst recht ein Eingriff anzunehmen, wenn zunächst ein solches Verbot bestand, dieses dann jedoch allgemein oder für den konkreten Fall aufgehoben wird. Da das bloße Nichtverbieten jener privaten Handlung als staatliches Unterlassen nicht selbst eine Beeinträchtigung der Grundrechtsgüter bewirken kann 59 , läuft diese Ansicht auf eine unbedingte abwehrrechtliche Garantenhaftung für die durch nicht verbotenes privates Handeln bewirkten Folgen hinaus. Begründet wird diese Ansicht damit, daß sich der Staat die durch die nicht verbotene Handlung eines Privaten bewirkten Folgen zurech5 6 BVerwGE 90, 112, 119. Auf die vom BVerwG im übrigen angestellten Erwägungen zur diesbezüglichen Finalität kam es neben dieser notwendigen Feststellung der objektiven Gefahrschaffung nicht an. 5 7 Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, S. 108; Schmidt-Preuß, vatinteressen, S. 9. 5 8 5 9
Kollidierende Pri-
Murswiek, WiVerw 1986, 182 f.; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 213. S. oben C H 3.
II. Sequentielle Beeintrchtigungskonstellationen
343
nen lassen müsse, weil "das grundrechtlich abgesicherte Schutzgut gegen staatlich erlaubte Beeinträchtigungen durch Dritte nicht verteidigt werden kann" 60 . Basis der abwehrrechtlichen Verantwortlichkeit soll hiernach quasi das Schutzlosstellen des Betroffenen sein. Das jedoch kann nicht überzeugen. Bereits die Begründung dieser Ansicht enthält eine petitio principii: In welcher Weise das beeinträchtigte "Schutzgut" gegen staatlich erlaubte Beeinträchtigungen durch Dritte "grundrechtlich abgesichert" ist, ist gerade die Frage; die Begründung setzt bereits voraus, daß diese Sicherung eine abwehrrechtliche ist. Daß die Grundrechte als Abwehrrechte die Grundrechtsgüter gegen staatliche Beeinträchtigungen schützen, besagt indessen keineswegs, daß sie auch im Hinblick auf nicht verbotene oder erlaubte Beeinträchtigungen durch Private schützen. Sinn und Zweck der Abwehrrechte ist der Schutz der Grundrechtsgüter gegenüber bestimmten gefährdenden Handlungen seitens des Staates. Diese Gefahrschaffung mag in Gestalt einer Einwirkung auf einen privaten Kausalmittler erfolgen, doch hierzu ist ein positives Tun des Trägers öffentlicher Gewalt erforderlich. Ein bloßes Unterlassen kann keine Einwirkung auf einen Kausalmittler darstellen und somit auch keine Gefahrschaffungsgefahr begründen. Der von vornherein nicht verbietende Staat beläßt beide Bürger so, wie sie stünden, wenn es überhaupt keinen Staat gäbe: der eine beeinträchtigt die Güter des anderen, und der andere kann nichts dagegen tun. Das ist in keiner Weise mit der Situation zu vergleichen, daß ein Träger öffentlicher Gewalt selbst Beeinträchtigender ist 6 1 . Dieser wesentliche Unterschied des Nichthinderns einer Beeinträchtigung und der eigenen Vornahme einer solchen darf nicht verkannt werden 62 . Indem sich der Staat durch sein Nichtverbieten völlig aus der Bürger-Bürger-Ebene heraushält, beläßt er nur dem einen die Möglichkeit, von seinem Können in einer dem anderen nachteiligen Weise Gebrauch zu machen. Indessen stellt das bloße Zulassen keine Einwirkung dar, wie sie als Schaffung einer Gefahrschaffungsgefahr vorauszusetzen ist. Sicher erhebt sich die Frage, ob der Staat verpflichtet ist, einen Privaten vor Beeinträchtigungen durch andere zu schützen, sei es durch Vorsehimg zivilrechtlicher Abwehransprüche im Bürger-Bürger-Verhältnis, sei es womöglich durch öffentlich-rechtliche Kontrollen und Verbote. Das ist indessen eine Frage einer eventuellen Schutzpflicht hinsichtlich der Grundrechtsgüter des
6 0 6 1
Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 213.
Nicht überzeugend daher A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 153 f.; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 216. 6 2 Ähnlich Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 96, 235; G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 96; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 119; E. Klein, NJW 1989, 1639; Rauschning, W D S t R L 38 [1980], 184. Vgl. auch Alexy, Theorie, S. 418.
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F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
Betroffenen. Ein abwehrrechtliches Problem ist das nicht, so daß auch kein Eingriff vorliegen kann 63 . bb) Ansatzpunkte einer abwehrrechtlichen Verantwortlichkeit Ist nach dem Vorstehenden also bloßes Nichtverbieten abwehrrechtlich irrelevant, so folgt daraus allerdings nicht, den Staat könne auch keine abwehrrechtliche Verantwortlichkeit treffen, wenn er ein bestehendes Verbot aufhebt, sei es indem er es generell zurücknimmt oder indem er es durch eine Genehmigung im Einzelfall außer Anwendung setzt. Die Aufhebung eines bestehenden Verbotes stellt - anders als das Nichtverbieten - ein positives Tun dar, das als Einwirkung auf einen Kausalmittler in Betracht kommt, so daß in der Aufhebung eines Verbotes eine abwehrrechtlich relevante Schaffung einer Gefahrschaffungsgefahr liegen kann. Dieses Einwirkungsproblem auf der Handlungs-Zurechnungs-Ebene in sequentiellen Beeinträchtigungskonstellationen spielte freilich dann keine Rolle, wenn es im Falle der Erweiterung des Dürfens ähnlich wie bei der Erweiterung des rechtlichen Könnens64 das Phänomen des überlagernden zweipoligen Verhältnisses gäbe, da es in letzterem gar nicht auf einen Kausalmittler ankommt. Ob die Erweiterung des Dürfens eines Privaten schon im zweipoligen Verhältnis des Staates zu einem anderen Bürger einen Eingriff in die Abwehrrechte des letzteren darstellen kann, läßt sich nur anhand einer Betrachtung des Erfolgselementes beantworten. Als Ansatzpunkte für eine Beeinträchtigung der Grundrechtsgüter des anderen kommen sowohl sein Dürfen als auch sein rechtliches oder natürliches Können in Betracht. Hierbei gilt: Eine Beeinträchtigung des Dürfens bzw. des rechtlichen Könnens eines Grundrechtsträgers durch die Erweiterung des Dürfens eines anderen ist nur denkbar, wenn beide rechtlichen Größen in einem reziproken Verhältnis miteinander verknüpft sind. Voraussetzung ist also, daß Rechtsakte dem einen ein durch das Bestehen des Verbotes bedingtes Dürfen einräumen oder rechtliches Können verleihen, so daß der Wegfall des Verbotes (also die Erweiterung des Dürfens) das Dürfen bzw. rechtliche Können des anderen einschränkt (Stoffgleichheit). Eine andere Verknüpfung ist nicht denkbar, weil sonst das Ausmaß des Dürfens des einen keine Auswirkung auf das Dürfen oder rechtliche Können des anderen haben kann.
6 3
Wie hier Alexy, Theorie, S. 417 ff.; Dirnberger, Recht auf Natuigenuß, S. 83 ff.; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 119; E. Klein, NJW 1989, 1639; Rauschning, W D S t R L 38 [1980], 184 f.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 190 f.; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 156; vgl. insofern auch Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 302. 6 4 S. vorstehend F I I 1 a aa.
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
345
Konstellationen reziprok verknüpften Dürfens sind selten, weil das Dürfen gewöhnlich nur innerhalb eines speziellen Bürger-Staat-Verhältnisses interessiert und einen anderen Bürger nichts angeht; die Erweiterung des Dürfens eines Bürgers schmälert regelmäßig nicht das Dürfen eines anderen. In besonderen Fällen ist ein reziprok verknüpftes Dürfen gleichwohl denkbar. Hat beispielsweise der Eigentümer eines Grundstücks ursprünglich einen Anspruch auf Genehmigung seines stark emittierenden Vorhabens, weil er diesbezüglich sämtliche Genehmigungsvoraussetzungen erfüllt, und steht ihm insofern ein wenn auch bedingtes Dürfen - zu, so kann er dieses Dürfen unter Umständen dadurch einbüßen, daß die Baugenehmigungsbehörde seinen Grundstücksnachbarn Baugenehmigungen für eine Wohnbebauung erteilt. Aufgrund des baurechtlichen Gebotes der Rücksichtnahme65 büßte nämlich ein solcherart emittierendes Vorhaben damit seine Genehmigungsfähigkeit ein 6 6 . Zwar würde es insofern noch der tatsächlichen Wohnbebauung durch die privaten Bauherrn bedürfen, um die Rücksichtnahmepflicht des Eigentümers zu aktualisieren; potentiell entsteht diese indessen schon mit der Erteilung der Baugenehmigungen, und an der Zurechenbarkeit der dann erfolgenden Wohnbebauung besteht kein Zweifel, da die Erteilung der Baugenehmigung die Gefahr schafft, vernünftigerweise ausgenutzt zu werden. Häufiger sind freilich die reziproken Verknüpfungen des rechtlichen Könnens des einen mit dem Dürfen des anderen. Praktisch bedeutsam sind die durch Verbote bedingten zivilrechtlichen Abwehransprüche des Eigentümers aus § 903 BGB gegen den störenden Nachbarn. Die Bedingtheit seiner Ansprüche ergibt sich aus Normen wie § 14 BImSchG: der Eigentümer hat seinen Unterlassungsanspruch nur, solange dem Emittenten keine immissionsschutzrechtliche Genehmigung erteilt worden ist; danach ist er mit seinen diesbezüglichen Ansprüchen ohne weiteres präkludiert. Entsprechend ist auch in anderen Fällen oftmals nicht auszuschließen, daß die Erweiterung des Dürfens insbesondere durch Genehmigungen zumindest gewisse nachteilige Rückwirkungen auf die zivilrechtliche Position des Wirkungsferneren haben kann. Zu erinnern ist hier an den Notweg-Fall 67 , wo infolge der Erteilung einer Baugenehmigung dem Eigentümer die zur zivilrechtlichen Abwehr eines Notwegrechts des Nachbarn erforderliche Berufung darauf, es liege keine "ordnungsgemäße Benutzung" des Nachbargrundstücks im Sinne des § 917 Abs. 1 BGB vor, abgeschnitten zu werden drohte. Selbst soweit eine Genehmigimg nominell "unbeschadet privater Rechte Dritter" 68 ergeht, kann sie sich nachteilig
6 5 Vgl. hierzu etwa BVerwGE 52, 122, 125 f.; Battis/Krautzberger/Löhr, Rdnr 78 m.w.N.
BauGB, § 31
6 6 Vgl. etwa die Situation der Schweinemäster in BVerwGE 52, 122, 125 f.; BVerwG, D Ö V 1980, 919 f.; BQHZ 92, 34, 39 f. 6 7 6 8
S. oben F 13 c. So ausdrucklich z.B. § 59 m bwLBO über die Wirkung von Baugenehmigungen.
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F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
auf die Rechtsposition des Wirkungsferneren auswirken, insbesondere weil sie ihm dank ihrer Tatbestandswirkung die Berufimg auf drittschützende öffentlich-rechtliche Vorschriften im Zivilprozeß gegen den Kausalmittler abschneiden kann 69 . Der dritte Ansatzpunkt für eine mögliche Beeinträchtigimg des Wirkungsferneren ist sein natürliches Können. In Ermangelung einer Verknüpfung der vorgenannten Art ist denkbar, daß die Erweiterung des Dürfens und die Ausnutzung dieses erweiterten Dürfens zu einer Minderung des natürlichen Könnens eines anderen führt. Unterscheidet man diese beiden Ansatzpunkte, so wird ersichtlich, daß in der Tat ein zweipoliges das dreipolige Verhältnis überlagern kann. cc) Überlagerndes zweipoliges Verhältnis Verhältnismäßig einfach stellt sich die Lage bei einer reziproken Vernüpfung des Dürfens zweier Personen dar. Da nämlich jede Beschneidung des Dürfens eine Freiheitsbeeinträchtigung ausmacht70, spielt es keine Rolle, auf welche Weise eine solche bewirkt wird; reduziert der Staat das Dürfen des einen als spiegelbildliche Konsequenz der Erweiterung des Dürfens eines anderen (z.B. Bauverbot als Konsequenz der Erteilung einer Baugenehmigung an den Nachbarn, reziprok verknüpft über das Rücksichtnahmegebot), so liegt deshalb kein drei-, sondern ein dieses überlagerndes zweipoliges Verhältnis vor. Das gleiche gilt, wenn das rechtliche Können eines Bürgers und das Dürfen eines anderen in der beschriebenen Weise reziprok verknüpft sind, daß die Erweiterung des Dürfens spiegelbildlich eine Einschränkung des rechtlichen Könnens bedeutet. Die Besonderheit besteht lediglich darin, daß der Begünstigte ein anderer Privater ist und nicht ein Träger öffentlicher Gewalt, doch spielt das zwecks Feststellung eines Eingriffs ebensowenig eine Rolle wie auch sonst nicht nach Anlaß und Motiv für den Eingriff gefragt wird; wozu das rechtliche Können des einen eingeschränkt wird, ist nur für die Rechtfertigungsprüfung bedeutsam. Indessen wäre voreilig, in einer solchen Einschränkung des rechtlichen Könnens stets eine erfolgsrelevante Beeinträchtigung des Schutzbereiches zu sehen. Denn auch hier ist zu beachten, daß das rechtliche Können - und zwar gerade auch in seiner Bedingtheit duch das Dürfen des anderen - ausschließlich rechtsakts-, insbesondere normgeprägt ist. Deshalb ist zu unterscheiden, auf welche Weise es zu der Erweiterung des Dürfens kommt, ob der rechtliche Verbotsakt aufgehoben wird, oder ob er fortbesteht
6 9 Breuer, DVB1. 1983, 438; Konrad, BayVBl. 1984, 73; Papier, NJW 1974, 1801; vgl. auch Pietzcker, JZ 1985, 213; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 153. 7 0 S. oben D HI 2 a.
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
347
und lediglich durch einen unterrangigen Rechtsakt im konkreten Fall außer Anwendung gesetzt wird (Genehmigung). Wird etwa ein gesetzlich begründetes Verbot gesetzlich aufgehoben, so entfallt ohne weiteres auch das durch das Verbot bedingte rechtliche Können des anderen. Die Lage ist dann nicht anders als in den zweipoligen Bürger-StaatVerhältnissen, in denen der Staat das rechtliche Können direkt einschränkt 71. Die Frage ist dann lediglich, ob der Staat durch besondere Vertrauenstatbestände an dieser Einschränkung gehindert ist und sich diese deshalb als abwehrrechtlich relevante Beeinträchtigung des rechtlichen Könnens darstellt, oder ob er von solchen Bindungen frei das rechtliche Können im Wege der Aufhebung des Verbotes zurücknehmen kann 72 . Anders verhält es sich, wenn das Verbot nicht durch ausreichend ranghohe Rechtsakte aufgehoben und damit das rechtliche Können zurückgenommen wird, sondern wenn mittels eines unterrangigen Rechtsakts eine Genehmigung erteilt wird: ein solcher kann nicht das Verbot als solches aufheben, sondern es nur in concreto außer Anwendung setzen, und infolgedessen auch nicht das rechtliche Können zurücknehmen. Eine derartige Genehmigung stellt daher notwendig eine Beeinträchtigung des rechtlichen Könnens dar, und die Frage ist nur, ob sie infolge hinreichender Gestattung rechtmäßig und wirksam, oder ob sie rechtswidrig und gegebenenfalls sogar nichtig ist 7 3 . Geht in solchen Konstellationen (d.h. im Falle einer Genehmigung oder einer vertrauensschutzwidrigen Verbotsaufhebung) die Beeinträchtigung des rechtlichen Könnens bereits ohne weiteres von der Erweiterung des Dürfens
7 1
S. oben D TL 2 a aa.
7 2
Beispiel: Das Ausschließungsrecht des Eigentümers nach §§ 903, 1004 BGB besteht nur im Rahmen der Gesetze und soweit keine gesetzliche Duldungspflicht begründet ist. Es ist daher u.a. durch das gesetzliche Verbot der Zuführung unwägbarer Stoffe des § 906 I BGB bedingt. Käme es zu einer Gesetzesänderung dahin, daß die Zufuhrung von Imponderabilien in größerem Maße als bisher hingenommen werden müsse, so entfiele ohne weiteres das Ausschließungsrecht des Eigentümers. Als gesetzliche Neudefinition des Eigentums (Art. 14 I 2 GG) könnte diese Änderung keine abwehrrechtlich relevante Beeinträchtigung des Eigentums darstellen, und dabei ist unerheblich, ob es zu dieser Neudefinition gesetzestechnisch durch die Aufhebung eines an den Nachbarn adressierten Verbotes kommt. Eine Beeinträchtigung des rechtlichen Könnens des Eigentümers wäre nur anzunehmen, wenn der Vertrauensschutz einer solchen Neugestaltung des Eigentums entgegenstünde, etwa weil hierdurch das Erdiente entwertet würde. Im übrigen wäre nur sc/iw/zrechtlich zu fragen, ob der Staat verpflichtet ist, das Eigentum vor solchen Einwirkungen zu schützen und ob er deshalb ein entsprechendes Verbot erlassen muß. 7 3 Beispiel: Eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung präkludiert gemäß § 14 BImSchG den Eigentümer ohne weiteres mit seinen allgemeinen eigentumsrechtlichen Abwehransprüchen aus §§ 903, 1004 BGB. Die Genehmigung (und entgegen Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 302 f. nicht etwa § 14 BImSchG - hierin liegt gerade der Unterschied zu § 906 BGB, der keine votgängige hoheitliche Genehmigung verlangt) stellt als solches einen Eingriff in das Eigentumsrecht dar - unabhängig davon, ob sie ausgenutzt wird und die Frage ist lediglich, ob sie die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt und so der Eingriff rechtmäßig ist oder nicht.
24 Roth
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F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
aus 74 , so liegt schon darin ein Eingriff in das einschlägige Abwehrrecht des Betroffenen, so daß dieser abwehrrechtlich gegen die Erweiterung des Dürfens vorgehen kann 75 . Prozessual bedeutet dies, daß Anfechtungsklagen des durch die dem anderen erteilte Genehmigung in seinem rechtlichen Können Beeinträchtigten gegen die Genehmigung möglich sein müssen76. dd) Keine Erschöpfung in zweipoligen Verhältnissen Wenn nicht die Erweiterung des Dürfens nach den vorstehenden Grundsätzen eine Beeinträchtigimg des Dürfens bzw. des rechtlichen Könnens darstellt, so erhebt sich immerhin die Frage, inwieweit die Ausnutzung des so erweiterten Dürfens durch den begünstigten Kausalmittler zu einer dem Staat zurechenbaren Beeinträchtigung des natürlichen Könnens des Wirkungsferneren führen kann 77 . Da hiervon das Vorliegen eines Eingriffs in die Abwehrrechte des Wirkungsferneren abhängt, ist diese Frage von eminenter Wichtigkeit; sie hat zugleich praktische Bedeutung für die abwehrrechtlichen Sekundär- und Tertiäransprüche: ist nämlich die aus der Ausnutzung etwa einer Genehmigung dem Wirkungsferneren entstandene Grundrechtsgutsbeeinträchtigung dem Staat zuzurechnen, so kommen diesbezüglich Folgenbeseitigungs- und tertiäre Entschädigungsansprüche in Betracht. Zur Bejahung des Eingriffs in dieser sequentiellen Konstellation müssen zwei Punkte erfüllt sein: erstens müßte die Erweiterung des Dürfens als Einwirkung auf den Kausalmittler im Sinne der Schaffung einer Gefahrschaffungsgefahr anzusehen sein; zweitens müßte ein Beeinträchtigungserfolg im Sinne der Beeinträchtigung des natürlichen Könnens des Wirkungsferneren eintreten. (1) Die Genehmigung als Einwirkung auf den Kausalmittler Teilweise wird bereits die erforderliche Einwirkung auf den Kausalmittler verneint und in Abrede gestellt, daß dem Staat Beeinträchtigungen der Grundrechtsgüter des Wirkungsferneren abwehrrechtlich zugerechnet werden könnten, die infolge der Ausnutzung einer zuvor erteilten Genehmigung entstehen, weil jene Beeinträchtigungen nicht von der Genehmigungserteilung selbst ausgingen, sondern von dem genehmigten Vorhaben; es obliege der privatauto-
7 4 Das wird nicht berücksichtigt von Dirnberger, Grundrecht auf Schutz, S. 85 ff.
Recht auf Naturgenuß, S. 85; G. Hermes,
7 5 Vgl. Ehlers, W D S t R L 51 [1992], 222; Eyermann/Fröhler, VwGO, § 42 Rdnr 175; Konrad, BayVBl. 1984, 73 f.; Pietzcker, JZ 1985, 210; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 153; Schenke, DVB1. 1990, 336. Insoweit nicht überzeugend Alexy, Theorie, S. 417 f. 7 6 Konrad, BayVBl. 1984, 73; Pietzcker, zeßrecht, Rdnr 513 ff.
JZ 1985, 213; s. ferner Schenke, Verwaltungspro-
7 7 Den Unterschied von Genehmigung und Ausnutzung der Genehmigung betont auch G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 85 f.
II. Sequentielle Beeintrchtigungskonstellationen
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nomen Entscheidung, von der Genehmigung Gebrauch zu machen, ja überhaupt die Genehmigung zu beantragen78. Diese Sicht ist nicht überzeugend. Aus der Sicht dessen, um dessen Dürfen es geht, besitzt es einen durchaus anderen Stellenwert, ob der Staat eine Handlung von vornherein nicht verboten hat, ob er ein bestehendes Verbot aufhebt, oder ob er eine Genehmigung erteilt und dadurch das im übrigen fortbestehende Verbot in concreto außer Anwendung setzt. Unterläßt es der Staat überhaupt, ein Handeln zu verbieten, so stellt dies ein völlig anonymes, nur auf die Allgemeinheit bezogenes Unterlassen dar. Niemand kann daraus ableiten, gerade seine Handlung sei staatlicherseits befürwortet, da das Nichtverbieten gerade auch Folge der staatlichen Unkenntnis seines Vorhabens sein kann. Durch sein Unterlassen trifft der Staat im konkreten Fall weder eine Aussage über das Handeln des Privaten noch wirkt er dadurch in irgend einer Weise auf dessen Entscheidungsfindung ein. Nutzt dieser sein Dürfen zur Beeinträchtigung des anderen aus, so tut er dies aus eigenem Antrieb und ohne dabei eine staatliche Bestätigung zu erfahren, handelt sozusagen ohne "amtlichen Segen". Anders ist es, wenn das Verbot gerade im Hinblick und aus Anlaß des konkreten Falles entweder allgemein aufgehoben oder - noch stärker individualbezogen - durch eine Genehmigung überspielt wird. Mag auch die Verbotsaufhebung bzw. Genehmigungserteilung von dem in seinem Dürfen beschränkten Privaten aus eigenem Antrieb beantragt worden sein, so spielt für ihn - und darin liegt ja gerade der Sinn seines Antrags - eine wesentliche Rolle, ob und wie der Staat seinem Wunsch nachkommt. Was zuvor lediglich ein Plan gewesen war, verdichtet sich nun erst zum konkreten Handlungsentschluß. Von nicht zu vernachlässigender Bedeutung für den Kausalmittler ist der psychologische Effekt der Bekundung, daß dem Vorhaben aus staatlicher Sicht - jedenfalls im Hinblick auf öffentlich-rechtliche Vorschriften - nichts im Wege stehe. Das kann ihn in seinem Vorhaben nur bestätigen. Die Verbotsaufhebung oder Genehmigimg stellt nicht nur rechtlich eine conditio sine qua non für die eventuelle nachfolgende Beeinträchtigung des Wirkungsferneren dar 7 9 , sie wird vom Kausalmittler auch als solche verstanden und gewichtet. Deshalb besteht ein enger innerer Zusammenhang zwischen der fallbezogenen Erweiterung des Dürfens und dem genehmigten Handeln 80 .
7 8 Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 85, 87; G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 85 ff.; Kraft, BayVBl. 1992, 459 f.; Langer, N V w Z 1987, 196. 7 9
Vgl. Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 83. Schenke, DVB1. 1990, 336. Vgl. insoweit auch Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 301 f.; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 153 f. Zu weit dürfte es freilich gehen, in der Erteilung einer Genehmigung gleich die Übernahme einer "Garantenstellung" durch den Staat zu sehen, so aber Schmidt-Aßmann, in Maunz/Dürig, GG, Art. 19 IV (Lfg. 1985) Rdnr 172; Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen, S. 74. 8 0
350
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
Zwar ändert auch eine staatliche Genehmigung nichts daran, daß die genehmigte Handlung eine nicht-staatliche ist 8 1 . Indessen ergibt sich ja in sequentiellen Beeinträchtigungskonstellationen die abwehrrechtliche Verantwortlichkeit des Staates nie daraus, daß ihm die Handlung des Kausalmittlers als eigene, hoheitliche zugeschrieben würde, sondern aus seiner eigenen hoheitlichen Einwirkung auf den Kausalmittler, infolge derer dieser sich zu der privaten beeinträchtigenden Handlung entschließt. Damit wird auch nicht der Kausalmittler aus seiner eventuellen privatrechtlichen Verantwortung entlassen; vielmehr entsteht durch die hoheitliche Maßnahme eine "komplizierte Gemengelage von Verantwortlichkeiten" 82, aus welcher sich die abwehrrechtliche Verantwortlichkeit des Staates für etwaige Grundrechtsgutsbeeinträchtigungen ergibt 83 . Da die Ausnutzung des erweiterten Dürfens regelmäßig eine vernünftige Entscheidung des Kausalmittlers darstellen wird 8 4 , ist die fallbezogene Verbotsaufhebung bzw. Genehmigungserteilung grundsätzlich als abwehrrechtlich relevante Schaffung einer Gefahrschaffungsgefahr anzusehen. Wenig überzeugend ist es demgegenüber, eine abwehrrechtlich relevante Gefahrschaffungsgefahr deshalb abzulehnen, wenn und weil der Kausalmittler einen abwehrrechtlich verankerten Anspruch auf Genehmigungserteilung habe, und dem Staat keine Beeinträchtigung durch private Tätigkeit zugerechnet werden könne, wenn er keinen Entscheidungsspielraum habe, diese zuzulassen oder nicht 85 . Dieses Argument basiert auf einer petitio principii, denn es setzt die prinzipielle abwehrrechtliche Irrelevanz der Genehmigung voraus: wenn man deren abwehrrechtliche Relevanz annimmt, würde nämlich der "Anspruch" auf Erteilung der Genehmigung entfallen, sofern die Genehmigung Abwehrrechte des Wirkungsferneren verletzt. Ob der Genehmigungsadressat durch die Ausnutzung der Genehmigimg seine Freiheit ausübt86, spielt für die Frage der abwehrrechtlichen Relevanz keine Rolle, weil dem Staat durch die Erteilung der Genehmigung zumindest eine Mitverantwortlichkeit für den Erfolg zuwächst, welcher er sich abwehrrechtlich stellen muß. (2) Die Beeinträchtigung des natürlichen Könnens Das eigentliche Problem der Fallgruppe des erweiterten Dürfens liegt nicht bei der Zurechnungsfrage, sondern darin, ob überhaupt bzw. unter welchen Umständen ein abwehrrechtlich zu beachtender Beeinträchtigungserfolg beim 8 1 8 2
G. Hermes, Gmndrecht auf Schutz, S. 86; vgl. auch Parodi, BauR 1985, 422. Pietzcker, JZ 1985, 210.
8 3
Vgl. BVerfGE 53, 30, 58; 56, 54, 79; Parodi, BauR 1985, 423 f.; Roßnagel, UPR 1990, 87. 8 4 8 5
Vgl. insoweit A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 154.
Dirnberger, Recht auf Natuigenuß, S. 85, 211 f.; Eckhoff, S. 297. 8 6 Daraufstellt Dirnberger, Recht auf Natuigenuß, S. 212 ab.
Der Grundrechtseingriff,
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
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Wirkungsferneren eintritt. Denn zwar scheint jede Minderung seines natürlichen Könnens eine solche Beeinträchtigung zu sein. Indes ist auch in diesem Kontext die etwaige Akzessorietät des natürlichen Könnens zu beachten. Rein tatsächlich kann ein bestehendes Verbot den Wert der Freiheit eines anderen steigern, weil er, solange das Verbot besteht, vor gewissen für ihn nachteiligen Handlungen des Verbotsadressaten verschont bleiben mag. Dieses natürliche Können ist aber dem Verbot in gleicher Weise akzessorisch, wie es auch im Verhältnis zu einem rechtlichen Können der Fall sein kann 87 . Es ist ein bloßer Reflex des fremden Nicht-Dürfens, der abwehrrechtlich grundsätzlich nicht geschützt ist. So wie das Verbot unter dem Vorbehalt der Aufhebung steht, so steht umgekehrt das natürliche Können unter dem Vorbehalt des Fortbestehens des Verbotes 88. Die gesetzliche Verbotsaufhebimg führt lediglich das natürliche Können auf den Zustand zurück, den es vor Erlaß des Verbotes hatte, bewirkt aber keine darüber hinausgehende Reduzierung des IstWertes der nicht vom Staat konstituierten natürlichen Freiheit. Damit wird dem Betroffenen durch die fragliche Verbotsaufhebung nicht etwas genommen, was er hat, sondern nur etwas nicht gegeben, was er nicht hat. Der Staat zieht sich dadurch aus der Bürger-Bürger-Sphäre zurück. Solche Erweiterungen des Dürfens 89 reduzieren daher nicht in abwehrrechtlicher relevanter Weise den Ist-Wert des natürlichen Könnens des Wirkungsferneren. Ein anderes ergibt sich allerdings, wenn nicht das z.B. gesetzlich begründete Verbot gesetzlich aufgehoben, sondern durch eine unterrangige Genehmigung im konkreten Fall außer Anwendung gesetzt wird. Das an den Kausalmittler adressierte gesetzliche Verbot begünstigt das natürliche Können des Wirkungsferneren zwar nur reflexartig. Jedoch auch dieser Reflex ist gesetzliche Folge und kann daher nur gesetzlich zurückgenommen werden; unterrangige Genehmigungen können das natürliche Können nicht zurücknehmen und beeinträchtigen es infolgedessen; insofern ist nur entscheidend, ob die Genehmigung rechtmäßig ist (dann liegt eine rechtmäßige Beeinträchtigung des natürlichen Könnens des Wirkungsferneren vor) oder nicht. Letzteres wiederum ist der Fall (und somit das Abwehrrecht des Wirkungsferneren verletzt), wenn die dem Kausalmittler erteilte Genehmigung dem
8 7
S. oben D H 1 b und 2 a cc. oo ° Nicht überzeugend ist daher, wenn Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 191 annimmt, jedes Verbot begründe ohne weiteres einen Vertrauenstatbestand. Nur in Ausnahmefallen mag der reflexartig vom Verbot Begünstigte tatsachlich auf den Fortbestand des Verbotes vertrauen dürfen. Dann allerdings stellte sich die Erweiterung des Dürfens in der Tat als Beeinträchtigung seines Könnens dar. 8 9 Nicht entscheidend ist der von Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 301; Huber, Konkurrenzschutz, S. 265 betonte Unterschied zwischen repressiven und präventiven Verboten, denn auch eine bloße Dispensmöglichkeit bedeutet eine apriorische Beschränktheit des natürlichen Könnens des Wirkungsferneren. Die Art des Verbotes hat Bedeutung im Verhältnis des Staates zu dem Verbotsadressaten, wirkt sich aber nicht auf den Wirkungsferneren aus.
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F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
Wirkungsferneren gegenüber rechtswidrig ist 9 0 , weil sie in seinem Interesse gesetzlich festgelegte Genehmigungsvoraussetzungen verletzt: dann nämlich gibt sie dem Kausalmittler mehr als ihm zusteht und bürdet dem Wirkungsferneren mehr auf, als ihm nach der Rechtsordnung zugemutet ist 9 1 . Der " Angriff" auf die Grundrechtsgüter des Wirkungsferneren geht dann von der Genehmigung aus und nicht schon vom Gesetz92. Wenn die Ausnutzung einer solchen Genehmigung Grundrechtsgüter des Wirkungsferneren beeinträchtigt, stehen ihm deshalb sekundäre Abwehransprüche gegen die Genehmigung zu 9 3 . In dieser Situation stellt die Genehmigung nämlich nicht lediglich das allgemeine Erlaubtsein einer Tätigkeit des Kausalmittlers wieder her, sondern genehmigt - mit potentieller Tatbestandswirkung - dem Gesetz nach eigentlich Verbotenes. Damit zieht sich die genehmigende Behörde nicht aus dem Bürger-Bürger-Verhältnis zurück, sondern bricht in dieses ein, indem sie dem einen einen ihm nach der gesetzlichen Zuteilung nicht zustehenden Vorteil gegenüber dem anderen gewährt. Der Wirkungsfernere ist dann nicht auf etwaige Schutzansprüche gegen das Handeln des anderen beschränkt, sondern kann - wenn die sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind - abwehrrechtlich gegen die Genehmigimg vorgehen. Gerade am Fall einer rechtswidrigen Genehmigung bestätigt sich die hier vorgeschlagene Konstruktion. Die Bejahung der abwehrrechtlichen Relevanz einer Genehmigung interessiert vom praktischen Ergebnis her nur dann, wenn die dem Kausalmittler erteilte Genehmigung dem Wirkungsferneren gegenüber rechtswidrig ist 9 4 . Gerade in einer solchen Situation zeigt sich erstens die Schaffung der Gefahrschaffungsgefahr durch die Genehmigung: der Kausalmittler wird nun, im Glauben rechtmäßig zu handeln95 und auf eine zur Entfaltung von Tatbestandswirkung geeignete Genehmigung gestützt, eventuelle letzte Bedenken zurückstellen, und zur Verwirklichung seines Vorhabens schreiten. Zweitens ist evident und auch unbestritten, daß der Wirkungsfernere gegen diese Genehmigung vorgehen können muß, um ihre Tatbestandswirkung verhindern zu können, die ihm zivilrechtliche Nachteile bereiten kann 96 .
9 0
Zur Problematik relativer Rechtswidrigkeit s. näher unten H V 2.
9 1
Ähnlich Lübbe-Wolff,
9 2
Treffend BVerwGE 50, 282, 286.
Eingriffsdogmatik, S. 197 ff.; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 154.
9 3
BVerwGE 50, 282, 286 f.; Parodi, BauR 1985, 424. Auch Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 85 f. erkennt die Problematik seines allein auf Schutzansprüche bauenden Ansatzes in diesem Fall, meint ihn aber damit halten zu können, daß er in der Genehmigung "nur rechtstechnisch das Angriffsziel" sieht. Das ist aber deswegen unzutreffend, weil es (vor dem Hintergrund des Art. 19 I V GG) nicht möglich ist, in einer auch von Dirnberger zugestandenen "Rechtsverletzung durch die Behörde" nur ein rechtstechnisches Moment zu sehen, das nicht unmittelbar abwehrrechtlich angegriffen werden kann. 9 4
9 5 9 6
Vgl. insoweit Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 302. Konrad, BayVBl. 1984, 73 f.
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
353
Verneinte man hier die abwehrrechtliche Gefahrrelevanz der Genehmigung, so wäre diese Situation allenfalls noch in den Griff zu bekommen, wenn man die Drittanfechtung auf einen Schutzanspruch gestützt zuließe 97 . Das mag vielleicht auch zu akzeptablen Ergebnissen fuhren 98 , es überzeugt aber konstruktiv-dogmatisch nicht, daß der Staat Schutz gegen eine Tätigkeit, die er zuvor genehmigt hat, und damit im Effekt gegen seine eigene Genehmigung gewähren soll! Zudem, hat der Wirkungsfernere einen Schutzanspruch gegen die genehmigte private Tätigkeit, so kann diesen der Staat nur dadurch erfüllen, daß er die Genehmigung versagt. Denn solange die Genehmigimg wirksam ist, kann der Staat nicht untersagend gegen den Kausalmittler vorgehen. Daher ist es folgerichtiger, den Wirkungsferneren sogleich direkt abwehrrechtlich gegen die dem Kausalmittler erteilte Genehmigung vorgehen zu lassen, deren Ausnutzung ihn in seinen Grundrechtsgütern beeinträchtigt. Falsch war deshalb die Entscheidung des BVerwG im Stuttgarter Klett-Passagen-Fall99. Die Stadt Stuttgart hatte den Inhabern von Läden in einer Einkaufspassage (rechtswidrigerweise) Ausnahmegegenehmigungen von den allgemeinen Ladenschlußzeiten erteilt und ihnen so längere Ladenöffhungszeiten ermöglicht. Deren Konkurrenten, die nicht in den Genuß solcher Ausnahmegenehmigungen kamen, fühlten sich in ihren Abwehrrechten verletzt. Das BVerwG wies die Klagen gegen die Genehmigungen als unbegründet ab: Eine Beeinträchtigung der Berufs- und Gewerbefreiheit liege nicht vor, "da die Klägerinnen trotz der Existenz dieser Ausnahmegenehmigungen ihrer gewerblichen Betätigung wie bisher nachgehen können. Art. 12 GG schützt vor berufs- und gewerbespezifischen staatlichen Eingriffen, nicht aber vor einem hoheitlichen Handeln, das allenfalls Konkurrenten einen Wettbewerbsvorsprung verschafft" 100. Schließlich sei auch nicht in die durch Art. 2 Abs. 1 GG garantierte Wettbewerbsfreiheit eingegriffen worden. "Auch nach Erlaß der
9 7 So Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, S. 109; Dirnberger, Recht auf Natuigenuß, S. 83 ff.; Huber, Konkurrenzschutz, S. 244 ff.; Roßnagel, UPR 1990, 86 f.; Schwerdtfeger, N V w Z 1987, 7 f. QO Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 96 f. etwa betont, daß er zwar konstruktiv einen anderen Weg gehen will, nicht aber die Eigebnisse der Ansichten ablehnt, die eine abwehrrtchtliche Relevanz der Genehmigung bejahen. S. aber hiergegen Lttbbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 179 f. Auch im Ergebnis nicht überzeugend Kraft, BayVBl. 1992, 460, 461, der einerseits die Drittanfechtungsklage gegen die Genehmigung zulassen, andererseits aber nach erfolgreicher Anfechtung mangels Zurechenbarkeit des Gebrauchmachens von der Genehmigung dem Anfechtenden keinen Folgenbeseitigungsanspruch zugestehen will. Abgesehen davon, daß nicht recht ersichtlich ist, wie die Anfechtbarkeit der Genehmigung begründet werden sollte, wenn nicht im Hinblick auf die Folgen ihrer Ausnutzung, so daß hinterher nicht die Zurechenbarkeit eben jener Folgen verneint werden kann, überzeugt vor allem nicht, die Behörde, die zuerst durch die Erteilung einer rechtswidrigen Genehmigung die Entstehung der Grundrechtsgutsbeeinträchtigung ermöglicht, anschließend von jedweder Verantwortung für die Folgenbeseitigune freizusprechen. 9 9 BVerwGE 65, 167. 1 0 0 Ebd., S. 173.
354
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
Verwaltungsakte konnten die Klägerinnen ebenso wie die [Konkurrenten] am Wettbewerb um den Kunden teilnehmen. Lediglich die Bedingungen, unter denen dieser Wettbewerb stattfindet, hatten sich möglicherweise durch die Ausnahmebewilligungen zum Nachteil der Klägerinnen verändert" 101 . Ein Eingriff in die Wettbewerbsfreiheit liege aber erst vor, "wenn durch die hoheitliche Maßnahme die Fähigkeit der Klägerinnen zur Teilnahme am Wettbewerb so eingeschränkt worden wäre, daß ihre Möglichkeit, sich als verantwortliche Unternehmer wirtschaftlich zu betätigen, beeinträchtigt gewesen wäre" 1 0 2 ; das sei nicht ersichtlich. Ob man mm die Wettbewerbsfreiheit in Art. 12 Abs. 1 oder Art. 2 Abs. 1 GG verankert sieht - durch die den Konkurrenten erteilten Ausnahmegenehmigungen wurde die Gefahr geschaffen, Wettbewerbsnachteile zu erleiden, und diese hat sich dann (über die Kunden vermittelt) auch realisiert 103 . Der Hinweis darauf, daß die Kläger "auch nach Erlaß der Verwaltungsakte ... am Wettbewerb um den Kunden teilnehmen" konnten, geht fehl: die den anderen erteilten Ausnahmegenehmigungen beeinträchtigten zwar weder das Dürfen 1 0 4 noch das rechtliche Können des Wettbewerbers, wohl aber sein natürliches Können. Durch die Ausnahmebewilligungen änderten sich entgegen dem BVerwG nicht "lediglich die Bedingungen, unter denen dieser Wettbewerb stattfindet". Vielmehr veränderte sich der abwehrrechtlich geschützte freie Wettbewerb selbst: Die Wettbewerbssituation ist gekennzeichnet durch die Konkurrenz von Anbietern um Nachfrager. Dabei ist natürlich niemand gegen der Wettbewerbslage immanente Nachteile geschützt, etwa dagegen, daß sein Konkurrent bessere Produkte oder günstigere Konditionen anzubieten hat, daß neue Konkurrenten auftreten 105 , oder daß die Nachfrager aus irgendwelchen Gründen seine Produkte nicht mehr nachfragen. Auch eine marktmäßige, rein unternehmerische Wirtschaftstätigkeit von Trägern öffentlicher Gewalt wäre noch wettbewerbskonform und beeinträchtigte nicht die Wettbewerbsfreiheit 106. Alle diese Vorgänge müssen indes ihren Grund in den wirtschaftlichen Ent-
1 0 1
Ebd., S. 174.
1 0 2
Ebd., S. 174; ebenso bereits BVerfGE 12, 341, 347 f.; BVerwG, BayVBl. 1978, 375,
376. 1 0 3 Daß hierfür kein Nachteil erforderlich war, der die Existenzfahigkeit gefährdet hätte, wurde bereits gezeigt (s. oben E U 7). 1 0 4 Die den andern erteilten Ausnahmegenehmigungen schränkten nicht das Dürfen der Kläger über das bereits bestehende Maß hinaus ein, und stellten deshalb keine imperativen Eingriffe dar. 1 0 5
Deswegen kann auch die Zulassung neuer Konkurrenten nicht das Wettbewerbsrecht beeinträchtigen, BVerfGE 7, 377, 408; 11, 168, 188 f.; HessStGH, ESVGH 25 , 38, 40; N V w Z 1983, 542, 543; BVerwGE 30, 191, 196 f.; s. ferner Frers, DÖV 1988, 675 ff. 1 0 6 Badura, Die Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand, S. 839; Huber, Konkurrenzschutz, S. 317 f.; a.A. Miebach, JuS 1987, 960.
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
355
Scheidungen der Teilnehmer am Wettbewerbsprozeß haben. Der Staat aber ist kein Teilnehmer am Wettbewerbsprozeß, wenn er Ausnahmegenehmigungen für Ladenschlußzeiten erteilt; und die dadurch geschaffene Möglichkeit, zu einer Zeit anzubieten, zu welcher die Konkurrenten nicht aus betriebswirtschaftlichen, sondern rechtlichen Gründen anzubieten gehindert sind, ist nicht in diesen Wettbewerbsteilnehmern begründet, sondern außerhalb. Mit anderen Worten: daß der eine die besagte Ausnahmegenehmigung erhielt und der andere nicht, war kein systemimmanentes Wettbewerbsrisiko, und daher lag eine Beeinträchtigung der natürlichen Wettbewerbsfähigkeit der Benachteiligten v o r 1 0 7 , so daß diese die Ausnahmegenehmigungen zu Recht anfochten. ee) Baurechtliche Nachbarklagen Geradezu "klassische" sequentielle Beeinträchtigungsfälle von eminenter praktischer Bedeutung sind die den baurechtlichen Nachbarklagen zugrundeliegenden Konstellationen108: die Behörde erteilt einem Eigentümer eine (Bau)Genehmigung und diese bzw. deren Ausnutzung durch diesen Eigentümer führt zu einer Beeinträchtigimg des Nachbarn, der sich nun an den Staat hält, indem er z.B. die fragliche Genehmigung anficht oder Entschädigung fordert. Mit der baurechtlichen Nachbarklage kann nach ganz h.M. der Nachbar die Erteilung einer Baugenehmigung gestützt auf Art. 14 GG dann anfechten, wenn sie entweder seine rechtlichen Befugnisse abschneidet, oder wenn sie die Grundstückssituation nachhaltig verändert und sein Eigentum dadurch schwer und unerträglich und nicht nur unwesentlich getroffen w i r d 1 0 9 . Wegen der Bedeutung solcher Fälle gerade auch als Test für die Tauglichkeit eines Begriffes des faktischen Eingriffs soll nachfolgend ein Lösungsvorschlag skizziert werden, wobei selbstverständlich ein Anspruch auf auch nur annähernde Vollständigkeit nicht erhoben werden kann. Das zur Anfechtung einer Baugenehmigung Gesagte ist dabei, mutatis mutandis, auf andere Fälle zu übertragen. Die hier vertretene Lösung steht in Einklang mit der Position des BVerwG 1 1 0 , daß eine Baugenehmigung, die "- wie es bei einer direkten Inanspruchnahme des Grundstücks besonders deutlich ist - in die Substanz des von den §§ 903 und 905 Satz 1 BGB umschriebenen ('Säulen'-)Eigentums ein-
1 0 7 Vgl. Philipp, Staatliche Verbraucherinformationen, S. 101 für eine vergleichbare Konstellation. 1 0 8 1 0 9
S. dazu BVerwGE 32, 173, 178; 50, 282, 287 f.
BVerwGE 32, 173, 179; 50, 282, 286 ff.; BGHZ 86, 356, 364; 92, 34, 43; Bryde, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 14 Rdnr 39; Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rdnr 18; Kimminich, in BK, Art. 14 (Vierth. 1992) Rdnr 265 ff.; Löhr, in Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, § 31 Rdnr 82 f.; Papier, in Maunz/Dürig, GG, Art. 14 (Lfg. 1985) Rdnr 389; Ramsauer, Die faktischen Beeinträchtigungen, S. 175; Schenke, NuR 1983, 86 f. 1 1 0 BVerwGE 50, 282, 287.
356
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
greift", mit anderen Worten bereits selbst das rechtliche Können des Eigentümers beeinträchtigt, als Eingriff in sein Abwehrrecht aus Art. 14 GG abgewehrt werden kann, "ohne daß es auf die Frage ankommt, wie 'schwer' oder 'unerträglich' er den Eigentümer trifft". Problematisch und bei der baurechtlichen Nachbarklage umstritten sind die Fälle, in denen eben nicht die Genehmigimg selbst das rechtliche Können des Nachbarn beeinträchtigt, sondern erst ihre Ausnutzung durch den Bauherrn zu der Beeinträchtigung des Wertes des Nachbargrundstücks führt. An der abwehrrechtlichen Gefahrrelevanz der Baugenehmigung und der Zurechenbarkeit der in einer solchen Konstellation zu Lasten des Nachbarn sich auswirkenden baulichen Maßnahme kann kein Zweifel bestehen, da eine Baugenehmigung die Gefahr begründet, daß der begünstigte Eigentümer von ihr Gebrauch macht, und eben dieses Gebrauchmachen eine vernünftige Entscheidung des Eigentümers ist. Nach der Ablehnung eines Geringfügigkeitsprinzips 111 scheidet aus, die Beschränkung der Anfechtbarkeit auf Fälle einer schweren und unerträglichen Beeinträchtigung damit zu begründen, daß ein Eingriff in das Eigentumsrecht des Nachbarn zwar vorliege, er sich aber wegen dessen Unerheblichkeit nicht dagegen wehren könne. Da es mithin weder an der Zurechenbarkeit der Verwirklichung der Gefahr fehlt, noch die "Geringfügigkeit" die Annahme eines Eingriffs ausschlösse, ist die h.M. betreffend die baurechtliche Nachbarklage nur zu halten, soweit es in der fraglichen Situation schon an einer Schutzbereichsbeeinträchtigung fehlt. Der Ansatzpunkt für eine differenzierende Lösung kann sich auch in der sequentiellen Beeinträchtigungskonstellation nur aus dem rechtlichen Können des Eigentümers ergeben, weil das Eigentumsrecht als normgeprägtes Abwehrrecht 112 in weitestem Maße von der Verleihung rechtlicher Handlungsfähigkeit abhängt. Man könnte sogar sagen, es bestehe lediglich aus dem rechtlichen Können, da sich der Inhalt des (Grundstücks)Eigentums aus der Gesamtschau aller die Rechte und Pflichten von (Grundstücks)Eigentümern definierenden Normen ergibt. Darin eingeschlossen sind auch die Normen, die die Befugnisse der Nachbarn regeln, soweit sie sich auf das betreffende Grundstückseigentum auswirken. Der Inhalt des Grundstückseigentums ist deshalb von vornherein durch die Rechte der jeweiligen Nachbarn mitgeprägt und beschränkt. Insoweit hat der Begriff der Situationsgebundenheit113 seine
1 1 1 1 1 2
S. oben EU 7.
Pieroth/Schlink, 14 Rdnr 11.
Grundrechte, Rdnr 987; vgl. ferner Bryde, in v.Münch/Kunig, GG, Art.
1 1 3 Vgl. BVerwGE 26, 111, 119; 32, 173, 178; BGHZ 23, 30, 33; 30, 338, 343; 90, 4, 14; Bryde, in v.Münch/Kunig, GG, Alt. 14 Rdnr 66 Stichwort "Baurecht"; Kimminich, in BK, Art. 14 (Vierth. 1992) Rdnr 168 ff.; Löhr, in Battis/Krautzbeiger/Lohr, BauGB, § 31 Rdnr 83; Schwerdtfeger, N V w Z 1982, 6.
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
357
Berechtigung 114. Je nachdem, welche Befugnisse die Eigentumsordnung dem einen zugesteht, ist das Grundstück des Nachbarn sowohl situations-berechtigt als auch situations-belastet. Dieser situationsgeprägte Inhalt des Eigentums ergibt sich nun - ähnlich wie bei § 906 BGB - aus der gegenseitigen Abwägung der vernünftigen Eigentümerinteressen. Aus der Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) folgt, daß kein Eigentümer ein Recht auf eine solche Eigentumsnutzung haben kann, die seinen Nachbarn in dessen Eigentumsgebrauch so schwer und unerträglich trifft, daß diesem kein ausreichender Nutzen mehr bleibt 1 1 5 . Die sich aus dem jeweiligen Bestreben zweier Eigentümer nach einer für sie bestmöglichen Nutzung ihres Eigentums ergebende Kollision 116 ist - in Abwesenheit einer anderweitigen Bestimmimg des Eigentumsinhalts durch das öffentliche Bauplanungsrecht117 - im Sinne einer beidseitigen Optimierung dahin aufzulösen 1 1 8 , daß jeder sein Eigentum nur so weit nutzen darf, daß der andere in seiner Nutzung allenfalls unwesentlich beeinträchtigt wird. Eine Baugenehmigung, die eine sich in diesem Rahmen haltende Bebauung erlaubt, stellt daher schon gar keine Beeinträchtigung des Eigentums des Nachbarn dar, und ist nicht etwa eine lediglich unwesentliche Beeinträchtigung. Umgekehrt ist eine Baugenehmigung, aufgrund derer das Nachbargrundstück "schwer und unerträglich" betroffen wird, nicht deswegen ein Eingriff, weil nunmehr eine "Intensitätsschwelle" überschritten ist, sondern weil sie die sich aus der Kollision ergebende Grenze des Eigentums mißachtet, und somit überhaupt erst ein Eingriff vorliegt 119 . Der geschilderten h.M. ist daher insoweit beizupflichten, als sie auf die Relevanz der Tragweite der denkbaren Auswirkungen der Baumaßnahmen auf das Nachbargrundstück abhebt. Indessen hat die unterschiedliche dogmatische Konstruktion erhebliche praktische Konsequenzen. Da nach der h.M. eine nicht schwere, erträgliche Beeinträchtigung abwehrrechtlich irrelevant ist,
1 1 4 Kritisch gegenüber einer hinter der Formel der Situationsgebundenheit oft versteckten Beliebigkeit Papier, in Maunz/Dürig, GG, Art. 14 (Lfg. 1983) Rdnr 324 ff. 1 1 5 Zu Unrecht a.A. Lübbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 87 ff., 98, 196. Zum Problem immanenter Gnindrechtsschranken s. unten H H 1 a aa. 1 1 6
Vgl. Parodi, BauR 1985, 422.
1 1 7
Breuer, DVB1. 1983, 435.
1 1 8
Vgl. BGHZ 90, 17, 26 f. zu vergleichbaren Konfliktsituationen.
1 1 9 Ähnlich Parodi, BauR 1985, 422 f. (zweifelhaft ist jedoch, ob ihr Merkmal des "ungerechten Interessenausgleichs" wirklich tauglicher ist und die Ablehnung des Kriteriums der "schweren und unerträglichen" Beeinträchtigung trägt, denn letztlich ist zur Bestimmung dessen, was "ungerecht" ist, wohl doch auf die von ihr abgelehnten Kriterien zurückzugreifen: ein Interessenausgleich ist eben dann "ungerecht", wenn er die Eigentumsnutzung des einen "schwer und unerträglich" beeinträchtigt). Pietzcker, JZ 1985, 211 f. spricht bezüglich der Erteilung von Baugenehmigungen von der staatlichen Verantwortlichkeit für die "Kompatibilität von Nutzungen".
358
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
kann eine Baugenehmigung, welche lediglich eine solche Änderung der Grundstückssituation bewirkt, nie angefochten werden, selbst wenn sie rechtswidrig ist. Aus der hier vertretenen Ansicht ergibt sich ein anderes. Die Baugenehmigung bestimmt nicht den Eigentumsinhalt, sondern soll ihn konkretisieren. Das tut sie freilich nur, wenn sie rechtmäßig i s t 1 2 0 ; eine rechtswidrige Baugenehmigimg konkretisiert nicht das Eigentumsrecht des Nachbarn: Sein Eigentumsrecht ist zwar normativ von vornherein begrenzt, doch halten sich nur rechtmäßige Akte innerhalb dieser Grenzen und konkretisieren sie. Eine rechtswidrige Baugenehmigung beeinträchtigt daher das Eigentum des Nachbarn und braucht nicht hingenommen zu werden 121 , egal wie schwer die Beeinträchtigung ist 1 2 2 . Die Situation ist hier nicht anders als etwa hinsichtlich der Polizeipflichtigkeit des Eigentums: Der Störer kann keine Entschädigung verlangen, sofern er durch die polizeiliche Heranziehung nur in die von vornherein bestehenden Grenzen seines Eigentums zurückverwiesen wird 1 2 3 . Jedoch kommen auch für einen Störer dann Entschädigungsansprüche in Betracht, wenn ihm gegenüber rechtswidrige Maßnahmen ergriffen werden 124 ; denn er wird durch rechtswidrige Maßnahmen nicht in seine Schranken verwiesen, sondern erfährt eine darüber hinausgehende Beeinträchtigung in seinen Gütern. Wichtig ist allerdings, daß nicht jede rechtswidrige Baugenehmigung das Eigentumsrecht des Nachbarn beeinträchtigt. Ob das der Fall ist, hängt davon ab, woraus sich ihre Rechtswidrigkeit ergibt: Ist die Baugenehmigung aufgrund eines Verstoßes gegen Normen rechtswidrig, die den Eigentumsinhalt definieren, dann stellt sie eine Beeinträchtigung des rechtlichen Könnens dar, und begründet einen Eingriff in das Eigentum. Anders ist es, wenn die Baugenehmigung bloß gegen Normen verstößt, die nicht den Eigentumsinhalt als solchen definieren (z.B. Verfahrensvorschriften). Sie ist dann zwar insoweit rechtswidrig, doch da das rechtliche Können nur durch eigentumsdefinierende Normen festgelegt wird, wäre ein solcher Rechtsverstoß in abwehrrechtlicher Hinsicht eigentumsrechtlich irrelevant 125. Auch eine Beeinträchtigung des ei1 2 0
Vgl. insoweit BGHZ 90, 17, 27; f e r n e r ! ^ , NJW 1990, 871. Vgl. Breuer, DVB1. 1983, 437; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, Rutschern, Bestandsschutz, S. 215 f.; Papier, NJW 1974, 1801. 1 2 1
S.
151;
1 2 2
Schenke, NuR 1983, 88. BVerwGE 38, 209, 218; BGHZ 45, 23, 25; Drews/Wacke/Vogel/Martens, wehr, S. 668; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr 227. 1 2 3
1 2 4 1 2 5
Gefahrenab-
Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr 228.
Ähnlich BGHZ 58, 124, 127 f.: rein formelle und nicht sachlich-rechtliche Rechtsfehler begründen keine Entschädigungspflicht; BayVGH, DÖV 1978, 766: bloße formelle Rechtswidrigkeit begründet keine Folgenbeseitigungsansprüche; Breuer, DVB1. 1983, 437: Verletzung einer nachbarrelevanten Rechtsnorm; ferner Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 215, 262 f. Nicht überzeugend daher Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 151, der auch bei verfahrensrechtlichen Verstößen einen Eigentumseingriff annimmt. Insoweit erledigen sich auch die Bedenken von Lübbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 199 f.
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
359
gentumsrechtlichen natürlichen Könnens wäre diesbezüglich nicht ins Feld zu führen, da dieses als dem rechtlichen Können akzessorisch126 dort zurücktritt, wo eine Maßnahme den Eigentümer nur in die Grenzen seines rechtlichen Könnens weist. Weder der Bauherr noch der Nachbar können sich in einem solchen Fall auf Art. 14 GG berufen; der Bauherr mag sich, soweit ihm gegebene Mitwirkungsrechte mißachtet wurden, auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen, der Nachbar kann das nur, sofern drittschützende Verfahrensvorschriften verletzt wurden. Eine Verletzung des Abwehrrechts aus Art. 14 GG ergibt sich im übrigen auch nicht als Konsequenz der Elfes-Rechtsprechung, da hiernach die Rechtswidrigkeit einer staatlichen Maßnahme nicht genügt, die Verletzung eines Abwehrrechts zu begründen, sofern es - wie hier - bereits an einem Eingriff feMt 127. Festzuhalten ist, daß nur die Erteilung einer Baugenehmigimg, die gegen eine eigentumsdefinierende Norm verstößt, einen Eigentumseingriff darstellt. Dieser Satz ist verallgemeinerungsfähig: Die Beeinträchtigung des rechtlichen Könnens ist nur dann rechtswidrig, wenn ein Rechtsakt gerade gegen die Normen verstößt, die das rechtliche Können konstituieren. Sonstige Normverstöße sind in bezug auf dieses rechtliche Können und das ihm akzessorische natürliche Können irrelevant 128 . Die in dem letzten Satz gemachte Einschränkung ist bedeutsam: ein nichtakzessorisches natürliches Können, das also nicht an ein bestimmtes rechtliches Können geknüpft ist, kann auch aufgrund z.B. eines bloßen Verfahrensfehlers verletzt sein, wenn für die Rechtmäßigkeit der Beeinträchtigung dieses natürlichen Könnens auch die Einhaltung eines bestimmten Verfahrens vorgeschrieben ist 1 2 9 . Dem Grunde nach verdient daher die Entscheidung des BGH im Fall der heranrückenden Wohnbebauung130 Zustimmung. Dem lag folgender sehr komplexer Sachverhalt zugrunde: Die beklagte Gemeinde beschloß 1973 einen Bebauungsplan, der für ein Gebiet Wohnbebauung vorsah, das unmittelbar an das Grundstück der Kläger, auf dem diese einen landwirtschaftlichen Betrieb führten, angrenzte. Im Mai 1975 beantragten die Kläger beim zuständigen Landratsamt einen Bauvorbescheid für den Bau eines größeren Schweinestalles. Dieser Antrag wurde 1977 abgelehnt: Die Durchführung des emissionsträchtigen Vorhabens verstoße gegen das Rücksichtnahmegebot. Denn in dem Eine andere, nämlich eine forderungsrechtliche Frage ist hingegen, inwieweit der Gesetzgeber nach Art. 14 GG verpflichtet ist, Normen zu erlassen, die dem Eigentum einen bestimmten Mindestinhalt geben. S. dazu unten G D 2 c . 1 2 6 S. oben D H 1 b und 2 a cc. 1 2 7
Vgl. BGHZ 111, 349, 355; BGH, DVB1. 1993, 718, 719.
1 2 8
Vgl. Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 186. Ähnlich Lübbe-Wolff,
EingrifFsdogmatik,
S. 201. 1 2 9 Es handelt sich hier um einen Anwendungsfall der allgemeinen Problematik relativer Rechtswidrigkeit. Dazu näher unten H V 2. 1 3 0 BGHZ 92, 34.
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F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
ausgewiesenen Wohngebiet waren inzwischen mehrere Wohnhäuser entstanden, die das Landratsamt als untere Bauaufsichtsbehörde im Hinblick auf den Bebauungsplan genehmigt hatte; die Baugenehmigungen waren inzwischen bestandskräftig geworden. 1981 wurde der Bebauungsplan aufgrund des bereits im Dezember 1975 von den Klägern angestrengten Normenkontrollverfahrens gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO vom BayVGH für nichtig erklärt. Strukturell liegt hier ein Fall einer sequentiellen Beeinträchtigimg vor, der insofern atypisch ist, als die hoheitliche Ausgangsmaßnahme (der Bebauungsplan) zwei Adressaten hat: Der Bebauungsplan eröffnete den Bauwilligen die Möglichkeit zur Wohnbebauung (insofern stellt er eine vorteilhafte Maßnahme dar) und veranlaßte zugleich (als insofern neutrale Maßnahme) das Landratsamt zur Erteilung der Baugenehmigungen131. Erst die Errichtung der durch das Landratsamt genehmigten Wohnhäuser ließ das Klägervorhaben, und zwar aufgrund des Rücksichtnahmegebotes (nicht schon aufgrund des Bebauungsplanes, dessen Gebiet das Klägergrundstück nicht einschloß) unzulässig werden. Der BGH gab der auf enteignungsgleichen Eingriff gestützten Klage gegen die Gemeinde grundsätzlich statt. Eine Eigentumsbeeinträchtigung lag vor, da der rechtswidrige und nichtige Bebauungsplan nicht das Eigentumsrecht des Klägers definieren konnte, und infolgedessen die auf diesen Bebauungsplan gestützten Baugenehmigungen qua Vermittlung über das Rücksichtnahmegebot - das (zuvor durch die Genehmigungsmöglichkeit bedingte) Dürfen des Klägers beeinträchtigten (nämlich seinen Anspruch auf Erteilung einer Baugenehmigung für den Schweinestall ausschlossen). Auch die Zurechenbarkeit wirft keine Probleme auf: Der Erlaß des Bebauungsplans schuf erstens die wirkungsnächste Gefahr der Genehmigung der fraglichen Wohnbebauung durch die Baugenehmigungsbehörde 132 und zweitens die wirkungsfernere Gefahr des Vollzugs des Bebauungsplans durch die tatsächliche Verwirklichung der Wohnbebauung133. "Die durch den rechtswidrigen Bebauungsplan geschaffenen Gefahren haben sich inzwischen mit Blick auf auf die im ' Plangebiet' errichteten Wohnbauten auch ... verwirklicht" 134 und infolge des Rücksichtnahmegebotes zu der Eigentumsbeeinträchtigung geführt 135 . ni Im Verhältnis Kläger - Landratsamt lag nach den vorstehend cc erörterten Grundsätzen ein zweipoliges Verhältnis vor, weil bereits die Erteilung der Wohnungsbaugenehmigungen den Genehmigungsanspruch des Klägers beeinträchtigte und so sein Dürfen minderte. 1 3 2 Der BGH hat insofern zutreffend ausgeführt, daß ein Bebauungsplan auf die Erteilung "plankonformer" Baugenehmigungen hin angelegt ist (BGHZ 92, 34, 41), so daß er eine diesbezügliche Gefahr schafft. Daran ändert selbst die Rechtswidrigkeit und Nichtigkeit des Bebauungsplans nichts. Denn jedenfalls solange dies nicht offensichtlich ist, besteht die Gefahr des Planvollzugs; s. dazu oben F I 3 d. 1 3 3
BGHZ 92, 34, 41 f.
1 3 4
Ebd., S. 38.
135
L J J
Daß sich Bedenken gegen die Zurechenbarkeit dieses Eingriffs nicht daraus ergeben, daß das Landratsamt als Kausalmittler durch die Erteilung der Baugenehmigung eine im Vergleich
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361
d) Zwischenergebnis Als Ergebnis vorstehender Fallbetrachtungen ist festzuhalten, daß die Gewährung einer Begünstigung an den Kausalmittler regelmäßig eine abwehrrechtlich relevante Gefahrschaffungsgefahr begründet: das Angebot oder die Gewährung einer solchen Begünstigung schafft die Gefahr, bei vernünftiger Entscheidimg des Kausalmittlers wahrgenommen oder umgesetzt zu werden, ungeachtet des Umstands, daß aus dieser Wahrnehmung oder Umsetzung sodann eine Gefahr für die Grundrechtsgüter des Wirkungsferneren erwächst; die entsprechenden Folgen sind daher dem die Begünstigung gewährenden Träger öffentlicher Gewalt zuzurechnen 136. Die hauptsächliche Schwierigkeit in solchen Fällen ist deshalb die präzise Analyse, ob und inwieweit überhaupt der Schutzbereich des Wirkungsferneren beeinträchtigt wird.
2. Nachteilige Einwirkungen auf den Kausalmittler Wie eben gesehen, ist nach dem Vemünftigkeitsprinzip 137 die Zurechenbarkeit der Wirkungsferneren in den Fällen einer Begünstigung des Kausalmittlers regelmäßig zu bejahen. Der dem zugrunde liegende Gefahrverwirklichungsmechanismus kann bei einer nachteiligen Einwirkung auf den Kausalmittler so nicht mehr ablaufen. Was die für diesen vernünftige Entscheidung in einer solchen Situation ist, kann variieren. Der Kausalmittler hat hier verschiedene Reaktionsmöglichkeiten: Er kann den Nachteil freiwillig oder notgedrungen auf sich nehmen, ungeachtet dessen, daß daraus die Beeinträchtigung des anderen resultiert. Vielleicht gelingt es ihm sogar, den Nachteil ganz oder teilweise auf den anderen abzuwälzen138. Denkbar ist schließlich, daß er mit mehr oder weniger großem Erfolg gegen die Zufügung des fraglichen Nachteils (gerichtlich) vorgeht. Es ist daher erforderlich, das Vernünftigkeitsprinzip für diese Konstellationen zu konkretisieren.
zum Erlaß des Bebauungsplans ursachennächste Gefahr geschaffen hat, wurde bereits oben F I 3 d gezeigt: Zwar muß die Baugenehmigungsbehörde, wenn sie Baugenehmigungen erteilt, die Rechtmäßigkeit des zugrunde liegenden Bebauungsplans prüfen. Bleibt dessen Nichtigkeit aber "zunächst unerkannt" (BGHZ 92, 34, 38), so verwirklicht sich in der Erteilung der Baugenehmigung gerade die Gefahr, die durch den Erlaß solcher Bebauungspläne geschaffen wird (vgl. hierzu BGHZ 92, 34, 37 f.). Mangels anderweitiger gesetzlicher Bestimmung kam dem Verletzten daher ein Wahlrecht zu, die Gemeinde oder das Land auf Entschädigung in Anspruch zu nehmen. 1 3 6
Im Ergebnis ebenso Wagner, NJW 1966, 572 f.
1 3 7
S. oben F I 3 b. Vgl. dazu Kirchhof \ Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 14 ff.
1 3 8
362
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
a) Kein genereller Ausschluß der Zurechenbarkeit Ganz generell spricht sich Wagner^ 9 in den Fällen der Beeinträchtigung des Kausalmittlers gegen eine Entschädigungspflicht des Staates gegenüber dem wirkungsferneren Betroffenen aus. Er begründet das damit, daß niemand gegen eine persönliche oder sachliche "Insuffizienz" seines Vertragspartners geschützt sei, egal wodurch diese herbeigeführt worden ist. Auch soweit sich die Ausfuhrungen Wagners ausschließlich auf das Berufs- und Wirtschaftsleben beziehen, ist ihnen nicht zuzustimmen. Schon sein Hinweis auf das Zivilrecht, wonach die deliktische Schädigung eines Vertragspartners nicht dem anderen Vertragspartner Ansprüche gegen den Schädiger gebe, verfängt im Hinblick auf das Institut der Drittschadensliquidation bzw. ähnlicher Konstruktionen 140 nicht. Und ohnehin ist dieser Schluß vom Zivilrecht auf den abwehrrechtlichen Bereich fragwürdig: die zivilrechtliche Haftungsbeschränkung zugunsten eines privaten Schädigers mag sinnvoll sein; ein gleicher Schutz für den hoheitlich handelnden Staat folgt daraus nicht. Es mag auch richtig sein, daß man regelmäßig nicht gegen eine Insuffizienz seiner Vertragspartner geschützt ist, jedoch darf nicht eine aus der Sphäre dieses Vertragspartners erwachsende Insuffizienz mit einer durch staatliches Handeln entstandenen gleichgesetzt werden. Schon der Umstand, daß viele, wenn nicht gar die meisten (natürlichen) Freiheiten nur im Zusammenwirken mit anderen Personen wahrgenommen werden können, verbietet eine pauschale Beschränkung der abwehrrechtlichen Verantwortlichkeit des Staates für die einem Grundrechtsträger entstehenden Beeinträchtigungen als Folge der nachteiligen Einwirkung auf den Kausalmittler. Das Anliegen Wagners, Entschädigungsansprüche nicht ausufern zu lassen, ist nicht auf jene Weise, sondern durch eine präzise Definition der jeweiligen Schutzbereiche zu bewerkstelligen. Gerade in den von Wagner angeführten Fällen der Auswirkungen auf das Vermögen z.B. von Lieferanten des Kausalmittlers dürfte, weil bloße Gewinnerwartungen regelmäßig 141 nicht von Art. 14 GG erfaßt werden 142 , zumeist überhaupt keine Grundrechtsgutsbeeinträchtigung vorliegen 143 . Insofern hat Wagner recht, daß Vermögenseinbußen ausgleichslos hinzunehmen sind. Daß das aber auch dann gelten soll, wenn Grundrechtsgüter beeinträchtigt sind, ist keineswegs einleuchtend. Es ist daher in jedem Einzelfall genau zu untersuchen, ob ein Grundrechtsgut beeinträch1 3 9
NJW 1966, 573.
1 4 0
Vgl. dazu BGHZ 40, 91, 100 f.; Grunsky, in MünchKomm BGB, vor § 249 Rdnr 116 ff.; Lorenz, Allgemeines Schuldrecht, S. 462 ff.; Staudinger/Medicus, BGB, § 249 Rdnr 191 ff. 1 4 1 1 4 2
Vgl. BGHZ 76, 387, 394 f.; Bryde, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 14 Rdnr 21.
BVerfGE 28, 119, 142; 3 1 , 8 , 32; 74, 129, 148; BGHZ 83, 1, 3; Jarass/Pieroth, Art. 14 Rdnr 14; Kimminich, in BK, Art. 14 (Vieitb. 1992) Rdnr 84.
GG,
1 4 3 Denkbar ist allerdings ein Eingriff in die Berufsfreiheit, vgl. BGHZ 111, 349, 357 f.; Bryde, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 14 Rdnr 21.
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
363
tigt und ob das dem Träger öffentlicher Gewalt zuzurechnen ist. Die Anwendung des Vernünftigkeitsprinzips ist nun zu exemplifizieren. b) Unterlassene Nachteilsabwehr:
Das Selbstbehauptungsprinzip
Kann man auch die Zurechnung nicht generell mit den Argumenten Wagners verneinen, so hat sein Ergebnis immerhin den Gedanken für sich, daß der Nachteile erfahrende Kausalmittler "näher dran" am Staat ist als der Wirkungsfernere, und daß daher grundsätzlich der Kausalmittler die Lage bereinigen muß. Aus dem Vernünftigkeitsprinzip folgt in der Tat, daß sich der Kausalmittler gegen den ihn treffenden Nachteil behaupten und wehren muß, wenn er hierdurch selbst in seinen Grundrechtsgütern beeinträchtigt ist, weil die Hinnahme dieser Beeinträchtigung regelmäßig unvernünftig wäre. Wenn demgegenüber etliche Autoren 144 meinen, die Zurechenbarkeit eines eventuellen Enderfolges sei unproblematisch, wenn der Träger öffentlicher Gewalt dem Kausalmittler die Beeinträchtigung des Wirkungsferneren gebiete, weil der Kausalmittler dann lediglich als "Werkzeug" des Staates fungiere, so übersehen sie, daß der Kausalmittler eben keineswegs ein hilfloses "Werkzeug" in der Hand des Staates ist, wenn er sich auf eigene Abwehrrechte gestützt gegen das Gebot wehren kann. Ob das Agieren des durch eigene Abwehrrechte in seiner Entscheidungsfreiheit geschützten Kausalmittlers dem Staat zugerechnet werden kann, bedarf vielmehr der konkreten Beurteilung nach dem Vernünftigkeitsprinzip. Beispielhaft für diese Problemlage sind die Fälle der Ausweisung ausländischer Ehegatten deutscher Staatsangehöriger. Obschon Adressat der Ausweisungsverfügimg nur der ausländische Ehegatte ist, geben sowohl das BVerfG 1 4 5 als auch das BVerwG 1 4 6 daneben dem deutschen Ehegatten ein auf Art. 6 Abs. 1 GG gestütztes Recht zur Anfechtung der Ausweisungsverfügung 1 4 7 . Das provoziert Bedenken im Hinblick auf das Vernünftigkeitsprinzip. Die Frage spielt zwar dann keine Rolle für das Ergebnis, wenn auch der Ausgewiesene selbst gegen die Ausweisungsverfügung klagt. Wie aber, wenn er das - vielleicht unvernünftigerweise - nicht tut? Dann spitzt sich die Frage in der Tat darauf zu, ob die Ehefrau des Ausgewiesenen eine zurechenbare
1 4 4 Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 377 f.; Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 207; Erichsen, in Isensee/Kirchhof, HStR V I , § 152 Rdnr 83; G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 83; Rauschning, W D S t R L 38 [1980], 182; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 224. 1 4 5
BVerfGE 19, 394, 398; 35, 382, 408; 51, 386, 395.
1 4 6
BVerwGE 42, 141, 142.
1 4 7
Ähnlich BVerfGE 31, 58, 67 für den Fall, daß ein Verlobter an der Eheschließung gehindert wird: der hierin liegende Eingriff in die Eheschließungsfreiheit könne auch von der Verlobten geltend gemacht werden. 25 Roth
364
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
Beeinträchtigung ihres natürlichen ehelichen Zusammenlebenkönnens geltend machen kann 1 4 8 . Das ist mit allen Konsequenzen zu verneinen: Unterläßt es der - allemal wirkungsnächste - Ausgewiesene aus freien Stükken, selbst gegen seine rechtswidrige Ausweisimg vorzugehen und selbst seine Rechte zu behaupten, obgleich er sich auf Art. 6 Abs. 1 GG berufen könnte, so erduldet er diese Maßnahme freiwillig. Duldet aber der Ausgewiesene seine Ausweisung, so ist nicht ersichtlich, weswegen ein anderer, und sei es auch sein Ehepartner die Ausweisung soll anfechten können 149 . Zwar beruft sich der Ehepartner auf sein eigenes Abwehrrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG und macht nicht eine Verletzung des Abwehrrechts des Ausgewiesenen geltend. Gleichwohl verwirklicht sich in der Beeinträchtigung des ehelichen Zusammenlebens nicht die rechtswidrige Ausweisungsverfügung, sondern die Entscheidung des Ausgewiesenen, die Verfügung hinzunehmen. Eine solche Entscheidung des einen Ehegatten, die nicht Folge staatlicherseits geschaffener Gefahren ist, muß der andere Ehegatte als im Bürger-Bürger-Verhältnis bestehendes allgemeines Lebensrisiko 150 hinnehmen. Diese Entscheidung des Ausgewiesenen mag wie jede klaglose Hinnahme rechtswidrig zugefügter Nachteile aus rechtlicher Sicht unvernünftig sein. Doch gerade deswegen verwirklicht sich in der Ausweisung weniger eine staatlicherseits geschaffene Gefahr als vielmehr die nach dem Vernünftigkeitsprinzip nicht zurechenbare Entscheidung des Ausgewiesenen. Wenn es dessen Ehepartner nicht gelingt, auf ihn dergestalt einzuwirken, daß der Ausgewiesene von seinem - fraglos gegebenen und zumutbaren - Anfechtungsrecht Gebrauch macht, so kann nicht der Ehegatte quasi an die Stelle des Ausgewiesenen tretend die Ausweisungsverfügung angreifen. Gibt der Ausgewiesene durch die Nichtanfechtung der Ausweisungsverfügung sein eheliches Zusammenleben selbst preis, so ist der Staat nicht für diese Wirkung verantwortlich zu machen, auch nicht über Art. 6 Abs. 1 GG. Ein an den Kausalmittler adressiertes Ge- oder Verbot oder eine sonstige ihn beeinträchtigende Einwirkung mag gewiß eine abwehrrechtlich relevante Gefahr für die Grundrechtsgüter des Kausalmittlers schaffen. Wenn sich jedoch der Wirkungsfernere gegen jene staatliche Maßnahme wenden will, so kann er dies abwehrrechtlich nur, wenn sich ihm gegenüber eine abwehrrechtlich relevante Gefahrschaffungsgefahr verwirklicht. Genau daran fehlt es indessen, wenn schon der Kausalmittler die ihn treffende Maßnahme nicht hinnehmen 1 4 8 Nicht überzeugend Pietzcker, Grundrechtsbetroffenheit, S. 141, der hier bereits die Beeinträchtigung des Schutzgutes aus Art. 6 I GG verneint, weil die "faktische Betroffenheit" nicht ausreiche, wenn der Gesetzgeber ihre Berücksichtigung nicht angeordnet habe. Damit hinge der abwehrrechtliche Schutz vom einfachen Gesetz ab. Soweit Pietzcker darauf abstellt, ob es "sachgerecht erscheint, im jeweiligen Zusammenhang auch die Eheauswirkungen zu beachten", ist ihm entgegenzuhalten, daß es angesichts des hohen Weites der Ehe stets "sachgerecht" ist, solche Auswirkungen zu beachten. 1 4 9 1 5 0
Vgl. PrOVGE 39, 292, 295 f. Vgl. dazu oben B H 2 g.
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
365
mußte. Kommt es allein deswegen zur Beeinträchtigung der Grundrechtsgüter des Wirkungsferneren, weil der Kausalmittler keine Rechtsmittel ergreift, so verwirklicht sich dessen Entscheidung; es fehlt damit mangels Verwirklichung einer abwehrrechtlich relevanten Gefahrschaffungsgefahr an der Zurechenbarkeit des wirkungsferneren Erfolges. Das Vernünftigkeitsprinzip wird so in Fällen nachteiliger Einwirkungen auf den Kausalmittler zum Selbstbehauptungsprinzip, weil es primäre Obliegenheit des Kausalmittlers ist, gegen den ihm zugefügten Nachteil vorzugehen 151. In diesem Selbstbehauptungsprinzip zeigt sich der strukturelle Unterschied zwischen sequentiellen und bloß zweipoligen Beeinträchtigungskonstellationen. In letzteren erschien das Vernünftigkeitsprinzip als Selbstverantwortlichkeitsprinzip 152 : soweit vernünftigerweise möglich, muß sich jeder Grundrechtsträger staatlichen Pressionen widersetzen. Eine mögliche (gerichtliche) Selbstbehauptung erschien zwar als Obliegenheit zum Erhalt etwaiger tertiärer Entschädigungsansprüche, macht aber nicht den gegebenen Eingriff als solchen ungeschehen153. Bei sequentiellen Konstellationen hingegen wird nicht nach einem etwaigen Eingriff in die Abwehrrechte des Kausalmittlers gefragt (diesbezüglich bliebe allerdings das Selbstverantwortlichkeitsprinzip maßgeblich), sondern nach dem Eingriff in die Abwehrrechte des Wirkungsferneren, und diesbezüglich kommen andere Kriterien in Ansatz, als diejenigen, wonach sich die Beeinträchtigung des Kausalmittlers bestimmt. Deshalb wandelt sich mm die - im zweipoligen Verhältnis nicht zurechnungsrelevante - Selbstbehauptungsobliegenheit zu einem - im dreipoligen Verhältnis zurechnungsrelevanten - Selbstbehauptungsprinzip: Unterläßt der Kausalmittler unvernünftigerweise die ihm mögliche Selbstbehauptung, so entfällt dadurch nicht der Eingriff in seine Abwehrrechte (er muß lediglich Nachteile für seine tertiäre Entschädigungsansprüche gewärtigen); jedoch die Folgen dieser unvernünftigen Entscheidung für den Wirkungsferneren sind dann nicht dem Staat zuzurechnen. Liegt hiernach, wenn der Kausalmittler den ihn treffenden Nachteil unvernünftigerweise hinnimmt, selbst dann kein Eingriff in die Abwehrrechte des Wirkungsferneren vor, wenn er in der weiteren Folge einen Nachteil erleidet, so kann dieser natürlich auch keine abwehrrechtlichen Sekundär- oder Tertiäransprüche geltend machen. Eine inakzeptable Bevorzugung des Staates ist hierin nicht zu sehen, weil er ja Abwehransprüche des Kausalmittlers gewärtigen muß. Umgekehrt stellte es vielmehr eine nicht überzeugende Ausweitung der abwehrrechtlichen Verantwortlichkeit des Staates dar, müßte er sich, ob1 5 1 Die Zurechenbarkeit des Enderfolges wird damit nicht etwa von einer zufalligen, mehr oder weniger großen "Prozeßfreudigkeit" (Erichsen, in Isensee/Kirchhof, HStR V I , § 152 Rdnr 83) des Kausalmittlers abhängig gemacht, sondern von der Vernünftigkeit seines Handelns. 1 5 2 1 5 3
S. oben D ffl 2 b dd. S. oben D m 2 b ff.
366
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
schon sein Eingriff an den Kausalmittler adressiert war, lediglich dank dessen unvernünftiger Entscheidungen unversehens mit womöglich einer Vielzahl von wirkungsferner Betroffenen abwehrrechtlich auseinandersetzen. c) Ausnahmen vom Selbstbehauptungsprinzip Das Selbstbehauptungsprinzip darf indes nicht rigide angewandt werden. Es stellt eine für den Regelfall 154 der nachteiligen Einwirkung auf den Kausalmittler geltende Ausformung des Vernünftigkeitsprinzips dar, erfordert deshalb aber stets eine Kontrolle, ob es für den Kausalmittler wirklich vernünftig wäre, sich selbst gegen den Staat zu behaupten, oder ob nicht auch oder gerade die Hinnahme des Nachteils vernünftig ist. Hiernach wird sich zeigen, daß die Selbstbehauptung nicht notwendig die (einzig) vernünftige Entscheidung darstellen muß, nämlich dann, wenn sie - ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben - erfolglos, verhindert, uninteressant oder unnötig wäre. aa) Erfolglose Selbstbehauptung: Die Relevanz der Rechtmäßigkeit für die Zurechnung Ein Fall, in dem es der Kausalmittler unterließ, gegen den ihm zugefügten Nachteil vorzugehen, ist der Pächter-Fall 155 . Eine Brauerei, Verpächterin einer Gaststätte, klagte dagegen, daß dem Pächter die Gaststättenerlaubnis versagt wurde. Die Versagung wurde auf die Unzuverlässigkeit des Pächters gestützt, die sich darin erweise, daß er einen Pachtzins akzeptiert habe, der so hoch sei, daß ein ordnungsgemäßer, gewinnbringender Betrieb der Gaststätte nicht möglich sein werde. Da das Nichtdurchführenkönnen des Pachtvertrages aus der Sicht der Verpächterin eine Beeinträchtigung jedenfalls ihrer natürlichen Berufsausübungsfreiheit darstellte, lag ein abwehrrechtlich relevanter Erfolg v o r 1 5 6 , der - wie bereits gezeigt 157 - nicht unter Hinweis auf die "Geringfügigkeit" des erlittenen Nachteils und des allgemeinen sozialen Risikos ignoriert werden durfte; die Abweisung der Klage der Verpächterin erfolgte also jedenfalls mit falscher Begründung. Die entscheidende Frage war vielmehr die nach der abwehrrechtlichen Gefahrrelevanz: Hatte die Versagimg 1 5 4 Die Zahl der hier angeführten Fälle könnte zu dem Eindruck verleiten, nicht das Selbstbehauptungsprinzip bezeichne den Regelfall, sondern die Ausnahmen davon. Das wäre indes unzutreffend. Wenn der Kausalmittler nämlich, wie zumeist, gegen die Beeinträchtigung seiner Freiheit vorgeht, stelle sie nun einen normativen oder einen faktischen Eingriff dar, so entsteht gar nicht erst eine sequentielle Beeinträchtigungslage. Da die meisten Menschen vernünftig handeln, finden sich nur relativ wenige Fälle, in denen das Selbstbehauptungsprinzip nicht befolgt wird, und in diesen liegt meist eine Situation vor, in der es auch nicht befolgt zu werden braucht. 1 5 5 BVerwG, N V w Z 1984, 514. Entsprechend die Fälle PrOVGE 39, 292; 95, 111; V G H Mannheim, GewArch 1972, 138. 1 5 6 1 5 7
Vgl. Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 189 ff. S. o b e n B H 2 g u n d E n 7 .
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
367
der Gaststättenerlaubnis gegenüber dem Pächter bei vernünftigem Handeln des Pächters die Gefahr geschaffen, daß dieser den Gaststättenbetrieb nicht würde aufnehmen und also den Pachtvertrag nicht würde durchführen können? Auf den ersten Blick scheint man diese Frage ohne weiteres bejahen zu müssen, da - gesetzestreue Bürger vorausgesetzt - die Versagimg einer Gaststättenerlaubnis eben die Gefahr des Nichtbetreibens der Gaststätte schafft, und infolgedessen auch eine Gefahr für die Berufsausübungsfreiheit der Verpächterin. Als von der Versagung der Gaststättenerlaubnis wirkungsnächster Betroffener hätte es zunächst im eigenen Interesse des Pächters gelegen, gegen diese Versagung (gerichtlich) vorzugehen, und den (insofern unzweifelhaften) Eingriff in seine Berufswahlfreiheit geltend zu machen und einer Rechtmäßigkeitskontrolle unterziehen zu lassen. Da allein der Gaststättenbetreiber die Gaststättenerlaubnis benötigt, war es Sache des Pächters, für eine solche zu sorgen, und es ging nur ihn etwas an, wenn er das unterließ. Das mochte den Pächter, so könnte man argumentieren, wenn er schuldhaft versäumte, öffentlich-rechtliche Hindernisse der Vertragsdurchführung auszuräumen, schadensersatzpflichtig machen, dem Staat könne das nicht als Wirkung seines Handelns zugerechnet werden. Nach dem Selbstbehauptungsprinzip scheint daher die Zurechenbarkeit abzulehnen zu sein. Indessen sind die Grenzen des Selbstbehauptungsprinzips zu beachten. Wenn der Pächter gar nicht die Möglichkeit hatte, gegen die Versagung der Gaststättenerlaubnis vorzugehen, könnte man nicht von einer auf unvernünftigem Entschluß beruhenden Hinnahme derselben sprechen. Das Selbstbehauptungsprinzip wäre nicht verletzt. Doch woraus sollte sich eine solche Unmöglichkeit ergeben haben? Ihm wurde nicht nur ein Nachteil zugefügt, diese Nachteilszufügung stellte zugleich einen Eingriff in subjektive Rechte, nämlich Abwehrrechte (Art. 12 Abs. 1 GG) dar, so daß der Pächter grundsätzlich einen Abwehranspruch gehabt hätte. Nicht ersichtlich ist auch, daß es dem Pächter unzumutbar gewesen sein könnte, gegen die Versagung vorzugehen. Hier erhebt sich jedoch die Frage nach der Bedeutung der Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit der dem Pächter gegenüber erfolgten Versagung der Gaststättenerlaubnis. Denn sofern diese Versagung rechtmäßig war, hatte er keine im Ergebnis erfolgversprechende Möglichkeit, dagegen vorzugehen. Da rechtmäßige hoheitliche Maßnahmen die Gefahr begründen, daß sie durchgesetzt und ihnen Folge geleistet wird, müßte die Zurechenbarkeit gerade in einem solchen Fall befürwortet werden, wobei es unerheblich wäre, ob der Pächter gegen die Versagung (gerichtlich) vorging und dank ihrer Rechtmäßigkeit erfolglos blieb, oder ob er gleich im Hinblick auf ihre Rechtmäßigkeit vom Beschreiten des Rechtswegs absah. Hingegen wäre bei angenommener Rechtswidrigkeit der Erlaubnisversagung die Hinnahme durch den Pächter unvernünftig gewesen, und daher die Nichtaufnahme des Gaststättenbetriebs
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F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
nicht die Folge dieser Versagung, sondern des Versäumnisses des Pächters. Er hätte gegen das Vernünftigkeitsprinzip in seiner speziellen Ausgestaltung als Selbstbehauptungsprinzip verstoßen. Nim mag es zwar seltsam und mißlich erscheinen, zur Beurteilung der Zurechenbarkeit der Fernwirkung inzident die Rechtmäßigkeit der hoheitlichen Maßnahme gegenüber dem Kausalmittler prüfen zu müssen. Indessen ist eine vergleichbare Zurechnungsrelevanz von Rechtmäßig- bzw. Rechtswidrigkeit der Rechtsordnung durchaus geläufig. Im Strafrecht etwa setzt die Strafbarkeit wegen Anstiftung oder Beihilfe die Rechtswidrigkeit der Haupttat voraus (§§ 26, 27 Abs. 1 StGB); die zivilrechtliche Haftung des Geschäftsherrn nach § 831 Abs. 1 Satz 1 BGB knüpft an ein rechtswidriges deliktisches Handeln des Verrichtungsgehilfen an. Wenn es hiernach auf die Rechtswidrigkeit der Handlung des (je wirkungsnächsten) Haupttäters bzw. Verrichtungsgehilfen ankommt, spricht - bei Anerkennung aller Unterschiede im übrigen - kein prinzipieller Einwand gegen die Zurechnungsrelevanz der Rechtmäßigkeit der staatlichen Handlung gegenüber dem Kausalmittler. Diese Konsequenz entspricht zudem nicht nur der staatlicherseits geschaffenen Gefahrenlage, sondern auch einem praktischen Bedürfnis: Gesetzt, der Pächter wäre ein Ausländer. Er könnte sich dann nicht auf Art. 12 Abs. 1 GG berufen, sondern nur auf Art. 2 Abs. 1 GG. Wäre nun trotz einer - an Art. 2 Abs. 1 GG gemessenen - Rechtmäßigkeit der Versagung gegenüber dem ausländischen Pächter die Unmöglichkeit der Vertragsdurchführung unzurechenbar, so bestünde für eine deutsche Verpächterin keine Möglichkeit, die Beeinträchtigung ihrer natürlichen Berufsfreiheit geltend zu machen, obschon nicht auszuschließen ist, daß aufgrund eines bei Art. 12 Abs. 1 GG anzulegenden strengeren Maßstabs die Rechtswidrigkeit der Versagung festzustellen wäre. Ein weiterer Demonstrationsfall wäre etwa der folgende: Eine religiöse Sekte möchte, was durch Art. 4 GG geschützt i s t 1 5 8 , ihre Lehren in einem Buch verbreiten; sie hat hierzu einen Verleger gefunden, der selbst an diesen Lehren allerdings nicht interessiert ist. Untersagt diesem eine Behörde die Herausgabe des Buches, so kann es offenbar nicht bei der Prüfung der Untersagung an Art. 12 Abs. 1 GG hinsichtlich des Verlegers bleiben; die Sekte muß eine Möglichkeit haben, Art. 4 GG ins Spiel zu bringen und die Rechtmäßigkeit der Beeinträchtigung ihrer Fähigkeit, für ihren Glauben zu werben, prüfen zu lassen. Eine weitere hierher gehörende Konstellation klang in dem jüngst entschiedenen Fall betreffend das Beforderungsverbot an Fluggesellschaften 159 an: das Verbot an Fluggesellschaften, Ausländer ohne gültiges Visum auf dem Luftweg nach Deutschland zu befördern, stellt zweifellos einen Eingriff in de-
1 5 8 BVerfGE 12, 1, 4; v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Alt. 4 Rdnr 57 Stichwort "Werbung". 1 5 9 BVerwG, DVB1. 1992, 844; OVG Münster, InfAuslR 1989, 286.
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
369
ren Berufsausübungsfreiheit dar, der als solches, d.h. gemessen allein an Art. 12 Abs. 1 GG auch rechtmäßig ist 1 6 0 . Damit dürfte es indes nicht sein Bewenden haben. Vielmehr müssen die sequentiell betroffenen politisch Verfolgten die hierdurch bewirkte Erschwernis, Asyl zu erlangen, als Eingriff in Art. 16a Abs. 1 G G 1 6 1 mit seinen strengeren Eingriffsvoraussetzungen geltend machen können. Die Beeinträchtigimg von Grundrechtsgütern des Kausalmittlers darf daher nicht per se die Berufung des Wirkungsferneren auf seine Grundrechtsgüter ausschließen162. Nur wenn man die Zurechenbarkeit bejaht, eröffnet man den Weg zur Prüfung der Maßnahme auch am Maßstab des die wirkungsfernere Beeinträchtigung erfassenden Abwehrrechts. Ein solcher Begriff der abwehrrechtlichen Gefahrrelevanz hätte auch keinen funktionslosen Eingriffsbegriff zur Folge: Zwar kann nicht der Begriff eines per definitionem rechtmäßigen und keinerlei Sekundär- oder Tertiäransprüche auslösenden Eingriffs Ziel der Suche sein. Indessen folgt aus der Anknüpfung der Zurechenbarkeit der wirkungsferneren Beeinträchtigung an die Rechtmäßigkeit der wirkungsnäheren Beeinträchtigung keineswegs die Rechtmäßigkeit der wirkungsferneren Beeinträchtigung. Der Rechtmäßigkeitsmaßstab für staatliches Handeln gegenüber verschiedenen Betroffenen ist nicht notwendig identisch 163 , und da sich der wirkungsnähere Kausalmittler womöglich nur auf "schwächere" Abwehrrechte berufen kann als der Wirkungsfernere, folgt aus der Rechtmäßigkeit der ersten Beeinträchtigung nichts hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der zweiten. Letztere Behauptung bedarf freilich der Begründung: Die Rechtswidrigkeit einer staatlichen Maßnahme ergibt sich aus einem Widerspruch gegen das Recht, einem Verstoß gegen eine Rechtsnorm. Deshalb hängt sie davon ab, welche Rechtsnormen in einem gegebenen Rechtsverhältnis gelten, wie dieses Rechtsverhältnis zwischen zwei Rechtssubjekten ausgestaltet i s t 1 6 4 . Da in verschiedenen zweipoligen Bürger-Staat-Verhältnissen je unterschiedliche Abwehrrechte gelten können, läßt sich die in dem einen Verhältnis eventuell festgestellte Rechtmäßig- bzw. Rechtswidrigkeit weder so noch so auf das andere Verhältnis übertragen 165. Das wäre nur dann anders, wenn sich ein Grundrechtsträger gegenüber der ihn treffenden Maßnahme darauf berufen könnte, diese gehöre schon deshalb
160 1 6 1 1 6 2 1 6 3 1 6 4
O V G
M ü n s t e r >
infAuslR 1989, 286, 289 f.
Vgl. BVerwG, DVB1. 1992, 844, 847. Vgl. Kirchhof \ Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 17. Erichsen, in Isensee/Kirchhof, HStR V I , § 152 Rdnr 83.
Vgl. BVerwG, NJW 1976, 303, 305; Eyermann/Fröhler, Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 186 f.
VwGO, § 113 Rdnr 14e;
1 6 5 Vgl. Alexy, Theorie, S. 355. Zum Problem trägerbezogen-relativer Rechtswidrigkeiten s. eingehend unten H V 2 a.
370
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung und sei daher rechtswidrig 166 , weil sie einen anderen in dessen Abwehrrechten verletze. Einem Grundrechtsträger ist es jedoch verwehrt, sich auf die Verletzung der Abwehrrechte anderer zu berufen 1 6 7 . Denn daß die fragliche Maßnahme in einem anderen Rechtsverhältnis unstatthaft ist, besagt für ihn nichts. Das widerspricht nicht der Ansicht des BVerfG, auch die Verletzung "objektiven Verfassungsrechts" führe zur Rechtswidrigkeit des Eingriffs 168 , und daher sei, wenn im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde nur überhaupt eine abwehrrechtliche Beschwer geltend gemacht wird, die angegriffene Norm oder sonstige hoheitliche Maßnahme unter sämtlichen in Betracht kommenden Gesichtspunkten zu prüfen 169 . Denn dieses in Betracht kommende "objektive" Verfassungsrecht gilt gegenüber jedermann 170 und damit innerhalb eines jeden Bürger-Staat-Verhältnisses. Abwehrrechte konstituieren hingegen rein trägerbezogenes 171 Verfassungsrecht, auf dessen Verletzung sich nur der konkret selbst betroffene Grundrechtsträger berufen kann, auf den sich das einschlägige Abwehrrecht bezieht 172 . Ist danach aber denkbar, daß der Wirkungsfernere womöglich schwerer in Grundrechtsgütern beeinträchtigt sein kann als der Wirkungsnächste, so darf man, wenn die Schaffung der Gefahrschaffungsgefahr feststeht, deren abwehrrechtliche Relevanz und damit die Zurechenbarkeit des wirkungsferneren Erfolges nicht unter Hinweis auf die Rechtmäßigkeit des wirkungsnäheren Erfolges ausschließen. Vielmehr ist zwecks Ermöglichung einer Rechtmäßigkeitskontrolle gerade dann die Zurechenbarkeit der Fernwirkung zu bejahen. An der Zurechenbarkeit fehlt es hingegen - von den sogleich zu erörternden Ausnahmen abgesehen - dann, wenn die fragliche hoheitliche Maßnahme den Kausalmittler in seinen Rechten beeinträchtigte und ihm gegenüber rechtswidrig war, d.h. ihn in seinen Rechten verletzte, und also von ihm hätte abgewehrt werden können. Die Ablehnung der Zurechenbarkeit im Falle der Rechtsverletzung des Kausalmittlers entspricht einem zwingenden praktischen Bedürfnis, da es die abwehrrechtliche Verantwortlichkeit des Staates übermäßig ausdehnte, ihn für alle wirkungsferneren Folgen einer rechtswidrigen Handlung einstehen zu las1 6 6 So die Formel des BVerfG seit der Elfes-Rechtsprechung, BVerfGE 6, 32, 41; Jarass/ Pierothy GG, Art. 2 Rdnr 14; Kunig, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rdnr 22; v.Münch, in v.Münch, GG, Ait. 2 Rdnr 29. Sie wurde zwar zu Art. 2 I GG entwickelt, gilt aber für alle Grundrechte, Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 1276. 1 6 7 BVerfGE 77, 84, 101; BVerwG, DVB1. 1992, 844, 848; Alexy, Theorie, S. 355; Pieroth/ Schlink, Grundrechte, Rdnr 1279; Schenke, Rechtsschutz, S. 148. 1 6 8
Vgl. z.B. BVerfGE 9, 83, 87 f.; 13, 181, 190; 13, 237, 239.
1 6 9
BVerfGE 42, 312, 325 f.; 70, 138, 162. S. hierzu die Aufzahlung bei v.Mangoldt/Klein/Starck,
1 7 0 1 7 1
GG, Art. 2 Rdnr 17 m.v.N.
Alexy, Theorie, S. 354 spricht hier von Rechten, die "relativ a u f ihren Inhaber gelten. S. im einzelnen unten H V 2 a. 1 7 2 Alexy, Theorie, S. 355.
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
371
sen, die nur deshalb eintreten, weil der wirkungsnächste Kausalmittler nichts gegen die Verletzung seiner Abwehrrechte unternommen hat. Umgekehrt entspricht die Zurechnung der wirkungsferneren Folgen rechtmäßiger Eingriffe in die Abwehrrechte des Kausalmittlers nicht nur der Billigkeit, die aus der Gefahrschaffungsgefahr entstehenden Folgen zu verantworten, sondern ist auch im Ergebnis praktikabel: Fälle, in denen eine Maßnahme gegenüber dem Kausalmittler rechtmäßig ist, gegenüber dem Wirkungsferneren aber rechtswidrig, sind zwar denkbar, doch jedenfalls selten. In kompetentieller und formeller Hinsicht nämlich sind die zur Rechtfertigung von Eingriffen 173 in die Abwehrrechte Wirkungsfernerer zu erfüllenden Anforderungen nicht strenger als die ohnehin in bezug auf den Kausalmittler geltenden und daher sowieso zu beachtenden, so daß diesbezüglich keine Probleme entstehen174. An der materiellen Rechtfertigung hingegen kann der Eingriff in die Abwehrrechte des Wirkungsferneren nur scheitern, wenn die Beeinträchtigung seiner Grundrechtsgüter materiell schwerer wiegt als die Beeinträchtigimg der Grundrechtsgüter des Kausalmittlers, so daß die materiellen Gründe des Staates für den einen Eingriff genügen, nicht aber für den anderen 175 ; das wiederum ist nur der Fall, wenn entweder die Abwehrrechte des Wirkungsferneren eine höhere Wertigkeit besitzen als die des Kausalmittlers oder wenn ihre Beeinträchtigung ein größeres Ausmaß erreicht, und hieraus ein Verstoß gegen das Übermaßverbot resultiert. Bedenken bezüglich einer uferlosen Ausdehnung der abwehrrechtlichen Verantwortlichkeit des Staates ergeben sich aus der vorgeschlagenen Zurechnungsdoktrin hiernach nicht. Da im Pächter-Fall davon ausgegangen werden kann, daß die Versagung der Gaststättenerlaubnis gegenüber dem Pächter rechtmäßig war, war die abwehrrechtliche Gefahrrelevanz gegeben; das Gericht hätte daher die Rechtmäßigkeit des die Verpächterin treffenden Eingriffs untersuchen müssen 176 . Nicht überzeugend war auch die Begründung des BGH im Fall der KPDVerbotsfolgen 177. Das BVerfG hatte mit Urteil vom 17. August 1956 1 7 8 die KPD gemäß Art. 21 Abs. 2 GG für verfassungswidrig erklärt und aufgelöst
1 7 3
Zur Rechtfertigung von Eingriffen s. eingehend unten H V . Eine zur kompetentiellen Rechtfertigung erforderliche gesetzliche Eingriffsermächtigung deckt von ihrem Zweck her auch annexe Gefahrschaffungen und damit die unvermeidlichen Beeinträchtigungen Wirkungsfernerer (s. unten H V 4 c bb (2)). Die formelle Rechtfertigungsvoraussetzung des Zitiergebotes (Art. 19 I 2 GG) betrifft nur bezweckte Grundrechtsgutsbeeinträchtigungen (s. unten H V 5 c cc und d). Soweit die Beeinträchtigung der Grundrechtsgüter des Wirkungsferneren normalerweise nicht bezweckt ist, bereitet Art. 19 I 2 GG daher keine praktischen Schwierigkeiten. 1 7 4
1 7 5
Vgl. Alexy, Theorie, S. 354. Dazu unten H V I 3. Ebenso unzutreffend die Begründung in dem vergleichbaren Fall V G H Mannheim, GewArch 1972, 138, 140.
11f\ 1 / 0
1 7 7 1 7 8
B G H Z 3 1 , 1. BVerfGE 5, 85.
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F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
(§ 46 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG) sowie die Einziehung des Parteivermögens angeordnet (§ 46 Abs. 3 Satz 2 BVerfGG). Die Klägerin war Mitglied und Angestellte der KPD und begehrte nun eine Enteignungsentschädigung von der Bundesrepublik Deutschland, da sie ihre Gehaltsforderungen aufgrund des Wegfalls ihrer Schuldnerin (der KPD) und der Vermögenseinziehung nicht mehr zu realisieren vermochte. Der BGH wies die Klage ab: Die Vermögenseinziehung habe nur das Aktivvermögen der KPD erfaßt und die Forderung der Klägerin unberührt gelassen; der Untergang ihrer Forderung sei eine Folge des Wegfalls der Schuldnerin, und also nur mittelbare Folge des KPDVerbotes 179 . Diese Begründung mutet seltsam an. Gehaltsforderungen sind durch Art. 14 GG geschützt, so daß alle staatlichen Maßnahmen, die dieselben beeinträchtigen oder entwerten, als Eigentumseingriffe in Betracht kommen, sofern dieser Erfolg zurechenbar ist. Führt die staatliche Maßnahme zum Wegfall des Schuldners und zieht der Staat dessen (Aktiv)Vermögen ein, so daß keinerlei Möglichkeit mehr zur Befriedigimg der Forderung besteht, so ist diese effektive Vernichtung der Forderung nicht anders zu behandeln, als wenn sie z.B. enteignet worden wäre. Nicht haltbar ist das Argument, die Vermögenseinziehung habe "nur" das Aktivvermögen der KPD erfaßt und die Forderung der Klägerin unberührt gelassen. Eine Forderung ohne ein gegenüberstehendes Aktivvermögen ist völlig wertlos; das zu ignorieren schüfe ein probates Mittel, jeden Gläubiger um seine Forderung zu bringen. Mit dieser Begründung durfte der BGH eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Art. 14 GG jedenfalls nicht verneinen. Dieser Beeinträchtigungserfolg resultierte auch aus einer abwehrrechtlich relevanten Gefahr. Wenn der Staat nämlich einen an sich leistungsfähigen und leistungswilligen Schuldner an der Erfüllung seiner Verbindlichkeiten hindert, so ist das nicht grundsätzlich anders zu bewerten, als wenn er dem Schuldner die Erbringung der Leistung verböte oder den Gläubiger an der Entgegennahme der Leistung hinderte; ob das "mittelbar" erfolgt oder nicht, ist unerheblich. In jedem Fall ist die Gefahr der Forderungsentwertung geschaffen. Richtig ist zwar, wie des öfteren betont w i r d 1 8 0 , daß ein Gläubiger seinen Schuldner so nehmen muß, wie er ist, einschließlich des Risikos, daß dieser nicht erfüllen kann. Doch das betrifft Leistungshindernisse, die der Schuldnersphäre entstammen, jedenfalls aber nicht solche, die staatlicherseits dem Schuldner aufgezwungen werden 181 . Da das KPD-Verbot rechtmäßig war und 1 7 9
B G H Z 3 1 , 1 , 2 f.
1 8 0
Vgl. Ramsauer, Die faktischen Beeinträchtigungen, S. 187; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 330; Wagner, NJW 1966, 573. 1 1 0Ol1 Für ihre gegenteilige Behauptung liefern Ramsauer, Die faktischen Beeinträchtigungen, S. 187 und A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 330 f. keine Begründung. Ein Gläubiger mag zwar in der Lage sein, sich seine Geschäftspartner auch im Blick auf deren wirtschaftliche Solidität aus-
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
373
also von der KPD nicht abgewehrt werden konnte, konnte die Zurechenbarkeit nicht zweifelhaft sein 1 8 2 . Das lenkt den Blick auf die Zusatzerwägung des BGH, ob auch tatsächlich eine Eigentumsbeeinträchtigung vorlag: Das Urteil des BVerfG habe nicht die Verfassungswidrigkeit der KPD geschaffen, sondern nur die bereits vorhandene festgestellt. Die Klägerin war aktives Mitglied der KPD und forderte deren Tätigkeit. Ihr von dieser Einstellung getragenes Beschäftigungsverhältnis nebst ihren daraus entstandenen Ansprüchen sei daher - wie das Vermögen der KPD - von vornherein mit einem Makel im Sinne des Art. 21 Abs. 2 GG behaftet gewesen. Wer solche Rechtsbeziehungen zu einem in Bestand und Vermögen bedrohten Rechtsträger unterhalte, müsse mit einem Einschreiten der Staatsgewalt rechnen und damit mit dem Verlust seiner (bemakelten) Forderungen 183 . Indessen gibt es keine Rechtsnorm des Inhalts, daß Forderungen gegen ein bemakeltes Vermögen stets ihrerseits bemakelt und daher nicht Eigentum im Sinne des Art. 14 GG seien. Ein Satz in dieser Allgemeinheit ist nicht nachweisbar; einem Gläubiger aus einem neutralen Rechtsgeschäft des täglichen Lebens, das sich nicht auf eine Identifizierung mit den Zielen der Partei gründete (z.B. einem Lieferanten von Büromaterial), hätte ein Entschädigungsanspruch eingeräumt werden müssen184. Die Besonderheit des Falles war zwar, daß die Klägerin als Sekretärin und Mitglied der A P D 1 8 5 nicht nur deren verfassungswidrige Tätigkeit durch wesensmäßig neutrale Handlungen forderte, sondern ihrerseits selbst eine verfassungsfeindliche Tätigkeit ausübte. Doch diese war, solange das BVerfG das Parteiverbot nicht ausgesprochen hatte, weder strafbar noch als solche verboten 186 . Zwar war sie, qua Verbot der KPD, jederzeit verbietbar (vgl. § 84 StGB). Insofern war nicht nur die gesamte Tätigkeit der KPD, sondern eben gerade auch die Tätigkeit der Klägerin für die KPD "bemakelt", und damit auch die aus dieser Tätigkeit erwachsenen Forderungen. Mit anderen Worten: Die rechtliche Fähigkeit der Klägerin, ihre Gehaltsforderung gegen die KPD geltend zu machen, stand von vornherein unter dem rechtlichen Vorbehalt des Parteiverbotes. Das bundesverfassungsgezuwählen und insofern auch das Risiko der Illiquidität übernehmen müssen; hoheitliche Zugriffe aber, die seinen Schuldner vermögenslos zurücklassen, gehören jedenfalls nicht in die Risikosphäre des Gläubiger. 1 8 2 So im Ergebnis auch Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 14 f.; Kirchhof,\ Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 17 Fn. 86. Für Extremfalle wie die Vermögenseinziehung auch Ramsauer, Die faktischen Beeinträchtigungen, S. 187. 1 8 3
B G H Z 3 1 , 1 , 3 f. Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 21 (Lfg. 1960) Rdnr 127; Kirchhof \ Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 17 Fn. 86. Vgl. auch die Regelung in § 32 V PartG i.V.m. § 13 I VereinsG. 1 8 4
1 8 5 1 8 6
Vgl. BVerfGE 5, 85, 208 ff. zu der Reichweite der Mitgliederschulungen.
Vgl. dazu BVerfGE 12, 296, 304 f.; 47, 130, 139; v.Münch, in v.Münch, GG, Art. 21 Rdnr 77; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 21 Rdnr 23.
374
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
richtliche Verbot der KPD allerdings aktualisierte diese rechtliche Schranke des Könnens 187 ; es hat systematisch dieselbe Bedeutung wie ein Verwaltungsakt, der von einer Ermächtigung Gebrauch macht, das rechtliche Können zu limitieren 188 . Dank des Verbotsvorbehaltes war zwar das Parteiverbot zulässig, einen Eingriff stellte es nichtsdestoweniger dar. Daß infolgedessen der Wert der ansonsten gegebenen natürlichen Durchsetzbarkeit der Forderung auf null sank, spielt daneben wegen der insoweitigen Akzessorietät keine eigenständige Rolle. Auch der Zusatzerwägung des BGH ist daher nicht zuzustimmen. Der Entschädigungsanspruch scheiterte weder an der Zurechenbarkeit des Erfolges, noch daran, daß dieser nicht innerhalb des Schutzbereichs des Art. 14 GG lag. Geboten war deshalb eine Rechtmäßigkeitsprüfung 189. Zu Recht hat das BVerfG im Kontaktsperre-Beschluß 190 betreffend das sogenannte Kontaktsperregesetz 191 geprüft, ob die von den beschwerdeführenden Anwälten als beschwert gerügte Tätigkeit überhaupt unter die Berufsfreiheit fiel. Zwar gehört der unbehinderte Verkehr von Verteidigern mit ihren Mandanten zur Berufsfreiheit des Anwalts, die auch dann in ihrem natürlichen Wert beeinträchtigt wird, wenn die staatliche Kontaktsperre an die Inhaftierten adressiert i s t 1 9 2 . Doch da Verteidigerbesuche "nur zu Zwecken der Verteidigung zulässig" sind 1 9 3 , hätten die beschwerdeführenden Anwälte konkret angeben müssen, weshalb gerade zu dem betreffenden Zeitpunkt ein solcher Besuch zu Verteidigungszwecken erforderlich hätte gewesen sein sollen. Da sie dies nicht dartun konnten, fehlte es an einer Beeinträchtigung der Berufsfreiheit, so daß es auf die Zurechenbarkeit nicht mehr ankam. Hätten die Anwälte diese Beeinträchtigung dartun können, so wäre die Zurechenbarkeit festzustellen gewesen, da die Kontaktsperre den inhaftierten (mutmaßlichen) Terroristen gegenüber rechtmäßig w a r 1 9 4 .
1 8 7 Da das BVerfG zwar die Verfassungswidrigkeit der Partei auch für die Vergangenheit feststellen kann (BVerfGE 2, 1, 73; Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 21 (Lfg. 1960) Rdnr 121), die Wirkungen des Parteiverbotes aber konstitutiv erst mit dem Urteil eintreten und insofern nicht zurückwirken können (BVerfGE 12, 296, 304 f.; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 21 Rdnr 24; a.A. wohl Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 21 (Lfg. 1960) Rdnr 121), konnte übrigens der Rechtsgrund für die bereits von der KPD erbrachten Leistungen nicht rückwirkend nach § 134 BGB i.V.m. § 84 StGB entfallen; insofern war ein Bereicherungsanspmch (§ 812 I BGB) der einziehungsberechtigten Bundesrepublik Deutschland gegen die Sekretärin ausgeschlossen. 1 8 8
S. dazu oben D ü 2 a a a .
1 8 9
S. dazu unten H V I 3.
1 9 0
BVerfGE 49, 24.
1 9 1
Gesetz zur Ändening des EGGVG v. 30.9.1977 (BGBl. I S. 1877). Vgl. bereits BVerfGE 46, 1, 12.
1 9 2
1 9 3 BVerfGE 49, 24, 48 (Hervorhebung im Original); ebenso bereits BGHSt 27, 260, 262; BVerfGE 46, 1, 12. 1 9 4 BVerfGE 49, 24, 52.
II. Sequentielle Beeintrchtigungskonstellationen
375
Dieses Beispiel demonstriert die Wichtigkeit einer genauen Analyse, ob tatsachlich eine Grundrechtsgutsbeeinträchtigung vorliegt. Wird eine solche infolge oberflächlicher Betrachtung vorschnell bejaht, entsteht leicht eine Situation, in der nur noch zweifelhafte Zurechnungsüberlegungen oder Rechtfertigungsprüfungen unbillige Ergebnisse vermeiden helfen - und das kann nicht erstrebenswert sein! Keine Probleme bereiten nach alledem die Fälle betreffend die Ladenschlußzeiten 195 und die Direktrufverordnung 196. In beiden Fällen lag eine Beeinträchtigung einer natürlichen Freiheit des Wirkungsferneren vor: Infolge der gesetzlichen Regelung der Ladenschlußzeiten waren, weil diese dazu führte, daß die Ladeninhaber ihre Läden schlossen, die Kunden sequentiell betroffen. "Formell sind zwar Adressaten des Gesetzesbefehls nicht die Beschwerdeführerinnen selbst, sondern die Inhaber der Verkaufsstellen, denen die Schließimg ihrer Läden zu bestimmten Zeiten auferlegt wird... Die an den Ladeninhaber gerichtete Norm hindert zwangsläufig die Kundschaft am Einkauf" 197 . Damit war die natürliche Freiheit des Einkaufenkönnens der Kunden (Art. 2 Abs. 1 GG) beeinträchtigt. Mit umgekehrtem Vorzeichen galt Entsprechendes für das natürliche Verkaufenkönnen (Art. 12 Abs. 1 GG) der Hersteller von Direktrufgeräten: Die Vorschrift der Direktrufverordnung 198, welche in § 3 Abs. 4 den Teilnehmern am Direktrufverkehr vorschrieb, nur die von der Bundespost zur Verfügung gestellten Geräte zu verwenden, bedeutete infolge ihrer tatsächlichen Auswirkungen eine Beeinträchtigung der Berufsfreiheit der Unternehmer 199 . Da die gesetzlichen Bestimmungen gegenüber den jeweiligen Kausalmittlern (Ladeninhaber bzw. Gerätebenutzer) rechtmäßig waren 2 0 0 , war auch nach dem Selbstbehauptungsprinzip die Zurechenbarkeit der Fernwirkung zu befürworten. Das BVerfG ließ daher zu Recht die Verfassungsbeschwerden der Kunden bzw. Gerätehersteller gegen die gesetzlichen Bestimmungen zu. bb) Uninteressante Selbstbehauptung: Minderes Interesse des Kausalmittlers Eine weitere Grenze des Selbstbehauptungsprinzips, d.h. des die Zurechenbarkeit hindernden Hinnehmens einer Rechtsverletzung durch den Kausalmittler, wird im Fall betreffend die steuerliche Nichtabzugsfähigkeit von Par1 9 5
BVerfGE 13, 230.
1 9 6
BVerfGE 46, 120. BVerfGE 13, 230, 232 f.
1 9 7 1 9 8
Verordnung über das öffentliche Direktrufnetz für die Übertragung digitaler Nachrichten v. 24.6.1975 (BGBl. I S. 1325). 1 9 9 2 0 0
BVerfGE 46, 120, 137.
So für die Ladenschlußzeiten BVerfGE 13 , 237, 239 aus Anlaß der Verfassungsbeschwerde eines Ladeninhabers.
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F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
teispenden201 deutlich. Hierin wandte sich eine politische Partei mit der Verfassungsbeschwerde gegen eine gesetzliche Regelung, nach welcher Spenden an diese Partei nicht steuerlich abzugsfähig waren; sie rügte einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 21 Abs. 1 GG, weil eine solche Abzugsfähigkeit bei Spenden an andere Parteien gegeben war. Selbst wenn man annimmt, daß sich ein Teil der Anhänger dieser Partei durch die Nichtabsetzbarkeit nicht von Parteispenden abhalten ließ, ist davon auszugehen, daß ein anderer Teil deshalb von solchen Spenden absah und mithin die Partei Einbußen in ihrem Spendenaufkommen erlitt. Dies demonstriert die Bedeutung der "Wirkungsbreite" 202 einer staatlichen Einwirkung auf den Kausalmittler: Je größer der Kreis von Kausalmittlern ist, auf die der Träger öffentlicher Gewalt Einfluß nimmt, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß zumindest ein Teil davon sich entsprechend motivieren läßt und sich zu einer Handlung entschließt, die den Wirkungsferneren beeinträchtigt. Da die fragliche steuerliche Bestimmung verfassungswidrig w a r 2 0 3 , wäre es an sich Sache der durch die Einkommenssteuer-Durchführungsverordnung als Wirkungsnächste betroffenen Steuerpflichtigen und potentiellen Spender gewesen, gegen diese Regelung gerichtliche Schritte einzuleiten. Da sie dies unterließen, hätte nach dem bislang Gesagten die Zurechenbarkeit der Benachteiligung der betroffenen Partei verneint werden müssen: Wenn nicht ein einziger steuerpflichtiger potentieller Spender solche Schritte für geboten erachtete, obschon seine Klage Erfolg gehabt hätte, so müsse das diese Partei hinnehmen. Ob eine solche Sicht zutreffend wäre, erscheint zweifelhaft. Das Einlegen einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz ist nicht mit dem Ergreifen rechtlicher Schritte z.B. gegen die Versagung einer beantragten Genehmigung oder die Auferlegung einer bestimmten Pflicht vergleichbar. Wer z.B. durch einen Verwaltungsakt belastet wird, befindet sich regelmäßig in einer individuellen Belastungssituation: er selbst trägt primär die Folgen dieser Maßnahme und daher liegt es ihm ob, diese Folgen abzuwehren. Dieser Individualbezug und das Bewußtsein, die Folgen tragen zu müssen, sind bei einem Gesetz der fraglichen Art zumindest wesentlich schwächer ausgeprägt. Der Kausalmittler ist als nur einer unter vielen Kausalmittlern nicht mehr primär Sachwalter seines eigenen Interesses, und von daher erscheint es nicht notwendigerweise unvernünftig, nicht gegen das Gesetz vorzugehen, zumal auch die Hemmschwelle, Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz einzulegen, bedeutend höher sein dürfte, als gegen einen belastenden Verwaltungsakt Anfechtungsklage zu erheben.
2 0 1
BVerfGE 6, 273.
2 0 2
Kirchhof \ Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 44 f. BVerfGE 6, 273, 279 ff.
2 0 3
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
377
Bei der Absetzbarkeit einer Spende an eine bestimmte Partei geht es für den Steuerzahler allenfalls um wenige hundert Mark; dem steht der nicht unbeträchtliche Aufwand von Klagen gegen den Steuerbescheid bzw. einer Verfassungsbeschwerde entgegen, der es bei vernünftiger Abwägung aller Vor- und Nachteile angezeigt sein lassen kann, von der Einleitung rechtlicher Schritte abzusehen. In der durch diese steuerliche Bestimmimg geschaffenen Situation gab es vier Möglichkeiten: 1. an die Partei zu spenden und auf den Steuerabzug zu verzichten; 2. an eine andere Partei zu spenden; 3. gar nicht zu spenden; 4. gegen den Steuerbescheid zu klagen bzw. Verfassungsbeschwerde zu erheben. Da im Hinblick auf diese Alternativen trotz der Rechtswidrigkeit der Regelung die Erhebung finanzgerichtlicher Klagen bzw. einer Verfassungsbeschwerde nicht als die allein vernünftige Entscheidung angesehen werden muß, haben die potentiellen Spender nicht gegen das dem Vernünftigkeitsprinzip entspringende Selbstbehauptungsprinzip verstoßen. Die Beeinträchtigung der Partei war daher dem Staat zuzurechnen, was im übrigen auch im Ergebnis sinnvoll ist, weil sich die für den einzelnen Steuerzahler vergleichsweise geringen Nachteile bei der Partei summieren und zu einem beträchtlichen Spendenausfall führen konnten. Diese Erkenntnis ist zu verallgemeinern: Ein Verstoß gegen das Selbstbehauptungsprinzip liegt nicht vor, wenn der Kausalmittler eine Abwehrrechtsverletzung aufgrund minderen Interesses hinnimmt, d.h. wenn die Rechtsverletzung so geringfügig ist, daß nicht allein die Einleitung abwehrrechtlicher Schritte als vernünftig erscheint 204. Aus diesem Grunde ist übrigens dem PrOVG zuzustimmen, das die Klagebefugnis des Trunkenboldes im "Trunkenbold-Fall" bejahte 205 : Zwar stellte das Verbot, an den "Trunkenbold" Branntwein auszuschenken, einen imperativen Eingriff in die Berufsfreiheit der Gastwirte dar, doch da der "Trunkenbold" nur ein Gast von vielen war, lag auf der Seite der Gastwirte ein minderes Anfechtungsinteresse vor, weswegen der "Trunkenbold" das Verbot selbst anfechten können mußte. cc) Verhinderte Selbstbehauptung: Einschüchterung des Kausalmittlers Der Fall der verhinderten Werbesendung 206 zeigt eine weitere Grenze des Selbstbehauptungsprinzips im Problemkreis unterlassener Nachteilsabwehr auf. Der Inhaber einer Werbefirma (Antragsteller) war mit der Werbung für 2 0 4 Damit dürften auch die Bedenken von Erichsen, in Isensee/Kirchhof, HStR V I , § 152 Rdnr 83 ausgeräumt sein, die Beseitigung der Beschwer des Wirkungsferneren dürfe nicht von der vom Kausalmittler "empfundenen Belastung" abhängen. 205 prOVGE 1, 327, oben B I 2 a cc. 2 0 6
BayVGH, BayVBl. 1987, 435.
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F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
ein von einer Buchhandlung (Antragstellerin) herausgegebenes Buch beauftragt. Er hatte zu diesem Zweck seinerseits mit einem Anbieter von Hörfunksendungen (Beigeladener) Verträge geschlossen, nach welchen dieser Anbieter Werbespots ausstrahlen sollte. Die beklagte Bayerische Landeszentrale für neue Medien 2 0 7 wies den Beigeladenen auf medien- und wettbewerbsrechtliche Bedenken gegen die Spots hin, woraufhin dieser den Werbevertrag mit dem Antragsteller kündigte und die Spots absetzte. Sowohl der Antragsteller als auch die Antragstellerin beantragten nun, der Antragsgegnerin per einstweiliger Anordnung jede Einflußnahme auf den Beigeladenen zu untersagen, die diesen von der Erfüllung des Werbevertrages abhalten könnte. Durch die Einwirkung der beklagten Landeszentrale für neue Medien auf den beigeladenen Hörfunkanbieter waren die Antragsteller sequentiell in ihrer natürlichen Berufsfreiheit beeinträchtigt 208. Zweifelhaft könnte lediglich die Zurechenbarkeit sein, weil der beigeladene Wirkungsnächste nicht selbst gegen die Maßnahme vorging, obschon er diese durchaus hätte abwehren können. In der Nichtausstrahlung der fraglichen Werbesendung scheint sich daher weniger eine von der Landeszentrale geschaffene Gefahr als vielmehr die Entscheidimg des Beigeladenen verwirklicht zu haben, sich dem rechtswidrigen Druck zu beugen. Die Antragsteller beantragten denn auch bezeichnenderweise, der Landeszentrale diese Einflußnahme auf den Beigeladenen (!) zu untersagen. Nun ist es jedoch primär Sache jedes Bürgers, seine Freiheit selbst zu verteidigen, und es kann grundsätzlich nicht Aufgabe Dritter sein, diese Aufgabe für ihn wahrzunehmen. Gab der Beigeladene dem rechtswidrigen Druck klaglos nach, so verletzte er den Werbesendungsvertrag und mochte sich den Antragstellern gegenüber schadensersatzpflichtig machen, nicht aber konnte das andere ohne weiteres berechtigen, ihn gerichtlich vor weiteren solchen Unterdrucksetzungen schützen zu wollen. Dennoch ist fraglich, ob in der Tat ein Verstoß gegen das Selbstbehauptungsprinzip vorliegt. Der Beigeladene stand als Anbieter in einer ständigen Beziehung zu der die Rechtmäßigkeit seiner Aussendungen kontrollierenden Landeszentrale. Während die umstrittene Werbesendung für ihn ein Werbevertrag neben vielen darstellte, ging es in seinem Verhältnis zur Landeszentrale um seine berufliche Existenz, da ihn die Ausstrahlung einer medienrechtlich unzulässigen Sendung seine Senderechte kosten konnte. Das mochte ihm ratsam erscheinen lassen, es sich mit der Landeszentrale "nicht zu verderben" und im Hinblick auf die weiteren Beziehungen eher das einzelne Vertragsverhältnis zu den Antragstellern zu opfern. Insofern könnte man zunächst
907 Vgl. dazu das bayerische Medienerprobungs- und -entwicklungsgesetz (MEG) v. 22.11.1984 (Bay. GVB1. 1984, 445), insbesondere Art. 2 I M E G . 2 0 8 Vgl. BayVGH, BayVBl. 1987, 435, 436.
II. Sequentielle Beeintrchtigungskonstellationen
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daran denken, den Beigeladenen nach dem Grundsatz des minderen Interesses von seiner Selbstbehauptungsobliegenheit zu entbinden. Indessen ergibt sich sein minderes Interesse hier nur aus der Furcht vor zukünftigen rechtswidrigen Maßnahmen und ist nicht in der geringen Bedeutung der Vertragsdurchführung an sich begründet. Grundsatzlich kann die Furcht vor zukünftigen rechtswidrigen Beeinträchtigungen nicht von der Obliegenheit befreien, gegenwärtige Beeinträchtigungen anzugreifen. Andererseits darf das Selbstbehauptungsprinzip nicht dahin pervertiert werden, daß, wenn es einem Träger öffentlicher Gewalt gelingt, den Kausalmittler so einzuschüchtern, daß er gegen eine rechtswidrige Maßnahme nicht vorzugehen wagt, auch nicht der Wirkungsfernere rechtliche Schritte einleiten darf. Vielmehr begründet gerade die Einschüchterung des Kausalmittlers die Zurechenbarkeit des Enderfolges, zumal ja die Hinnahme einer rechtswidrigen Beeinträchtigung zwecks Vermeidung künftiger Nachteile in gewisser Hinsicht eine vernünftige Entscheidung darstellt. Der konkrete Fall bot genügend Anhaltspunkte für eine erfolgte Einschüchterung des Beigeladenen: Der Beigeladene wurde "fernmündlich ... darauf hingewiesen, daß der Spot medien- und wettbewerbsrechtlich problematisch und er für sein Programm ... voll verantwortlich sei" 2 0 9 . Das Gericht bescheinigte der Antragsgegnerin selbst im Prozeß eine "nicht eindeutige Haltung" und fuhr fort: "Für dieses Verfahren kommt es entscheidend darauf an, daß die Antragsgegnerin schlechthin keine konkreten Tatsachen vorgetragen hat oder vortragen kann, die der Werbung ... entgegenstehen könnten... Sie hat sich lediglich in Andeutungen ergangen... Sie hat jedoch offenbar tatsächlich nicht überprüft oder jedenfalls das Ergebnis einer Überprüfung dem Betroffenen nicht mitgeteilt. Sie hat es schließlich im gerichtlichen Verfahren abgelehnt, ihre Auffassung deutlich und nachvollziehbar darzulegen... Die Antragsgegnerin hat sich in bezug auf die Werbung ... widersprüchlich verhalten und insbesondere auch im gerichtlichen Verfahren jede Klarstellung abgelehnt... Sie hat den Beigeladenen jedoch fernmündlich und unter Hinweis auf seine Verantwortung und damit auf die mögliche Gefährdung seiner Senderechte derart verunsichert, daß er den Werbespot ohne weiteres aus seinem Programm genommen und den Werbevertrag gekündigt hat. Darin kann entgegen ihrem Vortrag kein Akt der Fürsorge gegenüber dem Beigeladenen gesehen werden. Fürsorglich hätte sie gehandelt, wenn sie, wollte sie schon einen Verwaltungsakt nicht erlassen, ihren Rechtsstandpunkt wenigstens unmißverständlich erläutert ... hätte ...aanstatt das Risiko einem offenkundig um seine Senderechte fürchtenden Kleinanbieter voll zu überbürden" 210. Angesichts eines solchen Rechtsverständnisses und des Fehlens jeglicher Koopera-
2 0 9 2 1 0
26 Roth
BayVGH, BayVBl. 1987, 435 (Hervorhebungen durch Verfasser). Ebd., S. 437 (Hervorhebungen durch Verfasser).
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F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
tionsbereitschaft auf Seiten der Antragsgegnerin war eine Einschüchterung des Beigeladenen gut nachvollziehbar; die Schaffung einer abwehrrechtlich relevanten Gefahrschaffungsgefahr war daher anzunehmen und die Antragsbefugnis der nur sequentiell betroffenen Vertragspartner wurde im Ergebnis zu Recht bejaht. dd) Unnötige Selbstbehauptung: Nachteilsabwälzung Einen Fall denkbarer Nachteilsabwälzung211 betraf die Entscheidung zum NATO-Doppelbeschluß212. Mehrere Personen hatten Verfassungsbeschwerde erhoben und in diesem Rahmen Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gestellt, die sich gegen die Zustimmung der Bundesregierung zur Aufstellung bestimmter mit nuklearen Gefechtsköpfen ausgerüsteter Raketen auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland richteten. Die Beschwerdeführer behaupteten eine Verletzung ihres Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Durch die genannte Stationierung erhöhe sich die Gefahr eines von der Sowjetunion zu führenden nuklearen Präventivschlages. Die Aufstellung der fraglichen Raketen stellte unter militärischen Gesichtspunkten einen Nachteil für die (ehemalige) Sowjetunion dar, da sie aufgrund dieser Raketen im Falle eines Krieges eine schlechtere Position gehabt hätte als ohne deren Aufstellung; die Feststellung dieses militärischen Nachteils ist dabei unabhängig davon, daß seine Zufügung der Sowjetunion gegenüber nicht völkerrechtswidrig w a r 2 1 3 . Diese konnte nun versucht sein, diesen erlittenen Nachteil im Konfliktsfalle durch einen gegen diese Waffen geführten (nuklearen) Präventivschlag von sich auf die dann an Leib und Leben bedrohten Beschwerdeführer abzuwälzen. Damit stellte sich die NATO-Nachrüstung als Schaffung einer Gefahrschaffungsgefahr dar, und ein nach militärischen Kriterien vernünftiger Präventivschlag wäre grundsätzlich zurechenbar. Daß die Zurechenbarkeit der Fernwirkung nicht mit dem Argument der staatlichen Souveränität der Sowjetunion als Kausalmittler auszuschließen war, wurde bereits gezeigt 214 . Auch wäre unerheblich, ob die Sowjetunion in der Lage gewesen wäre, die NATO-Nachrüstung anderweitig zu verhindern. Ganz allgemein ist nämlich festzustellen, daß für den Kausalmittler nicht allein die NachteilstfftwtfAr vernünftig ist, wenn er auch zur Nachteilsabwälzung in der Lage ist. Die Zurechnung solcher Fernwirkungen, die durch die Abwälzung der durch den Staat geschaffenen Nachteile vom Kausalmittler auf den WirKirchhof\ Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 14 spricht in bezug auf die Weitergabe staatlicher Abgaben- und Steuerlasten von "Lastenüberwälzung". 2 1 2
BVerfGE 66, 39.
2 1 3
BVerfGE 66, 39, 64 f. S. oben F 13 e.
2 1 4
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
381
kungsferneren erscheint durchaus sachgerecht 215, weil der Träger öffentlicher Gewalt, indem er den Kausalmittler und den Wirkungsferneren in eine solche "Gefahrengemeinschaft" 216 zwingt, eine Gefahrschaffungsgefahr begründet, daß der Kausalmittler bei vernünftiger Entscheidung seine Nachteile abwälzt. Dabei muß es sich allerdings wirklich um eine Nachteilsabwälzung handeln und nicht lediglich um eine N&chteilsverdoppelung. Nimmt der Kausalmittler den ihm entstandenen Nachteil zum Anlaß, einem anderen Nachteile zuzufügen, ohne selbst eine Entlastung zu erfahren, so erscheint das regelmäßig als unvernünftige Böswilligkeit, die dem Staat nicht zuzurechnen ist. Nach alledem stellte die Dislozierung der Raketen eine abwehrrechtlich relevante Gefahrschaffungsgefahr dar, deren Rechtmäßigkeit zu untersuchen gewesen wäre 2 1 7 . d) Zwischenergebnis Als Ergebnis der vorstehenden Fallbetrachtung ist festzuhalten, daß die Zufügung eines Nachteils zu Lasten des Kausalmittlers im allgemeinen keine abwehrrechtlich relevante Gefahrschaffungsgefahr begründet, soweit der Kausalmittler nach dem hier in Gestalt des Selbstbehauptungsprinzips greifenden Vernünftigkeitsprinzip gehalten ist, sich gegen die fragliche Belastung abwehrrechtlich zur Wehr zu setzen; eine wirkungsfernere Beeinträchtigung ist dem Träger öffentlicher Gewalt dann nicht zuzurechnen. Ein anderes gilt deshalb, wenn der Eingriff in die Abwehrrechte des Kausalmittlers diesem gegenüber rechtmäßig ist, so daß ihm keine Abwehransprüche zustehen, sowie in den Fällen minderen Interesses des Kausalmittlers bzw. seiner Einschüchterung, oder wenn der Kausalmittler den erfahrenen Nachteil auf Wirkungsfernere abzuwälzen vermag.
3. Neutrale Einwirkungen auf den Kausalmittler Zuletzt sind noch die Fälle der neutralen Einwirkung auf den Kausalmittler zu erörtern. "Neutral" soll dabei nicht heißen, daß keinerlei Einwirkung vorläge, sondern daß dem Kausalmittler durch die Maßnahme weder ein Vornoch ein Nachteil entsteht und insofern kein eigenes Interesse des Kausalmittlers berührt ist, weshalb die Einwirkung nicht in den Kategorien vorteilhaft/nachteilig zu messen ist. Es handelt sich damit mehr um eine tatsächliche, denn um eine rechtliche Kategorie. Diese Fälle bereiten nach allem Gesagten keine besonderen Schwierigkeiten. Auch hier ist nur mit dem Vernünftigkeits7.15 2 1 6 2 1 7
Dafür auch Kirchhof, Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 17 nebst Fn. 83. BGHZ 45, 290, 293. S. dazu unten H V I 1.
382
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
prinzip nach der abwehrrechtlich relevanten Gefahrschaffiingsgefahr zu fragen. In einem vom OVG Koblenz entschiedenen Fall hatte die nach § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO zustandige Straßenverkehrsbehörde gegenüber einer Gemeinde als nach § 45 Abs. 5 Satz 1 StVO zur Anbringimg der Verkehrszeichen verpflichtete Straßenbaulastträgerin eine verkehrspolizeiliche Verfügung erlassen, einen Weg für den allgemeinen Straßenverkehr zu sperren und den bisher dort fließenden Fahrzeugverkehr durch Anbringung eines entsprechenden Wegweisers über eine andere Straße zu leiten. Ein Anlieger dieser Straße klagte gegen die Anordnung der Straßenverkehrsbehörde. Das OVG Koblenz ließ seine Klage zu. Zwar entstehe eine Verbindlichkeit der angeordneten Verkehrsbeschränkungen den Verkehrsteilnehmern gegenüber erst mit der Aufstellung der Verkehrsschilder. Der Kläger wende sich jedoch nicht als ein Verkehrsteilnehmer, sondern als Anlieger gegen die Anordnung und mache sein Anliegerrecht auf Schutz vor unangemessenen Belästigungen geltend. "Soweit diese Betroffenheit des Kl. als Anlieger in Frage steht, enthält die Anordnung der Bekl. als solche bereits eine verbindliche und abschließende Entscheidung, die aus der Sicht des Kl. nur noch des Vollzugs bedurfte" 218 . Das verdient Zustimmung. Die fragliche Verpflichtung stellte, insofern nämlich die Gemeinde durch die getroffene Verkehrsregelung nicht in ihrem gemeindlichen Selbstverwaltungsrecht verletzt werden kann 2 1 9 , eine für die Gemeinde neutrale Maßnahme dar, die selbstverständlich die Gefahr begründete, befolgt zu werden. Mit der Anbringung der Verkehrszeichen wäre die von der Straßenverkehrsbehörde vorgesehene neue Verkehrsführung wirksam geworden; Verkehrszeichen sind nämlich als Verwaltungsakte in der Form von Allgemeinverfügungen (§ 35 Satz 2 VwVfG) anzusehen220, die durch ihre Anbringung öffentlich bekanntgegeben (§ 41 Abs. 3 Satz 2 V w V f G ) 2 2 1 und damit wirksam werden (§ 43 Abs. 1 VwVfG). Diese "durch die Verkehrszeichen verlautbarte Anordnung" 222 der Straßenverkehrsbehörde wäre sodann von den Verkehrsteilnehmern (für die die konkrete Streckenführung regelmäßig unerheblich und daher die fragliche Anordnung neutral ist) befolgt worden und hätte die befürchtete Beeinträchtigung des klagenden Anliegers hervorgerufen. Daß die Verkehrszeichen noch nicht angebracht und der Verkehr noch nicht umgeleitet worden war, spielte für die Klagebefugnis keine Rolle: inso-
2 1 8 2 1 9
OVG Koblenz, N V w Z 1985, 666, 667.
Vgl. BVerwG, BayVBl. 1976, 692 ff.; N V w Z 1983, 610 ff. 2 2 0 BVerwGE 59, 221, 224; Kopp, VwVfG, § 35 Rdnr 67; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9 Rdnr 36; Schwarze, in Knack, VwVfG, § 35 Anm 4.3.1.3.2. 2 2 1 V G H Mannheim, NJW 1978, 1279; Kopp, VwVfG, § 41 Rdnr 44; Schwarze, in Knack, VwVfG, § 4 1 Anm 5.4.4. 2 2 2 BVerwG, N V w Z 1983, 610.
II. Sequentielle Beeintrchtigungskonstellationen
383
fern lag ein unvollendeter Eingriff 223 vor, und der klagende Anlieger brauchte nicht zu warten, bis die Beeinträchtigung tatsächlich eintrat. Um Vergabebedingungen ffir Subventionen ging es in einem Urteil des BVerwG. An die Vergabe öffentlicher Landwirtschaftssubventionen war die Bedingung geknüpft, bestimmte Gesellschaften als "Betreuer" einzuschalten. Die klagende Gesellschaft war nicht in die Verwaltungsrichtlinien als möglicher Betreuer aufgenommen worden und klagte nun auf Unterlassimg, durch Richtlinien einen Subventionsbegünstigten daran zu hindern, auch sie als Betreuer zu beauftragen. Die Klage hatte insofern Erfolg, "denn die in den Richtlinien der Beklagten vorgesehene Betreuung allein durch die NLG und die DGL und der damit ausgesprochene Ausschluß aller anderen Personen, also auch der Klägerin von dieser Tätigkeit greift in die freie Berufsausübung der Klägerin ein" 2 2 4 . Die Zurechenbarkeit der bei der klagenden Betreuungsgesellschaft eingetretenen Beeinträchtigung ist in der Tat nicht zweifelhaft: Den subventionierten Landwirten ist es in der Regel egal, welchen "Betreuer" sie haben; ihnen geht es um die Subventionen und dafür werden sie auch bereit sein, die Subventionsbedingungen hinsichtlich der zugelassenen Betreuer zu erfüllen. (Selbst wenn einem Landwirt die Wahl des Betreuers nicht gleichgültig, und insofern ein Nachteil für ihn anzunehmen gewesen sein sollte, käme man nicht über das Selbstbehauptungsprinzip zu einer Verneinung der Zurechnung, sondern müßte hier einen Fall minderen Interesses und damit der uninteressanten Nachteilsabwehr annehmen.) Die angefochtenen Richtlinien begründeten daher eine relevante Gefahrschaffungsgefahr zu Lasten der natürlichen Berufsund Wettbewerbsfreiheit der Kläger: "Auf die Art der Geltung der Richtlinien - wem gegenüber sie verbindlich sind - kommt es nicht an; maßgeblich ist hier allein ihre faktische Wirkung." 225 . Das gleiche ist im Transparenzlisten-Fall 226 zu konstatieren. Wenngleich die die Medikamente verordnenden Ärzte als Kausalmittler diese nicht selbst bezahlen und von daher kein eigenes Interesse an Preisvergleichslisten haben, so dürfte dennoch ein anzunehmendes Verantwortungsbewußtsein der Mehrzahl der Ärzte gegenüber der Versichertengemeinschaft nach der Etablierung der Transparenzlisten dazu führen, die Absatzchancen der teureren Medikamente zu beeinträchtigen. Damit war die abwehrrechtliche Relevanz der Gefahrschaffungsgefahr und die Zurechenbarkeit einer etwaigen Grundrechtsgutsbeeinträchtigung allemal zu bejahen: "Eine gewisse Verbreitung der Listen vorausgesetzt, wird es den Anbietern von Arzneimitteln, die teurer als andere nach 2 2 3
S. oben D V 3 a.
2 2 4
BVerwGE 75, 109, 114.
2 2 5
Ebd., S. 115 f. S. oben D V 3 a bb.
2 2 6
384
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
Wirksamkeit und Qualität vergleichbare Präparate sind, auf die Dauer nicht mehr möglich sein, ihre Medikamente zum bestehenden Preis zu veräußern. Vor allem aber ist wahrscheinlich, daß Präparate, die im Gegensatz zu anderen vergleichbaren Mitteln von der Transparenzkommission keine (positiven) Qualitätssicherungskennzeichen erhalten haben, von den die Liste benutzenden Ärzten kaum noch verschrieben werden und es dadurch bei dem jeweiligen Hersteller zu nicht unbeträchtlichen Absatzeinbußen kommt" 2 2 7 . Vor dem Hintergrund des gemäß § 368e RVO im Bereich der öffentlichen Krankenversicherung geltenden Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit sei der Arzt sogar zur Berücksichtigung bestehender Preisvergleichslisten gehalten 228 . Fraglich konnte allenfalls sein, ob überhaupt eine Schutzbereichsbeeinträchtigung vorlag. Das war der Fall: beeinträchtigt war die natürliche Wettbewerbsfreiheit. Im wirtschaftlichen Wettbewerb konkurrieren Anbieter um Nachfrager, wobei für die Erzielbarkeit eines bestimmten Preises für ein Produkt auch Ruf und Bekanntheitsgrad eines Anbieters von Bedeutung sind. Der Umstand, daß manche Anbieter von "Markenartikeln" höhere Preise erzielen können als Anbieter von "No-name-Produkten", selbst wenn diese die gleiche Wirksamkeit aufweisen, ist nicht Resultat einer unerlaubten oder auch nur unlauteren wirtschaftlichen Betätigung, sondern des durch innovative Schritte oder langjährig bewiesene Zuverlässigkeit erworbenen guten Namens, der als solcher einen wirtschaftlichen Wert darstellt und im Wettbewerb legitimerweise eingesetzt wird. Wenn es den Konkurrenten nicht gelingt, durch ihre Werbimg darauf aufmerksam zu machen, daß sie gleich wirksame Produkte zu günstigeren Preisen anzubieten haben, so ist das als ein dem Wettbewerb immanentes Resultat anzusehen und zu akzeptieren. Wenn der Staat öffentliche Mittel einsetzt, um durch Kommissionen und Publikationen das zu erreichen, was die Konkurrenten nicht vermögen, so stellt das eine wettbewerbsverzerrende Maßnahme und damit eine Beeinträchtigung der Wettbewerbsfreiheit d a r 2 2 9 . "Die Preis-, Wirksamkeits- und Qualitätssicherungsangaben in den amtlichen Charakter tragenden Transparenzlisten in Verbindung damit, daß der verordnende Arzt gehalten ist, dem Gebot der Wirtschaftlichkeit gerecht zu werden, verleihen den Transparenzlisten im Sinne ihrer Zweckbestimmung eine Durchschlagskraft, die der Wirkung eines unmittelbaren staatlichen Zwangseingriffs in das Marktgeschehen ... gleichkommt. Von der bloßen Realisierung eines gleichsam systemtypischen Risikos des Unternehmers kann
2 2 7 2 2 8
BVerwGE 71, 183, 189 f.
Ebd., S. 190 f. 2 2 9 Vgl. Kirchhof\ Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 163 ff.; Ktoepfer, Umweltrecht, § 4 Rdnr 155; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 228 Fn. 138; Schulte, DVB1. 1988, 517 f. Nicht überzeugend daher Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit, S. 281 f.
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
385
angesichts eines solchen staatlichen Lenkungsinstruments nicht mehr gesprochen werden" 230 . Lübbe-Woffi 131 verneint demgegenüber die Beeinträchtigung der Wettbewerbsfreiheit. Sie begründet dies damit, die Anerkennung der Wettbewerbsfreiheit als Abwehrrecht beruhe auf der Annahme, der Wettbewerb, der aus der konkurrierenden Wahrnehmung der in Art. 12, 14 und 2 Abs. 1 GG verbürgten Freiheit entstehe, sei eine Ordnung, die mit der Gewährleistung dieser Abwehrrechte selbst geschützt werden solle. Inhalt und Reichweite subjektivabwehrrechtlichen Schutzes der Wettbewerbsfreiheit hingen daher vom Inhalt des den Abwehrrechten als Ordnungsziel zugeschriebenen Wettbewerbsmodells ab. Als Eingriffe in den abwehrrechtlich geschützten Wettbewerb seien nur diejenigen staatlichen Interventionen anzusehen, die dem abwehrrechtlichen Ordnungsziel, der intendierten Wettbewerbsordnung, zuwiderliefen. Staatliche Informationen und Beratung störten den freien Wettbewerb daher nicht, würden im Gegenteil gar noch die Voraussetzungen seiner Funktionsfähigkeit verbessern. Diese Ansicht beruht auf einer falschen Prämisse und ist daher abzulehnen. Die Anerkennung der Wettbewerbsfreiheit beruht nicht auf einer zugrunde liegenden Ordnungsvorstellung vom Marktgeschehen 232, sondern ergibt sich ohne weiteres aus der Wahrnehmimg der in Art. 12 Abs. 1, 14 und 2 Abs. 1 GG geschützten beruflichen und unternehmerischen sowie der Freiheit der Konsumenten233. Aus dieser Freiheit mag sich eine Marktordnung ergeben 234 , 2 3 0 BVerwGE 71, 183, 194 f. Das BVerwG bejahte sodann S. 196 ff. mit im wesentlichen gleichen Gründen einen zusätzlichen Eingriff in die Berufsfreiheit durch die Auferlegung einer faktischen Auskunftsverpflichtung des Arzneimittelherstellers, da das Produkt ohne diese Auskunft ohne Qualitätssicherungskennzeichen in die Liste aufgenommen wird, und sich die Absatzchancen noch weiter verminderten. "Vor diesem Hintergrund ist es nicht überzeugend, noch von einer freien unternehmerischen Entscheidung des betroffenen Arzneimittelherstellers zu sprechen" (S. 198). 2 3 1
NJW 1987, 2711; desgleichen Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit, S. 282.
2 3 2
Das BVerfG betont in ständiger Rechtsprechung (BVerfGE 4, 7, 17 f.; 50, 290, 336 ff.) die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes. Ebenso BVerwGE 71, 183, 195; Arndt, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Rdnr 40; Badura, Die Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand, S. 838 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 1048. 2 3 3 Arndt, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Rdnr 40; Krölls, GewArch 1992, 283; Leisner, BB 1992, 78 f.; Schenke, WiVerw 1978, 227, 234 f.; Scholz, NJW 1969, 1044. 2 3 4 Vgl. BVerwGE 71, 183, 189; Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen, S. 77. Im Lichte des Art. 15 GG geht es jedoch zu weit, wenn Krölls, GewArch 1992, 283 aus Art. 12, 14 und 2 I GG ableitet, damit sei eine "private Wirtschaftsordnung [gewährleistet], in der nicht der Staat, sondern die Bürger die Grundentscheidungen über die Modalitäten der Produktion, Verteilung und Konsumtion des gesellschaftlichen Reichtums treffen". - Das gilt nur, solange der Staat nicht von Art. 15 GG Gebrauch macht, kann also nicht den Art. 12, 14 und 2 I GG inhärent sein. Auch über Art. 15 GG könnte zwar der Staat wegen Art. 12, 14 und 2 I GG die Privaten nie vom Marktgeschehen ausschließen; eine Zentralverwaltungswirtschaft wäre verfassungswidrig (vgl. Arndt, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Rdnr 40). Fehl geht Krölls jedoch mit seiner Behauptung, aus den genannten Abwehrrechten folge, daß die Wirtschaft grundsätzlich Sache Privater sei und der Staat daher kein "natürlicher Marktteilnehmer" sein könne.
386
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
nicht umgekehrt. Lübbe-Wolff verkehrt den Sinn der Abwehrrechte, wenn sie ihren Zweck im Schutz einer Wettbewerbsordnung sieht. Es ist unzulässig, den Schutzbereich der Abwehrrechte unter Hinweis auf eine behauptete (!) Wettbewerbsordnung zu restringieren. Ebenso wie sich z.B. ein Monopolist auf die Abwehrrechte aus Art. 12 Abs. 1, 14 und 2 Abs. 1 GG berufen kann, Wettbewerb hin oder her, kann sich das auch sonst ein Anbieter gegenüber ihn beeinträchtigenden staatlichen Informationsmaßnahmen 235, unabhängig davon, ob er sich "marktwirtschaftskonform" verhält oder nicht 2 3 6 . Der Staat muß sich abwehrrechtlich rechtfertigen, wenn er eine bestimmte Wettbewerbsordnung einführen oder sonst eingreifende Steuerungsmaßnahmen ergreifen will237. Da es, wie schon erwähnt, nicht an der Zurechenbarkeit fehlte, und auch ein Erfolgseintritt nicht erforderlich war, lag ein unvollendeter Eingriff vor. Das öffentliche Interesse an einer Kostendämpfung im Gesundheitswesen ist eine Erwägung, die ausschließlich auf der Rechtfertigungsebene angesiedelt ist. Denn zwar können bestimmte Verhaltensweisen von Grundrechtsträgern auf-
2 3 5 Die Verfehltheit der Argumentation Lübbe-Wolffs wird auch deutlich, wenn man sie z.B. auf Art. 5 GG überträgt. Die Meinungsfreiheit dient (auch) dem politischen Meinungskampf und ist essentiell für die Demokratie (BVerfGE 7, 198, 208; v.Münch, in v.Münch, GG, Ait. 5 Rdnr 1; Wendt, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 5 Rdnr 1). Dennoch wäre es abwegig zu folgern, gegen die Demokratie gerichtete Meinungsäußerungen fielen schon gar nicht in den Schutzbereich des Art. 5 I GG; vgl. Ossenbühl, NJW 1976, 103; Wendt, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 5 Rdnr 2. S. auch allgemein Böckenförde, NJW 1974, 1537 f., daß Abwehrrechte stets Freiheit per se und nicht eine Freiheit zu bestimmten Zwecken schützen. Und schließlich darf es nicht zu Lasten ihrer Abwehrrechtsfunktion gehen, daß die Abwehrrechte zugleich auch eine objektive Ordnung konstituieren, Schuppert, EuGRZ 1985, 526. Ähnlichen Bedenken unterliegt auch der Ansatz von Philipp, Staatliche Verbraucherinformationen, S. 153 ff. (zustimmend Gramm, Der Staat 1991, 77 f.), die Wettbewerbsfreiheit als aus Art. 2 I GG abzuleitendes Recht auf unternehmerische Selbstdarstellung im Wettbewerb aufzufassen, welche Selbstdarstellung nicht durch allgemeine Aufklärung, sondern nur durch selbstdarstellungsrelevante, mithin individualisierte unternehmensbezogene staatliche Äußerungen beeinträchtigt werden könne {Philipp, Staatliche Verbraucherinformationen, S. 157 f.). Zwar mag es möglich sein, Art. 2 I GG ein Recht auf Selbstdarstellung zu entnehmen und deshalb deren Beeinträchtigung als Eingriff in Art. 2 I GG zu verstehen. Indessen der Umkehrschluß von Philipp, allgemeine Aussagen beeinträchtigten nicht die individuelle Selbstdarstellung und seien daher "gegenüber den Grundrechten neutral", geht fehl. Weder werfen staatliche Verbraucherinformationen bloß Probleme hinsichtlich der Wettbewerbsfreiheit auf, noch erschöpft sich diese (oder gar Art. 2 I GG bzw. die sonstigen Abwehrrechte) in einem Recht auf Selbstdarstellung im Wettbewerb; daß letzteres nicht beeinträchtigt sein mag, sagt daher nichts darüber aus, ob nicht im übrigen ein Eingriff vorliegt. Beispielsweise hat im Fall der Direktrufverordnung (s. oben F H 2 c aa) BVerfGE 46, 120, 137 zutreffend eine Beeinträchtigung der Bemfsfreiheit der Unternehmer angenommen, obschon das Verbot der Benutzung nicht posteigener Geräte an die Benutzer adressiert war und keinerlei individualisierte Bezugnahme auf die "Selbstdarstellung " der Anbieter enthielt; an der Feststellung eines solchen Eingriffs änderte sich auch nichts, wäre nicht ein Verbot an die Benutzer ergangen, sondern hätte der Staat z.B. nur allgemein öffentlich von der Benutzung nicht posteigener Geräte abgeraten. 2 3 6 BVerwGE 71, 183, 195; Philipp, Staatliche Verbraucherinformationen, S. 101; Robbers, AfP 1990, 86; Schulte, DVB1. 1988, 517. 2 3 7
Vgl. Arndt, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Rdnr 40, 59 ff.; Robbers, AfP 1990, 86.
II. Sequentielle Beeinträchtigungskonstellationen
387
grund ihrer praktischen Konsequenzen Rückwirkungen auf berechtigte Interessen der Allgemeinheit haben. Abzulehnen ist aber die Ansicht LübbeWolffs 238, aufgrund dieser Auswirkungen seien sie "keine reine Privatsache" mehr, soweit sie daraus ableitet, der Staat unterläge deshalb bei Beeinflussungsversuchen keiner abwehrrechtlichen Bindung. Jenseits eines eventuell anzuerkennenden Mißbrauchs von Abwehrrechten 239 sowie echter Grundrechtskollisionen 240 kann das Handeln eines Privaten nicht unter Hinweis auf eventuelle nachteilige Folgen für andere bzw. die Allgemeinheit dem Schutzbereich der Abwehrrechte entzogen werden; ein gegenstehendes öffentliches Interesse legitimiert allenfalls den Eingriff 241 .
2 3 8
NJW 1987, 2712.
2 3 9
Vgl. dazu Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 85. Die Rechtsprechung (BVerfGE 7, 377, 397; BVerwGE 22, 286, 287 ff.) nimmt z.B. gemeinschädliche Betätigungen aus dem Berufsbegriff aus; ebenso Borchert, NJW 1985, 2742; Gubelt, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 12 Rdnr 9; Scholz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 12 (Lfg. 1981) Rdnr 24 ff. Unklar Bleckmann, Grundrechte, S. 331 f. einerseits, S. 862 andererseits. 2 4 0 2 4 1
S. dazu eingehend unten H H 1 a cc (1).
Vgl. Bleckmann, Grundrechte, S. 332; Di Fabio JZ 1993, 696 f.; Drews/Wacke/Vogel/ Martens, Gefahrenabwehr, S. 267 f.; Kloepfer, Umweltrecht, § 2 Rdnr 31; Schlink, EuGRZ 1984, 467.
III. Kumulative Beeinträchtigungskonstellationen In diesem Abschnitt ist zu demonstrieren, daß das Kriterium der Gefahrschaffung bzw. der Gefahrschaffungsgefahr auch in den Konstellationen kumulativer Wirkmechanismen1 zu praktikablen Ergebnissen führt.
1. Isolierte Wirkmechanismen Bei den isoliert kumulativen Wirkmechanismen ergibt sich die Unzurechenbarkeit einer etwaigen Beeinträchtigung zumeist ohne weiteres aus der fehlenden Einwirkung welcher Art auch immer auf den Dritten. Die Beeinträchtigungslage S
>
B
B
und
A
>
B
Zwar tritt die Beeinträchtigimg der Grundrechtsgüter des B nur aufgrund der Einwirkung sowohl des Staates als auch des anderen Privaten ein, doch wenn und soweit der Träger öffentlicher Gewalt nicht auf jenen anderen eingewirkt hat, hat er auch keine abwehrrechtlich relevante Gefahr dahin geschaffen, daß sich jener in der zur Beeinträchtigung des Betroffenen führenden Weise verhalte. Zwar mag die Handlung des Staates Umstände geschaffen haben, die dem anderen die Vornahme seiner schädigenden Handlung ermöglicht haben, doch darin allein kann nicht die Schaffung einer Gefahr gesehen werden, daß ein Dritter sie zur Schädigung des Betroffenen ausnutzt. Daß ein anderer Bürger irgendwelche, nicht in diese Richtung gefährlichen Zustände mißbraucht, gehört als allgemeines Lebensrisiko zur Sphäre eines jeden Bürgers 2, und kann nicht dem Staat abwehrrechtlich zur Last gelegt werden; den Staat können diesbezüglich lediglich Schutzpflichten treffen 3. Jedes Beeinträchtigungsglied 1
S. dazu oben F I 1 .
2
Vgl. hierzu oben B U 2 g.
3
Eine Verantwortlichkeit des Staates für einen von einem isoliert handelnden Privaten bewirkten Beeinträchtigungserfolg kann sich insoweit im Falle einer Vernachlässigung grundrechtlicher Schutzansprüche (dazu unten G D I ) ergeben. - Im übrigen ist es dem Staat natürlich unbenommen, auf einfachgesetzlicher Ebene mit individualschützender Wirkung Aufsichtsverant-
.
u t i e
Beeinträchtigungskonstellationen
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ist daher für sich zu betrachten: der Staat hat für die Folgen der von ihm geschaffenen Gefahren einzustehen, der Dritte für die Folgen seiner Handlung. Dieser Sachverhalt läßt sich am Vandalismus-Fall4 demonstrieren: Im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens stellte die Polizei gemäß § 94 StPO einen Pkw sicher und brachte diesen in einer Halle unter. Dort drangen imbekannt gebliebene Vandalen ein und beschädigten u.a. auch besagten Pkw. Der Eigentümer klagte aus enteignendem Eingriff gegen das Land, doch der BGH verneinte mit überzeugender Begründung einen Entschädigungsanspruch: Nachteile, die über die aus der reinen Sicherstellung resultierenden hinausgehen, können zwar entschädigungspflichtig sein, "wenn sie in einem inneren Zusammenhang mit der hoheitlichen Maßnahme stehen. Dafür genügt es nicht, daß sie deren adäquat kausale Folge sind... Erforderlich ist vielmehr, daß sich eine besondere Gefahr verwirklicht, die bereits in der hoheitlichen Maßnahme selbst angelegt ist, so daß sich der im konkreten Fall eintretende Nachteil aus der Eigenart dieser Maßnahme ergibt" 5. Das sei hier nicht der Fall. Es habe sich nicht eine Gefahr verwirklicht, die aus der Eigenart von Sicherstellung und Inverwahrungsnahme folge, sondern ein allgemeines Risiko. Das Eigentum sei "durch ein außerhalb der hoheitlichen Maßnahme liegendes selbständiges Ereignis betroffen" 6; der Staat hafte für diese durch vorsätzliche Fremdeinwirkung 7 entstandenen Schäden nicht. Hiernach konnte der geschädigte Eigentümer allenfalls, sofern nämlich die Sicherstellung rechtswidrig gewesen wäre, tertiäre Entschädigungsansprüche zum Ausgleich der während der Sicherstellungszeit infolge der Nichtnutzbarkeit des Pkw entstandenen Nachteile verlangen. Seinen Sachschaden am Pkw konnte er nicht vom Staat liquidieren, da insoweit keine Gefahrschaffungsgefahr geschaffen worden war. Schwieriger fällt die Beurteilung in den Unterbringungsschadensfällen, die trotz der lehrbuchmäßig anmutenden Fallkonstellation durchaus praxisrelevant sind8. Dabei geht es darum, daß ein Straf- oder Untersuchungsgefangener oder ein z.B. gemäß §§ 64, 66 StGB Untergebrachter von einem Mitgefangenen bzw. Mituntergebrachten geschädigt wird und für seine Körperschäden Aufopferungsansprüche gegen den Staat geltend macht. Der BGH zieht die Grenze der Entschädigungspflicht danach, ob der Geschädigte seine Unterbringung verschuldet hat oder nicht9. Strafgefangene sowie Untersuchungsge-
wortung für Dritte zu übernehmen, vgl. Pietzcker, JZ 1985, 214. Das ist aber nicht mit einer originär abwehrrechtlichen Verantwortlichkeit zu verwechseln. 4
BGHZ 100, 335.
5
Ebd., S. 338.
6
Ebd., S. 339.
7
Ebd., S. 336.
8
S. etwa BGHZ 17, 172; 60, 302; BGH, NJW 1971, 1881. BGH, NJW 1971, 1881, 1882; BGHZ 60, 302, 306.
9
390
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fangene, die die Untersuchungshaft verschuldet haben, sollen keinen Aufopferungsanspruch haben 10 , weil sie durch ihre Unterbringung kein Sonderopfer erbrächten und "jeder Schaden, der sich aus der mit dem Strafvollzug verbundenen Gefährdung ergibt, vom Betroffenen in Kauf genommen werden muß und deshalb nicht ein besonderes ... Opfer darstellt" 11. Dagegen müßten ohne ihr Verschulden in Untersuchungshaft Geratene und wegen verminderter oder ausgeschlossener Zurechnungsfähigkeit Untergebrachte adäquat erlittene Schäden qua Aufopferungsanspruch liquidieren können 12 . Diese Begründung überzeugt nicht. Das Differenzierungskriterium, ob der Betroffene seine Inhaftierung oder Unterbringung verschuldet hat oder nicht, kann allenfalls von Belang dafür sein, ob er die Nachteile liquidieren kann, die infolge der Freiheitseinbuße als solche entstehen, nie aber für dabei erlittene Körperschäden. Zutreffend ist allerdings, daß differenziert werden muß: Sieht man von den denkbaren Fällen ab, in denen die spezielle Art der Unterbringung Aggressionen fordert 13 und wo infolgedessen nicht isoliert kumulative Wirkmechanismen vorliegen (dazu sogleich unter 2.), liegen in den Unterbringungsfällen isoliert kumulative Wirkmechanismen vor. Denn dadurch, daß der Staat den einen unterbringt, schafft er zwar die Möglichkeit, daß der andere ihn verletzt, begründet aber nicht auch die Gefahr, daß dieser es tut. Kann dem Staat somit nicht die Verletzung durch den anderen als solches abwehrrechtlich zugerechnet werden, so heißt dies dennoch nicht, daß der Verletzte keinerlei Entschädigungsansprüche haben könnte. Von Dritten verletzt oder gar getötet zu werden, ist zwar ein allgemeines Lebensrisiko, und ein solcher Erfolg ist dem Staat - jenseits einer Verletzung seiner Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 G G 1 4 - nie zuzurechnen. Anders ist das, wenn der Staat diese allgemeine Gefahr, verletzt oder getötet zu werden, sogar noch erhöht, indem er den Betroffenen gemeinsam mit gewalttätigen Verbrechern oder zu Gewalttätigkeiten neigenden Geisteskranken unterbringt, wobei unerheblich ist, ob diese Neigungen bekannt waren oder nicht. Es geht auch hier wohlgemerkt nicht darum, dem Staat die Verletzungshandlung des Dritten zuzurechnen. Wenn er aber den Betroffenen in die erhöhte Gefahr bringt, von einem anderen geschädigt zu werden, und sei es auch nur dadurch, daß er ihm (etwa durch gemeinschaftliche Unterbringung) die Möglichkeit nimmt, die Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen, die ihm sonst zu Gebote gestanden hätten, so muß er sich den Erfolg zurechnen lassen, der aufgrund des Unterbleibens
1 0
BGHZ 17, 172, 174 ff.; 60, 302, 306 ff.
1 1
BGHZ 17, 172, 176 (Hervorhebungen im Original).
1 2
BGH, NJW 1971, 1881, 1882; BGHZ 60, 302, 310 f. S. dazu BGHZ 60, 302, 311. S. dazu unten G H 1 b aa.
1 3 1 4
.
u t i e
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391
solcher Sicherungsmaßnahmen und dieses Auslieferns an gefährliche dritte Personen eingetreten i s t 1 5 » 1 6 .
2. Nicht isolierte Wirkmechanismen Leichter fallt die Beurteilung nicht isoliert kumulativer Beeinträchtigungskonstellationen. Zerlegt man den diesen zugrunde liegenden Wirkmechanismus S
>
K
>
B
K
>
B
und
B
V
•••
IV
Die Geltendmachung fremder Rechtsverletzungen im eigenen Namen ist eine Prozeßstandschaft. Eine solche soll im Verfassungsbeschwerdeverfahren regelmäßig unzulässig2 und auch sonst im öffentlichen Recht, selbst soweit sie Eingriffe in Abwehrrechte betrifft, nur sehr eingeschränkt zulässig sein3, weil regelmäßig die Geltendmachung der Verletzung eigener Rechte erforderlich ist (vgl. § 90 Abs. 1 BVerfGG, § 42 Abs. 2 VwGO). Soweit es um höchstpersönliche Rechte geht, soll sie sogar ganz ausscheiden4. Gleichwohl ist zu erwägen, ob nicht im Hinblick auf die Europäische Menschenrechtskonvention eine eng begrenzte Ausnahme zu machen ist, für die allerdings, da nach dem Selbstbehauptungsprinzip grundsätzlich jedem die Verteidigung seiner Abwehrrechte selbst obliegt, nicht jedes anerkennenswertes Interesse des indirekt Verletzten an einem solchen Vorgehen genügen kann. Es ist aber bezeichnend, daß in den von der EKMR und dem EGMR entschiedenen Fällen indirekter Verletzung der direkt Verletzte jeweils verstorben war und deshalb - bzw. im Fall der Abtreibung ohnehin - nicht (mehr) zur eigenen Geltendmachung seiner Menschenrechte fähig war. Es dürfte zwar zu weit gehen, den Erben oder Angehörigen eine allgemeine Prozeßführungs-
1
S. oben B I V 2.
2
BVerfGE 72, 122, 131; 77, 263, 268; Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 93 (Lig. 1971) Rdnr 67; Pieroth/Schlink , Grundrechte, Rdnr 1245; naher Zuck , Verfassungsbeschwerde, Rdnr 546 ff. 3 4
Eyermann/Fröhler, VwGO, § 42 Rdnr 131; Kopp , VwGO, vor § 40 Rdnr 25. BVerwGE 61, 334, 341; BVenvG, NJW 1983, 1133; Kopp , VwGO, vor § 40 Rdnr 25.
394
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
befugnis im Namen des Verstorbenen zuzubilligen5; vielmehr ist regelmäßig zu verlangen, daß sie eigene Grundrechtsgüter als verletzt rügen können. Indessen erscheint es angebracht, in Konstellationen, wie sie etwa X. v. Belgien, Amekrane v. Vereinigtes Königreich und Paton v. Vereinigtes Königreich grunde lagen, eine Ausnahme zu machen: hier war der direkt Verletzte nicht nur verstorben, bzw. im Abtreibungsfall in seinem Leben bedroht, vielmehr stellte sein Tod gerade die Verwirklichung der angegriffenen abwehrrechtlich relevanten Gefahrschaffung dar. Das überzeugt: Es wäre unbillig, könnte sich der Staat dadurch seiner abwehrrechtlichen Verantwortlichkeit für den Tod eines Bürgers entziehen, daß niemand mehr da ist, um dies prozessual geltend zu machen. Jedenfalls in solchen Fällen6 ist zur größeren Effektuiemng der Abwehrrechte eine Prozeßstandschaft zuzulassen7.
5 Vgl. Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rdnr 557; etwas großzügiger Stern, in BK, Art. 93 (Zweitb. 1982) Rdnr 547 ff. 6 Vgl. in diesem Zusammenhang BVerfGE 6, 389, 442; Stern, in BK, Art. 93 (Zweitb. 1982) Rdnr 549. 7 Vgl. BVerfGE 25, 256, 262 f.; 77, 263, 296, wonach zur Vermeidung unbilliger Ergebnisse Prozeßstandschaften auch im Verfassungsbeschwerdeverfahren zulässig sein können.
zu-
V . Ergebnis Als Ergebnis dieses Teils F der Arbeit ist festzuhalten, daß das Kriterium der Gefahrschaffungsgefahr in drei- und mehrpoligen Verhältnissen ebenso praktikabel ist wie das der Gefahrschaffung in zweipoligen. Bei sequentiellen Beeinträchtigungen hat sich gezeigt, daß die Gefahrrelevanz nicht mechanisch nach der Tendenz der Maßnahme in bezug auf den Kausalmittler beurteilt werden darf, da es insoweit nur darum geht, für welches Handeln sich dieser in der so geschaffenen Situation gemäß dem Vernünftigkeitsprinzip vernünftigerweise entscheidet. In diesem Rahmen ist die Tendenz allerdings insofern von Interesse, als sie die Abwägung, was jeweils "vernünftig" ist, beeinflussen kann. Da es entscheidend nur auf diesen Vernünftigkeitsmaßstab ankommt, braucht nicht die oft schwierige Frage entschieden zu werden, ob eine Begünstigung oder eine Benachteiligung vorliegt 1. Immerhin: konstituiert die Zufügimg eines Nachteils für den Kausalmittler einen Eingriff in seine subjektive Rechte, so ist regelmäßig deren Abwehr die allein vernünftige Entscheidung (Selbstbehauptungsprinzip). Ausnahmen gelten etwa in den Fällen minderen Interesses und der Einschüchterung sowie der Nachteilsabwälzung. Da indessen allenfalls rechtswidrige Maßnahmen abgewehrt werden können, steht das Selbstbehauptungsprinzip der abwehrrechtlichen Relevanz der Gefahrschaffungsgefahr und damit der Zurechnung der Fernwirkung dann nicht entgegen, wenn die den Kausalmittler beeinträchtigende Maßnahme diesem gegenüber rechtmäßig ist. Wird der Kausalmittler begünstigt, ist freilich irrelevant, ob diese Begünstigung ihm gegenüber rechtmäßig oder rechtswidrig ist, da eine Begünstigung normalerweise nicht abgewehrt wird; dasselbe wird zumeist für neutrale Einwirkungen auf den Kausalmittler gelten2. 1 So kann bei der Gewährung von Subventionen unter Auflagen ohne weiteres untersucht werden, ob sie im wirtschaftlichen Kontext die Gefahr begründete, akzeptiert zu werden. Vgl. dazu Bieback, RdA 1983, 273. 2 Ein einfachgesetzliches Beispiel für eine sequentielle Beeinträchtigung findet sich in § 52 I 2 BSeuchenG. Danach kann auch ein anderer als die mit lebenden Erregern geimpfte Person einen Impfschaden geltend machen, wenn er durch diese Erreger einen Gesundheitsschaden erleidet. Das gilt unabhängig davon, ob die Impfung gesetzlich vorgeschrieben, auf Grund Gesetzes angeordnet oder öffentlich empfohlen war (§ 51 I BSeuchenG). Insoweit kommt es nämlich nur darauf an, daß die Durchfuhrung der Impfung für den Geimpften regelmäßig vernünftig ist, wobei gänzlich unerheblich ist, ob man die Impfung als vorteilhafte, nachteilige oder neutrale Maßnahme einstufen möchte. (Soweit §§ 51, 52 BSeuchenG auch für unvernünftigerweise hingenommene rechtswidrige (vgl. § 14 BSeuchenG) Impfungen Entschädigung gewährt, ist das abwehrrechtlich nicht geboten, aber natürlich begrüßenswert und unproblematisch.) Schon vor Erlaß der § § 5 1 I, 52 I 2 BSeuchenG hat BGHZ 45, 290, 292 ff. - nach den hier entwickelten Kriterien zu Recht - der Mutter eines geimpften Kindes einen Aufopferungsanspruch zugesprochen, nachdem diese selbst infiziert worden war.
27 Roth
396
F. Faktische Eingriffe bei dreipoligen Konstellationen
Bei kumulativen Beeinträchtigungen ist genau zu untersuchen, ob der Staat überhaupt eine Gefahr dahin geschaffen hat, daß der Dritte die weitere gefährdende Handlung vornehme. Ist dies nicht der Fall (isoliert kumulativer Mechanismus), dann braucht der Staat abwehrrechtlich lediglich für die Folgen speziell seines Gefahranteils einzustehen. Liegt jedoch eine Gefahrschaffungsgefahr vor, so ist ihre abwehrrechtliche Relevanz in gleicher Weise wie bei den sequentiellen Beeinträchtigungskonstellationen gemäß dem Vernünftigkeitsprinzip zu bestimmen.
G. Grundrechte als Leistungsrechte Die Grundrechte wurden bislang in ihrer Eigenschaft als Abwehrrechte betrachtet, die ein primäres Achtungsrecht, sekundäre Unterlassungs- und (Folgen)Beseitigungsansprüche sowie tertiäre Entschädigungsansprüche gewähren. Den Grundrechten als Abwehrrechten ist das Bestreben eigen, einen je gegebenen Ist-Zustand rechtlicher oder natürlicher Freiheit gegenüber staatlichen Beeinträchtigungen zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Das abwehrrechtliche Primärrecht zielt auf den Erhalt des Ist-Zustands der geschützten Freiheit; die Sekundäransprüche richten sich gegen den konkret eingreifenden Träger öffentlicher Gewalt und intendieren die Präservierung bzw. Wiederherstellung der grundrechtlichen Integrität; der Tertiäranspruch greift bei irreversiblen Grundrechtsgutsverletzungen 1 sowie bei an sich reversiblen Integritätsverletzungen, soweit zwischenzeitlich irreversible Schäden entstanden sind. Nun stellt sich die Frage, ob die Grundrechte über diese abwehrrechtliche Dimension hinaus auch eine leistungsrechtliche Seite in dem bereits beschriebenen2 Sinn aufweisen, derart nämlich, daß sie den Ist-Zustand der Grundrechtsgüter gegen durch nicht-staatliche Dritte verursachte (Schutzrecht) oder unverantwortete Beeinträchtigungen schützen (Beistandsrecht), bzw. einen gewissen Soll-Bestand an Freiheit garantieren (Förderungsrecht). Leistungsrechte gehören in den Kontext dieser Arbeit 3 , weil ihre Nichtbeachtung als "Beeinträchtigung" ihres Schutzbereiches grundsätzlich nicht anders beurteilt werden könnte als die abwehrrechtlich relevante Beeinträchtigung einer Freiheit 4; die nicht gerechtfertigte Nichterfüllung eines Leistungsanspruchs stellte eine Grundrechts- in der Form einer Leistungsrechtsverletzung dar 5 . Zwar wurde oben aufgrund der strukturellen Unterschiede vorgeschlagen, solche etwaigen Nichterfüllungen nicht als "Eingriffe" zu bezeichnen, sondern als Vernachlässigungen der Leistungspflicht. Das ist jedoch nicht als Negierung einer funktionellen Vergleichbarkeit zu verstehen. Eine bloß terminologische Differenzierung kann nicht zur materiellen Ausgliederung eines Teilbereiches aus dem Komplex in weiterem Sinne "(faktischer) 1
Vgl. dazu oben C 1 2 b.
2
S. oben C 11 b und c. 3 Ein weiterer Grund für die Behandlung von Leistungsrechten wird bei der Problematik von Gnmdrechtskollisionen ersichtlich werden. S. dazu unten H TL 1 a cc (1) und H I V 2. 4 Vgl. Herren y Faktische Beeinträchtigungen, S. 116; Huber t Konkurrenzschutz, S. 227 f.; Kloepfer, JZ 1984, 688; Lübbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 226 f.; Schwerdtfeger, NVwZ 1982, 7. 5
Vgl. Kirchhof,
DÖV 1976, 450.
398
G. Grundrechte als Leistungsrechte
Grundrechtseingriffe" fuhren. Den faktischen Eingriffen in Abwehrrechte funktionell vergleichbar wären dabei Vernachlässigungen von Schutz- und Beistandsrechten6 sowie von forderungsrechtlichen Garantien eines Solles an natürlichem Können; den normativen Eingriffen stünde die Vernachlässigung von Soll-Gewährleistungen hinsichtlich des rechtlichen Könnens bzw. des Dürfens gegenüber.
I. Bedeutung und Tragweite etwaiger Leistungsrechte Der Untersuchung, ob das Grundgesetz Leistungsrechte kennt, sind zwei Klarstellungen voranzuschicken. Denn nur ein korrektes Verständnis der Tragweite solcher Rechte ermöglicht die Entwicklung eines rechten Verständnisses dieser Rechte selbst, und vermeidet materiell-rechtliche Verzerrungen, die so oft Folge ihrer Über- bzw. Unterschätzung sind. Insbesondere können Argumente für bzw. gegen die Existenz von Leistungsrechten nicht überzeugen, die in Verkennung dessen vorgebracht werden, worum es sich eigentlich handelt.
1. Abgrenzung von Abwehr- und Leistungsrechten Nicht immer einfach ist die Abgrenzung von Abwehr- und Leistungsrechten. Zu beobachten ist eine gewisse Tendenz, Vorteilsgewährungen seitens des Staates als Ausfluß insbesondere von Förderungsansprüchen anzusehen, anstatt sie richtigerweise als abwehrrechtlich fundierte Ansprüche zu verstehen. Das führt zu einer Überschätzung der Tragweite gerade der Förderungsrechte, welche wiederum einesteils einen gewissen Enthusiasmus über die vermeintlichen Chancen, und anderenteils eine Skepsis gegenüber ihrem möglichen Ausufern provoziert. Die Notwendigkeit einer jeweils genauen Analyse und Abgrenzung von Abwehr- und Leistungsrechtsaspekten soll an drei besonders kritischen Fällen exemplifiziert werden. a) Privatschulsubventionierung Zu der Thematik der Subventionierung privater Ersatzschulen finden sich eine Reihe von Äußerungen, die in Richtung eines aus Art. 7 Abs. 4 GG ab-
6 Private Dritte können nur den (natürlichen) Wert der Freiheit beschneiden, nicht aber deren Umfang, da dies nur durch den Staat gesetzte Dürfens-Grenzen möglich ist.
I. Bedeutung und Tragweite etwaiger Leistungsrechte
399
geleiteten Förderungsrechts deuten7. So hielt das BVerwG dafür, daß zwar "grundsätzlich ... die Schutzwirkung eines ... Freiheitsrechts sich nicht auf positive Leistungen der sog. gewährenden Verwaltung erstreckt. In außergewöhnlichen Fällen kann sich aus einer verfassungsrechtlichen Garantie aber ein Leistungsanspruch ergeben"8. Das treffe für den Anspruch der privaten Ersatzschulträger zu, weil ohne staatliche Hilfe das Ersatzschulwesen entgegen dem Willen des Grundgesetzes zum Erliegen komme. Das Grundgesetz sei "so auszulegen, daß die drohende Lahmlegung eines Freiheitsrechtes abgewendet wird. Dieses muß erhalten bleiben, seine Aushöhlung ist mit der verfassungsrechtlichen Grundordnung unvereinbar" 9. Auch das BVerfG meint, mit der Anerkennung der Gründungsfreiheit und der institutionellen Garantie der Privatschule sei der Inhalt des Art. 7 Abs. 4 GG nicht voll erfaßt; hinzu komme die Pflicht, das private Ersatzschulwesen zu fordern und in seinem Bestand zu schützen10. "Soll Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG nicht zu einem wertlosen Individualgrundrecht auf Gründung existenzunfähiger Ersatzschulen und zu einer nutzlosen institutionellen Garantie verkümmern, so muß diese Verfassungsgarantie zugleich als eine Verpflichtung des Gesetzgebers verstanden werden, die privaten Ersatzschülen zu schützen und zu fordern. "11 Indessen kommt es bei genauer Betrachtung auf diese forderungsrechtliche Frage letztlich nicht an, da sich ein Subventionierungsanspruch bereits abwehrrechtlich ergibt. Das BVerwG hat in einem früheren Urteil zutreffend darauf hingewiesen, daß das Privatschulwesen nicht nur z.B. durch Erschwerungen oder Verweigerungen der Anerkennung als Ersatzschule beeinträchtigt werden könne, sondern auch dadurch, daß der Besuch der öffentlichen Schule besonders anziehend ausgestaltet werde. Böten die öffentlichen Schulen Vorteile, die die Privatschulen in Ermangelung ausreichender Mittel nicht gewähren könnten (z.B. Schulgeldfreiheit), so habe "dies notwendigerweise zur Folge, daß das Privatschulwesen zum Erliegen kommen muß und der ... Grundsatz der Privatschulfreiheit dadurch ausgehöhlt wird" 1 2 . Damit liegt ein klarer Fall eines faktischen Eingriffs in die Privatschulfreiheit des Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG vor: Der Staat schafft durch das Angebot schulgeldfreier öffentlicher Schulen die Gefahr, daß sich Eltern und Schüler gegen den Besuch privater Ersatzschulen entschließen - was sie auch überwiegend tun - und beeinträchtigt damit für den Ersatzschulträger den Wert seiner Freiheit, eine Privat7 Vgl. z.B. BVerwGE 79, 154, 156; BayVerfGH, N V w Z 1985, 481, 482; Breuer, Gnindrechte als Anspruchsnormen, S. 98 f.; Huber, Konkurrenzschutz, S. 181 f.; Jarass/Pieroth, GG, Art. 7 Rdnr 18; Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 7 (Lfg. 1980) Rdnr 67; Pieroth, D Ö V 1992, 593 ff.; Ritfher, in BK, Art. 3 I (Zweitb. 1992) Rdnr 65. 8 BVerwGE 27, 360, 362 f. 9
Ebd., S. 363.
1 0
BVerfGE 75, 40, 62.
1 1
Ebd., S. 65. BVerwGE 23, 347, 349.
1 2
400
G. Grundrechte als Leistungsrechte
schule betreiben zu können. Diese Wertreduzierung ist um so deutlicher spürbar, als Art. 7 Abs. 4 Sätze 3 und 4 GG den Privatschulen einerseits einen bestimmten Stand an Ausbildung und Lehrerbesoldung vorschreiben, andererseits aber - um eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern zu verhindern - die Höhe des Schulgeldes nach oben begrenzen, wodurch es den Privatschulen unmöglich gemacht wird, sich mit Hilfe zahlungskräftiger Eltern bzw. Schüler selbst zu finanzieren 13. Das BVerfG hat daher zu Recht ausgeführt: "Der Staat muß den schulischen Pluralismus auch gegen sich selbst in der Weise garantieren, daß er auf eigenen Akten beruhende Beeinträchtigungen dieses Pluralismus durch staatliche Förderung in ihrer Wirkung neutralisiert... Eine derartige besondere ({Compensations-) Pflicht gilt nicht nur für den Ausgleich der durch Art. 7 Abs. 4 Sätze 3 und 4 vom Grundgesetz selbst geschaffenen Forderungen, sondern auch für eine fortlaufende Verschärfung der Gleichwertigkeitsanforderungen (etwa durch die Hebung des Standards schulischer Einrichtungen oder durch die stetige Verbesserung der Lehrerbesoldung), denen sich die privaten Ersatzschulen anpassen müssen (vgl. Art. 7 Abs. 4 Satz 3 Halbsatz 1 und Satz 4 GG). Sollen solche Maßnahmen nicht indirekt zu einer durch Art. 7 Abs. 4 GG verbotenen Benachteiligung der Ersatzschulen ... fuhren, so muß der Staat sicherstellen, daß die Verwirklichung seiner bildungs- und sozialpolitischen Ziele nicht auf Kosten der Lebensfähigkeit des privaten Ersatzschulwesens geht" 14 . Nicht zuzustimmen ist dem BVerfG indessen, wenn es trotz dieser Zusammenhänge die Ersatzschulsubventionierung nicht als abwehrrechtlich fundierten Anspruch behandelt, sondern von Förderungs- und Schutzpflichten spricht 15. Es geht hier nicht um die "Förderung individueller Freiheit" 16 , sondern um ihre Sicherung gegenüber staatlichen Beeinträchtigungen. Wie der Staat diese aus dem Abwehrrecht fließende Subventionierungspflicht im einzelnen erfüllt, ist ihm überlassen17, jedoch muß der wirtschaftliche Nachteil ausgeglichen werden, der den Privatschulen aufgrund der Schulgeldbegrenzung in Verbindung mit der Schulgeldfreiheit der öffentlichen Schulen entsteht. Da Art. 7 Abs. 4 GG nicht vor Konkurrenz durch staatliche Schulen schützt18 - schließlich ist der Sinn dieser Vorschrift nur vor dem Hintergrund
1 3 Zu diesen Zusammenhängen vgl. BVerwGE 27, 360, 364; BVerfGE 75, 40, 63 ff.; Pieroth, DÖV 1992, 594 f. 1 4 BVerfGE 75, 40, 66. 1 5
Ebd., S. 66 f.
1 6
So aber BVerfGE 75, 40, 68.
1 7 Vgl. insoweit BVerfGE 75, 40, 67; BVerwGE 27, 260, 365; Hemmrich, in v.Münch/ Kunig, GG, Ait. 7 Rdnr 45. 1 8 Vgl. BVerfGE 37, 314, 319; Hemmrich, in v.Münch/Kunig, GG, Ait. 7 Rdnr 45; Jarass/ Pieroth, GG, Ait. 7 Rdnr 18.
I. Bedeutung und Tragweite etwaiger Leistungsrechte
401
eines grundsätzlich öffentlichen Schulsystems zu verstehen und auch im Falle einer Schulgeldpflichtigkeit der nicht nach Gewinn strebenden öffentlichen Schulen eine Schulgeldbegrenzung nach oben erfolgte, ist der Vergleichsmaßstab fur den Ist-Wert die Konkurrenz der Privatschulen mit den nicht nach Gewinn strebenden öffentlichen Schulen. Die schulgeldpflichtigen öffentlichen Schulen würden nur danach streben, ihre Existenz zu sichern, und einen darüber hinausgehenden Gewinn könnten die Privatschulen auch dann nicht erwarten. Mit anderen Worten: Den privaten Ersatzschulen geht durch die Schulgeldfreiheit öffentlicher Schulen lediglich ihre Existenzmöglichkeit verloren, nicht aber ein Gewinn, der ihnen schon aufgrund des Bestehens einer nicht gewinnorientierten Konkurrenz entgeht. Dem BVerfG ist im Ergebnis daher zuzustimmen, daß nur ein abwehrrechtlich (!) fundierter Kompensationsanspruch19 auf Deckung des Existenzminimums besteht20. b) Das Gleichheitsrecht
als Abwehrrecht
Aus dem Vorstehenden folgt auch zwanglos der Charakter des Gleichheitsrechtes: Art. 3 GG verbürgt wie alle Grundrechte jedenfalls vorrangig ein Abwehr- und kein Leistungsrecht21. Art. 3 GG garantiert das Gleichheitsrecht und damit das Recht auf Gleichbehandlung bzw. - negativ formuliert - die Freiheit von Ungleichbehandlung 22. Besteht in einer gegebenen Situation ein bestimmtes Maß 2 3 an Gleichheit oder Ungleichheit zwischen Rechtssubjekten, so beeinträchtigt jedes positive hoheitliche Tun, das ein größeres Maß an Ungleichheit zurechenbar bewirkt, diese Freiheit von Ungleichbehandlung24, werde nun eine neue oder größere Ungleichheit im Dürfen oder im rechtlichen bzw. natürlichen Können25 herbeigeführt. Ist diese Beeinträchtigung bereits eingetreten und genügt ein bloßes künftiges Unterlassen nicht mehr, sie zu beseitigen, so folgt bereits aus dem Abwehrcharakter des Gleichheitsrechts 1 9 Es handelt sich hier um einen Aufopferungsentschädigungsanspnich, nicht um einen tertiären Entschädigungsanspruch. S. dazu unten H V 3 d. 2 0 2 1
BVerfGE 75, 40, 68; ähnlich BVerwGE 27, 360, 366.
Vgl. Hesse, EuGRZ 1978, 433; v.Mangoldt/Klein/Starck, NJW 1991, 1788.
GG, Art. 3 Rdnr 150; Schenke,
2 2 Vgl. Hesse, EuGRZ 1978, 433; Huber, Konkurrenzschutz, S. 175; Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 235; v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Alt. 3 Rdnr 150; Sachs, DÖV 1984, 414, 416; ders., W D S t R L 47 [1989], 82. 2 3 Personen oder Lebensverhältnisse können nie in allen, sondern stets nur in einzelnen Merkmalen gleich sein, BVerfGE 83, 395, 401; 85, 238, 244; 87, 1, 36; Alexy, Theorie, S. 362 f. 2 4 Vgl. Schenke, Rechtsschutz, S. 173 Fn. 24; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 749; insoweit auch G. Müller, W D S t R L 47 [1989], 40. Gubelt, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rdnr 10 sieht richtig, daß es nicht um die Geltung des Art. 3 GG bei einem (teilweisen) Unterlassen, sondern bei einem positiven Tun geht; ähnlich Rüjner, in BK, Art. 3 I (Zweitb. 1992) Rdnr 128. Verfehlt HessStGH, ESVGH 25, 38, 40 f. und Schneider, AöR 89 [1964], 39. 2 5
Vgl. BVerfGE 84, 239, 268: "rechtlich und tatsächlich gleich".
ein
402
G. Grundrechte als Leistungsrechte
Anspruch auf ein positives Tun, nämlich dahin, Maßnahmen zu ergreifen, die bewirkte Ungleichheit wieder auf das vorige Maß zu reduzieren und die vorige Gleichheit wiederherzustellen. Um die abwehrrechtlich gebotene Wiederherstellung des Ist-Zustands an Gleichheit zu erreichen, mag es zwar verschiedene Wege geben, etwa die Ausdehnung der Beeinträchtigung auf die bislang verschont Gebliebenen, die Rücknahme der Beeinträchtigung oder eine sonst geeignete Lösung 26 . Richtig ist deshalb, daß aus dem Gleichheitssatz regelmäßig kein Anspruch auf ein bestimmtes Tätigwerden folgt, wenn nicht ausnahmsweise nur gerade eine spezifische Maßnahme die Gleichheitsverletzung beheben kann 27 . Das folgt aber nicht aus einem Leistungscharakter des Gleichheitssatzes; vielmehr gilt für alle Abwehrrechte, bei denen ein Beseitigungsanspruch geltend gemacht wird, daß eine ganz bestimmte Maßnahme nur gefordert werden kann, wenn andere geeignete Maßnahmen nicht zur Verfügung stehen28. Die Struktur des Gleichheitsrechts ist deshalb der aller anderen Freiheitsrechte vergleichbar 29: ein (objektiver) Abwehrrechtstatbestand, der im Falle seiner Erfüllung einen Rechtfertigungszwang und, falls die Rechtfertigung fehlschlägt, abwehrrechtliche Sekundär- und Tertiäransprüche auslöst: Der abwehrrechtlich strukturierte Tatbestand des Gleichheitsrechtes wird erfüllt durch eine staatliche Handlung als Gefahrschaffung, die sich gesetzmäßig kausal in der Herbeiführung oder Mehrung natürlicher oder rechtlicher Ungleichheit verwirklicht. Bei der Rechtfertigungsprüfimg wird sodann gefragt, ob es für diesen Eingriff in das Gleichheitsrecht einen sachlichen Grund gibt, ob also sachliche Erwägungen die Differenzierung rechtfertigen 30, wobei insbesondere das Übermaßverbot zu beachten ist 3 1 . Zwar wird regelmäßig gesagt, Ungleichbehandlung liege dann nicht vor, wenn Gleiches gleich und Ungleiches seiner Eigenart entsprechend ungleich behandelt wird 3 2 . Diese Formel steht, auch wenn sie den Eindruck erwecken kann, die Sachlichkeit der Differenzierung sei schon auf der tatbestandlichen Erfolgsebene zu prüfen und lasse gegebenenfalls die Tatbestandserfüllung ent2 6 BVerfGE 22, 349, 361; Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rdnr 26; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 549; Rüfixer, in BK, Art. 3 I (Zweitb. 1992) Rdnr 125; Sachs, DÖV 1984, 415. 2 7 BVerfGE 8, 28, 37; 22, 349, 361 f.; 27, 391, 399; 74, 9, 28 Alexy, Theorie, S. 392; Bieback, EuGRZ 1985, 667 f.; Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, S. 103; Gubelt, in v.Munch/Kunig, GG, Art. 3 Rdnr 30; v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Alt. 3 Rdnr 150; Steiger, Mensch und Umwelt, S. 59. 2 8
Das übersieht Alexy, Theorie, S. 392 f.
2 9
Vgl. Kloepfer,
3 0
Ähnlich G. Müller, W D S t R L 47 [1989], 40 f.
3 1
W D S t R L 47 [1989], 86.
Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 111. BVerfGE 3, 58, 135; 49, 148, 165; 71, 39, 50; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 438; Jarass/Pieroth, GG, Alt. 3 Rdnr 6 ff.; Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 244; LübbeWolff, Eingriffsdogmatik, S. 236. S. hierzu v.Mangoldt, Schriftlicher Bericht, S. 8. 3 2
I. Bedeutung und Tragweite etwaiger Leistungsrechte
403
fallen 33 , diesem Strukturverständnis nicht entgegen. Sie soll nämlich - ergebnisorientiert - auf den für die Feststellung einer Verletzung des Gleichheitsrechtes entscheidenden Gesichtspunkt hinweisen (wenngleich sie das Problem nicht löst, da sie das Differenzierungskriterium selbst nicht benennt34), und nicht - strukturorientiert - das Verhältnis von Tatbestandserfüllung und Rechtfertigungsprüfimg beschreiben. Wenngleich diese Frage für das Endergebnis keine Rolle spielt, so ist doch aus den bereits genannten Gründen 35 zum Erhalt einer klaren Abwehrrechtsstruktur und im Interesse der Einheitlichkeit der Struktur der Freiheitsrechte davon auszugehen, daß jede Reduzierung von Gleichheit einen abwehrrechtlich relevanten Erfolg ausmacht, der durch den Nachweis sachlicher Differenzierungskriterien gerechtfertigt werden muß 3 6 . Dieses Verständnis entspricht zudem eher dem Ausgangsgrundsatz der absoluten Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 GG), welche nun einmal beeinträchtigt wird, wenn sie staatlicherseits unterschiedlich behandelt werden. Die in Art. 3 Abs. 1 GG gewährleistete Gleichheit vor dem Gesetz ist nämlich nicht etwa eine erst durch das Gesetz zu schaffende oder durch das allgemeine Gesetz geschaffene Gleichheit. Sie ist eine in der allen Menschen gleichermaßen eigenen und damit gleichen Würde wurzelnde Gleichheit 37 , die dem Staat und damit auch den Gesetzen vorausgeht und von diesen zu achten ist 3 8 . Art. 3 Abs. 1 GG gewährleistet damit nicht nur eine in einer gleichen Gesetzesanwendung bestehende Gleichheit, sondern eine Gleichheit sogar vor dem Gesetz. Dieser Gleichheit in ihrem Verständnis als eine in dem Personsein basierende "persönlichkeitsrechtliche Gleichheit" 39 kommt eigenständige materielle Bedeutung zu 4 0 ; sie wird daher als solche durch Ungleichbehandlungen beeinträchtigt, welche Beeinträchtigung zwar rechtmäßig sein, aber nicht infolge ihrer Rechtmäßigkeit zu einer Nichtbeeinträchtigung der vorgegebenen Gleichheit werden kann. Auch die systematische Trennung von Gleichheitssatz und Differenzierungsverboten (Art. 3 Abs. 2 und 3 GG) spricht dagegen, die Sachlichkeit der Dif-
3 3
So z.B. Huber , Konkurrenzschutz, S. 526.
3 4
Vgl. v.Mangoldt/Klein/Starck
, GG, Alt. 3 Rdnr 11; Zippelius, Rechtsphilosophie, S. HO.
3 5
S. oben C H 2 b . 3 6 So eindeutig die neuere verfassungsgerichtliche Rechtsprechung BVerfGE 71, 39, 57 f.; 79, 106, 121 f.; 81, 1, 23 f.; 83, 395, 401; 85, 191, 210; 87, 1, 36. S. ferner Alexy, Theorie, S. 370; Pieroth/Schlink , Grundrechte, Rdnr 496, 503. In diese Richtung wohl auch Zippelius , Rechtsphilosophie, S. 111, der die Ungleichbehandlung u.a. am Obermaßverbot messen will, was sonst allgemein als Problem der Rechtfertigung betrachtet wird. 3 7
Den engen Zusammenhang von Gleichheitsrecht und Menschenwürde betonen etwa Diltig, in Maunz/Dürig, GG, Art. 3 I (Lfg. 1973) Rdnr 3 ff.; G. Müller , W D S t R L 47 [1989], 42. 3 8 Ebenso v.Mangoldt/Klein/Starck , GG, Art. 3 Rdnr 2. 3 9 4 0
Sachs, W D S t R L 47 [1989], 82.
Unzutreffend Frers, [1989], 39.
DÖV 1988, 677; Miebach , JuS 1987, 959; G. Müller , W D S t R L 47
404
G. Grundrechte als Leistungsrechte
ferenzierung als Bestandteil des Tatbestands des Gleichheitssatzes zu verstehen: strukturell stellt Art. 3 Abs. 2 und 3 GG eine Schrankenklausel dar, die vergleichbar Art. 5 Abs. 1 Satz 3 und Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG die Rechtfertigung gewisser Maßnahmen ausschließt. Nicht erst der Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 oder 3 GG begründet aber die Ungleichbehandlung der betroffenen Menschen41, er setzt diese vielmehr voraus und schließt lediglich die Rechtfertigungsfähigkeit einer solchen Diskriminierung aus 42 . Das dogmatische Verständnis des Art. 3 GG wird wesentlich erleichtert, wenn die rechtliche Gleichstellung aller als Grundrechtsgut, die Ungleichbehandlung als Eingriff, und die Statthaftigkeit der Ungleichbehandlung (sachlicher Differenzierungsgrund unter Beachtung der Differenzierungsverbote) als Rechtfertigungsproblem verstanden wird. Daß das Gleichheitsrecht tendenziell eher als Leistungs- denn als Abwehrrecht erscheint, liegt darin begründet, daß die Beseitigung einer herbeigeführten Ungleichheit in vielen Fällen nur dadurch zu bewerkstelligen ist, daß dem Benachteiligten auch eine Begünstigimg gewährt wird, sofern man dem Begünstigten seine Begünstigung nicht wieder entziehen kann oder will, und diese Zuteilung einer Begünstigung wird natürlich eher als "Leistung" gesehen denn als Beseitigimg von Ungleichheit43. Bei den anderen Freiheitsrechten kommt der Abwehrcharakter deutlicher zum Ausdruck, weil hier die etwa erforderliche Beseitigung der Beeinträchtigung nicht als "Leistung" empfunden wird. Der Sache nach besteht aber zwischen dem Gleichheits- und den übrigen Abwehrrechten auch insoweit kein Unterschied, zumal auch der dem Art. 3 Abs. 1 GG innewohnende Sekundäranspruch im Einzelfall schlicht auf das Unterlassen der die Ungleichheit herbeiführenden Maßnahme gehen kann 44 . Die unter dem Stichwort "derivative Teilhabeansprüche" diskutierten Fälle der gleichen Teilhabe an bestehenden Leistungssystemen45 und Einrichtun4 1 Insofern uberzeugt es nicht, wenn Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 436 Art. 3 I I und m GG selbst als subjektive Abwehrrechte charakterisiert; das subjektive Abwehrrecht formuliert vielmehr bereits Art. 3 I GG, wohingegen die Absätze 2 und 3 "Schranken-Schranken" darstellen. 4 2 Nicht ubeizeugend daher Lübbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 259 f. (ihr folgend Herren, Faktische Beeinträchtigungen, S. 123, 174), die eine Einheitsbetrachtung des Gleichheitsrechts befürwortet und nicht nach Tatbestand und Rechtfertigung unterscheiden will. Nicht überzeugend auch Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 495; Rüfher, in BK, Art. 3 I (Zweitb. 1992) Rdnr 96, nach denen infolge der umfassenden und übelgreifenden Geltung des Gleichheitssatzes es bei Art. 3 GG unmöglich sei, überhaupt einen Schutzbereich zu identifizieren und zwischen dem Schutzbereich und dem Eingriff in den Schutzbereich zu differenzieren. Demgegenüber ist etwa auf die allgemeine Handlungsfreiheit zu verweisen, die auch "umfassend und übergreifend" gilt, und gleichwohl als eingriffsfähiger Schutzbereich verstanden wird. 4 3 Vgl. Hesse, EuGRZ 1978, 433: das Gleichheitsrecht unterscheidet sich "seiner Eigenart nach ... nicht wesentlich von den herkömmlichen" Abwehirechten, kann aber "in der Sache auf ein Teilhaberecht hinauslaufen". 4 4 4 5
v.Mangoldt/KUin/Starck,
GG, Art. 3 Rdnr 150.
Eine uneinheitliche Subventionsveigabe kann nicht nur als Wettbewerbsverzerning in die Abwehrrechte aus Art. 12 und 2 I GG des benachteiligten Unternehmens eingreifen (s. dazu
I. Bedeutung und Tragweite etwaiger Leistungsrechte
405
gen 46 gehören zu den aus dem ^¿w^Archarakter des Gleichheitsrechtes fließenden Ansprüchen auf Wiederherstellung des Maßes an Gleichheit, das vor der unterschiedlichen Zulassung zu diesen Systemen oder Einrichtungen bestanden hat 4 7 . Sie sind deshalb unproblematisch und werden von der h.M. im Ergebnis zu Recht bejaht 48 . Davon zu unterscheiden ist, ob bei Art. 3 GG auch eine originäre Leistungs-, insbesondere Förderungskomponente festzustellen ist, welche auf die Herstellung eines bestimmten Soll-Wertes an natürlicher Gleichheit gerichtet ist. Daß rechtliche Gleichheit, d.h. Gleichheit hinsichtlich des Dürfens und des rechtlichen Könnens geschaffen werden muß 4 9 , versteht sich von selbst, ergibt sich aber schon als Abwehrrecht, da ja jede Ungleichheit hinsichtlich des Dürfens bzw. des rechtlichen Könnens zuvor vom Staat durch den Erlaß diskriminierender Rechtsakte geschaffen worden sein muß. Aber in bezug auf das natürliche Können bestehen zwischen den Bürgern vielfältige Unterschiede und zum Teil gravierende Diskrepanzen ganz unabhängig von jeder vorherigen staatlichen Ingerenz, allein aufgrund der unterschiedlichen Veranlagung der Menschen und den je unterschiedlichen sozialen Kontakten,
oben F I I 1 b aa), sie greift auch in Art. 3 I GG ein, da sie eine Ungleichbehandlung der Konkurrenten darstellt. Vgl. Huber , Konkurrenzschutz, S. 377 f.; Schenke , WiVerw 1978, 238; Schmidt-Preuß , Kollidierende Privatinteressen, S. 66. Verfehlt Frers , DÖV 1988, 677 und Miebach, JuS 1987, 959, die Art. 3 I GG zu einem akzessorischen Recht ohne selbständige Bedeutung herabsetzen; hieigegen auch Alexy, Theorie, S. 353; Huber , Konkurrenzschutz, S. 523; Sachs, W D S t R L 47 [1989], 82. Allerdings wird der Eingriff in Art. 3 I GG regelmäßig leichter zu rechtfertigen sein als ein Eingriff in Art. 12 GG, weil bei Art. 3 I GG jede sachgerechte Differenzierung genügt, während eine solche bei Art. 12 GG nicht notwendig ausreichen muß. (Befremdlich allerdings Stober , GewArch 1993, 144, der anscheinend die Nichtsubventionierung des einen schon allein deswegen als i.S.d. Art. 3 I GG sachgerecht ansieht, wenn die Haushaltsmittel erschöpft sind, unabhängig davon, ob dem ein sachgerechtes Auswahl- und Verteilungsverfahren vorausging.) Soweit Art. 3 GG verletzt ist, stehen dem gleichheitswidrig übergangenen Unternehmen Abwehransprüche gegen die Subventionierung seines Konkurrenten zu (Breuer , Grundrechte als Anspruchsnormen, S. 103, 111); soweit ein Unterlassungsanspruch scheitert, kommt ein Anspruch auf eigene Subventionierung in Betracht (vgl. Breuer , Grundrechte als Anspruchsnormen, S. 100 f., 102 f.). 4 6 Vgl. Alexy , Theorie, S. 385 Fn. 79; Bethge, Gnindrechtskollisionen, S. 234 ff.; Böckenförde , NJW 1974, 1536; Breuer , Grundrechte als Anspruchsnormen, S. 114 ff.; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 289; Klein, Grundrechte im demokratischen Staat, S. 55 f.; Martens, W D S t R L 30 [1972], 21 ff.; v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 20; Ossenbühl, NJW 1976, 2104; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 248. 4 7
Hesse, EuGRZ 1978, 433; Stern, Staatsrecht m/1, S. 750.
4 8
Nicht zuzustimmen ist Alexy, Theorie, S. 399, wenn er den Teilhabeanspruch nicht allein auf den Gleichheitssatz stützen, sondern ihn durch zusätzliche Berufung auf Freiheitsrechte begründen will, etwa Art. 12 I GG, was den gleichen Zugang zu Hochschulen bis zur Kapazitätsgrenze betrifft. Entgegen seiner Annahme verstieße eine Kapazitätsnutzung unterhalb einer erschöpfenden Nutzung schon gegen den Gleichheitssatz allein, weil es dann nicht einmal ein legitimes Ziel gäbe, warum manche Bewerber vom Studium ausgeschlossen werden. Deshalb folgt in der Tat bereits aus Art. 3 I GG das Gebot erschöpfender Kapazitätsnutzung. 4 9
v.Mangoldt/Klein/Starck,
GG, Art. 3 Rdnr 3.
406
G. Grundrechte als Leistungsrechte
die ungleiche Interaktionen ermöglichen 50. Hier stellt sich nun in der Tat die Frage, ob aus Art. 3 GG ein Förderungsrecht gegen den Staat folgt, ein Mehr an natürlicher Gleichheit herbeizufuhren 51. Das Gleichheitsrecht als Abwehrrecht richtet sich gegen die Ungleichbehandlung 52, das Gleichheitsrecht als Förderungsrecht würde sich gegen die Ungleich/^/* richten. Da sich diese Frage mit dem bei allen Grundrechten auftauchenden allgemeinen Problem deckt, inwieweit grundrechtliche Förderungsrechte auf Herstellung eines gewissen Soll-Wertes an Freiheit existieren, ist hierzu auf den nachfolgenden Abschnitt I I zu verweisen. c) Prozeßkostenhilfe Überaus schwierige Probleme hinsichtlich der Abgrenzung von Abwehrund Leistungsrechten bereitet die Prozeßkostenhilfe. Einen stark leistungsrechtlichen Unterton weisen die diesbezüglichen Entscheidungen des BVerfG auf. Das BVerfG hat verschiedentlich festgestellt, daß nach der gegebenen Ausgestaltung des Gerichtswesens das Kostenrecht finanziell mittellose Parteien "tatsachlich" daran hindern könnte, ihre Rechte vor Gericht zu verfolgen, was nicht nur zu ungleichen prozessualen Chancen fuhren, sondern deren Rechtsschutz überhaupt gefährden könnte 53 . Für alle Bürger gelte jedoch gleiches Recht, gleichgültig, ob eine Partei vermögend oder arm ist. "Die Effektuierung dieser rechtlichen Gleichheit ist aber durch die genannten Regelungen im Falle wirtschaftlichen Unvermögens in Frage gestellt. Deshalb gibt das Sozialstaatsprinzip dem Gesetzgeber auf, dafür Sorge zu tragen, daß auch die arme Partei in die Lage versetzt wird, ihre Belange in einer dem Gleichheitsgebot gemäßen Weise im Rechtsstreit geltend zu machen"54. Das BVerfG hat diese Ansicht später wiederholt, jedoch ohne die Pflicht des Gesetzgebers zur Schaffimg einer Prozeßkostenhilfe ausdrücklich auf das Sozialstaatsprinzip zu stützen55, nachdem ja auch in früheren Entscheidungen die Begründung des
5 0
Alexy, Theorie, S. 360.
5 1
Das wird ganz uberwiegend verneint, vgl. etwa Gubelt, in v.Munch/Kunig, GG, Art. 3 Rdnr 20, 35; Jarass/Pieroth, GG, Alt. 3 Rdnr 1; v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rdnr 4, 209 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 76; Räjher, in BK, Art. 3 I (Zweitb. 1992) Rdnr 65. Vgl. demgegenüber Alexy, Theorie, S. 380 ff. Ein (eingeschränktes) "Egalisierungsgebot" bejaht G. Müller, W D S t R L 47 [1989], 53 ff. 5 2 Die Ungleichbehandlung ist freilich nicht rein akt-, sondern folgenbezogen (vgl. hierzu Alexy, Theorie, S. 377 f.) zu verstehen, weil die abwehrrechtlich relevante Gefahrschaffung stets ihren Sinnbezug nur in der (möglichen) Gefahrverwirklichung erhalten kann: Ob der Staat zwei Grundrechtsträger ungleich behandelt, hängt aus abwehrrechtlicher Sicht nicht von einer formalistischen Betrachtung seiner Aktion ab, sondern von dem damit bewirkten Erfolg; die Ungleichbehandlung muß sich bei der Gefahrverwirklichung niederschlagen. 5 3
Vgl. BVerfGE 2, 336, 340; 9, 124, 131 f.; 22, 349, 355; 35, 348, 354 f.
5 4
BVerfGE 35, 348, 355. BVerfGE 67, 245, 248; 78, 104, 117 f.; 81, 347, 356.
5 5
I. Bedeutung und Tragweite etwaiger Leistungsrechte
407
Prozeßkostenhilfeanspruchs aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 103 Abs. 1 G G 5 6 bzw. Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip57 anklang, und betont nun starker Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip als Basis der Prozeßkostenhilfe 58. Damit befindet sich die Rechtsprechung des BVerfG in Einklang mit der des EGMR. Dieser begründete die leistungsrechtliche Rechtsprechung zur Europäischen Menschenrechtskonvention im Fall Airey v. Irland 69. Frau Airey beabsichtigte eine Klage auf Trennung von Tisch und Bett gegen ihren Mann, hatte aber nicht die Mittel, einen Anwalt zu bezahlen. Der EGMR sah hierin eine Verletzung ihres Rechtes auf Zugang zum Gericht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK. Zwar bestehe vor dem zuständigen High Court kein Anwaltszwang. Doch da die dortige Prozeßordnung sehr komplex sei, ferner gerade ein Familienrechtsstreit dieser Art schwierige Rechts- und Tatsachenfragen aufwerfe, bezeichnenderweise auch sämtliche Kläger in den letzten Jahren anwaltlich vertreten gewesen seien, genüge das nicht. "Die Konvention soll nicht theoretische oder illusorische, sondern praktikable und effektive Rechte garantieren" 60. Zwar müsse man durchaus unterscheiden, ob der Staat ein "positives Hindernis" errichte oder sonst vorsätzlich eingreife, oder ob die Schwierigkeit allein in der persönlichen Lage begründet sei, für die der Staat nicht verantwortlich ist. Jedoch könne eben auch ein faktisches Hindernis der Konvention widersprechen und der Staat sei gegebenenfalls verpflichtet, diesbezüglich positive Maßnahmen zu ergreifen. Vorliegend hätte eine Prozeßkostenhilfe vorgesehen sein müssen61. Dadurch habe Irland auch seine Pflicht zur Achtung des Familienlebens (Art. 8 EMRK) verletzt, da der Beschwerdeführerin kein Gericht zur Anerkennung ihrer de facto-Trennung von ihrem Gatten zugänglich war, um sie von der prinzipiellen Pflicht zur ehelichen Gemeinschaft zu entbinden62. Stellt die Gewährung von Prozeßkostenhilfe wirklich eine "Leistung der staatlichen Daseinsfürsorge" 63, eine "Fürsorgeleistung" 64 dar 6 5 , oder vielmehr die Erfüllung eines grundrechtlichen Abwehranspruchs? Die Beantwortung dieser Frage setzt zunächst die Identifikation des Grundrechtes voraus, 5 6 5 7
BVerfGE 9, 124, 132. BVerfGE 22, 83, 86.
5 8
BVerfGE 81, 347, 356.
5 9
Eur. Court H.R., Series A No. 32 (Urteil v. 9.10.1979).
6 0 Ebd., S. 12 Ziff. 24: "La Convention a pour but de protéger des droits non pas théoriques ou illusoires, mais concrets et effectifs" (frz.) - "The Convention is intended to guarantee not rights that are theoretical or illusory but rights that are practical and effective" (engl.). 6 1 Ebd., S. 13 f. Ziff. 24 f. 6 2
Ebd., S. 17 Ziff. 33.
6 3
BVerfGE 9, 256, 258; 35, 348, 355.
6 4
BVerfGE 35, 348, 355. In diese Richtung wohl Alexy, Theorie, S. 387.
6 5
408
G. Grundrechte als Leistungsrechte
um das es geht. Zu denken wäre hier an ein Grundrecht auf Beschreiten des Rechtsweges, welches sich, soweit sich der nachgesuchte Rechtsschutz gegen Träger öffentlicher Gewalt richtet, aus Art. 19 Abs. 4 GG ergibt, und soweit es um Rechtsschutz unter Privaten geht, zwar im Grundgesetz nicht ausdrucklich normiert ist (anders als in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK), aber als selbstverständlich gegeben vorausgesetzt wird (vgl. Art. 74 Nr. 1, 95 Abs. 1 GG) und in Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1, 20 Abs. 3, 103 Abs. 1 GG grundgesetzlich verankert werden kann 66 . Das Kostenrecht beschränkt jedoch nicht ein von den Kostenvorschriften unabhängig bestehendes Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz, sondern bildet mit allen anderen prozeßrechtlichen Vorschriften eine Einheit, ist Bestandteil des Prozeßrechts. Die rechtliche Handlungsfähigkeit, Prozesse vor staatlichen Gerichten fuhren zu können, ist also von vornherein durch die Kostenvorschriften limitiert. Infolgedessen liegt in der Tat die Frage nach einer leistungsrechtlichen Begründbarkeit eines Solles an Prozeßfuhrungsmöglichkeit nahe, dergestalt nämlich, daß jeder ohne Rücksicht auf seine wirtschaftlichen Verhältnisse seine materiellen Rechte gerichtlich wahrnehmen können muß. SchutzTGchtiich ließe sich dies gut damit begründen, daß der Staat zum Schutz Privater gegen Übergriffe seitens Dritter auch gerichtliche Verteidigungsmöglichkeiten vorsehen und diese auch kostenrechtlich so ausgestalten muß, daß sie diesen Schutzzweck erreichen können. In förderungsrochtlicher Argumentation läßt sich ferner ein Mindestmaß an Freiheit zur Führung eines Prozesses vorstellen; auf dieses Recht bezogen stellte sich der Anspruch auf Prozeßkostenhilfe dann als Förderungsanspruch dar. Indessen kommt es auf eine solche schütz- bzw. forderungsrechtliche Fundierung der Prozeßkostenhilfe letztlich nicht an. Das Kostenrecht provoziert nämlich auch Bedenken im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG. Die fraglichen Kostenvorschriften machen zwar per se die Armen nicht ärmer und die Reichen nicht reicher, lassen also die natürliche Gleichheit zunächst unberührt. Der Wert und der Rang eines privaten Interesses wird jedoch entscheidend durch die Möglichkeit mitbestimmt, dasselbe gerichtlich abzusichern und durchzusetzen. Wird diese Möglichkeit an das finanzielle Leistungsvermögen der Parteien geknüpft, so erhält nur die vermögende Partei realiter die Chance, den Staat vermittels der Anrufung der Gerichte zur Wahrnehmung ihrer Privatinteressen einzuschalten. Der vermögenslosen Partei ist diese Chance zur Wahrung ihrer Interessen verwehrt. Die rechtlich gleiche Rechtswegeröffnung führte so aufgrund der faktischen Verschiedenheit der Parteien zu einer Ungleichheit der tatsächlichen Rechtsschutzmöglichkeit67. Diese Ungleichheit entsteht erst durch die Normierung der einschlägigen prozeß- und kosten-
6 6 6 7
In diese Richtung BVerfGE 81, 347, 356. Vgl. BVerfGE 2, 336, 340; 78, 104, 117 f.; Alexy, Theorie, S. 377 f.
I. Bedeutung und Tragweite etwaiger Leistungsrechte
409
rechtlichen Bestimmungen68; sie ist damit durch ein Tun des Staates hervorgerufen und stellt eine Reduzierung des Ist-Wertes der Gleichheit dar. Die in der unterschiedlichen (nämlich an das finanzielle Leistungsvermögen der Parteien geknüpfte) Rechtswegeröffnung liegende Ungleichbehandlung ist nicht anders zu beurteilen wie jede sonstige finanzielle Konditionierung von Grundrechten oder der Teilhabe an staatlichen Einrichtungen! Die hierin bestehende und für Art. 3 Abs. 1 GG tatbestandsrelevante Ungleichbehandlung kann nur dadurch beseitigt werden, daß entweder die kostenfreie Prozeßführung ermöglicht wird, oder daß sie eben durch die Prozeßkostenhilfe ausgeglichen wird 6 9 . Die Prozeßkostenhilfe erfüllt damit jedenfalls nicht bloß einen leistungsrechtlichen, sondern auch und vor allem einen abwehrrechtlichen Anspruch, so daß es auf die im Detail schwierige leistungsrechtliche Verankerung insoweit nicht ankommt. d) Fazit Die vorstehenden Beispiele zeigen, daß die präzise Abgrenzung von Leistungs- und Abwehrrechten nicht immer einfach fällt, sondern genauer Analyse bedarf. Wenn der Staat rein tatsächlich "Leistungen** an einen Privaten erbringt, mag zwar der Anschein der Erfüllung eines Leistungsanspruchs erweckt werden. Oftmals wird es sich dabei aber in Wahrheit um die Erfüllung eines abwehrrechtlich fundierten Anspruchs handeln, der in der Konsequenz dessen entsteht, daß der Staat selbst die Situation geschaffen hat, in der der Bürger auf solche Hilfen angewiesen ist. Das Anwendungspotential echter Leistungsrechte ist deutlich begrenzter als gewöhnlich angenommen, was bereits anzeigt, daß eine besonders restriktive Fassimg wahrer Leistungsrechte nicht nötig sein dürfte.
6 8 Streng genommen ist hier zwischen den Gerichtskosten, den Gebühren und Kosten des gegnerischen Anwalts, und den Gebühren und Kosten des eigenen Anwalts zu differenzieren. Nur die Auferlegung der Gerichts- und gegnerischen außergerichtlichen Kosten stellt eine Partei schlechter als sie ohne die betreffenden Kostenvorschriften stünde, konditioniert damit ihr Prozeßfuhrungsrecht und beeinträchtigt folglich je nach ihren wirtschaftlichen Verhältnissen die Gleichheit der Prozeßfuhrungsmöglichkeit. Denn der eigene Anwalt muß unabhängig vom Kostenrecht bezahlt werden, so daß insofern das Kostenrecht keine weitere Beeinträchtigung der IstGleichheit bewirkt. Indessen ist es insbesondere die Komplexität und Kompliziertheit des staatlicherseits geschaffenen Prozeßrechts, die eine Partei (sofern nicht ohnehin Anwaltszwang besteht) oftmals nötigt, sich Rechtsbeistand zu sichern, will sie Aussicht auf Erfolg haben. Damit wird durch die Organisation des Gerichtswesens und die Ausgestaltung des Verfahrens letztlich doch der Unvermögende seinem natürlichen Können nach schlechter als der Vermögende gestellt, welche faktische Ungleichbehandlung qua Prozeßkostenhilfe im Sinne einer abwehrrechtlich fundierten Aufopferungsentschädigung (s. hierzu unten H V 3 d) kompensiert werden muß. 6 9
In diese Richtung BVerfGE 78, 104, 117 f.
410
G. Grundrechte als Leistungsrechte
2. Subjektiv-rechtlicher Charakter der Leistungsrechte Sofern den Grundrechten überhaupt ein leistungsrechtlicher Inhalt zuerkannt wird, wird dieser häufig in dem Sinne verstanden, daß ihnen zwar objektivrechtliche Pflichten, nicht aber echte subjektive Rechte zu entnehmen seien 70 . Wiewohl das auf den ersten Blick ein geeigneter Kompromiß zwischen einem zu weit führenden Verständnis der Leistungsrechte und ihrer völligen Ablehnung zu sein scheint, krankt diese Ansicht bereits an einer inneren Inkonsequenz: die Annahme einer bloß objektiv-rechtlichen Pflicht schlösse zwar subjektiven Rechtsschutz aus (insbesondere die Verfassungsbeschwerde), nicht aber objektive Kontrollverfahren (z.B. Normenkontrollen), in deren Rahmen das BVerfG die Erfüllung der fraglichen Pflichten aufgeben könnte 71 . Die Entsubjektivierung der Leistungsansprüche brächte daher materiell wenig Entlastung, sondern hätte nur die merkwürdige Konsequenz, gerade denjenigen den Rechtsschutz abzuschneiden, denen die Leistung zugute kommen soll. Und das kann vor dem Hintergrund der Subjektivität der Grundrechte nicht überzeugen. Zwar entspricht nicht jeder Pflicht notwendig ein subjektives Recht, und so mögen sich etwa aus dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) eine Reihe rein objektiver Schutz-, Beistands- und Förderungspflichten des Staates ergeben 7 2 , denen der subjektive Rechtscharakter und damit die Durchsetzbarkeit (Art. 19 Abs. 4 GG) abgeht. Im Bereich der Grundrechte ist ein solches Auseinanderklaffen von Pflicht und Recht indes nicht anzuerkennen. Der "ursprüngliche und bleibende Sinn der Grundrechte" als individuelle Rechte73 ist nur durch die Anerkennung subjektiver Rechte statt bloß objektiver Pflichten zu verwirklichen, weil nur ein solches Verständnis die erforderliche Durchsetzungschance garantiert 74. Wenn Rechtsnormen den Interessen Priva-
7 0 BVerfGE 53, 30, 57; Bieback, EuGRZ 1985, 664 (die "sozialstaatlich interpretierten Grundrechte" als "objektive nicht judiziell festlegbare Aufträge"); Friauf, DVB1. 1971, 677; Häberle, W D S t R L 30 [1972], 112; Martens, W D S t R L 30 [1972], 29 ff.; Rauschning, W D S t R L 38 [1980], 183 (gerichtlich verfolgbares Individualrecht "nur in besonderen Lagen"); A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 131, 369; Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen, S. 69; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 989 ("eine nur vorsichtige Bejahung subjektiver Rechte bei objektivrechtlichen Gehalten"); Wahl/Masing, JZ 1990, 558. 7 1 Alexy, Der Staat 1990, 62 f., 67; Böckenfirde, Der Staat 1990, 14 f.; Dirnberger, Recht auf Natuigenuß, S. 171; G. Hermes, Gnindrecht auf Schutz, S. 212. 7 2 Vgl. BVerfGE 1, 97, 105; 22, 180, 204; v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Voib Rdnr 21. 7 3 BVerfGE 50, 290, 337; Robbers, Sicheiheit als Menschenrecht, S. 150 f.; Sodan, Kollegiale Funktionstrager, S. 428 f. 7 4 Alexy, Theorie, S. 414; ders., Der Staat 1990, 61 f.; Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 172, 178; Huber, Konkurrenzschutz, S. 188 f., 290 f.; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 184; E. Klein, NJW 1989, 1637; Schwabe, Gnindrechtsdogmatik, S. 205 f.; Steiger, Mensch und Umwelt, S. 62. Vgl. ferner G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 139 f. zu Art. 1
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411
ter dienen, dann müssen sie angesichts des grundgesetzlichen Menschenbildes diesen auch die Rechtsmacht zur Durchsetzung dieser geschützten Individualinteressen geben; sonst verwandelte sich der einzelne vom Subjekt von Rechten in ein bloßes Objekt staatlicher Leistungserbringung 75. Gilt das schon als allgemeines Prinzip, so muß dasselbe erst recht in Ansehung der Grundrechte gelten 76 , und zwar auch in ihrer Leistungsdimension. Gerade bei Grundrechten stellte die Leugnung der subjektiven Rechtsmacht eine regelrechte Degenerierung dar 7 7 . Es ist unzulässig, die Grundrechte ihres wesensmäßigen subjektiv-rechtlichen Charakters zu berauben und sie entgegen Art. 1 Abs. 3 GG als "leges imperfectae" 78 zu behandeln. Im übrigen ist es auch vom Ergebnis her unbefriedigend und wenig konsequent, in die Grundrechte erst objektiv-rechtliche Pflichten zum Teil weitesten Ausmaßes hineinzuinterpretieren, um sie sodann durch die Aberkennung der subjektiven Rechtsposition ihrer praktischen Bedeutung zu entkleiden. Häberle etwa beseitigt jedwede praktische Konsequenz seiner Ansicht, indem er in der leistungsrechtlichen Komponente der Grundrechte einen "nicht justitiablen Verfassungsauftrag" sieht, der "als Appell an die politischen Instanzen" wirken soll 79 . Für solche "Appelle" sind die Opposition und die Öffentlichkeit zuständig, nicht die Grundrechte! In der Ableitung bloß objektiver Pflichten aus den Grundrechten zeigt sich ein Dilemma, vor dem die Verfechter dieser Ansicht stehen: einerseits der Wunsch, bestimmte (manchmal sicherlich berechtigte) sozialpolitische Forderungen grundrechtlich zu verbrämen und ihnen so höhere Weihen zu verleihen, statt sie auf das vage Sozialstaatsgebot stützen zu müssen80; auf der anderen Seite die Furcht vor den Konsequenzen der Anerkennung eventuell weitreichender Ansprüche. Beides zusammen geht indes nicht und mündet in eine Inkonsequenz81: Entweder etwas folgt aus den Grundrechten, dann gilt es auch als Grundrecht; oder, wenn es nicht gelten soll, dann stellt es keine grundrechtliche Forderung dar. Die Sorge gegenüber zu weit reichender Konsequenzen müßte eigentlich Anlaß zu der Prüfung ge-
I 2 GG. Nicht überzeugend Eckhoff, Der Gmndrechtseingriff, S. 129, 131 f., der bloß eine "Vermutung" für die subjektivrechtliche Qualität von Grundrechtsaussagen anerkennt. 7 5 Vgl. BVerwGE 1, 159, 161 f.; Kraft , BayVBl. 1984, 71; Robben, Sicherheit als Menschenrecht, S. 187 f.; Schenke , DÖV 1988, 308. 7 6 Bleckmann, Grundrechte, S. 284 f.; Fluck, UPR 1990, 83; Schenke , Der Staat 1976, 569 Fn. 57a. 7 7 Vgl. Robbers , Sicherheit als Menschenrecht, S. 157 ff. zur Bedeutung der Rechtsmacht für die Grundrechte als subjektive Rechte. 7 8 So aber Martens , W D S t R L 30 [1972], 30. 7 9 Häbetie , W D S t R L 30 [1972], 115. 8 0
Hiergegen treffend Böckenförde , W D S t R L 30 [1972], 165.
8 1
Zu dieser Widersprüchlichkeit der Konzeption Häberles s. schon Schenke , Der Staat 1976, 569 Fn. 57a. 28 Roth
412
G. Grundrechte als Leistungsrechte
ben, ob die Grundrechte wirklich solch weitreichende Leistungen zusprechen, statt die Natur der Grundrechte zu negieren 82. Die Ablehnung rein objektiv-rechtlicher Pflichten ist allerdings nicht als Nichtanerkennung einer in den Grundrechten verankerten objektiven Wertordnung 83 zu verstehen. Die objektive Wertordnung ist der Ausdruck der in der Gesamtheit der Grundrechte als subjektive Rechte enthaltenen Wertüberzeugungen; ja, man konnte sagen, die objektive Wertordnung ist nichts anderes als die Zusammenschau der den subjektiven Grundrechten korrespondierenden objektiven Pflichten 84, welche nicht nur dann zu beachten sind, wenn ein Grundrechtsträger dieselben geltend macht, sondern denen für die gesamte Rechtsordnung Bedeutung zukommt, und deren Kerngehalt auch außerhalb subjektiver Rechtsschutzverfahren von allen Staatsorganen zu beachten und vom BVerfG sicherzustellen sind. Da die Wertordnung aus den Grundrechten folgt, können indes unter Berufung auf diese Wertordnung weder neue subjektive Rechte noch weitergehende objektive Pflichten in die Grundrechte hineininterpretiert werden85» 8 6 . Wenn daher im nachfolgenden Abschnitt die Existenz von Leistungsrechten unter dem Grundgesetz untersucht wird, so geht es ausschließlich um solche, die den Grundrechtsträgern auch subjektiv zugute kommen. Eventuell aus den Grundrechten abzuleitende Leistungsrechte gegen den Staat sind nicht als lediglich objektiv-rechtliche Pflichten zu verstehen, sondern als wirkliche subjektive Rechte 87 , denen in einer den Abwehrrechten vergleichbarer Weise auch Sekundär- und Tertiäransprüche zugeordnet sind 88 . 8 2
Vgl. Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 206.
8 3
S. oben D I V 3.
8 4
Ähnlich Alexy, Theorie, S. 443 f. für die Begründung von Institutsgarantien aus Grundrechten; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 148: das subjektive Rechte "konstituiert" das objektive. 8 5 Vgl. BVerfGE 50, 290, 337; Alexy, Der Staat 1990, 61; Huber, Konkurrenzschutz, S. 185. Insofern zweifelhaft Pieroth/Schlihk, Gmndrechte, Rdnr 94.
Die Anerkennung einer objektiven Weitordnung hat damit zwar - immerhin - die Implikation, daß die Wertungen der Grundrechte außeihalb und unabhängig von ihrer Geltendmachung durch Grundrechtsträger zu beachten sind; die Konsequenzen sind aber begrenzt, weil dadurch keine zusatzlichen Pflichten begründet werden. Materiell ändert sich nichts. Vgl. Alexy, Der Staat 1990, 63. Das von Böckenförde, Der Staat 1990, 29 f. beschriebene Fortschreiten zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat ist deshalb nicht Folge der Objektivierung der Grundrechte, sondern kann nur eintreten, wenn die (weiten) Gestaltungsräume mißachtet werden, welche die Grundrechte - und zwar sowohl in ihrem objektiven als auch in ihrem subjektiven (!) Verständnis - den Staatsgewalten lassen. 8 7 Vgl. BVerfGE 77, 170, 214; Alexy, Theorie, S. 452; Bleckmann, Gmndrechte, S. 284 f.; Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 177 ff.; ders., DVB1. 1992, 879; Huck, UPR 1990, 82 f.; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 92, 184; E. Klein, NJW 1989, 1637; Scherzberg, DVB1. 1989, 1136; Schwabe, Gnindrechtsdogmatik, S. 205 f.; Schwerdtfeger, NVwZ 1982, 8; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 715. Für "Extremfalle" auch Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 234. Von seiner Konstruktion der Schutzrechte als Ausfluß der Abwehrrechte aus im Ergebnis ferner Murswiek, WiVerw 1986, 199. 8 8
Vgl. G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 263 f.; Schenke, NJW 1991, 1788.
I I . Zur Existenz grundrechtlicher Leistungsrechte 1. Bewahrungsrechte auf Schutz und Beistand a) Benannte Bewahrungsrechte Das Grundgesetz benennt selbst einige wenige auf den Erhalt des Ist-Zustands an Grundrechtsgütern gerichtete Bewahrungsrechte und belegt schon damit deren prinzipielle Existenz. An vorderster Stelle verpflichtet Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG den Staat zu "Achtung und Schutz" der Menschenwürde. Wenn diese doppelte Verpflichtung keine Redundanz darstellen soll, müssen die Begriffe "Achtung" und "Schutz" eine unterschiedliche Bedeutung besitzen. Schon vom Wortlaut her ist "Achtung" als staatsgerichtete Verpflichtung zu verstehen, die das Abwehrrecht festschreibt, während "Schutz" etwas ist, das der Staat dem zu schützenden Grundrechtsträger gegenüber Dritten oder sonstigen Gefahren zuteil werden lassen muß. Es bedarf hier nicht der Entscheidung, ob sich diese Pflicht hierin erschöpft; jedenfalls ist zu Recht anerkannt, daß der Staat (notfalls durch positives Tim) Menschen gegen unwürdige Behandlungen durch Dritte schützen muß 1 , daß also Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ein echtes Schutzrecht gewährt, und daß ferner eine Beistandspflicht gegenüber unverantworteten Gefahren für die Würde besteht. Ein Recht auf staatlichen Schutz und Beistand drückt ferner das in Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG normierte "Wächteramt" des Staates aus. Das in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG zuvörderst den Eltern übertragene Erziehungsrecht soll nämlich von diesen quasi treuhänderisch zum Wohle ihrer Kinder wahrgenommen werden. Versagen sie bei dieser Aufgabe, so ist der Staat verpflichtet, den Kindern Schutz und Beistand zu gewähren, um sie vor Schäden in ihrer Entwicklung zu bewahren2. Als weiteres benanntes Bewahrungsrecht ist der in Art. 6 Abs. 4 GG unter anderem genannte Anspruch der Mütter "auf den Schutz und die Fürsorge der 1
Vgl. BVerfGE 1, 97, 104; 34, 269, 281; BVerwGE 18, 34, 37 f.; 64, 274, 277 f.; Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 138; Düng, in Maunz/Durig, GG, Art. 1 (Lfg. 1958) Rdnr 16, 38; G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 138; Jarass/Pieroth, GG, Art. 1 Rdnr 7; Kunig, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 1 Rdnr 31; v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 Rdnr 25; v.Münch, in v.Münch, GG, Art. 1 Rdnr 28; Wintrich, BayVBl. 1957, 137; Zippelius, in BK, Art. 1 (Drittb. 1989) Rdnr 22. Vgl. auch BVerfGE 49, 89, 142. 2 Vgl. BVerfGE 24, 119, 144; 59, 360, 376; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 14, 78.
414
G. Grundrechte als Leistungsrechte
Gemeinschaft" zu nennen. Dieser umfaßt erstens die Schutzpflicht des Staates, Frauen gegen Nachteile in Schutz zu nehmen, die ihnen aufgrund ihrer Mutterschaft durch Dritte zugefugt werden könnten (zu denken ist hier etwa an berufliche Benachteiligungen durch private Arbeitgeber) 3. In beistandsrechtlichem Sinn muß der Staat zweitens Schwangere und Mütter gegen mit Schwangerschaft und Entbindung verbundene gesundheitliche Risiken schützen (z.B. durch medizinische Versorgung) sowie durch finanzielle Hilfen vor materieller Not bewahren. b) Unbenannte Bewahrungsrechte Über die benannten Bewahrungsrechte hinaus gewahrt das Grundgesetz weitere, wenngleich unbenannte. Das folgt im Grunde schon aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG. Die in den Grundrechten geschützten Freiheiten sind Aspekte jener auf die Würde des Menschen bezogenen Freiheit der Lebensautonomie4. Wenn aber "Freiheit" auf die Menschenwürde bezogen ist, und wenn Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG der staatlichen Gewalt die Bewahrung der Menschenwürde auch gegen Störungen durch außerstaatliche Kräfte aufgibt, so muß schon deshalb die Freiheit jedenfalls im Kern einen Bewahrungsanspruch genießen5. Ihren Grund hat die staatliche Bewahrungspflicht in diesem Sinne bereits in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, ihr Gegenstand wird durch die einzelnen Grundrechte näher bestimmt6. Bewahrte der Staat die einzelnen Freiheiten nicht vor Beeinträchtigungen durch Dritte oder auch vor unverantworteten Gefahren, so litte in der Konsequenz früher oder später die Würde des Betroffenen. Zwar endet die Deduktion aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG bei der Bewahrungspflicht in bezug auf den Menschenwürdekern jedes Grundrechtsgutes7, doch das heißt nicht, daß lediglich der Würdekern einzelner Freiheiten zu bewahren wäre. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG limitiert nicht etwa die staatliche Verpflichtung oder die subjektiven Rechte der Grundrechtsträger, sondern formuliert als Konstitutionsprinzip der staatlichen Ordnung das absolute Minimum 8 , und ist insofern als verallgemeinerungsfähiger Beleg dafür anzusehen, daß dem Grundgesetz Schutz- und Beistandspflichten geläufig sind9.
3
BVerfGE 52, 357, 365; G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 196 f.
4
S. oben C I 1 a.
5 Vgl. BVerfGE 39, 1, 41 (in bezug auf den Schutz des Lebens); Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 82 f.; Dirnberger, Recht auf Natuigenuß, S. 138; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 58; G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 195. 6 7
Vgl. BVerfG, NJW 1993, 1751, 1753. Vgl. Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 81.
o ° Robbers, Sicheiheit als Menschenrecht, S. 187 f. Schwerdtfeger, N V w Z 1982, 8.
9
II. Zur Existenz grundrechtlicher Leistungsrechte
415
Auch über dieses verbürgte Minimum hinaus wohnt den einzelnen Grundrechten eine Schutz- und Beistandsdimension inne 10 . Denn der gebotene effektive Schutz der Grundrechtsgüter impliziert nicht nur ihre Schutzbedürftigkeit gegenüber faktischen Eingriffen 11, sondern erfordert auch ihre Bewahrung vor Beeinträchtigungen durch nichtstaatliche Einwirkungen 12. Wenn es nämlich den Grundrechten um den Schutz der Freiheit als Wert an sich zu tun ist, dann können sie nicht nur als Abwehrrechte die Freiheit gegen Bedrohungen durch den Staat selbst schützen, sondern müssen als Schutz- und Beistandsrechte die Freiheit auch gegen außerstaatliche Beeinträchtigungen bewahren 13 . Jedes andere Verständnis bedeutete, den Grundrechten eine lediglich modal begrenzte, nur gegen bestimmte Handlungen des Staates gerichtete Bedeutung zuzumessen, und ihnen einen immanenten Wertbezug abzusprechen, der die Freiheit um ihrer selbst willen schätzt und sie eben deshalb auch gegen außerstaatliche Beeinträchtigungen zu bewahren trachten muß. aa) Grundrechtliche Schutzrechte Grundrechtliche Schutzxechte gründen über das aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG positiv-rechtlich Ableitbare hinaus in dem Wesen eines Staates14. Ein Staat,
1 0 Lerche, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 121 Rdnr 42; vgl. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 200 dazu, daß dies auch für die allgemeine Handlungsfreiheit gilt. 1 1
S. oben E H 6 .
1 2
V G H Kassel, JZ 1990, 88, 89; Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 211 f.; Kästner, N V w Z 1992, 9. 1 3 Vgl. Scherzberg, Grundrechtsschutz, S. 141; ferner Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 231. 1 4 Die wesensmaßige Schutzpflicht des Staates wurde als vorrangig betont besonders von Hobbes, Leviathan, Kapitel X V n , S. [85]: "The finall Cause, End, or Designe of men ... in the introduction of that restraint upon themselves, (in which we see them live in Common-wealths,) is the foresight of their own preservation, ... of getting themselves out from that miserable condition of Warre, which is necessarily consequent ... to the naturall Passions of men, when there is no visible Power to keep them in awe, and tye them by feare of punishment to the performance of their Covenants, and observation of those Lawes of Nature..."; ferner Kapitel X X X , S. [175]: "The Office of the Soveraign, (be it a Monarch, or an Assembly,) consisteth in the end, for which he was trusted with the Soveraign Power, namely the procuration of the safety of the people ; ... But by Safety here, is not meant a bare Preservation, but also all other Contentments of life, which every man by lawfiill Industry ... shall acquire to himselfe" (Hervorhebung im Original). Zwar verlagerte sich in der Auseinandersetzung mit dem Absolutismus die Betonung immer mehr vom Schutz durch den Staat auf den Schutz gegen den Staat (vgl. hierzu Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 124 ff.; G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 174 ff.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 97 ff.). Gleichwohl blieb dieser von Hobbes und von anderen Autoren schon seit der Antike (vgl. die Darstellung der Ideengeschichte bei G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 148 ff., 168 ff.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 29 ff., 81 ff.) hervorgehobene ursprüngliche Sinn des Staates stets unangefochten (ebenso G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 166; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 32; s. auch die vielen Nachweise bei Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 29 ff.).
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G. Grundrechte als Leistungsrechte
der für seine Organe das Gewaltmonopol15 beansprucht und aus diesem Grunde alle Formen privater Gewalt bis auf eng begrenzte Fälle von Notwehr, Nothilfe, und Selbsthilfe (die jeweils gerade durch die Unerreichbarkeit staatlicher Hilfe gekennzeichnet sind) untersagt, muß als Gegenleistung16 den rechtstreuen Bürgern seinen Schutz gegen Übergriffe Dritter gewähren 17, wenn nicht letztlich das Faust "recht" obwalten18 und das Gemeinwesen in der Schreckensherrschaft Gesetzloser untergehen soll 19 . Innerer Friede und Sicherheit sind nicht anders als die Respektierung der Abwehrrechte conditio sine qua non der individuellen Freiheit 20 und deshalb verliert ein Staat, der bei der Erfüllung dieser Schutzpflicht versagt, die Legitimität seiner Existenz nicht anders als der, der seine Macht gegen seine Bürger wendet, um diese in Unfreiheit und Unterdrückung zu halten. Erst aufgrund der staatlichen Schutzgewährung können die Bürger ihre abwehrrechtlich gesicherte Freiheit auch im Verkehr untereinander genießen und gewinnt der Staat einen wirklich freiheitlichen Charakter 21. Erschöpften sich die Grundrechte in ihrer Abwehrfunktion, so begründeten sie nur eine "Freiheit der Mächtigen" 22 und erwiesen sich letztlich als Privilegierung der Verbrecher und Störer; denn während sich der Staat bei seinem Kampf gegen diese abwehrrechtlich rechtfertigen
1 5
Dazu Isensee, Das staatliche Gewaltmonopol, S. 46 ff.
1 6
Diesen Zusammenhang von Schutz und Gehorsam betonen BVerfGE 74, 257, 262; Alexy, Theorie, S. 415; Fluck, UPR 1990, 83; G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 164 f.; Isensee, Das staatliche Gewaltmonopol, S. 60 f.; Kirchhof, DÖV 1976, 455; E. Klein, NJW 1989, 1635 f.; Kraft, BayVBl. 1992, 460. Vgl. bereits Hobbes, Leviathan, Kapitel X X I , S. [114]: "The Obligation of Subjects to the Soveraign, is understood to last as long, and no longer, than the power lasteth, by which he is able to protect them." 1 7
Die §§ 76 ff. Einleitung PrALR erkannten die Schutzpflicht des Staates an und formulierten den Zusammenhang von Friedenspflicht des Börgers und staatlicher Schutzpflicht sehr deutlich: " § 7 6 . Jeder Einwohner des Staats ist den Schutz desselben für seine Person und sein Vermögen zu fordern berechtigt. § 77. Dagegen ist Niemand sich durch eigene Gewalt Recht zu verschaffen befugt. § 78. Die Selbsthilfe kann nur in dem Falle entschuldigt werden, wenn die Hülfe des Staats zur Abwendung eines unwiederbringlichen Schadens zu spat kommen würde." 1 8 Alexy, Theorie, S. 415 weist zutreffend auf die (Gefahr der) Bildung privater Schutzorganisationen zur Kompensation staatlichen Versagens bei der Schutzgewährung hin. Eine solche Kompensationsmöglichkeit mag in Sonderfallen ausgeschlossen sein iE. Klein, NJW 1989, 1636), doch gerade dann wird die Schutzbedürftigkeit und ein etwaiges staatliches Versagen besonders augenfällig. S. in diesem Zusammenhang etwa den Bericht der Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22.1.1993, S. 8: "Privatstreifen bewachen Kölner Villenviertel". 1 9 Vgl. Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 152 f.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 144 ff.; ferner Rupprecht, JZ 1973, 266; insofern zutreffend auch Murswiek, WiVerw 1986, 184. 2 0 Vgl. BVerfGE 49, 24, 53 f., 56 f.; Isensee, Das staatliche Gewaltmonopol, S. 48 ff.; Lorenz, JZ 1992, 1002; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 228. 2 1 G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 165, 199; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 83; Kirchhof, DÖV 1976, 449; Lorenz, JZ 1992, 1002 f. 2 2 Hesse, EuGRZ 1978, 430.
II. Zur Existenz grundrechtlicher Leistungsrechte
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müßte, wäre das Opfer auf das einfache Recht verwiesen, ohne seinerseits Grundrechte ins Feld fuhren und damit quasi "Waffengleichheit" auf der grundrechtlichen Ebene herstellen zu können. Geht es den Grundrechten um den effektiven Schutz der Freiheit, so müssen sie auch einen schutzrechtlichen Aspekt aufweisen, da es dem einzelnen wenig nützte, müßte er die Sicherheit vor staatlichen Eingriffen gegen die Unsicherheit privater Übergriffe eintauschen23. Völlig zu Recht hat das BVerfG daher eine in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verankerte Pflicht des Staates zum Schutz des menschlichen Lebens (auch des ungeborenen 24) und der körperlichen Unversehrtheit angenommen, die zu erfüllen der Staat alle erforderlichen, gegebenenfalls auch gesetzlichen Maßnahmen zu ergreifen hat 2 5 . Wo sich der Bedrohte nicht selbst gegen Verletzungen durch Dritte vorsehen kann 26 , muß der Staat zur Erhaltung des inneren Friedens notfalls durch Schaffimg von Strafgesetzen diese Bedrohung wenigstens zu mindern suchen27. Indessen ist, wie bereits dargelegt 28, diese Schutzpflicht nach dem subjektiv-rechtlichen Wesen der Grundrechte nicht nur eine objektiv-rechtliche Pflicht; ihr korrespondiert vielmehr ein subjektives Schutzrecht. Das BVerfG hat diese subjektiv-rechtliche Komponente des nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu gewährenden Schutzes implizit dadurch bestätigt, daß es die Geltendmachung der Vernachlässigung dieser Schutzpflicht mit der Verfassungsbeschwerde zuläßt 29 , was eben voraussetzt, daß die Schutzpflicht nicht bloß objektive Plicht, sondern subjektives Recht des Beschwerdeführers ist (vgl. Art. 2 3
Vgl. Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 85.
2 4
S. v.Mangoldt, Schriftlicher Bericht, S. 7, daß der Begriff "Leben" in Art. 2 D GG auch das "keimende Leben" erfassen sollte. Desgleichen BVerfGE 39, 1, 39 f.; BVerfG, NJW 1993, 1751, 1753. 2 5 BVerfGE 39, 1, 41 ff. - Fristenlösung I; BVerfG, NJW 1993, 1751, 1753 ff. - Fristenlösung n . 2 6 Gramm, NJW 1989, 2923; G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 230 f., 245; E. Klein, NJW 1989, 1636. Selbstverständlich sind aber nicht standige Wachsamkeit und prinzipielles Mißtrauen gegenüber jedermann erforderlich, um sich strafrechtlichen Schutz als Opfer einer Straftat zu "verdienen". Mehr als ein Gmndmaß an Selbstverantwortung des Opfers darf das Strafrecht nicht voraussetzen, ohne die staatliche Schutzpflicht zu vernachlässigen. S. hierzu Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 129 f., 142 ff. Im übrigen ist zu beachten, daß gerade die besonders Naiven sowie leicht Manipulier- und Verfuhibaren besonderen Schutzes bedürfen, eben weil sie außerstande sind, sich selbst angemessen zu schützen; vgl. in diesem Zusammenhang BGHSt 32, 38, 42 f. - Sirius-Fall. 2 ' Vgl. BVerfGE 39, 1, 47; Eur. Court H.R., X und Yv. Niederlande, Series A No. 91, S. 13 Ziff. 27; V G H Kassel, JZ 1990, 88, 89; Bethge, Grundrechtskollisionen, S. 408 ff.; Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 168 f.; E. Klein, NJW 1989, 1637 f.; Freu, JZ 1991, 266; Schwabe, Grondrechtsdogmatik, S. 220; Stern, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 109 Rdnr 59 f. 2 8
S. vorstehend G I 2. BVerfGE 79, 174, 201 f. S. bereits zuvor BVerfGE 46, 160, 164 - Schleyer; 53, 30, 48 ff. - Mülheim-Kärlich. Eingehend zum Schutzrecht aus Art. 2 H 1 GG G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 190 ff. 2 9
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G. Grundrechte als Leistungsrechte
93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Das Gleiche gilt für alle Grundrechte. Deshalb ist auch der h.M. zuzustimmen, die dem Bürger zunächst nur einen Anspruch gegen die Polizei auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ihr Einschreiten zuspricht, allerdings dort, wo es um den polizeilichen Schutz besonders hochrangiger Güter wie der Grundrechtsgüter geht, eine Verdichtung dieses Anspruchs zu einem Anspruch auf Einschreiten annimmt 30 . Nur ein solches Verständnis der Grundrechte auch als Schutzrechte bringt schließlich die Grundrechtsinterpretation in Konformität mit der Europäischen Menschenrechtskonvention31, aus der der EGMR bereits verschiedentlich Schutzpflichten abgeleitet hat. In X und Y v. Niederlande 32 ging es um folgenden Sachverhalt: Die 16jährige, geistig behinderte Tochter Y des X wurde Opfer eines Sexualdelikts. Eine strafrechtliche Verfolgung des Täters scheiterte aufgrund einer Lücke im Strafgesetzbuch, das einen Strafantrag der Verletzten selbst forderte, wozu diese aber wegen ihres geistigen Zustands nicht in der Lage war. Der Strafantrag des Vaters genügte nicht: der gesetzliche Vertreter konnte Strafantrag nur für Mindeijährige unter 16 Jahren stellen oder im Falle der Anordnung einer Vormundschaft, wobei aber letztere nur bei volljährigen Personen Anwendimg finden konnte. In dieser rechtlichen Unmöglichkeit einer strafrechtlichen Verfolgung erkannte der EGMR eine Verletzung des von Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens, welches auch die physische und psychische Integrität der Person einschließlich ihres Sexuallebens umfasse. Denn "obwohl der wesentliche Zweck des Art. 8 der Schutz des Individuums vor willkürlichen Eingriffen staatlicher Organe ist, beschränkt er sich nicht auf das Verbot solcher Eingriffe des Staates: zusätzlich zu dieser vor allem negativen Verpflichtung können sich positive Pflichten ergeben, die einer effektiven Achtung des Privat- oder Familienlebens inhärent sind... Diese Pflichten können das Ergreifen von Maßnahmen einschließen, die selbst in den Beziehungen der Individuen untereinander die Achtung des Privatlebens sicherstellen sollen" 33 . An solchen Maßnahmen habe es der Staat hier 3 0 BVerwGE 11, 96 f.; 37, 112, 113; Breuer, Gmndrechte als Anspnichsnormen, S. 104 f.; Dirnberger, DVB1. 1992, 882; Drews /Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 400 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rdnr 24; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr 46 m.w.N. 3 1 Zur Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention für die Auslegung der Grundrechte s. oben B I V 1. 3 2
Eur. Court H.R., Series A No. 91 (Urteil v. 26.3.1985). Ebd., S. 11 Ziff. 23: "si l'article 8 a essentiellement pour objet de prémunir l'individu contre les ingérences arbitraires des pouvoirs publics, il ne se contente pas de commander à l'Etat de s'abstenir de pareilles ingérences: à cet engagement plutôt négatif peuvent s'ajouter des obligations positives inhérentes à un respect effectif de la vie privée ou familiale ... Elles peuvent impliquer l'adoption de mesures visant au respect de la vie privée jusque dans les relations des individus entre eux" (fiz.) - "although the object of Article 8 is essentially that of protecting the individual against arbitrary interference by the public authorities, it does not merely conq>el the State to abstain from such interference: in addition to this primarily negative undertaking, there may be positive obligations inherent in an effective respect for private or family life... These 3 3
II. Zur Existenz grundrechtlicher Leistungsrechte
419
fehlen lassen. Zwar habe der Staat im Prinzip einen Beurteilungsspielraum, wie er diese Achtung des Privatlebens sicherstellen wolle 34 . Vorliegend gehe es aber um fundamentale Werte und essentielle Aspekte des Privatlebens. Zivilrechtlicher Schutz in dem Fall des von Y erlittenen Unrechts sei unzureichend. "Eine wirksame Abschreckung auf diesem Gebiet ist unerläßlich und kann nur durch strafrechtliche Bestimmungen erreicht werden" 35 . Denselben Prinzipien folgte der EGMR im Fall Plattform *Ärzte für das Leben" v. Österreichi 36, in dem die Veranstalter einer Demonstration mangelnden Schutz vor Gegendemonstranten rügten. Eine solche Rüge kann sich nach dem EGMR grundsätzlich auf das in Art. 11 EMRK garantierte Recht, sich friedlich zu versammeln, stützen. Auch bei hoch kontroversen Streitfragen müsse man ohne Angst vor Gewalttätigkeiten an einer Demonstration teilnehmen können, da sonst Vereinigungen oder sonstige Gruppierungen am Ausdruck ihrer Ansichten gehindert werden könnten. In einer Demokratie könne das Recht zur Gegendemonstration nicht soweit gehen, das Recht zu demonstrieren auszuschalten. "Eine wahrhafte, effektive Freiheit, sich friedlich zu versammeln, kann daher nicht auf eine bloße Pflicht des Staates beschränkt werden, nicht einzugreifen: eine rein negative Konzeption stünde nicht in Einklang mit Sinn und Zweck des Art. 11. Ebenso wie Art. 8, so erfordert auch Art. 11 manchmal positive Maßnahmen, notfalls selbst im Verhältnis der Bürger untereinander" 37. Österreich habe allerdings vorliegend seinen weiten Entscheidungsspielraum betreffend die Wahl der zu ergreifenden Mittel nicht überschritten. Der EGMR beschränkt sich freilich nicht auf die Kontrolle, daß bestehende gesetzliche Verbote (etwa von Sexualdelikten, oder der rechtswidrigen Störung von Versammlungen) auch verfahrensmäßig tatsächlich durchgesetzt werden müssen, sondern deduziert aus Art. 1 EMRK eine Pflicht zur gesetzlichen Untersagung solcher privater Handlungsweisen, die durch die Europäische Menschenrechtskonvention geschützte Rechte und Freiheiten verletzen. obligations may involve the adoption of measures designed to secure respect for private life even in the sphere of the relations of individuals between themselves" (engl.). 3 4
Ebd., S. 12 Ziff. 24. Ebd., S. 13 Ziff. 27: "Seule une législation criminelle peut assurer une prévention efficace, nécessaire en ce domaine" (frz.) - "Effective deterrence is indispensable in this area and it can be achieved only by criminal-law provisions" (engl.). 3 5
3 6
Eur. Court H.R., Series A No. 139 (Urteil v. 21.6.1988). J 17 Ebd., S. 12 Ziff. 32: "Partant, une liberté réelle et effective de réunion pacifique ne s'accommode pas d'un simple devoir de non-ingérence de l'Etat: une conception purement négative ne cadrerait pas avec l'objet et le but de l'article 11. Tout comme l'article 8, celui-ci appelle parfois des mesures positives, au besoin jusque dans les relations interindividuelles" (frz.) "Genuine, effective freedom of peaceful assembly cannot, therefore, be reduced to a mere duty on the part of the State not to interfere: a purely negative conception would not be compatible with the object and purpose of Article 11. Like Article 8, Article 11 sometimes requires positive measures to be taken, even in the sphere of relations between individuals, if need be" (engl.).
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G. Grundrechte als Leistungsrechte
Denn er hält den Staat fur eine solche Verletzung ungeachtet dessen verantwortlich, daß diese von nichtstaatlicher Seite her erfolgte, wenn die innerstaatliche Rechtsordnung diese Verletzung im Widerspruch zu der Garantieverpflichtung des Art. 1 EMRK erlaubt 38. Daß Schutzpflichten die Gerichte verhältnismäßig selten beschäftigen, darf im übrigen nicht als Beleg für ihre Bedeutungslosigkeit oder gar Nichtexistenz mißverstanden werden. Vielmehr hat der Staat mit dem geltenden Strafrecht sowie dem Zivil- und insbesondere Deliktsrecht, sowie deren verfahrensrechtlichen Durchsetzung seine Schutzpflicht in Verfolgung des traditionellen Staatsverständnisses weitestgehend39 erfüllt. Welche Bedeutung die Schutzpflichten haben, würde schlagartig offenbar, wollte etwa der Gesetzgeber die deliktsrechtlichen oder Strafbestimmungen zum Schutz von Leben 40 , Gesundheit, Ehre, Fortbewegungs- und Entscheidimgsfreiheit, Eigentum und Vermögen, usw. abschaffen 41» 4 2 . Es wäre gleichwohl ein Mißverständnis, den Hauptanwendungsbereich von Schutzrechten als Unterlassungsansprüche gegen den Abbau von Schutzvorkehrungen zu sehen; angesichts des Entstehens immer neuer Bedrohungen wird sich jedenfalls künftig das Gewicht auf den Anspruch auf das Ergreifen wirksamer Schutzmaßnahmen, insbesondere die Schaffung wirksamer Schutzgesetze und -einrichtungen verlagern 43. bb) Grundrechtliche Beistandsrechte Grundrechtliche Bewahrungsrechte sind nicht nur als Rechte auf Schutz gegen Angriffe durch Dritte anzuerkennen, sondern bestehen auch als Beistandsrechte auf Bewahrung vor nicht drittverantworteten Bedrohungen von Grundrechtsgütern. Praktisch am bedeutsamsten sind die Beistandsansprüche der
3 8 Eur. Court H.R., Young, James & Webster v. Vereinigtes Königreich, Series A No. 44, S. 20 Ziff. 49 (s. oben B I V 3 und D m 2 b cc). 3 9 Inwieweit die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen, ihr Vollzug oder auch ihre Interpretation durch die Gerichte (einschließlich des BVerfG), der grundrechtlichen Schutzpflicht stets gerecht werden, kann hier nicht naher untersucht werden. Bedenken bestehen hier insbesondere im Hinblick auf die Drogen- und sonstige organisierte Kriminalität, politisch motivierte Gewaltakte und Krawalle wie auch Blockaden und Gewalttätigkeiten im Zusammenhang mit "Demonstrationen", den Schutz des ungeborenen Lebens, sowie den Schutz der Ehre gerade auch in der öffentlichen Auseinandersetzung, dessen Vernachlässigung zu einer gefahrlichen Verrohung insbesondere der politischen Auseinandersetzung zu fuhren im Begriff ist (s. hierzu die zutreffende harte Kritik am BVerfG von Kiesel, N V w Z 1992, 1133 ff.; ferner Kriele, in Isensee/Kirchhof, H S t R V , § 110 Rdnr 64). 4 0
Vgl. hierzu die Fristenlösungs-Entscheidungen BVerfGE 39, 1; BVerfG, NJW 1993,
1751. 4 1
Murswiek, WiVerw 1986, 181.
Eine "Entkriminalisiemng" sogenannter "Bagatellkriminalität" vernachlässigte die Schutzrechte der (potentiellen) Opfer und wäre verfassungswidrig, weil sie dadurch vollends jedweden effektiven Schutzes der betroffenen Güter beraubt würden. 4 3 Lorenz, JZ 1992, 1002.
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Mindeijährigen sowie der (physisch oder psychisch) Kranken und Schwachen, die aufgrund ihrer Lage nicht nur des besonderen Schutzes vor Übergriffen seitens Dritter bedürfen mögen, sondern eben auch vor unpersonalen Bedrohungen ihrer Grundrechtsgüter zu bewahren sind, weil sie insofern oft nicht selbst fähig sind, die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen. Mindeijährige und Geisteskranke insbesondere bedürfen darüber hinaus auch des Beistands gegen die Entstehung von Grundrechtsgutsbeeintrachtigungen aus eigenen, nach objektivierten Maßstaben44 unvernünftigen Entscheidungen45. Wiewohl Situationen, in denen staatlicher Beistand gefordert ist, im übrigen eher selten vorkommen und sich auch kaum von denen unterscheiden, in welchen die sogleich zu behandelnden Förderungspflichten ausgelöst werden, so sind sie doch gegeben. So dürfte etwa der Staat zur Einrichtung eines Zivilund Katastrophenschutzes, einer Feuerwehr sowie einer medizinischen Grundversorgung verpflichtet sein, um die Grundrechtsgüter der Bürger - soweit nach Lage der Dinge überhaupt möglich - auch gegenüber unverantworteten Gefahren zu bewahren. Ohne eine solche staatliche Mindestvorsorge befanden sich weite Teile der Bevölkerung in einer Lage existentieller Unsicherheit, welche dem grundrechtsgeprägten grundgesetzlichen Bild des Staatswesens ebensowenig entspräche wie die Vernachlässigimg seiner Schutzpflicht. c) Inhaltliche Reichweite der Bewahrungsrechte Das Ausmaß des Sicherheitsdefizits, welches einen Anspruch auf staatlichen Schutz oder Beistand auslösen kann (das "Untermaß" 46), ist in dieser Arbeit nicht näher zu bestimmen. Immerhin versteht sich von selbst, daß niemand absolute Sicherheit für seine Grundrechtsgüter erwarten und verlangen darf 4 7 . Kein Staat kann einen lückenlosen Schutz vor Gewalt und Übergriffen von Seiten Dritter garantieren 48, und auch seine Pflicht zum Beistand gegen nicht drittverantwortete Bedrohungen muß limitiert sein. Jedes Bewahrungsrecht muß materiell auf die Gewährung hinreichenden Schutzes bzw. Beistands beschränkt sein, doch was "hinreichend" ist, läßt sich abstrakt kaum angeben. Einerseits besteht ein Recht auf effektiven Schutz und Beistand, andererseits ist das Maß an gebotener Effektivität auf das beschränkt, was der einzelne
4 4
S. dazu oben D ffl 2 b ee.
4 5
Ähnlich G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 230, der hier von der "leistungsstaatlichen Funktion" als Pflicht "zur Hilfe" spricht; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 115: "Grundrechtsfursorge" gegenüber nicht eigenverantwortlichen Personen. 4 6
BVerfG, NJW 1993, 1751, 1754; Conans, JuS 1989, 163. G. Hermes, Gnindrecht auf Schutz, S. 244; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 90, 145; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 161. 4 8 BVerfGE 83, 216, 235 f. 4 7
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vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann 49 . Da der Staat mit einer Vielzahl von Ansprüchen und Aufgaben konfrontiert ist, können die Ansprüche des einzelnen von vornherein nicht auf maximalen Schutz oder Beistand unter Vernachlässigung der berechtigten Erwartungen anderer gehen 50 . Auch darf das Streben nach Schutz und Beistand nicht dahin gehen, jedwede (technische und wissenschaftliche) Weiterentwicklung zu hemmen, die zwar einerseits gefahrbehaftet sein mag, andererseits aber wiederum im Effekt den Grundrechtsgütern vieler zugute kommen kann 51 . Geboten ist aber jedenfalls der Erhalt der "faktischen Funktionsfahigkeit" 52 der bedrohten Freiheit, wobei die Bedeutung des Grundrechtsgutes 53, Art, Nähe und Ausmaß der Gefahr 54 sowie etwaige zumutbare Selbstschutzmöglichkeiten eine Rolle spielen. Staatliche Bewahrungspflichten werden um so eher ausgelöst, je schwerer der drohende Schaden für das Grundrechtsgut ist und je gewichtiger dieses ist; unter Umständen können schon geringe Schadenswahrscheinlichkeiten zu angemessenen Schutz- oder Beistandsmaßnahmen verpflichten 55. Ein weiteres Kriterium ist, in welchem Maße der Betroffene seine Grundrechtsgüter selbst bewahren kann bzw. wie hilfsbedürftig er ist. Insbesondere Mindeijährige sowie physisch und psychisch Kranke und Schwache dürfen deshalb ein gesteigertes Maß an staatlichem Schutz und Beistand (und zwar gegebenenfalls auch gegen Selbstgefährdungen 56) erwarten 57. Von solchen Faktoren hängt schließlich auch ab, ob der gebotene Schutz oder Bei-
4 9 Vgl. BVerfGE 33, 303, 333; 43, 291, 313 f.; BVerwGE 72, 300, 315 ff.; V G Neustadt, N V w Z 1992, 1008, 1011 f.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 161 f. 5 0 So fordert die staatliche Pflicht, das Leben eines Entführten zu schützen, nicht etwa die Freilassung von Terroristen, die sodann andere bedrohen würden (BVerfGE 46, 160, 164 f.). Auch gebieten zwar die Schutzrechte den Erlaß hinreichend generalpräventiv wirkender Strafgesetze (vgl. BVerfGE 39, 1, 41 ff.; Eur. Court H.R., X und Yv. Niederlande, Series A No. 91, S. 13 Ziff. 27) sowie die effektive Durchsetzung derselben (Eur. Court H.R., Plattform "Ärzte flr das Leben" v. Österreich, Series A No. 139, S. 12 Ziff. 32) und die Einrichtung und Ausrüstung genügender Polizeikräfte. Aber sie verlangen weder die Verhängung drakonischer Strafen noch die Errichtung eines Polizei- und Überwachungsstaates. Denn die Schutzrechte der einen sind gegen die kollidierenden Abwehrrechte der anderen abzuwägen (s. hierzu unten H I I 1 a). Die Befürchtung von Eckhoff, Der Gmndrechtseingriff, S. 290, die Anerkennung von Schutzrechten habe "in letzter Konsequenz" einen Rückfall in den "Absolutismus" zur Folge (!), ist daher ins Absurde überzogen. 5 1
Vgl. Ladeur, N V w Z 1992, 950.
5 2
Conans, JuS 1989, 163.
5 3
BVerfGE 39, 1, 42.
5 4 BVerfGE 49, 89, 142; Schwerdtfeger, N V w Z 1982, 10: Problem der Diagnose und Prognose. 5 5 Vgl. BVerfGE 53, 30, 57; 82, 76, 92; V G Neustedt, N V w Z 1992, 1008, 1011; E, Klein, NJW 1989, 1637. 5 6
Vgl. hierzu Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 221 f. ' Im allgemeinen erfüllt der Staat seine Beistandspflicht durch die Bestellung von Personensorge- und Aufsichtspflichtigen. Liegen konkrete Anhaltspunkte vor, daß dies nicht genügt, kann der Staat auch zu weiteren Beistandsmaßnahmen verpflichtet sein. Jcn
II. Zur Existenz gndrechtlicher Leistungsrechte
423
stand präventiv 58 zu gewähren ist oder ob er auch bloß repressiv gewährt werden darf, und ferner, ob er auf zivilrechtlichem Wege zur Verfügung gestellt werden kann oder ob er öffentlich-, insbesondere strafrechtlich gewährt werden muß 5 9 .
2. Förderungsrechte Im Gegensatz zu den Bewahrungsrechten geht es den Förderungsrechten nicht um die Bewahrung eines gegebenen Ist-Zustands an Freiheit, sondern um die Verwirklichung eines Mindestgehalts an Freiheit. Förderungsrechte fragen danach, ob der Staat ein bestimmtes Minimum an rechtlicher Handlungsfähigkeit einräumen bzw. ein Minimum an natürlicher Handlungsfähigkeit garantieren muß. Hinsichtlich der letzteren kann es selbstverständlich nicht um die Garantie der natürlichen Handlungsfähigkeit im exakten Sinne gehen kann, weil diese eine höchstpersönliche Fähigkeit ist, die jede Person für sich ausüben muß. Vielmehr ist darunter die Zurverfügungstellung ausreichender Möglichkeiten und Einrichtungen zur Kompensation eventueller Defizite im natürlichen Können zu verstehen, die der betreffenden Person die Gewinnung einer dem Soll-Wert gemäßen natürlichen Handlungsfähigkeit ermöglichen soll. Förderungsrechte können schließlich auch ein Mindestmaß an Dürfen zum Inhalt haben. Zwar unterliegt jede Beschränkung des Dürfens abwehrrechtlicher Kontrolle, doch wenn das Dürfen sogar das Soll unterschreitet, läge zusätzlich eine Vernachlässigung des Förderungsrechtes vor. a) Benannte Förderungsrechte Wie schon im Fall der Bewahrungsrechte, so gibt es auch nur einige wenige ausdrücklich benannte Förderungsrechte. An vorderster Stelle ist wiederum Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG zu nennen. Wenn hierin vom "Schutz" der Menschenwürde die Rede ist, darf dies nämlich nicht eng nur im Sinne von Schutz- oder Beistandsrechten verstanden werden. Vielmehr geht das Grundgesetz davon aus, daß es einen Mindestgehalt an Menschenwürde gibt und daher der Staat zum Tätigwerden verpflichtet ist, sobald dieser Soll-Bestand unterschritten wird bzw. zu unterschritten werden droht. Dabei ist unerheblich, woraus diese Soll-Wert-Unterschreitung resultiert, ob sich der zu Fördernde selbst in eine unwürdige Situation begibt, oder ob er aufgrund äußerer Umstände (z.B. große Armut) in eine solche Lage gerät. Stets muß der Staat for-
5 8 Zur wachsenden Bedeutung - und den damit verbundenen Problemen - präventiver Gefahrenabwehr Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 197 ff. S. auch Lorenz, JZ 1992, 1002; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 230 f. 5 9 Vgl. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 228 ff.
424
G. Grundrechte als Leistungsrechte
dernd einschreiten, den Betroffenen eben nicht nur vor dem Dritten schützen (Schutzpflicht), sondern sogar vor sich selbst60 (Beistandspflicht) bzw. ihn aus seiner menschenunwürdigen Notlage befreien 61 (Förderungspflicht). Die Förderungspflicht greift der Bewahrungspflicht insofern vor, als es zur Auslösung der Förderungspflicht nicht erforderlich ist, daß der betreffende Mensch zuvor in einer besseren Lage gewesen ist; das Förderungsrecht setzt nicht die (drohende) Verschlechterung seiner Lage voraus, sondern lediglich das Unterschreiten der absoluten Soll-Grenze 62. Die Schwierigkeit, allgemein anzugeben, wo jenes Soll liegt, steht dem grundrechtlichen Förderungsrecht ebensowenig entgegen wie dem Abwehrrecht die Schwierigkeit der Definition, wann die Würde beeinträchtigt ist. Zu Recht hat daher das BVerwG aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG einen Rechtsanspruch auf Fürsorge (heute: Sozialhilfe) hergeleitet 63. Dem schloß sich das BVerfG nach anfänglichem Zögern 64 an 6 5 . Einen Unterfall des aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG abzuleitenden Fürsorgeanspruchs stellt der Anspruch eines Obdachlosen auf Unterbringung dar 6 6 . Als weitere benannte Förderungsrechte sind der Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG), der Schutz der Mütter (Art. 6 Abs. 4 GG) und der Anspruch unehelicher Kinder auf Schaffimg gleicher Bedingungen für ihre Entwicklung (Art. 6 Abs. 5 GG) zu nennen67, ferner die Ansprüche auf gerichtlichen Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG), den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) und das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 G G ) 6 8 . 6 0 Ein Mensch kann weder auf die abwehrrechtlich gebotene Achtung seiner Wurde verzichten, noch den Staat wirksam von dessen diesbezüglichen Schutz-, Beistands- und Förderungspflichten entbinden. Vgl. hierzu BVerwGE 64, 274, 279; Dürig, in Maunz/Dürig, GG, Art. 1 (Lfg. 1958) Rdnr 22; Kimig, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 1 Rdnr 12, 34; v.Münch, in v.Münch, GG, Art. 1 Rdnr 39. Zu pauschal a.A. Gramm, NJW 1989, 2923; G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 199. 6 1 Vgl. BVerfGE 45, 187, 228; BVerwGE 1, 159, 161; 14, 294, 296 f.; Dürig, in Maunz/ Dürig, GG, Art. 1 (Lfg. 1958) Rdnr 43; G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 139; Jarass/ Pieroth, GG, Art. 1 Rdnr 8; Kunig, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 1 Rdnr 30; v.Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 1 Rdnr 24; v.Münch, in v.Münch, GG, Art. 1 Rdnr 28; Zippelius, in BK, Art. 1 I {Drittb. 1989) Rdnr 22, 102; inzwischen überholt BVerfGE 1, 97, 104. 6 2 So genießen etwa ein verantwortungslosen Eltern ausgeliefertes Neugeborenes oder eine nach Deutschland Verschleppte forderungsrechtliche Ansprüche auf Gewährleistung ihrer Menschenwürde, ohne daß vorausgesetzt wäre, daß sich ihr elender Zustand noch weiter zu verschlechtern droht. 6 3
BVerwGE 1, 159, 161.
6 4
BVerfGE 1, 97, 104 f.
6 5
BVerfGE 40, 121, 133. Vgl. OVG Münster, N V w Z 1993, 202 f.
6 6
6 7 Vgl. dazu BVerfGE 25, 167, 172 ff.; Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 6 (Lfg. 1980) Rdnr 41, 45; E.M. v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 6 Rdnr 51, 53; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 752; Steiger, Mensch und Umwelt, S. 43, 48; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 706. Zu eng messen Alexy, Theorie, S. 396 f. und Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 211 lediglich Art. 6 I V GG den Charakter eines Förderungsrechtes bei. 6 8 Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 76; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 201; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 706.
II. Zur Existenz gndrechtlicher Leistungsrechte
425
b) Unbenannte Förderungsrechte Sehr zurückhaltend zeigt sich die Rechtsprechung im Hinblick auf unbenannte Förderungsrechte. In einer älteren Entscheidung zur Pressefreiheit meinte das BVerfG, in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG sei zwar primär ein Abwehrrecht statuiert, doch weiter objektiv-rechtlich "das Institut 'Freie Presse'" garantiert, welchem der Staat "- unabhängig von subjektiven Berechtigungen Einzelner - ... überall, wo der Geltungsbereich einer Norm die Presse berührt, ... Rechnung zu tragen" habe. Daraus folgten u.a. "Auskunftspflichten der öffentlichen Behörden", möglicherweise sogar "eine Pflicht des Staates ... Gefahren abzuwehren, die einem freien Pressewesen aus der Bildung von Meinungsmonopolen erwachsen könnten"69. Das BVerwG entschied hierzu später zwar, daß es keinen verfassungsunmittelbaren Auskunftsanspruch der Presse gegen Behörden gebe, ließ dabei aber ausdrücklich offen, ob gegebenenfalls ein "Minimalstandard" an Informationsrechten anzuerkennen wäre, wenn die einschlägigen Pressegesetze keinerlei dahingehende Ansprüche gäben 70 . Förderungsrechte wurden dem Grunde nach auch bei Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 5 Abs. 3 GG erwogen: Im Numerus-clausus-Urteil erkannte das BVerfG aufgrund der Erwägung, daß "das Freiheitsrecht... ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in Anspruch zu nehmen, wertlos" wäre 71 , aus Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Gleichheitssatz zunächst auf einen (in Wahrheit abwehrrechtlichen, obschon forderungsrechtlich verbrämten 72) Teilhabeanspruch auf Zugang zu den Hochschulen; darüber hinaus ließ es ausdrücklich offen, ob "unter besonderen Voraussetzungen ein einklagbarer Individualanspruch des Staatsbürgers auf Schaffung von Studienplätzen" bestehen könne, da ein solcher Förderungsanspruch jedenfalls unter dem Vorbehalt des Möglichen stehe73. Deutlicher noch leitete das BVerfG im ersten Hochschul-Urteil aus der grundgesetzlichen Wertentscheidung des Art. 5 Abs. 3 GG für eine freie Wissenschaft die Pflicht des Staates ab, "sein Handeln positiv danach einzurichten, d.h. schützend und fordernd einer Aushöhlung dieser Freiheitsgarantie vorzubeugen"; er müsse daher die Wissenschaft "durch Bereitstellung von personellen, finanziellen und organisatorischen Mitteln ... ermöglichen und ... fordern", mithin entsprechende Institutionen zur Verfügung stellen, und im übrigen geeignete organisatorische Maßnahmen zur Sicherung des grundrechtlichen Freiheitsraums ergreifen 74. Hiernach nahm das BVerfG einen Soll-Be6 9 7 0 7 1 7 2 7 3 7 4
BVerfGE 20, 162, 175 f. BVerwGE 70, 310, 313 ff. BVerfGE 33, 303,331. S. dazu oben G i l b . BVerfGE 33, 303, 333. BVerfGE 35, 79, 114 f.; ebenso BVerfGE 66, 155, 177.
G. Grundrechte als Leistungsrechte
426
stand an Wissenschaftsfreiheit an, der in einer ausreichenden personellen und finanziellen Ausstattung, sowie einer geeigneten Organisation besteht. Damit hat es Förderungspflichten, und soweit es die Hochschulorganisation betrifft, sogar solche auf "normative Leistungen"75, anerkannt. Dasselbe gilt nach dem BVerfG fur die Rundfunkfreiheit: "Freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung durch den Rundfunk verlangt zunächst die Freiheit des Rundfunks von staatlicher Beherrschung und Einflußnahme. Insoweit hat die Rundfunkfreiheit, wie die klassischen Freiheitsrechte, abwehrende Bedeutung. Doch ist damit das, was zu gewährleisten ist, noch nicht sichergestellt. Denn bloße Staatsfreiheit bedeutet noch nicht, daß freie und umfassende Meinungsbildung durch den Rundfunk möglich wird; dieser Aufgabe läßt sich durch eine lediglich negatorische Gestaltung nicht gerecht werden. Es bedarf dazu vielmehr einer positiven Ordnung, welche sicherstellt, daß die Vielfalt der bestehenden Meinungen im Rundfunk in möglichster Breite und Vollständigkeit Ausdruck findet und daß auf diese Weise umfassende Information geboten wird. Um dies zu erreichen, sind materielle, organisatorische und Verfahrensregelungen erforderlich, die an der Aufgabe der Rundfunkfreiheit orientiert und deshalb geeignet sind zu bewirken, was Art. 5 Abs. 1 GG gewährleisten will. " 7 6 Die Schwäche dieser Rechtsprechung ist, daß sie den Grundrechten zwar vielfältig "objektive Leistungspflichten" zumißt, aber von engen Ausnahmefällen abgesehen davor zurückscheut, ihnen auch subjektive Förderungsrechte zuzuordnen, wodurch sie fur die grundrechtliche Praxis erheblich an Bedeutung verlieren. Diese Zurückhaltung ist zwar verständlich, doch im Ergebnis unbegründet. Während es zwar einerseits richtig ist, das Soll an Freiheit nicht zu hoch anzusetzen und alles Wünschenswerte als forderungsrechtlich garantiert zu reklamieren, so dürfen andererseits auch nicht unzulässig die den Grundrechten innewohnenden Förderungsrechte entsubjektiviert werden 77 . Es ist in dieser Arbeit nicht möglich, den Soll-Bestand jeder einzelnen grundrechtlichen Freiheit zu bestimmen; ihre grundsätzliche Existenz nachzuweisen genügt hier. Vorab ist festzuhalten, daß den benannten Förderungsrechten nicht im Umkehrschluß die Nichtexistenz unbenannter Förderungsrechte zu entnehmen ist, da ihre Aufnahme in das Grundgesetz nicht als abschließende Regelung verstanden werden kann. Die auf die Einrichtung rechtsstaatlicher Gerichtsverfahren gerichteten Grundrechte erlauben schon von ihrer besonderen Natur her keine Rückschlüsse auf andere Bereiche. Daß die auf besonderen sozialpolitischen Erwägungen basierenden Förderungspflichten zugunsten von Ehe, Fa7 5
Alexy, Theorie, S. 401.
7 6
BVerfGE 57, 295, 320. S. oben G I 2.
7 7
II. Zur Existenz grundrechtlicher Leistungsrechte
427
milie, Müttern und Kindern darüber hinausgehende Rechte abschneiden sollten, leuchtete schon sprachlich nicht ein, da Art. 6 Abs. 1 GG von dem "besonderen Schutze der staatlichen Ordnung" spricht, was eine allgemeine Förderungspflicht hinsichtlich anderer Grundrechtsgüter durchaus zuläßt 78 . Ebensowenig kann Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, indem er aufgrund der besonderen Gewichtigkeit der Menschenwürde gerade die Förderung eines menschenwürdigen Lebens ausdrücklich normiert, als Ausschluß sonstiger Förderungspflichten verstanden werden, die sich aufgrund besonderer Überlegungen ergeben mögen 79 . Daß aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG eine Förderungspflicht jedenfalls zumindest insofern folgt, als es um den Menschenwürdegehalt der einzelnen Grundrechte geht 80 , impliziert zwar einerseits ebensowenig wie das Bestehen anderer benannter Förderungspflichten, daß es darüber hinausgehende Förderungspflichten zu jedem Grundrechtsgut gibt 81 . Andererseits stellen die benannten Förderungsrechte lediglich Mindestrechte dar, die offenlassen, ob es weitere solche Rechte gibt. % Die Notwendigkeit des abwehrrechtlichen Wertschutzes wurde ganz wesentlich mit dem Gebot effektiven Abwehrrechtsschutzes begründet, da der (unzweifelhafte) Freiheitsschutz bezüglich des Dürfens Gefahr liefe, weitgehend leerzulaufen, schützte man die Freiheit nicht auch wertmäßig 82. In eine ähnliche Richtung geht das Argument zur Herleitung forderungsrechtlicher Grundrechtsinhalte. Zwar besagt die Effektuierung der Grundrechte als Abwehrrechte zunächst weder positiv noch negativ etwas über eine etwaige Funktion als Förderungsrechte, da ein Grundrecht grundsätzlich abwehrrechtlich auch dann sinnvoll bleibt, wenn nur ein sehr geringer Ist-Wert zu schützen ist. In der Tat bedarf gerade der in mancher Hinsicht Benachteiligte oder Mittellose des abwehrrechtlichen Schutzes83, mag er ja sonst keine Aussicht haben, jemals selbst seinen Freiheitswert zu verbessern. Daraus aber, daß dem, der einen nur geringen Freiheitswert hat, dieser nicht entzogen werden darf, folgt auch zwecks Effektuierung der Abwehrrechte nicht, daß ihm ein größerer Freiheitswert verschafft werden müßte. Anders stellt sich die Lage allerdings dar, wenn der Wert einzelner oder gar sämtlicher Freiheiten effektiv gleich null ist. Die Grundrechte setzen nämlich, indem sie in ihrer Abwehrfunktion ein primäres Recht auf Achtung bestimmter Grundrechtsgüter konstituieren und dieses durch Sekundär- und Tertiäransprüche absichern, das Bestehen dieser Grundrechtsgüter voraus. Denn die 7 8
Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 139. Vgl. Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 137 f.; G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 196; ferner Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 188. 7 9
8 0
Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 229.
8 1
Alexy, Theorie, S. 398; Dirnberger,
8 2
S. oben E H 6. Alexy, Theorie, S. 460.
8 3
29 Roth
Recht auf Naturgenuß, S. 147.
G. Grundrechte als Leistungsrechte
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Abwehrrechte sind ohne die tatsachlichen Voraussetzungen, sie in Anspruch nehmen zu können, wertlos 84 . Die Abwehrrechte setzen voraus, daß es etwas gibt, was zu schützen sinnvoll ist. Freiheiten, deren Wert gleich null ist, sind der abwehrrechtlichen Achtung weder bedürftig noch würdig. Eine "Lahmlegung" und "Aushöhlimg" der Grundrechte ist insofern auch im Interesse ihrer abwehrrechtlichen Dimension unannehmbar; und um eben dies zu verhindern, muß den Grundrechten eine forderungsrechtliche Dimension inhärent sein 85 . Die aus den Grundrechten fließende objektive Wertordnung 86 erweist sich darin, daß nicht nur der Schutz bestehender Freiheiten nicht theoretisch und illusorisch sein darf, sondern daß diese Freiheiten selbst in ihrem Bestand nicht theoretische und illusorische Freiheiten sein sollen; sie setzt den Bürger als zu schützendes Subjekt voraus, das auf die abwehrrechtliche Achtung angewiesen ist, weil er etwas innehat, das zu schützen ist 8 7 . Durch eine rein abwehrrechtliche Sichtweise ist das, was zu gewährleisten ist, keineswegs sichergestellt 88, vielmehr erfordert die Effektuierung der Grundrechte als Abwehrrechte in letzter Konsequenz ein auch forderungsrechtliches Verständnis der Grundrechte. Die Abwehrrechte implizieren so die Notwendigkeit eines Soll-Bestandes an Freiheit; seine Bemessung ergibt sich daraus, daß der Freiheitswert hoch genug sein muß, damit die betreffende Freiheit sinnvoll als abwehrrechtliches Schutzgut erscheinen kann 89 . Als besonders deutliches und allgemein anerkanntes Beispiel hierfür ist das Petitionsrecht des Art. 17 GG zu nennen. Mit dem Recht, Petitionen vorzubringen, wird zunächst zweifelsohne ein Abwehrrecht gegen jegliche Behinderung des Petenten bei der Vorbringung seiner Bitte oder Beschwerde eingeräumt 90 . Beließe man es bei dieser abwehrrechtlichen Betrachtung, so hätte Art. 17 GG immerhin - aber auch nur - die Tragweite, etwa der Exekutive zu verwehren, Petitionen an die Parlamente zu verhindern. Zu Recht wird aber gesehen, daß ein solches Recht allein dem Petenten nicht viel nützte. Art. 17 GG muß zumindest auch einen Bescheidungsanspruch geben, weil es sich
8 4 BVerfGE 33, 303, 331; Alexy, Theorie, S. 458 f.; Böckenförde, Grundrechte als Anspnichsnormen, S. 92. 8 5 Insofern zutreffend BVerwGE 27, 360, 363. 8 6 S. dazu oben D IV 3. 8 7 Vgl. insoweit BVerfGE 75, 40, 65; BVerwGE 27, 360, 363. 8 8
OQ
NJW 1974, 1538; Breuer,
BVerfGE 57, 295, 320.
M
Ahnlich Böckenförde, NJW 1974, 1536 mit einem mehr sozialstaatlich, und Schuppert, EuGRZ 1985, 532 mit einem eher demokratietheoretisch geprägten Gmndrechtsverständnis. Vom Ansatz her unter Bezugnahme auf Art. 1 GG noch weiter Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 148 f. 9 0 Dagtoglou, in BK, Art. 17 (Zweitb. 1967) Rdnr 76, 79; Dürig, in Maunz/Dürig, GG, Art. 17 (Lfg. 1960) Rdnr 3.
II. Zur Existenz grndrechtlicher Leistungsrechte
429
sonst um ein "Scheinrecht" handelte91. Daher enthält Art. 17 GG implizit ein Förderungsrecht auf Entgegennahme, Prüfung und Bescheidung der Petition 9 2 . Der Soll-Wert ist lediglich hinsichtlich des Anspruchs auf eine Begründung strittig 93 . In dieselbe Richtung weisen die benannten Förderungsrechte, die einen Eindruck von den Situationen geben, in welchen Förderungspflichten in Betracht kommen und insofern verallgemeinerungsfähig sind. Am speziellsten und daher aufschlußreichsten sind hier Art. 6 Abs. 4 und 5 GG: Der den Müttern zugedachte Schutz bezieht sich nicht auf Frauen, die irgendwann in ihrem Leben Mutter geworden sind, sondern auf Frauen als Mütter, d.h. in ihrer spezifischen Eigenschaft als Mutter (Art. 119 Abs. 3 WRV sprach hier plastisch vom Schutz der "Mutterschaft"), also während der Schwangerschaft, in der Stillzeit 94 und während der Zeit der Betreuung jedenfalls der kleinen Kinder 9 5 ; Art. 6 Abs. 5 GG schützt nicht Personen, die einst unehelich geboren wurden, sondern uneheliche Kinder in ihrer Entwicklungsphase. Die zu fordernden Personengruppen zeichnen sich hier typischerweise dadurch aus, daß sie aufgrund ihrer persönlichen Lebensumstände bzw. der aus diesen folgenden gesellschaftlichen Lage in der Wahrnehmung der allgemein bestehenden Lebenschancen be- oder gar verhindert sind und gerade deshalb des Schutzes und der Fürsorge bedürfen. Die staatliche Förderungspflicht dient so der Kompensation (vor allem, aber nicht nur, temporärer) persönlicher Defizite. Es soll verhindert werden, daß zufallige persönliche oder andere Lebensumstände die gesamte künftige Lebensplanung und -gestaltung ruinieren. Allerdings muß jeder grundsätzlich die Folgen seiner Handlungen und Entscheidungen selbst tragen und kann auch dann, wenn sie hart sein mögen, nicht auf staatliche Hilfe vertrauen. Ein anderes gilt indes dann, wenn jemand unverschuldet oder durch die auch im allgemeinen Interesse liegende Wahrnehmung seiner Rechte in eine solche Situation gerät. Mütter und uneheliche Kinder - man könnte sie um die "Witwen und Waisen" ergänzen - sind von der Ausgangslage her gewissermaßen die schwächsten Glieder einer Gesellschaft. Es prägt das Bild einer Gesellschaft und damit auch des Staates als der 9 1
BVerfGE 2, 225, 230.
9 2
BVerfGE 2, 225, 230; 13, 54, 90; BayVerfGH, DÖV 1957, 719, 721; Bleckmann, Grundrechte, S. 989; Dagtoglou, in BK, Art. 17 (Zweitb. 1967) Rdnr 89 f.; Düng, in Maunz/Dürig, GG, Art. 17 (Lfg. 1960) Rdnr 4; Jarass/Pieroth, GG, Art. 17 Rdnr 6; Pieroth/Schlink, Gmndrechte, Rdnr 1089; Rauball, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 17 Rdnr 14; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 201. 9 3
Für eine Begründungspflicht etwa OVG Bremen, JZ 1990, 965, 966; Dagtoglou, in BK, Art. 17 (Zweitb. 1967) Rdnr 100; Rauball, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 17 Rdnr 14. Dagegen BVerfGE 2, 225, 230; BVerfG (3. Kammer des 1. Senats), DVB1. 1993, 32, 33; BayVerfGH, DÖV 1957, 719, 721; Düng, in Maunz/Dürig, GG, Art. 17 (Lfg. 1960) Rdnr 9, 9 4 Vgl. Jarass/Pieroth, GG, Art. 6 Rdnr 28; E.M. v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 6 Rdnr 50. 9 5 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 6 (Lfg. 1980) Rdnr 43.
430
G. Grundrechte als Leistungsrechte
verfaßten Gesellschaft, wie sie mit jenen umgeht, ob sie sie auf das Wohlwollen Dritter verweist 96 , und damit der unsicheren, unkalkulierbaren und unsteten Barmherzigkeit der anderen anheimgibt, oder ob ihnen sichere, unentziehbare Rechte eingeräumt werden, seien diese auch einigermaßen vage und imbestimmt. Das ist durchaus kein neuer Gedanke. Thomas Hobbes forderte bereits 1651 öffentliche Fürsorge ("Publique Charity"): "And whereas many men, by accident unevitable, become unable to maintain themselves by their labour; they ought not to be left to the Charity of private persons; but to be provided for, (as far-forth as the necessities of Nature require,) by the Lawes of the Common-wealth. For as it is Uncharitablenesse in any man, to neglect the impotent; so it is in the Soveraign of a Common-wealth, to expose them to the hazard of such uncertain Charity" 97 . Eine ebensolche Pflicht erkannte auch das PrALR an: "Dem Staat kommt es zu, für die Ernährung und Verpflegung deijenigen Bürger zu sorgen, die sich ihren Unterhalt nicht selbst verschaffen ... können" (Teil II, Titel 19, § 1). Freilich war auch die Anerkennung dieser Pflicht objektiv-rechtlich in einem naturrechtlichen Verständnis begründet, und diente mehr dem öffentlichen als dem individuellen Interesse, wie der enge Zusammenhang mit den Bestimmungen gegen Bettelei (§§ 4 f.) belegt, und kann wohl ebensowenig wie in den Ausfuhrungen Hobbes' im Sinne eines grundrechtsähnlichen subjektiven Rechtes verstanden werden 98 . Daß sich als echte subjektive Rechte verstandene Förderungsrechte trotz solcher Ansätze und anders als die Schutzrechte99 nicht zusammen mit den Abwehrrechten bereits im 17. und 18. Jahrhundert als das Staatsverständnis prägend durchsetzten, sondern erst im 19. Jahrhundert mit der industriellen Revolution Fuß zu fassen begannen, und schließlich im 20. Jahrhundert insbesondere in Folge von Proletarierelend, 1. Weltkrieg, Inflation und Weltwirtschaftskrise für das deutsche Staatsverständnis mitbestimmend wurden, liegt nicht etwa an der minderen Bedeutung der Förderungsrechte im Vergleich zu den Abwehr- oder Schutzrechten, die es verböte, sie als Grundrechte anzusehen. Zwar hat es Not- und Gefahrenlagen, die nach modernem Grundrechtsverständnis Förderungspflichten auslösen, schon zu allen Zeiten gegeben, ohne daß früher Förderungspflichten angenommen worden wären. Insofern haben sich die realen Schwierigkeiten hinsichtlich der Freiheitsvoraussetzungen nicht vermehrt 100 . Indessen konnte noch im 17. und 18. Jahrhundert kaum Hoffnung bestehen, Not und Elend bewältigen zu können. Die industri9 6
OVG Münster, N V w Z 1993, 202, 203.
9 7
Hobbes, Leviathan, Kapitel X X X , S. [181]. 9 8 Vgl. Hobbes, Leviathan, Kapitel X X X , S. [181]: "But for such as have strong bodies, the case is otherwise: they are to be forced to work". 9 9 1 0 0
S. oben G U 1 b aa. Schwabe , Gmndrechtsdogmatik, S. 252 flf.
II. Zur Existenz grundrechtlicher Leistungsrechte
431
eile Entwicklung sowie die gewaltigen Fortschritte von Wissenschaft und Technik schufen erst die Mittel, die es dem Staat ermöglichen konnten, wenigstens gewisse Mindeststandards zu garantieren. Nun ist aber das Staats- und damit auch das Grundrechtsverständnis jeweils konditioniert durch die wissenschaftliche und technische Entwicklung. Es ist jenseits utopischer Modelle nicht denkbar, etwas nicht zu Leistendes zur wesentlichen Staatsaufgabe zu erheben, gar noch mit einem subjektiven Recht darauf. Mit der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung mußte deshalb eine wesentliche Änderung der Sichtweise eintreten 101 ; zusammen mit der Änderung des Menschenbildes im Zuge der Aufklärung mußte sich so im Verein mit der geschichtlichen Erfahrung die Auffassung von den Staatsaufgaben und damit auch das Verständnis von den Funktionen der Grundrechte wandeln 1 0 2 . Nur deshalb sind die Grundrechte historisch zunächst als Abwehrrechte entstanden. Insbesondere bei der Entstehung des Grundgesetzes wurde als Reaktion auf die immittelbare Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur nahezu zwangsläufig an dieses traditionelle Grundrechtsverständnis angeknüpft und die Betonung auf den Abwehrcharakter der Grundrechte gelegt. Angesichts der damaligen "Ungewißheit aller künftigen Entwicklungen ... sahen die Beteiligten ihre Aufgabe darin, die Grundrechte im Sinne der alten klassischen Grundrechte zu gestalten. Nach einer Zeit fortgesetzter Bedrückung und schwerster Mißachtung der Menschenwürde mußte es als unerläßlich erscheinen, die Achtung vor der Menschenwürde und als eine der notwendigsten Grundlagen dafür die alten Freiheitsrechte zu sichern" 103 . Auch der Grundrechtsteil des Grundgesetzes reflektiert somit den "Geist seiner Z e i t " 1 0 4 , und deshalb kommt den Grundrechten nach grundgesetzlichem Verständnis unzweifelhaft eine primär abwehrrechtliche Funktion z u 1 0 5 . Jedoch: "Gleichzeitig war man sich vollkommen darüber klar, daß es dazu notwendig sein werde, diese Rechte aus den besonderen Verhältnissen der Gegenwart heraus neu zu gestalten und zu formen. Das kam auch in einem ... später wieder gestrichenen Zusatz ... zum Ausdruck, in dem es hieß, daß die Grundrechte 'für unser Volk aus unserer Zeit geformt' worden seien. Trotz
1 0 1
Vgl. BVerfGE 8, 155, 167; OssenbM, NJW 1976, 2105; Selmer, JuS 1968, 492. Vgl. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, S. 57 ff.; Schwabe, Grundrechtsdoematik, S. 260. 1 0 3 1 0 4
v.Mangoldt, Schriftlicher Bericht, S. 5 (Hervorhebungen im Original).
v.Mangoldt, Schriftlicher Bericht, S. 6. BVerfGE 7, 198, 204; 61, 82, 100 f.; Alexy, Theorie, S. 397; Eöckenfirde, NJW 1974, 1537; Hesse, EuGRZ 1978, 430; Klein, Die Gnindrechte im demokratischen Staat, S. 58 f.; v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 16; Ossenbühl, NJW 1976, 2100 f.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 194; Schuppen, EuGRZ 1985, 526; Steiger, Mensch und Umwelt, S. 39. 1 0 5
432
G. Grundrechte als Leistungsrechte
dieser Streichung hat sich im ganzen an Sinn und Inhalt der Grundrechte aber nichts geändert. Das festzustellen, dürfte für die spätere Auslegung von Bedeutung sein. Denn bei einem solchen Charakter ist für die Grundrechte die gerade für sie so wichtige Anpassungsfähigkeit an fortschreitende Entwicklungen in besonderem Maße gesichert." 106 Es griffe nach alledem auch aus geschichtlicher Perspektive zu kurz, die Grundrechte auf ihre abwehr- und eventuell noch schütz- und beistandsrechtliche Dimension zu beschränken, und die forderungsrechtliche auszuklammern. Dem Menschenbild des Grundgesetzes entspricht die selbstbestimmte Person 1 0 7 . Deren Freiheit aber muß zwecks Aufrechterhaltung ihrer Autonomie einen bestimmten Soll-Bestand haben: Durch die zunehmende Komplexität der Gesellschaft und die damit einhergehende Interdependenz aller Beziehungen hat das Individuum notwendig an Autonomie verloren 108 ; der einzelne kann, auch ohne daß ihn ein besonderes Unglück träfe, die vielfältigsten Angelegenheiten nicht ohne staatliche Mitwirkung und Förderung bewältigen 109 . Die unvermeidliche Einbuße an Autonomie in der modernen Gesellschaft muß durch einen Zuwachs der staatlichen Förderungspflichten begleitet sein, sonst büßte der einzelne seine Freiheit weitgehend ein. Die forderungsrechtliche Dimension der Grundrechte ist eine Reaktion auf diese Abhängigkeit vom modernen Staat 110 . Wie die Abwehrrechte "der Allmacht des Staates Schranken" setzen 111 , so limitieren die Förderungsrechte die Abhängigkeit vom Staat: sie entziehen ob ihrer Wichtigkeit die Entscheidung über die Erbringung der Förderung der einfachen (politischen) Mehrheit 112 und verhindern so die Vorenthaltung notwendiger Leistungen durch den Staat. Die Anerkennung einer forderungsrechtlichen Dimension der Grundrechte ist daher nur die konsequente Übertragung des Grundanliegens der Grundrechte - nämlich den Bürger in seinem Verhältnis zum Staat vor zu großer Abhängigkeit zu bewahren - auf die heutigen Lebensbedingungen113.
1 0 6 1 0 7
v.Mangoldt, Schriftlicher Bericht, S. 5. S. oben C 11 a.
1 0 8 Vgl. Alexy, Theorie, S. 459; Breuer, Grundrechte als Anspnichsnormen, S. 90 f.; Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 170. 1 0 9 Vgl. Di Fabio, JZ 1993, 690; Hesse, EuGRZ 1978, 430. 1 1 0 Vgl. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 234, 237; Herren, Faktische Beeinträchtigungen, S. 92. 1 1 1
v.Mangoldt, Schriftlicher Bericht, S. 5; vgl. ferner Sass, Art. 14 GG, S. 238 f.
1 1 2
Vgl. Alexy, Theorie, S. 408 f., 465.
in
Wenn hiernach die Förderungsrechte der Kompensation sozialer Abhängigkeiten vom Staat dienen, so ist zu beachten, daß sie umgekehrt nicht zur Schaffung neuer Abhängigkeiten fuhren dürfen. Die strikte Achtung des Subsidiaritatsprinzips verträgt sich daher nicht nur mit den Förderungsrechten, sie ist sogar geboten.
II. Zur Existenz grundrechtlicher Leistungsrechte
433
c) Inhaltliche Reichweite der Förderungsrechte Abstrakt ist die Angabe des durch die Förderungsrechte garantierten Solls an Freiheit schwierig. Erster Anhaltspunkt für die Bestimmung des forderungsrechtlichen Solles ist der in Art. 19 Abs. 2 GG in bezug genommene "Wesensgehalt" der Grundrechtsgüter. Wenn dieser nämlich "in keinem Falle ... angetastet werden" darf, so versteht das Grundgesetz den Wesensgehalt offenbar als einen so wichtigen Kern der Freiheit, daß er nicht nur gegenüber abwehrrechtlich relevanten Eingriffen zu schützen ist, sondern auch Gegenstand der Förderungspflicht sein muß 1 1 4 . Es wäre wertungswidrig, jenen wesentlichen wesensmäßigen Gehalt einer Freiheit abwehrrechtlich absolut zu schützen, dann aber nicht den Förderungsrechten zu unterstellen. Aus der Diskussion zu Art. 19 Abs. 2 GG erhellt freilich auch, wie unpräzise dieser Maßstab i s t 1 1 5 . Einen präziseren Anhaltspunkt liefert die Verallgemeinerung der benannten Förderungsrechte, insbesondere Art. 6 Abs. 4 und 5 GG. Ein Förderungsrecht besteht immer dann, wenn jemand nicht vorwerfbar in eine Situation kommt, in der er aufgrund seiner persönlichen oder sonstigen Verhältnisse Gefahr läuft, dauerhafte schwere Nachteile zu erleiden, oder wenn er zwar vorwerfbar in eine solche Situation gerät, doch die Nachteile in keinem Verhältnis zu der Vorwerfbarkeit stehen, ohne sich dieser Gefahr selbst entziehen zu können, so daß für ihn der Wert bestimmter Freiheiten auf Null zu sinken droht 1 1 6 . In diesem Sinne geht es entsprechend dem durch Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG garantierten "fürsorgerischen Existenzminimum"117 um die Sicherung eines "Minimalstandards" 118. Der förderungsrechtliche Soll-Wert bemißt sich nach dem zur Abwendung solcher "Notlagen" 119 Erforderlichen. Voraussetzung staatlicher Förderungspflichten ist damit das Vorliegen einer
1 1 4 Vgl. BVerfGE 61, 82, 113; Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 369 f.; Krebs, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 19 Rdnr 26. 1 1 5 S. nur Krebs, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 19 Rdnr 22; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 342 ff. 1 1 6
Ähnlich Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, S. 99, 113; Dürig, in Maunz/Dürig, GG, Art. 2 n (Lfg. 1958) Rdnr 27; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 238; Steiger, Mensch und Umwelt, S. 52. In diese Richtung auch Alexy, Theorie, S. 466; Eyermann/Fröhier, VwGO, § 42 Rdnr 174; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 108. 1 1 7 Dürig, in Maunz/Dürig, GG, Art. 1 (Lfg. 1958) Rdnr 43; ferner Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, S. 95; Rauschning, W D S t R L 38 [1980], 181; Scholz, JuS 1976, 234; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 264 f. 1 1 8 Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, S. 94; Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 239; zustimmend Lübbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 180. Alexy, Theorie, S. 466 anerkennt "minimale soziale Grundrechte" und Schenke, Der Staat 1976, 569 eine "Mindestteilhabe". Offen gelassen von BVerwGE 70, 310, 313 zu Art. 5 1 2 GG, bejaht von Hoffinann-Riem, in AK, Art. 5 I , n Rdnr 98. 1 1 9 Steiger, Mensch und Umwelt, S. 52.
434
G. Grundrechte als Leistungsrechte
"notstandsähnlichen Zwangssituation"120. Förderungsansprüche kommen daher um so eher in Betracht, je bedeutsamer das gefährdete Grundrechtsgut bzw. je gravierender die Unterschreitung gewisser Standards erscheint 121 . Nicht zuzustimmen ist andererseits etwa Hüberle, wenn er - weit über das hier Vertretene hinaus - ein "Optimum an realer Freiheit" verlangt und fordert, der Leistungsstaat müsse " Voraussetzungen und Bedingungen dafür schaffen, daß alle tatsächlich von der Freiheit gleichen Gebrauch machen können" 1 2 2 . Zwar versteht er diese Förderungspflichten nur objektiv-rechtlich und nicht als subjektive Ansprüche des Grundrechtsträgers 123. Doch selbst mit dieser Beschränkung läßt sich eine so weitgehende (objektive) Förderungspflicht den Grundrechten nicht entnehmen. Denn zwar ist die Freiheit ohne die tatsächlichen Voraussetzungen, sie wahrnehmen zu können, wertlos, doch damit Freiheit sinnvoll existiert, genügt es, daß ein jeder sie überhaupt nutzen kann; daß ihr Gebrauch gleich sein soll, läßt sich damit nicht begründen. Entgegen Häberle geht es nicht an, die grundrechtliche Statuslehre einfach "umzubauen"124, um damit das Rangverhältnis von status negativus und status positivus umzukehren, denn nach der Vorstellung des Grundgesetzes sind die Grundrechte jedenfalls primär Abwehrrechte; eventuelle Förderungsrechte lassen sich daher nur in dem Sinne begründen, daß sie Mindeststandards an Freiheit garantieren müssen, damit die Grundrechte noch als Abwehrrechte sinnvoll bleiben. Weitergehende Förderungsrechte lassen sich unter dem Grundgesetz, das insofern in bewußter Abkehr von solchen Vorstellungen der Weimarer Reichsverfassung entstand, nicht nachweisen125. Zwar mag der Staat in Verfolgung des Sozialstaatsprinzips unter Berücksichtigung der in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden objektiven Wertordnung und Wertschätzung der Grundrechtsgüter eine über die Gewährleistung des Mindeststandards hinaus gehende Grundrechtsgutsförderung betreiben, um den Begünstigten ein höheres als das Mindestmaß an Freiheitsgenuß zu ermöglichen 126. Doch eine objektiv-rechtliche Pflicht zu einer solchen Grundrechtsgutsforderung besteht nicht, und erst recht besteht daher kein
1 2 0
Vgl. V G H München, NVwZ-RR 1993, 190, 194.
1 2 1
Vgl. Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 740. Häberle, W D S t R L 30 [1972], 96 (Hervorhebung im Original); ihm zustimmend Bleckmann/Eckhoff,i DVB1. 1988, 378; ahnlich Friauf, DVB1. 1971, 676; Krebs, Vorbehalt des Gesetzes, S. 122. 1 2 2
1 2 3
S. hiergegen oben G 12.
1 2 4
Häberle, W D S t R L 30 [1972], 80 ff.
1 Vgl. Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, S. 92 f., 113; ferner Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 200 (gegen ein "Recht auf Herstellung unbegrenzt vieler Handlungsmöelichkeiten"); Schenke, Der Staat 1976, 569. 1 2 6 Vgl. BVerfGE 80, 124, 134. Das BVerfG spricht hierin von "Grundrechtsforderung", doch "Grundrechtsgutsforderung" scheint präziser, weil nicht etwa das Recht gefördert wird, sondern das Grundrechtsgut.
II. Zur Existenz grndrechtlicher Leistungsrechte
435
subjektives Förderungsrecht darauf. Zur Vermeidung von Mißverstandnissen empfiehlt es sich daher, in bezug auf eine vom Burger vielleicht gewünschte Grundrechtsgutsforderung nicht von einem "Recht" zu reden, und genau zu unterscheiden, ob ein Förderungsrecht geltend gemacht wird oder der Staat lediglich darüber hinaus Grundrechtsgutsforderung betreibt. Die nachfolgenden, keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebenden Beispiele in Betracht kommender Förderungsrechte mögen einen Eindruck von ihrer - begrenzten - Tragweite geben. Schon früh leitete das BVeiwG aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG einen konkreten Förderungsanspruch auf Impfung h e r 1 2 7 . Daneben gibt es Förderungsrechte auf Schaffung gewisser Rechtsinstitute, welche zur Sicherung eines Mindestmaßes an rechtlicher Handlungsfähigkeit erforderlich 128 und hierzu vom Gesetzgeber "leitbildgerecht" auszugestalten 1 2 9 sind. Als Beispiele sind zu nennen die Privatrechts- und Vertragsordnung 1 3 0 , sowie die Vereinsrechtsordnung 131. Art. 5 Abs. 3 GG gibt, da eine Verweisung auf das Privatgelehrtentum unter den heutigen Bedingungen nicht mehr befriedigte, gewisse Organisationsansprüche 132. Art. 6 Abs. 1 GG verbürgt ein Recht auf Schaffung eines adäquaten Ehe- und Familienrechts, und Art. 6 Abs. 2 GG verpflichtet den Staat, den Eltern die zur Ausübung der Elternverantwortung erforderlichen rechtlichen Befugnisse einzuräumen 133. Art. 8 GG dürfte einen grundsätzlichen Anspruch auf die Nutzung öffentlicher Straßen und Plätze für die Durchführung von Großdemonstrationen und -Versammlungen geben, weil sonst solche Veranstaltungen faktisch ganz unmöglich wären 1 3 4 . Schließlich bedarf es einer Eigentumsordnung, die ein Mindestmaß an Privatnützigkeit gewährt 135 . Letztere Frage bezieht sich auf den notwendigen Inhalt des Eigentumsinstitutes136. Davon zu unterscheiden ist die 1 2 7
BVerwGE 9, 78, 80 f.
1 2 8
Zur Bedeutung solcher Rechtsinstitute für die Verwirklichung (rechtlicher) Freiheit Alexy, Theorie, S. 442 ff.; Häberie, Wesensgehaltgarantie, S. 96 ff., 192 ff. 1 2 9 1 3 0 1 3 1 1 3 2
Vgl. hierzu Häberie, Wesensgehaltgarantie, S. 182 ff. Vgl. Alexy, Theorie, S. 442 ff. Alexy, Theorie, S. 437; Häberie, Wesensgehaltgarantie, S. 98. Vgl. BVerfGE 35, 79, 114 f.; Alexy, Theorie, S. 446 ff.
1 3 3
BVerfGE 84, 168, 179 f. Das ist freilich nicht mit einer von Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 8 (Lfg. 1987) Rdnr 42 ff. abgelehnten "allgemeinen Förderungspflicht" zu verwechseln. 1 3 4
1 3 5 1 3 6
S. oben D ü 2 a a a .
Herzog, Grundrechte aus der Hand des Gesetzgebers, S. 1425 f. und Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 244 f. stutzen den Mindestinhalt des Eigentumsinstitutes nicht auf ein förderungsrechtliches Soll, sondern auf die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 U GG. Daß sich die Ergebnisse decken, verwundert dabei nicht, da der "Wesensgehalt" einer Freiheit dem garantierten Soll entspricht (s. vorstehend). Dogmatisch ist gleichwohl eine forderungsrechtliche Verankerung überzeugender als eine solche in Art. 19 n GG. Denn Art. 19 I I GG hat einen Eingriff in Abwehrrechte vor Augen, mithin die Situation, daß ein Gnindrechtsgut existiert, und es lediglich - negativ - um die Limitierung der zulässigen Beeinträchtigung desselben geht. Bei der gesetzlichen Schaffung einer Eigentumsordnung geht es aber nicht um die (begrenzungsbedürfti-
436
G. Grundrechte als Leistungsrechte
weitere Frage, ob es auch ein forderungsrechtlich garantiertes Soll gibt, Eigentum zu haben. Das ist zu verneinen. Art. 14 GG kennt kein Soll, Eigentum zu haben, sondern nur den, Eigentum erlangen zu können. Denn der Eigentumsschutz bleibt auch für den sinnvoll, der momentan nichts hat, wenn er nur die Chance hat, überhaupt wieder Eigentum - wenn auch in bescheidenem Umfang zum persönlichen Gebrauch - erwerben zu können 137 . Ein Eigentumsverschaffungsanspruch kann daher gemäß den den Förderungsrechten zugrunde liegenden Gedanken dem Art. 14 GG nicht entnommen werden 138 .
3. Keine durchgreifenden Einwände gegen Leistungsrechte Gegen die Anerkennung von Schutz- und Beistandsrechten, vor allem aber gegen die von Förderungsrechten werden eine Reihe von Einwanden vorgebracht, die im Ergebnis allerdings nicht durchgreifen. a) Unmöglichkeit Wenn gegen ein leistungsrechtliches Grundrechtsverständnis eingewandt wird, "daß die Grundrechte nicht beides zugleich sein können: Ansprüche auf staatliche Aktion und auf deren Negation" 139 , so ist diese Aussage nur richtig, wenn man sie auf ein- und diesselbe staatliche Handlung und ein- und denselben Bürger bezieht. Natürlich kann niemand eine staatliche Handlung gleichzeitig fordern und verbieten wollen. Etwas so Unsinniges wurde aber auch noch nie behauptet! Keineswegs ist indessen logisch ausgeschlossen, daß jemand eines verlangt und ein anderes verbietet. Die Abwehr einer Freiheitsbeeinträchtigung und das Fordern einer Freiheitsbewahrung oder gar Freiheitsforderung sind nicht dasselbe, da ein Trager öffentlicher Gewalt den Freiheitsbestand noch lange nicht dadurch erhöht, daß er ihn nicht reduziert 140 . In je verschiedenen Situationen kann ein Grundrechtsträger unterschiedliche Ziele haben. Gegen die Anerkennung grundrechtlicher Leistungspflichten wird ferner eingewandt, diese stünden unter dem Vorbehalt des (finanziell) Möglichen, ge) Beeinträchtigung von Grundrechtsgütern, sondern um die Konstituierung einer rechtlichen Freiheit. Diese Konstituierung ist aber einer durch Alt. 19 I I GG bezweckten Begrenzung nicht zugänglich; vielmehr ist ein Mindestmaß zu fordern, das sich in positiver Ausrichtung nur in einerförderungsrechtlichen Sichtweise verstehen läßt. In diesem Zusammenhang sind auch die Pfändungsschutzbestimmungen der §§ 811, 850 ff. ZPO zu sehen, da es nicht zulässig wäre, den Schuldner auf Dauer sämtlichen Eigentums zu berauben. 1 3 8
14Q
1 4 0
Vgl. Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 747 f. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, S. 72. Bethge, Grundrechtskollisionen, S. 218 f.
II. Zur Existenz grundrechtlicher Leistungsrechte
437
und könnten deshalb keinen Verfassungsrang haben, weil sonst die Grundrechte zu sehr relativiert würden 141 . In der Tat stünden etwaige Leistungsrechte als eine Art "umgekehrter Verhältnismaßigkeitsprüfung" 142 unter einem Vorbehalt des Möglichen 143 ; das ergibt sich ohne weiteres aus dem Grundsatz 'ultra posse nemo obligatur'. Doch auch danach fíele ein Leistungsrecht nur dann weg, wenn die Unmöglichkeit seiner Erfüllung feststeht. Die bloße Möglichkeit 9 daß eine Pflicht unerfüllbar sein könnte, genügt niemals für ihren Wegfall, da es sonst praktisch keine existenten Rechte mehr gäbe, weil theoretisch jedes Recht unerfüllbar sein bzw. werden kann 1 4 4 . Zudem ist der Unmöglichkeitseinwand schon unter Hinweis auf die benannten Leistungsrechte zu entkräften, die sämtlich selbstverständlich ebenso unter dem Vorbehalt des Möglichen stehen und dennoch als bindende verfassungsrechtliche Rechte anzusehen s i n d 1 4 5 » 1 4 6 . Im übrigen sind die finanziellen Folgen der Anerkennung von Leistungsrechten, jedenfalls bei der gebotenen Beschränkung auf den Minimalstandard, keineswegs weitreichender als die auf einen Abwehranspruch gestützte Nichtigerklärung so manchen Gesetzes 1 4 7 ' 1 4 8 . Folglich lassen sich auch eventuelle finanzielle Konsequenzen nicht prinzipiell gegen Leistungsrechte anführen. Die Anerkennung von notwendigerweise an sehr enge Voraussetzungen geknüpften grundrechtlichen Schutz-, Beistands- und Förderungsrechten dürfte schließlich keine Probleme hinsichtlich der Praktikabilität aufwerten 149 , da sie lediglich Mindeststandards garantieren, nicht aber umfassende Vorteilsgewährungen.
1 4 1 Vgl. Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 207 f.; Böckenförde, NJW 1974, 1536; v.Mangoldt/KIein/Starck, GG, Art. 1 Rdnr 118; Martens, W D S t R L 30 [1972], 31. Ähnlich Scherzberg, Grundrechtsschutz, S. 145. G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 200 f. bezieht den Einwand der finanziellen Last nur auf Förderungsrechte, nicht auf Schutzrechte. Die "Relativierung des Grundrechtsschutzes" nimmt Friauf, DVB1. 1971, 677 ausdrücklich in Kauf. 1 4 2
Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 240.
1 4 3
BVerfGE 33, 303, 333; 43, 291, 313 f.; 87, 1, 35; V G H München, NVwZ-RR 1993, 190, 193 f.; Alexy, Theorie, S. 414; Bieback, EuGRZ 1985, 664; Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 211; Böckenförde, NJW 1974, 1536; Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 240; G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 244; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 145; Martens, W D S t R L 30 [1972], 31; Papier, DVB1. 1984, 814; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 162. 1 4 4
Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 719.
1 4 5
Vgl. BVerfGE 87, 1, 41; ferner Häberle, W D S t R L 30 [1972], 113.
14 ^ Auch der verfassungsrechtlich in Art. 33 V GG gewährleistete Alimentationsanspruch des Beamten steht unter einem Vorbehalt der "Belastbarkeit des Dienstherrn" (BVerfGE 81, 363, 384), ohne deshalb seine Rechtswirksamkeit einzubüßen. 1 4 7 1 4 8
Ulbbe-Wolff,
Eingriffsdogmatik, S. 39 f.; Schneider, AöR 89 [1964], 46 f.
So sind etwa infolge der Verschiebung der Volkszählung Kosten von an die 100 Mio. D M (!) nutzlos aufgewendet worden, vgl. BVerfGE 64, 67, 71. 1 4 9 Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 237 f.
438
G. Grundrechte als Leistungsrechte
b) Unbestimmtheit Gegen Leistungsrechte wird immer wieder eingewandt, sie seien zu unbestimmt. als daß sie rechtlich bindend sein könnten 150 . Indessen verwendet das Grundgesetz viele vage Begriffe und die Notwendigkeit ihrer Präzisierung durch Legislative, Exekutive oder Judikative ist nichts Ungewöhnliches151. Zur Anerkennung staatlicher Leistungspflichten ist nicht erforderlich, daß ihr Inhalt schon auf den ersten Blick offensichtlich ist. Vielmehr genügt ihre Bestimmbarkeit, und nur eine inhärente und also unbehebbare Unbestimmtheit schlösse die Existenz von Leistungsrechten aus. Eine solche Unbestimmbarkeit ist aber schon im Hinblick auf die benannten Leistungsrechte nicht anzunehmen 152 . Wenn etwa Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG dem Staat den Schutz der Menschenwürde aufgibt (Schutzpflicht) bzw. ihn zur Garantie eines menschenwürdigen Lebens verpflichtet (Förderungspflicht), so mag zwar die abstrakte Bestimmung des vom Staat Geschuldeten schwierig sein; und dennoch schweben dem Grundgesetz hier echte Rechtspflichten und Ansprüche der Menschen vor. Auch Art. 6 Abs. 5 GG ist nicht bestimmter als die unbenannten Leistungsrechte, und dennoch wird ihm zurecht ein "hinreichend klarer positiver Rechtsgehalt" bescheinigt153. Wenn gelegentlich gesagt wird, Legislative und Exekutive hätten bei der Erfüllung von Leistungspflichten einen weiten Gestaltungsspielraum154, so impliziert auch dies kein zur rechtlichen Unbeachtlichkeit führendes Maß an Unbestimmtheit. Ermessensentscheidungen sind ein allgemeines Phänomen und kein Argument gegen Leistungsrechte. Die genaue Bestimmimg des zur Erfüllung von Schutz-, Beistands- oder Förderungsrechten Erforderlichen ist nicht prinzipiell schwieriger als die exakte Definition des abwehrrechtlichen Schutzbereiches, ohne welche die Feststellung eines Eingriffs in ein Abwehrrecht unmöglich ist; und im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung bedarf es oftmals einer Beurteilung der Geeignetheit und Erforderlichkeit von zur Zielverfolgung eingesetzten Maßnahmen, welches gleichfalls schwierige Prognoseentscheidungen abverlangen kann 1 5 5 , ohne daß deshalb die Abwehrrechte als "zu unbestimmt" oder nicht justitiabel eingeschätzt würden 156 . Im übrigen mag es zwar sein, daß sich die Gerichte bei ihrer Kontrolle dort ganz besondere Zurückhaltung auferlegen, wo es - wie gerade auch bei Leistungsrechten 1 5 0
Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 289; Wahl/Masing,
1 5 1
Alexy, Theorie, S. 462; Bieback, EuGRZ 1985, 664. Vgl. Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 173 f.; ferner Murswiek, WiVerw 1986, 192.
1 5 2
JZ 1990, 558.
1 5 3
BVerfGE 25, 167, 182; Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 6 (Lfg. 1980) Rdnr 45.
1 5 4
Etwa BVeifGE 46, 160, 164; BVerfG (2. Kammer des 1. Senats), NJW 1987, 2287.
1 5 5 Vgl. BVerfGE 38, 61, 87 f.; 50, 290, 332 f.; 83, 130, 141 f.; Alexy, Theorie, S. 426 f.; Dirnberger, DVB1. 1992, 881 f. 1 5 6 Vgl. Alexy, Theorie, S. 423 ff., 427 f., 467; Dirnberger, S. 174 f.
Recht auf Naturgenuß,
II. Zur Existenz gndrechtlicher Leistungsrechte
439
- um überaus komplexe Sachverhalte gehen kann, die schwierige Prognoseentscheidungen erfordern. Ein solches "judicial self-restraint" gegenüber dem Parlament oder der Regierung hat jedoch demokratie- und gewaltenteilungstheoretische Gründe 157 , und stellt keine immanente Schwäche speziell der Leistungsrechte dar 1 5 8 . c) Unmittelbare
Vollziehbarkeit
Eng mit dem (unberechtigten) Unbestimmtheitsvorwurf verwandt, wird gegen die Anerkennung von Leistungsrechten vor allem eingewandt, Leistungsrechte seien im Gegensatz zu Abwehrrechten nicht unmittelbar vollziehbar, bedürften vielmehr erst der Konkretisierung und Aktualisierung durch den Gesetzgeber; und weil erst diese gesetzliche Regelung vollzugsfähige subjektive öffentliche Rechte begründe 159 , aber freilich nur mit einfachgesetzlichem Rang 1 6 0 , könne man keine Leistungsrechte im Grundrechtsrang anerkennen. Wiewohl dieser Einwand in den Fällen der Grundrechtsgutsforderung zutreffen mag, greift er doch aus mehreren Gründen nicht gegen die prinzipielle Anerkennung grundrechtlicher Leistungsrechte durch. Es ist zwar in Mode gekommen, Eingriffe in Abwehrrechte dadurch charakterisiert zu sehen, daß jedem eingreifenden Handeln des Staates ein "definites verfassungsmäßiges Gegenteil" entspreche 161. Das ist nun insofern trivial, als jedem Handeln das Unterlassen eben dieses Handelns entgegengesetzt ist. Wenn daraus jedoch abgeleitet wird, also könnten Leistungsrechte insoweit den Abwehrrechten nicht gleichgestellt werden, als den sich gegen ein Unterlassen richtenden Leistungsrechten eben kein definites verfassungsmäßiges Tun entspreche - was für viele Fälle zweifellos zutrifft 162 -, und es folg-
1 5 7
Vgl. BVerfGE 56, 54, 81; BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NJW 1983, 2931, 2932; Dirnberger, DVB1. 1992, 881 f. 1 5 8 Vgl. Dirnberger, DVB1. 1992, 881. 1 5 9 Bethge, Grundrechtskollisionen, S. 224 ff.; Bleckmann, Grundrechte, S. 211; Böckenförde, NJW 1974, 1536 Fn. 85; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 289; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 152; Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, S. 65 f.; Martens, W D S t R L 30 [1972], 30 f.; v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 20; Wahl/ Masing, JZ 1990, 558 f. Die prinzipielle weitgehende Ablehnung leistungsrechtlicher Schutzpflichten durch Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 213 ff. beruht konsequent auf seiner Ausdehnung des Anwendungsbereiches der Abwehrrechte; da sich indessen eine abwehrrechtliche Verantwortlichkeit für bloßes Nichtverbieten nicht überzeugend begründen läßt (s. oben F D 1 c aa), greift nun hier die Ablehnung von Schutzpflichten nicht mehr durch. Gegen Schwabe auch Alexv, Theorie, S. 417 ff. 1 6 0
Bethge, Grundrechtskollisionen, S. 231 ff. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 238, 434; Lübbe-Wolff, S. 40; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 133; Wahl/Masing, JZ 1990, 558. 1 6 2 Alexy, Der Staat 1990, 62: "struktureller Spielraum". 1 6 1
Eingriffsdogmatik,
440
G. Grundrechte als Leistungsrechte
lieh an ihrer Justitiabilität oder ihrem subjektiv-rechtlichen Charakter fehle 1 6 3 , so ist letzterer Schluß irrig. Zunächst ist darauf zu verweisen, daß Leistungsrechte gerade im Hinblick auf ihren Zweck, Mindeststandards an Schutz, Beistand oder Förderung zu gewährleisten, durchaus so konkretisiert sein können, daß sie genau ein Tun erfordern 164 ; jedenfalls dann wären sie unmittelbar vollziehbar 165 . Davon abgesehen darf das Problem der unmittelbaren Vollziehbarkeit nicht auf das Primärrecht beschränkt werden. Dann zeigt sich aber, daß auch abwehrrechtliche Sekundaransprüche nicht stets unmittelbar vollziehbar sind, dann nämlich, wenn etwa zur Beseitigung einer Beeinträchtigimg verschiedene Wege offenstehen. So beläßt es das BVerfG in ständiger Rechtsprechung bei Verstößen eines Gesetzes gegen den Gleichheitssatz aufgrund der meist gegebenen Mehrzahl von Abhilfemöglichkeiten bei der Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Norm, und hebt diese nur ausnahmsweise auf bzw. erstreckt die gleichheitswidrig vorenthaltene Begünstigung nur dann auf den Benachteiligten, wenn ausnahmsweise andere Abhilfemöglichkeiten auch auf Seiten des Gesetzgebers ausscheiden166. Daß der Eingriff in ein Abwehrrecht ein "definites verfassungsmäßiges Gegenteil" habe, gilt allenfalls für die Zeit vor der Vornahme der Handlung, nicht aber für die danach. Es trifft nicht zu, daß die Rechtsfolge einer Abwehrrechtsverletzung stets "unbezweifelbar" feststeht 167. Nach Schaffimg der Gefahr oder gar nach Verwirklichimg derselben können mehrere Alternativen zur Herbeiführung des abwehrrechtlich gebotenen Zustandes bestehen. Ferner ist darauf zu verweisen, daß selbst scheinbar klare abwehrrechtliche Sekundäransprüche nicht stets unmittelbar vollziehbar zu sein brauchen. Das BVerfG begnügt sich gelegentlich mit der Feststellung der Pflicht des Gesetzgebers zu einer Neuregelung, beläßt diesem aber speziell bei "komplexen und sich entwickelnden Sachverhalten ... einen angemessenen Zeitraum ..., um Erfahrungen zu sammeln, Klarheit zu gewinnen und Mängeln einer Regelung abzuhelfen" 168. Gleiches gilt, wenn die sofortige Erfüllung eines abwehr1 6 3
Lübbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 40; Wahl/Masing, JZ 1990, 558 f. Vgl. Alexy, Theorie, S. 422 f.; ders., Der Staat 1990, 63; Fluck, UPR 1990, 83; Huber, Konkurrenzschutz, S. 290; E. Klein, NJW 1989, 1637; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 723; für "seltene" Fälle auch Rauschning, W D S t R L 38 [1980], 183. 1 6 4
1 6 5
Das konzedieren auch Wahl/Masing,
1 6 6
Steiger, Mensch und Umwelt, S. 58 f. S. dazu oben G i l b .
JZ 1990, 559.
1 6 7 So aber Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 238, der die "Annullierung des Akts" meint. Auch Lübbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 40 f. spricht als Beleg für ihre These nur von der "Kassation des grundrechtswidrigen Aktes, d.h. durch Anordnung seines verfassungsmäßigen Gegenteils". Desgleichen G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 221. - Indessen wird die bloße Nichtigerklärung eines Gesetzes oder die Aufhebung eines Verwaltungsakts oftmals nicht zur Wiedelherstellung der Integrität der beeinträchtigten Grundrechtsgüter ausreichen. Gerade deshalb gibt es schließlich die Folgenbeseitigungs- und tertiären Entschädigungsansprüche. 1 6 8
BVerfGE 83, 1, 21 f.; s. schon 33, 171, 189 f.; 80, 1, 26.
II. Zur Existenz grundrechtlicher Leistungsrechte
441
rechtlichen Sekundaranspruchs zu Zustanden führte, die noch weniger mit dem Grundgesetz vereinbar wären als der abwehrrechtswidrige gegenwärtige 1 6 9 . Angesichts solcher Beschränkungen, die die unmittelbare Vollziehbarkeit von Abwehransprüchen erfährt, kann das mögliche Fehlen unmittelbarer Vollziehbarkeit kein durchschlagendes Argument gegen Leistungsrechte sein. In jedem Fall aber ist die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Vernachlässigung von Leistungsrechten denkbar 170 , und wenn dies auch kein unmittelbar vollzugsfähiges subjektives öffentliches Recht verschafft, so wäre das allemal besser als den Grundrechtsträger ganz schutzlos zu stellen und ihm noch nicht einmal diese Möglichkeit zu geben. Diese Feststellung kann sogar in Anlehnung an die Verfassungsbestimmung des Art. 117 Abs. 1 GG - mit der Verpflichtung verbunden werden, innerhalb einer bestimmten Frist Abhilfe zu schaffen 171. Die Feststellung eines verfassungswidrigen gesetzgeberischen Unterlassens bedeutet für einen Kläger konkret, daß seine Klage selbst dann, wenn er keinen unmittelbar justitiablen Anspruch haben sollte, eben nicht als unbegründet abzuweisen, sondern auszusetzen und nach Erlaß des fraglichen Gesetzes wiederaufzunehmen ist 1 7 2 . Weiterhin ist darauf hinzuweisen, daß auch benannte Leistungsrechte auf unterschiedliche Weise zu erfüllen sein können 173 und daher nicht notwendigerweise unmittelbar vollziehbar sein müssen, sondern "teilweise ohne vorhergehende eingehende Regelung durch ein Gesetz nicht zu verwirklichen" 174 sind. Hier ist etwa auf Art. 6 Abs. 5 GG zu verweisen, wo sich der Gesetzgebungsauftrag schon aus dem Wortlaut ergibt. Doch auch diese Gesetzesbedingtheit gilt eben nur "teilweise". Und zugleich belegt das Beispiel des Art. 6 Abs. 5 GG, daß die Nichterfüllung eines Auftrages zur gesetzlichen Umsetzung eine verfassungsrechtliche Leistungspflicht nicht endlos aufschieben kann, sondern diese sich bei zu langem Zögern des Gesetzgebers in einen unmittelbar bindenden und vollziehbaren Anspruch umzuwandeln vermag 175 . Wenn dies aber bei benannten Leistungsrechten möglich ist, so auch bei unbenannten, und hieraus ergibt sich ein letztes Argument gegen die unter Hinweis 1 6 9
BVerfGE 83, 130, 154.
1 7 0
So ausdrücklich BVerwGE 79, 154, 156 (wenn auch in concreto ungenau bezogen auf Alt. 7 I V GG); ferner Alexy, Theorie, S. 467 f.; Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 175; Fluck, UPR 1990, 83; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 158; G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 214; E. Klein, NJW 1989, 1638 f.; Schenke, Rechtsschutz, S. 341; Schneider, AöR 89 [1964], 40 f. 1 7 1
BVerfGE 33, 1, 13; Alexy, Theorie, S. 468.
1 7 2
BVerfGE 39, 316, 333; BVerwGE 79, 154, 157. Vgl. auch BVerfGE 81, 363, 385 f. Stern, Staatsrecht ffl/1, S. 710 f.
1 7 3 1 7 4 1 7 5
v.Mangoldt, Schriftlicher Bericht, S. 6.
Zu Art. 6 V GG s. BVerfGE 25, 167, 178 ff.; Jarass/Pieroth, v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 6 Rdnr 52 f.
GG, Art. 6 Rdnr 33; EM.
442
G. Grundrechte als Leistungsrechte
auf eine etwaige Notwendigkeit gesetzlicher Umsetzung erfolgende Verneinung der Existenz unbenannter Leistungsrechte. Zwar mag ein ein gesetzgeberisches Unterlassen überspielendes verfassungsunmittelbares Leistungsrecht im Normalfall ausscheiden176. Ein ohne vorherige gesetzliche Umsetzung vollziehbares Leistungsrecht kann sich aber jedenfalls dann ergeben, wenn sich die Gefahr, vor der zu schützen, oder die Notlage, in der fürsorgend tätig zu werden ist, so verdichten, daß bloß noch ein Ausweg bleibt 1 7 7 . In einem solchen Fall müssen die Gerichte dem Grundsatz des Art. 1 Abs. 3 GG, der schließlich auch für den untätig bleibenden Gesetzgeber g i l t 1 7 8 , dadurch Rechnung tragen daß sie dem Verfassungswillen anderweitig Geltung verschaffen 179. Dabei können sie sogar zu einer " rechtsschöpferischen Lückenfüllung" greifen, wenn der Rechtsgehalt der Leistungspflicht hinreichend bestimmt i s t 1 8 0 . Aufgrund einer fehlenden "unmittelbaren Vollziehbarkeit" können nach alledem Leistungsrechte nicht grundsätzlich negiert werden. d) Grundgesetzliche Kompetenzordnung Keine Bedenken erweckt die Anerkennung von Leistungsrechten im Hinblick auf die grundgesetzliche Kompetenzordnung. Denn Leistungsrechte lassen die Verbandskompetenz (d.h. die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, sowie gegebenenfalls sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts) ebenso unberührt wie die allgemeinen sachlichen, örtlichen und funktionellen Zuständigkeiten der im Einzelfall zur Leistungserbringung berufenen Stelle 181 . Denn obschon die Grundrechte auch in ihren leistungsrechtlichen Aspekten alle staatliche Gewalt binden (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 GG), so bedeutet diese Bindung doch nur, daß jeder Träger öffentlicher Gewalt das ihm nach der vom Grundgesetz vorgezeichneten Kompetenzordnung Mögliche tun muß. Die Grundrechte binden bei der Wahrnehmung bestehender Kompetenzen, begründen jedoch nicht selbst Kompetenzen182. Es ist daher nicht möglich, von dem Vorliegen von Aufgaben auf die Zuständigkeit jeder Stelle zu schließen, die diese wahrnehmen könnte. Die Kompetenzordnung tritt insofern selbständig neben die materiel1 7 6
BVerwGE 79, 154, 156 f.; BVeiwG, N V w Z 1989, 959.
1 7 7
Vgl. BVerfGE 2, 336, 340 f.; Schwabe, Giundrechtsdogmatik, S. 207 f. ("im Extremfall"); Steiger, Mensch und Umwelt, S. 58 f.; Stern, Staatsrecht ffl/1, S. 738. BVerfGE 2, 336, 340; ahnlich Scherzberg, DVB1. 1989, 1134; Steiger, Mensch und Umwelt, S. 49. Vgl. ferner Schneider, AöR 89 [1964], 24. 1 7 9 Vgl. BVerfGE 25, 167, 180; 43, 154, 168 ff.; Alexy, Theorie, S. 468. 1 8 0 Vgl. BVerfGE 3, 225, 242 ff.; 25, 167, 182 ff.; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 951. 1 8 1 1 8 2
Kästner, N V w Z 1992, 10.
BVerfGE 81, 310, 334; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 148. Ein anderes kann allerdings für den Fall einer schlechterdings nicht zu verantwortenden allgemeinen Gefahrdung oder Verletzung bedeutender Rechtsgüter gelten, insbesondere bei einer unmittelbaren Gefahrdung der Allgemeinheit in Leben und Gesundheit, BVerfGE 81, 310, 334.
II. Zur Existenz grundrechtlicher Leistungsrechte
443
len Anforderungen der Leistungsrechte183. Deshalb kann nicht ein Trager öffentlicher Gewalt unter Berufung auf Leistungsrechte in die Kompetenzen eines anderen übergreifen; vielmehr endet die Leistungspflicht eines Trägers öffentlicher Gewalt gerade dort, wo dieser zur Erfüllung derselben in die Kompetenz eines gleichfalls zur Leistungsgewährung berufenen anderen Trägers öffentlicher Gewalt eingreifen müßte. Auf diese Weise wird sowohl dem Leistungsrecht des Grundrechtsträgers genügt - dieser muß sich, nicht anders als bei der Geltendmachung von Abwehrrechten auch, eben an den richtigen, d.h. zuständigen Träger öffentlicher Gewalt halten -, als auch die Kompetenzordnung gewahrt. Es ist hier nicht möglich, die Verbandskompetenz zur Erfüllung grundrechtlicher Leistungspflichten näher zu untersuchen 184. Anhaltspunkte für die richtige Kompetenzabgrenzung ergeben sich insbesondere aus den Art. 70 ff. und 83 ff. GG, wobei im Blick auf Leistungsrechte gerade der Katalog der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Art. 74 GG (speziell der Nummern 1, 7, 10, 11, I I a , 12, 13, 18, 19 und 20) von Bedeutung ist. Soweit nicht der Bund das Leistungsrecht ohnehin abschließend befriedigt hat, wird regelmäßig eine daneben bestehende Länderkompetenz vorliegen. In solchen Fällen ist eine "gesamtschuldnerische" Verpflichtung aller in Betracht kommenden Träger öffentlicher Gewalt anzunehmen185. e) Gewaltenteilung Hinsichtlich der Auswirkung von Leistungsrechten auf die Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) gilt vom Ansatz her dasselbe wie in bezug auf die Kompetenzordnung: Welche der drei Staatsgewalten zur Erfüllung der Ansprüche zuständig ist, ergibt sich aus kompetenzrechtlichen Erwägungen und kann nicht durch eine schlichte Berufung auf jene Pflichten überspielt werden 1 8 6 . Allerdings ist zu beachten, daß die konkrete Verteilung der Kompetenzen zwischen den Gewalten, und hier insbesondere zwischen Legislative und Exekutive, nicht ein für allemal trennscharf festliegt, sondern eben auch von der jeweils wahrzunehmenden Aufgabe abhängt 187 . Inwieweit Leistungsrechte durch den Gesetzgeber zu erfüllen sind, und inwieweit durch die Verwaltung, hängt wesentlich von ihrem Inhalt ab. Da die Verwaltung nur verwaltend tätig werden kann und die Gerichte nur judikativ, ist diesen Gewalten die Erfüllung von Leistungspflichten insoweit 1 8 3
Kästner, N V w Z 1992, 10; Wahl/Masing,
1 8 4
Zur Gemeindekompetenz s. Kästner, N V w Z 1992, 10 ff. Vgl. Stern, Staaterecht UV 1, S. 712.
1 8 5 1 8 6 1 8 7
JZ 1990, 559.
Kästner, N V w Z 1992, 10; vgl. auch Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 163.
Sehr weitgehend sieht Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 210 f. den Organisationsteil des Grundgesetzes Oberhaupt als "Ausformung" von Art. 1 11 GG. 30 Roth
444
G. Grundrechte als Leistungsrechte
unmöglich, als dies aus logisch-systematischen Gründen oder qua Natur der Sache nur in Form von Gesetzen möglich ist. Falls etwa zur Erfüllung von Schutzpflichten der Erlaß von Strafgesetzen erforderlich ist, oder falls die Erfüllung der staatlichen Leistungspflicht die Entwicklung eines sämtliche Breiche der Gesellschaft umfassenden Schutzkonzeptes mit Maßnahmen normativer und tatsächlicher Art erfordert 188 , oder falls aus einem sonstigen Grund ein Anspruch gerade auf Erlaß einer Norm besteht, ist das evidentermaßen ausschließlich der Legislative möglich 189 ; die Exekutive kann, sofern sie die bestehende Gesetzeslage für unzulänglich hält, nur von ihrem Gesetzesinitiativrecht Gebrauch machen, während die Gerichte auf H Appellentscheidungen" beschränkt sind 1 9 0 und selbst das BVerfG lediglich den Gesetzgeber zum Erlaß der entsprechenden Gesetze verpflichten kann 1 9 1 . Soweit indessen Leistungsrechte durch wesensmäßig verwaltende oder rechtsprechende Tätigkeit erfüllbar sind, haben Exekutive und Judikative diese zu befriedigen, ohne daran durch eine Prärogative des Gesetzgebers gehindert zu sein. Eine Gesetzesbedingtheit von Leistungsrechten192 besteht nämlich nicht. Teilweise wird behauptet, die gesamte Leistungsverwaltung unterstehe einem "Vorbehalt des Gesetzes": sogenannter "Totalvorbehalt" für alle leistende, d.h. nicht eingreifende Staatstätigkeit193. Auch soweit die Annahme eines sol-
1 8 8 Vgl. BVerfG, NJW 1993, 1751, 1754 ff. zur Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht gegenüber dem voigeburtlichen Leben: diese erfordere Maßnahmen in den Bereichen des Straf-, Arbeits-, Aibeitsforderungs-, Sozial-, Renten-, Miet-, Vertrags-, Kredit-, Verbraucherschutzund Familienrechts. Es versteht sich von selbst, daß solches nur durch den Gesetzgeber zu leisten ist. 1 8 9 Die Leistungspflicht der anderen Gewalten besteht dann in Gestalt der Pflicht, bei der Auslegung und Anwendung der vom Gesetzgeber zu erlassenden Normen das ihnen Mögliche zu tun, um die gmndrechtliche Leistungspflicht insgesamt bestmöglich zu erfüllen. 19
^ Zu bundesverfassungsgerichtlichen Appellentscheidungen s. etwa Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 205 ff. 1 9 1
Vgl. Schenke, Rechtsschutz, S. 175 f.; ferner Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S.
206. 1 9 2 Eine solche nehmen z.B. an Fluck, UPR 1990, 83; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 152; Wahl/Masing, JZ 1990, 559, die verschönernd von einer "Gesetzesmediatisiertheit" sprechen; ferner Lübbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 203; Sodan, Kollegiale Funktionsträger, S. 552. Ähnlich sehen Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 164 f., 188 f.; G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 201, 207 und NJW 1990, 1767 als Adressat von Schutzpflichten vorrangig den Gesetzgeber; Schutzgewahmng durch Exekutive und Judikative sei in Form der Anwendung und schutzfreundlichen Auslegung der Gesetzes zu bewerkstelligen. 1 9 3 Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 204 f. In diese Richtung wohl auch Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 171 f. Wenn von § 31 SGB I als gesetzlicher Statuiening des "Totalvorbehalts" im Sozialleistungsbereich gesprochen wird (Bieback, EuGRZ 1985, 665; Schnapp, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 20 Rdnr 43), so ist zu beachten, daß § 31 SGB I nicht deklaratorisch einen von Verfassung wegen bestehenden Totalvoibehalt formuliert, sondern vom Vorrang des Gesetzes Gebrauch macht. Die darin voigesehene Präklusion gesetzesfreier Sozialleistungsverwaltung ist (nur) insoweit verfassungsrechtlich unbedenklich, als die gesetzlichen Bestimmungen den gnindrechtlichen Förderungsrechten genügen. Entstünden jedoch durch Gesetzeslücken oder inhaltliche Unzulänglichkeiten förderungsrechtswidrige Notlagen, könnte keine einfachgesetzli-
. Zur Existenz gundrechtlicher Leistungsrechte
445
chen "Totalvorbehalts" nicht überzeugt 194 , mag es doch immerhin gute Gründe geben, die Leistungsverwaltung nicht insgesamt gesetzesfirei zu lassen, sondern auch die leistende Verwaltungstätigkeit partiell an eine gesetzliche Gestattung zu knüpfen 195 . Das gilt allerdings nicht für die Verwaltungstätigkeit, die in der Erfüllung grundrechtlicher Ansprüche besteht. Es ist zunächst irreführend, in bezug auf solche Verwaltungstätigkeit überhaupt von einem "Vorbehalt des Gesetzes" zu sprechen. Von seinen abwehrrechtlichen Ursprüngen her betrifft der Vorbehalt des Gesetzes das Phänomen, daß die Verwaltung einer gesetzlichen Erlaubnis bedarf, will sie einem bestehenden abwehrrechtlichen Primärrecht nicht nachkommen. Von der Diskussion um den "Totalvorbehalt" herrührend, wird hingegen der Begriff des "Vorbehalts des Gesetzes" mit Bezug auf die Leistungsverwaltung in genau entgegengesetztem Sinn verwandt, nämlich dahin, ob die Verwaltung gesetzlicher Erlaubnis bedarf, um leisten zu dürfen. Übertrüge man den Begriff des "Vorbehalts des Gesetzes" mm auch noch auf die Erfüllung von Leistungspflichten, so wäre seine Bedeutung völlig pervertiert 196 : er beträfe dann die Fragestellung, ob die Verwaltung ohne gesetzliche Erlaubnis grundrechtliche Pflichten erfüllen darf. Das aber stellt die genau entgegengesetzte Situation und Interessenlage im Vergleich zum abwehrrechtlichen Vorbehalt des Gesetzes dar. Auf Leistungsrechte bezogen, entfaltete der Vorbehalt des Gesetzes eine grundrechtsfeindliche Dimension! 197 Seiner demokratischen und rechtsstaatlichen Fundierung nach 1 9 8 soll der Vorbehalt des Gesetzes den Bürger vor unberechtigten Übergriffen seitens des Staates schützen, nicht aber umgekehrt Ansprüche des Bürgers gegen den Staat blockieren und verhindern. Schon deshalb kommt er hier nicht in Betracht 199 . Bei Leistungsrechten ist deshalb nicht von einem "Vorbehalt des Gesetzes" zu sprechen, wenn es um die Frage geht, ob zu ihrer Erfüllung eine gesetzliche Ermächtigung notwendig ist, sondern korrekter von einer Gesetzesbedingtheit. Der terminus des "Vorbehalts des Gesetzes" ist konsequent auf die Fragestellung zu beschränken, ob die Verwaltung bestehende Leistungs-
che Vorschrift die Verwaltung an der Erfüllung des Förderungsrechtes auch im Sozialbereich hindern; dazu nachfolgend im Text. 1 9 4 S. etwa V G H Kassel, ESVGH 14, 50, 55 ff.; Ossenbühl, in Erichsen/Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 5 Rdnr 11, 14; Schenke, GewArch 1977, 314 f.; Wolff/Bachof Verwaltungsrecht m , § 138 Rdnr 15. 1 9 5
Schenke, GewArch 1977, 318 ff. Vgl. auch R. Hermes, Parlamentsgesetz, S. 94, 115 f.
1 9 6
Zutreffend Schenke, Der Staat 1976, 569 f. und GewArch 1977, 315; Sodan, Kollegiale Funktionsträger, S. 430. 1 9 7 Insoweit wendet sich Preu, JZ 1991, 268 f. zutreffend gegen die Übertragung der " Wesentlichkeitstheorie" auf Schutzrechte. 1 9 8 1 9 9
S. hierzu eingehend unten H ffl 1.
Vgl. V G H Kassel, ESVGH 14, 50, 60; Wolff/Bachofi Rdnr15.
Verwaltungsrecht m , § 138
446
G. Grundrechte als Leistungsrechte
pflichten nur dann nicht zu erfüllen braucht, wenn ein Gesetz ihr die Nichterfüllung des leistungsrechtlichen Primärrechtes erlaubt 200 . Die durch die unglückliche Verwendung des Vorbehaltsbegriffs verursachte Verwirrung erklärt zum großen Teil, wieso viele fälschlicherweise eine Gesetzesbedingtheit von Leistungsrechten annehmen und aus dem Gewaltenteilungsprinzip ableiten wollen, die Verwaltung dürfe leistungsrechtliche Ansprüche nur aufgrund gesetzlicher Gestattung erfüllen. Der Gewaltenteilungsgrundsatz hindert Verwaltung und Rechtsprechung nicht an einer gesetzesfreien Erfüllung grundrechtlicher Leistungspflichten, sofern dies durch ihnen wesensmäßige Tätigkeit überhaupt möglich ist. Im Spannungsbogen von Grundrechtsbindung und Gewaltenteilung ist zu beachten, daß ja auch das Vorliegen einer gesetzlichen Regelung Exekutive und Judikative nicht von ihrer Grundrechtsbindung befreit; wenn ein Gesetz grundrechtlichen Maßstäben nicht genügt, müssen sie unter Außerachtlassung desselben 201 in ihrem jeweiligen Tätigkeitsbereich den Grundrechten unmittelbar Geltung verschaffen (Art. 1 Abs. 3 GG). Umgekehrt kann nichts anderes gelten: In Abwesenheit einer gesetzlichen Regelung schlägt die unmittelbare Grundrechtsbindung der anderen Gewalten in gleicher Weise durch, indem sie bestehende grundrechtliche Ansprüche unmittelbar erfüllen müssen, sofern das durch ein Handeln der Verwaltung oder Rechtsprechimg möglich ist. Den Grundrechten kommt eine "unmittelbare und notfalls korrigierende Wirkung" 2 0 2 zu, die eine blinde Bindung an die einfachgesetzliche Regelungslage ausschließt. Achtung und Schutz der Menschenwürde ist Verpflichtung "aller staatlichen Gewalt" (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG). Was hier in bezug auf die Menschenwürde expliziert wird, gilt für alle Grundrechte. Die Bindung der drei Gewalten an die Grundrechte gemäß Art. 1 Abs. 3 GG darf nicht im Sinne einer
2 0 0 Eine solche Einschränkbarkeit von Leistungsrechten entsprechend der von Abwehrrechten ist durchaus erwägbar (zutreffend G. Hermes, Gnindrecht auf Schutz, S. 258; E. Klein, NJW 1989, 1638), doch wird die Nichterfüllung von Mindestgarantien materiell regelmäßig nicht zu rechtfertigen sein. Untergesetzliche Rechtsnormen sind von den Gerichten ohne weiteres außer Acht zu lassen. Bei formellen Gesetzen besteht zwar ein verfassungsgerichtliches Verwerfungsmonopol (Art. 100 I GG), doch ist das eben auch nur eine inneijudikative Zuständigkeitsverteilung. Hinsichtlich der Verwaltung sprechen die besseren Gründe für ein Außerachtlassungsrecht (in diese Richtung BVerfGE 12, 180, 186; V G H Mannheim, ESVGH 41, 108, 113). Ein solches Recht wird offenbar von § 76 Nr. 2 BVerfGG vorausgesetzt, der ausdiücklich für den Fall Vorsoige trifft, daß "eine Verwaltungsbehörde" Bundes- oder Landesrecht "als unvereinbar mit dem Giundgesetz oder sonstigem Bundesrecht nicht angewendet" hat. Jedenfalls darf die Verwaltung ein grundrechtswidriges Gesetz nicht vollziehen, sondern muß es notfalls im Wege einer Normenkontrolle (Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 Nr. 1 BVerfGG) mit Hilfe der Judikative zu Fall bringen. 2 0 2
BVerfGE 33, 23, 34.
II. Zur Existenz grndrechtlicher Leistungsrechte
447
je isolierten Bindung verstanden werden, sondern ist eine gesamtheitliche203. Sie erfaßt den Staat in seiner Gesamtheit, wiewohl handelnd in den drei Gewalten mit ihren je spezifischen Handlungsformen. Gesetzgeberische Untätigkeit entläßt deshalb nicht die anderen Gewalten aus der Pflicht, wenigstens das ihnen jeweils Mögliche zur Erfüllung grundrechtlicher Ansprüche zu t u n 2 0 4 . In der Tat bedeutete das ja, einem etwaigen legislativen Versäumnis noch ein weiteres exekutives oder judikatives hinzuzufügen, wodurch sich der Sinn und Zweck des Gewaltenteilungsprinzips in sein Gegenteil verkehrte. Die Aufteilung der gesamten Staatsgewalt in die drei traditionellen Branchen dient durch die Etablierung eines Systems wechselseitiger "checks and balances" der Sicherung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, und damit eben vornehmlich des Schutzes der Freiheit 205 . Die Gewaltenteilung soll die Verwirklichung der Grundrechte befördern, und nicht behindern. Es kann daher nicht überzeugen, eine Gesetzesbedingtheit von Leistungsrechten gerade aus dem Gewaltenteilungsprinzip zu deduzieren, wofern dies im Ergebnis zu der Nichterfüllung dieser Pflichten führte. Überhaupt und viel grundsätzlicher wäre eine solche Verabsolutierung des Gewaltenteilungsprinzips verfehlt. Die Bindimg der Rechtsprechimg an "Gesetz und Recht" (Art. 20 Abs. 3 GG) bedeutet eine Absage an jeden engen Gesetzespositivismus206, wonach die Gerichte stets im Rahmen der gesetzlichen Gewährleistungen zu bleiben hätten. "Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag; es zu finden und in Entscheidungen zu verwirklichen, ist Aufgabe der Rechtsprechung" 207. Gilt das schon gegenüber bestehenden Gesetzen, so um 2 0 3 Nicht nachvollziehbar ist der Einwand von Preu, JZ 1991, 266: "Konkurrierende Zuständigkeiten, Schutzpflichten zu konkretisieren, ihre Verletzung festzustellen und ggf. Rechtsfolgen auszusprechen, führen zu unterschiedlichen Aussagen darüber, was geltendes Recht ist." - In bezug auf Abwehrrechte besteht selbstverständlich genau diese "konkurrierende Zuständigkeit" von Gesetzgeber, Verwaltung und Rechtsprechung, ohne daß es zu "fireiheitszerstörenden" Rechtsunsicherheiten käme. Ein gewisses Maß an Rechtsunsicherheit ist generell unvermeidbar, bei Leistungsrechten nicht anders als bei Abwehrrechten, kann aber kein Argument sein, einzelne Gewalten aus ihrer Pflicht zu entlassen. Letztendlich ist das BVerfG berufen, die notwendige Rechtsklarheit zu schaffen. 2 0 4 Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 239. Vgl. auch Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, S. 97; Huber, Konkurrenzschutz, S. 184 f.; Rauschning, W D S t R L 38 [1980], 183; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 168; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 723 f. Zu kurz greift Dimberger, Recht auf Naturgenuß, S. 168, der lediglich einen Anspruch der Grundrechtsträger gegen Verwaltung und Gerichte auf Vollzug deijenigen Gesetze anerkennt, die der Gesetzgeber zwecks Erfüllung seiner Leistungspflicht erlassen hat. Insoweit zweifelhaft auch Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , §111 Rdnr 90. 2 0 5 Vgl. BVerfGE 9, 268, 279; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 476 ff., 499; Schnapp, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 20 Rdnr 32. 2 0 6 2 0 7
BVerfGE 34, 269, 286. Ebd., S. 287.
448
G. Grundrechte als Leistungsrechte
so mehr angesichts fehlender Gesetze. Lückenhafte Gesetze sind daher durch "schöpferische Rechtsfindung" ergänzbar. "Dem unter Entscheidungszwang stehenden Richter kann deshalb kein Vorwurf gemacht werden, wenn er zu der Überzeugimg gelangt, er dürfe nicht im Vertrauen auf eine noch ganz ungewisse künftige Intervention des Gesetzgebers formale Gesetzestreue um den Preis einer erheblichen Einbuße an Gerechtigkeit im Einzelfall üben" 2 0 8 . Auf die Leistungsrechte übertragen heißt das, daß die Gerichte - und damit auch indirekt die durch die Gerichte kontrollierte Verwaltung - nicht gezwungen sein können, Leistungsrechte allein deshalb zu vernachlässigen, weil es keine einfachgesetzliche Erfüllungsregelung gibt. Demgegenüber greifen auch die Einwände, die sich auf eine bei Anerkennung von Leistungsrechten befürchtete "erhebliche" Kompetenzverschiebung vom Parlament auf die Gerichte stützen 209 , nicht durch. An diesem Einwand ist zwar zunächst richtig, daß ein eventuelles gesetzgeberisches Unterlassen nicht durch ein Umschlagen der leistungsrechtlichen Pflicht in unmittelbar geltendes und von Verwaltung und Gerichten auszuführendes Recht zu bereinigen i s t 2 1 0 . Dennoch grenzt der Kompetenzverschiebungseinwand vorliegend an eine petitio principii, weil er schlicht voraussetzt, daß die Erfüllung von Leistungsansprüchen primär in die Kompetenz des Gesetzgebers fällt. Ob aber die Gerichte bzw. Verwaltung anstelle des Gesetzgebers entscheiden, hängt nicht davon ab, ob letzterer entscheiden durfte, sondern davon, ob er entscheiden mußte. Nun sind aber Ansprüche auf Normsetzung im Gefüge des Grundgesetzes eher die Ausnahme 211. Mangels ausdrücklicher Bestimmung im Grundgesetz kann daher nicht unterstellt werden, daß sich Leistungsrechte ausschließlich gegen den Gesetzgeber wenden 212 ; vielmehr sind sie soweit möglich auch durch Exekutive und Judikative zu verwirklichen 213 . Aufgrund ihrer sehr restriktiven Voraussetzungen, wonach eine Gefahren- oder Notlage bestehen muß 2 1 4 , welche wiederum gewöhnlich schnelle Abhilfe verlangt, richten sich Leistungsrechte regelmäßig an die Exekutive bzw. Judikative und nur ausnahmsweise als Forderung nach einem Maßnahmegesetz an die Legis2 0 8
Ebd., S. 292. Zu restriktiv demgegenüber Freu, JZ 1991, 270.
2 0 9
Bieback, EuGRZ 1985, 664; Böckenförde, NJW 1974, 1536; Friauf, DVB1. 1971, 677; Hesse, EuGRZ 1978, 434; Martens, W D S t R L 30 [1972], 35 f.; ahnlich Di Fabio, JZ 1993, 692. 2 1 0 Vgl. BVerfGE 8, 1, 19; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 206; Schenke, Rechtsschutz, S. 175. 2 1 1 BVerwGE 80, 355, 359 f.; Schenke, Rechtsschutz, S. 173 f.
Vgl. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 155 (allerdings insofern unzutreffend, als er, S. 153, die "Auftragsdimension" der Grundrechte lediglich als Staatszielbestimmung einordnet). 2 1 3
Vgl. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 159. Wenn irreparable Schäden für Grundrechtsgüter drohen, erkennt Preu, JZ 1991, 270 immerhin dem BVerfG das Recht zu, ein "allgemeines verfassungsunmittelbares Verbot auszusprechen". 2 1 4
. Zur Existenz grundrechtlicher Leistungsrechte
449
lative 2 1 5 . Das gilt selbst dann, wenn es für die Erbringung der Leistung an einem haushaltsrechtlichen Titel fehlt, weil der Haushaltsplan dem materiellen Recht subordiniert ist und materiell-rechtliche, insbesondere leistungsrechtliche Ansprüche nicht am Mangel eines rein formellen Gesetzes scheitern können 2 1 6 . Schon damit ist der Einwand einer möglichen Kompetenzverschiebung hinfällig 217 . Das gilt um so mehr deshalb, weil der etwaige Funktionszuwachs der anderen Gewalten nur "subsidiärer Natur" ist und der Gesetzgeber die Erfüllung grundrechtlicher Leistungspflichten jederzeit an sich ziehen und nach seinen Vorstellungen verwirklichen kann 2 1 8 . Tut er dies in einer den Leistungsrechten genügenden Weise, so ist ein unmittelbarer Rückgriff auf diese ausgeschlossen219. Unübersehbar ist freilich, daß die Anerkennung von Leistungsrechten - jenseits des nicht durchgreifenden Kompetenzverschiebungseinwandes - eine gewisse Kräfteverschiebung im Sinne eines Bedeutungszuwachses insbesondere der Judikative nach sich zieht 2 2 0 . Doch dies ist ein Phänomen, das mit jeder Anerkennung (subjektiver) Rechte einhergeht und, wenn man es denn als Einwand gelten ließe, gewiß nicht nur dem leistungsrechtlichen Verständnis der Grundrechte entgegenzuhalten wäre. Jedenfalls bei Beachtung der Beschränktheit der Leistungsrechte auf die Garantie von Minimalstandards ist nicht ersichtlich, daß die Kräfteverschiebung ein solches Ausmaß erreichen könnte, daß sie verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf die Gewaltenteilung provozierte. In diesem Zusammenhang ist auf die Entscheidung des BVerfG zu Art. 6 Abs. 5 GG zu verweisen 221 , worin das BVerfG zu Recht davon ausging, daß der in Art. 6 Abs. 5 GG dem Gesetzgeber bindend erteilte Verfassungsauftrag zur Neuordnung des Rechts der unehelichen Kinder dann, wenn diese Neuordnung nicht innerhalb einer angemessenen Frist erfolgte, dazu führte, "daß ... der Wille der Verfassung, wenn und soweit dies möglich ist, in dem Unzugänglichen Bereich von der Rechtsprechung durchgeführt werden soll" 2 2 2 . Denn dann "gewinnt ... der Grundsatz des Art. 1 Abs. 3 GG volle rechtliche
2 1 5 PreUy JZ 1991, 268 f.; Steiger, Mensch und Umwelt, S. 59. Vgl. im übrigen auch Schenke, GewArch 1977, 315; ferner Stern, Staatsrecht ffl/1, S. 712 dazu, daß die Erfüllung von Leistungsansprüchen nicht an Kompetenzkonflikten scheitern darf. 2 1 6 Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 719 f. Vgl. auch Alexy, Theorie, S. 466. 2 1 7 Die von Eckhoff, Der Gnindrechtseingriff, S. 137 aufgeführten "Losungsmöglichkeiten", die allesamt auf einer Überschätzung der inhaltlichen Reichweite der Leistungsrechte basieren, scheiden bei rechtem Verständnis der Leistungsrechte als nicht grundrechtsgemäß aus. 2 1 8
BVerfGE 25, 167, 181; Scherzberg, DVB1. 1991, 89.
2 1 9
Vgl. Badura, Die Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand, S. 850; Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, S. 97. 2 2 0
Vgl. Schenke, Der Staat 1976, 568 f.
2 2 1
BVerfGE 25, 167.
2 2 2
Ebd., S. 181.
450
G. Grundrechte als Leistungsrechte
Bedeutung und gebietet die anderweite Verwirklichimg des Verfassungswillens, soweit sie ohne den Gesetzgeber möglich ist" 2 2 3 . Wenn eine solche unmittelbare Verwirklichungspflicht für die Judikative - und man wird ergänzen müssen: im Rahmen des ihr zugänglichen Bereiches auch für die Exekutive 224 - sogar dort in Betracht zu ziehen ist, wo das Grundgesetz ausdrücklich die Erfüllung der Leistungspflicht dem Gesetzgeber zugewiesen und dadurch eingeschränkt hat, so muß dies erst recht bei den übrigen Grundrechten gelten, wo das Grundgesetz keine solche Einschränkung gemacht h a t 2 2 5 . Die Anweisung an den Gesetzgeber in Art. 6 Abs. 5 GG ist, ähnlich wie bei Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art. 117 Abs. 1 GG, eine "Ausnahme von der unmittelbaren Geltung der Grundrechte gemäß Art. 1 Abs. 3 G G " 2 2 6 , die lediglich dem Gesetzgeber Gelegenheit zu einer umfassenden Neuordnung geben sollte. Diese Ausnahme besaß mithin praktische Gründe, indem sie das rechtliche Chaos vermeiden sollte, das gedroht hätte, wäre auf einen Schlag eine große Zahl gesetzlicher Bestimmungen außer Kraft getreten 227 . Das darf aber auf keine Weise als Beleg dafür mißverstanden werden, das Grundgesetz habe die Erfüllung von Leistungspflichten generell dem Gesetzgeber vorbehalten. Im Gegenteil läßt sich Art. 6 Abs. 5 und Art. 117 Abs. 1 GG entnehmen, daß allenfalls zwingende Gründe es rechtfertigen können, die Erfüllung grundrechtlicher Leistungspflichten dem Gesetzgeber vorzubehalten, daß aber im Normalfall jede der Gewalten aufgerufen ist, das ihr Mögliche zu tun. Ein Spielraum 228 , zu dessen Einengung es einer gesetzlichen Regelung bedürfte, wird schließlich in der fraglichen Lage auch kaum bestehen, weil es ja nur um die Sicherung des Minimalstandards geht 2 2 9 , so daß auch von daher nicht zu sehen ist, welche Entscheidungsmacht der Legislative gegenüber der Verwaltung zu reservieren wäre 2 3 0 . In der Tat wirkte ein Gesetz, welches das
2 2 3
Ebd., S. 180. Vgl. auch BVerfGE 33, 23, 34. 224 Vgl Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 724 fQr den Fall eines "dauernden Versagens der Gesetzgebung". 99 S Für die Übertragung der zu Alt. 6 V GG entwickelten Grundsätze auf die allgemeine ¿¿J Problematik grundrechtlicher Schutzpflichten auch Langer, N V w Z 1987, 199 f. 2 2 6
BVerfGE 25, 167, 179 (Hervorhebung durch Verfasser).
2 2 7
S. v.Mangoldt, Schriftlicher Bericht, S. 8 zu Art. 117 I GG. Dazu Alexy, Theorie, S. 420 ff.
2 2 8 2 2 9
Vgl. Steiger. Mensch und Umwelt, S. 62. S. auch Schenke, Rechtsschutz, S. 182 f.; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 993. Eine solche Spielraumverengung hält auch Scherzberg, DVB1. 1989, 1134 für möglich und nimmt in solchen Fällen folgerichtig Leistungsansprüche an (S. 1136); desgleichen Langer, N V w Z 1987, 199 für Evidenzfalle "schreienden Unrechts". 930 Vgl. etwa Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, S. 97 f., der zwar einerseits von der "Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers" bei der Ausgestaltung der förderungsrechtlich gebotenen Sozialhilfe spricht, dann jedoch so enge Mindestkriterien aufstellt, daß von einer Gestaltungsfreiheit auch des Gesetzgebers nichts übrigbleibt.
II. Zur Existenz gndrechtlicher Leistungsrechte
451
fragliche Minimum positiviert, nicht konstitutiv, sondern deklaratorisch 231. Im übrigen ist die Sicherung dieses Minimalstandards eine durchaus justitiable Angelegenheit und damit eine wesensmäßig richterliche Aufgabe, deren Erfüllung das Gewaltenteilungsprinzip nicht verletzt 232 . Allenfalls wäre zu erwägen, ob nicht dann, wenn die Verwaltung zur Gewährung des gebotenen Schutzes, des zustehenden Beistands oder der erforderlichen Förderung über verschiedene Mittel verfügt, der Gesetzgeber die Wahl der Mittel treffen müsse 233 . Hiergegen sprechen jedoch zwei entscheidende Punkte. Daß mehrere gleich wirksame Mittel zur Verfügung stehen, bedeutet nur, daß der Berechtigte keinen Anspruch auf den Einsatz eines bestimmten Mittels hat 2 3 4 . Das Leistungsrecht selbst entfällt jedoch nicht, vielmehr besteht dann ein Anspruch auf pflichtgemäße Auswahl der einzusetzenden Mittel. Diese Ermessensfreiheit der Verwaltung zu nehmen und die Auswahl der Mittel dem Gesetzgeber vorzubehalten, bedeutete aber nichts anderes als die Einführung einer Gesetzesbedingtheit des Leistungsrechts. Deijenige, dessen Leistungsanspruch nur auf eine Weise zu erfüllen ist, stünde dann besser, als der, dessen Anspruch auf verschiedene Weise erfüllt werden könnte, obschon letzterer nicht weniger dringend auf die Leistung angewiesen ist - das überzeugte offensichtlich nicht. Ferner ist zu bedenken, daß es bei Leistungsrechten stets auf die konkrete Situation ankommt. Sie können regelmäßig nur effektiv erfüllt werden, wenn die Verwaltung situationsangemessen flexibel reagieren kann; die Auswahl der Mittel entzieht sich der generellen Normierung im voraus 235 . Der Gesetzgeber wäre deshalb allenfalls dazu in der Lage, generalklauselartig der Verwaltung die pflichtgemäße Wahl der einzusetzenden Mittel aufzugeben, womit indessen nichts gewonnen, sondern durch die Einführung einer Gesetzesbedingtheit von Leistungsrechten für den Grundrechtsträger unter Umständen viel verloren wäre. Eine Gesetzesbedingtheit von Leistungsrechten ist nach alledem nicht anzuerkennen 2 3 6 , 2 3 7 .
Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 239: lediglich die Einräumung weiterreichender Ansprüche liegt allein beim Gesetzgeber. Vgl. BVerfGE 3, 225, 247 f.; Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, S. 97; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 724. 2 3 3
In diese Richtung Langer, N V w Z 1987, 199.
2 3 4
Daß er dann auch keinen Anspruch darauf haben kann, daß der Gesetzgeber eine bestimmte Regelung treffe (vgl. etwa BVerfGE 56, 54, 80 ff.; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 273 f.), ist zwar selbstverständlich, trifft aber nicht das eigentliche Problem der bestehenden Auswahlfreiheit der Exekutive für den Fall, daß der Gesetzgeber keine Vorentscheidung getroffen hat. 2 3 5
Vgl. BVerfGE 46, 160, 165 in bezug auf Schutzanspruche. Wohlgemerkt bezieht sich diese Aussage auf die Erfüllung von Leistungsanspriichen als solche. Eine andere Frage ist, wie die Kompetenzen der Gewalten verteilt sind, wenn zur Erfüllung eines Leistungsanspruchs Grundrechtsgüter Dritter zurückstehen müßten. Ob ein solcher Umstand zu einer Anerkennung eines Vorbehalts des Gesetzes führen muß, ist an passender Stelle zu erörtern (s. unten H IV). Jedenfalls wäre ein solcher Vorbehalt des Gesetzes dann durch 2 3 6
452
G. Grundrechte als Leistungsrechte
J) Resümee Aus all diesen Gründen sind grundrechtliche Leistungsrechte unter den genannten Voraussetzungen - aber auch nur unter diesen - anzuerkennen 238. Eine gesetzliche Bedingtheit der Leistungsrechte ist nicht anzunehmen. Eine nicht gerechtfertigte Vernachlässigung leistungsrechtlicher Primärrechte lost die entsprechenden Sekundäransprüche 239 und als Tertiäranspruch unter Umständen einen Entschädigungsanspruch240 aus.
den Eingriffs- und nicht den Leistungsaspekl des Leistungsrechts begründet und stellte damit keinen Widerspruch zu der hier begründeten Aussage dar. 2 3 7 Die nämlichen Argumente sprechen auch gegen die Annahme einer Gesetzesbedingtheit eventueller abwehrrechtlicher Sekundäranspriiche auf ein bestimmtes Tun. Daß die Erfüllung des abwehrrechtlichen Primärrechts auf Achtung der Grundrechtsgüter nicht von gesetzlicher Gestattung abhängig ist, versteht sich ohnehin von selbst. Sofern dieses mißachtet wurde, muß die Verwaltung auch ohne ausdriickliche einfachgesetzliche Anordnung wenigstens die Sekundäransprüche befriedigen. 2 3 8 Für nicht näher präzisierte "Ausnahmen" ebenso Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 11 Fn. 3. 2 3 9 Zu einem gerichtlich durchsetzbaren forderungsrechtlichen Sekundäranspruch eines Obdachlosen auf Unterbringung bei Vernachlässigung der diesbezüglichen Förderungspflicht (aus Art. 1 I i.V.m. 2 I; 2 II; 13 I GG) durch die Gemeinde vgl. z.B. O V G Münster, N V w Z 1993, 202. 2 4 0 Dafür auch Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 11 Fn. 3; G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 264 f.; Murswiek, WiVeiw 1986, 203 f.
H. Die Eingriffsrechtfertigung
I. Die Rechtfertigungsproblematik Der in den Teilen C bis F dieser Arbeit entwickelte Begriff des faktischen Eingriffs in Abwehrrechte ist ersichtlich weit: als (vollendeter) faktischer Eingriff wird jede abwehrrechtlich relevante Gefahrschaffung durch ein staatliches Handeln angesehen, die sich in zurechenbarer Weise in einer Beeinträchtigung des Wertes eines Grundrechtsgutes verwirklicht hat (für nicht vollendete Eingriffe sind die Gefahrschaffungs- bzw. -Verwirklichungsstufen entsprechend zu modifizieren). Da der Eingriff den Abwehrrechtstatbestand erfüllt, löst jeder Eingriff abwehrrechtliche Rechtfertigungszwänge aus. Der handelnde Träger öffentlicher Gewalt muß den Eingriff zur Vermeidung abwehrrechtlicher Sekundär- bzw. Tertiäransprüche rechtfertigen, d.h. sein Recht zur Nichtbeachtung des gegen ihn gerichteten Primärrechtes nachweisen. Je weiter der Eingriffsbegriff gefaßt ist, um so eher wird ein Träger öffentlicher Gewalt diesem Rechtfertigungszwang unterworfen. Das provoziert den Einwand, ob nicht ein solch weiter Eingriffsbegriff über exzessive Rechtfertigungszwänge und den damit zugleich bewirkten Kompetenzzuwachs der Judikative zu Lasten der anderen Gewalten1 zu einer Blockierung effektiver Staatstätigkeit fuhren muß. Zwar darf der Effizienzgedanke nicht isoliert gesehen und verabsolutiert werden. Die Frage nach der Effektivität staatlicher Tätigkeit kann nur als Forderung nach optimaler Erfüllung vorgegebener Ziele sinnvoll gestellt werden; "Effizienz" ist in bezug auf die anerkannten Staatsziele zu setzen und nicht etwa selbst als oberste Staatsraison zu verstehen. Inwieweit Effizienzgesichtspunkte überhaupt zum Tragen kommen, hängt daher von verfassungsrechtlichen Wertungen ab 2 . Angesichts der Wertigkeit der Abwehrrechte ist es deshalb keineswegs statthaft, den abwehrrechtlichen Schutz unter einem pauschalen Hinweis auf die Effizienz staatlicher Tätigkeit einzuschränken. Umgekehrt müßten vielmehr gewisse Friktionen und Erschwernisse der Staatstätigkeit hingenommen werden, sofern dies der Preis eines effektiven abwehrrechtlichen Schutzes wäre. Der Effizienzeinwand kann
1 Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 134; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 282; Sodan, Kollegiale Funktionstrager, S. 517 f.; vgl. auch Ramsauer, VerwArch 1981, 96. 2 Vgl. hierzu Schenke, VB1BW 1982, 316.
454
H. Die Eingriffsrechtfertigung
allenfalls in dem Maße beachtlich sein, als konkret nachgewiesen werden könnte, daß infolge eines weiten Eingriffsverständnisses staatliche Tätigkeit von so elementarer Bedeutung und in solchem Ausmaße behindert wurde, daß auch unter Beachtung des großen Gewichtes der Abwehrrechte der Eingriffsbegriff notwendigerweise eine Einschränkung zugunsten der Effizienz erfahren mußte. Werden auch hiernach Effizienzbedenken oftmals recht pauschal erhoben, so sind sie gleichwohl nicht a priori von der Hand zu weisen. Besonders bedenklich scheint der weite faktische Eingriffsbegriff im Hinblick auf den Vorbehalt des Gesetzes. Faktische Eingriffe setzen ja nicht voraus, daß der Beeinträchtigungseifolg vorausgesehen wurde oder auch nur vorhersehbar war 3 . Unterwürfe man auch diese Eingriffe dem Vorbehalt des Gesetzes, so scheint man (was reichlich absurd erschiene) eine gesetzliche Ermächtigung zur Bewirkung nicht vorhergesehener oder womöglich nicht einmal vorhersehbarer Beeinträchtigungserfolge verlangen oder aber alle solche Eingriffe schon allein wegen des Fehlens eines solchen Gesetzes als rechtswidrig ansehen zu müssen. Wenn nicht nur die rechtlichen, sondern auch die faktischen Eingriffe einem Vorbehalt des Gesetzes unterliegen4, scheint in der Tat ein starkes Argument gegen den in dieser Arbeit entwickelten weiten Eingriffsbegriff zu sprechen, da die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage für jeden faktischen Eingriff leicht zu einer Überforderung des Gesetzgebers und damit der befürchteten Blockierung effektiver Staatstätigkeit führen könnte5* 6 . Nur ein enger Eingriffsbegriff gestattet ein striktes Rechtfertigungserfordernis auch in Hinsicht auf den Vorbehalt des Gesetzes, während ein weiter Eingriffsbegriff insofern weniger strikte Rechtfertigungsanforderungen gebietet7. Die angesichts strikter Rechtfertigungsformeln entstehenden Praktikabilitätssorgen sind der Hintergrund für die bereits dargestellten Ansätze zur Beschränkung des Eingriffsbegriffes, sei es durch die Postulierung restriktiver Eingriffskriterien oder einer Geringfügigkeitsgrenze 8. Da diese Ansätze weitgehend verworfen wurden und auch nicht behauptet werden kann, der Prakti3
S. oben D I V 1 und E I I 4 c. Alexy, Theorie, S. 263; Bleckmann, Grundrechte, S. 344; LUbbe-Wolff, S. 179. 4
Eingriffsdogmatik,
5 Vgl. Friauft DVB1. 1971, 681 f.; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 94; Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, S. 36; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 163 f.; Scherzberg, Grundrechtsschutz, S. 149; Sodan, Kollegiale Funktionsträger, S. 517 f. 6 Kein Einwand gegen einen weiten Eingriffsbegriff ergibt sich indessen im Hinblick auf die Arbeitsbelastung der Gerichte. Anliegen wie Gesundheits-, Freiheits- und Eigentumsschutz drangen die Betroffenen ohne Rücksicht auf den juristischen Eingriffsbegriff ohnehin zu den Gerichten; für diese aber macht es hinsichtlich der Arbeitsbelastung gerade in problematischen Fällen keinen entscheidenden Unterschied, ob der Klage im Ergebnis Erfolg oder Nichterfolg beschieden ist, vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 282. 7 8
Ähnlich Rottmann, EuGRZ 1985, 295. S. oben B I I und m .
I. Die Rechtfeitigungsproblematik
455
kabilitats- und Effektivitätseinwand sei unbeachtlich, ist nun der vorgeschlagene weite Eingriffsbegriff zu verteidigen. Das soll auf zwei Arten geschehen: Erstens ist zu zeigen, daß sein Anwendungsbereich enger ist als oft angenommen, weil infolge von Grundrechtskollisionen nicht alle Maßnahmen Eingriffe sind, die auf den ersten Blick als solche erscheinen, und schon deshalb keine Rechtfertigungszwange auslösen und insbesondere nicht dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegen. Zweitens ist nachzuweisen, daß bei einem rechten Verständnis der Rechtfertigungsanforderungen diese auch in Ansehung faktischer Eingriffe keine unakzeptable Erschwerung der Staatstatigkeit bewirken, daß namentlich der Vorbehalt des Gesetzes nicht zu streng aufzufassen, sondern daß seine inhaltliche Tragweite begrenzt ist. Diese Nachweise bilden den Gegenstand der folgenden Abschnitte.
II. Die Schranken der Abwehrrechte Die Rechtfertigung von Eingriffen in Abwehrrechte beschrankt den effektiven Schutz der Abwehrrechte, indem sie dem Träger öffentlicher Gewalt ein Recht zur Nichtbeachtung des abwehrrechtlichen Primärrechtes verleiht und so zugleich das Entstehen abwehrrechtlicher Sekundär- und Tertiäransprüche hindert. Da Abwehrrechte Grundrechtsgüter auf Verfassungsebene schützen, kann eine Einschränkung dieses Schutzes nur zulässig sein, wenn eine Rechtsnorm von Verfassungsrang eine solche Schutzeinschränkung vorsieht 1. Solche den effektiven Schutz der Abwehrrechte beschränkende Normen, die freilich nicht als selbständig, isoliert bestehend, sondern als den jeweiligen Abwehrrechten immanente Bestandteile2 zu denken sind, sollen als Abwehrrechtsschranken bezeichnet werden. Zum besseren Verständnis der Rechtfertigungsproblematik ist es erforderlich, Struktur und Dogmatik der Abwehrrechtsschranken näher zu betrachten.
1. Dogmatik der Abwehrrechtsschranken Ehe der effektive Schutz von Abwehrrechten unter Rückgriff auf Abwehrrechtsschranken eingeschränkt wird, ist ein mehrstufiger Prozeß der Schrankeneffektuierung zu durchlaufen, der von der Konstituierung der Abwehrrechtsschranken (nachfolgend a) über ihre Aktivierung (unten b) zu ihrer schließlichen Aktualisierung (unten c) reicht. Die Betrachtung dieser Stufen ist Voraussetzung für das präzise Verständnis der Abwehrrechtsschranken. a) Die Konstituierung
von Abwehrrechtsschranken
aa) Das Prinzip der praktischen Konkordanz Abwehrrechtsschranken können ohne Wertungswiderspruch angenommen werden. Angesichts der eminenten Bedeutung Abwehrrechte geschützten Grundrechtsgüter können (wie auch tisch-strukturell begründete) Einschränkungen des effektiven
nicht beliebig der durch die immer dogmaabwehrrechtli-
1 Vgl. BVerfGE 30, 173, 193; 69, 1, 54; Alexy, Theorie, S. 258; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 309; Jarass/Pieroth, GG, Vorb Rdnr 29 f.; Krebs, Vorbehalt des Gesetzes, S. 115; Menger, in BK, Alt. 19 I (Zweitb. 1979) Rdnr 70. 2
Krebs, Vorbehalt des Gesetzes, S. 115.
II. Die Schranken der Abwehrrechte
457
chen Schutzes systemgerecht nur im Interesse anderer Grundrechtsgüter oder sonstiger hochrangiger, vom Grundgesetz mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechtswerte (Verfassungsgüter) zugelassen werden 3. Niederrangigere Güter oder Institutionen dagegen könnten eine solche Einschränkung nicht begründen4. Abwehrrechtsschranken entstehen aufgrund einer Güterabwägung auf Verfassuncsebene 5 und kommen daher nur in Betracht, wenn ein Konflikt zwischen dem seinen effektiven abwehrrechtlichen Schutz einbüßenden Grundrechtsgut und einem anderen Grundrechts- oder Verfassungsgut besteht. Erforderlich ist also eine Kollision, d.h. eine Situation, in der die gleichzeitige volle Wahrnehmung des fraglichen Abwehrrechts und eines anderen Grundrechts (Abwehr- oder Leistungsrechts) unmöglich ist (Grundrechtskollision 6), oder in der das betreffende Abwehrrecht nicht voll wahrgenommen werden kann, ohne ein sonstiges Verfassungsgut zu beeinträchtigen (Verfassungskollision 7)*. Die Abwehrrechtsschranken ergeben sich aus dem Prinzip der praktischen Konkordanz 9: "Sind die in Collision kommenden Rechte von gleicher Beschaffenheit, so muß jeder der Berechtigten von dem seinen so viel nachgeben, als erforderlich ist, damit die Ausübung beider zugleich bestehen könne" 10 . Auf
3
BVerfGE 28, 243, 261; Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 280; Lerche, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 121 Rdnr 47, § 122 Rdnr 3, 8; v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Voib Rdnr 57; Schnapp, JuS 1978, 732. 4 BVerfGE 28, 243, 260. 5
Krebs, Vorbehalt des Gesetzes, S. 115.
6
Die Diskussion der Grundrechtskollision soll hier anhand interpersonaler Grundrechtskollisionen erfolgen, also mit Bezug auf die Kollision der Grundrechte zweier Giundrechtsträger. Intrapersonale Grundrechtskollisionen, bei denen unterschiedliche Grundrechte eines und desselben Grundrechtsträgers miteinander kollidieren (z.B. das Abwehrrecht - allgemeine Handlungsfreiheit - des Selbstmörders und sein Beistandsrecht - Bewahrung des Lebens), sind äußerst selten; sie folgen aber, mutatis mutandis, den gleichen Grundsätzen wie die ( i n t e r p e r s o n a l e n ) Grundrechtskollisionen und sind erforderlichenfalls durch Herstellung praktischer Konkordanz aufzulösen. Davon zu unterscheiden (Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 3 f.) sind die "Grundrechtskonkurrenzen", bei denen mehrere Grundrechte eines Grundrechtsträgers nebeneinander eingreifen (dazu etwa v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 42; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 324 ff.). Bei Grundrechtskonkurrenzen ist jedes Grundrecht für sich zu betrachten (F. Müller, Die Po8itivität der Grundrechte, S. 51 ff.; Schenke, Der Staat 1976, 562 f.; a.A. Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 7 f.). Denn einem Grundrechtsträger darf kein Nachteil daraus erwachsen, daß sein Verhalten nicht nur durch ein Grundrecht, sondern durch mehrere Grundrechte geschützt ist. Schon gar nicht ist es möglich, die Schranken des schwächer geschützten Grundrechts auf das stärker geschützte zu übertragen. S. hierzu Lerche, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 122 Rdnr 48. 7
Selk, N V w Z 1993, 146: "Verfassungswertkollision".
8
Die Verschiedenheit der Kollisionslagen verkennen etwa Wahl/Masing, JZ 1990, 560. 9 BVerfGE 41, 29, 51; 83, 130, 143; BVerfG (3. Kammer des 1. Senats), EuGRZ 1993, 213, 214; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 72, 318; F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 89; v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 47. 1 0
So die prägnante Formulierung des § 97 Einleitung PrALR.
458
H. Die Eingriffsrechtfertigung
Verfassungsebene erfordert das Prinzip der Einheit der Verfassung 11, bei der Auslegung einer jeden Verfassungsnorm die übrigen Verfassungsnormen zu berücksichtigen, um Widersprüche von vornherein zu vermeiden. Wo Kollisionen entstehen, darf nicht das eine Gut einseitig und generell zu Lasten des anderen realisiert werden 12 . Vielmehr ist im Sinne einer beiderseitigen Optimierung zu versuchen, jedes der kollidierenden Güter bestmöglich zur Geltung zu bringen. Es gilt das "Prinzip des schonendsten Ausgleichs konkurrierender grundgesetzlich geschützter Positionen unter Berücksichtigung des Grundgedankens des Art. 19 Abs. 2 G G " 1 3 . Einem Grundrechtsgut sind hiernach sowohl durch andere Grundrechtsgüter als auch durch sonstige Verfassungsgüter Schranken gezogen14. Die Abwehrrechte gewährleisten keine unbeschränkten Freiheiten; in ihnen sind schon von Verfassungs wegen Beschränkungen mitgedacht, die sich aus der systematischen Interpretation ergeben, d.h. aus dem Zusammenhang mit anderen Grundrechten und anderen Verfassungsnormen 15. Sämtliche Abwehrrechtsschranken ergeben sich so aus dem Streben nach Herstellung praktischer Konkordanz im Sinne eines wert- und systemgerechten Ausgleichs kollidierender Güter 16 und sind als solches den Abwehrrechten von vornherein immanent 17. Bei der somit anzustellenden Güterabwägung ist bedeutsam, daß die zu berücksichtigenden Grundrechts- bzw. Verfassungsgüter als auf der Verfas-
1 1 Vgl. BVerfGE 1, 14, 32; 28, 243, 261; 44, 37, 49 f.; 49, 24, 56; BVerwGE 87, 37, 45. Vgl. dazu auch Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 98 ff.; Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 5; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 20, 71; Selk, JuS 1990, 898. 1 2 BVerfGE 83, 130, 143; Conans, JuS 1989, 163. Vgl. auch Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 6; F. Müller, Die Positivitat der Grundrechte, S. 66; Schwerdtfeger, N V w Z 1982, 10. Alexy, Theorie, S. 71 ff. versteht die Grundrechte daher als "Prinzipien", die im Kollisionsfall weder eine generell gültige Vorrangregel noch einen Absolutheitsanspruch kennen, sondern je nach den Umstanden bestmöglich zu realisieren sind. Ihm folgend Lorenz, JZ 1992, 1004 f. 1 3 BVerfGE 39, 1, 43; ähnlich 63, 131, 144; 76, 1, 50; BVerwGE 87, 37, 45 f.; Lerche, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 122 Rdnr 3 ff.; v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 47; Stern, Staatsrecht ffl/1, S. 929 f. 1 4 BVerfGE 28, 243, 261; 29, 24, 55 f.; 67, 213, 228; 81, 278, 292; 84, 212, 228; BVerwGE 1, 92, 94; 1, 303, 307; 87, 37, 45; BVerwG, DÖV 1992, 75, 76; V G H München, NVwZ-RR 1993, 190, 192; Alexy, Theorie, S. 262; Bayer, JuS 1989, 193; Bleckmann, Gnindrechte, S. 356 ff.; Jarass/Pieroth, GG, Voib Rdnr 37 f.; Kirchhof, DÖV 1976, 455; Krebs, Vorbehalt des Gesetzes, S. 114 f.; Lorenz, JZ 1992, 1003; F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 46 f.; v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 57; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr 122; Schnapp, JuS 1978, 733; Scholz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 12 (Lfg. 1981) Rdnr 289; Schulte, DVB1. 1988, 518; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 319; Selk, N V w Z 1993, 145; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 930. Ähnlich Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 85 f., der diese Fragen unter dem Stichwort "Mißbrauchsabwehr" diskutiert. 1 5 1 6
Maunz/Zippelius,
Deutsches Verfassungsrecht, S. 157.
Dahin wohl auch Krebs, Vorbehalt des Gesetzes, S. 115. Ähnlich Eckhoff, rechtseingriff, S. 19.
Der Grund-
1 7 Vgl. Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 51 ff. (allerdings ohne Differenzierung von Schutzbereichs- und Rechtfertigungsschranken, dazu weiter unten im Text, H H 3).
II. Die Schranken der Abwehrrechte
459
sungsebene angesiedelte Güter alle einen vergleichbaren Wert besitzen18; daher kann einerseits ihre Kollision überhaupt nur zum Problem werden, andererseits steht deshalb das Ergebnis der durch die Güterabwägung herbeizuführende Kollisionsauflosung nicht abstrakt a priori fest 19 . Selbst soweit gewisse Ungleichwertigkeiten der abzuwägenden Güter anzunehmen sind 20 , ist nicht völlig auszuschließen, daß auch einmal die volle Durchsetzung eines an sich höherrangigen Gutes zurückstehen muß, wenn eine verhältnismäßig geringe Beeinträchtigung dieses Gutes eine verhältnismäßig erheblich bessere Verwirklichung eines geringerwertigen Gutes ermöglicht 21. Jedenfalls läßt sich das Ergebnis der Konkordanzherstellung nur fallbezogen aufgrund einer verhältnismäßigen Güterzuordnung in der konkreten Kollisionssituation ermitteln 22 ; damit ist die präzise Beschreibimg der Abwehrrechtsschranken oftmals a priori unmöglich. Abwehrrechtsschranken sind situationsgeprägt. Nur insoweit die Konkordanzherstellung nicht eine einzige Lösung als ausschließliche gebietet, sondern einen Gestaltungsspielraum beläßt, wäre eine gewisse generalisierende Vorrangentscheidung zugunsten eines (Grundrechts)Gutes möglich 2 3 . bb) Explizite und implizite Abwehrrechtsschranken Den meisten24 Abwehrrechtsbestimmungen hat der Verfassungs(gesetz)geber Schrankenklauseln 25 beigefügt. Durch diese Aufnahme expliziter Abwehrrechtsschranken hat er die Einschränkung des effektiven abwehrrechtlichen Schutzes ausdrücklich vorgezeichnet und autoritativ bekundet, auf welchem Weg die praktische Übereinstimmimg der kollidierenden Güter herzustellen ist. Als verfassungsrechtliche Bestimmungen sind solcherart be1 8
Vgl. BVerfGE 81, 278, 289; G. Hermes, Gmndrecht auf Schutz, S. 252 f.
1 9
Vgl. Rose, DVB1. 1990, 280 f.; Scherzberg, Grundrechtaschutz, S. 158 ff.
2 0
Daß das Grundgesetz selbst von einer gewissen Abstufbarkeit ausgeht, zeigt bereits die selektive Ewigkeitsgarantie des Art. 79 m GG (Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 149; v.Mitnch, in v.Munch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 46; Selk, N V w Z 1993, 147). Aber auch sonst liegt es nahe, daß Grundrechtsgüter je nach ihrer Bezogenheit auf die Menschenwürde in concreto unterschiedlich zu gewichten sein können. Die (zweifelhafte) Fixierung einer detaillierten Rangfolge (eine solche unternimmt Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 143 ff.) erübrigt sich jedenfalls aufgrund des im Text Nachfolgenden. Ebenso Scherzberg, Grundrechtsschutz, S. 164. 2 1 Auch Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 153 ff. will in solchen Fällen von seiner "abstrakten Grundrechtsrangordnung" abweichen. Bedenklich insoweit Selk, N V w Z 1993, 147. 2 2
BVerfGE 30, 173, 195; 35, 202, 225; 81, 278, 292 f.; BVerwGE 87, 37, 46; Fehlau, JuS 1993, 442; G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 253 ff.; F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 48; v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 47. 2 3 Vgl. Canaris, JuS 1989, 163 f. 2 4
Nicht aber denen der "geschlossenen" Abwehrrechte wie Art. 1 I; 4 I, O; 5 ffl 1; 16 U
GG. 2 5 Alexy, Theorie, S. 259. Die Schrankenklausel gehört als Bestandteil der Abwehrrechtsbestimmung der Ebene der positiven Verfassungsformulierung an, während die Abwehirechtsschranke als normativer Teil des Abwehrrechts der normativen Ebene zugeordnet ist.
31 Roth
460
H. Die Eingriffsrechtfertigung
nannte Abwehrrechtsschranken grundsätzlich maßgebliche und auch regelmäßig ausreichende Grundlagen zur Auflosung der praktisch häufigsten Kollisionssituationen. Wo es jedoch (ausnahmsweise) zu einer Kollisionslage kommt, deren Auflösung durch keine explizite Abwehrrechtsschranke vorgezeichnet ist, so ist nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz die Annahme impliziter Abwehrrechtsschranken zulässig und geboten26. Die Annahme unbenannter Abwehrrechtsschranken ist erstens zulässig, weil das Gebot der Systemkonformität und Widerspruchsfreiheit der Verfassung auch dort gilt, wo es nicht expliziert wurde 27 ; sie ist zweitens geboten, weil ihre Nichtannahme zu einer wertungswidrigen Benachteiligung bestimmter Grundrechts- oder Verfassungsgüter führte. Die impliziten Abwehrrechtsschranken sind den Abwehrrechten deshalb genauso immanent wie die expliziten. Im übrigen bestehen implizite Abwehrrechtsschranken nicht nur bei den "geschlossenen" Abwehrrechten, denen überhaupt keine Schrankenklausel beigefügt ist, sondern auch dort, wo die Abwehrrechtsbestimmung zwar eine Schrankenklausel aufweist, diese aber nicht weit genug reicht oder sonst den speziellen Kollisionsfall nicht abdeckt, weil letztere nicht weiter gehend geschützt sein können als "geschlossene" Abwehrrechte 28. Daß hiernach benannte wie unbenannte Abwehrrechtsschranken als nach demselben Prinzip konstituierte Untergruppen der Abwehrrechtsschranken betrachtet und als solche gleich behandelt werden, darf nicht dahin verstanden werden, daß die in den Schrankenklauseln ausdrücklich benannten Abwehrrechtsschranken überflüssig seien, weil sie implizit auch sonst anzunehmen wären. Letzteres ist zwar richtig29, dennoch erfüllen explizite Abwehrrechtsschranken zwei wichtige Funktionen: sie benennen erstens die (kollidierenden) Grundrechts- und Verfassungsgüter, und ordnen zweitens ihre Durchsetzungswürdigkeit gegenüber dem jeweils betroffenen Abwehrrecht an. Erstere Funktion ist zwar weniger wichtig in den (wenigen) Fällen der Bezugnahme
2 6
11
A.A. anscheinend F. Müller, Die Positivitat der Grundrechte, S. 86.
Implizite Abwehrrechtsschranken sind gewiß "diffizil zu handhaben", weil sie im Einzelfall schwierige Abwägungsprozesse verlangen, Fehlau, JuS 1993, 442. Indessen setzen die expliziten Abwehrrechtsschranken nicht minder schwierige Abwägungen voraus - man denke nur an die "Wechselwirkungstheorie" (BVerfGE 7, 198, 208 f.) und ganz allgemein das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Von daher erscheint zweifelhaft, ob der auf Art. 4 I I GG bezogene Vorschlag von Fehlau, JuS 1993, 446, de constitutione ferenda einen ausdrucklichen Vorbehalt allgemeiner Gesetze aufzunehmen, wirklich "ein eihöhtes Maß an Rechtssicherheit" mit sich brächte. 2 8 BVerfGE 66, 116, 135 f.; BVetwGE 87, 37, 46; Jarass/Pieroth, GG, Vorb Rdnr 39; Lerche, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 122 Rdnr 14,23; Pieroth, AöR 114 [1989], 444; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 235 f.; Schnapp, JuS 1978, 735; Schulte, DVB1. 1988, 518; a.A. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 378. 2 9 Osterloh, DVB1. 1991, 911 weist zutreffend daraufhin, daß Enteignungen auch zulässig wären, wenn es die explizite Regelung in Art. 14 ffl GG nicht gäbe.
II. Die Schranken der Abwehrrechte
461
auf Grundrechtsgüter 30, weil diese in den Grundrechten ohnehin bestimmt sind. In bezug auf Verfassungsgüter ist das anders. Das Grundgesetz beinhaltet zwar zahlreiche Verfassungsgüter; ausdrücklich als solche benannt sind jedoch nur die in den Schrankenklauseln bezeichneten31. Die Bedeutung der Schrankenklauseln liegt zweitens darin, daß sie die grundsätzliche Durchsetzungswürdigkeit der bezeichneten Grundrechts- und Verfassungsgüter autoritativ feststellen und eine eigenständige Begründung diesbezüglich entbehrlich machen. Die Berufung auf implizite Abwehrrechtsschranken hingegen setzt erstens eine besondere Bestimmung des kollidierenden Gutes voraus, wobei insbesondere die grundgesetzliche Verankerung der infrage kommenden Verfassungsgüter aufzuzeigen ist; und zweitens erfordert sie eine besondere Begründung der Durchsetzungswürdigkeit dieser kollidierenden Güter gegenüber den Abwehrrechten. Dieser Unterschied zwischen expliziten und impliziten Abwehrrechtsschranken ist freilich nur ein relativer, kein absoluter. Denn auch bei benannten Abwehrrechtsschranken ist im Einzelfall anhand des Übermaßverbotes zu prüfen, ob das einzuschränkende Grundrechtsgut oder das kollidierende Gut effektiv obsiegen soll 32 . Keine andere Frage stellt das Konkordanzprinzip bei impliziten Abwehrrechtsschranken. Explizite wie implizite Abwehrrechtsschranken entstammen somit denselben materiellen Prinzipien, doch bürdet die Berufung auf implizite Abwehrrechtsschranken eine besondere Argumentationslast auf. cc) Schrankenbegründende Kollisionslagen Die den Abwehrrechten immanenten Abwehrrechtsschranken entstehen nach dem Vorstehenden aufgrund von Grundrechts- oder Verfassungskollisionen. (1) Grundrechtskollisionen (a) Entstehung Die Feststellung einer Grundrechtskollision scheint auf den ersten Blick trivial: Grundrechte schützen Grundrechtsgüter, Grundrechtsgüter sind die Frei-
3 0 3 1
Persönliche Ehre (Art. 5 U GG); menschliches Leben (Art. 13 ffl, 1. Halbsatz GG).
Das sind: Rechte anderer (Art. 2 I); verfassungsmäßige/freiheitliche demokratische Ordnung (Art. 2 I; 5 m 2; 9 II; 10 I I 2; I I I ; 18); Sittengesetz (Art. 2 I); allgemeine Gesetze (Art. 5 II); Strafgesetze (Art. 9 II; 10 II); Schutz der Heranwachsenden (Art. 5 II; 6 ffl; 10 II; 13 m ) ; Völkerverständigung (Art. 9 II); innerer Frieden (Art. 8 I); Bestand und Sicherheit des Staates (Art. 10 n 2; 11 II); Bewahrung der Allgemeinheit vor besonders schweren Lasten und Bedrohungen (Art. 11 U; 13 m ) ; Abwehr gemeiner Gefahren (Art. 13 m ) ; allgemeine Dienstleistungspflichten (Art. 12 II); Wehr- und Ersatzdienst (Art. 12a; 17a I); öffentliche Sicherheit und Ordnung (Art. 13 m ) ; Wohl der Allgemeinheit (Art. 14 TL 2, m 1, 3); Verteidigung, Schutz der Zivilbevölkerung (Art. 17a U). 3 2 Vgl. etwa BVerfGE 19, 342, 347 ff.; v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 55.
462
H. Die Eingriffsrechtfertigung
heiten, und Freiheit heißt die Chance zur Verwirklichung selbstgesetzter Ziele 3 3 . Daß bei der Verfolgung solcher autonomer Ziele Konflikte zwischen Privaten auftreten können, ist evident, da ihre Interessen nicht nur divergieren, sondern konfligieren können. Also, so könnte man meinen, müßten dann auch die Grundrechte kollidieren. Ein solcher Schluß wäre verfehlt. Wie erwähnt, verpflichten die Grundrechte ausschließlich Träger öffentlicher Gewalt, nicht aber Private 34 . Die Sicherung der Chance der Verwirklichung von Privatinteressen richtet sich gegen den Staat, nicht gegen private Dritte. Eine Grundrechtskollision liegt daher nicht schon deswegen vor, weil Privatinteressen kollidieren 35 . Sie entsteht vielmehr nur, wenn dem Staat die gleichzeitige Befriedigung geltend gemachter Grundrechte auf Achtung, Schutz, Beistand oder Förderung der auf dem Spiel stehenden Grundrechtsgüter unmöglich ist 3 6 . Kann der Staat beiden Pflichten nachkommen, entsteht kein Problem, da dann kein Grundrechtsgut zurückstehen muß. Eine gleichzeitige vollständige Erfüllung zweier grundrechtlicher Pflichten ist genau dann ausgeschlossen, wenn das eine Grundrecht auf ein bestimmtes Tun geht und das andere Grundrecht auf das Unterlassen eben dieses Tuns 37 ; andere Konflikte sind logisch nicht denkbar. Es genügt insbesondere nicht, wenn das eine Grundrecht lediglich auf ein Ziel hingerichtet ist, das der Staat auf verschiedene Weise verwirklichen kann, sofern auch nur eine seiner effektiven Handlungsalternativen nicht dem grundrechtlichen Unterlassungsanspruch des anderen zuwiderläuft: durch die Wahl eben dieser Alternative kann der Staat beide Pflichten erfüllen, so daß keine Grundrechtskollision vorliegt. Nun sind sowohl das Recht auf ein Tun als auch das Recht auf das Unterlassen eines Tuns jeweils abwehr- oder leistungsrechtlich denkbar 38. Daß das Tun bzw. das Unterlassen dieses Tuns dabei nicht notwendig Gegenstand des primären Rechtes sein muß, sondern auch als Gegenstand von Sekundär- oder Tertiäransprüchen in Betracht kommt, spielt für die Kollision keine Rolle; die Ebene der grundrechtlichen Gewährleistung betrifft nur die anzustrebende
3 3
S. oben C 11 a.
3 4
S. oben C m i a a a . Unscharf Huber, Konkurrenzschutz, S. 190 f., 197, der abwechselnd von "kollidierenden Interessen" und "kollidierenden Grundrechten" spricht und dabei übersieht, daß zwei jeweils abwehrrechtlich geschützte Interessen kollidieren können, ohne daß deswegen auch die Abwehrrechte kollidieren müßten. 3 5
3 6 Ähnlich Bethge, Gnindrechtskollisionen, S. 1 f.; Fohmann, EuGRZ 1985, 59 f.; v Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Voib Rdnr 44. 3 7 Verlangen die Grundrechte zwei sich gegenseitig ausschließende Tätigkeiten, so gilt dasselbe, weil das Fordern des einen Tuns dann notwendig die Forderung nach dem Unterlassen des von dem anderen Grundrecht geforderten Tuns beinhaltet. 3 8 S. o b e n C I l c .
II. Die Schranken der Abwehrrechte
463
Verwirklichungsreihenfolge, nicht aber die Wichtigkeit 39 ; es wäre namentlich verfehlt, etwa einem sekundären Recht auf ein Tun eine generelle Nachrangigkeit gegenüber einem primären Recht auf das Unterlassen dieses Tuns zuzusprechen. Es zeigt sich allerdings, daß tertiäre Entschädigungsansprüche praktisch nie mit anderen grundrechtlichen Ansprüchen kollidieren können. Der Staat muß solche Entschädigungsansprüche aus dem Haushalt befriedigen, den er gegebenenfalls erhöhen kann und muß. Das hindert ihn regelmäßig 40 nicht daran, allen anderen Pflichten gleichfalls voll nachzukommen. (b) Limitierungen Grundrechtskollisionen dürfen nicht vorschnell angenommen werden, vielmehr ist ihr Vorliegen im Einzelfall genau zu prüfen. Damit der Staat mit dem Dilemma einer Grundrechtskollision konfrontiert ist, müssen erstens beide Grundrechte - vorbehaltlich der Auflösung der Grundrechtskollision - tatsächlich bestehen. Insoweit daher eines der geltend gemachten Grundrechte bereits auf der Basis einer (strengeren Voraussetzungen unterworfenen 41) Verfassungskollision wirksam eingeschränkt wurde, kann die Frage einer Grundrechtskollision dahinstehen42. Zweitens muß der sich auf die Grundrechtskollision berufende Träger öffentlicher Gewalt auch tatsächlich der durch beide Grundrechte Verpflichtete sein. Denn nur dann besteht für ihn das spezifische Dilemma kollidierender Pflichten. Richtet sich eines der Grundrechte nicht gegen ihn, sondern gegen einen anderen Träger öffentlicher Gewalt, so darf er dieses Grundrecht nicht beachten, sondern muß vielmehr das an ihn gerichtete befriedigen. Dieser Umstand wirkt sich insbesondere dahin aus, daß nur der über die zur Pflichterfüllung erforderliche Verbandskompetenz verfugende Träger öffentlicher Gewalt mit einer Grundrechtskollision konfrontiert sein kann, weil sich ein Grundrecht stets nur gegen den zuständigen Träger öffentlicher Gewalt richtet43. Das ist gerade in bezug auf Kollisionen von Abwehrrechten mit Leistungsrechten wichtig: Macht ein Bürger ein Leistungsrecht gegen den falschen Träger öffentlicher Gewalt geltend, so scheitert er auch bei im übrigen gegebener materieller Berechtigung nicht anders, als wenn er sein Abwehrrecht einem Träger öffentlicher Gewalt entgegenhält, der gar nicht in dieses eingegriffen hat. Das ändert sich nicht dadurch, daß das Leistungsrecht materiell mit einem Abwehrrecht kollidiert. Da sich Leistungsrechte aus3 9
S. oben C 1 1 b aa.
4 0
Die Situation, daß der Staat zwecks Erfüllung von Entschädigungsansprüchen zur Erhebung konfiskatorischer Steuern oder zu fiskalischen Enteignungen gezwungen sein könnte, kann als ziemlich hypothetisch hier außer Betracht bleiben. 4 1
Insbesondere einem Vorbehalt des Gesetzes, s. dazu unten H I V 2.
4 2
Ähnlich Fohmann, EuGRZ 1985, 61. Vgl. oben G U 3 d.
4 3
464
H. Die Eingriffsrechtfertigung
schließlich gegen den Träger öffentlicher Gewalt richten, der die Kompetenz zu ihrer Erfüllung besitzt, kann sich das Problem einer Grundrechtskollision auch nur für diesen Träger öffentlicher Gewalt stellen. Dagegen besteht eine Kollisionslage für den Träger öffentlicher Gewalt nicht, der die Leistungspflicht nicht zu erfüllen hat; er muß mithin das Abwehrrecht voll beachten. Drittens ist hervorzuheben, daß eine Grundrechtskollision nur in Betracht kommt, soweit ein Leistungsrecht materiell besteht. Da Schutz- und Beistandsrechte nur auf die Gewährung eines hinreichenden Schutzes gerichtet sind, nicht aber auf einen maximalen44, und da Förderungsrechte lediglich Minimalstandards sichern (den Soll-Bestand an Freiheit), nicht jedoch Maximalstandards45, ist eine Kollision mit Leistungsrechten nur unter restriktiven Voraussetzungen denkbar. Das Begehren oder Gewähren einer Leistung bedeutet noch lange nicht die Geltendmachung oder Erfüllung eines grundrechtlich gewährleisteten Leistungsrechtes. Eine eventuell betriebene Grundrechtsgutsförderung erfolgt nicht in Erfüllung eines subjektiv-rechtlichen Leistungsrechtes und kann daher keine Grundrechtskollision bewirken, auch wenn sie tatsächlich auf Kosten der Grundrechtsgüter eines andern erfolgen sollte. Was gemeinhin mit "Leistungsverwaltung" bezeichnet wird, umfaßt zwar die Erfüllung leistungsrechtlicher Pflichten, geht aber im übrigen weit darüber hinaus; keinesfalls kann sich die Leistungsverwaltung pauschal auf das Vorliegen einer Grundrechtskollision berufen, wenn sie in Abwehrrechte eingreift. Dieser Umstand schränkt das Potential von Grundrechtskollisionen erheblich ein. (c) Konstellationen von Grundrechtskollisionen Angesichts der Vielgestaltigkeit denkbarer Grundrechtskollisionen ist es nicht möglich, diese hier auch nur annähernd erschöpfend zu behandeln. Einige Ausführungen erscheinen zur Verdeutlichung gleichwohl angebracht. Von den hier interessierenden drei Typen von Grundrechtskollisionen wird eine Kollision zweier Abwehrrechte vergleichsweise selten vorkommen. Abwehrrechte können auf primärer Ebene sogar nie kollidieren, weil sie beide auf ein hoheitliches Unterlassen gehen46. Indessen kann es zu einer Kollision abwehrrechtlicher Primär- und Sekundärrechte kommen. Angenommen, eine 4 4
Dazu oben G I I l c .
4 5
Dazu oben G D 2 c .
4 6
Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 53 f., 81, mit dem zutreffenden Hinweis (S. 54 ff.), daß sich bei einer - abzulehnenden (s. oben C I I I 1 a aa) - unmittelbaren Grundrechtsbindung Privater vielfaltige Kollisionen auch primärer Abwehrrechte in der Bürger-Bürger-Ebene ergäben, weil dann in der Tat Private in der Wahrnehmung ihrer Freiheiten durch Achtungspflichten gegenüber anderen Privaten gehemmt sein müßten. Immerhin sind aber Kollisionen von Art. 9 m GG mit Art. 9 m GG denkbar, da die Koalitionsfreiheit unmittelbar auch Private bindet; insbesondere kommen Kollisionen von positiver und negativer Koalitionsfreiheit in Betracht, s. hierzu Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 74 ff.
II. Die Schranken der Abwehrrechte
465
Behörde hat ein Grundstück rechtswidrig enteignet und einem Dritten übereignet. Ein Enteigneter hat im Falle rechtswidriger Enteignung grundsätzlich einen abwehrrechtlichen Sekundäranspruch auf Rückübereignung47. Der Neueigentümer wird sein primäres Recht auf Eigentumsschutz anführen. Besteht in dieser Kollisionslage ein durch Rückenteignung zu erfüllender Rückübereignungsanspruch oder muß sich der enteignete Alteigentümer mit einer Entschädigung abfinden? Generell kann jedes "janusköpfige Verwaltungshandeln" 48 zu einer Kollision von Abwehrrechten fuhren, wenn nämlich ein und dieselbe hoheitliche Handlung dem einen eine Begünstigung gewährt, während sie den anderen in seinen Grundrechtsgütern beeinträchtigt. Letzterer wird abwehrrechtliche Sekundäransprüche gegen diese Beeinträchtigimg geltend machen, und ersterer wird sein primäres Abwehrrecht gegen einen Entzug dieser Begünstigung anführen. Für Grundrechtskollisionen typischer sind freilich Kollisionen von Abwehrrechten mit Schutzrechten49. Die hierfür charakteristische Situation ist die, daß ein Bürger eine Handlung vornehmen, insbesondere etwas tun will, und diesbezüglich einen abwehrrechtlichen Achtungsanspruch anführt, wohingegen der andere Bürger, der seine Güter durch eben diese Handlung beeinträchtigt wähnt, dagegen grundrechtlich Schutz begehrt 50. Die materielle Frage ist dann konkret die, ob der erste Bürger dem Staat verwehren kann, den Schutzanspruch des anderen Bürgers zu erfüllen, wenn die Schutzgewährung nur zu Lasten seiner Handlungsfreiheit möglich ist 5 1 . In der Tat kann er die Schutzgewährung nicht vollständig verhindern, sondern muß gegebenenfalls die Beschränkung seiner Handlungsfreiheit bis zur Herstellung praktischer Konkordanz hinnehmen. Dabei ist das Unvermögen, eine staatliche Schutzgewährung unter Hinweis auf seine Abwehrrechte zu verhindern, selbstverständlich nicht mit einer eigenen Verpflichtung des Bürgers identisch, dem anderen Schutz zu gewähren 52. Zur Illustration der Vielfalt denkbarer Kollisionen von Abwehr4 7 BVerfGE 38, 175, 179 ff.; BVeiwG, N V w Z 1987, 49 f.; Bryde, in v.Münch/Kunig, GG, Alt. 14 Rdnr 86; Kimminich, in BK, Alt. 14 (Vieitb. 1992) Rdnr 403 ff. 4 8 Schenke, DVB1. 1990, 334. 4 9 Vgl. BVerwGE 90, 112, 122; Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 82 f. (dem allerdings mit der Einordnung der Schutzansprüche in den "Bereich der grundrechtlichen Abwehrfunktion" nicht zu folgen ist); Di Fabio, JZ 1993, 691; Fluck, UPR 1990, 82; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 202 f. 5 0 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen, S. 31, 52 f. spricht in solchen Lagen von "Kehrseitigkeit". 5 1
Vgl. hierzu auch Fohmann, EuGRZ 1985, 59 f. Insofern unscharf Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 5 I,U (Lfg. 1982) Rdnr 287, der der Ehre bei Art. 5 I I GG und dem Leben bei Art. 13 m GG "eine gewisse Drittwirkung" gegenüber dem seine Meinung Äußernden bzw. dem Wohnungsinhaber zuspricht. Das ist so nicht richtig. Der Betroffene ist keineswegs grundrechtlich verpflichtet, die Ehre oder das Leben des anderen zu schützen; er kann lediglich nicht abwehrrechtlich die Schutzgewährung durch den Staat vereiteln, selbst wenn das zu seinen Lasten geht. Desgleichen abzulehnen Wahl/Masing, JZ 1990, 558 Fn. 47. - Zutreffend hingegen E. Klein, NJW 1989, 1639 f.: keine "unmittelbare Drittwir5 2
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H. Die Eingriffsrechtfertigung
und Schutzansprüchen mögen einige Beispiele aus der verfassungsgerichtlichen Praxis genügen, wobei die zutreffende Kollisionsauflösung hier dahinstehen kann: - Dem in Art. 5 Abs. 2, 3. Alt. GG vorhergesehenen Konflikt entspricht es, wenn jemand abwehrrechtlich Achtung seiner Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) begehrt, der durch die Äußerung Beleidigte dagegen Schutz seiner Ehre als Ausprägung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 G G ) 5 3 ; - wiewohl nicht in Art. 5 Abs. 2 GG benannt, kann ferner die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG), etwa bei der Schöpfung eines Romans 54 , einer Theateraufführung 55 oder einer Karikatur 56 mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht kollidieren; - die abtreibungsgewillte Schwangere beruft sich auf ihr Selbstbestimmungsrecht (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. 2 Abs. 1 GG) sowie ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), während der Staat auch zum Schutz des Lebens des ungeborenen Kindes verpflichtet ist (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) 5 ?; - die Rechte terroristischer (Untersuchungs)Gefangener auf Außenkontakt (Art. 2 Abs. 1, 6 Abs. 1 GG) und Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) können mit dem Anspruch eines Entführten auf staatlichen Schutz seines Lebens sowie seiner körperlichen Unversehrtheit und persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 GG) kollidieren 58; - der Wissenschaftsfreiheit von Ärzten an Universitätskliniken (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) steht der Anspruch der Patienten auf Schutz ihrer körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) gegenüber59; - der notwendige Schutz der Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit eines Presseunternehmens (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) kann der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) widerstreiten 60;
kung" von Schutzpflichten; Rose, DVB1. 1990, 280: grundrechtliche Schutzpflichten beeinflussen nur durch den Staat vermittelt die Rechtssphären der Bürger. 5 3 BVerfGE 33, 1 - Strafvollzugsbeschluß; 43, 130 - Äußerungen im politischen Meinungskampf; 54, 129, 136 - Kunstkritik; 54, 208, 217 - Boll-Entscheidung; 68, 226, 230 ff. Ironisch-kritische Veröffentlichung. 5 4
BVerfGE 30, 173 - "Mephisto".
5 5
BVerfGE 67, 213, 224 ff. - "Anachronistischer Zug".
5 6
BVerfGE 75, 369, 378 ff. - Strauß-Karikatur.
5 7
BVerfGE 39, 1, 36 ff. - Fristenlösung I; BVerfG, NJW 1993, 1751, 1753 f. - Fristenlösung n . 5 8 BVerfGE 49, 24, 53 ff. - Kontaktsperregesetz; BGHSt 27, 260, 263 f. und BVerfGE 46, 1, 11 ff. - Kontaktsperremaßnahmen. 5 9 BVerfGE 57, 70, 98 ff. - Hessisches Universitätsgesetz. Vgl. auch V G H Kassel, JZ 1990, 88, 89 - Gentechnologie-Forschung. 6 0 BVerfGE 66, 116, 133 ff. - Springer/Wallraff-Entscheidung.
II. Die Schranken der Abwehrrechte
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- die Kunstfreiheit des "Sprayers" (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) und der Anspruch des Eigentümers auf Schutz seines Eigentums (Art. 14 GG) können in Widerspruch zueinander geraten 61; - die Pflicht des Staates (Post) zum Schutz der Opfer bedrohender oder belästigender Anrufe (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, ggfs. Art. 2 Abs. 2 GG) kann mit dem Fernmeldegeheimnis (Art. 10 Abs. 1 GG) zugunsten der Anrufer kollidieren 62. Letzteres Beispiel zeigt zugleich, daß eine Kollision von Abwehr- und Schutzrechten nicht notwendig voraussetzt, daß gerade der das Abwehrrecht Invozierende die Handlung vornimmt oder plant, welche den Schutzanspruch auslöst. Auch die Grundrechtsgüter eines für das Entstehen dieser eigentlichen Grundrechtskollision nicht Verantwortlichen können von der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten betroffen sein. Dieses Problem annexer Grundrechtskollisionen hat das BVerfG im Fangschaltungsbeschluß klar herausgestellt: "Es liegt vielmehr in der Natur der Mißbrauchskontrolle, daß das Kontrollergebnis nicht im voraus bekannt ist. Die Vertraulichkeit der Kommunikation ... wird also nicht nur hinsichtlich mißbräuchlicher, sondern auch hinsichtlich rechtmäßiger Postbenutzung durchbrochen" 63. Auch annexe Grundrechtskollisionen sind im Sinne der Herstellung praktischer Konkordanz aufzulösen, wie das BVerfG im Kontaktsperrefall zutreffend herausgestellt hat: "Der Senat verkennt dabei nicht, daß die beanstandete Unterbindung von Kontakten zwischen Verteidigern und ihren inhaftierten Mandanten auch solche Anwälte treffen kann, die bisher keinen Anlaß zu der Annahme gegeben haben, sie könnten bewußt oder unbewußt zur Unterstützung terroristischer Gewalttäter oder zur Förderung von Terrorakten beitragen. Diese generalisierende Wirkung des einstweiligen Besuchsverbots ist indessen, will man nicht seine Effizienz überhaupt in Frage stellen, nicht zu umgehen. Sie beruht auf der Tatsache, daß niemand von vornherein zu entscheiden vermag, bei welchem Anwalt die Gefahr mißbräuchlicher Ausübung seiner Verteidigerrechte besteht und bei welchem nicht. Auch sie muß daher im Interesse des Schutzes höherrangiger Rechtsgüter, insbesondere des Lebens ..., vorübergehend hingenommen werden" 64 . Der etwa fehlenden Verantwortlichkeit des betroffenen Grundrechtsträgers für das Entstehen der annexen Grundrechtskollision ist allerdings im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung Rechnung zu tragen. Bei alledem ist selbstverständlich zu beachten: Hat der Staat (gegebenenfalls in Ausnutzung geschriebener oder ungeschriebener Abwehrrechtsschranken) 6 1
BVerfG, NJW 1984, 1293, 1294 - Sprayer von Zürich.
6 2
BVerfGE 85, 386, 400 f. - Fangschaltungen.
6 3
BVerfGE 85, 386, 399. BVerfGE 46, 1, 13.
6 4
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H . Die Eingriffsrechtfertigung
bereits hinreichende Schutzmaßnahmen ergriffen und dadurch seine Schutzpflicht erfüllt, so kommt für noch weiter gehende schützende Maßnahmen eine Berufung auf grundrechtliche Schutzansprüche nicht mehr in Frage, und daran scheitert jede weiter gehende Zurückdrängung von Abwehrrechten qua Annahme einer Grundrechtskollision. So sah das BVerfG in seiner Strafvollzugsentscheidung in den dem beleidigten Anstaltsleiter verfügbaren zivil- und strafrechtlichen Bestimmungen einen ausreichenden Ehrenschutz 65. Hatte damit der Staat seine Schutzpflicht jedoch schon erfüllt, so bestand keine weitere Kollision mit dem Abwehrrecht des Strafgefangenen. Folglich war das "Anhalten" des Briefes in der Tat nicht qua Grundrechtskollision zu legitimieren. Kollisionen sind nicht nur zwischen Abwehrrechten und Schutzrechten möglich. Obschon seltener, kann auch ein Beistandsrecht66 mit einem Abwehrrecht in Konflikt geraten, wenn nämlich der Staat zwecks Bewahrung von Grundrechtsgütern gegen sonstige Gefahren ein Abwehrrecht ignorieren muß. Die Vorstellung einer solchen Situation liegt etwa Art. 13 Abs. 3, 1. Halbsatz GG zugrunde, wonach das Wohnungsrecht hinter dem Bestreben des Staates zur Abwendung einer gemeinen oder einer Lebensgefahr zurückzustehen hat. Diese Gefahr braucht nämlich nicht von Dritten auszugehen, oder gar vom Wohnungsinhaber selbst - dann kollidierten Abwehrrecht und Schutzrecht67 -, sondern kann auch auf Unglücksfällen oder Naturkatastrophen beruhen, bei denen der Staat zum Erhalt der Grundrechtsgüter der Gefährdeten aufgerufen sein kann. Als ein anderes Beispiel einer solchen Kollision ist der "Gesundbeter"-Fall 68 zu sehen. Hierin ging es darum, ob der Staat seine Beistandspflicht gegenüber dem Leben eines Erkrankten dadurch zu erfüllen unternehmen darf, daß dessen Angehöriger bei Strafe (unterlassene Hilfeleistung, § 323c StGB) verpflichtet wird, entgegen seinem abwehrrechtlich geschützten Glauben (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) seinen Einfluß geltend zu machen, der Kranke möge sich einer bestimmten lebensrettenden Behandlung unterziehen. Ebenfalls vorstellbar ist, daß ein Abwehr- und ein Förderungsrecht in Konflikt geraten. Das wäre dann der Fall, wenn die forderungsrechtlich gebotene Garantie eines Soll-Bestandes eines Grundrechtsgutes des einen mit dem abwehrrechtlich gesicherten Ist-Zustand eines Grundrechtsgutes des anderen kollidiert, wenn also der eine Grundrechtsträger Förderung durch den Staat begehrt und der andere deswegen opponiert, weil die Erbringung der Förderungsleistung seine Grundrechtsgüter beeinträchtigen könnte. Beispiele hierfür sind der eventuelle forderungsrechtliche Anspruch auf die staatliche Bereit-
6 5
BVerfGE 33, 1, 17.
6 6
Zum Unterschied von Schutz- und Beistandsrechten s. oben C 11 b bb und c.
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Ktmig, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 13 Rdnr 51. BVerfGE 32, 98, 107 ff.
6 8
II. Die Schranken der Abwehrrechte
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Stellung statistischer Daten zu wissenschaftlichen Zwecken (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG), der mit dem Abwehrrecht auf Achtung persönlicher Daten (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) kollidieren kann 69 ; ein forderungsrechtlicher Anspruch darauf, daß über die Möglichkeit der gerichtlichen Anfechtung der Ehelichkeit die Erlangung der Kenntnis der eigenen Abstammimg ermöglicht werde (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), was dem Recht der Mutter auf Achtung ihrer Ehe und des Familienfriedens (Art. 6 Abs. 1 GG) zuwiderlaufen kann 70 ; das Förderungsrecht des nichtsorgeberechtigten Elternteils auf ein Mindestmaß an angemessenem Umgang mit dem Kind (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) kollidiert mit dem abwehrrechtlich geschützten Sorgerecht des anderen Elternteils (Art. 6 Abs. 2 G G ) 7 1 . Für den Staat besteht in solchen Konstellationen das Kollisionsproblem darin, ob er dem ersten Bürger eine Reduzierung seiner Ist-Freiheit aufzwingen darf, um dem zweiten den SollBestand zu sichern, oder ob umgekehrt der zweite im Interesse des ersten die Unterschreitung seiner Soll-Freiheit hinnehmen muß. In Erinnerung zu rufen ist nochmals, daß eine Grundrechtskollision nicht schon dann vorliegt, wenn der Staat einem Bürger auf Kosten der Grundrechtsgüter eines anderen irgendeine Wohltat will zukommen lassen, also Grundrechtsgutsforderung betreibt, sondern nur dann, wenn der erstere tatsächlich ein FörderungsrecAf auf diese Unterstützung hat 7 2 . Und soweit der Staat den Mindeststandard bereits gesichert und damit seine Förderungspflicht schon erfüllt hat, hindert keine Kollision die volle Beachtung des Abwehrrechtes. Konstellationen wirklicher Kollisionen von Abwehr- mit Förderungsrechten sind insgesamt höchst selten. Die vorstehenden Grundsätze erkennt auch das BVerfG an, wenn es etwa im Urteil zum Mitbestimmungsgesetz73 prüft, ob die "Grundrechte der Arbeitnehmer ... unmittelbar kraft Verfassungsrechts das Grundrecht der Anteilseigner aus Art. 14 GG ... begrenzen", das aber ablehnt, "weil sie ... keinen verbindlichen Verfassungsauftrag zur Einführung einer Unternehmensmitbestimmung wie deijenigen des Mitbestimmungsgesetzes enthalten"74. Diese Ablehnung erfolgte völlig zu Recht, da nicht ersichtlich ist, daß die Gewährleistung
6 9 7 0 7 1
BVerfGE 65, 1, 69 - Volkszahlungsgesetz. BVerfGE 79, 256, 268 ff. - Anfechtung der Ehelichkeit. BVerfG (3. Kammer des 1. Senats), EuGRZ 1993, 213, 214 - Umgangsrecht.
7 2
Nicht präzise beschrieben wird die Grundrechtskollision daher von Jarass/Pieroth, GG, Vorb Rdnr 40. Dieses unterschiedliche Verständnis hat natürlich Auswirkungen auf die Behandlung solcher Kollisionsfalle. 7 3
BVerfGE 50, 290. Ebd., S. 349; ähnliche Fragestellungen und Überlegungen finden sich in BVerfGE 52, 283, 298 - Betriebsrat in Presseunternehmen; 59, 231, 261 f. - "Ständige freie Mitarbeiter" bei Rundfunkanstalt. 7 4
470
H. Die Eingriffsrechtfertigung
eines Mindestbestandes von Freiheit der Arbeitnehmer eine Förderungspflicht auf Einfuhrung der fraglichen Mitbestimmungsregelung begründet hatte 75 . (2) Verfassungskollisionen (a) Entstehung Anders als bei den vorstehend beschriebenen Grundrechtskollisionen verhalt es sich mit den Verfassungskollisionen. Hier kollidieren abwehrrechtlich geschützte Grundrechtsgüter mit Interessen, die zwar keine Grundrechtsgüter darstellen, aber dennoch als besonders wichtige Gemeinwohlinteressen Verfassungsrang besitzen. Bei Grundrechtskollisionen treten zwei Grundrechtsträger in Konkurrenz um ihre gegenläufigen Rechte, und der Staat muß die Entscheidung treffen, welchem Grundrechtsgut in welchem Maße in der konkreten Situation der Vorrang gebührt. Bei Verfassungskollisionen steht der Bürger dem Staat gegenüber. Dieser verfolgt zwar qua Verwirklichimg von Gemeinwohlinteressen letzten Endes die Interessen aller; gleichwohl ist der betroffene Bürger nicht unmittelbar einem anderen und dessen Grundrechtsgütern konfrontiert. Den Verfassungskollisionen liegt aber nicht nur eine andersartige Konstellation zugrunde; auch bei ihrer Entstehung taucht ein Problem auf, das es so bei Grundrechtskollisionen nicht gibt: die Definitionsbedürftigkeit. Hier ist der Unterschied zwischen Interpretation und Definition von Bedeutung. Die Interpretation sucht den vorgegebenen, existierenden Sinn eines Begriffes; die Definition versieht einen Ausdruck mit einem Sinn und macht ihn so erst zu einem Begriff. So sind zwar etwa die Grundrechtsgüter interpretationsbedürftig, insofern ihr Sinn nicht ohne weiteres dem Wortlaut der Grundrechtsbestimmungen zu entnehmen sein mag; ihre Definition hat indessen der Verfassungs(gesetz)geber vorgenommen76. Weder der einfache Gesetzgeber noch auch das BVerfG haben ein Recht zur Definition von Grundrechtsgütern - sie können nur interpretieren.
7 5 Die im übrigen denkbaren Kollisionen zwischen Leistungsrechten selbst sind in bezug auf die hier interessierende Problematik der Rechtfertigung von Eingriffen in Abwehrrechte irrelevant und bedürfen deshalb keiner näheren Betrachtung. Sie haben freilich ohnehin kaum praktische Bedeutung. Erwähnenswert ist immerhin, daß im Zeichen knapper öffentlicher Mittel Förderungspflichten nicht samtlich erfüllbar sein mögen, was das BVerfG zutreffend im Numerusclausus-Urteil betont hat (vgl. BVerfGE 33, 303, 333). Und BVerfGE 46, 160, 165 nahm im Entführungsfall Schleyer an, der Staat habe "eine Schutzpflicht nicht nur gegenüber dem Einzelnen, sondern auch gegenüber der Gesamtheit aller Bürger"; hier lag also eine Kollision verschiedener Schutzrechte vor. 7 6
Ausnahmen gelten diesbezüglich für normgeprigte Schutzbereiche wie bei Art. 14 GG, deren Definition dem einfachen Gesetzgeber obliegt. Vgl. hieizu oben C m 1 b aa.
II. Die Schranken der Abwehrrechte
471
Anders verhält es sich in bezug auf Verfassungsgüter. Zwar sind Gemeinwohlinteressen nicht beliebig definierbar, sondern bedürfen einer Grundlegung 77 in der Verfassung 78, entweder durch explizite Aufnahme in Schrankenklauseln79 oder per Implikation aus verfassungsrechtlich vorgesehenen Einrichtungen 80 oder der Verfassungsordnung insgesamt. Doch auch hiernach gibt es eine Vielzahl denkbarer wesentlicher und je legitimer Interessen der Allgemeinheit, von denen einzelne in Widerspruch zueinander geraten können. Welche dieser Interessen wie weit, mit welchen Mitteln und zu welchem Preis verfolgt werden sollen, ist keine rechtliche Frage, die auf Verfassungsebene durch Interpretation entschieden werden könnte, sondern eine primär politische. Diese politische Entscheidung 81 aber ist zuvörderst Sache des Parlaments, welches aufgrund der Unmittelbarkeit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 7 7 Das Erfordernis einer grundgesetzlichen Fundierung der Verfassungsgüter ist nicht im Sinne einer zwangsläufigen Implikation aus der Verfassung zu verstehen in dem Sinne, daß das Grundgesetz etwa dem Gesetzgeber die Definition des fraglichen Verfassungsgutes geböte und im einzelnen vorzeichnete; erforderlich ist lediglich, daß das Grundgesetz die gesetzliche Definition einzelner Verfassungsgüter ermöglicht und erlaubt. Ein solcherart einfachgesetzlich definiertes Verfassungsgut erhält durch die grundgesetzliche Sanktionierung zwar Verfassungsrang, das betreffende Gesetz wird dadurch indessen nicht etwa zu einer Verfassungsnorm. Deshalb geht der Einwand von Kriele, JA 1984, 631 fehl, gesetzlich definierte Verfassungsgüter könnten nur per Grundgesetzänderung wieder geändert werden. Insoweit das Grundgesetz Verfassungsgüter nicht zwangsläufig impliziert, steht einer einfachgesetzlichen Neudefinition derselben nichts
vgl. BVerfGE 77, 240, 255; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 309; Jarass/Pieroth, GG, Vorb Rdnr 38; Nawiasky, Grundgedanken, S. 22 f.; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 240; Selk, N V w Z 1993, 146 f. Insofern ist die Anerkennung eines "allgemeinen Gemeinwohlvorbehaltes" etwa von Kopp, VwGO, § 113 Rdnr 18 (seine Konstellation betrifft die Kollision eines sekundären Abwehranspruchs mit einem Verfassungsgut) nicht unproblematisch (ablehnend etwa Jarass/Pieroth, GG, Vorb Rdnr 30; v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 58). Das Allgemeinwohl darf freilich nicht als ein ins Allgemeine und Beliebige abgleitender topos gebraucht werden (insofern zurecht kritisch Kriele, JA 1984, 631), sondern bedarf einer genauen grundgesetzlichen Fundierung. 7 9
S. oben H U 1 a bb.
8 0
V G H München, NVwZ-RR 1993, 190, 192; v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 57; Schnapp, JuS 1978, 734 f. Z.B. Funktionsfahigkeit der Bundeswehr (aus Art. 12a I , 73 Nr. 1 und 87a I 1 GG zu deduzieren), militärische Landesverteidigung (Art. 24 n , 87a, 115a ff. GG, 8. BVerfGE 77, 170, 221), Bestand der Sozialversicherung (aus Art. 74 Nr. 12 GG). In diesem Sinne ist es auch zulässig, auf Kompetenznormen zu rekurrieren, weil die ausdrückliche Sorge des Grundgesetzes um die Begründung einer (Bundes-)Kompetenz regelmäßig als Indiz dafür zu sehen ist, die betreffende Einrichtung solle es geben (Indizwirkung der Kompetenz für die Existenz des Verfassungsgutes). Vgl. v.Mangoldt, Schriftlicher Bericht, S. 11 für den analogen Schluß von einer Kompetenznorm auf ein Grundrechtsgut: die Existenz der Auswanderungsfreiheit "erschien auch durch die Vorschrift des Art. 73 Ziff. 3 hinreichend klargestellt, die dem Bund die ausschließliche Gesetzgebung für die Ein- und Auswanderung zuerkennt". Sehr weitgehend auch Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 5. Pieroth, AöR 114 [1989], 446 ff. bejaht den Schluß von der Kompetenz auf die Existenz dann, wenn eine Kompetenz nur eingreifend wahrgenommen werden kann oder wenn sie ein Rechtsinstitut (auch konkludent) festschreibt. Insofern kann die Kritik von Selk, JuS 1990, 897 ff. nicht überzeugen. Zu restriktiv Schnapp, JuS 1978, 734, 735. 8 1 Vgl. BVerfGE 59, 231, 263; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 320; Huber, Konkurrenzschutz, S. 190 f.
472
H. Die Eingriffsrechtfertigung
1 GG) das dem Volk als dem Träger der Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG) nächstverbundene Organ darstellt 82. Das Volk hat, handelnd durch das Parlament (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), eine eigenständige Definitionsmacht, was es als Gemeinwohl ansehen w i l l 8 3 . Durch die Festlegung des Wohls der Allgemeinheit aufgrund der Abwägung der vielfältigen, teilweise widerstreitenden Einzel- und Gruppeninteressen 84 konkretisiert der Gesetzgeber, dem dabei ein Gestaltungsspielraum zukommt 85 , das Verfassungsgut 86 und verdichtet es zu einem Rechtswirkungen entfaltenden Interesse 87. Erst diese Festlegung ermöglicht ein Zurückdrängen des ansonsten einen unbedingten Achtungsanspruch erhebenden Abwehrrechts 88. Allerdings gibt es auch Verfassungsgüter, die keiner Definition durch das Parlament bedürfen, bzw. seiner Definitionsmacht geradezu entzogen sein müssen. Etwa das in Art. 2 Abs. 1 GG in bezug genommene Sitten"gesetz" ist kein Gesetz im verfassungsrechtlichen Sinn, sondern verweist auf einen unkodifizierten transzendenten Normenbestand89, nämlich die Gesamtheit der in der sozialen Gemeinschaft tradierten und anerkannten sittlichen Vorstellungen 90 . Damit wird dem Gesetzgeber die Definitionskompetenz entzogen. Ähnliches gilt für den "Gedanken der Völkerverständigung" (Art. 9 Abs. 2 GG). Daß ferner die freiheitliche demokratische Grundordnung als die verfassungsmäßige Ordnung nicht durch den einfachen Gesetzgeber festzulegen ist, sondern als verfassungsrechtlicher Begriff durch den Verfassungs(gesetz)geber festgelegt ist, versteht sich auch von selbst. In bezug auf diese Verfassungsgüter besteht lediglich eine Interpretationsbefugnis. Das Gemeinwohlinteresse ist somit nicht schlicht als (ohnehin nicht zu ziehende Summe) der jeweiligen Individualinteressen zu verstehen, sondern als Abstraktion dieser sämtlichen Interessen91. Dies beinhaltet einen typisierten
8 2
Vgl. BVerfGE 33, 125, 159; Nawiasky, Grundgedanken, S. 22; Pietzcker,
JuS 1979, 713.
8 3
BVerfGE 13, 97, 107; Gentz, NJW 1968, 1602; Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 73. 8 4
BVerfGE 33, 125, 159; vgl. das Beispiel BVerfGE 48, 346, 358: Interesse der Versicherten gegen Interesse der Solidargemeinschaft; s. hierzu Huber, Konkurrenzschutz, S. 194 ff. 8 5
RhPfVerfGH, AS 17, 268, 278.
8 6
BVerfGE 57, 250, 276.
8 7
Zum Erfordernis eines konkreten Verfassungsgutes als Basis einer Verfassungskollision BVerfGE 77, 240, 255; SeUc, N V w Z 1993, 146. 8 8 Ähnlich Lerche, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 122 Rdnr 15. Dazu, daß es hierbei notwendig ist, genau zu analysieren, welches Grundrechtsgut mit welchem Verfassungsgut kollidiert, vgl. Kimminich, in BK, Art. 16 (Drittb. 1984) Rdnr 158 f.; Selk, N V w Z 1993, 146 f. 8 9 9 0
v.Mangoldt/KLein/Starck,
GG, Art. 2 Rdnr 24; v.Münch, in v.Münch, GG, Art. 2 Rdnr 35
Vgl. hierzu BVerfGE 6, 389, 434 ff; Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 Rdnr 16; v.Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Art. 2 Rdnr 26; v.Münch, in v.Münch, GG, Art. 2 Rdnr 35 f.; Nipperdey, in Bettermann/Nipperdey, Grundrechte IV/2, S. 820. Für funktionslos hält Kunig, in v.Münch/ Kunig, GG, Art. 2 Rdnr 26 ff. die Schranke des Sittengesetzes. 9 1 Huber, Konkurrenzschutz, S. 195.
. Die Schranken der Abwehrrechte
473
Interessenausgleich, und eben dadurch kann in concreto eine Kollision mit den Grundrechtsgütern einzelner entstehen. Verfassungskollisionen entstehen daher überwiegend erst in Konsequenz einer Festlegung von Verfassungsgütern. Wichtig ist, daß diese Festlegung als politische Entscheidimg einer (verfassungs)gerichtlichen Kontrolle nur insofern zugänglich sein kann, als sie überhaupt eine Stütze im Grundgesetz haben muß 92 ; jenseits dessen ist die Definition der Verfassungsgüter dem Gesetzgeber vorbehalten und keiner (verfassungs)gerichtlichen Zweckmäßigkeitskontrolle unterworfen 93. Die volle rechtliche Kontrolle setzt erst bei der Herstellung praktischer Konkordanz zwischen dem so definierten Verfassungsgut und einem damit etwa konfligierenden Grundrechtsgut ein. (b) Konstellationen von Verfassungskollisionen Die Vielgestaltigkeit der Verfassungskollisionen steht der der Grundrechtskollisionen keineswegs nach. Im Gegenteil treten aufgrund der im Vergleich zu der Zahl von Grundrechtsgütern größeren Zahl von Verfassungsgütern Verfassungskollisionen eher noch häufiger auf 94 . Folgende in Schrankenklauseln nicht ausdrücklich bedachte95 Beispiele mögen dies verdeutlichen: 9 2 Zu der mit der Berufung auf implizite Abwehrrechtsschranken verbundenen besonderen Begründungslast s. oben H H 1 a bb. 9 3
RhPfVerfGH, AS 17, 268, 278. Auch die "Grundrechtsgutsforderung" (vgl. BVerfGE 80, 124, 134) von Teilen der Bevölkerung ist als verfassungsrechtlich legitimes Gemeinwohlinteresse anzuerkennen. Positivrechtlich läßt sich dies einmal an der Staatszielbestimmung des Sozialstaats festmachen (vgl. hierzu etwa Bieback, EuGRZ 1985, 658 ff.; Böckenförde, NJW 1974, 1538; Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, S. 63), dem es nicht bloß darum geht, den Ist-Zustand an Freiheit zu achten bzw. einen Soll-Bestand zu sichern, sondern der auch nach einer (grundrechtlich nicht gebotenen) Ist-Zustands-Verbesserung streben kann. Zum andern können solche Förderungen auch den vom Grundgesetz objektiv-rechtlich geschützten Instituten dienen und daraus ihre verfassungsrechtliche Legitimation herleiten (vgl. hierzu BVerfGE 80, 124, 133). Zu weit geht freilich Krebs, Vorbehalt des Gesetzes, S. 122, der die "Grundrechte als Verfassungskonkretisierungen des Sozialstaatsprinzips" auffaßt und damit das Selbstverständnis des Grundgesetzes auf den Kopf stellt, wonach die Grundrechte primär rechtsstaatliche und nicht sozialstaatliche Funktion haben, und schon gar nicht bloße "Konkretisierungen" deses Sozialstaatsprinzips sind. Das bedeutete nämlich im Ergebnis eine Unterordnung auch der Träger der Grundrechte unter die mit dem Sozialstaatsprinzip verbundene Idee, weil dann unter Rückgriff auf das Sozialstaatsprinzip die Grundrechte überspielt werden könnten. Bedenklich weit insofern auch Scherzberg, Grundrechtsschutz, S. 140 f., nach dem "staatliche Intervention in den Prozeß gesellschaftlicher Selbstregulierung" zwecks Bewirkung eines Zustands "sozial gerechter Verteilung der Freiheitschancen ... nicht von vornherein alsfreiheitsbeschränkend gelten" kann (Hervorhebung im Original). Eine solche Ansicht läuft Gefahr, die freiheitssichernde Funktion der Abwehrrechte weitgehend auszuhöhlen. Zuzustimmen ist demgegenüber Bieback, EuGRZ 1985, 662, der umgekehrt das Sozialstaatsprinzip durch die Gesetzesvorbehalte konkretisiert und in seiner inhaltlichen Tragweite zugleich begrenzt sieht. Insoweit in Verfolgung sozialstaatlich legitimer Ziele eine Kollision mit den Abwehrrechten anderer entsteht, ist an eine Einschränkung dieser Abwehrrechte zwecks Herstellung praktischer Konkordanz zu denken (vgl. dazu BVerfGE 50, 290, 349). Solche Entscheidungen obliegen dem Gesetzgeber, da das Sozialstaatsprinzip zu unbestimmt und folglich konkretisierungsbedürftig ist 9 4
474
H. Die Eingriffsrechtfertigung
- Die Informationsfreiheit Inhaftierter (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) kann in Konflikt mit der Ordnung in einer Haftanstalt geraten 96; - das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) kann dem Interesse des Staates an verläßlichen Planungsdaten zuwiderlaufen 97; - die unzeitige Wahrnehmung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG) kann die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr, welche verfassungsrechtlichen Rang hat (Art. 12a Abs. 1, 73 Nr. 1 und 87a Abs. 1 Satz 1 GG), beeinträchtigen98; - die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) kann mit dem Eideszwang im Interesse einer funktionsfähigen Rechtspflege kollidieren 99; - die Glaubensfreiheit kann ferner durch die Anbringung eines Kreuzes im Gerichtssaal beeinträchtigt werden 100 ; - und die Glaubensfreiheit kann mit dem Erziehungsauftrag der staatlichen Schulen auch auf weltanschaulich-religiösem Gebiet (Art. 7 GG) in Konflikt geraten 101 ; - das Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) und der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag (Art. 6 Abs. 2 Satz 2, 7 Abs. 1 GG) können widerstreiten 102; - die Abfassung einer gemeinschaftlichen Petition (Art. 17 GG) von Häftlingen kann mit dem Haftzweck unvereinbar sein 1 0 3 ; - die negative Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) kann durch die Kirchensteuereinziehung beeinträchtigt werden 104 ; - die Meinungsäußerungs- und Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) kann mit dem Interesse an einer inhaltlich ausgewogenen und sachlichen Programmgestaltung kollidieren 105 ;
(BVerfGE 52, 283, 299; 59, 231, 262 f.), ebenso wie die genaue Definition objektiv-rechtlicher Institute Sache des Gesetzgebers sein muß. Aus diesem Grund hat der Staat im Bereich der Grundrechtsgutsforderung einen weiteren Definitionsspielraum als in Bereichen, in denen echte grundrechtliche Förderungsanspriiche bestehen (vgl. BVerfGE 80, 124, 134; Bieback, EuGRZ 1985, 662). Bei einer Grundrechtsgutsförderung entstehende Kollisionen sind keine Grundrechtskollisionen, sondern Verfassungskollisionen und unter besonders genauer Beachtung des Übermaßverbotes aufzulösen. 9 5 9 6 9 7
Zu ausdrücklich benannten Verfassungskollisionen s. bereits oben H U 1 a bb. BVerfGE 15, 288 - Rundfunkempfang durch UntersuchungshäfUing. BVerfGE 27, 1, 6 ff. - Mikrozensus; 65, 1, 41 - Volkszahlungsgesetz.
9 8
BVerfGE 28, 243, 260 ff. - Kriegsdienstverweigerung aktiver Soldaten.
9 9
BVerfGE 33, 23 - Eidesverweigerung aus Glaubensgründen.
1 0 0
BVerfGE 35, 366 - Verhandeln unter dem Kreuz.
1 0 1
BVerfGE 41, 29, 50 f. - Christliche Gemeinschaftsschule. BVerfGE 47, 46, 74 - Sexualerziehung. BVerfGE 49, 24, 57 - Kontaktsperregesetz.
1 0 2 1 0 3 1 0 4 1 0 5
BVerfGE 49, 375 - Religionszugehörigkeit auf Lohnsteuerkarte. BVerfGE 57, 295, 319 ff. - Drittes Rundfunkurteil.
II. Die Schranken der Abwehrrechte
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- die Freiheit der Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 GG) kann der der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege dienenden Standesordnung der Rechtsanwälte zuwiderlaufen 106; - die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) kann dem Schutz der Verfassungsordnung widersprechen 107; - das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) kann mit dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung kollidieren 108 ; - die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) kann Belange des Kinder- und Jugendschutzes beeinträchtigen 109; - die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG), namentlich das Streikrecht, kann die Funktionsfähigkeit der Post behindern 110 . b) Die Aktivierung
von Abwehrrechtsschranken
Sobald Abwehrrechtsschranken aufgrund von Grundrechts- bzw. Verfassungskollisionen konstituiert sind, stellt sich die Frage ihrer Aktivierung. Denn auch soweit Abwehrrechtsschranken bestehen, ist keineswegs selbstverständlich, daß sich nun jede der Staatsgewalten ohne weiteres dem Grundrechtsträger gegenüber auf sie berufen und von ihr zwecks Einschränkung des Abwehrrechtes Gebrauch machen dürfte. Vielmehr ist zu untersuchen, wie die Kompetenz zur Aktivierung von Abwehrrechtsschranken verteilt ist, d.h. wer die Berufung auf diese Schranken zulassen kann. Zwar könnte ohne die vorhergehende Konstituierung der Abwehrrechtsschranke nicht einmal der Gesetzgeber die Einschränkung des effektiven abwehrrechtlichen Schutzes anordnen; vielmehr gölte dann das Abwehrrecht uneingeschränkt. Ist die Konstituierung der Abwehrrechtsschranke mithin notwendige Bedingung ihrer Aktivierung, so folgt daraus keineswegs, daß sie auch hinreichende Bedingung sein müßte. In der Tat wird sich zeigen, daß dieser Punkt das in Gestalt des Vorbehalts des Gesetzes diskutierte Hauptproblem der Abwehrrechtsschranken ausmacht; die entscheidende Frage ist dabei, inwieweit der Gesetzgeber die Berufung auf Abwehrrechtsschranken erlauben muß bzw. inwieweit die Verwaltung aus eigener Machtvollkommenheit von konstituierten Abwehrrechtsschranken Gebrauch machen darf. Diese Frage stellt sich selbst in bezug auf Verfassungskollisionen, welche erst aufgrund einer gesetzlichen Definition des Verfassungsgutes entstehen. Denn mit dieser Definition hat zwar der Gesetzgeber die Verfassungskollision hervorgerufen und somit die Abwehrrechts1 0 6
BVerfGE 76, 171, 184 ff., 195 - Ehrengerichtliche Maßnahmen gegen Rechtsanwalt.
107 BVerfGE 77, 240 - Werbung für Kunstwerk unter Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. BVerfGE 80, 367, 375 - Verwertung tagebuchartiger Aufzeichnungen im Strafverfahren. 1 0 9 1 1 0
32 Roth
BVerfGE 83, 130, 139 ff. - "Josefine Mutzenbacher". BVerfG, NJW 1993, 1379 f. - Einsatz von Beamten auf bestreikten Arbeitsplätzen.
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H . Die Eingriffsrechtfertigung
schranke konstituiert; damit ist aber nicht impliziert, die Verwaltung dürfe schon deswegen die Abwehrrechtsschranke ausnutzen - die Definition des Verfassungsgutes mag eine Verfassungskollision gar nicht im Auge gehabt haben. c) Die Aktualisierung
von Abwehrrechtsschranken
Ist eine Abwehrrechtsschranke konstituiert und ordnungsgemäß aktiviert, d.h. hat das kompetente Organ die Berufung auf die Abwehrrechtsschranke erlaubt, so stellt sich zuletzt noch das Problem ihrer Aktualisierung, nämlich des konkreten Gebrauchmachens von dieser Abwehrrechtsschranke: es werden Maßnahmen vorgenommen, die eine Nichtbeachtung des abwehrrechtlichen Primärrechtes bedeuten und ohne vorherige Aktivierung der Abwehrrechtsschranke unzulässig wären. Die Aktualisierung einer Abwehrrechtsschranke ist vor allem ein Subsumtionsprozeß: der Träger öffentlicher Gewalt und das Organ, die von ihr Gebrauch machen wollen, müssen den gegebenen Sachverhalt unter die durch die Konstituierung und bei der Aktivierung der Abwehrrechtsschranke vorgegebenen Bedingungen subsumieren; die fragliche Maßnahme stellt nur dann eine zulässige Aktualisierung der Abwehrrechtsschranke dar, wenn sie die einschlägigen Voraussetzungen erfüllt.
2. Kompetentielle und substantielle Aspekte der Schrankenaktivierung und -aktualisierung Die Problematik der Aktivierung bzw. Aktualisierung der Abwehrrechtsschranken läßt sich gut an den Schrankenklauseln der verschiedenen Abwehrrechtsbestimmungen111 ablesen, welche die Voraussetzungen formulieren, unter denen die jeweils benannte Abwehrrechtsschranke aktiviert und aktualisiert werden darf. Dabei zeigt sich, daß kompetentielle und substantielle Aspekte zu unterscheiden sind 1 1 2 . a) Der Vorbehalt des Gesetzes als kompetentielle Schrankenvoraussetzung Die ganz überwiegende Zahl der Schrankenklauseln formuliert Gesetzesvorbehalte, also ausdrückliche Bestimmungen dahingehend, daß die Abwehrrechtsschranke nur greift, wenn sie "durch Gesetz" bzw. "auf Grund eines Ge-
1 1 1
S. oben H D 1 a bb. Ahnlich Alexy, Theorie, S. 263; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 49 f.; LübbeWolf; Eingriffsdogmatik, S. 27 ff.; v.Mangoldt/Klem/Starck, GG, Ait. 1 Rdnr 172; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 23 f. 1 1 2
II. Die Schranken der Abwehrrechte
477
setzes" aktiviert w i r d 1 1 3 . Die Bezeichnung "Gesetz" in den Schrankenklauseln bezieht sich auf formelle Gesetze 114 , d.h. auf von den verfassungsrechtlich vorgesehenen Gesetzgebungsorganen (Bundestag und gegebenenfalls Bundesrat, bzw. Landesparlamente) im verfassungsmäßigen Gesetzgebungsverfahren erlassene Gesetze (Parlamentsgesetze)115. Damit wird durch das Verlangen einer gesetzlichen Grundlage die Zuständigkeit zur Aktivierung der Abwehrrechtsschranken der Legislative zugewiesen116. Der Vorbehalt des Gesetzes 117 ist somit nichts anderes als die Zuweisung der Schrankenaktivierungskompetenz an die Legislative. Während der Vorrang des Gesetzes die Materie der konkurrierenden Kompetenz von Gesetzgeber und Verwaltung bzw. Rechtsprechung betrifft (soweit der Gesetzgeber eine Angelegenheit geregelt hat, sind Verwaltung und Gerichte daran gebunden, Art. 20 Abs. 3 GG), geht es beim Vorbehalt des Gesetzes um die ausschließliche Kompetenz des Gesetzgebers: Soweit der Vorbehalt des Gesetzes greift, dürfen Exekutive und Judikative die fragliche Schranke nicht aus eigener Machtvollkommenheit aktivieren, sondern nur nach Gestattung durch den Gesetzgeber. Wenn nun die meisten Schrankenklauseln Gesetzesvorbehalte beinhalten, bedeutet dies nicht, daß Abwehrrechtsschranken ohne gesetzliche Bestimmung niemals zu aktivieren sind? Und wie verhält es sich mit den "geschlossenen" Abwehrrechten? Da, wie schon eingangs skizziert, gerade der Vorbehalt des Gesetzes im Hinblick auf weit verstandene faktische Eingriffe Bedenken provoziert, erhebt sich die Frage, ob die Schrankenaktivierungskompetenz durchweg der Legislative vorbehalten ist. Das dogmatische Problem erhellt, wenn man realisiert, daß es auch Schrankenklauseln gibt, die zwar Abwehrrechtsschranken vorsehen, diese aber gerade nicht an die kompetentielle Voraussetzung gesetzlicher Aktivierung knüpfen.
1 1 3 Vgl. Art. 2 n 3; 5 n 1. und 2. Alt.; 6 ffl; 8 U; 9 U 1. Alt.; 10 U 1; 11 U; 13 U und ffl 2.Halbsatz; 14 ffl 2; 15; 16 12; 17a GG. Hierzu ist ferner der Regelungsvorbehalt in Art. 12 I 2 GG zu zahlen, der in der Sache einem Vorbehalt zur Eingriffsrechtfertigung durch Gesetz bzw. auf Grund Gesetzes gleichkommt, BVerfGE 33, 125, 159; 54, 237, 246; Gubelt, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 12 Rdnr 42; Jarass/ Pieroth, GG, Art. 12 Rdnr 17; Scholz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 12 (Lfg. 1981) Rdnr 296. 1 1 4 Hendrichs, in v.Münch, GG, Art. 19 Rdnr 6; R. Hermes, Parlamentsgesetz, S. 96; Krebs, Vorbehalt des Gesetzes, S. 113; ders., in v.Münch/Kunig, GG, Art. 19 Rdnr 4; Menger, in BK, Art. 19 I (Zweitb. 1979) Rndr 76. 1 1 5
Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rdnr 7.
1 1 6
Vgl. Alexy, Theorie, S. 254; Eckhoff, Der Gnindrechtseingriff, S. 23; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 88; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 313 f.; Jestaedt, Der Staat 1993, 46 f.; Krebs, Jura 1979, 304; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rdnr 5; Schnapp, JuS 1978, 730; Schwabe, Gnindrechtsdogmatik, S. 23. 1 1 7 Der "Gesetzesvorbehalt" befindet sich als Teil der Schrankenklausel auf der Ebene der Abwehrrechtsbestimmung, der "Vorbehalt des Gesetzes" soll als mögliche Voraussetzung der Aktivierung der Abwehrrechtsschranke der Normebene zugeordnet werden. Vgl. Krebs, Vorbehalt des Gesetzes, S. 11 Fn. 1.
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H. Die Eingriffsrechtfertigung
Nach Art. 5 Abs. 2, 3. Alternative GG findet die Kommunikationsfreiheit ihre "Schranke" in dem "Recht der persönlichen Ehre". Diese Abwehrrechtsschranke des Ehrenschutzes setzt, im Gegensatz zu denen der "allgemeinen Gesetze" und der "gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend", keine gesetzliche Regelung voraus 118 . Zwar wird auch in bezug auf den Ehrenschutz von der h.M. ein Vorbehalt des Gesetzes konstruiert, indem behauptet wird, unter dem "Recht" der persönlichen Ehre seien lediglich die Gesetze zum Schutz der Ehre zu verstehen 119. Diese Ansicht steht jedoch in Widerspruch zum klaren Wortlaut des Art. 5 Abs. 2 G G 1 2 0 : dieser nennt ausdrücklich die "allgemeinen Gesetze" und die "gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend", unterscheidet also sehr wohl zwischen "Gesetz" und "Recht". Der Verfassungsgeber schuf für jene Alternativen ausdrücklich einen Gesetzesvorbehalt. Hätte er einen solchen auch für den Ehrenschutz vorsehen wollen, konnte er das unschwer tun: "Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze und den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und der persönlichen Ehre." 1 2 1 Daß er dies unterließ, ist eine bewußte Entscheidung, die es zu respektieren g i l t 1 2 2 . Ferner ist auf Art. 13 Abs. 3, 1. Halbsatz GG zu verweisen, wonach die Wohnungsfreiheit "zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen" beschränkt werden darf, und zwar ohne daß es
1 1 8 Auch Huber, Konkurrenz schütz, S. 287 nimmt hier eine "von der Verfassung vorgesehene Schranke" an, neben der es keines Gesetzes bedarf. 1 1 9 BVerfGE 33, 1, 16 f.; Degenhart, in BK, Alt. 5 I,U (Zweitb. 1987) Rdnr 118; Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 5 I,H (Lfg. 1989) Rdnr 247; Jarass/Pieroth, GG, Art. 5 Rdnr 51; v.Münch, in v.Münch, GG, Art. 5 Rdnr 57; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 27 Fn. 16; Wendt, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 5 Rdnr 82. 1 2 0 Das konzedieren auch BVerfGE 33, 1, 16; Jarass/Pieroth, GG, Art. 5 Rdnr 51; v.Münch, in v.Münch, GG, Art. 5 Rdnr 57; Wendt, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 5 Rdnr 82. 1 2 1 Entgegen Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 5 I , n (Lfg. 1989) Rdnr 247 geht es nicht an, eine Verfassungsbestimmung "ohne weiteres" anders zu lesen, als sie tatsachlich formuliert ist. Wäre das Merkmal der Bestimmung durch Gesetze wirklich so selbstverständlich, wie Herzog meint, hätte es nämlich auch in bezug auf die Ji'gendschutzbestimmung weggelassen werden können. 1 2 2 Wenn entgegen diesem klaren Wortlaut dennoch eine gesetzliche Bestimmung des Rechts der persönlichen Ehre gefordert wird, weil "das geltende Gnindrechtsverstandnis ... Eingriffe in Freiheitsrechte nur auf gesetzlicher Grundlage zuläßt" 0v.Münch, in v.Münch, GG, Art. 5 Rdnr 57; Wendt, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 5 Rdnr 82; noch arger BVerfGE 33, 1, 16 f., das sich gar nur auf das "herrschende Gnindrechtsverständnis" beruft, um seine wortlautwfcirigi (!) Auslegung zu rechtfertigen), so stellt das eine unzulässige petitio principii dar: Nicht ein behauptetes "geltendes" oder gar nur "herrschendes" Verständnis der Abwehrrechte darf die Interpretation der grundgesetzlichen Bestimmungen lenken, sondern umgekehrt ist das richtige Verständnis aus und im Einklang mit den Verfassungsbestimmungen zu entwickeln. Wenn das Grundgesetz selbst die Kommunikationsfreiheit durch das Recht der persönlichen Ehre beschrankt, ohne ein aktivierendes Gesetz zu fordern, so ist das zu achten, zumal es einen triftigen dogmatischen Grund für diese Schrankengestaltung gibt (s. nachfolgend H U 3 b).
II. Die Schranken der Abwehrrechte
479
hierzu einer gesetzlichen Schrankenaktivierung bedürfte. Letzteres ist unstrittig und unbestreitbar 123. Bereits daraus folgt, daß der Vorbehalt des Gesetzes keine allgemeingültige kompetentielle Schrankenvoraussetzung sein kann. Daß diese Erkenntnis für die Rechtfertigungsproblematik von Bedeutung ist, bedarf keiner Erläuterung. Da nicht anzunehmen ist, daß Art. 5 Abs. 2, 3. Alternative und Art. 13 Abs. 3, 1. Halbsatz GG einer bloßen Laune des Verfassungsgebers entsprangen, stellt sich die Frage nach dem tieferen Sinn für dieses Absehen von einem Vorbehalt des Gesetzes. Die Antwort hierauf erfordert eine eingehende dogmatische Analyse der Abwehrrechtsschranken. Allein anhand ihres materiellen Sinnes läßt sich entscheiden, ob diese beiden Fälle Ausnahmen sind und im Umkehrschluß die Geltung eines Vorbehalts des Gesetzes in allen anderen Fällen belegen, oder ob sie analogiefähige Beispiele eines allgemeinen Prinzips der Nichtgeltung eines Vorbehalts des Gesetzes in gewissen (welchen?) Situationen darstellen. b) Die substantiellen Schrankenvoraussetzungen Die wenigsten Schrankenklauseln begnügen sich mit einer bloßen Aufstellung des Vorbehalts des Gesetzes, sondern formulieren noch weitere, substantielle Voraussetzungen der Abwehrrechtsschranken. Deshalb ist die Unterscheidung zwischen Abwehrrechten mit einfachem und solchen mit qualifiziertem Gesetzesvorbehalt üblich 124 . Die einfachen Gesetzesvorbehalte erschöpfen sich in der Statuierung des Vorbehalts des Gesetzes, indem sie die Schrankenaktivierung "nur durch Gesetz und/oder auf Grund eines Gesetzes" zulassen, im übrigen aber keine weitergehenden expliziten Anforderungen stellen 125 . Die qualifizierten Gesetzesvorbehalte gehen dadurch über den allgemeinen Vorbehalt des Gesetzes hinaus, daß sie ausdrücklich zusätzliche substantielle Schrankenvoraussetzungen aufstellen. Hierbei ist wiederum zwischen den materiellen Schrankenvoraussetzungen, die näher bestimmen, in welchen Situationen und zu welchem Zweck die Aktivierung der Abwehrrechtsschranke und das Gebrauchmachen von ihr zulässig sind 1 2 6 , und den formellen Schrankenvoraussetzungen zu unterscheiden, die bestimmte Modalitäten und Förmlichkeiten festsetzen, denen eine Berufung auf die Schranke S. nur Kunigy in v.Münch/Kunig, GG, Art. 13 Rdnr 36; Pappermann, in v.Munch, GG, Alt. 13 Rdnr 32. 1 2 4 Vgl. Alexy, Theorie, S. 263 f.; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 315; Jarass/Pieroth, GG, Vorb Rdnr 33; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 159; v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Voib Rdnr 54; Schlink, EuGRZ 1984, 459; Schnapp, JuS 1978, 731 f. Eine etwas andere Systematik findet sich bei v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Alt. 1 Rdnr 173 f.; diese weist noch starker auf die im Text nachfolgende Unterscheidung hin. 1 2 5 Art. 2 n 2; 10 n 1 GG. 1 2 6
Art. 5 H; 6 ffi; 8 II; 9 H 1. Alt.; 11 U; 13 ffl; 14 ffl; 15; 16 12; 17a; 19 11, U GG.
480
H. Die Eingriffsrechtfeigung
genügen muß 1 2 7 . Unter die formellen Schrankenvoraussetzungen sind ferner die sich auf das Verfahren der Schrankenaktualisierung beziehenden Bestimmungen 128 sowie die dabei zu beachtenden Verfahrenszuständigkeiten 129 zu fassen, weil auch diese die Art und Weise regeln, in der die Aktualisierung der Abwehrrechtsschranken allein statthaft ist. Die formellen und materiellen Schrankenvoraussetzungen sind primär eine Sache der Dogmatik der einzelnen Abwehrrechte und in dieser Arbeit nicht weiter zu behandeln. Erwähnenswert ist immerhin, daß über die verschiedenen benannten materiellen Voraussetzungen hinaus Rechtsprechimg und Lehre noch weitere, nicht ausdrücklich benannte entwickelt haben. Die weitaus wichtigste ist das Übermaßverbot mit seinen Elementen der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit 130. Weiter zu nennen ist etwa das Erfordernis rechtsstaatlicher Klarheit und Bestimmtheit131. Die substantiellen Schrankenvoraussetzungen betreffen sowohl die Stufe der Aktivierung wie auch die der Aktualisierung der Abwehrrechtsschranken: Erstens geben sie an, unter welchen Voraussetzungen der etwa kompetentiell zur Schrankenaktivierung berufene Gesetzgeber die Abwehrrechtsschranke aktivieren darf; zweitens können Verwaltung und Gerichte die Abwehrrechtsschranke in concreto natürlich nur dann aktualisierend in Anspruch nehmen, wenn die etwa bestehenden materiellen und formellen Bedingungen erfüllt sind. Der Unterschied von Aktivierung und Aktualisierung einer Abwehrrechtsschranke spiegelt sich auch in den beiden Alternativen der Vorbehaltsformel wider: Eine Schrankenaktivierung "durch Gesetz" aktualisiert die Abwehrrechtsschranke zugleich; in das Abwehrrecht wird durch den Gesetzgebungsakt selbst eingegriffen, ohne daß es eines Zutuns von Verwaltung oder Rechtsprechimg bedürfte 132 . Bei der Schrankenaktivierung "auf Grund eines Gesetzes" fallen Aktivierung und Aktualisierung indessen auseinander. Dabei sind wiederum zwei Konstellationen möglich. Einmal kann das Gesetz die Abwehrrechtsschranke unmittelbar aktivieren, indem es selbst Verwaltung und 1 2 7 Art. 10 I I 2 (besonderes Nachprüfungsverfahren); 13 I I (Durchsuchungsdurchfuhrung in der vorgeschriebenen Form); 14 m 2 (Junktimklausel); 19 I 2 (Zitiergebot); 104 I 1 GG (Förmlichkeiten der Freiheitsentziehung). 1 2 8 Z.B. Art. 103 I GG (Gewährung rechtlichen Gehörs). 1 2 9 Art. 18 S. 2 (Vorbehalt verfassungsgerichtlichen Spruchs); 13 U und 104 H (Richtervorbehalt); 101 I GG (gesetzlicher Richter). 1 3 0 S. dazu etwa BVerfGE 61, 131, 144; 76, 1, 50 f.; 77, 84, 108 ff.; BVerwGE 30, 313, 316; v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 Rdnr 178; v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 55; Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rdnr 56 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 318 ff.; Schlink, EuGRZ 1984, 459 ff. 1 3 1 S. dazu BVerfGE 65, 1, 44; Bleckmann, Grundrechte, S. 344 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr 357; Schnapp, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 20 Rdnr 25. 1 3 2 Beispiel: § 21 StVG - Fahren ohne Fahrerlaubnis; § 24a StVG - 0,8-Promille-Grenze.
II. Die Schranken der Abwehrrechte
481
Gerichte ermächtigt, bei Vorliegen der substantiellen Gegebenheiten von der Abwehrrechtsschranke Gebrauch zu machen; diese Aktivierung ist eine potentielle, die erst durch das tatsächliche Gebrauchmachen von der aktivierten Abwehrrechtsschranke aktualisiert wird 1 3 3 . Zum anderen besteht die Möglichkeit der mittelbaren Schrankenaktivierung durch das Gesetz, wenn dieses nämlich Exekutivorgane zum Erlaß von Rechtsverordnungen ermächtigt (Art. 80 Abs. 1 GG), die erst ihrerseits die Abwehrrechtsschranken aktivieren. Das materielle Gesetz kann seinerseits die Abwehrrechtsschranke bereits aktualisieren, wenn es ohne Zwischenschaltung von Verwaltung oder Gerichten Gebrauch von der Abwehrrechtsschranke macht 134 . Es kann aber auch nur potentiell wirken, wenn es lediglich Verwaltung und Gerichte befugt, von der Abwehrrechtsschranke Gebrauch zu machen. Der Erlaß einer solchen zu exekutiven oder judikativen Eingriffen ermächtigenden Rechtsverordnung stellt eine echte Schrankenaktivierung dar, weil sich die Verwaltung in ihrer verwaltenden Tätigkeit nicht auf die Verordnungsermächtigung stützen kann, sondern eben die berufenen Exekutivorgane in einem Akt materieller Gesetzgebung zuerst die Rechtsverordnung erlassen müssen; sie wirkt potentiell, weil die ermächtigten Gewalten erst noch Gebrauch von der Ermächtigung machen müssen, um die Abwehrrechtsschranke zu aktualisieren 135.
3. Das System der Abwehrrechtsschranken Ein Zugang zur Lösung des Problems des Vorbehalts des Gesetzes läßt sich nur eröffnen, wenn zuvor Klarheit in das "Wirrwarr" der Abwehrrechtsschranken 136 gebracht wird. a) Strukturen
der Abwehrrechtsschranken
Die Abwehrrechtsschranken als auf Verfassungsebene angesiedelte Einschränkungen des effektiven Schutzes der Abwehrrechte sind von den Grenzen des Abwehrrechts zu unterscheiden, jenseits derer irgendein Schutz ohnehin nie in Betracht kommt und sich deshalb die Frage einer etwaigen Einschränkung nicht stellt. Diese Schutzbereichsgrenzen werden durch die Begrifflich-
1 3 3 Beispiel: § 25 StVG - Fahrverbot: die Aktualisierung des gesetzlich angedrohten Fahrverbots erfolgt durch die Verwaltungsbehörde oder das Gericht in der Bußgeldentscheidung. 1 3 4
Beispiel: Sämtliche Ge- und Verbote der StVO.
Beispiel: § 45 StVO - Verbot der Straßenbenutzung aus Gründen der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs durch die Straßenverkehrsbehörde. 1 3 6 v.Münch, in v.Münch/Kunig, GG, Vorb Rdnr 53; vgl. auch Isensee, Das staatliche Gewaltmonopol, S. 42 f.
482
H. Die Eingriffsrechtfertigung
keit des Grundrechtsgutes definiert 137 ; was ein Bürger jenseits dieser Grenzen tut, fallt niemals in den Schutzbereich des betreffenden Abwehrrechts 138. Die Behinderung eines solchen Handelns kann keinen Eingriff darstellen und bedarf deshalb auch nie einer gesetzlichen " Eingriffs" ermächtigung 139. Hingegen schließen die Abwehrrechtsschranken zwar den effektiven abwehrrechtlichen Schutz aus, nicht aber den potentiellen, weil sie an bestimmte Bedingungen geknüpft sind. Dogmatisch sind hier zwei Strukturen zu unterscheiden: Die Schutzbereichsschranken schließen jenes private Handeln aus dem Schutzbereich des Abwehrrechts aus, das zwar begrifflich innerhalb der Schutzbereichsgrenzen hegt, indessen nach Sinn und Zweck des Abwehrrechts als per se nicht schützenswerte Freiheitsbetätigung anzusehen ist und damit teleologisch aus dem Schutzbereich auszuscheiden hat; privates Handeln jenseits der Schutzbereichsschranken ist, weil der Eingriff eine Schutzbereichsbeeinträchtigung voraussetzt 140, keine eingriffsfähige abwehrrechtlich geschützte Freiheitsausübung. Die Rechtfertigungsschranken hingegen trennen den effektiv geschützten Freiheitsbereich von demjenigen ab, der zwar in den Schutzbereich der Abwehrrechte fällt (d.h. sowohl innerhalb der Schutzbereichsgrenzen als auch der Schutzbereichsschranken liegt) und damit eingriffsfähig ist, in welchen jedoch bei Erfüllung entsprechender Rechtfertigungsvoraussetzungen eingegriffen werden darf, weil das an sich schützenswerte Grundrechtsgut nach Sinn und Zweck des Rechtfertigungsgrundes zurückzustehen hat. Diese Differenzierung wirft zwei Fragen auf. Erstens ist das Zustandekommen der unterschiedlichen Abwehrrechtsschranken darzulegen und zu zeigen, daß ihre Unterscheidung dogmatisch begründbar ist (nachfolgend b). Und zweitens sind die Voraussetzungen der Aktivierung der betreffenden Schranken darzustellen; nur wenn dem dogmatischen Unterschied auch verschiedenartige Konsequenzen nachfolgen, erscheint die Differenzierung auch praktisch sinnvoll (dazu unten c sowie Abschnitt IV). b) Die Wesensnatur von Abwehrrechtsschranken Es besteht zwar Einigkeit über die dogmatische Begründimg von Abwehrrechtsschranken als Folge von Grundrechts- bzw. Verfassungskollisionen, 1 Die Definition der Schutzbereichsgrenzen ist erste Voraussetung jeder Anwendung von Abwehrrechten. So ist z.B. zu definieren, was "Würde", "Glauben", "Meinung", etc. bedeutet. Ähnlich Alexy, Theorie, S. 291; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 310; Schnapp, JuS 1978, 730; ferner Fehlau, JuS 1993, 443; Huber, Konkurrenzschutz, S. 176. 1 3 8 Vgl. Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 40 ff.; F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 56; Schwabe, Gmndrechtsdogmatik, S. 33. 1 3 9 1 4 0
Vgl. BVerfGE 3, 248, 252 f.; F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 56 f. S. oben C m 1 b bb.
II. Die Schranken der Abwehrrechte
483
doch Streit besteht über ihre Wesensnatur: Nach einer Ansicht schranken nämlich Abwehrrechtsschranken den Schutzbereich des Abwehrrechts e i n 1 4 1 , stellen also Schutzbereichsschranken dar; danach fehlt einem Erfolg, der jenseits dieser Schranke bleibt, bereits der Beeinträchtigungscharakter, so daß ein (faktischer) Eingriff nicht in Betracht kommt. Nach der überwiegenden Ansicht eröffnen hingegen implizite Abwehrrechtsschranken lediglich über die expliziten hinaus weitere Rechtfertigungsmöglichkeiten 142, konstituieren also Rechtfertigungsschranken; danach könnten Abwehrrechtsschranken nicht den Anwendungsbereich des (faktischen) Eingriffs und der daran geknüpften Rechtfertigungszwänge begrenzen.
In der vorliegenden Arbeit werden beide Ansichten abgelehnt, da sie unterschiedliche Sachverhalte gleich behandeln. Die Wesensnatur der Abwehrrechtsschranken folgt aus ihrer Konstituierung. Deshalb ist nach dem Charakter der Kollisionslage zu differenzieren, in welcher die Abwehrrechtsschranke begründet liegt; zu unterscheiden ist mithin, ob es sich bei dem mit dem fraglichen Grundrechtsgut kollidierenden Rechtsgut seinerseits um ein Grundrechtsgut oder um ein sonstiges Verfassungsgut handelt. Im Falle einer Grundrechtskollision liegt eine beidseitige Schutzbereichsschranke vor: Grundrechtskollisionen konstituieren Schutzbereichsschranken. Im Falle der Kollision eines Grundrechtsgutes mit einem sonstigen Gut von Verfassungsrang entsteht dagegen lediglich eine Rechtfertigungsmöglichkeit: Verfassungskollisionen konstituieren Rechtfertigungsschranken. Die Begründung dieser These bedarf einer noch eingehenderen Analyse als den Rekurs auf die praktische Konkordanz, welcher noch zu sehr an der Oberfläche bleibt und daher, wie die gegensätzlichen Meinungen zeigen, allein keine Deduktion der Wesensnatur der Abwehrrechtsschranken ermöglicht. aa) Zum Freiheitsverständnis des Grundgesetzes Der Grund für die je unterschiedliche Natur der Abwehrrechtsschranken bei Grundrechts- bzw. Verfassungskollisionen erschließt sich nur im Blick auf die 1 4 1 Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 56 f.; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 311 ff.; Maunz/ Zippe Ii us, Deutsches Staatsrecht, S. 157; wohl auch BVerfGE 39, 334, 367; 44, 37, 49 f.; BVerwGE 87, 37, 45, 50. 1 4 2 BVerfGE 33, 1, 16 f.; Alexy, Theorie, S. 262 f.; LUbbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 98; Jarass/Pieroth, GG, Voib Rdnr 40; Piervth/SchUnk, Grundrechte, Rdnr 366 ff., 380; Rottmann, EuGRZ 1985, 290; Schärmann, Öffentlichkeitsarbeit, S. 271; Schulte, DVB1. 1988, 519; Schwabe, Gnindrechtsdogmatik, S. 35. Ähnlich Krebs, Vorbehalt des Gesetzes, S. 113 ff. Ebenso wohl auch v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Ait. 1 Rdnr 175 f. (das Problem verfassungsimmanenter Abwehrrechtsschranken sei "nicht auf der Ebene des Tatbestandes" angesiedelt also wohl auf der Rechtfertigungsebene) und Bleckmann, Grundrechte, S. 333. Ähnlich auch Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 85 ff., der immanente Abwehrrechtsschranken unter dem Stichwort "Grundrechtsmißbrauch" diskutiert und einen "allgemeinen Mißbrauchsvorbehalt" als "ungeschriebene materiell-rechtliche Ermächtigung" zu rechtlichen und faktischen Eingriffen sieht.
484
H. Die Eingriffsrechtfertigung
unterschiedlichen Interessenlagen, die sich aus den verschiedenen "Ebenen" der betroffenen Güter 1 4 3 ergeben. Verfassungskollisionen entstehen, wenn der Staat in Verfolgung hochrangiger Gemeinschaftsinteressen die Grundrechtsgüter des betroffenen Privaten beeinträchtigen will und dieser sich hiergegen auf seine Abwehrrechte beruft. Nun stehen sich Bürger und Staat nicht als Ebenbürtige gegenüber, sondern der Staat ist für den Bürger d a 1 4 4 . Er hat insofern dienende Funktion, wenn auch nicht einem Bürger gegenüber, so doch den Bürgern in ihrer Gesamtheit. In einer Rechtsordnung, die dem Menschen den höchsten Wert zuerkennt und ihn durch die Garantie von Abwehrrechten absichert, kommt dem Bürger ein Wertvorrang gegenüber dem Staat zu. Deshalb muß nicht der Bürger dem Staat weichen, sondern gemäß der Grundvorstellung der Staat dem Bürger. Der Wertvorrang des Bürgers führt zwar nicht dazu, daß er sich keine Eingriffe gefallen lassen müßte, wenn dies zur Durchsetzung von Verfassungsgütern erforderlich ist. Die Abwehrrechte haben ja gerade die Funktion, den Bürger vor staatlichen Maßnahmen zu schützen, die Grundrechtsgüter beeinträchtigen - sei die mit der Maßnahme verfolgte Absicht auch noch so billigenswert -, solange nicht die Voraussetzungen der Abwehrrechtsschranken erfüllt werden 145 . Allein, dadurch wird nicht etwa der Bürger dem Staat wertmäßig untergeordnet. Auch im Angesicht rechtmäßiger Eingriffe in die Abwehrrechte des Bürgers behält dieser seine Wertstellung bei. Aufgrund dieses Wertvorranges des einzelnen gegenüber dem Staat befinden sich auch die Grundrechtsgüter und die sonstigen Verfassungsgüter auf wertmäßig verschiedenen Ebenen. Wohl können die Verfassungsgüter ein solches Gewicht erlangen, daß sie ein Grundrechtsgut effektiv zu beeinträchtigen gestatten. Jedoch auch dann bleibt die Rangordnung erhalten, und dank dieses ihres Rangvorranges können die Abwehrrechte nicht schon auf der Tatbestandsebene durch sonstiges Verfassungsrecht begrenzt sein. Eine Definition des Schutzbereichs nach staatlichen Eingriffsbedürfhissen scheidet nämlich aus 1 4 6 . Es entspricht geradezu dem Modell der Abwehrrechte, daß Staat und Gesellschaft ihre berechtigten Erwartungen an ihre Bürger und Mitglieder, ohne deren Erfüllung ein gedeihliches Zusammenleben nicht möglich wäre 1 4 7 , den einzelnen Grundrechtsträgern ausschließlich im Rechtfertigungswege bei Eingriffen in ihre Abwehrrechte entgegenhalten kann. Es bedarf einer besonderen Begründung, daß und warum ein Grundrechtsträger seine ihm prima facie zustehende Vorrangstellung gegenüber dem Gemeininteresse zugunsten des letzteren einbüßen soll. Nicht also ist der Gebrauch der Freiheit gegenüber dem Staat zu rechtfertigen, sondern der Staat 1 4 3
Vgl. Kirchhof i DÖV 1976, 455.
1 4 4
Nawiasky, Grundgedanken, S. Rdnr 2, 103.
18; Zippelius, in BK, Art.
1 4 5
BVerfGE 85, 386, 397 f.
1 4 6
BVerfGE 85, 386, 397. BVerwGE 87, 37, 45; Nawiasky, Grundgedanken, S. 22.
1 4 7
1 I , H (Drittb.
1989)
II. Die Schranken der Abwehrrechte
485
muß die für notwendig erachteten Eingriffe rechtfertigen 148. Auf diesen Normalfall einer erforderlichen Rechtfertigimg sind die Schrankenklauseln überwiegend zugeschnitten. Durch die Postulierung eines Gesetzesvorbehaltes bestätigen sie die These, daß Abwehrrechtsschranken im Falle von Verfassungskollisionen als Rechtfertigungsschranken auftreten. Grundrechtskollisionen dagegen entstehen in besonders gelagerten dreipoligen Verhältnissen. Zwar stehen sich dabei auf der Grundrechtsebene je ein Bürger und der Staat gegenüber. Doch die beteiligten Bürger bilden nicht etwa ein "Lager", welches dem Staat geschlossen gegenüberstünde. Vielmehr besteht bei Grundrechtskollisionen der materielle Konflikt zwischen den Grundrechtsträgern 149. Der Staat ist nicht dadurch involviert, daß er - wie bei Verfassungskollisionen - im Interesse der Allgemeinheit von sich aus handeln will, sondern weil der eine Bürger ihn beispielsweise über einen grundrechtlich gegebenen Anspruch auf ein bestimmtes Tim (z.B. Schutzgewährung) für seine privaten Interessen instrumentalisieren will, während sich der opponierende Bürger abwehrrechtlich eben hiergegen wendet. Sicherlich liegt es auch im allgemeinen Interesse, daß jedem Gefährdeten der erforderliche Schutz oder Beistand zuteil werde oder daß er die essentielle Förderung erhalte. Dennoch dienen grundrechtliche Ansprüche auf ein bestimmtes Tun (seien sie nun abwehr- oder leistungsrechtlich fundiert) nicht anders als jeder abwehrrechtliche Unterlassungsanspruch zuvörderst dem individuellen Interesse des Grundrechtsträgers. Daß es bei Grundrechtskollisionen um die Begründung einer Abwehrrechtsschranke im Interesse anderer Grundrechte geht, und nicht um ein anderes (obschon verfassungsrechtliches) Interesse 150, erzwingt die Annahme von Schutzbereichsschxanken. Die wechselseitige Schutzbereichsbeschränkung im Falle einer Grundrechtskollision ergibt sich im Grunde schon aus dem Wesen der Grundrechte und des "sozialen Systems des durch das Grundgesetz verfaßten Gemeinwesens" 151 , das die Wertordnung einer sozialen Gemeinschaft anstrebt, in der grundsätzlich jeder jedes anderen Freiheit und Würde achtet 152 , weil nach dem Grundgesetz, freilich ohne den Eigenwert der Person anzutasten, die
1 4 8
Treffend Schlink, EuGRZ 1984, 467: "ungleiche Verteilung von Rechtfertigungslasten". Bethge, Grundrechtskollisionen, S. 257 f.; Di Fabio, JZ 1993, 691; Fohmann, EuGRZ 1985, 61; G. Hermes, NJW 1990, 1766; Rose, DVB1. 1990, 280; Schuppen, EuGRZ 1985, 530 f.; Suhr, JZ 1980, 169; Wegmann, BayVBl. 1990, 679. Das wird unzureichend gewürdigt von Wahl/Masing, JZ 1990, 562 Fn. 99, die deshalb zu einer verfehlten Situationsbewertung kommen. 1 4 9
1 5 0 Insofern unscharf BVerfGE 81, 278, 289: "Kollisionen mit anderen Verfassungswerten, insbesondere den Grundrechten Dritter". - Selbstverständlich sind Grundrechte auch Verfassungswerte; gleichwohl ist hier erforderlich, den Unterschied zwischen Verfassungsgütern und Grundrechtsgütern zu vergegenwärtigen. 1 5 1 1 5 2
BVerfGE 50, 290, 353. Kriele, JA 1984, 636; vgl. auch Nawiasky, Grundgedanken, S. 22.
486
H. Die Eingriffsrechtfertigung
"Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit" aufgelöst ist 1 5 3 . Die Bürger sind untereinander gleichgestellt und müssen aufgrund dieser gleichen Stellung in der Gesellschaft gewisse Beschrankungen ihrer in sich berechtigten Erwartungen von Verfassungs wegen schon auf der Tatbestandsebene akzeptieren, weil niemand Rechte für sich in Anspruch nehmen kann, ohne zugleich die Rechte des ihm gleichwertigen und gleichrangigen anderen anzuerkennen 154. Die Wechselseitigkeit von Berechtigung und Verpflichtung stellt die gleiche Freiheit der Beteiligten her 1 5 5 . Im Unterschied zur Verfassungskollision bedarf es bei der Grundrechtskollision keiner besonderen Begründung, daß und warum jemand eine Beschrankung seiner Grundrechte hinzunehmen hat; vielmehr versteht sich die Notwendigkeit "gegenseitiger Rücksichtnahme der Bürger" 1 5 6 aufgrund ihrer Ebenbürtigkeit von selbst 157 . Allerdings kann mit einer rein naturrechtlichen Argumentation nicht begründet werden, daß sich kollidierende Freiheiten notwendig bereits tatbestandlich wechselseitig beschränken müßten 158 ; vielmehr ist auch das Sinnverständnis einer absoluten und wertneutralen Freiheit denkbar, welche sogar bis zur Vernichtung und Versklavung des anderen (Schwächeren) ginge 1 5 9 . Indessen geht es im hiesigen Kontext nicht um philosophisch und theoretisch mögliche Freiheitsbegriffe, sondern um das Freiheitsverständnis des Grundgesetzes. Daß dieses aber in seiner Reaktion auf die nationalsozialistische Willkür und Tyrannei schwerlich einer unbeschränkten, absoluten Freiheitskonzeption anhängen kann, liegt auf der Hand. Das Grundgesetz garantierte die Freiheitsrechte "vor dem Hintergrund des Zynismus unbeschränkter Staatsgewalt ... nicht, um dem Zynismus der Rücksichtslosigkeit der Bürger untereinander 1 5 3
BVerfGE 4, 7, 15 f.; 27, 344, 351; 50, 290, 353 f.; 59, 275, 279 (st. Rspr.).
1 5 4
Nipperdey, in Bettermann/Nipperdey, Grundrechte IV/2, S. 787. Ebenso Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 22 f. unter Bezugnahme auf Art. 4 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Ähnlich Dürig, in Maunz/Dürig, GG, Art. 2 I (Lfg. 1958) Rdnr 73, der jedoch zu weitgehend Grundrechte auch durch nicht grundrechtliche Rechte Dritter beschränkt sieht. Vgl. ferner Bethge, Grundrechtskollisionen, S. 269 f.; Isensee, Das staatliche Gewaltmonopol, S. 51, 58; v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 I Rdnr 6, 21; Suhr, JZ 1980, 173 f. Vgl. auch Krebs, Vorbehalt des Gesetzes, S. 114 f.; Kriele, JA 1984, 636 ff., die jedoch zu weitgehend immanente Schutzbereichsschranken durch alle Verfassungsgüter gezogen sehen. 1 5 5
Wegmann, BayVBl. 1990, 677. Vgl. auch Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 210; Kriele, JA 1984, 636. 1 5 6
BVerfGE 81, 278, 292; BVerwGE 87, 37, 45; Kriele, JA 1984, 636.
1 5 7
Zu einer vertragstheoretischen Begründung gleicher Freiheit s. etwa Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 235 ff. 1 5 8
IMbbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S. 87 ff. Vgl. etwa Hobbes, Leviathan, Kap. X I V , S. [64]: "The Right of Nature ... is the Liberty each man hath, to use his own power, as he will himselfe, for the preservation ... of his own Life; and consequently, of doing any thing, which in his own Judgement, and Reason, hee shall conceive to be the aptest means thereunto... It followeth, that in such a condition, every man has a Right to every thing; even to one anothers body". 1 5 9
II. Die Schranken der Abwehrrechte
487
Raum zu schaffen" 160. Und dabei geht es eben nicht nur darum, daß es selbstverständlich keine effektiv schrankenlose Freiheit geben kann 1 6 1 . Was das Wesen grundgesetzlich gemeinter "Freiheit" im Verhältnis der Bürger untereinander ist, kann nicht nur vom - unstrittigen - Ergebnis her beantwortet werden. Vielmehr ist erstens das grundgesetzliche Menschenbild gemeinschaftsbezogener Menschen 162 zu berücksichtigen, das eben "nicht das des isolierten und selbstherrlichen Individuums" ist 1 6 3 ; diese Absage an jede individuelle Selbstherrlichkeit muß, weil ja speziell die Abwehrrechte das grundgesetzliche Menschenbild reflektieren, auf das grundrechtliche Freiheitsverständnis durchschlagen, so daß die Freiheit ihrem telos nach keine selbstherrlich absolute sein kann. Zweitens ist das Pathos in Rechnung zu stellen, das etwa bei Art. 2 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommt 1 6 4 , wenn hier von der "freien Entfaltung" der Persönlichkeit gesprochen wird. Mit diesem pathetisch formulierten muß ein ethisch gewertetes Freiheitsverständnis einhergehen, mit dem sich die Annahme einer sogar teleologisch als Freiheit verstandenen Beliebigkeit zu morden und zu stehlen nicht vertrüge, die es dann als Frage der (wiewohl rechtmäßigen) Beeinträchtigung der - horribile dictu - "Freiheit zu morden" ansähe, dem Bürger solche Taten zu verwehren. Zweck des Grundgesetzes war zuoberst, den Menschen "in seiner Würde" wieder anzuerkennen 165. Speziell die gewählte "feierliche Formulierung" 166 des sachlich die allgemeine Handlungsfreiheit schützenden Art. 2 Abs. 1 GG sollte "der Anerkennung des Wertes der Persönlichkeit" Ausdruck verleihen 1 6 7 . Kommt nach grundgesetzlichem Verständnis aber jedem einzelnen Menschen als solches Würde und Wert zu, so kann nicht andererseits angenommen werden, die grundgesetzliche "Freiheit" umfasse tatbestandlich eine der menschlichen Würde zuwiderlaufende und die Persönlichkeit des anderen negierende absolute "Freiheit" des Stärkeren. Das Grundgesetz huldigt gerade nicht "einem rein formalen Rechtsstaatsgedanken ... ohne jeden ethischen Gehalt" 1 6 8 . "Freiheit" im Sinne des Grundgesetzes ist deshalb nicht als willkürliche Freiheit des Stärkeren zu verstehen, sondern als eine sich auf gegenseitige Achtung der Grundrechtsträger stützende wertgeprägte Freiheit, die schon tat-
1 6 0
Treffend Kriele, JA 1984, 636.
1 6 1
Das betont LUbbe-Wolff, Eingriflfsdogmatik, S. 87 zutreffend. Vgl. hierzu Hobbes, Leviathan, Kap. X I V , S. [64], der dem naturalistisch verstandenen "Right of Nature" das vernunftgeleitete "Fundamentall Law of Nature; which is, to seek Peace, and follow it" gegenüberstellt. 1 6 2
BVerfGE 4, 7, 15 f.
1 6 3
BVerfGE 50, 290, 353. Vgl. Kunig, in v.Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rdnr 13.
1 6 4 1 6 5
v.Mangoldt , Schriftlicher Bericht, S. 5.
1 6 6
BVerfGE 6, 32, 36.
1 6 7
v.Mangoldt , Schriftlicher Bericht, S. 7. v.Mangoldt , Schriftlicher Bericht, S. 7.
1 6 8
H. Die Eingriffsrechtfertigung
488
bestandlich-inhaltlich Rücksicht auf die gegenläufige Freiheit des anderen nimmt. Daß die Grundrechte gegen den Staat gerichtet sind und insofern nicht als Rechte eines Bürgers gegen den anderen wirken 1 6 9 , steht dem nicht entgegen; die wechselseitige Schutzbereichsbeschränkung macht nicht die Grundrechte zu Rechten gegeneinander, sondern trägt nur dem telos der Grundrechte Rechnung, sich selbst zu verwirklichen, ohne hierbei den andern zu schädigen. Nach alledem dürfte der Schutzbereichsschranken-Ansatz der grundgesetzlichen Freiheitskonzeption eher gerecht werden als die Rechtfertigungsschranken-Lösung. In der Tat entspricht diese Überzeugung schon seit jeher dem Verständnis der Grundrechte: Wenn nämlich traditionell formuliert wird, die Freiheit des einen ende dort, wo die des andern beginnt170» 1 7 1 , so drückt dies eine Schutzbereichsschranke aus: Die Freiheit des andern ist nicht die Rechtfertigung eines Eingriffs in die Freiheit des ersten, sondern hebt eo ipso die Schutzwürdigkeit der Handlung des ersten auf, stellt diesen außerhalb dessen, was er nach Sinn und Zweck der Freiheitsordnung erwarten darf, und konstituiert somit eine Schutzbereichsschranke 172. bb) Tatbestandsausschließende Pflichtenkollision Die Grundrechte schützen die Freiheit zur Verfolgung privater Interessen. Diese Interessen können sich widersprechen, die Grundrechte dürfen es nicht 1 7 3 : sie sind echte subjektive Rechte, die sich gegen den Staat richten. Grundrechtskollisionen sind so aufzulösen, daß nicht der eine Grundrechtsträger vom Staat etwas verlangen und der andere genau dieses verbieten kann. Widersprüchliche Pflichten kann und muß daher niemand erfüllen, auch der
1 6 9
S. oben C ffl 1 a aa.
1 7 0
S. etwa § 83 Einleitung PrALR: "Die allgemeinen Rechte des Menschen gründen sich auf die natürliche Freiheit, sein eigenes Wohl, ohne Kränkung der Rechte eines Andern, suchen und befördern zu können." (Hervorhebung durch Verfasser). 1 7 1 Bethge, Giundrechtskollisionen, S. 256; Dilrig, in Maunz/Dürig, GG, Alt. 2 I (Lfg. 1958) Rdnr 73. S. ferner Diirig, in Maunz/Dürig, GG, Art. 3 I (Lfg. 1973) Rdnr 160 f. zur Bedeutung der "Goldenen Regel"; Kriele, JA 1984, 636. 1 7 2 Hiergegen wendet Preu, JZ 1991, 266 ein: "... daß das Grundrecht des anderen 'verletzt' ... wird, steht am Anfang der Grundrechtspriifung keineswegs fest, sondern kann erst das Ergebnis einer Abwägung widerstreitender Grundrechtspositionen sein. Wer mit immanenten Grundrechtsgrenzen operiert, nimmt das gewünschte Ergebnis in problem- und wertungsverschleiernder Weise vorweg." - Diese Kritik ist unhaltbar. Die hier vorgeschlagene Schutzbereichsschranken-Lösung "verschleiert" nichts, sondern zeigt die relevanten Punkte auf. Richtig ist zwar Preus Feststellung, es sei eine Abwägung erforderlich: eben das ist Gegenstand der Herstellung praktischer Konkordanz. Wieso es aber nicht möglich sein sollte, als Ergebnis einer solchen Abwägung eine Schutzbereichsschranke zu ermitteln, teilt Preu nicht mit. IT* Vgl. auch Isensee, Das staatliche Gewaltmonopol, S. 50 f.
II. Die Schranken der Abwehrrechte
489
Staat nicht. Sie binden nicht: ultra posse nemo obligatur 174. Dieser Satz gilt nicht nur, wenn eine Pflicht aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unerfüllbar ist, sondern auch und gerade im Falle einer durch eine normative Widersprüchlichkeit herbeigeführten Unmöglichkeit der simultanen Erfüllung gleichgeordneter kollidierender Pflichten 175 . Denn hier litte nicht nur der Geltungsanspruch der die Pflicht begründenden Normen Schaden, sondern auch das fundamentale rechtsstaatliche Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung 176. Normwidersprüche müssen beseitigt werden 177 und deshalb muß eine Pflichtenkollision notwendig zu einem Wegfall der unerfüllbaren Pflichten fuhren 178 . Diese Erkenntnis präjudiziell freilich nicht, auf welche Weise dem Satz des ultra posse nemo obligatur Rechnung zu tragen ist. Sowohl die Annahme von Schutzbereichsschranken als auch die von Rechtfertigungsschranken wäre hier ein logisch gangbarer Weg. Es ist insofern durchaus möglich, die unmöglich gleichzeitig erfüllbare Pflicht zur Beachtung kollidierender Grundrechte nicht schon tatbestandlich, sondern erst im Wege der Rechtfertigung entfallen zu lassen; die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung wäre dann nicht tangiert. Freilich fällt auf, daß der ultra-posse-Satz dogmatisch im allgemeinen gerade nicht als bloßer Rechtfertigungsgrund gedacht wird, sondern vielmehr die objektive Unmöglichkeit normgemäßen Handelns schlicht die Tatbestandsmäßigkeit ausschließt179. Insofern bedürfte es schon einer Begründung, weshalb speziell die aus einem Normwiderspruch resultierende Unmöglichkeit der Pflichterfüllung kein Tatbestands-, sondern ein Rechtfertigungsproblem sein soll; eine überzeugende Begründung hierfür findet sich indes nicht. Allerdings wird etwa im Strafrecht die Pflichtenkollision, wenn also der Täter nur entweder die eine oder die andere zweier gleichgewichtiger Pflichten erfüllen kann, nach h.M. in der Tat lediglich als Rechtfertigungsgrund angesehen, nicht aber die Tatbestandsmäßigkeit des Handelns in einer solchen Kollisionssituation verneint 180 . So wird in dem Standardbeispiel, daß zwei 1 7 4 Zur Geltung dieses Satzes auch für den Staat s. OVG Münster, JZ 1959, 359, 360; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 121 f.; Reißmüller, JZ 1959, 361; Stern, Staatsrecht m / 1 , S. 718. 1 7 5 1 7 6 1 7 7
Vgl. Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 32 Rdnr 73. Vgl. dazu Engisch, Einfühlung, S. 160. Engisch, Einfuhrung, S. 162.
1 7 8
Vgl. Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 32 Rdnr 73. Nicht überzeugend Jescheck, Strafrecht AT, S. 330, der den ultra-posse-Satz ohne Begründung nur auf isoliert betrachtete Normbefehle, nicht aber auf unlösbare Normwidersprüche, beziehen will und meint, die Rechtsordnung mißbillige (!) auch die Nichterfüllung kollidierender Pflichten. 179 Vgl zum Strafrecht Jakobs, Strafrecht AT, Rdnr 6/28; Jescheck, Strafrecht A T , S. 557 f.; Rudolphi, in SK StGB, vor § 1 (Lfg. 1990) Rdnr 21, 24; Stree, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rdnr 142 f., 146; ferner BGH bei Dallinger, M D R 1973, 369. 1 8 0
Hirsch, in LK StGB, vor § 32 Rdnr 71 ff.; Jakobs, Strafrecht AT, Rdnr 15/6 ff. mit Fn. 10; Lackner, StGB, § 35 Rdnr 15; Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 32 Rdnr 71;
490
H. Die Eingriffsrechtfertigung
Kinder eines Vaters vom Ertrinken bedroht sind, dieser aber nur eines von ihnen retten kann, angenommen, der rettungspflichtige Vater sei, wenn er nach freier Wahl eine dieser beiden Pflichten erfülle und das eine Kind rettet, in bezug auf den garantenpflichtwidrig nicht verhinderten Tod des anderen Kindes gerechtfertigt 181. Kann diesem Lösungsansatz auch weder ein Vorwurf logischer Fehlerhaftigkeit gemacht noch der Einwand unpraktikabler oder unbilliger Resultate entgegengehalten werden, so ist er gleichwohl keineswegs unanfechtbar. Bleibt nämlich der mehrfach Verpflichtete überhaupt untätig und erfüllt er keine seiner Pflichten, so liegen - auf der Basis der Rechtfertigungstheorie zwei rechtswidrige Taten v o r 1 8 2 , weil für die h.M. der Grund der Rechtfertigung im Falle einer Pflichtenkollision ausschließlich darin besteht, daß das eine Gebot nicht befolgt wird, damit das andere erfüllt werden kann. Dann wäre es nur konsequent, ihn wegen (tateinheitlich begangener) zweier Straftaten zu bestrafen. Das aber ist nicht zulässig, denn wenn feststeht, daß es objektiv unmöglich war, beide Pflichten zu erfüllen, kann schlechterdings nicht für beide Folgen bestraft werden; vielmehr wäre - im Beispielsfall - der gänzlich untätig bleibende Vater nicht wegen zweifacher, sondern nur wegen einer Tötung durch Unterlassen strafbar 183. Während die h.M. große Schwierigkeiten hat, dieses Ergebnis befriedigend zu erklären 184 , läßt sich dies durch eine tatbestandliche Lösung ohne weiteres erreichen. Der Grund, warum hier nur wegen einer Tötung bestraft werden kann, liegt nämlich in der Figur des "pflichtgemäßen Aiternatiwerhaltens" 185: kann der Vater auch bei völlig pflichtgemäßem Handeln nur ein Kind retten, so ist ihm der Tod des anderen
Roxin, Strafrecht AT, § 16 Rdnr 100 ff.; Rudolphe in SK StGB, vor § 13 (Lfg. 1992) Rdnr 29; Samson, in SK StGB, § 34 (Lfg. 1992) Rdnr 57 ff. Desgleichen für das Zivilrecht Enneccerus/ Nipperdey, BGB AT 1/2, S. 1459. Bloße Entschuldigung nimmt z.B. an Jescheck, Strafrecht AT, S. 329 f. - Tatbestandslosigkeit nehmen hingegen an Eser/Burkhardt, Strafrecht I, Nr. 12 Rdnr A 72 ff.; Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, S. 281 ff. 1 8 1 S. etwa bei Roxin, Strafrecht AT, § 16 Rdnr 101, 103; Rudolphi, in SK StGB, vor § 13 (Lfg. 1992) Rdnr 29. 1 8 2
Hirsch, in LK StGB, vor § 32 Rdnr 81.
1 8 3
Eser/Burkhardt, Strafrecht I, Nr. 12 Rdnr A 63; Hirsch, in L K StGB, vor § 32 Rdnr 81; Jakobs, Strafrecht AT, Rdnr 15/7a; Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 32 Rdnr 73; a.A. wohl Roxin, Strafrecht AT, § 16 Rdnr 105. 1 8 4 Deutlich wird der Bruch etwa bei Hirsch, in LK StGB, vor § 32 Rdnr 81, der in solchen Fällen gezwungen ist, trotz der seiner Ansicht nach rechtswidrig-schuldhaften Nichterfüllung kollidierender Pflichten einen eigenen Strafbarkeitsausschluß der Nichterfullbarkeit zu konstruieren. 1 8 5 Vgl. dazu BGHSt 11, 1, 3 f., 7; 33, 61, 63; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 526 ff.; Jescheck, in LK StGB, vor § 13 Rdnr 63; Lenckner, in Schönke/Schröder, StGB, vor § 13 Rdnr 81, 99; Roxin, Strafrecht AT, § 11 Rdnr 72 ff.; Rudolphi, in SK StGB, vor § 1 (Lfg. 1990) Rdnr 65 ff. (s. hierzu schon oben D I 5 c a.E.).
. Die Schranken der Abwehrrechte
491
Kindes nicht zuzurechnen, womit es aber schon am tatbestandlichen Erfolg fehlt 1 8 6 . Lenckner bemerkt daher treffend, daß es hier deshalb naheliegt, "den Grund der Rechtfertigung nicht erst in der tatsachlichen Pflichterfüllung, sondern schon in der Situation der Pflichtenkollision als solcher zu sehen, wobei es dann verbrechenssystematisch allerdings folgerichtiger wäre, die Rechtfertigungslösung überhaupt aufzugeben und die Kollision mehrerer Handlungspflichten als ein bereits dem Tatbestand zuzuordnendes Problem der Pflichtbegrenzung anzusehen"187. Damit ist der eigentliche Einwand gegen die Theorie der rechtfertigenden Pflichtenkollision ausgesprochen: sie ist weder logisch fehlerhaft noch im Ergebnis unbillig, sondern systemwidrig, weil sie einen systematischen Bruch bedingt 188 . Die Ansicht der h.M. beruht auf einer je isolierten Betrachtung der kollidierenden Pflichten: jede wird für sich gesehen und bejaht, und sodann nach der Auswirkung derselben auf die ihrerseits isoliert betrachtete andere Pflicht gefragt. Nach dieser Sicht gebietet das Gesetz (§§ 212, 13 StGB) im Beispielsfall dem Vater zum einen: "Rette dein Kind A!", zum anderen: "Rette dein Kind B ! \ und das scheint dem Vater je für sich möglich zu sein. Folgerichtig müßte indessen die Pflicht kumulativ formuliert werden. Dies liegt erstens aufgrund ihrer situativen Simultanität ohnehin nahe. Und zweitens kann es nicht statthaft sein, einen unmöglich zu erfüllenden Befehl dadurch zu "vermöglichen", daß man ihn in erfüllbare Einzelteile aufspaltet, nichtsdestoweniger aber deren simultane Erfüllung verlangt. Richtigerweise müßte der Befehl von der h.M. mithin "Rette deine Kinder A und B!" formuliert werden; die Unerfüllbarkeit dieser Pflicht liegt aber offen zutage 189 , und müßte nach den allgemeinen Grundsätzen über die tatsächliche Unmöglichkeit
1 8 6 Die Verurteilung ginge nach den Gnindsatzen der gleichartigen Wahlfeststellung (s. dazu Lackner, StGB, § 1 Rdnr 17; Tröndle, in LK StGB, § 1 Rdnr 68 ff.) dahin, daß der Vater wegen Tötung durch Unterlassen schuldig sei, wobei in den Gründen klarzustellen wäre, daß die Tötung zu Lasten des Kindes A oder des Kindes B ging. 18
'Lenckner,
in Schönke/Schröder, StGB, vor § 32 Rdnr 73.
1 8 8
Deutlich Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, S. 281: "Verbiegung der Dogmatik der Rechtfertigungsgründe". 1 8 9 Diese Unmöglichkeit kann man auch nicht wie Jakobs, Strafrecht AT, Rdnr 15/6 Fn. 10 mit der Feststellung umgehen, daß jeder Tatbestand "nur auf das einzelne Gut abstellt]". Dies verwechselt nämlich den Tatbestand des einzelnen Paragraphen des besonderen Teils des StGB der natürlich nur jeweils auf ein Gut abstellt - , mit dem Tatbestand des an den Betroffenen gerichteten Gesetzesbefehls. Der Tatbestand dieses dem ultra-posse-Satz unterliegenden Gesetzesbefehls ergibt sich indessen nur unter Berücksichtigung aller an den Adressaten gleichzeitig gerichteten einzeltatbestandlichen Normbefehle. Im übrigen erweist die Zusammenschau des besonderen und des allgemeinen Teils des StGB, daß dieses in der Figur der (in solchen Fallen anzunehmenden) Tateinheit (§ 52 StGB) bei simultaner Erfüllung mehrerer Einzeltatbestände durchaus auf die gleichzeitige Eihaltung der mehreren Güter abzielt. Unter Berücksichtigung des § 52 StGB ist selbst die auf den Tatbestand der Paragraphen bezogene Aussage, diese stellten nur auf das "einzelne" Gut ab, nicht haltbar.
33 Roth
492
H. Die Eingriffsrechtfertigung
pflichtgemäßen Handelns zur Tatbestandslosigkeit desselben fuhren. Das Gesetz kann deshalb, um nichts Unmögliches zu verlangen, dem Vater nur gebieten: "Rette dein Kind A oder dein Kind B!". Tut der Vater dies und rettet er eines seiner Kinder, so hat er damit bereits das gesetzliche Gebot erfüllt, und dem anderen Kind gegenüber keine Handlungsnorm verletzt 190 , da die diesbezügliche Pflicht weggefallen ist 1 9 1 . Deshalb ist, bei richtigem Verständnis des gesetzlichen Befehls, im Falle von Pflichtenkollisionen allein die Annahme systemkonform, der Tatbestand sei nicht erfüllt.
Dieselben Überlegungen gelten, wenn der Träger öffentlicher Gewalt kollidierenden grundrechtlichen Pflichten ausgesetzt ist. Auch der Staat muß sich nicht dafür rechtfertigen, daß er Unmögliches nicht leistet, sondern wird nach dem ultra-posse-Satz von unerfüllbaren Pflichten frei 1 9 2 . Ein dogmatischer Quantensprung von der Tatbestands- auf die Rechtfertigungsebene tritt nicht ein, nur weil die Unmöglichkeit Resultat einer Pflichtenkollision ist, vielmehr wird der Träger öffentlicher Gewalt von widersprüchlichen Pflichten ohne weiteres frei: Auch die infolge einer Pflichtenkollision entstehende Unmöglichkeit der Pflichterfüllung ist kein Rechtfertigungsgrund, sondern bewirkt eine Rechtshinderung 193. Gleichgeordnete kollidierende Grundrechte sind 1 9 0 1 9 1
Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, S. 283. Eser/Burkhardt, Strafrecht I, Nr. 12 Rdnr A 74.
1 9 2 Auch der - eher spekulative - Fall eines angesichts einer Kollision zweier Leistungsrechte gänzlich untätig bleibenden Trägers öffentlicher Gewalt (z.B. ein Polizist unterläßt ein Einschreiten in einer Situation, in der er nur eines von zwei Opfern hätte retten können) läßt sich systemkonform entscheiden: Da ein Grundrecht nach den Grundsätzen praktischer Konkordanz nur insoweit zurückstehen muß, als dies in concreto zur Erfüllung einer kollidierenden grundrechtlichen Pflicht eiforderlich ist (s. oben H ü 1 a aa), läge hier eine Vernachlässigung beider Leistungsrechte vor; keines träte dem Schutzbereich nach zurück, weil dies nicht erforderlich war, um das andere erfüllen zu können. Da es dann in der Regel zugleich an der Rechtfertigungsfahigkeit dieser Vernachlässigung fehlt, wären beide Leistungsrechte verletzt. Anders als im Bereich des Strafrechts käme hier eine bloß wahldeutige Feststellung entweder der einen oder der anderen Leistungsrechtsverletzung nicht in Betracht. Die hierfür notwendige Berücksichtigung einer "pflichtgemäßen Alternatiwernachlässigung" scheitert nämlich jedenfalls an der Gewißheitsbedingung (vgl. unten H V 6 c). Nach dem Gewißheitskriterium kann nämlich ein statthaftes Alternativhandeln einem Grundrechtsträger nur dann entgegengehalten werden, wenn sicher ist, daß ihn die Vernachlässigung auf jeden Fall getroffen hätte. Bei kollidierenden Leistungsrechten kann aber, wenn der Amtswalter realiter untätig blieb, nie gewiß sein, wem gegenüber er die Leistungspflicht erfüllt hätte, wäre er überhaupt tätig geworden. Insofern ist es notwendig, den Unterschied zwischen strafrechtlicher und grundrechtlicher Verantwortlichkeit zu beachten: Strafrechtlich interessiert nur, daß überhaupt ein Mensch (durch Unterlassen) sein Leben verloren hätte; da dessen Identität unerheblich ist, genügt das strafrechtlich beachtliche Alternativhandeln schon dann der strafrechtlichen Gewißheitsbedingung, wenn sicher ist, daß so oder so ein Mensch sein Leben verloren hätte, ohne daß dessen Identität gewiß sein müßte. Grundrechtlich hingegen genügt nicht, daß überhaupt ein Grundrechtsträger sein Grundrechtsgut eingebüßt hätte; die Grundrechte als subjektive Rechte beziehen sich stets auf einen individualisierten Grundrechtsträger - und dieser muß sich den Einwand zulässigen hoheitlichen Alternativhandelns nach dolo-agit-Grundsätzen (s. dazu unten H V 6 b bb) nur gefallen lassen, wenn dessen Vornahme ihm gegenüber gewiß wäre. 1 9 3 In diese Richtung auch Engisch, Einführung, S. 163, der bei unauflösbaren Normwidersprüchen annimmt, daß sich die einander widersprechenden Normen gegenseitig "auflieben", so
II. Die Schranken der Abwehrrechte
493
hiernach, sowie im Hinblick auf das vorstehend erörterte grundgesetzliche Freiheitsverständnis nebst seinen Implikationen für den grundrechtlichen Schutzbereich, bereits auf der Schutzbereichsebene auszugleichen und aufgrund einer Abwägimg nach den Prinzipien praktischer Konkordanz bestmöglich zur Geltung zu bringen 194 . c) Die Aktivierung
von Abwehrrechtsschranken
Die Schutzbereichsgrenzen werden durch den Verfassungs(gesetz)geber über die gewählte Begrifflichkeit definiert, sind ohne weitere gesetzliche Aktivierung von allen Staatsgewalten zu beachten, und werden in letzter Instanz vom BVerfG verbindlich ausgelegt. Hinsichtlich der Abwehrrechtsschranken jedoch stellt sich die Frage nach der Aktivierungskompetenz. Zunächst versteht sich eines von selbst: Unterlägen Schutzbereichs- bzw. Rechtfertigungsschranken in kompetentieller Hinsicht denselben Voraussetzungen, dann spräche dies dafür, daß ihre Unterscheidimg vielleicht von theoretischem Interesse daß eine nach allgemeinen Grundsätzen zu schließende Regelungslücke entsteht. Hiernach gibt der Normwiderspruch kein Recht zur Nichtbeachtung der Norm; vielmehr bedarf es eines solchen Rechtes nicht, weil die widersprüchlichen Normen - soweit die Kollision reicht - bereits selbst entfallen. 1 9 4 Eine etwas andere Konstruktion wählt Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR V , § 111 Rdnr 175 ff. Hiernach sollen "evidente Verletzungen von Grundrechtsgütern" durch Private "von vornherein" aus dem Schutzbereich ihrer Abwehrrechte fallen; diese Schutzbereichsgrenzen seien durch Auslegung zu ermitteln, während die oft schwierige Abwägung zur Bestimmung der Schutzbereichsschranken vermieden werde. Diese "enge Tatbestandstheorie" entspricht freilich nicht der konstruktiven Vorstellung des Grundgesetzes, nach der auch im Ergebnis nicht geschützte Handlungen Privater unter die durch Auslegung zu ermittelnden Schutzbereichsgrenzen fallen. Zwar fallen mit Isensee unfriedliche Versammlungen in der Tat nicht in den Schutzbereich des Art. 8 I GG. Das liegt aber eben nicht an einem apriorischen "Vorbehalt der Friedlichkeit" {Isensee, ebd., Rdnr 176), unter dem alle Abwehrrechte stünden, sondern an der Entscheidung des Verfassungsgebers, "unfriedliche" Versammlungen ausdrücklich vom Schutzbereich des Art. 8 I GG auszunehmen. Daraus folgt im Umkehrschluß, daß Freiheiten nicht per se begrifflich einem solchen Friedlichkeitsvorbehalt unterliegen. Gewalt- und ähnliche Untaten vom Freiheitsbegriff auszunehmen, ist nie eine bloße Frage der Auslegung der Schutzbereichsgrenzen, sondern muß - eben weil die Folgen für die Grundrechtsgüter anderer zu beachten sind - stets eine Wertungs- und Abwägungsfrage sein, die sinnvoll bei der teleologischen Bestimmung der Schutzbereichsschranken zu beantworten ist. Dem entgeht Isensee nur vordergründig. Dagegen hat die hier vorgeschlagene Konstruktion der Schutzbereichsschranken den Vorzug, die Notwendigkeit der Abwägung offenzulegen und entgeht der Gefahr, vorweggenommene Abwägungsergebnisse als eine angebliche "Auslegung" begrifflicher Schutzbereichsgrenzen zu suggerieren. Im übrigen löst die Konstruktion von Isensee auch gar nicht das von ihm beschriebene Problem subjektiver Einflüsse bei Abwägungsvorgängen. Indem er "evidente" Verletzungsakte vom Freiheitsbegriff ausnimmt, ist nicht viel gewonnen, da Abwägungen in Evidenzfallen unproblematisch sind. Hingegen "versagt" die enge Tatbestandstheorie, wie Isensee (ebd., Rdnr 180) konzediert, bei diffizilen Konflikten, wo eben doch eine "Abwägung auf der Ebene der Schranken" erforderlich bleibt. Es ist nicht ersichtlich, welchen Vorteil es bringen soll, eine Konstruktion wie die "enge Tatbestandstheorie" zu entwickeln, nur um in evidenten (!) Fällen "die willkürgefahrdete, zufallsbeeinflußte, subjektive Wertung der Abwägungsbeteiligten" (vorgeblich und vordergründig) auszuscheiden.
494
H . Die Eingriffsrechtfertigung
sein könnte, kaum jedoch praktische Bedeutung hatte; die Unterscheidung könnte dann ebensogut unterbleiben. Indessen zeigt sich vor dem Hintergrund der Eingriffsdogmatik ein potentiell bedeutsamer Unterschied zwischen Schutzbereichs- und Rechtfertigungsschranken. Privates Handeln jenseits der Schutzbereichsschranken stellt, eben weil es aus dem abwehrrechtlichen Schutzbereich herausfallt, keine eingriffsfähige Freiheitsausübung dar 1 9 5 ; seine Unterbindung verlangt folglich nicht nach einer abwehrrechtlichen Rechtfertigung. Hingegen schließen Rechtfertigungsschranken (faktische) Eingriffe gerade nicht logisch aus, sondern gestatten sie - allerdings nur bei Vorliegen der entsprechenden Rechtfertigungsvoraussetzungen. Dieser Unterschied bietet sich als Erklärung dafür an, warum Art. 5 Abs. 2, 3. Alternative, und Art. 13 Abs. 3, 1. Halbsatz GG, die ja Grundrechtskollisionen betreffen, im Gegensatz zu den sich auf Verfassungskollisionen beziehenden Schrankenklauseln gerade keinen Gesetzesvorbehalt formulieren 196 . Diese Tauglichkeit zur systemgerechten Erklärung des grundgesetzlichen Befundes bestätigt die vorgeschlagene Differenzierung zwischen Schutzbereichs- und Rechtfertigungsschranken, je nach Bestehen einer Grundrechts- bzw. Verfassungskollisionslage, und bezeugt ihre Vorzugswürdigkeit gegenüber einer undifferenzierten Betrachtungsweise. Indessen stellt dies noch keine materiell-rechtliche Begründung für die unterschiedliche Geltung des Vorbehalts des Gesetzes dar. Wie oben ausgeführt, ist zwischen der Konstituierung und der Aktivierung von Abwehrrechtsschranken zu unterscheiden 197. Konstituiert werden Abwehrrechtsschranken durch Grundrechts- oder Verfassungskollisionen. Eine davon unabhängige Frage ist, ob sich Verwaltung und Rechtsprechung ohne weiteres auf dergestalt konstituierte Abwehrrechtsschranken berufen und sie durchsetzen können, oder ob es einer gesetzlichen Aktivierung derselben bedarf. Wenn etwa gesagt wird, im Falle der Annahme von Schutzbereichsschranken stehe dem "kompetenzlos ergangenen Gesetz aus grundrechtlicher Sicht ebenso wenig im Wege wie der gesetzlos verfügten Exekutivmaßnahme"198, und wenn angenommen wird, Schutzbereichsschranken verkürzten die Reichweite rechtsstaatlichen Freiheitsschutzes, weil hiernach hoheitliche Maßnahmen zwar 1 9 5 Ähnlich Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 134. Wahl/Masing, JZ 1990, 553 ff. erörtern diese Frage der Schutzbereichsschranken Oberhaupt nicht, sondern unterstellen schon im Titel ihrer Arbeit ("Schutz durch Eingriff") die Richtigkeit der RechtfertigungsschrankenLosung. Es hätte indessen der Darlegung bedurft, daß wirklich ein "Eingriff" vorliegt, wenn grundrechtlich gebotener Schutz beansprucht und gewährt wird. Insofern basieren ihre Ausführungen letztlich auf einer unzulässigen petitio principii. Nicht überzeugend daher auch Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 155; G. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 206 ff.; A. Roth, Drittbetroffenheit, S. 238 f. 1 9 6
S. oben H U 2 a.
1 9 7
S. oben H I I 1. Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 154.
1 9 8
II. Die Schranken der Abwehrrechte
495
rechtswidrig sein könnten, dies aber nicht abwehrrechtlich geltend gemacht werden könne 1 9 9 , so stellt das eine unzulässige Gleichsetzung von Konstituierung und Aktivierung der Schutzbereichsschranken dar. Zwar wäre dies eine durchaus plausible Konsequenz, doch logisch spricht kein Grund dagegen, auch die Aktivierung von Schutzbereichsschranken an gewisse kompetentielle Voraussetzungen zu knüpfen, etwa an einen Vorbehalt des Gesetzes, mit der Folge, daß sich Verwaltung oder Gerichte nicht auf die allerdings existierenden Schutzbereichsschranken berufen könnten, solange sie nicht vom Gesetzgeber aktiviert wurden; mangels Schrankenaktivierung müßte sich der Grundrechtsträger dann nicht auf die fehlende Schutzbereichsbeeinträchtigung verweisen lassen. Ob und inwieweit Schutzbereichs- bzw. Rechtfertigungsschranken einer solchen gesetzlichen Aktivierung bedürfen, mithin einem Vorbehalt des Gesetzes unterliegen, läßt sich nicht zwingend aus dem Begriff der Schrankenkonstituierung ableiten, sondern bedarf der materiellen Begründung (unten IV), welche erst im Anschluß an eine Untersuchung des Prinzips des Vorbehalts des Gesetzes (nachfolgend III) zu geben ist.
1 9 9
Vgl. Lübbe-Wolff,
Eingriffsdogmatik, S. 88 f.
III. Der Vorbehalt des Gesetzes Die in diesem Abschnitt vorzunehmende Ermittlung von Sinn und Zweck des Prinzips des Vorbehalts des Gesetzes verfolgt zwei Ziele. Zunächst ist die Kenntnis des telos des Vorbehalts des Gesetzes Bedingung jeder materiell begründeten, nicht im bloßen Behaupten endenden Aussage über die Erforderlichkeit einer gesetzlichen Aktivierung von Abwehrrechtsschranken, sei es von Rechtfertigungsschranken, sei es von Schutzbereichsschranken. Darüber hinaus ist diese Ermittlung Voraussetzung für die Bestimmung der gegenständlichen Tragweite eines hiernach etwa anzunehmenden Vorbehalts des Gesetzes, mit anderen Worten: der kompetentiellen Rechtfertigungsvoraussetzungen von (faktischen) Eingriffen in Abwehrrechte.
1. Der Geltungsgrund des Vorbehalts des Gesetzes Der Geltungsgrund des Vorbehalts des Gesetzes ist, wie sich schon aus seiner dogmengeschichtlichen Entwicklung1 ergibt, die Sicherung zweier Prinzipien: des Demokratie- und des Rechtsstaatsprinzips2. a) Demokratische Vorbehaltskomponente Der Vorbehalt des Gesetzes diente in der historischen Entwicklung des demokratischen Staates wesentlich der Beschränkung der exekutiven Befugnisse des Monarchen3: indem dieser für "Eingriffe in Freiheit und Eigentum" der Bürger einer gesetzlichen Ermächtigung bedurfte, sicherten sich diese über das von ihnen gewählte Parlament ein entscheidendes Mitbestimmungsrecht. Diese Mitbestimmungsbefugnis war primär nicht gegen willkürliche Einzelmaßnahmen des Monarchen gerichtet4, welche sich im aufgeklärten Absolutismus auch dem monarchischen Legislator schon aus dem anerkannten rechtsstaatli-
1 Hierzu Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 108 ff.; Rottmann, EuGRZ 1985, 281 ff.; Selmer, JuS 1968, 490 ff. 2 R. Hermes, Parlamentsgesetz, S. 44, 74 ff.; Ooepfer, JZ 1984, 685; Ustl, DVB1. 1978, 12 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rdnr 4 ff.; Pietzcker, JuS 1979, 713. 3 Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (Lfg. 1980) Rdnr V I 59; Kisker, NJW 1977, 1314; Kloepfer, JZ 1984, 685; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rdnr 9; Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht I, S. 70 Fn. 12; Pietzcker, JuS 1979, 712; Rottmann, EuGRZ 1985, 283; Schenke, GewArch 1977, 317; Selmer, JuS 1968, 490. 4
Vgl. Thoma, Vorbehalt, S. 220.
. Der Vorbehalt des Gesetzes
497
chen Prinzip der Allgemeinheit der Gesetze verboten. Kern des spezifisch demokratischen Anliegens war vielmehr die Beschneidimg exekutiver Macht gerade auch dort, wo nicht von einer willkürlichen Verwaltungstätigkeit im eigentlichen Sinne gesprochen werden konnte. Angesichts eines im Begriff der "guten Polizey" ausgedrückten Staatsverständnisses, welches dem Staat die Aufgabe zuerkannte, für die gute Ordnung und das Wohl des Gemeinwesens zu sorgen5, bestand die Gefahr einer einseitigen Interessenabwägung: Die Exekutive mochte, obschon in bester Absicht, zu einer einseitigen Begünstigung und Bevorzugung des Allgemeininteresses vor dem Interesse des Individuums tendieren6. Dem begegnet der demokratisch fundierte Vorbehalt des Gesetzes. Durch die "zügelnde Mitwirkung der Volksvertretung" 7 wird die (potentielle) Einseitigkeit der Abwägung aufgehoben. Die Abgeordneten sind ihren Gesetzen persönlich unterworfen 8 und müssen schon von daher eine erträgliche Interessenabwägung herbeiführen 9. Vor allem aber müssen sie sich der Wahl stellen, insbesondere auch der Wiederwahl; aufgrund dieser verfahrensmäßigen Rückführung ihrer Mandate auf den Souverän 10 bekommt dieser ein wirksames Kontroll- und Sanktionsinstrument in die Hand 1 1 , weswegen die Abgeordneten nach einem für das Wahlvolk akzeptablen Ausgleich der Allgemeinund der Individualinteressen streben müssen12. Der Vorbehalt des Gesetzes dient so der demokratischen Legitimierung deijenigen Beschränkungen, welche jeder Bürger im Interesse des Gemeinwesens hinnehmen muß. Diese demokratische Legitimation wird also weder durch eine rein fiktive Identität von Regierenden und Regierten vermittelt 13 , noch durch eine fiktive Zustimmung im Sinne der Gesellschaftsvertragstheorien 14, sondern folgt in einer repräsentativen Demokratie aus der durch die unmittelbar demokratisch legitimierten Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 GG) ausgeübten realen Zustimmung15. Ihre Überzeugungskraft gewinnt sie eben aus dem Umstand, daß sich die Abgeordneten im Hinblick auf ihre Selbstunterworfenheit sowie vor allem die Wahlen um eine gerechte Interessenabwägung bemühen müssen, und auf diese Weise 5
Vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 2 Rdnr 4; Rottmann, EuGRZ 1985, 284: Aufgabe der "Sozialgestaltung"; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr 2. 6 7 8 9
Vgl. Thoma, Vorbehalt, S. 219 f. Thoma, Vorbehalt, S. 220. Rottmann, EuGRZ 1985, 283 f. Bleckmann, DVB1. 1984, 8.
1 0
Vgl. BVerfGE 47, 253, 272; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 105.
1 1
Vgl. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 111; ferner Eberle, DÖV 1984, 489.
1 2 Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht I, S. 70 Fn. 12: die Nationalversammlung stehe dafür gut, "daß es nicht allzuschlimm werde; das ist ihr Pakt mit der Masse". Vgl. ferner Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 380. 1 3
Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 105.
1 4
Vgl. hierzu Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 117 ff. Vgl. R. Hermes, Parlamentsgesetz, S. 45 f.; Rottmann, EuGRZ 1985, 285.
1 5
H. Die Eingriffsrechtfertigung
498
eine unter den Bedingungen menschlicher Unzulänglichkeit bestmögliche Annäherung an einen wahrhaften und gerechten Ausgleich aller konfligierenden Güter und Interessen zu erzielen ist. Vor diesem Hintergrund werden die demokratischen Vorzüge gesetzlicher Schrankenaktivierungen zu Recht im parlamentarischen Verfahren gesehen16, welches zumeist ein höheres Maß an Öffentlichkeit 17 der Auseinandersetzung und Entscheidungssuche gewährleistet als die womöglich im Geheimen ablaufenden verwaltungsinternen Entscheidungsprozesse18. Die Abgeordneten werden schon im Gesetzgebungsverfahren der öffentlichen Diskussion, Kritik und Einflußnahme ausgesetzt, was eine Rückkopplung an die Meinungen der von der Entscheidung betroffenen Bürger bewirkt 19 , und so einen akzeptablen Ausgleich der widerstreitenden Interessen im Wege politischer Kompromisse begünstigt20. Dadurch entfaltet der Gesetzgebungsprozeß eine Schutzwirkung, die einer rein verwaltungsinternen Entscheidungsfindung oftmals abgeht 21 . Die beschriebene demokratietheoretische Fundierung des Vorbehalts des Gesetzes gilt auch unter dem Grundgesetz. Soweit nämlich die in den Schrankenklauseln gebräuchliche Formel lautet, die Aktivierung einer Abwehrrechtsschranke sei nur "durch Gesetz" bzw. "auf Grund eines Gesetzes" zulässig, muß die Schrankenaktivierung entweder von den vorgesehenen Gesetzgebungsorganen (Bundestag und gegebenenfalls Bundesrat, bzw. Landesparlamente) selbst durch den Erlaß förmlicher Gesetze (Parlamentsgesetze) vorgenommen werden, oder aber die Legislative muß wenigstens die Exekutivorgane zum Erlaß schrankenaktivierender nur-materieller Gesetze (Rechtsverordnungen) ermächtigen. Mit letzterem geht zwar die Schrankenaktivierungskompetenz auf Exekutivorgane über 22 . Jedoch die ermächtigten Exekutivorgane handeln hierbei nicht als Exekutive, sondern materiell als Legislative. Solange die fragliche Rechtsverordnung nicht erlassen wurde, darf sich die Exekutive bei ihrer verwaltenden Tätigkeit nicht auf die Abwehrrechtsschranke berufen die formell-gesetzliche Verordnungsermächtigimg genügt hierfür nicht, ist keine Eingriffsermächtigung. Auch ist eine solche Schrankenaktivierungskompetenz der Exekutive gleich ihrer materiellen Gesetzgebungsbefugnis lediglich eine derivative. Im Gegensatz zur Legislative, deren formelle Gesetzgebungs1 6
BVerfG, NJW 1993, 1379, 1380. Für das formelle Gesetzgebungsverfahren im Bund ausdrücklich Art. 42 I 1, 52 m 3 GG. Zur (zumindest potentiellen) Öffentlichkeit vgl. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 99 ff. 1 7
1 8
BVerfGE 40, 237, 249; 68, 1, 109; Eberle, DÖV 1984, 489 f.; Frohn, Z G 1990, 128; R. Hermes, Parlamentsgesetz, S. 52 ff.; Kisker, NJW 1977, 1315; Kloepfer, JZ 1984, 686 f., 694; Krebs, Jura 1979, 307; Pietzcker, JuS 1979, 713; Rottmann, EuGRZ 1985, 294; Schenke, GewArch 1977, 318; Stern, Staatsrecht I, S. 812, 1005. 1 9
Vgl. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 102 ff.; Kisker, NJW 1977, 1315.
2 0
BVerfGE 40, 237, 249; Rottmann, EuGRZ 1985, 294.
2 1
Krebs, Jura 1979, 307. Vgl. oben H H 2 b.
2 2
. Der Vorbehalt des Gesetzes
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macht unmittelbar der Verfassung entstammt (originäre Gesetzgebungsmacht), kommt der Exekutive ausschließlich eine derivative Gesetzgebungsbefugnis auf Grund einer nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmten Verordnungsermächtigung zu (Art. 80 Abs. 1 G G ) 2 3 . Dank diesem Prinzip der Spezialermächtigung24 muß der formelle Gesetzgeber selbst "Tendenz und Programm" so genau umreißen, "daß schon aus der Ermächtigung erkennbar und vorhersehbar ist, was dem Bürger gegenüber zulässig sein soll" 25 . Mit anderen Worten muß das Parlament alle wesentlichen Entscheidungen26 hinsichtlich der Schrankenaktivierung treffen, womit dem Demokratieprinzip genügt ist. Eine gewisse Sonderstellung nehmen Satzungen als von juristischen Personen des öffentlichen Rechts zur Regelung ihrer Angelegenheiten erlassene materielle Gesetze27 ein. Sie bedürfen zwar, anders als Rechtsverordnungen, keiner dem Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG gemäßen speziellen formell-gesetzlichen Grundlage 28, doch muß der formelle Gesetzgeber auch hier die wesentlichen, insbesondere in Abwehrrechte eingreifenden Regelungen selbst treffen 29 . Soweit hiernach die jeweilige Körperschaft ohne formell-gesetzliche Ermächtigung, d.h. mit originärer Gesetzgebungskompetenz Satzungen erlassen darf 3 0 , verträgt sich dies mit dem Demokratieprinzip, weil die Satzungen (im Unterschied zu Rechtsverordnungen) von den aufgrund der Wahl durch die Mitglieder der fraglichen Körperschaften unmittelbar demokratisch legitimierten Organen beschlossen werden 31 , und nicht von lediglich mittelbar demokratisch legitimierten Exekutivorganen. Diese eigenständige demokratische Legitimation gestattet die Zubilligung originärer materieller Gesetzgebungskompetenz.
M
Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rdnr 11.
2 4
Für die Lander gilt der Gedanke des Art. 80 I 2 GG als Konkretisierung von Demokratieund Rechtsstaatsprinzip (Art. 28 I GG) in gleicher Weise, BVerfGE 41, 251, 266; 58, 257, 277; Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 492 f.; Jarass/Pieroth, GG, Art. 80 Rdnr 4; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 13 Rdnr 12. 2 5
S. etwa BVerfGE 58, 257, 277.
2 6
Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rdnr 11. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rdnr 14.
2 7 2 8
BVerfGE 12, 319, 325; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rdnr 16.
2 9
BVerfGE 33, 125, 157 ff.; BVerwGE 6, 247, 250 f.; R. Hermes, Parlamentsgesetz, S. 97 f.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rdnr 17. 3 0 Eine solche originäre Befugnis kommt von den juristischen Personen des öffentlichen Rechts nur den Körperschaften zu (Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 23 Rdnr 44), nicht aber den Anstalten (Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 23 Rdnr 54) oder Stiftungen gegenüber ihren Benutzern, Nutznießern oder Dritten. 3 1
Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rdnr 16.
500
H. Die Eingriffsrechtfertigung
b) Rechtsstaatliche
Vorbehaltskomponente
Worin der spezifisch rechtsstaatliche Gehalt des Vorbehalts des Gesetzes besteht, erhellt aus den Vorzügen, die einer gesetzlichen Schrankenaktivierung im Gegensatz zu einer solchen, die nicht in einem Gesetz besteht, zukommt. Diese Vorzüge ergeben sich zum einen aus den ausdrücklichen Anforderungen des Grundgesetzes an Gesetze, zum anderen aus der Natur der Sache. Oberste Funktion einer gesetzlichen Schrankenaktivierung ist - jedenfalls wenn das Gesetz selbst auch allgemein und nicht nur für den Einzelfall gilt (Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG) - der Ausschluß willkürlicher Einzelmaßnahmen32. Der allgemeine Gesetze erlassende Gesetzgeber muß - ob demokratisch legitimiert oder nicht - seine Gesetze so gestalten, daß ihre Folgen auch generell akzeptabel sind, und kann nicht nach Gutdünken willkürliche Einzelfallentscheidungen treffen 33. Schon allein die Allgemeinheit der Gesetze entfaltet so eine freiheitsschützende Wirkung 34 . Als weitere rechtsstaatliche Vorzüge gesetzlicher Schrankenaktivierung sind die Vorhersehbarkeit, Berechenbarkeit und Bestimmtheit zu nennen, in einem Wort: die Rechtssicherheit35. Gesetze sind nur wirksam, wenn sie ordnungsgemäß verkündet wurden (Art. 82 Abs. 1 GG). Eingriffe in Abwehrrechte, die durch oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, sind daher für den betroffenen Bürger in dem Sinne vorhersehbar, daß dem verkündeten Gesetz die Ermächtigung zu dem fraglichen Eingriff zu entnehmen sein muß. Diese Vorhersehbarkeit der eventuell drohenden Grundrechtsgutsbeeinträchtigung wird durch das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG sogar noch bekräftigt, weil die Eingriffsermächtigung nicht nur inhaltlich dem Gesetz zu entnehmen sein, sondern explizit die Einschränkung respektive Einschränkbarkeit des Abwehrrechts genannt werden muß 36 . Eine solche Vorhersehbarkeit wäre nicht gegeben, würde ein Eingriff lediglich auf eine nicht zu veröffentlichende Verwaltungsvorschrift gestützt (mag diese den Eingriff auch noch so exakt spezifizieren) oder womöglich gar bloß auf einer Einzelweisung bzw. der Entscheidung eines Amtsträgers im Einzelfall beruhen. Eng mit dieser durch gesetzliche Regelung ermöglichten Vorhersehbarkeit des Eingriffs hängt ein anderes Gebot der Rechtsstaatlichkeit zusammen: die 3 2 Eberle, DÖV 1984, 488; Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 218 f.; R. Hermes, Parlamentsgesetz, S. 59; Kloepfer, JZ 1984, 685; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte, S. 41. 3 3
Pietzcker,
3 4
Vgl. Kirchhof \ Verwalten durch "mittelbares" Einwirken, S. 260 f.
JuS 1979, 712.
3 5 Vgl. BVerfGE 8, 274, 325; Discher, JuS 1993, 467; Frohn, Z G 1990, 120; R. Hermes, Parlamentsgesetz, S. 60 f.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rdnr 6; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte, S. 40 f.; Pietzcker, JuS 1979, 712, 713. 3 6 Vgl. Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr 331; Menger, in BK, Art. 19 I (Zweitb. 1979) Rdnr142.
. Der Vorbehalt des Gesetzes
501
Berechenbarkeit. Der Bürger weiß nämlich nicht nur, unter welchen Umständen er mit einem Eingriff zu rechnen hat; er weiß zugleich, daß er in allen anderen Fällen davon verschont bleibt, weil sich die Verwaltung nicht von der Eingriffsgrundlage lösen darf. Indem das Gesetz, auf Grund dessen der Eingriff zulässig sein soll, außerdem festlegen muß, unter welchen Bedingungen die Verwaltung das Gesetz als Ermächtigung betrachten darf, dient es weiter der Bestimmtheit des Eingriffs. c) Gewaltenteilungsprinzip Teilweise wird das Prinzip des Vorbehalts des Gesetzes (auch) auf das Gewaltenteilungsprinzip gestützt37. Daran ist zunächst richtig, daß ein Vorbehalt des Gesetzes ohne funktionelle Gewaltenteilung nicht vorstellbar und ohne institutionelle Gewaltenteilung wenig sinnvoll ist. Andererseits dient die Gewaltenteilung gerade der Sicherung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, so daß das Gewaltenteilungsprinzip keine Folgerungen zum Vorbehalt des Gesetzes gestattet, die über jene hinausgehen, die schon diese Grundprinzipien erlauben 38. Vor allem aber geht es bei dem Vorbehalt des Gesetzes überhaupt nicht um den Schutz der Gesetzgebungskompetenz der Legislative oder der Verwaltungskompetenz der Exekutive! Der Vorbehalt des Gesetzes betrifft nämlich wesensmäßig exekutives Handeln, indem er ein Tätigwerden der Exekutive dort sperrt, wo es tatsächlich sehr wohl gesetzesfrei vorstellbar wäre. Daß die Exekutive nicht originär gesetzgebend tätig werden kann, sondern nur derivativ auf Grund einer Ermächtigung (Art. 80 GG) durch den originären Gesetzgeber, versteht sich in einem gewaltenteiligen System von selbst, und ist gerade nicht Gegenstand des Vorbehalts des Gesetzes. Der Vorbehalt des Gesetzes beinhaltet die Konditionierung wesensmäßig exekutiven Handelns durch eine legislative Gestattung, was eher eine Gewaltenverschränkung bedeutet als eine strikte Gewaltenteilung. Ihm geht es um die konkrete Weise der Verteilung der Staatsgewalt auf die einzelnen Branchen, im Bereich der Abwehrrechte also darum, wie die Schrankenaktivierungskompetenz zwischen Legislative und Exekutive verteilt ist. Betrifft aber der Vorbehalt des Gesetzes gerade die konkrete Ausgestaltung der Gewaltenteilung, so läßt sich umgekehrt dem topos der Gewaltenteilung nichts für die Geltung oder Nichtgeltung bzw. die inhaltliche Tragweite des Vorbehalts des Gesetzes entnehmen39.
3 7
Badura , Die Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand, S. 842; Selmer , JuS 1968, 490. J O