Freiheit und Offenbarung: Religionstheorie und Dogmatik bei Richard Adelbert Lipsius 3161626362, 9783161626364

Religion ist ein Befreiungsgeschehen. Die christliche Dogmatik deutet diese Befreiung als Selbstoffenbarung Gottes. Dies

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German Pages 368 [370] Year 2024

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Erster Teil: Religionstheorie und Dogmatik bei Richard Adelbert Lipsius
I. Die Formierungsphase 1830–1876
1. Im Geiste Melanchthons und Herrnhuts – Familiäre Einflüsse 1830–1848
2. Die vermittlungstheologischen Anfänge – Leipzig 1848–1861
a. Freiheit und System – Christian Herrmann Weisses Spätidealismus
b. Freiheit und Lebendigkeit – Lipsius’ frühe Weisse-Studien
3. Liberalität in der Diaspora – Wien 1861–1865
a. Freiheit und Geschichte – Ferdinand Christian Baur und die Tübinger Schule
b. Freiheit und Kultur – Die Idee des göttlichen Reichs
4. Kämpfe mit der Orthodoxie – Kiel 1865–1871
a. Freiheit und Lehre – Die Auseinandersetzung mit W. H. Koopmann
b. Freiheit und schlechthinnige Abhängigkeit – Schleiermacher-Studien
5. Weiterbildung liberaler Theologie – Jena 1871–1892
a. Glauben und Wissen – Lipsius’ programmatische Hegelkritik
b. Freiheit und Glaube – Abschluss der Formierungsphase
II. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876
1. Wissenschaftliches Selbstbewusstsein der Kirche – Zur Aufgabe der Dogmatik
2. Abhängigkeitsgefühl und Freiheitstrieb – Die Religionspsychologie
3. Das Mysterium der Offenbarung – Die Religionsdogmatik
4. Religiöse Erfahrung und bildlicher Ausdruck – Die religiöse Erkenntnistheorie
5. Das christliche Prinzip – Die Offenbarungsdreiheit
a. Der Quell der Freiheit – Zur Gotteslehre
b. Das Urbild der Freiheit – Zur Christologie
c. Die Zueignung der Freiheit – Zur Pneumatologie
6. Dogmatik der Freiheit – Zwischenfazit
III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879
1. Freiheit und Materialismus – Die Gottesidee und Die göttliche Weltregierung
2. Dogmatische Beiträge zur Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878
a. Ritschl und Lipsius – Die Entfremdungsgeschichte zweier Theologien
b. Moralismus und Mystik – Eine Kritik der Ritschl-Schule
c. Metaphysik und Mysterium – Eine Kritik Biedermanns
d. Dichtung und Wahrheit – Zur Neukantianismusrezeption
3. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1879
IV. Die Spättheologie 1880–1892
1. Eine positive Wende? – Neuakzentuierung liberaler Theologie
a. Die liberale Stoßrichtung – Die letzten Gründe der religiösen Gewißheit 1880
b. Die positive Stoßrichtung – Die Bedeutung des Historischen im Christentume 1881
c. Konsensualtheologie – Gemeinsamer Glaubensgrund im Kampf gegen Rom 1889
2. Eine praktische Wende? – Philosophie und Religion
a. Realistischer Kantianismus – Die Metaphysik der Grenzbegriffe
b. Kritik aller wissenschaftlichen Metaphysik – Biedermanns Panlogismus
c. Psychologie und Moraltheologie – Empirisch-praktische Religionstheorie
d. Erleben und Erklären – Der Werturteilsstreit mit der Ritschl-Schule
e. Metaphysik der Freiheit – Herrmanns und Lipsius’ Freiheitsverständnis
3. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893
a. Transzendentale Erlebenstheologie – Die Überarbeitung der Religionstheorie
b. Urbild und Heilsoffenbarung – Die Überarbeitung der Christologie
Zweiter Teil: Freiheit und Offenbarung
V. Zum Verhältnis von Religionstheorie und Dogmatik
1. Liberale Theologie – Zur Funktion der Metaphysikkritik
2. Theologischer Neukantianismus – Zur Funktion der Weltanschauung
3. Bedürfnis und Erfahrung – Troeltschs Lipsius-Deutung
4. Religion als Freiheitsgeschehen – Zur Funktion der Religionstheorie
5. Freiheitserleben als Offenbarung – Zur Funktion der Dogmatik
6. Freiheit und Offenbarung – Das idealistische Erbe
VI. Spannungen und Bruchlinien der theologischen Systematik
1. Subjektivismus und Kritik – Die erkenntnistheoretische Spannung
2. Mystik und Funktion – Die religionstheoretische Spannung
3. Erleben und Geschichte – Die dogmatische Spannung
4. Liberale Vermittlungstheologie – Die theologische Grundhaltung
VII. Richard Adelbert Lipsius
Literaturverzeichnis
Schriften Richard Adelbert Lipsius’
Von Richard Adelbert Lipsius herausgegebene Schriften
Sekundärliteratur
Personenregister
Sachregister
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Freiheit und Offenbarung: Religionstheorie und Dogmatik bei Richard Adelbert Lipsius
 3161626362, 9783161626364

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Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von Albrecht Beutel

205

Mario Berkefeld

Freiheit und Offenbarung Religionstheorie und Dogmatik bei Richard Adelbert Lipsius

Mohr Siebeck

Mario Berkefeld, geboren 1990; 2011−19 Studium der Ev. Theologie und Philosophie; 2019−22 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Dogmatik, Religionsphilosophie und Ökumene der Ludwig-Maximilians-Universität München; Vikar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. orcid.org/0009-0008-0853-2550

ISBN 978-3-16-162636-4 / eISBN 978-3-16-162757-6 DOI 10.1628/978-3-16-162757-6 ISSN 0340-6741 / eISSN 2568-6569 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über https://dnb.dnb.de abrufbar. © 2024 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.

Vorwort Religion ist ein Freiheitsgeschehen und Befreiung ist eine Selbstoffenbarung Gottes. Diese Doppelthese zeichnet die vorliegende Studie exemplarisch am Werk des liberalen Theologen Richard Adelbert Lipsius nach. Sie führt dabei hinein in die erstaunlich wenig ausgeleuchtete Formierungsgeschichte klassischliberaler Theologien im 19. Jahrhundert. Lipsius‘ Versuche, eine befreiende Wirkung der Religion im Aufbau humaner Kultur aufzudecken und damit die christliche Dogmatik freiheitsphänomenologisch zu sättigen, sind Arbeiten an einem modernitätsfähigen Protestantismus. Seine Theologie zeigt, dass diese Arbeit durch Spannungsmomente gekennzeichnet ist, die sich im Begriffspaar Freiheit und Offenbarung bündeln: Die moderne Verankerung der Religion in der Selbsterschlossenheit freier Subjektivität stellt die historisch vermittelten propositionalen Gehalte religiöser Gewissheit in Frage, die die befreiende Wirkung der Religion begründen sollen. Die traditionelle Verankerung der Religion in der Offenbarung wiederum stellt die Selbstwirksamkeit des religiösen Bewusstseins in Frage, die eine mündige Religionskultur voraussetzt. Theologie steht vor der Aufgabe, die Momente von Fantasie und Widerfahrnis in der religiösen Symbolproduktion, die Momente von Funktionalität und Substantialität des religiösen Bewusstseins sowie die Momente von Positivität und Aneignung religiöser Rede zu vermitteln. Diese Aufgabe erkenntnistheoretisch, religionstheoretisch und materialdogmatisch zu bearbeiten, ohne ihr durch Einseitigkeiten zu entfliehen, ist das Verdienst der Theologie von Lipsius. Der inneren Verwobenheit von Freiheit und Offenbarung nachzugehen, ist ihr bleibender Appell. Das vorliegende Buch ist die Druckfassung meiner geringfügig überarbeiteten Dissertation, die im Juni 2022 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Promotionsleistung angenommen wurde. Auf dem Weg dorthin habe ich vielseitige Unterstützung erfahren: Mein herzlicher Dank gilt zunächst meinem Doktorvater Prof. Dr. Jörg Lauster, der es verstand, große Inspiration, Ermunterung zur Eigenständigkeit und aufmerksame Begleitung zu verbinden. Als sein Assistent in der Atmosphäre der Freiheit des Lehrstuhls forschen zu können, war für mich ein großes Glück, ebenso wie die kontinuierliche Förderung seit meinen Marburger- und Münchner Studienjahren. Auch Prof. Dr. Reiner Anselm bin ich zu großem Dank verpflichtet: Zunächst für die Erstellung des außerordentlich prägnanten Zweitgutachtens. Sodann für das Beispiel weltgewandten liberalen Theologietreibens und die vielen Möglichkeiten, meine Gedanken neben den Kolloquien am Heimat-

VI

Vorwort

lehrstuhl in Sozietäten und Oberseminaren auf die Probe zu stellen. Diesen Foren verdanken ich und meine Dissertation entscheidende Prägungen auch durch Prof. Dr. Martin Laube, Prof. Dr. Markus Buntfuß und Prof. Dr. Christian Albrecht. Eine glückliche biografische Klammer ist, dass ich meine Interpretation im Herrmann-Lesekreis mit Prof. Dr. Dietrich Korsch nachschärfen konnte, nachdem mich Korschs Lehre zu Beginn meines Studiums für die Systematische Theologie eingenommen hat. Es freut mich sehr, dass meine Dissertation in der Reihe Beiträge zur historischen Theologie im Mohr-Siebeck-Verlag erscheinen kann. Dafür danke ich dem Herausgeber der Reihe, Prof. Dr. Albrecht Beutel, sehr herzlich. Für die Aufnahme in das Verlagsprogramm danke ich zudem der Verlagsleitung von Ove Kähler, sowie der Programmleitung von Dr. Katharina Gutekunst und Tobias Stäbler. Der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) danke ich für einen großzügigen Druckkostenzuschuss. Die fachliche Bereicherung und die Geselligkeit im Kreis der Kolleginnen und Kollegen hätte ich während meiner Promotionszeit nicht missen wollen. PD Dr. Peter Schüz danke ich von Herzen für die frühe Förderung, die stets anregenden Diskussionen und die enge freundschaftliche Verbundenheit. Durch manche einsame Schreibtischzeit im Rahmen der COVID-19-Pandemie hat mich die digitale Vernetzung mit der Doktorandengruppe des Lehrstuhls getragen: Freundschaften pflegen und Dissertationen überarbeiten war nie so gut verbunden wie mit Marieluise Sonnemeyer, Eva-Katharina Kingreen und Maximilian Schalück. Auch Dr. Lukas David Meyer und Dr. Yannick Schlote haben mich mit Rat und Tat unterstützt. Bei den letzten Überarbeitungen hat mir zudem Johannes Weidemann geholfen, dem ich neben vielen glücklichen Stunden seit der Marburger Zeit auch erste Hinweise auf Lipsius verdanke. Beim Korrekturlesen des Manuskripts war mir Fanny Sommerfeld eine sehr große Hilfe. Bei der Schlussredaktion für die Drucklegung haben mich neben den Genannten viele Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter tatkräftig unterstützt: Ich danke Andreas Eder, Moritz Gengenbach, Svenja Klamroth, Helena Malsy, Annika Müller-Praefcke, Philipp Raekow, Sven Rathmann und Florian Wachter. Schließlich danke ich Janina von ganzem Herzen für ihre liebevolle Begleitung durchs Leben und ihre Geduld. Marburg im Advent 2023

Mario Berkefeld

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Erster Teil: Religionstheorie und Dogmatik bei Richard Adelbert Lipsius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

I. Die Formierungsphase 1830–1876 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

1.

Im Geiste Melanchthons und Herrnhuts – Familiäre Einflüsse 1830–1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

2. a. b.

Die vermittlungstheologischen Anfänge – Leipzig 1848–1861 . . . . . . . Freiheit und System – Christian Herrmann Weisses Spätidealismus Freiheit und Lebendigkeit – Lipsius’ frühe Weisse-Studien . . . . . . . .

21 25 34

3. a.

Liberalität in der Diaspora – Wien 1861–1865 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freiheit und Geschichte – Ferdinand Christian Baur und die Tübinger Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freiheit und Kultur – Die Idee des göttlichen Reichs . . . . . . . . . . . . . .

37

b.

38 42

4. a. b.

Kämpfe mit der Orthodoxie – Kiel 1865–1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Freiheit und Lehre – Die Auseinandersetzung mit W. H. Koopmann . . 46 Freiheit und schlechthinnige Abhängigkeit – SchleiermacherStudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

5. a. b.

Weiterbildung liberaler Theologie – Jena 1871–1892 . . . . . . . . . . . . . . Glauben und Wissen – Lipsius’ programmatische Hegelkritik . . . . . Freiheit und Glaube – Abschluss der Formierungsphase . . . . . . . . . .

II. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876 1.

69 73 86 89

Wissenschaftliches Selbstbewusstsein der Kirche – Zur Aufgabe der Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

2.

Abhängigkeitsgefühl und Freiheitstrieb – Die Religionspsychologie

99

3.

Das Mysterium der Offenbarung – Die Religionsdogmatik . . . . . . . . .

112

VIII 4.

Inhaltsverzeichnis

Religiöse Erfahrung und bildlicher Ausdruck – Die religiöse Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119

5. a. b. c.

Das christliche Prinzip – Die Offenbarungsdreiheit . . . . . . . . . . . . . . . Der Quell der Freiheit – Zur Gotteslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Urbild der Freiheit – Zur Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zueignung der Freiheit – Zur Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . .

128 132 141 149

6.

Dogmatik der Freiheit – Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

152

III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879 . . . . . . . .

155

1. 2.

Freiheit und Materialismus – Die Gottesidee und Die göttliche Weltregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

156

b. c. d.

Dogmatische Beiträge zur Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ritschl und Lipsius – Die Entfremdungsgeschichte zweier Theologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moralismus und Mystik – Eine Kritik der Ritschl-Schule . . . . . . . . . Metaphysik und Mysterium – Eine Kritik Biedermanns . . . . . . . . . . Dichtung und Wahrheit – Zur Neukantianismusrezeption . . . . . . . .

3.

Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1879 . . . . . . . . .

203

IV. Die Spättheologie 1880–1892 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207

Eine positive Wende? – Neuakzentuierung liberaler Theologie . . . . . . . Die liberale Stoßrichtung – Die letzten Gründe der religiösen Gewißheit 1880 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die positive Stoßrichtung – Die Bedeutung des Historischen im Christentume 1881 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsensualtheologie – Gemeinsamer Glaubensgrund im Kampf gegen Rom 1889 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

209

a.

1. a. b. c. 2. a. b. c. d. e. 3. a.

Eine praktische Wende? – Philosophie und Religion . . . . . . . . . . . . . . . Realistischer Kantianismus – Die Metaphysik der Grenzbegriffe . . . Kritik aller wissenschaftlichen Metaphysik – Biedermanns Panlogismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologie und Moraltheologie – Empirischpraktische Religionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erleben und Erklären – Der Werturteilsstreit mit der Ritschl-Schule Metaphysik der Freiheit – Herrmanns und Lipsius’ Freiheitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893 . . . . . . . . . Transzendentale Erlebenstheologie – Die Überarbeitung der Religionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167 168 174 190 197

210 215 222 225 226 232 238 248 259 265 268

Inhaltsverzeichnis

b.

IX

Urbild und Heilsoffenbarung – Die Überarbeitung der Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

276

Zweiter Teil: Freiheit und Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285

V. Zum Verhältnis von Religionstheorie und Dogmatik . . . . . . . .

287

1.

Liberale Theologie – Zur Funktion der Metaphysikkritik . . . . . . . . . .

288

2.

Theologischer Neukantianismus – Zur Funktion der Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

292

3.

Bedürfnis und Erfahrung – Troeltschs Lipsius-Deutung . . . . . . . . . . . .

295

4.

Religion als Freiheitsgeschehen – Zur Funktion der Religionstheorie

301

5.

Freiheitserleben als Offenbarung – Zur Funktion der Dogmatik . . . . .

307

6.

Freiheit und Offenbarung – Das idealistische Erbe . . . . . . . . . . . . . . . .

310

VI. Spannungen und Bruchlinien der theologischen Systematik

317

1.

Subjektivismus und Kritik – Die erkenntnistheoretische Spannung . . .

318

2.

Mystik und Funktion – Die religionstheoretische Spannung . . . . . . . . .

320

3.

Erleben und Geschichte – Die dogmatische Spannung . . . . . . . . . . . . .

322

4.

Liberale Vermittlungstheologie – Die theologische Grundhaltung . . . .

326

VII. Richard Adelbert Lipsius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

331

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

335

Schriften Richard Adelbert Lipsius’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

335

Von Richard Adelbert Lipsius herausgegebene Schriften . . . . . . . . . . .

337

Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

337

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

349

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

353

Einleitung οë δεÁ κυ ριος τοÁ πνευÄ µα εÆ στιν· ουÎ δεÁ τοÁ πνευÄ µα κυρι ου, εÆ λευθερι α. 2. Korinther 3,17

Liberale Theologie ist freisinnige Theologie. Mit den Mitteln der freien wissenschaftlichen Kritik protestiert sie gegen äußerliche Festschreibungen des Christlichen. Sie entsteht als aufgeklärte Emanzipationsbewegung gegenüber einer Einengung aller Religionsforschung durch institutionelle Autoritäten.1 Ihr ist es um die Freiheit und Wahrhaftigkeit des Theologietreibens zu tun, indem sie ihren theologischen Sinn von unkritischen Vorgaben zu befreien versucht. In dieser „Erziehung zur Kritik“2 wusste selbst ein so leidenschaftlicher Gegner der liberalen Theologie wie Rudolf Bultmann Großes zu erkennen. Mit Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung von 1924 formuliert er jedoch zugleich paradigmatisch für die aufstrebende dialektische Theologie eine grundstürzende Fehlerdiagnose: Liberale Theologie handele nicht von Gott, sondern nur vom Menschen und verfehle so das eigentliche Geschäft der Theologie.3 Ihr beachtlicher Sinn für Freiheit und Wahrheit sei an die Stelle eines nötigen Sinns für das Skandalon echter Offenbarung Gottes getreten. Mit diesem Urteil hat er weite Teile der evangelischen Theologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Abgrenzungsfolie für die Theologien um Karl Barth, Friedrich Gogarten

1

Eine emanzipative Funktion des Begriffs liberaler Theologie zeigt sich bereits bei seinem ersten Auftreten als liberalis theologia und ,freiere theologische Lehrart‘ bei Johann Salomo Semler im 18. Jahrhundert. Vgl. M B: Liberale Theologie. Eine Erinnerung und eine Ergänzung, in: Jörg Lauster/Ulrich Schmiedel/Peter Schüz (Hg.): Liberale Theologie heute – Liberal Theology Today (Dogmatik in der Moderne 27), Tübingen 2019, 291–301, hier 291. Als theologische Richtungsbezeichnung hat sich ,liberale Theologie‘ erst im 19. Jahrhundert etabliert. Vgl. auch die klassische Studie: H-J B: „Liberale Theologie“. [1974/76], in: Ders.: Schleiermacher-Studien (Schleiermacher-Archiv 16), Berlin 1996, 51–62, sowie: F W G: Vorwort, in: Ders. (Hg.): Liberale Theologie. Eine Ortsbestimmung (Troeltsch-Studien 7), Gütersloh 1993, 7–9 und T R: Wenn Kontroversen alt werden, stellen sich ihre Fragen neu, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Liberale Theologie. Eine Ortsbestimmung (Troeltsch-Studien 7), Gütersloh 1993, 11–31. 2 R B: Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, in: Ders.: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1993, 1–25, hier 2. 3 Vgl. ebd.

2

Einleitung

und Eduard Thurneysen zusammengenäht. Bis heute steht ein verbreitetes Bild liberaler Theologie des 19. Jahrhunderts im Bann dieser Einschätzung. Dabei ist es weniger die pauschale Delegitimierung bestimmter theologischer Programme, die virulent fortwirkt, sondern ihre Homogenisierung. Bultmann bezieht sein Urteil gleichermaßen auf Denker wie Albrecht Ritschl, Wilhelm Herrmann, Adolf von Harnack, Johannes Weiß und Ernst Troeltsch. Vorrangig treten dabei Vertreter der Ritschl- und der Religionsgeschichtlichen Schule in den Blick. So wird einerseits liberale Theologie auf diese Gruppe von Denkern eingegrenzt und andererseits werden Differenzen innerhalb dieser Gruppe überblendet. Nichtsdestoweniger findet eine solche Eingrenzung historischer liberaler Theologie auf die von Ritschl ausgehende Theologie bis heute weite Verbreitung. Ein Blick auf die theologische Lage im späten 19. Jahrhundert zeigt allerdings ein entgegengesetztes Bild. Die rasant aufsteigende Ritschl-Schule profiliert sich gerade durch vehemente Polemiken gegenüber einer bereits etablierten liberaltheologischen Schulrichtung und proklamiert deren Überwindung. Es wird deutlich, wie stark die gebräuchliche Verhandlung Ritschls und seiner Nachfolger als Inbegriff liberaler Theologie den Selbsteinschätzungen genannter Denker widerstrebt. Wilhelm Herrmann hat dieses Selbstbewusstsein auf den Punkt gebracht, als er eine endgültige Grablegung liberaler Dogmatik verhieß: „Auch aus dieser Dämmerung wird einmal ein Tag, und dann wird die positive mit der liberalen Dogmatik in dasselbe Grab geworfen.“4 Ein Blick auf heutige theologiegeschichtliche Überblicksliteratur und Lehrpläne gibt seiner Voraussage gewissermaßen Recht. Der liberalen Theologie vor und neben Ritschl wird heute vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit zuteil. Hauptvertreter wie Alois Emanuel Biedermann und Otto Pfleiderer zählen zumeist nicht zu den Klassikern evangelischer Theologiegeschichte. Dabei sind sie es, die liberale Theologie im späten 19. Jahrhundert als eigentliche theologische Schulrichtung repräsentierten und so als klassisch-liberale Theologen gelten können. Dies gilt in besonderem Maße auch für Leben und Werk von Richard Adelbert Lipsius (1830–1892). Lipsius war ein kirchen- und wissenschaftspolitisch engagierter Systematischer Theologe, Exeget des Neuen Testaments und Erforscher der Alten Kirche und dabei einer derjenigen Theologen des 19. Jahrhunderts, die sich den Begriff Liberale Theologie für das eigene theologische Programm explizit zu eigen gemacht haben.5 Für die zeitgenössische Wahrnehmung dieses Liberalen sind auch die Grablegungsfantasien von Herrmann keineswegs repräsentativ: Lipsius galt einst als

4

W H: Christlich-protestantische Dogmatik, in: Ders.: Schriften zur Grundlegung der Theologie (Theologische Bücherei 36), München 1966, 298–358, hier 358. 5 Markus Iff hat bereits überzeugend der Annahme widersprochen, dass ,Liberale Theologie‘ im späten 19. Jahrhundert nicht als theologische Richtungsbezeichnung – oder zumindest nicht als programmatische Selbstbezeichnung – gebräuchlich gewesen sei. Iff kann dagegen Belege bei Biedermann, Pfleiderer und Lipsius anführen. Vgl. M I: Liberale Theologie in Jena. Ein Beitrag zur Theologie- und Wissenschaftsgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts (Theologische Bibliothek Töpelmann 154), Berlin 2011, 4–6.

Einleitung

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ein „Wortführer des freien Protestantismus“6, als „ohne Frage schärfste[r] philosophische[r] Denke[r] unter den Theologen“7 seiner Zeit, als „classische[r] Dogmatiker des Neukantianismus“8, als „eine Parallelerscheinung von großer Bedeutung“ zu und „feindliche[r] Zwillingsbruder“9 von Albrecht Ritschl, als „Schöpfer der bedeutendsten dogmatischen Systeme, die die Theologie der Neuzeit aufzuweisen hat“10 und seine Dogmatik als „standard work“11 seiner Zeit. Heute ist von diesen hohen Tönen nur noch wenig bis nichts zu vernehmen. Vielmehr kann Lipsius als nahezu vergessen gelten. Trotz seines hohen Ansehens zu Lebzeiten wurde ihm kein fester Platz in der Ahnengalerie heutiger liberaler Theologie zuteil. Lipsius in der Theologiegeschichtsschreibung: Nichtsdestoweniger hat die evangelische Theologiegeschichtsschreibung den festen Platz von Lipsius in der Formierungsgeschichte liberaler Theologie im 19. Jahrhundert festzuhalten gewusst.12 Dabei wird Lipsius zumeist im Rahmen des Dreigestirns Freier Theologie neben Alois Emanuel Biedermann und Otto Pfleiderer thematisiert, welches sich von konfessioneller Theologie und rechtshegelianischer Spekulation einerseits, aber auch von der entstehenden Ritschl-Schule andererseits abgrenzte.13 Das Ver6

H-J B: Art. Richard Adelbert Lipsius, in: Neue deutsche Biographie 14, 676. 7 R S: Religionsphilosophie im Umriss. Mit historisch-kritischer Einleitung über die Religionsphilosophie seit Kant, Freiburg i. B./Leipzig 1893, 74. 8 G F: Kant und die Dogmatik. Decanatsrede, gehalten an der k. k. evangelisch-theologischen Facultät in Wien, in: Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie (1889) 32, 257–280, hier 262. 9 Beide Zitate: M K: Geschichte der protestantischen Dogmatik im 19. Jahrhundert, Berlin 1962, 263. 10 M R: Richard Adelbert Lipsius und seine dogmatische Arbeit, in: Die christliche Welt (1896) 8–10.12, 171–174.195–199.219–221.269–272, hier 171. 11 E T: Richard Adelbert Lipsius: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik, 3., bedeutend umgearbeitete Auflage (1893), in: Ders.: Rezensionen und Kritiken. (1894 – 1900) (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe 2), Berlin 2007, 31–52, hier 52. 12 In aktuelleren Theologiegeschichten findet Lipsius’ Theologie eine vergleichsweise ausführliche Darstellung bei: J R: Protestantische Theologie der Neuzeit. Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert, Tübingen 1997, 859–863, W P: Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997, 312–314, E L: Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart, Göttingen 2000, 71–78. 13 Die Zusammenstellung von Biedermann, Lipsius und Pfleiderer zu einer – mal als Freie, mal als spekulative Theologie bezeichneten – theologiegeschichtlichen Einheit findet sich früh bei: S, Religionsphilosophie im Umriss, 74–108, vgl. auch F H R F: Geschichte und Kritik der neueren Theologie, insbesondere seit Schleiermacher, Erlangen/Leipzig 1894, VI und E  H: Die Krisis des Christenthums in der modernen Theologie, Berlin 1880, XI–XII. Andere Liberale, mit denen Lipsius zusammengestellt wird, sind Ferdinand Christian Baur und Hermann Lüdemann (vgl. F K: Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher, Gießen 61934, 47 f.;71.)

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hältnis dieser bereits zeitgenössisch als liberal bezeichneten Theologie zur Ritschl-Schule ist für die theologiegeschichtliche Verortung von Lipsius zentral: Das ambivalente Verhältnis beider Theologietypen hat zu Darstellungen von Lipsius als Parallelerscheinung, als Übergangsphänomen oder auch liberale Gegenposition zu Ritschl geführt.14 Um die historischen Konstellationen zu begreifen, die heute oft als liberale Theologie des 19. Jahrhunderts zusammengefasst werden, ist ein Blick auf Lipsius also entscheidend.15 Wichtige Pionierrollen wurden ihm zudem in der theologischen Hinwendung zum aufstrebenden Neukantianismus, der erkenntnistheoretischen Reflexion von Religion und Theologie sowie in der religionspsychologischen Grundlegung der Dogmatik zugeschrieben.16 Gerade als theologischer Erkenntnistheoretiker hat Lipsius versucht, einen und Isaak August Dorner. Vgl. H S: Geschichte der evangelischen Theologie in Deutschland seit dem Idealismus, Berlin/New York 31973, 320. Eckhard Lessing zählt nur Pfleiderer und Lipsius zur Freien Theologie. Vgl. L, Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie, 65–66. Das volle Dreigestirn von Lipsius, Biedermann und Pfleiderer wird wieder bei Rohls als Freie Theologie zusammengestellt. Vgl. R, Protestantische Theologie der Neuzeit I, 859–863. 14 Schon früh ist Lipsius theologiegeschichtlich durch sein Verhältnis zur Ritschl-Schule verortet worden: als Ritschl-Kritiker von liberaler Seite (vgl. O P: Die Entwicklung der protestantischen Theologie in Deutschland seit Kant und in Grossbritannien seit 1825, Freiburg i. B. 1891, 241–252), als ein Übergangsphänomen von spekulativer Theologie zu der vorrangig praktischen Theologie der Ritschl-Schule (vgl. S, Religionsphilosophie im Umriss, 108), als „Parallelerscheinung von großer Bedeutung“ zu Ritschl (K, Geschichte der protestantischen Dogmatik, 263), als ,Alternativer Kantianismus‘ (vgl. F, Geschichte und Kritik der neueren Theologie, 192–196) und als Übergangspunkt der Freien Theologie hin zu Ritschl. Vgl. S, Geschichte der evangelischen Theologie, 320–321. Insbesondere die frühe Lipsius-Forschung zeigt starkes Interesse an einer Verhältnisbestimmung von Lipsius und Ritschl. Die Karl-Schwarz-Stiftung hat den Vergleich der theologischen Systeme von Lipsius und Ritschl als Preisfrage ausgeschrieben, die Pfennigsdorf gewann. E P: Vergleich der dogmatischen Systeme von R. A. Lipsius und A. Ritschl. Zugleich Kritik und Würdigung derselben, Gotha 1896. Vgl. auch den vergleichenden Vortrag: K R: Die Erkenntnistheorie von R. A. Lipsius verglichen mit denjenigen A. E. Biedermanns und A. Ritschls. Vortrag, gehalten im Wissenschaftlichen Predigerverein zu Karlsruhe am 27. Juni 1893, Karlsruhe 1893. 15 Interessanterweise klagt gerade Karl Barth eine stärkere Kontextualisierung der Theologie Ritschls ein. Er bringt Lipsius’ Theologie in Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert zwar nicht zur Darstellung, kritisiert jedoch jede monolithische Behandlung der Theologie Ritschls, welche sie als die einzige epochemachende Theologie im späten 19. Jahrhundert inszeniert, als Machwerk ritschlianischer Geschichtsschreibung. Demgegenüber müsse eine angemessene Theologiegeschichtsschreibung auch Ritschl stets im Kontext von Luthardt, Frank und v. Oettingen zur Rechten und Biedermann und Lipsius zur Linken betrachten. Vgl. K B: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 31946, 598. 16 Die erkenntnistheoretischen Reflexionen der Dogmatik bei Lipsius wurden früh in Darstellungen aus seinem Umfeld als seine zentrale Leistung hervorgehoben. So hat der LipsiusSchüler Bernhard Pünjer 1883 Lipsius neben Alexander Schweizer einem erkenntnistheoretischen Neukantianismus im Geiste der Philosophie Friedrich Albert Langes zugeordnet. Vgl. B P: Geschichte der christlichen Religionsphilosophie seit der Reformation,

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kritischen Standpunkt zu gewinnen, der eine freisinnige theologische Forschung auf der Höhe eines modernen Wahrheitsbewusstseins ermöglicht. Die Theologie als wissenschaftliche Reflexion einer Glaubensperspektive soll einem kulturellen Anschlussverlust der Religion entgegenwirken und die Zusammenbestehbarkeit des Glaubens mit dem gesicherten Erfahrungswissen der empirischen Wissenschaften sicherstellen. Mit dem Begriffspaar Glauben und Wissen ist also ein Leitthema der theologischen Reflexion bei Lipsius benannt.17 Dass der Theologie von Lipsius trotz dieser Bedeutsamkeit kein großer anhaltender Einfluss beschieden war und ist, ist bereits früh festgestellt und Gegenstand theologiegeschichtlicher Betrachtungen geworden. Es besteht ein eigentümlicher Kontrast zwischen den positiven Resonanzen zu seinen Lebzeiten und einem schnellen Aufmerksamkeitsverlust nach seinem Tod. Drei Erklärungsansätze treten dafür wiederholt auf: Äußerlich kann zunächst auf eine Verdrängung der Theologie von Lipsius mitsamt der liberalen Theologietradition, welcher er entstammte, durch den rasanten Erfolg der Ritschl-Schule hingewiesen werden.18 Braunschweig 1883, 329–339. Rudolf Seydel würdigt Lipsius vor allem als erkenntnistheoretischen Bedenkenträger der jüngeren Theologiegeschichte. Vgl. S, Religionsphilosophie im Umriss, 74–108. Als Pionier der erkenntnistheoretischen Fundierung evangelischer Dogmatik wird Lipsius von Karl Rub gehandelt. Vgl. R, Die Erkenntnistheorie von R. A. Lipsius, 4. Arno Neumann erblickt in Lipsius’ Hinwendung zum Neukantianismus gerade einen neuen Typus kantischer Religionsphilosophie, der im Gegensatz zur ,altkantischen‘ Religionsphilosophie des Rationalismus’ weniger an moraltheologischen Aspekten orientiert ist, sondern Kants Erkenntnistheorie weitgehend unabhängig von seiner Religionsphilosophie für die Theologie fruchtbar machen will. Vgl. A N: Grundlagen und Grundzüge der Weltanschauung von R. A. Lipsius, Braunschweig 1896, 1–11. Werner Elert bespricht Lipsius 1921 als Denker der Selbstständigkeit des Christentums, welcher mit den Mitteln der Erkenntnistheorie versucht, eine Eigengesetzlichkeit christlicher Religion herauszustellen, welche dem Christentum eine bleibende Kulturbedeutung sicherstellt. Elert bezweifelt jedoch, dass Lipsius eine solche Erkenntnistheoretische Isolierung des Christentums gelungen ist. Vgl. W E: Der Kampf um das Christentum. Geschichte der Beziehungen zwischen dem evangelischen Christentum in Deutschland und dem allgemeinen Denken seit Schleiermacher und Hegel, München 1921, 267–269. Insbesondere in der Lipsius-Forschung steht die Untersuchung von Lipsius’ erkenntnistheoretischer Grundlegung der Dogmatik im Vordergrund. Hüttenhoffs Studie ist diesbezüglich hervorzuheben: M H: Erkenntnistheorie und Dogmatik. Das erkenntnistheoretische Problem der Theologie bei I. A. Dorner, Fr. H. R. Frank und R. A. Lipsius (Unio und confessio 16), Bielefeld 1991. 17 Entsprechend dieser zentralen Bedeutung der beiden Begriffe Glauben und Wissen hat Lipsius’ Sohn Friedrich Reinhard Lipsius eine Sammlung der bedeutendsten Aufsätze und Vorträge, die die Kernthemen seines Werks repräsentieren sollen, unter dem Titel Glauben und Wissen herausgegeben. R A L: Glauben und Wissen. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Berlin 1897. 18 Vgl. S, Geschichte der evangelischen Theologie, 321. Vgl. auch B, Art. Lipsius, 676. Sinnbildlich für eine Verdrängung der liberalen Theologie Lipsius’ durch eine enorm erfolgreiche Besetzungspolitik der Ritschl-Schule steht die Berufung des Ritschlianers Hans Hinrich Wendt auf Lipsius’ Jenaer Professur nach seinem Tod. Sie erfolgte unter erheblichem Protest der Fakultät und der Studierendenschaft, denn sie wurde als Abbruch der liberalen Tradition Jenas gewertet. Vgl. K H: Geschichte der theologischen Fakultät zu Jena, Weimar 1954, 347–361.

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Dieser äußerlichen Beobachtung entsprechen sodann zwei grundlegende Problemdiagnosen gegenüber der Theologie von Lipsius. Zum einen wurde ihm schon zeitlebens ein Subjektivismus vorgeworfen, der religiöse Geltungsansprüche relativ schutzlos der radikalen Religionskritik, wie z. B. derjenigen Ludwig Feuerbachs, ausgeliefert habe.19 Durch einen Rückzug auf eine eigene Struktur religiöser Erfahrungsgewissheit religiöser Aussagen habe er die Theologie gegenüber dem allgemeinen Wissenschaftsbetrieb isoliert.20 Zum anderen schließt ein weiteres Kritikmuster an die Beobachtung an, dass Lipsius’ theologische Systematik versucht, vielseitige Einflüsse und theologische Strömungen, von der Vermittlungstheologie über das Erbe idealistischer Philosophie, intensiver Schleiermacherforschung, dem aufstrebenden Neukantianismus, positiver Theologie bis hin zu Momenten von Offenbarungspositivismus, zu einem Ganzen zusammenzubinden. Dabei wird Lipsius’ Werk weniger als origineller eigener Ansatz, sondern als Kombinationsversuch diverser Theorietraditionen beurteilt. Seine Stärke sei nicht die souveräne Systembildung, sondern die umsichtige Rezeption. Dem daraus erwachsenen theologischen System wurde daraufhin mangelnde Konsistenz und Kohärenz vorgeworfen oder es wurde gleich als Eklektizismus taxiert.21 So überwiegt die Einschätzung, dass es Lipsius zeitlebens trotz beacht-

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Der Subjektivismus-Vorwurf in den Diskursen um Lipsius’ Religionstheorie wurde in der Darstellung von Karl Rub aufgegriffen und bestärkt. Vgl. R, Die Erkenntnistheorie von R. A. Lipsius, 31. Urban Fleisch akzentuiert einen verwandten Vorwurf stärker als Skeptizismus. Vgl. U F: Die erkenntnistheoretischen und metaphysischen Grundlagen der dogmatischen Systeme von A. E. Biedermann und R. A. Lipsius, Naumburg a. S. 1901, 200–204. Wolfhart Pannenberg führt Lipsius als Paradigma für den Subjektivismus des liberalen Religionsbegriffs an. Vgl. P, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie, 312–314. Siehe dazu unten Kap. VI.1. 20 Vgl. N, Grundlagen und Grundzüge der Weltanschauung von R. A. Lipsius, 70–72. 21 In frühen Würdigungen seines Werks wurde Lipsius als weniger origineller denn als rezeptiver Denker beurteilt. Paradigmatisch haben dies Heinrich Holtzmann und Ernst Troeltsch ausgedrückt: Er ist einer, „der mehr oder weniger Alles auf sich hat einwirken lassen, was Vergangenheit und Gegenwart bis fast auf das unmittelbarste heute an Beiträgen zur Lösung der schwierigsten und wichtigsten aller theologischen Fragen geleistet haben.“ H H: Rez: Richard Adelbert Lipsius, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik, 1876., in: Jenaer Literaturzeitung (1876) 39, 601–604, hier 483. „Lipsius war mehr ein rezeptiver als schöpferischer Geist, sein Denken war mehr zusammensetzend als organisch und seine Gedankenentwicklung war nicht immer ganz klar und konsequent.“ T, Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 52. Friedrich Traub kommt insgesamt zu dem Schluss, dass sie weniger originelle Theologie als durch seine verschiedenen Diskurskonstellationen hindurch sehr wandlungsfähige Kombinatorik sei. Vgl. F T: Grundlegung und Methode der Lipsiusschen Dogmatik, in: Theologische Studien und Kritiken (1895) 27, 471–529, hier 527–529. Reinhold Seeberg bestimmt die Theologie von Lipsius als eine liberale Theologie, die durch eine grundlegend historische Anlage zu einem ,Eklektizismus‘ aus Versatzstücken Kants, Schleiermachers und Ritschls geführt habe. Vgl. R S: Die Kirche Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert. Einführung in die religiösen, theologischen u. kirchlichen Fragen der Gegenwart, Leip-

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licher Verdienste nicht gelungen sei, ein durchweg überzeugendes theologisches System hervorzubringen, welches schulbildend wirken konnte. Viele der genannten Punkte sprechen dafür, Lipsius nicht den Rang eines Klassikers zu verleihen. Dies ist in dieser Studie auch keineswegs beabsichtigt. Die Bruchstellen von Lipsius’ theologischer Systematik werden sich nicht vollständig ausräumen lassen. Lipsius war tatsächlich ein Denker, der verschiedene geistesgeschichtliche Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts sehr genau wahrgenommen hat und ihnen gegenüber vorrangig im Gestus des Epigonen aufgetreten ist. Zwar sollte die einseitige Wahrnehmung von Lipsius als ,rezeptiver Geist‘ nicht darüber hinwegtäuschen, dass er beispielsweise in der Ausbildung eines theologischen Neukantianismus und der vehementen Forderung einer erkenntnistheoretischen Fundierung des dogmatischen Geschäfts wichtige Impulse gesetzt hat, die auch unabhängig von seiner eigenen Dogmatik gewirkt haben. Aber selbst dort, wo sich Lipsius vorrangig rezeptiv zeigt, ist er keineswegs von geringerem Interesse. Vielmehr drückt sich darin sein Selbstverständnis als liberaler Theologe aus. Die Akkommodation an neue theologische Diskurskonstellationen hat einen stetigen Wandel von Lipsius’ Theorieentwicklung befördert, den er selbst als Ausdruck wissenschaftlicher Theologie verstanden hat.22 Dadurch erhält sein Leben und Werk hohen Wert für die Erschließung der theologischen Landschaft des späten 19. Jahrhunderts und der sich in ihr formierenden liberalen Theologie. Gerade deswegen wussten auch Denker wie Max Reischle und Ernst Troeltsch früh den diagnostischen Wert von Lipsius’ Theologie zu würdigen. „Lipsius, in dessen empfänglichem und vielseitigem Geist sich die verschiedenen Richtungen seiner Zeit wiederspiegeln, [hat] es in der That verdient, in seiner Bedeutung für die Geschichte der Religionsphilosophie gewürdigt zu werden“23. Insbesondere Troeltsch hat sich in diesem Sinne gegen die zig 31910, 275–276. Horst Stephan zeichnet eine Entwicklung von Lipsius ausgehend von der Vermittlungstheologie, die ihn von anfänglicher Hegelbegeisterung über starke Einflüsse von Weisse und Schleiermacher, einem starken Aufgreifen des Neukantianismus der 1860er Jahre schließlich zu einer starken Betonung des Positiven und Geschichtlichen geführt habe, die ihn ohne Abhängigkeit in die Nähe der Theologie Ritschls gebracht habe. „Doch vermochte er die große Fülle und Feinheit der Gedanken, die ihm aus den verschiedensten Quellen zuströmten, nicht zu einem straffen, sieghaften Ganzen zu verbinden, und so wurde er früh durch die überlegene Kraft Ritschls beiseite gedrängt.“ S, Geschichte der evangelischen Theologie, 321. 22 Eckart Lessing hat vor dem Hintergrund diverser Rubrizierungsversuche von Lipsius’ Theologie eindringlich darauf hingewiesen, dass Lipsius’ Akkommodation an unterschiedlichste Theorietraditionen programmatisch als Ausdruck der Wissenschaftlichkeit seines Denkens erfolgte. Vgl. L, Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie, 71–72. 23 M R: Rez. Neumann, Dr. Arno, Grundlagen und Grundzüge der Weltanschauung von R. A. Lipsius. Ein Beitrag zur Geschichte der neuesten Religionsphilosophie. & Pfennigsdorf, Past. Lic. E., Vergleich der dogmatischen Systeme von R. A. Lipsius und A. Ritschl. Zugleich Kritik und Würdigung derselben, in: Theologische Literaturzeitung (1897) 20, 543–547, hier 545.

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Verdrängung der Theologie von Lipsius durch die Ritschl-Schule eingesetzt und sein Hauptwerk mit einer ausführlichen Würdigung bedacht. Die ursprüngliche Auftragsarbeit einer Rezension ist ihm in einem Zeitraum von über einem Jahr zu einem Essay über die theologische Lage im 19. Jahrhundert angewachsen und bildet eine zentrale Grundlage für seine Schrift Die Selbstständigkeit der Religion von 1895/96, die er als Fortsetzung seiner Lipsius-Studie versteht.24 Auch in ihr benennt er Bruchstellen der theologischen Systematik von Lipsius, erkennt in ihnen jedoch weniger Mängel eines individuellen Denkens, sondern die theologischen Probleme seiner Zeit: Lipsius war mehr ein rezeptiver als schöpferischer Geist, sein Denken war mehr zusammensetzend als organisch und seine Gedankenentwickelung war nicht immer ganz klar und konsequent. Aber sein Buch ist ein großartiges Werk umfassender Gelehrsamkeit, großen Scharfsinnes, warmer Frömmigkeit und lauteren Wahrheitsernstes. Seine Gebrechen sind weniger Gebrechen des Autors als solche der Theologie überhaupt, die keiner von uns recht zu überwinden im Stande ist.25

Reischle und Troeltsch legen so eine Fährte zum Werk von Lipsius, der die vorliegende Studie im theologiegeschichtlichen Interesse folgen möchte. Lipsius-Forschung: Eine umfassende Betrachtung von Lipsius’ Leben und Werk kann trotz wertvoller Vorarbeiten noch immer als Desiderat theologiegeschichtlicher Forschung gelten. Die Erforschung seines Werks ist überschaubar. In dem Jahrzehnt nach Lipsius’ Tod 1892 entstanden zunächst in rascher Abfolge einige Studien, welche die Grundlegung seiner Theologie zumeist im Vergleich zu seinen Zeitgenossen Ritschl und Biedermann rekonstruieren.26 Nach diesen frühen Arbeiten aus den Federn der Nachfolgegeneration bricht die Lipsius-Forschung vorerst ab. Erst 1968 entstand wieder mit Wolfgang Reus Dissertation Die Grundlegung der christlichen Dogmatik als Wissenschaft bei Richard Adelbert Lipsius eine auf Lipsius fokussierte Forschungsarbeit, die allerdings unveröffentlicht blieb.27 1991 hat dann Michael Hüttenhoff im Rahmen seiner vergleichen24 Am 10. Mai 1894 hat Troeltsch Wilhelm Bousset berichtet: „Jetzt arbeite ich an meiner Anzeige von Lipsius, die mehr zum Essay werden u[nd] den Gegensatz gegen die Ritschli[an]er ziemlich deutlich aussprechen wird, namentlich gegen Herrmann, der Lipsius abscheulich behandelt hat.“ Dass diese Lipsius-Rezension besonderes Gewicht im frühen Werk von Troeltsch hat, legt er selbst in Die Selbstständigkeit der Religion offen. Unter expliziten Verweis auf seine Lipsius-Rezension schreibt er dort: „Die vorliegende Untersuchung ist zum großen Teil eine nähere Begründung der dort gefällten Urteile.“ E T: Die Selbständigkeit der Religion (1895–1896), in: Ders.: Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888–1902) (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe 1), Berlin/New York 2009, 359–535, hier 467. 25 D., Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 52. 26 R, Die Erkenntnistheorie von R. A. Lipsius; T, Grundlegung und Methode der Lipsiusschen Dogmatik; N, Grundlagen und Grundzüge der Weltanschauung von R. A. Lipsius; P, Vergleich der dogmatischen Systeme von R. A. Lipsius und A. Ritschl; F, Die erkenntnistheoretischen und metaphysischen Grundlagen. 27 W R: Die Grundlegung der christlichen Dogmatik als Wissenschaft bei Richard Adelbert Lipsius. Dissertation (unveröffentlicht), Göttingen 1968.

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den Studie Erkenntnistheorie und Dogmatik. Das erkenntnistheoretische Problem der Theologie bei I. A. Dorner, Fr. H. R. Frank und R. A. Lipsius eine maßstabsetzende Rekonstruktion von Lipsius’ Erkenntnis- und Religionstheorie vorgelegt.28 Großes für eine Wiedererinnerung von Lipsius hat schließlich Markus Iff 2011 mit seiner Studie Liberale Theologie in Jena geleistet, die ihn als zentralen Protagonisten der liberalen Theologietradition Jenas im 19. Jahrhundert würdigt.29 Beiden Studien bieten entscheidende Grundlagen für eine eigene LipsiusStudie, können eine solche jedoch aufgrund ihres je weiteren Horizonts nicht ersetzen. Hüttenhoffs Fokus auf das Verhältnis von Erkenntnistheorie und Dogmatik trifft zwar einen neuralgischen Punkt von Lipsius’ gesamtem Werk, ist allerdings überwiegend auf das Spätwerk ausgerichtet und zielt auf eine erkenntnistheoretische Problemgeschichte zwischen den Jahren 1830 bis 1930.30 Iffs Studie über Liberale Theologie in Jena zeigt deutlich die Einbindung von Lipsius in eine ideelle Grundausrichtung seiner Jenaer Fakultät und rekonstruiert dafür sein Theologieverständnis im Kontext seines Kollegiums. Gezwungenermaßen erlaubt der Zuschnitt auf das umfassendere Phänomen Jenaer Theologie keine eingehende Betrachtung des individuellen Entwicklungsgangs von Lipsius’ Dogmatik. Vor diesem Hintergrund legt sich eine werkbiographische Analyse der Entwicklungsschritte des theologischen Denkens von Lipsius in den variierenden Diskurskonstellationen nahe, die alle Diagnosen seines ,rezeptiven Geistes‘ herausstellen. Erste skizzenhafte Ansätze zu einer solchen werkbiographischen Analyse hat Friedrich Traub bereits 1895 vorgelegt. Über Lipsius’ Entwicklung schreibt er resümierend:

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Vgl. H, Erkenntnistheorie und Dogmatik. Vgl. I, Liberale Theologie in Jena. Vgl. auch: D.: „Der psychologische Vorgang in der Religion“. Ein Beitrag zur religionsphilosophischen Verankerung der theologischen Anthropologie im Anschluss an Richard A. Lipsius, in: Jürgen van Oorschot/Markus Iff (Hg.): Der Mensch als Thema theologischer Anthropologie. Beiträge in interdisziplinärer Perspektive (Biblisch-Theologische Studien 111), Neukirchen-Vluyn 2010, 87–113, .: Die einheitliche Weltanschauung – Zur wissenschaftstheoretischen Verankerung der Theologie im Anschluss an Richard A. Lipsius, in: Glaube und Denken (2011) 24, 145–160 und .: Religiöser Trieb und frommes Gefühl. Der Begriff der Religion bei Richard Adelbert Lipsius (1830–1892), in: Georg Pfleiderer (Hg.): Die Religion der Bürger. Der Religionsbegriff in der protestantischen Theologie vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 2021, 719–735. Junge Erinnerung an Lipsius finden sich zudem bei M J S: Gotteserkenntnis nach Richard Adelbert Lipsius, in: Karl Schwarz (Hg.): Zeitenwechsel und Beständigkeit. Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien 1821 – 1996 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs der Technischen Universität Wien 10), Wien 1997, 327–352 und P D: Herausforderung des Historischen. Exegese und liberale Theologie bei Richard Adelbert Lipsius (1830–1892), in: Swantje Rinker/Felix John (Hg.): Exegese in ihrer Zeit. Ausleger neutestamentlicher Texte (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 52), Leipzig 2015, 9–28. 30 Vgl. H, Erkenntnistheorie und Dogmatik, 140–247. 29

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sie [sc. die Theologie von Lipsius] geht vom Theoretischen zum Praktischen, vom Spekulativen zum Geschichtlich-Positiven, philosophisch ausgedrückt von Hegel zu Kant, theologisch ausgedrückt von Biedermann zu Ritschl. Man hat von einem Frontwechsel bei Lipsius geredet, und es ist kein Zweifel, daß ein solcher bei ihm vorliegt. Früher, in seiner Kieler Zeit, hatte er Front gegen die Orthodoxie, später hauptsächlich gegen Ritschl. Das Eigentümliche ist nur, daß die Frontstellung gegen Ritschl mit einer zunehmenden sachlichen Annäherung an Ritschl Hand in Hand geht.31

Auch Wolfgang Reus unveröffentlichte Dissertation setzt mit werkbiographischen Überlegungen ein, die das Werk von Lipsius in drei Phasen unterteilen: Einen idealistischen Ausgangspunkt (1857–1866), eine Phase der Beschäftigung mit Schleiermacher (1868–1878), eine Phase der Neubegründung der Dogmatik (1877–1885).32 Eine ausführliche Rekonstruktion der Theologie bleibt im Anschluss jedoch dem Spätwerk vorbehalten. Wenngleich hier bereits grundlegende Tendenzen benannt sind, versprechen feinkörnigere Betrachtungen der Werkentwicklung, das zeitdiagnostische Potenzial von Lipsius’ Werk erst voll zur Geltung zu bringen. Aufschlussreich sind dabei besonders die Verarbeitungen von Spätidealismus, Kantianismus und Schleiermacherforschung in seiner Hinwendung zur Freien Theologie um Pfleiderer und Biedermann, seine Abgrenzung gegenüber metaphysischen Spielarten dieser klassischen liberalen Theologie, sein theologisches Ringen mit der Ritschl-Schule, das von Annäherungen und Verwerfungen zugleich zeugt, und schließlich seine Versuche, die Legitimität liberaltheologischen Denkens im Umfeld positiver Theologie zu behaupten. Gerade ein Fokus auf die Denkbewegung statt auf ein System letzter Hand verspricht Erkenntnisse über prägende Einflüsse und die vielfältigen Konstellationen von liberaler Theologie im späten 19. Jahrhundert. Gleichsam als theologiegeschichtliches Prisma brechen sich in Lipsius’ Werk für die Formierung liberaler Theologie bedeutsame Strömungen und lassen so ihr umfassendes Spektrum erkennen.33 Leitende Interpretationsthese: Das Interesse dieser Studie an der Theologie von Lipsius erschöpft sich jedoch nicht in den Traditionslinien, welche Lipsius zusammenzubinden sucht. Vielmehr folgt dieses Komponieren einem Leitmotiv, das in der bisherigen Forschung unterbelichtet geblieben ist. Lipsius’ Werk kann zu großen Teilen als Arbeit an einer Theologie der Freiheit interpretiert werden. Religion wird von Lipsius insgesamt als ein Freiheitsgeschehen erschlossen, das den Menschen in ein freies Verhältnis zur Welt setzt und ihm so ein vielgestaltiges

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T, Grundlegung und Methode der Lipsiusschen Dogmatik, 528. Vgl. R, Die Grundlegung der christlichen Dogmatik als Wissenschaft bei Lipsius, 15–58. 33 Das Bild des theologiegeschichtlichen Prismas schließt sich hier lose methodologischen Überlegungen Dietrich Korschs an, welche eine Ergänzung zur Konstellationsforschung vorschlagen. Vgl. D K: Dialektische Theologie nach Karl Barth, Tübingen 1996, 41–44. Um Lipsius als ein solches Prisma heranzuziehen, muss allerdings ignoriert werden, dass er selbst Teil der theologischen Konstellation ist, die es zu erschließen gilt. 32

Einleitung

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Geistesleben eröffnet. Zugleich verweist die Religion auf einen göttlichen Grund menschlichen Freiheitslebens, der sein Wirken durch es zur Geltung bringt. Das zentrale Scharnierstück zur theologischen Auslegung des menschlichen Freiheitslebens bietet dabei der Offenbarungsbegriff. Nach dem Vorbild klassischer deutscher Philosophie wird die menschliche Freiheit als zentrale Form göttlicher Selbstoffenbarung adressiert. Menschliche Freiheit und religiöse Rede legen sich vor diesem Hintergrund wechselseitig aus. Demnach fundiert die menschliche Freiheitserfahrung alle religiöse Rede und die religiöse Rede adressiert einen Grund, welcher menschliches Freiheitsleben stiftet und es in einen umfassenden Sinnhorizont einstellt. Diese enge Verzahnung von Freiheit und Offenbarung bildet – so die leitende Interpretationsthese der vorliegenden Studie – das Zentrum der Systemarchitektonik von Lipsius’ Dogmatik. Sie ist demnach das zentrale systematische Kennzeichen seiner liberalen Dogmatik, das er auf den Schultern kantischer Philosophie und in der Tradition Schleiermachers in immer neuen Akzentuierungen und Diskurskonstellationen zur Geltung zu bringen versucht hat. Das spannungsreiche Begriffspaar Freiheit und Offenbarung kann so als organisatorisches Zentrum einer Gesamtinterpretation der Werkbiografie von Lipsius fungieren, die versucht, sein Werk als Freiheitstheologie im eminenten Sinne wiederzuentdecken. Damit ist gegenüber allen Eklektizismusvorwürfen gleichsam eine Entelechie, ein inneres Zentrum und Fluchtpunkt, des theologischen Denkens von Lipsius behauptet, die durch seine Entwicklungen hindurch herausgearbeitet werden soll. Auf diese Weise zeigt sich exemplarisch ein freiheitstheologischer Fokus klassisch liberaler Theologie, der deutlich macht, dass sich ihre Freisinnigkeit nicht in einem Plädoyer für vorbehaltlose Wissenschaftlichkeit der Theologie erschöpft, sondern zugleich einen starken Sinn für die Freiheitsdimension des christlichen Glaubens aufweist. Anlage und Aufbau der Studie: Somit hat die vorliegende Studie ein dreifaches Anliegen: Zunächst versteht sie sich als ein Beitrag zur Lipsius-Forschung, der zur Wiedererinnerung dieses interessanten und vielseitigen Denkers beitragen soll. Sodann möchte die Arbeit mit einem exemplarischen Beitrag zu einem differenzierteren Bild der theologischen Landschaft und ihrer spannungsreichen Konstellationen im späten 19. Jahrhundert verhelfen, das die Unhaltbarkeit einer homogenen Rede von historischer liberaler Theologie beispielsweise bei Bultmann deutlich machen soll. Schließlich ist es ihr auch um systematische Impulse für heutige Freiheits- und Offenbarungstheologie zu tun, die den Sinn für die Freiheitsdimension christlichen Glaubens weiten. Diesen Anliegen soll die Studie mit einem zweiteiligen Aufbau gerecht werden. Der erste Teil bietet eine werkbiographische Rekonstruktion von Lipsius’ systematischer Theologie. Hierbei sollen die Entwicklungslinien von seiner theologischen Systematik in dem von ihr selbst aufgespannten Referenzhorizont unter besonderer Berücksichtigung ihres freiheitstheologischen Profils verfolgt werden. Dieser erste Teil ist durch eine Lektüre de dicto bestimmt, die die inneren Zusammenhänge von Lipsius’ Theologie ermitteln soll und seine positionelle Selbstverortung verfolgt. Ausgehend von einer Reflexion ihrer methodischen

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Einleitung

Grundentscheidungen folgt die Rekonstruktion der Veröffentlichungschronologie der einschlägigen Schriften von Lipsius. Gegliedert ist diese anhand der Auflagengeschichte von Lipsius’ Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik: Kapitel I untersucht die Formierung und die Quellen von Lipsius’ Theologie bis zur Erstauflage seines Hauptwerks 1876. Kapitel II rekonstruiert diese Auflage ausführlich unter besonderer Beachtung des Verhältnisses von Religionstheorie und Dogmatik. Kapitel III beleuchtet die von der Erstauflage ausgehenden Diskurse um Lipsius’ Dogmatikentwurf bis zur Veröffentlichung seiner zweiten Auflage 1879. Kapitel IV schließlich analysiert die Entwicklungslinien der Spättheologie zwischen zweiter und postumer dritter Auflage von 1893. Der zweite Teil verarbeitet die Erträge der werkbiographischen Rekonstruktion in drei Schritten. Zunächst wird in Kapitel V Lipsius’ theologiegeschichtlicher Ort zwischen klassischer liberaler Theologie und Ritschl-Schule systematisierend herausgestellt, ausgehend von Troeltschs Lipsius-Deutung das freiheitstheologische Profil Lipsius’ theologischer Systematik konturiert und als Neuaneignung des Motivs einer Engführung von Freiheit und Offenbarung aus klassisch-deutscher Philosophie unter neuen religionsphänomenologischen Vorzeichen rekonstruiert. Als entscheidender Schlüssel dafür wird die Verhältnisbestimmung von Religionstheorie und Dogmatik in Lipsius’ Theologie herangezogen. Kapitel VI nimmt sodann Spannungsmomente in der Durchführung der zuvor herausgestellten theologischen Programmatik in den Blick. Ausgehend von verbreiteten Kritikmustern gegenüber der Theologie von Lipsius soll sich einerseits zeigen, inwiefern sachliche Gründe für die geringe direkte theologiegeschichtliche Wirksamkeit von seiner Theologie angeführt werden können. Andererseits soll anhand der Spannungsmomente eine vermittlungstheologische Grundhaltung von Lipsius aufgedeckt werden, die nicht einseitig als Schwäche seiner Theologie ausgelegt werden sollte, sondern seine Theologie als dynamische, selbstkritische und integrative Form der Verarbeitung vielseitiger geistesgeschichtlicher Entwicklungen ausweist. Es ist diese kritische Zeitgenossenschaft bei Lipsius, die sein theologiegeschichts- und zeitdiagnostisches Potential birgt. Kapitel VII schließlich formuliert die zentralen Ergebnisse dieser Studie in einem pointierten Fazit.

Erster Teil

Religionstheorie und Dogmatik bei Richard Adelbert Lipsius Jeder religiöse Act ist in seinem Grunde eine göttliche Geistwirkung im Menschen, in seiner thatsächlichen Verwirklichung ein Act seiner persönlichen Freiheit.1

Religion ist nach Lipsius sowohl selbstoffenbarendes Wirken Gottes als auch Ausdruck eines freien Persönlichkeitslebens des Menschen. Das Denken und Bestimmen dieses Zusammenhangs ist ein leitendes Motiv der inneren Geschichte seines systematisch-theologischen Gesamtwerks. Es zu erschließen, führt tief hinein in ein komplexes diskursives Geflecht moderner Theologie des späten 19. Jahrhunderts. Selbst eine auf umfassende Wiedererinnerung ausgelegte Studie muss vor diesem Hintergrund ihren Zugriff inhaltlich fokussieren und methodische Grundentscheidungen treffen. Als Werkbiografie ist die Studie auf gedankliche Entwicklungslinien der theologischen Systematik von Lipsius ausgerichtet, die sich zwischen einzelnen Werkphasen spannen lassen. Die Untersuchung folgt in diesem Sinne weitgehend der Veröffentlichungschronologie der zentralen Schriften von Lipsius. Das verspricht einen klaren Blick auf die werkimmanenten Entwicklungslinien vor dem Hintergrund der sie bestimmenden Diskurshorizonte. Gerade für einen als besonders rezeptiv wahrgenommenen Denker ist es entscheidend, die jeweils prägenden Einflüsse bei der Ausbildung und Weiterentwicklung zentraler Motive herauszustellen. Der chronologische Aufbau soll zudem vermeiden, Veränderungen der Begründungszusammenhänge gleichbleibender Positionierungen durch werkübergreifende Synthesen vorschnell zu verdecken. Die Studie ist besonders an den Denkbewegungen und nicht allein an ihren Resultaten interessiert. Die Wiederkehr etablierter Argumentationsmuster und Thesen ist dafür freilich ebenfalls aufschlussreich. Um übermäßige Redundanzen dennoch zu vermeiden, erfolgen vermehrt studieninterne Verweise. Wie jede Rekonstruktion hat auch die folgende Werkbiografie konstruktiven Charakter, der sich allein schon aus der Fokussierung auf freiheitstheologische Motive ergibt. Nichtsdestoweniger ist die Rekonstruktion primär dem Selbst-

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R A L: Die Hauptpunkte der christlichen Glaubenslehre im Umrisse dargestellt, Braunschweig 1889, 10.

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Erster Teil: Religionstheorie und Dogmatik bei Richard Adelbert Lipsius

verständnis von Lipsius’ theologischer Systematik verpflichtet, soweit es sich durch seine Veröffentlichungen greifen lässt. Dies konkretisiert sich vorrangig in dem Zugriff auf Lipsius’ Beurteilungen anderer Positionen. Der Nachvollzug dieser Referenzen soll erfassen, wie Lipsius sie in sein Werk affirmativ oder aversiv integriert. Die Frage, wie weit er dabei in seinen Auseinandersetzungen beispielsweise der hegelschen Philosophie oder Schleiermachers Theologie gerecht wird, muss hingegen in den Hintergrund treten, da sie den Rahmen dieser Studie sprengen würde. Die Andeutungen sachlicher Einwände seitens des Autors der Studie gegen Lipsius’ Lektüren bleiben im Rahmen der werkbiographischen Rekonstruktion daher weitestgehend auf kurze Bemerkungen oder konjunktivische Wiedergaben seiner Darstellungen beschränkt. Zudem werden auch nur diejenigen theoretischen Abhängigkeiten von Lipsius näher beleuchtet, die er in seinem Werk selbst explizit macht oder in früheren Werken bereits offengelegt hat. Das erlaubt keinen ungebrochenen Blick auf die theologische Landschaft des späten 19. Jahrhunderts. Allerdings erlaubt es einen exemplarischen Blick auf tatsächliche Rezeptionslinien prägender geistesgeschichtlicher Grundlagen liberaler Theologie, wie sie zu dieser Zeit und dem entsprechenden theologischen Milieu aufgegriffen werden. Die Ausrichtung der Studie an Lipsius’ Selbstverständnis hat auch zur Folge, dass seine Positionierungen nur so weit rekonstruiert werden können, wie Lipsius sie offenlegt. Nicht immer ermöglichen seine Werke, die argumentative Basis zentraler Thesen oder Grundbegriffe voll auszuleuchten. Grundformeln seiner theologischen Systematik fließen verstärkt in die sprachliche Gestalt der Rekonstruktion ein, wenn sie von der Textbasis her keine klaren Übersetzungen erlauben. Die Studie zielt also primär darauf ab, das von Lipsius selbst entfaltete Bedeutungsgeflecht zu erfassen und vor dem Hintergrund selbstaufgespannter Referenzhorizonte zu verorten. Die Werkbiografie verfolgt eine Lesart de dicto. Im Gegenüber zu einer Lesart de re ist es ihr nicht darum zu tun, Lipsius’ Theologie von vornherein auch unter heutigen vom Autor geteilten Voraussetzungen als gültig zu erweisen. Sie soll vielmehr gemessen an ihrem eigenen Anspruch wiedererschlossen werden. In diesem Zugriff ist die Studie keineswegs als unkritisches Übernehmen eines liberaltheologischen Theologietyps des späten 19. Jahrhunderts zu verstehen, sondern einem dem hermeneutischen Prinzip des wohlwollenden Lesens verpflichtetes Erschließen einer theologischen Position, die sich selbst immer wieder verzerrenden Interpretationen ausgesetzt sah. Eine stärkere Systematisierung seiner theologischen Position folgt im zweiten Teil der Studie. Die Werkbiografie besteht aus vier Kapiteln, die jeweils eine Werkphase von Lipsius beleuchten. Die Aufteilung der Werkphasen ergibt sich aus der Auflagengeschichte seines systematisch-theologischen Hauptwerks, dem Lehrbuch für evangelisch-protestantischen Dogmatik. Kapitel I erschließt die biographischen und ideellen Konstellationen, in denen sich Lipsius’ theologische Systematik formiert, soweit dies sich an frühen Aufsätzen, Rezensionen und Vorträgen vor der Veröffentlichung seines dogmati-

Erster Teil: Religionstheorie und Dogmatik bei Richard Adelbert Lipsius

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schen Hauptwerkes 1876 erschließen lässt. Hier zeigen sich frühe Einflüsse, welche Lipsius von einem vermittlungstheologischen Ausgangspunkt über den Spätidealismus Christian Hermann Weisses hin zu einer an Ferdinand Christian Baur orientierten Wissenschaftlichkeit und Liberalität führen und sodann über intensive Schleiermacherstudien und bei vehementer kirchenpolitischer Opposition zum Konfessionalismus einen eigenen kantischen Standpunkt finden lassen, den er im Gegenüber zum Hegelianismus profiliert. Dabei werden essenzielle Referenzen explizit, die in den späteren Hauptwerken oft nur implizit fortwirken. Trotzdem verbleibt in den frühen Gelegenheitsschriften vieles bloß programmatisch angedeutet statt durchgeführt. In der Analyse dieser Werkphase treten zudem Betrachtungen biographischer Aspekte von Lipsius’ Weg von seinem Leipziger Anfängen, über Professuren in Leipzig, Wien und Kiel hin zu seiner langen theologischen Heimstätte in Jena an die Seite der Werkstudien. Kapitel II rekonstruiert die theologische Systematik der ersten Auflage von Lipsius’ Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik von 1876 unter besonderer Berücksichtigung der wissenschafts-, erkenntnis-, religions- und christentumstheoretischen Grundlegung seines Hauptwerks sowie der materialdogmatischen Bestimmungen in der speziellen Theologie, Christologie und Pneumatologie. Hierbei soll sich zeigen, wie stark das Begriffspaar Freiheit und Offenbarung geeignet ist, die Stoßrichtung von Grundlegung und Durchführung der Dogmatik gleichermaßen zu erschließen und einen freiheitstheologischen Fluchtpunkt seines Denkens aufzudecken. Kapitel III betrachtet sodann die aufbrechenden Diskurse um das Theologieprogramm von Lipsius’ Hauptwerk in den Jahren 1877 bis 1879, die ihn zu neuen Profilierungen seines theologischen Standpunkts herausgefordert haben. Hier stehen der polemische Abgrenzungsdiskurs mit der Ritschl-Schule einerseits und der freundschaftliche Streit um die Bedeutung der Metaphysik für Theologie und Religion mit Biedermann andererseits im Vordergrund. Die expliziten wechselseitigen Kritiken erlauben, die Ausdifferenzierungen zwischen den heute oft als liberale Theologie zusammengefassten theologischen Strömungen des späten 19. Jahrhunderts herauszuarbeiten. Auffallend ist, dass Lipsius in dieser Phase seine Theologie antimaterialistisch pointiert und sich der neukantischen Philosophie Friedrich Albert Langes zuwendet. Kapitel IV beleuchtet die späte Theologie von Lipsius zwischen 1880 und 1892. Neben kontinuierlicher Schärfung und Fortbildungen seiner Theologie im fachwissenschaftlichen Diskurs ist diese Werkphase durch eine positiv-theologische Neuakzentuierung seines theologischen Standpunkts gekennzeichnet, die in einer weitgehenden Überarbeitung seines Hauptwerks bis zu seinem Lebensende 1892 mündet. Die Werkstudien sind vor diesem Hintergrund auf die Ermittlung von Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Lipsius’ früherer und später Theologie fokussiert und beleuchten Ausmaß, Motivation und Grenzen von späten Annäherungen an positive Theologie, Biedermann und die Ritschl-Schule. Schließlich beleuchtet ein abschließender Blick auf die postum veröffentlichte dritte Auflage von Lipsius’ dogmatischem Hauptwerk die systematische Umsetzung der späten Neuakzentuierung.

I. Die Formierungsphase 1830–1876 Bevor Lipsius mit seinem Lehrbuch für evangelisch-protestantische Dogmatik 1876 erstmals den Versuch unternahm, seine Theologie in systematischer Form einem breiteren theologischen Publikum vorzulegen, vollzog er einen vielseitigen Entwicklungsgang. Die Theologie, die Lipsius 1876 geschlossen vorstellt, hat sich unter vielfältigen Einflüssen geformt: durch seine familiäre Prägung, seine vermittlungstheologische Studienzeit, seine frühe Begeisterung für spätidealistische Philosophie repräsentiert in seinem philosophischen Lehrer Christian Herrmann Weisse, seine zunehmende Orientierung an Ferdinand Christian Baurs Tübinger Schule, seine Konflikte mit lutherischer Orthodoxie, seine aufwendigen Schleiermacherstudien und die polemische Auseinandersetzung mit dem Erbe hegelscher Philosophie. Dieser frühe Entwicklungsgang von Lipsius’ Werk kann als Formierungsphase bezeichnet werden, da Lipsius – dokumentiert in Rezensionen, Einzelstudien, Streitschriften, Vorträgen und Aufsätzen – die Grundmotive seines späteren theologischen Systems herausbildet. Die Texte, welche die Formierungsphase von Lipsius’ Theologie greifbar werden lassen, haben den Charakter von Gelegenheitsarbeiten, die nur skizzenhaft die Konturen seines theologischen Programms erkennen lassen. In ihnen zeigt sich gleichsam eine spiralförmig kreisende Annäherung an eine zumindest doppelte Grundstoßrichtung seiner Theologie, die sich mit den Begriffspaaren Glauben und Wissen sowie Freiheit und Offenbarung fassen lässt. Diese Grundthemen profiliert Lipsius wiederholt in je unterschiedlichen Konstellationen. Dies macht die Formierungsphase trotz der bisherig geringen Beachtung in der LipsiusForschung ausgesprochen erkenntnisreich. Denn hier wird explizit, aus welchen Traditionen und im Rahmen welcher Diskurse Lipsius die Grundmotive seiner Theologie entwickelt. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich viele der später nur impliziten Bezüge transparent machen. Für die Formierungsphase sind nicht zuletzt die frühen Wirkstationen von Lipsius bis zu seiner theologischen Heimstätte im liberalen Jena prägend.1 In 1 Diese biographischen Einflüsse soweit möglich herauszustellen, ist eine wichtige Grundlage für die werkbiographische Analyse. Der handschriftliche Nachlass von Lipsius ist jedoch im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen. Die biographische Darstellung ist daher auf die Hinweise in Lipsius’ publiziertem Werk einerseits und den biographischen Zeugnissen von Zeitgenossen andererseits verwiesen. Die folgende Darstellung folgt soweit möglich den biographischen Grundinformationen, die Lipsius im Brockhaus Conversationslexikon selbst gegeben hat. D.: Art. Lipsius (Richard Adelbert), in: Brockhaus’ Conversations-Lexikon,

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I. Die Formierungsphase 1830–1876

Leipzig absolvierte Lipsius seine gesamte theologische Ausbildung. Dort hat er in vermittlungstheologischem Umfeld ab 1848 sein Studium begonnen, wurde er promoviert, hat er habilitiert und schließlich hat er dort seinen ersten Lehrauftrag ausgeführt. Von 1861 bis 1865 war Lipsius Professor in der Diasporasituation Wiens und entwickelte Grundzüge seines liberal-theologischen Profils. Von 1865 bis 1871 hatte Lipsius dann eine Professur in Kiel inne, die massiv von Konflikten mit neuorthodoxer konfessioneller Theologie geprägt war und die Lipsius als führenden liberalen Theologen universitätspolitisch hat hervortreten lassen. 1871 schließlich wurde Lipsius Professor im liberalen Jena, wo er mit der eigentlichen Entfaltung seiner Theologie begann und bis zu seinem Lebensende 1892 umfassend wirkte. Ausgehend von einem kurzen Blick auf die familiäre Prägung von Lipsius’ theologischem Denken, werden im Folgenden also zunächst die Wirkstandorte und biographische Entwicklungen ebendort beleuchtet. Die Analysen früher Schriften erfolgen jeweils den Standorten und entsprechenden Wirkphasen zugeordnet, um ihrer biographischen Situiertheit Rechnung zu tragen.

1. Im Geiste Melanchthons und Herrnhuts – Familiäre Einflüsse 1830–1848 Eine werkbiographische Rekonstruktion von Lipsius’ Theologie mit Bemerkungen zu familiären Einflüssen seiner Kindheits- und Jugendtage anheben zu lassen, legt sich vor dem Hintergrund seiner späteren Berufung auf sie nahe. Seinen Leipzig 1885, 105–106. Darüber hinaus werden Richters Lipsius Lebensbild (G. R: Lipsius Lebensbild, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde [1895] 9, 3–45) und Scheibes Artikel zu Lipsius in der Allgemeinen Deutschen Biographie (M S: Art. Lipsius: Richard Adelbert L., in: Allgemeine deutsche Biographie [1906] 52, 7–27) ein hoher Stellenwert eingeräumt. So auch bei R, Die Grundlegung der christlichen Dogmatik als Wissenschaft bei Lipsius, 5. Insbesondere Richter konnte noch auf den handschriftlichen Nachlass Lipsius’ zugreifen. Vgl. ebd. Die Zuverlässigkeit der Darstellungen Richters lässt sich durch die vielfache Aufnahme in den Nachrufen der Lebensweggefährten und Schüler Lipsius’ erhärten. Vgl. A H B: Rez. Richard Adelbert Lipsius †, in: Deutsches Protestantenblatt (1892) 40, 318–319, vgl. A H: D. R. A. Lipsius, in: Protestantische Kirchenzeitung für das evangelische Deutschland (1892) 35, 801–805, vgl. P K: Richard Adelbert Lipsius, in: Paul Kirmß (Hg.): Unsere Aufgabe in Ostasien. In welcher Form sollen wir den heidnischen Kulturvölkern das Evangelium bringen?, Berlin 1894, 3–12, vgl. H L: † Richard Adelbert Lipsius, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung (1892) 238, 1–3, vgl. .: Richard Adelbert Lipsius, in: Protestantische Kirchenzeitung für das evangelische Deutschland (1892) 36, 825–833.849–858 und vgl. H O S: Zum Gedächtnis von R. A. Lipsius, in: Protestantische Kirchenzeitung für das evangelische Deutschland (1893), 801–805. Auch die Gedächtnisrede anlässlich des 100. Geburtstag von Lipsius von H. Weinel ist maßgeblich an Richter orientiert. H W: Richard Adelbert Lipsius. Gedächtnisrede zur Feier seines 100. Geburtstags am 14. Februar 1930, Tübingen 1930.

1. Im Geiste Melanchthons und Herrnhuts – Familiäre Einflüsse 1830–1848

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Selbstauskünften zufolge lässt sich die Grundausrichtung seines theologischen Werks bereits auf seine frühen Jahre zurückführen. Am 14. Februar 1830 wurde Richard Adelbert Lipsius in Gera geboren. Als Teil einer sächsischen Theologenfamilie wurde ihm eine starke religiöse und theologische Haltung mitgegeben. Die Familie war durch eine Herrnhuter Frömmigkeit geprägt, auf deren „Geist einfacher praktischer Frömmigkeit“2 sich auch Richard Adelbert in seinem Werk beruft. Aus ihm leitet Lipsius starke Vorbehalte gegenüber theologischem Moralismus ab. Eine Theologie, welche Religion auf Moral reduziert und in ihr nicht mehr erblicken will als eine Energiequelle für den täglichen sittlichen Kampf, übergeht Wesentliches. Dazu zählt Lipsius vor allem mystische Aspekte der Religion – einen Erfahrungskern religiösen Lebens, der nicht im Denken und Handeln aufgehen kann und sich funktionalisierenden Bestimmungen des Religiösen entzieht. Trotz strenger Erforschung der Religion muss ihr demnach letztlich immer etwas Geheimnisvolles, wissenschaftlich Unergründliches, anhaften, das es bei ihrer systematischen Erschließung zur Geltung zu bringen gilt. Seine Betonung dieses genuin religiösen Erfahrungskerns führt Lipsius selbst als Erbe der Herrnhuter Tradition an und parallelisiert sich diesbezüglich mit Schleiermacher.3 Die familiäre Prägung durch die Herrnhuter Frömmigkeit habe ihn „gemahnt, der religiösen Mystik allezeit einen Platz im Heiligtum des Herzens zu erhalten.“4 Die wohl stärkste theologische Prägung der Jugendjahre von Richard Adelbert Lipsius geht allerdings auf seinen Vater und Religionslehrer Karl Heinrich Adelbert Lipsius zurück.5 Bereits im Schulunterricht kam er über ihn in Kontakt

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K H A L: Schulreden bei verschiedenen Gelegenheiten gehalten. Mit der Lebensbeschreibung des Verfassers, Leipzig 1862, VIII. Die herrnhutische Prägung von Lipsius’ Familie leitet sich von seiner Großmutter väterlicherseits her. Sie war die Schwester des geistigen Liederdichters Karl Bernhard Garve und wurde in der Brüdergemeine erzogen. Vgl. R, Lipsius Lebensbild, 5. Lipsius selbst leitet von dieser Nähe der Familie zur Brüdergemeine eine innige christliche Frömmigkeit der ganzen Familie ab. Vgl. L, Schulreden, VIII. 3 Vgl. R A L: Lipsius, Richard Adalbert, geb. 14 Februar 1830 zu Gera, in: F Z (Hg.): Bücherkleinode evangelischer Theologen. Mitteilungen bekannter evangelischer Theologen der Gegenwart über Bücher, die ihnen für Amt und Leben von besonderem Werte gewesen sind, zusammengestellt und als Einleitung in die „Bibliothek theologischer Klassiker“, Gotha 1888, 94–95, hier 95. Lipsius fasst mystische Elemente der Theologie Schleiermachers als „Nachklang aus dem Leben in der Brüdergemeinde“ (.: Glaube und Lehre. Theologische Streitschriften, Norderstedt 1871, 132) und betont in diesem Zusammenhang: „Auch ich habe einen Theil meiner Jugend unter herrnhutischen Einflüssen verlebt: ein ausgebreiteter Zweig meiner Familie gehört noch heute zur Gemeinde.“ A. a. O., 133. 4 D., Bücherkleinode evangelischer Theologen, 95. 5 Richard Adelberts Vater war habilitierter evangelisch-lutherischer Theologe und arbeitete neben einer kurzen Zeit als Privatdozent an der Leipziger Universität (1829–1831) als Religionslehrer und späterer Rektor der Leipziger Thomasschule (1826–1827; 1831–1861). Vgl. ., Brockhaus-Art. Lipsius, 105. Richard Adelbert besuchte die Leipziger Thomas-

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I. Die Formierungsphase 1830–1876

mit historisch-kritischer Bibelauslegung, besonders mit Diskursen über die Entstehung der paulinischen Briefe.6 Ein entscheidendes Motiv der väterlichen Theologie ist das Streben nach enger Verbindung von Philosophie und Christentum sowie von Bibel und Vernunft. Leitend waren dabei die Philosophien Kants und Fichtes.7 So wird auch die Dogmatik trotz aller Vorbehalte gegenüber theologischem Moralismus vorrangig praktisch als unentbehrliche Wahrheit für das sittliche Leben in den Blick genommen.8 Den wichtigsten theologischen Bezugspunkt seines Vaters identifizierte Richard Adelbert jedoch in Philipp Melanchthon. Melanchthon ist für Vater und Sohn ein Sinnbild für die Verbindung von strenger Wissenschaftlichkeit, einem grundlegenden Humanismus und einfacher praktischer Frömmigkeit geworden.9 Darin sieht Lipsius ein bleibendes Vorbild für die Theologie insgesamt. Die Verbindung eines Plädoyers für strenge Wissenschaftlichkeit der Theologie mit dem Festhalten eines mystisch-unerklärlichen Kerns der Religion kann

schule selbst von 1841 bis 1848 und wurde dort von seinem Vater im Schulfach Religion unterrichtet. Hinzu tritt der väterliche Konfirmationsunterricht, an den Lipsius sich als „Stunden heiliger Weihe im höchsten Sinne des Worts“ (L, Schulreden, XXIV) erinnerte. 6 Vgl. F R L: Art. Lipsius, Richard Adelbert, gest. 1892, in: Albert Hauck (Hg.): Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Leipzig 1902, 520–524, hier 520–521. 7 „Er [sc. Karl Heinrich Adelbert Lipsius] war mit der nachkantischen Entwicklung der Philosophie bekannt, doch war der Pantheismus der Schelling-hegelschen Speculation seiner ganzen Geistes- und Gemüthsart viel zu entgegengesetzt, als daß er sich mit diesen Systemen hätte befreunden können. Um so höhere Ehrfurcht bezeugte er stets vor dem ethischen Ernste der Kantischen und Fichteschen Lehre, und namentlich die letztere pflegte er, ohne sich ihr anzuschließen, doch gegen die Anklage des Atheismus sehr warm in Schutz zu nehmen.“ L, Schulreden, XXVI. 8 Vgl. a. a. O., XXV. 9 Für seinen Vater stellt Lipsius heraus: „In Melanchthon fand er das alles vereint, was er nach seiner ganzen Sinnesart am höchsten schätzte, die theologische und die humanistische Bildung, die ernste Wissenschaft und die einfache praktische Frömmigkeit, die über kleinlichen Eifer um Nebendinge erhabene Milde und die unerschütterliche Festigkeit, wo es sich um die wesentlichen Grundwahrheiten des christlichen Glaubens handelt.“ A. a. O., XXVII. Die theologische Hochschätzung des sinnbildlichen Erbes Melanchthons ist zeitlebens ein verbindendes Element zwischen Richard Adelbert und seinem Vater gewesen. Am Grab seines Vaters gelobt Lipsius, dem Geist Melanchthons treu zu bleiben. Vgl. R, Lipsius Lebensbild, 25–26. Anlässlich der Jenaer Rosenvorlesung hat Richard Adelbert 1891 einen seiner letzten öffentlichen Vorträge dem Andenken Philipp Melanchthons gewidmet. Hier beschwört er erneut Melanchthon als bleibendes Vorbild christlicher Theologie: „Die Vereinigung von Humanismus und evangelischem Glauben, von freier, gründlicher, universaler, wissenschaftlicher Bildung und jener wahrhaften Frömmigkeit, die sich nicht mit einem kirchlichen Herdenbewußtsein begnügt, sondern nach persönlicher Selbstgewißheit in Sachen des Heiles begehrt: Diese Vereinigung ist in Melanchthon verkörpert und in ihm vorbildlich geworden für alle Folgezeit.“ R A L: Philipp Melanchthon. Jenaer Rosenvorlesung, in: D.: Glauben und Wissen. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Berlin 1897, 248–274, hier 274.

2. Die vermittlungstheologischen Anfänge – Leipzig 1848–1861

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vor dem Hintergrund der von Lipsius herausgestellten familiären Prägung als ein erster Grundzug seines theologischen Denkens benannt werden. Diese spannungsreiche Verbindung verdichtet sich in der symbolischen Kombination aus dem Erbe Herrnhuts und Melanchthons. Auch die Ambivalenz einer praktischen Auffassung der Religion, die sich zugleich von moralistischen Reduktionen des religiösen Lebens lossagt, wird sich wiederholt in seiner Theologie zeigen. Insgesamt ist es dieses umfassende theologische Vermittlungsanliegen von Wissenschaftlichkeit und praktischer Frömmigkeit, das Lipsius auf die Prägungen seiner Jugend zurückführt.

2. Die vermittlungstheologischen Anfänge – Leipzig 1848–1861 Die eigentliche theologische Ausbildung hat Lipsius vollständig in Leipzig absolviert. 1848 nahm Lipsius sein Studium der Theologie, Philosophie, orientalischen Sprachen und klassischen Philologie an der vermittlungstheologisch geprägten Leipziger Universität auf. Über den Verlauf und die Inhalte seiner Studienzeit ist wenig bekannt.10 Seiner Ausbildungszeit wird Lipsius später explizit keine große Bedeutung mehr beimessen. Es kann vielmehr als ein Zeugnis früher theologischer Selbstständigkeit gewertet werden, dass Lipsius ausgehend von der Leipziger Vermittlungstheologie zu einem Kopf liberaler Theologie werden konnte.11 Von seiner Schul- und Studienzeit sind Zeugnisse seiner regen und befürwortenden Anteilnahme an den politischen Freiheitskämpfen der deutschen Revolution von 1848/49 überliefert. So hat Lipsius 1848 mit Bezug auf sie sein gesamtes Schaffen der Freiheit geweiht.12 In seiner Studienzeit setzte Lipsius sein poli10 Vgl. R, Lipsius Lebensbild, 21. Lipsius selbst verweist in einer biographischen Selbstanzeige für die Zeit seines Studiums lediglich auf die evangelischen Theologen Karl Gottfried Wilhelm Theile (1799–1854), Rudolf Anger (1806–1866), Johann Christian Friedrich Tuch (1806–1867), Georg Benedikt Winer (1789–1858) und Christian Wilhelm Niedner (1797–1865) als theologische Lehrer, ohne diese in irgendeiner Form zu beurteilen oder ihre Relevanz für seine Entwicklung herauszustellen. Vgl. L, Brockhaus-Art. Lipsius, 105. Zu ergänzen sind hier noch Carl Theodor Albert Liebner (1806–1871), der spätere Betreuer von Richard Adelbert Lipsius’ Dissertationsprojekt, und Gustav Adolf Fricke (1822–1908). Vgl. R, Lipsius Lebensbild, 22. Und: Vgl. R A L: Die paulinische Rechtfertigungslehre unter Berücksichtigung einiger verwandten Lehrstücke nach den vier Hauptbriefen des Apostels, Leipzig 1853, V. 11 Das Erstaunen darüber äußert Hermann Lüdemann in seinem Nachruf auf seinen Lehrer Lipsius. Vgl. L, Richard Adelbert Lipsius, 827. 12 Von seiner Zeit auf der Thomasschule ist überliefert, dass Lipsius als eine Art Schulpoet aufgetreten ist und mit Freunden einen Dichterbund gegründet hat. Vgl. R, Lipsius Lebensbild, 15–18. Die aus dieser Zeit erhaltenen Gedichte werfen ein Licht auf Lipsius’ frühe politische Einstellung. Er bekundet mehrfach seine Solidarität mit der Märzrevolution 1848. Ein zentrales Anliegen der verschiedenen Gedichte ist der Freiheitskampf. In einem Sonett aus dem Jahr 1848 weiht Lipsius sein Schaffen ganz der Freiheit: „Einst hab voll heitrem

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I. Die Formierungsphase 1830–1876

tisches Engagement in der Burschenschaft der Hermunduren fort, die laut seinem Bruder von Lipsius selbst gegründet wurde.13 Wenngleich Lipsius den politischen Anliegen der deutschen Revolution 1848/49 abschwören wird – kurz vor seinem Lebensende kann er anlässlich des Besuchs des Fürsten Bismarck in Jena in seiner Rede sagen „Wir sind monarchisch bis auf die Knochen“14 – bleibt der wissenschaftliche Einsatz für die freie Sittlichkeit ein zentrales Motiv seiner Theologie. Nach Abschluss seines Studiums 1851 nahm Lipsius sogleich die Arbeit an seiner Dissertation Die paulinische Rechtfertigungslehre unter Berücksichtigung einiger verwandten Lehrstücke nach den vier Hauptbriefen des Apostels auf, die er 1853 abschloss. In dieser exegetischen Arbeit versucht Lipsius nachzuweisen, dass die paulinische Rechtfertigungslehre als effektive und nicht bloß forensische zu verstehen ist. Mit der Rechtfertigung ist ein neuer ethischer Lebenszustand zu verbinden, der gnadenweise eröffnet ist.15 In seiner Vorrede bekennt sich Lipsius noch klar zur Vermittlungstheologie, indem er in „Neander, Nitzsch, Lücke, Ullmann, Twesten, Liebner, Dorner, Martensen u.A.“16 eine Reihe von Theologen identifiziert, welche als eine neue theologische Bewegung alte dogmatische Bestände denkend durchdringt und die Wahrheit der christlichen Tradition in neuen Formen wieder lebendig werden lässt.17 Ausgehend von Schleiermacher beobachtet Lipsius in Dogmatik und Ethik eine große Hinwendung zum positiven Christentum.18 Diese ist aber vor die Herausforderung gestellt, die philosophische Bewegung ausgehend von „Kant, Fichte, Jacobi“19 nicht zu umgehen. Eben jene vermittlungstheologischen Theologen können laut Lipsius’ Vorwort eine Revitalisierung des positiven Christentums nach Kant, Fichte und Jacobi leisten, indem sie an die „Prinzipien der Reformation“20 wieder anknüpfen. Lipsius reiht sich mit seiner Dissertation hier ein und verzahnt dafür seine exegetische Arbeit mit dogmatischen Reflexionen.21 Das sich hierbei andeutende AnlieScherz ich manche Lieder [/] Von Jugendlust und Seligkeit gesungen, [/] Und wie’s im innern Herzen mir erklungen, [/] So gab ich’s rein und treu im Liede wieder. [//] Da aber mahnt der Heldenkampf der Brüder [/] Mein Lied, zu wahren, was ihr Blut errungen, [/] Und von geheimnisvollem Ruf gedrungen, [/] Leg‘ ich des leichten Scherzens Leier nieder. [//] So weih‘ ich denn der Menschheit Heiligtume, [/] Der Freiheit Sache meines Liedes Waffen [/] Und trete für Vernunftrecht in die Schranken. [//] Wie nach der Gottheit göttlichstem Gedanken [/] Der Mensch zur freien Sittlichkeit geschaffen: [/] So soll er sein, trotz Papst- und Königtume.“ Zit. n. a. a. O., 18. 13 Vgl. a. a. O., 22. 14 Vgl. a. a. O., 20. Nach seinem Schüler Paul Kirmß habe Lipsius in seiner Haltung zur Revolution die gleiche Entwicklung durchlaufen wie das „deutsche Volk überhaupt.“ K, Lipsius, 6. 15 Vgl. S, Art. Lipsius, 10. 16 L, Die paulinische Rechtfertigungslehre, XIII. 17 Sein Doktorvater Liebner lobt zwar die Durchführung, sieht sich aber gezwungen, seine Differenz zur Position Lipsius’ in einem Vorwort zu betonen. Vgl. a. a. O., 5–8. 18 Vgl. a. a. O., XII. 19 Ebd. 20 Vgl. a. a. O., XIII. 21 Vgl. a. a. O., XVI.

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gen, eine an Schleiermacher geschulte Hinwendung zum positiven Christentum mit einer stärker kantischen Grundlegung der Religionstheorie zu verzahnen, weist bereits auf das spätere Werk hinaus. In der Vorrede seiner Dissertation betont Lipsius zudem die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der von Ferdinand Christian Baur ausgehenden Tübinger Schule.22 Jedoch zeigt sich hier noch eine distanzierte Haltung gegenüber der kritischen Methode Baurs. In den folgenden Jahren nähert sich Lipsius methodisch und inhaltlich Baur und damit einer kritisch-liberalen Theologie stärker an.23 Bereits seine kirchenhistorische Habilitation zum Clemensbrief De clementis romani epistola ad corinthios priore disquisitio von 1855 zeugt davon.24 Hier ist das Bestreben nach einer rein geschichtlichen Untersuchung des Urchristentums erkennbar, das sich nicht von dogmatischen Annahmen leiten lässt. Nach Abschluss seiner Habilitation wirkte Lipsius zunächst als Privatdozent an der Leipziger Universität. Nachdem er 1858 anlässlich ihres 300-jährigen Jubiläums von der theologischen Fakultät der Universität Jena den Ehrendoktor der Theologie verliehen bekam, wurde Lipsius 1859 von der sächsischen Regierung zum außerordentlichen Professor für Theologie in Leipzig ernannt.25 Bereits in dieser Leipziger Zeit zeichnet sich eine Hinwendung zur systematischen Theologie bei Lipsius ab, wie sich an seiner Lehrtätigkeit ablesen lässt.26 Zunehmend übernimmt Lipsius philosophische, theologiegeschichtliche und dogmatische Vorlesungen, ohne dass seine Arbeiten als Exeget des Neuen Testaments und Erforscher der frühchristlichen Literaturgeschichte ruhen. In beiden Gebieten wird Lipsius zeitlebens tätig sein und durch vielbeachtete Veröffentlichungen hervortreten.27 Wenngleich seine kirchengeschichtlichen und exegetischen Arbei-

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Vgl. ebd. Diese frühe theologische Entwicklung Lipsius’ von seinen vermittlungstheologischen Anfängen zur entschieden liberalen Theologie betont bereits Lobstein. Vgl. P L: Rez: Lipsius, Richard Adelbert, Glauben und Wissen. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze 1897, in: Theologische Literaturzeitung (1898) 17, 475–477. Sie tritt erkennbar zutage, wenn man die Beurteilung der Tübinger Schule in seiner Dissertation mit seiner späteren Würdigung Baurs 1862 vergleicht. Vgl. R A L: Ferdinand Christian Baur und die Tübinger Schule, in: Unsere Zeit: deutsche Revue der Gegenwart (1862) 6, 229–254. Für eine Analyse dieser Schrift siehe Kap. I.3.a. 24 D.: De Clementis Romani epistola ad Corinthios priore disquisitio. Pars prior Pro Venia Theologiam Publice Docendi, Lipsiae 1855. 25 Vgl. R, Lipsius Lebensbild, 25. 26 Hat er zunächst hauptsächlich zu kirchengeschichtlichen und neutestamentlichen Themen gelesen, las er bereits im Wintersemester 1856/57 über die Geschichte der religionsphilosophischen Systeme seit Kant, 1859 las er eine allgemeine Geschichte der neuesten Theologie und 1859 erstmals eine Vorlesung über Schleiermacher. 1860 und 1861 folgten eine religionsgeschichtliche Einleitung in die Dogmatik und eine sechsstündige Vorlesung Dogmatik. Zur Leipziger Lehrtätigkeit vgl. R, Die Grundlegung der christlichen Dogmatik als Wissenschaft bei Lipsius, 6–7. 27 Im Bereich der neutestamentlichen Bibelwissenschaft sind neben vielen Einzelstudien und den relativ ausführlichen bibelwissenschaftlichen Abschnitten seines Lehrbuchs der evan23

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ten den quantitativ umfassendsten Teil seines Werks darstellen, ist bereits zu Lipsius’ Lebzeiten aufgefallen, wie selbstständig seine kirchengeschichtlichen neben seinen systematisch-theologischen Arbeiten stehen.28 Vor diesem Hintergrund lässt sich die weitgehend separate Rezeptionsgeschichte von Lipsius als Dogmatiker, Kirchenhistoriker und Exeget nachvollziehen und rechtfertigen. In seiner Leipziger Zeit knüpft Lipsius zudem bereits einflussreiche Kontakte zu theologischen Größen seiner Zeit. Ab 1855 korrespondiert Lipsius mit Karl von Hase, Adolf Hilgenfeld, Paul de Lagarde, Eduard Zeller und Ferdinand Christian Baur.29 Ab 1856 bahnt sich eine Freundschaft mit Albrecht Ritschl an, die für Lipsius und seine Theologie ein Lebensthema werden wird.30 Den nachhaltigsten Einfluss auf Lipsius’ weitere theologische Entwicklung ist allerdings

gelisch-protestantischen Dogmatik vor allem die späten Kommentare zum Galater-, Römerund Philipperbrief im Hand-Commentar zum Neuen Testament von 1891 und 1892 hervorzuheben. L, R A/H, H J: Briefe an die Galater, Römer, Philipper (Hand-Commentar zum Neuen Testament 2,2), Freiburg i. B. 1891; R A L: Briefe an die Galater, Römer, Philipper (Hand-Commentar zum Neuen Testament 2,2), Freiburg i. B. 21892. Den größten Anteil der wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Lipsius machen die Arbeiten zur Geschichte des frühen Christentums und zur frühchristlichen Literaturgeschichte aus. Neben der Habilitationsschrift zum Clemensbrief seien hier nur die größten Werke benannt: D., De Clementis; .: Über die Ächtheit der syrischen Recension der ignatianischen Briefe, Gotha 1856; .: Zur Quellenkritik des Epiphanios, Wien 1865; .: Chronologie der Römischen Bischöfe bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts, Kiel 1869; .: Die Quellen der römischen Petrus-Sage, Kiel 1872; .: Die Quellen der ältesten Ketzergeschichte, Leipzig 1875; .: Neue Studien zur Papstchronologie. II: Die ältesten Papstverzeichnisse, Leipzig 1880; .: Die apokryphen Apostelgeschichten und Apostellegenden. Ein Beitrag zur altchristlichen Literaturgeschichte, Braunschweig 1883–1890; R A L/M B/C  T (Hg.): Acta apostolorum apocrypha, Leipzig 1891; R A L: Der Gnosticismus, sein Wesen, Ursprung und Entwickelungsgang, Leipzig 1860. Ergänzen ließen sich hier noch viele Einzelstudien und Ergänzungen zu den größeren Arbeiten. Eine ausführliche Würdigung dieser bibelwissenschaftlichen und kirchengeschichtlichen Arbeit kann in dieser Arbeit nicht geleistet werden. Bedeutsam für eine systematisch-theologische Lipsiusstudie ist jedoch an den historischen Arbeiten, dass sich hier ein Wandel von einer zunächst kritischen bis ablehnenden Haltung gegenüber Ferdinand Christian Baur und der Tübinger Schule zu einer liberalen Haltung im dezidierten Anschluss an Baur abzeichnet. Bereits Ende der 1850er Jahre tritt dieser Wandel offen zutage. Eine Beurteilung der historischen Schriften unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Lipsius zur Tübinger Schule bietet: S, Art. Lipsius, 11–12. Vgl. auch R, Die Grundlegung der christlichen Dogmatik als Wissenschaft bei Lipsius, 13–14. 28 Dies hat vor allem Hermann Lüdemann in einem ausführlichen Nachruf auf Leben und Werk Lipsius’ herausgearbeitet. Vgl. L, Richard Adelbert Lipsius, 825–833, 849–858. Eine eigene Würdigung hat Lipsius’ historische Methode von Friedrich Nippold erfahren. Vgl. F N: Lipsius’ historische Methode, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde (1895) 9, 47–66. 29 Vgl. R, Lipsius Lebensbild, 25. 30 Dazu siehe Kapitel III.2.a/b und IV. 2.e.

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dem engen Austausch mit dem spätidealistischen Philosophen Christian Hermann Weisse zuzuschreiben.31 Vermittels Weisse vertieft sich die bereits im Elternhaus angelegte Prägung durch klassisch-deutsche Philosophie von Lipsius’ Theologie.

a. Freiheit und System – Christian Herrmann Weisses Spätidealismus Den größten greifbaren Einfluss auf die frühe Entwicklung der systematischen Theologie von Lipsius hat der Leipziger Philosoph Christian Herrmann Weisse ausgeübt. Ihn bezeichnet Lipsius als seinen „unvergeßliche[n] Lehrer“32. Aufschluss über diese frühe Prägung geben drei ausführliche Rezensionen von Weisses dreibändigem Hauptwerk, der Philosophischen Dogmatik oder Philosophie des Christenthums.33 Sie sind Lipsius’ erste philosophisch-theologische Veröffentlichungen und beschwören grundlegende Einigkeit. In diesen Rezensionen wird greifbar, dass sich Lipsius einer fundamentalen Hegelkritik bei Weisse verpflichtet weiß und eine daraus hervorgehende theologische Grundhaltung übernimmt. Zudem bezieht sich Lipsius affirmativ auf seine Grundlegung der Religionsforschung, welche versucht, eine erfahrungstheoretische Annäherung an Religion mit spekulativer Theologie zu verbinden. Schließlich zeigen Weisses Überlegungen zum Begriff der Offenbarung und der Zentralstellung des Freiheitsbegriffs, dass auch seine spätidealistische Philosophie von dem Motiv einer engen Verbindung von Freiheit und Offenbarung zehrt. Um diesen großen Einfluss zu ermessen, soll zunächst ein Blick auf wichtige Konturen der spätidealistischen Philosophie Weisses geworfen werden. Im darauffolgenden Abschnitt werden dann Lipsius’ Rezensionen auf die zentralen Motive seiner Zustimmung und bleibende Kritikpunkte befragt. Spekulativer Theismus als Hegelkritik: Christian Herrmann Weisse gehört zusammen mit Immanuel Hermann Fichte zu den Zentralgestalten des Spätidealismus und spekulativen Theismus.34 Diese breite Strömung deutschsprachiger

31 Richter verweist auf Weisses Briefe im Nachlass von Lipsius, die auf ein sehr enges Verhältnis zwischen Lipsius und Weisse bis zu Weisses Tod 1866 hinweisen. Vgl. a. a. O., 24. Lipsius spricht das freundschaftliche Verhältnis zu Weisse selbst öffentlich an: Vgl. R A L: Philosophische Dogmatik oder Philosophie des Christenthums von Chr. H. Weiße. Drei Bände, Leipzig 1855–1862, in: Theologische Studien und Kritiken (1865) 38, 541–590, hier 541. 32 D., Glaube und Lehre, 26. 33 D.: C. H. Weiße’s neueste theologische Schriften, in: Blätter für literarische Unterhaltung (1857) 30.38, 541–551.685–694; .: Rez.: Weisse, Chr. H., philosophische Dogmatik oder Philosophie des Christenthums. 2. Bd. Leipzig, 1860. A. u. d. T.: Die Welt- und Menschenschöpfung, in: Literarisches Centralblatt für Deutschland (1860) 40, 625–631; ., Rez. Weisse 1865. 34 Die philosophiehistorische Verortung Weisses ist umstritten. Kurt Leese prägt mit seiner umfassenden Weisse-Studie Philosophie und Theologie im Spätidealismus von 1929 den Begriff des Spätidealismus für die Philosophiegeschichte von 1830 bis 1870. Prägendster Exponent

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Schulphilosophie setzt in den 1830er Jahren an und wirkt bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts hinein. Ein einendes Merkmal ist der starke Einfluss von Schellings Spätphilosophie, wie sie zu Lebzeiten Schellings öffentlich gemacht wurde. Schellings Freiheitsschrift kann als die „Grundakte“35 des Spätidealismus gelten. Sein Cousin-Vorwort und die darin angedeutete Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie gilt den Spätidealisten als Schlüssel zu einer neuen Philosophie, die einen einseitigen Rationalismus überwunden hat, indem die Wirklichkeit in ihrer Selbstständigkeit gegenüber reiner Vernunft aufgewertet wird, und die zugleich der Philosophie das Christentum und seinen Theismus wieder erschlossen hat.36 Nach spätidealistischer Lesart entdeckt Schelling in seiner Freiheitsschrift eine Widerspenstigkeit der Wirklichkeit gegenüber ihren rationalistischen Domestizierungsversuchen. Er verweist auf das Regellose im Grund der Wirklichkeit: „Dieses ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde bleibt.“37

dieser Richtung ist ihm Weisse selbst. Mit dem Konzept Spätidealismus betont Leese einerseits die enge Anbindung von Weisse und dem jungen I. H. Fichte an die Philosophie des Deutschen Idealismus bei J. G. Fichte, Hegel und Schelling. Andererseits kritisiert er damit die einseitige Orientierung der Verhältnisbestimmung von idealistischer Philosophie und Christentum anhand von Kant, J. G. Fichte und Hegel. Der Spätidealismus bezeichnet demnach einen eigenen Typ idealistischer Philosophie. Vgl. K L: Philosophie und Theologie im Spätidealismus. Forschungen zur Auseinandersetzung von Christentum und idealistischer Philosophie im 19. Jahrhundert, Berlin 1929, 5. Gebräuchlich ist auch die Bezeichnung Weisses als spekulativer Theist. Der Weisse-Biograph und Schüler Rudolf Seydel hat die Philosophie Weisses als Spekulativen Theismus bezeichnet, um damit sowohl die bleibende Abhängigkeit zum Erbe Hegels und Schellings herauszustellen und zugleich den theologischen Fokus der Spekulation und die Abgrenzung gegenüber Hegel mit dem Begriff des Theismus aufzugreifen. Vgl. G K: Hegels Religionsphilosophie der absoluten Subjektivität und die Grundzüge des spekulativen Theismus Christian Hermann Weißes (Philosophische Theologie 4), Wien 1994, 141. ,Theismus‘ verwendet Weisse als Selbstbezeichnung, um sein Ringen um eine adäquate philosophische Auffassung der genuin christlichen Persönlichkeit Gottes ins Zentrum seiner Philosophie zu stellen und sich damit zugleich von der Philosophie Hegels abzugrenzen, der er gerade einen atheistischen Gottesbegriff unterstellt. Vgl. C H W/I H F: Das philosophische Problem der Gegenwart. Sendschreiben an J. H. Fichte, Leipzig 1842, 49. Hier wird in der Folge weitgehend auf die Bezeichnung als Spätidealist zurückgegriffen, um einer Engführung von Weisses Philosophie auf theistische Spekulation entgegenzuwirken. Gerade seine erfahrungstheoretische Annäherung an die Religion wird durch die Bezeichnung als spekulativer Theist verschleiert. 35 L, Philosophie und Theologie im Spätidealismus, 8. 36 Vgl. A S: Personalität und Wirklichkeit. Nachidealistische Schellingrezeption bei Immanuel Hermann Fichte und Christian Hermann Weiße (Epistemata Reihe Philosophie 293), Würzburg 2001, 81. 37 F W J  S: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, Hamburg 22011, 32.

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Im Spätidealismus wird damit dasjenige Moment von Schellings Freiheitsschrift fokussiert, das Paul Tillich die Anfänge des existentialistischen Protestes genannt hat. „Es gibt […] keine Ableitung der Existenz von der Essenz in Form rationaler Notwendigkeit.“38 Zwar leisten die Vernunftsysteme eine logische Beschreibung eines Möglichkeitsrahmens der Wirklichkeit, eine logische Determination tatsächlicher Wirklichkeit soll damit aber gerade nicht behauptet werden. Der Begriff der Freiheit wird vor diesem Hintergrund zu einem Zentralkonzept der Wirklichkeitsbeschreibung. Die Rede von einer Freiheit der Wirklichkeit wird als Eingrenzung eines auf Vernunftnotwendigkeit gegründeten Systems akzentuiert.39 Die tatsächliche Wirklichkeit weist demnach eine eigene Dynamik und Lebendigkeit auf, die sich nicht allein logisch beschreiben lässt. Dies nötigt die philosophische Wirklichkeitsreflexion zur Aufnahme von Voraussetzungen, die sie selbst nicht rational ableiten oder apriorisch grundlegen kann. Aus einer solchen Betonung einer unergreiflichen Basis der Realität kann im Spätidealismus keineswegs ein Plädoyer für eine rein erfahrungswissenschaftliche Welterschließung abgeleitet werden.40 Sie verbinden mit Schellings positiver Philosophie vielmehr gleichermaßen eine empirismus- und rationalismuskritische Pointe.41 Während die negative Philosophie ein rein-rationales System der Möglichkeit des Wirklichen aufstellt, soll eine theistische Spekulation als positive Philosophie dazu verhelfen, ein System der Freiheit aufzustellen, welches auch dem logisch Inkommensurablen des Wirklichen gerecht wird. Gerade das Erschließen des Gottesgedankens als Persönlichkeit soll zu einer Ontologie der freien Wirklichkeit als Gottes freier Schöpfung verhelfen. Eine solche, im Grunde personal vermittelte, Auffassung von Wirklichkeit wird gegen eine logische Determination der Weltgeschichte gewendet. Über die theistische Spekulation erfährt so auch der Persönlichkeitsgedanke eine enorme Aufwertung und philosophische Zentralstellung. 38

P T: Schelling und die Anfänge des existentialistischen Protestes, in: Zeitschrift für philosophische Forschung (1955) 2, 197–208, hier 203. 39 Vgl. L, Philosophie und Theologie im Spätidealismus, 100. 40 Vgl. a. a. O., 29. 41 Die Unterscheidung von positiver und negativer Philosophie hat Schelling im Rahmen eines Vorwortes zur Schrift von Victor Cousin über französische und deutsche Philosophie bekanntgemacht. Sie ist vor allem für die Hegelkritik des Spätidealismus maßgeblich geworden. Kritisch verweist Schelling auf die problematische Hypostasierung einer logischen Selbstbewegung des Begriffs, die an dem Übergang zur Wirklichkeit scheitere. Vgl. F W J  S: [Cousin-Vorwort], in: Ders. (Hg.): Victor Cousin über französische und deutsche Philosophie, Stuttgart/Tübingen 1834, III–XXVIII, hier XIV. Schelling vertritt, „daß es unmöglich ist, mit dem rein Rationalen an die Wirklichkeit heranzukommen.“ A. a. O., XV. Ein rationalistischer Zugriff könne nur „das Negative in aller Erkenntniß (das, ohne welches keine möglich ist), nicht aber das Positive (das, durch welches sie entsteht)“ (a. a. O., XVI) erfassen. Für einen Zugriff auf die Wirklichkeit braucht es eine positive Philosophie, welche weder Empirismus, weil dieser nicht einmal das Negative aller Erkenntnis erreicht, noch Rationalismus sein kann, da dieser nur das Negative aller Erkenntnis erfassen kann, aber an dem Übergang zur Wirklichkeit scheitert. Vgl. ebd.

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Mit der Aneignung von Schellings positiver Philosophie verbindet sich bei Weisse eine in Teilen eigenwillige Wiederbesinnung auf Kant.42 Kants Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich wird hier als ein ontologischer Graben zwischen den menschlichen Erkenntnismöglichkeiten der Wirklichkeit auf der einen Seite und ihrer wirklichen Beschaffenheit auf der anderen Seite interpretiert. Er versucht jedoch, über Kant hinausgehend an einer spekulativen Philosophie des Absoluten festzuhalten, die einem organischen Zusammenhang zwischen beiden Seiten des ontologischen Grabens das Wort redet, sodass die Kategorien menschlicher Wirklichkeitserschließung soweit möglich als reale Strukturen der Dinge an sich auszuweisen sind, ohne damit die vollständige Erkennbarkeit der Dinge an sich zu behaupten. Eng mit diesen Überlegungen verbunden ist eine fundamentale Hegelkritik, die als ein einendes Merkmal spätidealistischer Schulphilosophie gelten kann. Wenngleich ihr Denken durch die intensive Arbeit an Hegels Philosophie geschult ist und besonders Weisse anfangs um eine Fortschreibung von Hegels Systembildung bemüht war, versteht er sein Werk als eine kritische Überwindung von Hegels Philosophie. Auffällig sind dabei immer wieder argumentativ nicht ausgewiesene Polemiken, die oftmals vermuten lassen, dass sich die entschiedene Positionierung gegen Hegel stärker verschobenen philosophischen Diskursbedingungen nach Hegels Tod verdanken als einer rein sachlichen Ablehnung.43 So kann sich Weisse für seine Kritik auf ein etabliertes „Repertoire der Hegelkritik“44

42 Weisse und der spätidealistischen Philosophie lässt sich eine Bedeutung für die Entstehung des Neukantianismus zuschreiben. Vgl. K C K: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt a. M. 1993, 88–105. Wenngleich es die Eigenart des Spekulativen Theismus verschleiern würde, wenn man ihn auf eine Vorreiterrolle des Neukantianismus reduzieren würde. Vgl. S, Personalität und Wirklichkeit, 16. In seiner Leipziger Antrittsrede In welchem Sinn die deutsche Philosophie jetzt wieder an Kant sich zu orientieren hat besinnt sich Weisse auf die herausragende historische Bedeutung Kants für die deutschsprachige Philosophie. Zwischen den Extremen eines reinen Empirismus und eines reinen Rationalismus soll die kantische Vernunftkritik eine vermittelnde Position ermöglichen. Den transzendentalen Idealismus Kants versucht Weisse jedoch abzumildern, indem er eine Unerkennbarkeit der Dinge an sich bestreitet. Vgl. C H W: In welchem Sinn die deutsche Philosophie jetzt wieder an Kant sich zu orientiren hat. Eine akademische Antrittsrede, Leipzig 1847, 14–15. Den Kategorien menschlichen Verstandes und Vernunft müsse eine echte Erkenntnis von „Möglichkeitsbestimmungen der Dinge“ zuschreibbar sein, wenngleich die Wirklichkeit der Dinge an sich dem Menschen unerkennbar bleibt. Ein metaphysischer Möglichkeitsrahmen der Dinge an sich soll spekulativ erkannt werden können. Weisse insinuiert so einen organischen Zusammenhang zwischen den Kategorien des Seins und den Dingen an sich sowie der Vernunftidee des Absoluten, welcher zwar die kantische Philosophie überschreite, aber zugleich sich aus dem kantischen Denken heraus erahnen lasse. Vgl. a. a. O., 16–17. 43 Vgl. S, Personalität und Wirklichkeit, 33–39. 44 A. a. O., 218.

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zurückziehen, wenngleich diskussionsbedürftig bleibt, ob Hegels Philosophie von der Kritik wirklich getroffen ist.45 Hauptansatzpunkt sachlicher Abgrenzung ist der Begriffsrealismus Hegels. Er ist Anlass, Hegel eine Identifikation von Denken und Sein vorzuwerfen.46 Er vertrete einen metaphysischen Absolutismus, der aller Wirklichkeit eine logische Grundsignatur zuschreibe und damit ihre vollständige begriffliche Erfassbarkeit vertrete.47 Damit werde die Wirklichkeit zugleich der logischen Notwendigkeit der Entfaltung des Begriffs unterworfen, was für Weisse einer höheren Form des Determinismus gleichkommt. Nach Weisse hypostasiere Hegel mit seiner Rede von einer Selbstbewegung des Begriffs jedoch lediglich subjektive Denkformen des menschlichen Bewusstseins. Die Bewegung des Begriffs bleibt nach Weisse immer an menschliche Bewusstseinsvollzüge gebunden. So können auch Hegels Letztbegründungsfiguren nur relativ zu einem endlichen Bewusstsein Geltung für sich beanspruchen. Gerade die Freiheit der Wirklichkeit werde durch Hegels Verlängerung der logischen Notwendigkeit in die Bereiche von Geschichte und Natur verneint.48 Vielmehr biete Hegels System einen letztlich atheistischen und nihilistischen Pantheismus, welcher ein deterministisches Begriffssystem zur ganzen Wirklichkeit erkläre und damit die Möglichkeit eines wirklich als lebendige Person gedachten Gottes leugne.49 Implizit greift er damit Jacobis Taxierung aller Systemphilosophie als fatalistischen Nihilismus auf.50 So daß also hier [sc. in Hegels System] nicht blos, wie auch in andern Systemen, das einzelne Lebendige, sondern das Leben selbst […] dem Tode, nicht das einzelne Freie, sondern die Idee, welche die Freiheit selbst ist, der starren, mechanischen Nothwendigkeit

45 Kruck beispielsweise vertritt die These, dass es Weisse tatsächlich gelingt, Aporien des Hegelschen Systems treffend zu analysieren und zu kompensieren, wenngleich sich auch bei Weisse Mängel in der Durchführung zeigen. Vgl. K, Hegels Religionsphilosophie und die Grundzüge des spekulativen Theismus, 15. Schneider beurteilt Weisses Hegelkritik hingegen vernichtend: Weisses Hegelkritik sei im Wesentlichen eine selbstimmunisierte Proklamation von Aporien Hegelscher Philosophie in metaphorischen Bildern, die ihren Maßstab allein in der Befindlichkeit Weisses habe. Vgl. S, Personalität und Wirklichkeit, 224. 46 Vgl. K, Hegels Religionsphilosophie und die Grundzüge des spekulativen Theismus, 150. 47 Vgl. C H W: Die Idee der Gottheit. Eine philosoph. Abhandlung, Dresden 1833, 289. 48 Vgl. S, Personalität und Wirklichkeit, 217. 49 Vgl. C H W: Philosophische Dogmatik oder Philosophie des Christentums, Leipzig 1855, 267. Vgl. zu dieser Stoßrichtung des spätidealistischen Theismus M N: Der „Organismus der übersinnlichen Welt“. Zum Religionsbegriff bei Christian Hermann Weisse (1801–1866), in: Georg Pfleiderer (Hg.): Die Religion der Bürger. Der Religionsbegriff in der protestantischen Theologie vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 2021, 356–385, hier 358. 50 Weisse nimmt nur implizit Bezug auf Jacobi, bleibt selbst aber eine Begründung des Zusammenhangs von Pantheismus, Atheismus und Nihilismus schuldig. Vgl. S, Personalität und Wirklichkeit, 226.

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verfällt, und der Eindruck der Kahlheit, Abgestorbenheit und maschinenmäßigen Einförmigkeit, den die Weltansicht dieses Systems zurückläßt51.

Im Anschluss an Schelling erhebt Weisse hingegen die Lebendigkeit zur Grundsignatur des Seins und der Wirklichkeit.52 Lebendigkeit sei gerade dasjenige, was durch das System Hegels nicht erfasst werde.53 Die Wirklichkeit muss dagegen als ein organisches Ganzes verstanden werden, dessen Prinzip die freie Tat ist.54 Über den Begriff der Freiheit sollen die Grenzen des Begrifflichen gezogen werden und Freiheit selbst fungiert als Vermittlung von Denken und Sein.55 Dabei steht nicht die menschliche Freiheit im Fokus, sondern die Freiheit eines persönlichen Schöpfergottes, sodass theistische Spekulation zum Zentrum der spätidealistischen Philosophie Weisses avanciert. Erfahrungstheoretische Grundlegung der Religionsforschung: Die Kritik an Hegel und die Grundstoßrichtung seiner Philosophie überführt Weisse in eine Wissenschaftstheorie der Christentumsforschung. Weisse beabsichtigt mit seinem monumentalen Hauptwerk, der dreibändigen Philosophischen Dogmatik oder Philosophie des Christenthums, nicht weniger, als die Aufgabenfelder der Systematischen Theologie, Dogmatik und Glaubenslehre zu erfüllen.56 Der Titel ist wechselseitig zu verstehen: Philosophie des Christentums nimmt sich die christlichen Glaubensinhalte zum Gegenstand und tut dies zugleich aus einer christlichen Perspektive, wenngleich sie sich vor den Richterstuhl allgemeiner Vernunft soll rechtfertigen können.57 Dabei versucht Weisse, das idealistische Erbe mit den Anforderungen eines erstarkenden Positivismus zu verbinden. Nach Anstößen durch Kant aber vor allem in Folge der Vernunftkritik von Jacobi und den Arbeiten von Herder und Hamann beobachtet Weisse eine allgemeine Hinwendung der Theologie zu einer empirischen Methode.58 Auf die Glaubensinhalte des Christentums kann sich die Philosophie folglich nur mittelbar beziehen. Unmittelbar sind der Philosophie nur vollzogener religiöser Glaube einerseits und geschichtliche Offenbarungsurkunden andererseits gegeben.59 Die Glaubenswissenschaft speist sich „aus der religiösen Erfahrung und aus dem geschichtlichen Material der Offenbarungsthatsachen“60. 51

C H W: Grundzüge der Metaphysik, Hamburg 1835, 513. Vgl. a. a. O., 511. 53 „Ausgangspunkt der Gedankenentwicklungen der spekulativen Theisten ist nämlich ein tiefes Unbehagen gegenüber Hegels als kalt, blutleer und logifiziert empfundener Fassung des Absoluten, das sich aus ihrer Sicht in abstrakter und blinder Dialektik gewissermassen technokratisch seinen Weg durch Natur, Bewusstsein und Geschichte bahnt.“ N, Religionsbegriff bei Weisse, 358. 54 Vgl. K, Hegels Religionsphilosophie und die Grundzüge des spekulativen Theismus, 150. 55 Vgl. ebd. 56 Vgl. W, Philosophische Dogmatik I, 10. 57 Vgl. a. a. O., 1–6. 58 Vgl. a. a. O., 22. 59 Vgl. a. a. O., 12. 60 A. a. O., 14. 52

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Im Hintergrund dieser Überlegungen steht eine erfahrungstheoretische Bestimmung des Religionsbegriffs. Religion wird als Unterkategorie des Gattungsbegriffs der Erfahrung eingeordnet.61 Der dabei in Anschlag gebrachte Erfahrungsbegriff verbindet eine Zuständlichkeit in Form von Empfindungen und Gefühl als subjektives Moment mit einem Gegenstandsbezug als objektivem Moment.62 Er verspricht einen Mittelweg zwischen erfahrungslosem Denken und gegenstandslosem Gefühl.63 Dieses Verständnis von Religion als speziellem Typ von Erfahrung verbindet Weisses Konzeption – laut Lipsius – grundlegend mit der Religionskonzeption Schleiermachers.64 Weisse selbst erkennt in seiner Betonung eines gegenständlichen Moments religiöser Erfahrung hingegen eine entscheidende Differenz zu Schleiermachers Verortung der Religion im Gefühl. Ihr fehle einerseits der Gegenstandsbezug religiöser Erfahrung und andererseits werde die menschliche Geistesaktivität als Komponente religiöser Erfahrung nicht ausreichend gewürdigt. Weisse will einerseits Schleiermachers Bestimmung der Religion als im Kern vorbegriffliches Phänomen aufgreifen, die damit verbundene Relativierung der Gottesidee für eine allgemeine Religionstheorie jedoch abwehren.65 Vielmehr ist das vorprädikative Moment der Zuständlichkeitserfahrung von Religion mit einer subjektiv vermittelten und dann auch prädikativen Form des Bezugs auf eine Quelle der Zuständlichkeit zu verbinden. Doch selbst das subjektive Moment der Erfahrung kann nicht als reine Rezeptivität bestimmt werden, da es bereits durch menschliche Einbildungskraft geformt und durch Vorstellungen vermittelt ist.66 Alle menschlichen Geisteskräfte sind zugleich an religiöser Erfahrung beteiligt.67 Eine Isolierung eines Kerns der Religion jenseits von Wissen und Tun lehnt er damit ab. Vor diesem Hintergrund beurteilt Weisse auch Schleiermachers Konzept der schlechthinnigen Abhängigkeit als irreführend. Er übersehe eine „Wechselseitigkeit des Abhängens“68. Denn Abhängigkeit impliziert eine Relation auf ein ,Woher‘ der Abhängigkeit. Diese Relation kann dem Menschen jedoch nur unter Voraussetzung der Vorstellung oder des Wissens von einem solchen ,Woher‘ gegeben sein.69 An dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit sei der Mensch also immer schon konstituierend durch eigene Aktivität beteiligt.

61

Vgl. a. a. O., 15. Vgl. a. a. O., 24–25. 63 Vgl. L, Philosophie und Theologie im Spätidealismus, 70. 64 Vgl. L, Rez. Weisse 1857, 543. 65 Zum Zusammenhang von Schleiermachers Religionstheorie mit einer Relativierung des dogmatischen Theismus vgl. U B: Die Religionstheorie der ,Reden‘. Schleiermachers theologisches Modernisierungsprogramm, in: Ders.: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 259–289, hier 275. 66 Vgl. W, Philosophische Dogmatik I, 31. 67 Vgl. a. a. O., 46. 68 A. a. O., 47. 69 Vgl. ebd. 62

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I. Die Formierungsphase 1830–1876

Nach Weisse lässt sich der Gegenstandsbezug der Religion darüber hinaus als Erfahrung des höchsten Guts konkretisieren. Durch ihren Gegenstand ist sie eine Form sittlicher Erfahrung. Sie verweist auf eine überweltliche teleologische Lebensgemeinschaft vernunftbegabter Personen mit Gott.70 Damit rückt das Konzept des Himmelreichs oder auch Reich Gottes ins Zentrum von Weisses Religionsbegriff und Religion wird damit zugleich – im Gegensatz zu Schleiermachers Reden – dezidiert theistisch enggeführt. Er ist stark auf Gemeinschaftsbildung im historischen Werdeprozess bezogen. Doch der Einheitspunkt der sittlichen Lebensgemeinschaft liegt außerhalb der Erscheinungswelt.71 Die Erfahrung des höchsten Guts verweist demnach auf eine sittliche Entelechie der Wirklichkeit, die ihr von außen eingestiftet ist. Einerseits äußert sich diese in einer Vorstellung vom Guten und andererseits in der Kraft des Menschen zur Sittlichkeit.72 Religiöse Erfahrung verweist so auf eine transzendente Konstitution menschlichen Geisteslebens und menschlicher Freiheit, welche sittliche Wirklichkeitsgestaltung eröffnet. An anderer Stelle macht er jedoch explizit, dass dies nicht als Engführung der Religion auf Sittlichkeit verstanden werden sollte. Religion lässt sich insgesamt weder auf theoretisches, ästhetisches oder praktisches Bewusstsein des Menschen zurückführen, noch ist sie von einem dieser Bereiche gänzlich ablösbar. Vielmehr adressiert sie einen mysteriösen Grund aller menschlichen Geistestätigkeit: Der innerste Mittelpunct jeder Religion ist weder eine Lehre, noch eine Kunstgestalt, noch auch eine sittliche Vorschrift; sondern ein Mysterium, d. h. eine durch keinen abstracten Begriff vollständig zu erschöpfende Beziehung des Menschlichen auf das Göttliche, ein Band zwischen beiden, welches aus speculativen, ästhetischen und ethischen Momenten, die in ihm zu Symbolen jener Vereinigung werden, auf eigentümliche Weise zusammengewoben ist.73

Weisses Offenbarungsbegriff: So entwickelt sich nach Weisse auch ein allgemeiner Begriff der Offenbarung aus seinem Religionsbegriff. Offenbarung ist die Erfahrung einer transzendenten Konstitution menschlichen Geisteslebens durch Gott. Das menschliche Geistesleben wird grundlegend gefasst als Möglichkeit, sich im Denken, Handeln und Vorstellen zu sich und der Welt zu verhalten. Es ruht einer Freiheit im Sinne einer Erhebung über natürliche Abhängigkeit und Notwendigkeit auf. Das Eröffnen dieser Freiheit wird als „Lebensmittheilung des göttlichen Geistes an den menschlichen“74 verstanden. Der allgemeine Offenbarungsbegriff ist auf jede originelle Erfahrung oder schöpferische Tat des Menschen bezogen

70

Vgl. a. a. O., 48. Vgl. L, Philosophie und Theologie im Spätidealismus, 71. 72 Vgl. W, Philosophische Dogmatik I, 48. 73 D.: Ueber das Verhältniß des Publicums zur Philosophie in dem Zeitpuncte von Hegel’s Abscheiden. nebst einer kurzen Darlegung meiner Ansicht des Systems der Philosophie, Leipzig 1832, 80 f. 74 D., Philosophische Dogmatik I, 77. 71

2. Die vermittlungstheologischen Anfänge – Leipzig 1848–1861

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und verweist auf ihren Grund in Gott.75 Er bezeichnet bei Weisse also die göttliche Stiftung einer Lebensgemeinschaft von Gott und Mensch, die sich maßgeblich in menschlicher Freiheit äußert. Die Wirklichkeit mitsamt dem menschlichen Geistesleben und die darin innewohnende Entelechie wird auf eine Tätigkeit Gottes, das Ursubjekt, zurückgeführt. Denn ohne die Voraussetzung einer ausdrücklichen Thätigkeit Gottes, einer Lebensmittheilung des göttlichen Geistes an den menschlichen bliebe der Begriff jener Lebensgemeinschaft des Menschlichen und des Göttlichen undenkbar, in welchem wir doch den allgemeinen und wesentlichen Inhalt alles Religionsglaubens, den Grund und Kern des religiösen Gefühls erkannt haben.76

Der Begriff der Offenbarung markiert dabei dasjenige, was über logische, reinrationale Bestimmungen der Wirklichkeit hinausweist.77 Durch den allgemeinen Begriff der Offenbarung wird die Erfahrung des höchsten Guts und die Stiftung des menschlichen Geisteslebens auf eine persönliche Aktivität Gottes zurückgeführt und somit von logischer Determination abgehoben. Zugleich ist damit eine transzendente Abhängigkeit menschlichen Geisteslebens behauptet.78 Jedoch wird diese im Menschen nur in einer subjektiven Darbietungsgestalt repräsentiert, welche durch Vorstellung und Fantasie vermittelt ist. Gerade aus dieser Vermittlung leitet Weisse die Vielfalt der Religionen ab. Zwar versteht er Religion ausdrücklich nicht individualistisch, sondern betont demgegenüber den kollektiven Charakter religiöser Erfahrung: „Sie ist Erfahrung nicht der Einzelnen als Einzelner, sondern eines Kreises vieler Einzelner, welche die Erfahrung sich erwerben, indem sie durch wechselseitige Thätigkeit auf einander und mit einander ihren Inhalt erzeugen.“79 Nicht der Erfahrungsschatz von einzelnen Individuen bildet die Basis der Glaubenswissenschaft, sondern die kommunizierte Erfahrung religiöser Gruppen. Von solchen Kommunikationsgemeinschaften religiöser Erfahrung gibt es jedoch viele. Trotzdem kann es nach Weisse nur eine wahre Religion geben. Denn es gibt nur ein höchstes Gut. Aus christlicher Perspektive wird daher die Offenbarung im engeren Sinn an die Religion des Alten und Neuen Testaments gebunden.80 Dieser engere Begriff der Offenbarung ruht der

75 Vgl. ebd. Hier ist Weisse explizit an Schleiermachers Offenbarungsbegriff der Reden orientiert. „Was heißt Offenbarung? jede ursprüngliche und neue Anschauung des Universums ist eine, und Jeder muß doch wohl am besten wißen was ihm ursprünglich und neu ist, und wenn etwas von dem, was in ihm ursprünglich war, für Euch noch neu ist, so ist seine Offenbarung auch für Euch eine, und ich will Euch rathen sie wohl zu erwägen.“ F S: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe. Schriften aus der Berliner Zeit 1796–1799, Berlin 1984, 185–326, hier 240. 76 W, Philosophische Dogmatik I, 77. 77 Vgl. L, Philosophie und Theologie im Spätidealismus, 17. 78 Vgl. W, Philosophische Dogmatik I, 48. 79 A. a. O., 50. 80 Vgl. a. a. O., 77–80.

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I. Die Formierungsphase 1830–1876

These auf, dass sich das höchste Gut erst im Christentum voll erfahrbar gemacht hat. Jesus Christus tritt dabei als die persönliche und urbildliche Verwirklichung der vollkommenen Menschheit auf. Er ist daher der Kulminationspunkt einer Geschichte, welche die Offenbarung Gottes im engeren Sinne ist.81

b. Freiheit und Lebendigkeit – Lipsius’ frühe Weisse-Studien Die Philosophische Dogmatik Weisses ist für die Formierungsphase von Lipsius’ Theologie von kaum zu überschätzender Bedeutung. Allerdings übt Lipsius wiederholt Kritik an der kryptischen sprachlichen Gestalt und der Schriftexegese von Weisses Opus magnum. Abgesehen hiervon wissen wir uns mit der durch das ganze Werk hindurchgehenden philosophischen und religiösen Grundanschauung des Verfassers nicht nur von Herzen eins, sondern stehen auch nicht an, diese ,philosophische Dogmatik‘ als die seit Rothe’s und des jüngeren Fichte theologischen Leistungen bedeutsamste Erscheinung auf dem Gebiete der systematischen Theologie zu bezeichnen.82

Weisses Werk ist in den folgenden Jahren die oftmals implizite Hauptreferenz Lipsius’. In einem späteren autobiographischen Rückblick nennt Lipsius gerade Weisse neben Schleiermacher als entscheidende prägende Gestalt: Auf den Jüngling [sc. Lipsius] gewann der Fichtesche Idealismus […] den entscheidenden Einfluß, ohne daß mir der Glaube an den persönlichen Gott dadurch wankend geworden wäre. Dann wirkte Hegel, besonders dessen Religionsphilosophie auf mich ein. Ich glaubte fertig zu sein und war es doch nicht. Die Schriften der Hegelschen Schule zogen mich mächtig an, die beschäftigten mein Denken, ohne mein Gemüt befriedigen zu können. Dann haben mich Weißes philosophische Dogmatik von den Verlockungen zum Pantheismus, Schleiermachers Glaubenslehre von der Neigung, das Christentum in philosophische Ideeen [sic!] aufzulösen, befreit.83

In diesem Rückblick stellt Lipsius die fundamentale Hegelkritik in den Vordergrund. In seiner ersten Rezension zu C. H. Weiße’s neueste theologische Schriften von 1857 schließt sich Lipsius ihr explizit an. Auch für ihn stellt die Philosophie Hegels und seiner Epigonen eine abstrakte Negierung jeglicher Lebendigkeit der Wirklichkeit durch ein deterministisches Vernunftsystem dar. Hegels Monismus des Gedankens gilt auch ihm als verhängnisvoll.84 Dagegen stellt er heraus: Gott geht mit seinem Leben ein in die Welt als das sie belebende, beseelende und gestaltende Princip; das Leben der Welt ist ein Leben aus Gott, ihre unendliche Gestaltenfülle nichts als die Offenbarung einer ewigen innergöttlichen Gestalten- und Ideenwelt85.

81

Vgl. R, Protestantische Theologie der Neuzeit I, 656. L, Rez. Weisse 1860, 630. 83 D., Bücherkleinode evangelischer Theologen, 94–95. 84 Vgl. ., Rez. Weisse 1857, 544. 85 A. a. O., 541.

82

2. Die vermittlungstheologischen Anfänge – Leipzig 1848–1861

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Der spekulative Theismus erkennt in der Gestaltenfülle der Wirklichkeit eine umfassende Offenbarung des lebendigen Gottes, aus dem heraus alle Wirklichkeit zu begreifen ist. Die dabei in Anschlag gebrachte Vorstellung von Lebendigkeit wird – ganz in den Bahnen der grundlegenden Hegelkritik – gegen alle Versuche gewendet, das logische Denken des Menschen allein als privilegierte Erfassungsform von Wirklichkeit zu bewerten. Nicht nur das logische Denken ist philosophisch relevant, sondern jede menschliche Geistesfunktion. So deutet Lipsius beispielsweise Weisses Ästhetik als einen Versuch, im Schönen etwas auszumachen, das dem Begriff ebenbürtig ist und nicht angemessen durch den Begriff allein erfasst werden kann. Auch in ihr ist die folgenreiche Einsicht eröffnet, daß an die concrete Fülle des Lebens das anatomische Messer des logischen Begriffs nicht heranreicht, und daß jeder Versuch, die schöpferische Werdelust des Lebendigen durch jenes ,Eins, Zwei, Drei‘ der Logik in die Kategorien des Verstandes zu bannen, nur dahin ausschlagen könne, den Geist hinauszutreiben und von ,der lebendigen Natur, da Gott den Menschen schuf hinein‘, nichts als ,Thiergeripp und Totenbein‘ übrigzulassen.86

Lipsius beurteilt diese Erhabenheit des Lebendigen über die reine Logik als eine Einsicht, welche die protestantische Dogmatik revitalisiert.87 Ihr korrespondiert nämlich eine wissenschaftstheoretische Grundlegung der Religionsforschung, die nach Lipsius wegweisend für protestantische Theologie ist und wichtige Anstöße Schleiermachers aufgreift. Dennoch deutet sich auch grundlegende Kritik an Weisses Philosophie bereits in Lipsius’ Rezensionen an. Gegenüber der engen Verzahnung von Philosophie und Theologie, der Lipsius weitestgehend zustimmt, deutet Lipsius eine relative Selbstständigkeit beider Disziplinen an. In jedem Fall darf der Phänomenbestand der Religion nicht durch psychologische oder kulturhistorische Erklärungsmodelle reduziert werden.88 Der Dogmenbestand des Christentums soll im Gegenzug auch antastbar für wissenschaftliche Forschung und philosophische Kritik bleiben. Die Eigenheiten von Glaube und Wissenschaftlichkeit sollen gewahrt werden, sodass letztlich eine Perspektivendifferenz von Theologie als Glaubenswissenschaft und Philosophie als Vernunftwissenschaft bestehen bleibt, welche Lipsius noch nicht näher erläutert. Den Freiheitsbegriff von Weisses Philosophischer Dogmatik beurteilt Lipsius ambivalent im Verlauf seiner Rezensionen. In seiner Rezension des ersten Bandes von 1857 nimmt Lipsius noch großen Anstoß an dem Freiheitsbegriff Weisses. Er kritisiert, dass Freiheit vorrangig durch Spekulation über innergöttliche Freiheit thematisiert wird.89 Seine Vorbehalte konkretisiert er an dieser Stelle nicht weiter. Vor dem Hintergrund späterer Grundsatzkritik an der schellingschen Spekulation über eine Natur in Gott bei Weisse, liegt es nahe, dass weniger der Freiheits-

86

A. a. O., 542. Vgl. ebd. 88 Vgl. ., Rez. Weisse 1865, 543–545. 89 Vgl. ., Rez. Weisse 1857, 547. 87

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I. Die Formierungsphase 1830–1876

begriff als die theistische Spekulation Stein des Anstoßes ist.90 Dafür spricht auch, dass sich Lipsius in seiner Rezension des zweiten Bandes von 1860 vorbehaltlos dem Freiheitsbegriff Weisses anschließt und in ihm das Zentrum der Philosophie Weisses erkennt. Weisses Freiheitsbegriff wird als eine produktive Weiterentwicklung des kantischen Konzepts der transzendentalen Freiheit beurteilt.91 Dabei werde die Freiheit jedoch stärker mit dem naturkausalen Geschehen verbunden gedacht, als es der kantische Dualismus von Naturkausalität und transzendentaler Freiheit zulasse. Leise deutet sich hier bereits an, dass Lipsius eine Freiheitskonzeption sucht, die ihr Verhältnis zur kantischen Freiheitsphilosophie deutlicher geklärt hat, ohne sogleich voll und ganz für Kant zu votieren. Eine Konkretisierung bleibt er jedoch diesbezüglich ebenfalls noch schuldig. In seiner Rezension des dritten Bandes der Philosophischen Dogmatik von 1865 betont er noch einmal den hohen methodischen Stellenwert des Weisseschen Freiheitsbegriffs. So lange aber darüber kein Einverständnis erzielt ist, daß nur die Freiheit, welche der Geist ist, oder die concrete, das Gesetz ihres eignen Wesens durch lebendige Selbstbethätigung aus sich herausstellende Subjectivität das substantiell gediegene Realprincip alles Speculierens zu bilden habe, ist auch der spinozistische Substanzbegriff im tieffsten Grund noch nicht überwunden, eben damit aber auch das partielle Hinausschreitenwollen über Hegel noch nicht wissenschaftlich gerechtfertigt.92

Es braucht demnach ein methodisches Primat der Freiheit in aller philosophischen Systembildung. Lipsius bezeichnet zwar Weisses Überlegungen zur anthropologischen Freiheit als treffend.93 Er vermisst jedoch das volle methodische Primat der Freiheit auch in Weisses Philosophischer Dogmatik. Auch in Weisses spekulativem Theismus bleibe das Denken die Substanz der Wirklichkeit, so Lipsius.94 Damit wendet er Weisses Hegelkritik auf Weisse selbst an. Es deutet sich an, dass Lipsius die spätidealistische Abstoßbewegung vom hegelianischen Erbe radikaler zu vollziehen sucht. Er fordert so gegen seinen Lehrer ein, Theologie noch konsequenter von dem endlichen Menschen und seiner Perspektivität aus zu konzipieren und hebt methodisch spekulative Momente stärker von der wissenschaftlichen Religionsforschung ab. Wie Lipsius dies konzipieren möchte, legt er jedoch erst programmatisch in seiner Jenaer Phase offen.95 Bis dahin prägt Lipsius in anderen Kontexten und Diskurskonstellationen eine theologische Liberalität aus, die sich mit den frühen Tendenzen, wie sie in seinen Weisse-Rezensionen greifbar sind, verbindet. 90 Exemplarisch: „Auch die Bemühungen von Schelling und Weisse, zwar nicht das quod deus sit (seine existentia), wol aber das quid sit (seine essentia) aus reinem Denken zu ergründen, bleiben zur Hälfte in den Hegel’schen Selbsttäuschungen befangen.“ D.: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik, Braunschweig 21879, 221. 91 Vgl. ., Rez. Weisse 1860, 627. 92 D., Rez. Weisse 1865, 553. 93 Vgl. a. a. O., 560–561. 94 Vgl. a. a. O., 556. 95 Dazu siehe das Kapitel I.5.a.

3. Liberalität in der Diaspora – Wien 1861–1865

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3. Liberalität in der Diaspora – Wien 1861–1865 Die Leipziger Zeit von Lipsius endet 1861 durch einen Ruf an die protestantischtheologische Fakultät Wien als ordentlicher Professor für evangelische Dogmatik, Symbolik, Augsburger Confession und christliche Ethik.96 Er las in Wien hauptsächlich Dogmatik, Enzyklopädie, Ethik, Symbolik und theologische Literaturkunde.97 Nichtsdestoweniger scheint seine Wiener Wirkphase für eine systematisch-theologische Werkbiografie auf den ersten Blick unergiebig zu sein. Im Vordergrund stand vielmehr die Veröffentlichung seiner Studien zur Gnosis. Kirchenpolitisch engagierte sich Lipsius im österreichischen Unterrichtsrat und wurde Abgeordneter der ersten österreichischen Generalsynode.98 Die Wiener Jahre blieben ein kurzer Lebensabschnitt. Bereits 1865 erging ein Ruf aus Kiel an Lipsius, den er trotz Versuchen des Staatsministers Anton von Schmerling, ihn in Wien zu halten, annahm.99 Dennoch können den Wiener Jahren von Lipsius wichtige Anzeichen eines zunehmend liberaltheologischen Selbstverständnisses abgewonnen werden. Lipsius’ Gang nach Wien fällt in eine Zeit des rechtlichen Aufschwungs der protestantischen Minderheit Österreichs.100 Sinnbildlich dafür steht der Erlass der Protestantengesetze im gleichen Jahr, welche eine rechtliche Gleichstellung des Protestantismus im Staat festlegen sollten.101 Vor diesem Hintergrund berichtet Lipsius auch von einer liberalen Grundhaltung des österreichischen Protestantismus, die zu befördern er sich zur Aufgabe macht.102 So waren seine Wiener Jahre von einem intensiven Engagement zur Festigung eines liberalen Protestantismus in Österreich geprägt. Deutlichstes Zeugnis dafür ist die Anregung zur 96 Die Professur wurde ihm durch Vermittlung des Alttestamentlers Georg Gustav Roskoff (1814–1889) und des theologischen Altertumsforschers Friedrich Daniel Schimko (1796–1864) vermittelt. Vgl. R, Lipsius Lebensbild, 25. 97 Vgl. R, Die Grundlegung der christlichen Dogmatik als Wissenschaft bei Lipsius, 7. 98 Vgl. R, Lipsius Lebensbild, 27. 99 Vgl. a. a. O., 28. 100 Das Bestehen einer evangelisch-theologischen Lehranstalt im Wien des 19. Jahrhunderts ist alles andere als selbstverständlich. Ihre Gründung wurde erst 1819 im Nachgang der Vormärz-Proteste gestattet, um zu verhindern, dass evangelische Theologiestudierende Universitäten Deutschlands besuchen müssen. Vgl. G M: Geschichte des Protestantismus in Österreich, Graz/Köln 1956, 211. 1821 wurde die evangelisch-theologische Lehranstalt in Wien gegründet. Allerdings hat sie erst 1850 den Status der Fakultät mit entsprechender Forschungs- und Lehrfreiheit erhalten. Das Promotionsrecht folgte 1861 in dem Jahr der Berufung Lipsius’. In die Wiener Universität wurde die Evangelisch-theologische Fakultät schließlich 1922 eingegliedert. Vgl. G F: 150 Jahre, in: Gottfried Fitzer (Hg.): Geschichtsmächtigkeit und Geduld. Festschrift der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, München 1972, 7–14, hier 10. 101 Für einen ausführlicheren Überblick über die rechtlichen Gleichstellungsprozesse der christlichen Konfessionen Österreichs vgl. M, Geschichte des Protestantismus in Österreich, 214–223. 102 Vgl. R, Lipsius Lebensbild, 26.

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I. Die Formierungsphase 1830–1876

Gründung einer evangelischen Wochenschrift, die Neuen Protestantischen Blätter für das evangelische Oesterreich.103 Von Theodor Haase herausgegeben bestand die Zeitschrift von 1865 bis 1869.104 Sie wendet die rückhaltlose Anerkennung freier theologischer Forschung programmatisch gegen eine diagnostizierte Entfremdung von Kirche und Kultur, von christlichem Glauben und „allgemeine[r] Weltbildung“105. Dafür soll einer durchgängigen Vereinbarkeit von wissenschaftlicher und religiöser Weltanschauung das Wort geredet werden. Aufschluss über die systematisch-theologische Entwicklung von Lipsius in Wien geben zwei vergleichsweise kurze Studien, die wichtige Weichenstellung für die weitere Entwicklung seines Werks offenlegen. 1862 hat er anonym eine weitgehend affirmative Würdigung Baurs mit Ferdinand Christian Baur und die Tübinger Schule vorgelegt, mit der er sich bereits als Anhänger liberaler Theologie zeigt. 1866 hat er zudem mit episodischen Studien zur Idee des göttlichen Reichs die Zentralstellung des Reich-Gottes-Gedankens betont, grundlegende Motive der späteren Reich-Gottes-Theologie von Ritschl vorweggenommen und seine Verhältnisbestimmung von Christentum und Kultur thematisiert.106

a. Freiheit und Geschichte – Ferdinand Christian Baur und die Tübinger Schule Ferdinand Christian Baur ist die herausragendste theologische Persönlichkeit seiner Zeit, schreibt Lipsius 1862 in seiner anonym veröffentlichten Würdigung Ferdinand Christian Baur und die Tübinger Schule.107 Nach Schleiermachers Tod, so Lipsius’ Urteil, muss Baur als die wichtigste theologische Gestalt im deutschsprachigen Raum gelten.108 Mit ihm ist eine neue Epoche der Theologie angebrochen. An die Stelle großer spekulativer Systementwürfe eines Schellings, Hegels oder auch Schleiermachers tritt die historisch-kritische Einzelforschung in nahezu allen Bereichen der Theologie.109 Baur ist die kennzeichnende Figur dieses Paradigmenwechsels, da er beiden Welten gleichermaßen angehört. Den zentralen Grund für diese große Bedeutung Baurs sieht Lipsius in der Integration allgemeiner geschichtswissenschaftlicher Methodik in die theologische Forschung.110 Das Bahnbrechende an Baurs Forschung und der seiner Tü-

103

Vgl. a. a. O., 27. Für die Selbstvorstellung des Programms der Zeitschrift vgl. T H: Programm, in: Neue Protestantische Blätter für das evangelische Oesterreich (1865) 1, 1–4. 105 A. a. O., 2. 106 R A L: Die Idee des göttlichen Reichs, in: Neue Protestantische Blätter für das evangelische Oesterreich (1866) 23–29, 181–184.189–191.197–200.205–208. 213–215.221–223.229–231. 107 Vgl. ., Ferdinand Christian Baur, 229. 108 Vgl. a. a. O., 233. 109 Vgl. a. a. O., 234. 110 Vgl. a. a. O., 237. 104

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binger Schule ist der Nachvollzug der Kirchengeschichte in den Kategorien weltlicher Geschichtswissenschaft. Konkret äußert sich dies in der Rekonstruktion der Kirchengeschichte in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen. Auch die Entstehung des Christentums selbst kann so nicht mehr als etwas unvermittelt Neues aufgefasst werden, sondern ist konsequent in die Entwicklungsgeschichte der Menschheit einzubetten.111 Sinnfällig äußert sich diese methodische Grundhaltung in der strikten Ablehnung eines absoluten Wunders im Sinne einer Durchbrechung des natürlichen Ursache-Wirkung-Geflechts. Eine historische Methodik, die Geschichte durch Wirkursachen erklärt, kann keine Phänomene umfassen, die sich durch ihre Unableitbarkeit auszeichnen sollen. Die Integration geschichtswissenschaftlicher Methodik ist nach Lipsius vollkommen zu befürworten. Allerdings geht Baur diesen Schritt nicht konsequent genug. Kritik übt er an Baurs philosophischen Geschichtsprinzipien. Den verbreiteten Vorwürfen, Baurs Arbeiten seien leere formalistische Geschichtskonstruktionen, stimmt Lipsius ausdrücklich nicht bei.112 Trotzdem ist in der Methode seiner Darstellung nicht zu verkennen, daß sie nur langsam und niemals völlig von der schwerfälligen Schuppenrüstung der Hegel’schen Terminologie, von den abstracten Kategorien Objectivität und Subjectivität, Identität und Differenz, Ansichsein und Fürsichsein u. s. w. sich losgerungen hat.113

Baur bleibe den Kategorien hegelscher Geschichtsphilosophie zu sehr verhaftet, um Geschichte als ein wirklich selbstständiges Phänomen zu erschließen. Die echte Positivität der Geschichte mit ihrer Widerspenstigkeit gegenüber einer rationalistischen Geschichtsrekonstruktion ist bei Baur noch nicht zur Geltung gekommen. Lipsius beruft sich auf die „nachhegel’sche Entwicklung philosophischen Denkens“114, wenn er zu einer fundamentalen Kritik an Baurs Vorstellung von geschichtlicher Entwicklung ansetzt und übernimmt hierbei Kritikmuster seines philosophischen Lehrers Weisse. Das Grundproblem an Baurs Geschichtsphilosophie betrifft „das Verhältnis, daß man in dieser Entwicklung dem Nothwendigen und dem Freien, dem Allgemeinen und dem Besondern, dem durch den Naturzusammenhang determinierten und dem schöpferisch in diesen Zusammenhang Eintretenden anweist.“115 Baurs Geschichtsphilosophie habe keinen Sinn für das „Individuelle, Originelle und Freie“116. Darin erliege sie dem hegelianischen Determinismus der Geschichte. Alles scheint sich aus einer inneren Notwendigkeit heraus zu vollziehen, sodass die Geschichte weder etwas Neues oder etwas Lebendiges kennt.

111

Vgl. R, Protestantische Theologie der Neuzeit I, 694. Vgl. L, Ferdinand Christian Baur, 235. 113 Ebd. 114 A. a. O., 238. 115 Ebd. 116 A. a. O., 239. 112

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,Der dogmatische Proceß erscheint‘, um mit Karl Schwarz zu reden, ,hier viel zu sehr als ein für sich bestehender, sich durch die eigene innere Dialektik forttreibender, als eine rein logische Bewegung, die sonst von nirgends her ihre Anregungen gewinnt, mit der Geschichte des christlichen Lebens und der christlichen Sitte in keinem nothwendigen Zusammenhang steht. Das Dogma schwebt so gleichsam in der Luft, losgelöst von den unmittelbaren Mächten des Lebens, aus denen es seine Impulse empfängt, aus denen es wie die Pflanze aus dem mütterlichen Boden der Erde hervorwächst.‘117

An die Stelle einer an Hegel orientierten Geschichtsphilosophie, welche Geschichte nur als eine notwendige logische Selbstentfaltung des Begriffs verstehe, soll eine Geschichtsphilosophie auf der „breiten Basis eines Systems der Freiheit, die geschichtliche Entwicklung als ein stetes Ineinander von natürlich wirkenden Ursachen und übergreifenden teleologischen Principien darzustellen“118, treten. So fordert er gegenüber Baur etwas, das geschichtsphilosophischer Kompatibilismus genannt werden kann: So ist alles Neue und Originale zwar durch den natürlichen Verlauf der jedesmal nidern Daseinsstufe bedingt und in seiner Selbstbethätigung an die bereits in Wirksamkeit getretenen Gesetze gebunden, es ist aber trotzdem, sofern es eine wirklich neue Reihe von Erscheinungen begründet, nicht durch die Kette empirisch wirkender Ursachen determinirt, sondern gegenüber dem bisher Erlebten eine neue Schöpfung, ein in seiner ursprünglichen Eigenart nicht aus dem erscheinenden Naturzusammenhang und den bereits in Thätigkeit gesetzten wirkenden Kräften, sondern nur aus dem absoluten göttlichen Schöpfungszwecke, der sich in dem System endlicher Zwecke Stufe für Stufe realisirt, zu erklären.119

Lipsius will den geschichtlichen Prozess als einen geschlossenen naturkausalen Zusammenhang verstanden wissen, sodass alles Geschehen in einem UrsacheWirkungs-Geflecht steht. Allerdings soll der geschichtliche Prozess nicht darauf reduziert werden. Für Lipsius ist es mit der naturkausalen Geschlossenheit des geschichtlichen Prozesses vereinbar, dass teleologische Prinzipien wirken und neues Unableitbares aus den historischen Ursachen erwächst. Ohne diese Kompatibilität von Naturkausalität und Teleologie näher zu erläutern, insinuiert Lipsius hier eine Perspektivendualität auf geschichtliche Entwicklungsprozesse. Auf der einen Seite stehen empirische Beschreibungsmuster der Bedingtheit historischer Geschehnisse durch vorangehende historische Konstellationen. Auf der anderen Seite stehen daraus emergierende Erscheinungen des Neuen, historisch Unableitbaren. Dieses Neue soll dabei nicht als Bruch mit vorausgehenden Kausalitäten verstanden werden, sondern als etwas, das sich durch das kausal geschlossene historische Geflecht hindurch herausbilden kann. Solche Phänomene historischer Emergenz eröffnen dabei eine komplementäre Beschreibungsebene der Geschichte, die nicht nach Wirk-, sondern Zweckursachen fragt. Diese weitere Beschreibungsebene verlässt den geschichtspositivistischen Bereich und er117

Ebd. Ebd. 119 A. a. O., 240. 118

3. Liberalität in der Diaspora – Wien 1861–1865

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hält dabei spekulative Züge. Diese spekulativen Momente werden jedoch nicht gegen die historische Forschung gewendet, sondern auf ihre gegenseitige Vereinbarkeit befragt. So kann nach Lipsius eine Glaubensperspektive auf die Geschichte an die geschichtswissenschaftlichen Arbeiten gerade durch ihre methodische Begrenzung anknüpfen. Eine teleologisch geleitete Emergenz aus der Geschichte kann nach Lipsius als Heilsgeschichte interpretiert werden. Gerade dadurch, dass die Heilsgeschichte auf Emergenz beruht, kann sie jedoch nicht auf allgemeine Prozesse restringiert werden. Sie kennt Individuelles, Besonderes und Freies. Emergente Geschichtsphänomene können als von den Naturzwängen freie Phänomene erschlossen werden. Gerade an diesen Phänomenen des Individuellen und Freien scheitert Baurs Methodik. Sie nimmt das Historische immer nur im Bezug auf das Allgemeine in den Blick.120 Für Lipsius falsifiziert dieser Mangel keinesfalls Baurs Forschungen. Sie sind dadurch allerdings ergänzungsbedürftig. Es braucht auch eine Kirchengeschichtsschreibung mit Sinn für das Individuelle. Dabei schweben Lipsius vor allem die vorrangig biografischen kirchengeschichtlichen Arbeiten Karl von Hases vor.121 Seine Würdigung der Theologie Baurs schließt Lipsius dennoch mit einem grundlegenden Bekenntnis zu Baurs Motiven. Der theologische Paradigmenwechsel hin zur historisch-kritischen Erforschung des Christentums ist entschieden zu vollziehen. Daß aber durch die unbestochene Erforschung der geschichtlichen Wahrheit der Glaube an den göttlichen Ursprung des Christenthums erschüttert und die einzige Herrlichkeit Jesu Christi verdunkelt, oder das Wort zum Kreuz abrogirt werden könne, ist doch nur eine trübe Phantasie kleingläubiger Seelen, welche zwischen den großen Heilsgedanken des lebendigen Gottes und der Knechtsgestalt, welche dieselben bei ihrem Eintritt in die Weltund Menschengeschichte annehmen müssen, nicht zu unterscheiden verstehen.122

Mit seiner Würdigung Ferdinand Christian Baurs zeigt Lipsius einerseits sein liberal-theologisches Selbstverständnis und bindet dieses vor allem an der Anerkennung allgemeiner Grundprinzipien freier und kritischer Forschung. Andererseits macht er deutlich, wie umfassend er nachhegelianische Entwürfe eines Systems der Freiheit rezipiert. Dabei wird der Freiheitsbegriff gegen logischen Determinismus philosophischer Großsysteme gewendet, wie er ihn mit Weisse in

120

Vgl. a. a. O., 241. Vgl. ebd. Dieser Verweis auf Karl von Hase kann zudem auch als Kommentar zur literarischen Kontroverse zwischen Baur und von Hase von 1855 beurteilt werden. Baur hat in seiner Schrift Die Tübinger Schule. Sendschreiben an Hase gegenüber Hase verteidigt, dass Kirchengeschichte als die dialektische Entfaltung der Idee der Kirche gefasst werden und daher der logische Zusammenhang der Geschichte herausgestellt werden müsse. Hase reagiert mit Die Tübinger Schule. Ein Sendschreibung an Herrn Dr. Ferdinand Christian von Baur. Hase verteidigt dabei sein vorwiegendes Interesse an biographischer Arbeit, die das Individuelle herausstellt und attackiert Baurs Konstruktion des geschichtlichen Zusammenhangs. Vgl. R, Protestantische Theologie der Neuzeit I, 699. 122 L, Ferdinand Christian Baur, 254. 121

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I. Die Formierungsphase 1830–1876

der Philosophie Hegels am Werk sieht. Lipsius’ Werbung für einen geschichtsphilosophischen Kompatibilismus und seiner daraus hervorgehenden Verknüpfung eines geschlossenen Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs mit teleologischen Prinzipien erhält im Rahmen der Würdigung Baurs noch keine ausreichende theoretische Fundierung. Es deutet sich hier jedoch bereits eine zentrale Doppelperspektivität des theologischen Denkens bei ihm an, die ein bestimmendes Motiv seines weiteren Werks darstellt. So soll auf der einen Seite das Christentum für eine vorbehaltlose historisch-kritische Erforschung nach allgemeinen wissenschaftlichen Standards und seine historistische Ableitung geöffnet werden und auf der anderen Seite eine abgehobene Perspektive mit Sinn für das Freie und Individuelle in der Geschichte des Christentums bewahrt werden, das sich nicht restlos mit den Mitteln allgemeiner Geschichtswissenschaft erfassen lässt und doch mit ihr kompatibel gehalten werden muss.

b. Freiheit und Kultur – Die Idee des göttlichen Reichs Die Idee des göttlichen Reichs bezeichnet Lipsius 1866 als eines der am meisten vernachlässigten dogmatischen Lehrstücke. So hat er ihm sieben episodisch erschienene Artikel in den Neuen Protestantischen Blättern für das evangelische Oesterreich gewidmet. Wenngleich sie nach Lipsius’ Wechsel nach Kiel erschienen sind, können sie durch ihren Veröffentlichungsort noch zu seiner Wiener Wirkphase gerechnet werden. Die Ausführungen bieten weniger schultheologische Auseinandersetzungen des Reich-Gottes-Konzepts als ein populär gehaltenes Plädoyer für seine zentrale Stellung. Nichtsdestoweniger sind die Artikel aufschlussreich für einen werkbiografischen Blick, da Lipsius hier einerseits früh eine später oft mit Ritschl verbundene sozialethische Stoßrichtung verfolgt. Ritschl ist als systematischer Theologe und prominentester Reich-Gottes-Theologe mit seinem erst ab 1870 veröffentlichten Hauptwerk Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung hervorgetreten. Andererseits bringt Lipsius hier seine Verhältnisbestimmung von Christentum, Kirche und Kultur markant zum Ausdruck. Ihren Ausgang nehmen die Artikel mit Lipsius’ Klage über eine Marginalisierung des Reich-Gottes-Gedankens. Die Dogmatik seiner Zeit – vor allem konfessionell-positiver Ausrichtung – räumt ihm nicht die nötige Zentralstellung ein und dort, wo er verhandelt wird, wird er zur Abschottung christlichen Lebens von der allgemeinen menschlichen Kultur mobilisiert. Gerade das Gewaltigste an der christlichen Idee des göttlichen Reichs, ihre großartige Universalität, welche die ganze Welt und Menschheit durchdringen will, ist hier in eine aparte, weltscheue, nur ein ganz kleines Gebiet des Lebens umspannende und auch dieses nur nach einer kleinlich zugeschnittenen Methode bearbeitende Frömmigkeit verkehrt.123

123

D., Die Idee des göttlichen Reichs, 182.

3. Liberalität in der Diaspora – Wien 1861–1865

43

Demgegenüber nennt Lipsius vor allem seinen philosophischen Lehrer Weisse, der die Zentralstellung des Reich-Gottes-Gedankens in der Predigt Jesu wieder herausgestellt hat, indem er die Lehre Jesu auf die Trias von himmlischer Vaterschaft, Sohnschaft und Himmelreich zuspitzt.124 Allen drei zentralen Begriffen schreibt auch Lipsius eine innere Verwobenheit zu. Sie sind ihm Ausdruck eines allgemeinen Ideals vollkommener Religiosität, das in Jesu Leben und Werk urbildlich verwirklicht ist. So ist die Rede von Jesus als Gottes Sohn zugleich Ausdruck eines Prinzips allgemeiner Gotteskindschaft menschlichen Lebens, die eine „innere, geistige Gemeinschaft Gottes mit dem Individuum, ein Verhältnis persönlicher Liebesgemeinschaft“125 meint. Der sittliche Gehalt dieses Ideals ist nach Lipsius eine religiöse Anerkennung und Adelung des menschlichen Persönlichkeitsgedankens.126 Mit der Rede von der Gotteskindschaft wird die Ausbildung freier menschlicher Persönlichkeit als „Princip weltgeschichtlicher Entwickelung gesetzt“127 und damit das göttliche Wirken in der Welt auf sie ausgerichtet. Den Reich-Gottes-Gedanken entwickelt Lipsius ausgehend von der Idee der Gotteskindschaft. Er „ist gar nichts anderes als die Idee der Sohnschaft bei Gott selbst, sofern dieselbe nicht blos in isolierten Individuen, sondern in einem lebendigen Gemeinwesen sich verwirklicht.“128 Freies persönliches Leben in Gemeinschaft wird mit dem Reich-Gottes-Begriff auf einen von Gott eröffneten Möglichkeitshorizont zurückgeführt. Um dies auszuführen, greift er auf die in ordnungstheologischem Vokabular gefasste Konzeption göttlicher Weltregierung aus Alexander Schweizers Christlicher Glaubenslehre zurück. Der zufolge vollzieht sich das göttliche Wirken in der Welt in den aufeinander aufbauenden Ebenen von einer Naturordnung, einer sittlichen Weltordnung und einer Heilsordnung.129 In der Naturordnung zeigt sich Gott als Grund allen natürlichen Geschehens, in der sittlichen Ordnung als weiser, gerechter Gesetzgeber und in der Heilsordnung als gnadenvolle Liebe.130 So erhält Gott einen gesetzlichen Zusammenhang des natürlichen Geschehens als Grundlage der Entstehung sittlichen Gemeinschaftslebens und gibt ihr eine moralische Ordnung, die er dem menschlichen Leben als äußerliche Forderung gegenüberstellt, an der ein Mensch aus sich heraus jedoch scheitert. Trotz dieses Scheiterns und unabhängig von Leistung oder äußerlichen Vorzügen eröffnet Gott schließlich im Rahmen der Heilsordnung Menschen seine befreiende Gnade, welche zum Leben als freie Persönlichkeit befähigt. Nach Lipsius ist der Reich-Gottes-Gedanke mit dieser Heilsordnung gleichzusetzen. Er meint ein universales geistig-sittliches Gemeinwesen, das auf göttliche Stiftung zurückgeführt wird. Die Natur- und Moralord124

Vgl. ebd. Ebd. 126 Vgl. a. a. O., 183. 127 Ebd. 128 A. a. O., 206. 129 Vgl. a. a. O., 189. 130 Vgl. A S: Christliche Glaubenslehre nach protestantischen Grundsätzen dargestellt, Leipzig 21877, 209–224. 125

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I. Die Formierungsphase 1830–1876

nung wird vor diesem Hintergrund teleologisch auf die religiöse Gemeinschaft des Menschen mit Gott als Verhältnis freier Persönlichkeiten hin geordnet.131 Zentral für Lipsius’ weitere Verhandlung des Reich-Gottes-Gedankens ist eine in ihm angelegte Verhältnisbestimmung von Sittlichkeit und Religion, die schließlich entscheidende Folgen für eine Verhältnissetzung von Christentum und Kultur hat. Zunächst betont Lipsius die innere Verwobenheit sittlicher und genuin religiöser Aspekte des Reich-Gottes-Gedankens: „Das Eigenthümliche an der Reichspredigt Jesu ist aber die unmittelbare Einheit des Sittlichen und des Religiösen.“132 Das Verhältnis von sittlicher Ordnung und Heilsordnung wird von ihm sehr eng angelegt: Die wichtigste Umbildung aber gewinnt von der Idee des göttlichen Reiches aus die sittliche Welt, welche sich zu jener nicht blos als nothwendige Voraussetzung verhält, sondern dieses Reich selbst ist, nur freilich in idealer Vollendung.133

Die Reich-Gottes-Idee wird also als eine Steigerungsform weltlicher Kulturgemeinschaft bestimmt und so primär sozialethisch akzentuiert. Sie meint nicht das Andere gegenüber allgemein menschlichen Versittlichungsprozessen, sondern konzeptualisiert ihr innerweltliches Telos. So erscheint allgemein-menschliche Arbeit an einer sittlichen Kultur zugleich als Arbeit an der Verwirklichung des Reiches Gottes. Gerade die Universalität des Reich-Gottes-Gedankens verlangt nach Lipsius einen solchen Einklang mit allgemeinen Kulturinteressen.134 „Das Reich Gottes im christlichen Sinn reicht soweit als die sittliche Welt.“135 Ohne die sittliche Arbeit könne sich das Reich Gottes nicht realisieren und ohne das Ideal des Reiches Gottes fehle der sittlichen Arbeit ein koordinierendes Zentrum mittels „des Ausblicks zum Unendlichen mitten in der Endlichkeit.“136 Diese Engführung von Christentum und Kultur führt Lipsius zudem zu einer affirmativen Bezugnahme auf Richard Rothes Konzeption einer „unbewußten Christlichkeit“137 moderner Kultur. Trotz einer auch von Lipsius diagnostizierten zunehmenden Abkehr der Moderne von der expliziten Kirchlichkeit begreift Lipsius moderne Kultur als christlich imprägniert. Er fordert demnach, außerkirchliches Christentum als Selbstverständlichkeit anzuerkennen. „Das Gebiet des Christlichen reicht weiter als das specifisch-kirchliche Gebiet.“138 Die Gefahr eines christlichen Selbstverständnisses ist in der Moderne weniger ein Abnehmen der Kirchlichkeit, sondern ein Zersplittern des menschlichen Kulturstrebens in antagonistische Einzelinteressen.139 131

Vgl. L, Die Idee des göttlichen Reichs, 190–191. A. a. O., 206. 133 A. a. O., 222. 134 Vgl. a. a. O., 223. 135 A. a. O., 229. 136 A. a. O., 230. 137 Ebd. 138 Ebd. 139 Vgl. ebd. 132

4. Kämpfe mit der Orthodoxie – Kiel 1865–1871

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Das Reich Gottes will sich jetzt nicht mehr als Kirche, sondern als christliche Menschheit offenbaren, nicht mehr als eine besondere Gemeinschaft andern gegenüber, sondern als die Gemeinschaft, welche die ganze christliche Welt mit all ihrer sittlichen Arbeit umfaßt und mit den Kräften göttlichen Lebens durchdringt.140

Mit diesem starken Plädoyer für ein Christentum auch außerhalb der Kirche will Lipsius jedoch keineswegs die Kirche für entbehrlich erklären. „Sie ist nicht das Gottesreich selbst, aber sie erhält die Idee desselben in der Menschheit lebendig.“141 Die Kirche übernimmt in der Kultur die notwendige Funktion der Darstellung des Allgemeinen aller einzelnen kulturellen Bildungsprozesse. Wie sich das Beten zum Arbeiten, die Versöhnung zur Heiligung, die Religion zur Sittlichkeit verhält, so verhält sich im Organismus der Güter des göttlichen Reichs die Kirche zu den verschiedenen Gebieten geistiger Cultur. Erst beide zusammen sind das wirkliche Gottesreich, die allumfassende Totalität, in welcher jedes Lebensgut und jeder Lebenszweck seine rechte Stelle und seine eigenthümliche Bedeutung behaupten kann.142

Die Bearbeitung des Reich-Gottes-Begriffs bei Lipsius zeigt das Anliegen, ein kooperatives Verhältnis von Christentum und Kultur zu gewinnen und Abschottungstendenzen kirchlichen Lebens gegenüber den Entwicklungen der Moderne entgegenzutreten. Der Begriff des Christlichen soll geöffnet werden, um religiöse Haltungen über die Grenzen expliziter Kirchlichkeit hinaus namhaft zu machen. Zugleich ist jedoch auch klar, dass Lipsius der Kirche eine ideelle Hegemonialstellung gegenüber dem kulturellen Leben zuschreibt und erhalten will. Als Repräsentanz des höchsten Guts soll sie dem gesamten modernen Kulturleben ein Ziel vor Augen stellen und somit die kulturellen Kräfte zu einem organischen Ganzen verhelfen. Der Reich-Gottes-Gedanke wird dabei primär sozialethisch akzentuiert. Im Anschluss an Weisse, der als „Vordenker der liberalen Reich-Gottes-Theologie“143 gelten kann, wird auch Lipsius hier zu einem Vordenker der Theologie Ritschls.

4. Kämpfe mit der Orthodoxie – Kiel 1865–1871 Lipsius’ Ruf an die Christian-Albrechts-Universität in Kiel und damit seine Übersiedlung in die frisch von Preußen annektierten Herzogtümer Schleswig und Holstein haben ihn in eine kirchen- und universitätspolitisch angespannte Situation versetzt. Denn „Schleswig-Holstein wurde staatlich annektiert, aber kirchlich nicht.“144 Die Landeskirche Schleswig-Holsteins unterstand nicht dem Evan-

140

Ebd. A. a. O., 231. 142 Ebd. 143 N, Religionsbegriff bei Weisse, 383. 144 J A: Geschichte der Theologischen Fakultät. Vom Beginn der preußischen Zeit bis zur Gegenwart, Neumünster 1988, 166. 141

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I. Die Formierungsphase 1830–1876

gelischen Oberkirchenrat in Berlin, sondern war interimistisch dem Kultusminister unterstellt. Daraus entstand ein rechtlicher Freiraum zur Bildung einer eigenständigen Verfassungsform der Landeskirche, die im konfessionellen Geist durch die Bischöfe Bertel Godt und Wilhelm Koopmann erwirkt wurde und 1876 in Kraft trat. Diesem Prozess gingen jedoch erhebliche kirchenpolitische und theologische Streitigkeiten voraus, die sich maßgeblich in einem Konflikt zwischen Lipsius und dem Bischof Koopmann bündelten.145 In dieser Streitsache repräsentiert Wilhelm Heinrich Koopmann konfessionelle unionsfeindliche Interessen und drängt auf eine starke Bindung an die Augsburger Konfession. Vor dem Hintergrund eines Amalgams aus lokalem Widerstand gegen die preußische Regierung mit dem lutherisch-konfessionellen Widerstand gegen die preußische Union kann sich Koopmann in seinen Anliegen auf breite Zustimmung berufen.146 Lipsius hingegen ist entschiedener Anhänger der Union und drängt auf eine Milderung von Bekenntnisgrenzen und tritt so als „Wortführer der freien Theologie“147 auf. Auf eine Konfrontation im Rahmen des evangelischen Kirchentags in Kiel von 1867 folgt ein literarischer Schlagabtausch zwischen Koopmann und Lipsius. Dabei legt Lipsius grundlegende Theoreme seiner Theologie erstmals einer breiten Öffentlichkeit vor. Die aus diesem Schlagabtausch entstandenen Streitschriften aus den Jahren 1869 und 1870 veröffentlicht Lipsius 1871 unter dem Titel Glauben und Lehre.148 In diesen Streitschriften ist Lipsius’ späterer Auskunft zufolge bereits sein ganzer theologischer Standpunkt enthalten.149

a. Freiheit und Lehre – Die Auseinandersetzung mit W. H. Koopmann Den Streitschriften zwischen Koopmann und Lipsius liegt eine theologische Sachfrage zugrunde, welche die konkrete Streitsache überschreitet. Welche Bedeutung und welchen Stellenwert hat Lehre in der Religion? Die Frontstellung zwischen Koopmann und Lipsius ist dabei mustergültig: Für Koopmann ist eine allgemein geteilte christliche Lehre konstitutiv für das persönliche Heilsleben und das Wirken der Kirche in der Welt. So sei Orthodoxie und konfessionelle Entschlossenheit Grundvoraussetzung christlichen Lebens. Lipsius hingegen geht

145

Vgl. ebd. Vgl. R, Die Grundlegung der christlichen Dogmatik als Wissenschaft bei Lipsius, 7. 147 Vgl. B, Art. Lipsius, 676. 148 L, Glaube und Lehre. Konkreter Anstoß für die Streitschriften zwischen Koopmann waren Vorschläge des Kieler Pastors Theodor W. Jess für eine Kirchenunion in Schleswig-Holstein im Sinne der Theologischen Fakultät Kiels. Anlass für die erneute und gebündelte Veröffentlichung der Streitschriften von Lipsius war folgende polemische Schrift Koopmanns: W H K: Phantasie und Offenbarung. Letztes Wort wider Prof. Lipsius, Kiel 1870. 149 Vgl. R A L: Zum Ehrengedächtnisse Biedermann’s, in: Jahrbücher für Protestantische Theologie (1885) 11, 545–549, hier 547. 146

4. Kämpfe mit der Orthodoxie – Kiel 1865–1871

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von einem an Schleiermacher und Kant orientierten Standpunkt aus, der jegliches Wissen von Gegenständen bestreitet, die innerer und äußerer Erfahrung unzugänglich sind.150 Aus dieser Perspektive kann eine allgemein geteilte religiöse Lehre nicht begründet werden und schadet vielmehr der freien Entfaltung von Religion. Ertragreich für die Werkbiografie sind die Streitschriften weniger durch Lipsius’ Kritikmuster konfessioneller Theologie, sondern durch den Umstand, wie weitreichend er in den Streitschriften bereits die grundlegenden Konzepte seiner späteren religiösen Erkenntnistheorie, Religionstheorie und Dogmatik auf elementarer Ebene einführt, wenngleich diese Konzepte in den Streitschriften noch Skizzen bleiben. Die Negativfolie für Lipsius’ theologische Überlegungen bilden Koopmanns Verteidigung der Orthodoxie, welche Lipsius noch wohlwollend würdigt, und seine Angriffe auf liberale Theologie, welche Lipsius als übermäßig polemische Karikaturen liberaler Entwürfe abtut. Koopmann stellt, ausgehend von einem lutherisch-konfessionalistischen Standpunkt aus, die ,seelenrettende Heilspredigt‘ ins Zentrum kirchlicher Arbeit. Konstitutiv dafür ist nach Koopmann jedoch eine feste allgemein geteilte kirchliche Lehre vom Heil. Kritik an den kirchlichen Lehrformen muss daher als kirchenzersetzend beurteilt werden, was Koopmann gerade liberaler Theologie vorwirft. Für Koopmann sind die verschiedenen Lehren liberaler Theologie nichts anderes als „theologisch aufgeputzter Materialismus“151. Ein persönlicher Gott werde von Grund auf bestritten, persönliche Fortdauer über den Tod hinaus auch, an die Stelle der Glaubensmysterien trete die Autonomie des begreifenden Denkens, Offenbarung sei nur ein anderes Wort für menschliche Vernunft, das Wort Gottes sei auf Vernunft zurückzuführen und die Rechtfertigung des Sünders verkomme zu einer bloßen Selbstrechtfertigung des endlichen Menschen. Liberale Theologie ist für Koopmann lediglich verschleierter Atheismus. Bei diesen Kritikpunkten hat Koopmann zunächst vor allem die Theologie von Alois Emanuel Biedermann vor Augen.152 Später wirft er allerdings auch Lipsius explizit vor, menschliche Fantasie an die Stelle der Berufung auf göttliche Offenbarung zu setzen.153 Lipsius stellt Koopmanns Orthodoxie eine Unterscheidung von Form und Inhalt gegenüber. Koopmanns Werbung für eine feste allgemein geteilte christliche Heilslehre wird so als eine Verpflichtung der Religion auf eine bestimmte Form gedeutet, wie auch die Kritik an der liberalen Theologie als eine Ablehnung

150

Vgl. ., Glaube und Lehre, V. A. a. O., 66. 152 Vgl. a. a. O., 71. Lipsius’ Verteidigung Biedermanns gegenüber Koopmann trotz nicht unerheblicher Differenzen in den theologischen Grundlegungsfragen ist für Biedermann Anlass einer anhaltenden theologischen Freundschaft geworden. Vgl. ., Zum Ehrengedächtnisse Biedermanns, 547. Mit der Theologie Biedermanns ist Lipsius schon vorher vertraut. Bereits in seiner frühen Weisserezension von 1865 nimmt Lipsius auf Biedermann Bezug. Vgl. ., Rez. Weisse 1865, 558. 153 Vgl. K, Phantasie und Offenbarung. 151

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einer anderen Form des Christentums. Diesen unterschiedlichen Lehrformen des Christentums attestiert Lipsius jedoch den christlichen Glauben als gemeinsamen Inhalt. So kann Lipsius durchaus Koopmanns soteriologischem Fokus folgen und die christliche Heilspredigt ins Zentrum kirchlichen Lebens stellen. Auch für die Theologie ist die Einsicht in das innere Wesen des persönlichen Heilsbesitzes und seiner geschichtlichen Verwirklichung in der Welt eine zentrale Aufgabe.154 Jedoch hebt Lipsius diesen Heilsbesitz durch seine Unterscheidung von Form und Inhalt von den Lehrformen des Christentums ab. Der Heilsbesitz besteht im christlichen Glauben; dieser Glaube ist der wesentliche Inhalt der christlichen Tradition. Der Glaube ist jedoch nicht identisch mit dem Fürwahrhalten christlicher Lehrformen. Die Lehrformen des Christentums stellen verschiedene Weisen dar, um dem Glauben eine Gestalt zu geben. So kann gerade trotz anhaltenden Streits um die richtige Lehrform ein verbindender Inhalt des Christentums angenommen werden. Koopmann hält er in diesem Sinne die Lehrstreitigkeiten innerhalb konfessioneller Theologie entgegen. Würde der Heilsbesitz an diese stets umstrittene Lehrform gebunden sein, müsse dem liberalen wie auch dem konfessionellen Lager jeglicher Heilsbesitz abgesprochen werden. Nicht die „Dornenhecken exclusiver Dogmatik“155 gelten Lipsius als heilsrelevant, sondern der Glaube. Wie ist jedoch der gemeinsame Glaube zu bestimmen, wenn nicht durch die Lehre? Welche Kriterien können für Glauben gefunden werden? Für Lipsius ist klar, dass Heilsbesitz nicht an äußeren Merkmalen festgemacht werden kann. Glaube ist bestenfalls eine ,innere Tatsache‘, die sich einer äußeren Begutachtung entzieht. Zur Eingrenzung seiner formellen Bestimmung des heilsrelevanten christlichen Glaubens bezieht sich Lipsius auf die reformatorische Unterscheidung zwischen dem historischen und seligmachenden Glauben. Der historische Glaube ist ein Fürwahrhalten konkret-benennbarer Inhalte auf der Basis äußerer Autorität wie z. B. dem Schriftzeugnis. Der seligmachende Glaube hingegen kann und braucht sich nicht auf äußere Autorität berufen, sondern er ist ein im menschlichen Geistesleben erfahrbarer Prozess, der den spezifisch-religiösen Sinn von Glauben ausmacht. Im specifisch religiösen Sinne dagegen ist Glaube die menschliche Seite im religiösen Verhältniß, und zwar im Unterschied von Frömmigkeit, diese menschliche Seite als Thätigkeit aufgefaßt, die Selbstbeziehung des Menschengeistes auf die göttliche Heilsoffenbarung.156

Glaube wird von Lipsius als eine innere Erhebung gefasst, die sich in und durch das menschliche Bewusstsein vollzieht. Will man den heilsrelevanten christlichen Glauben erfassen, ist man auf dieses innere Geschehen geistiger Erhebung verwiesen.157 Lipsius beschreibt eine sich im menschlichen Geistesleben vollziehende 154

Vgl. L, Glaube und Lehre, 4. A. a. O., 12. 156 A. a. O., 19. 157 Vgl. a. a. O., 24. 155

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Selbsttranszendierung des Menschen als ein Wechselverhältnis zwischen göttlichen und menschlichen Geist. Diese Formeln bilden das Zentrum von Lipsius’ späterer Religionstheorie, zeigen das Fortwirken des idealistischen Offenbarungsbegriffs, bleiben in Glauben und Lehre jedoch noch Andeutungen. Entscheidendes Paradigma und selbst volle Verwirklichung des Wechselverhältnisses vom göttlichen und menschlichen Geist ist die Persönlichkeit Jesu Christi.158 In Christus wird das lebendige Wechselverhältnis zwischen Mensch und Gott in unüberbietbarer Form historisch offenbar und vollständig verwirklicht. Da es sich beim Glauben um ein persönliches Geschehen im menschlichen Geistesleben handelt, ist und bleibt der christliche Glaube stark an seine Gründerpersönlichkeit geknüpft. Dennoch kann aus diesem Christusbezug kein Autoritätsglauben abgeleitet werden. Die überlieferten Vorstellungen neutestamentlicher Schriften ergeben keine einheitliche Lehre.159 In der Lehre stimmen sie nicht überein, sie zeugen jedoch alle vom gleichen Glauben.160 Wesentlich sind nicht die religiösen Vorstellungen vom Glauben selbst, sondern die zugrundeliegenden religiösen Erfahrungen des Glaubens. Dieser Erfahrungskern muss auch der Ausgangspunkt aller Wissenschaft der Religion sein. Diesbezüglich weiß sich Lipsius grundsätzlich nicht nur mit Schleiermacher, sondern auch mit Johann von Hofmann einig: Die Erforschung des Christentums muss von der Selbsterkenntnis und den Selbstaussagen von Christinnen und Christen ausgehen, da anders der wesentliche Phänomenbestand der Religion unzugänglich bleibt.161 Wie für den persönlichen Heilsbesitz eine feste christliche Lehre nicht konstitutiv ist, so ist nach Lipsius auch für das kirchliche Leben keine feststehende Lehre erforderlich. Für die Kirche kann ohnehin nur dasjenige konstitutiv sein, was für den Heilsbesitz konstitutiv ist.162 Dabei ist für Lipsius das kirchliche Leben eine unersetzliche Quelle für die theologische Bestimmung des religiösen Kerns des Christentums. Keinesfalls will Lipsius durch seinen Bezug der Theologie auf die religiöse Selbsterkenntnis einem religiösen Individualismus das Wort reden. „Ich erkenne es vollständig an und möchte es recht nachdrücklich hervorheben, daß das gemeinsame Glaubensleben der Kirche ein ungleich reicheres ist, als die persönliche Glaubenserfahrung des einzelnen Christen.“163 Für Lipsius ist es eine zentrale Aufgabe der Theologie, das Gemeinsame der vielfältigen Rede vom christlichen Glauben in der Kirche herauszustellen. Gerade in der Vielfalt kirchlicher Kommunikationsformen des Glaubens zeichnen sich Konturen des religiösen Kerns des Christentums deutlicher ab, da das gemeinsame Thema in seinen vielfältigen Variationen deutlicher zutage tritt. Aus dem Verbindenden der Vielfalt ist der Kern des christlichen Glaubens zu erahnen. 158

Vgl. ebd. Vgl. a. a. O., 37. 160 Vgl. ebd. 161 Vgl. a. a. O., 56. 162 Vgl. a. a. O., 39. 163 A. a. O., 63–64. 159

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Eine festgeschriebene Orthodoxie und damit Normierung kirchlicher Kommunikation des Glaubens unterbindet allerdings, dass sich der religiöse Kern in vielfältigen Formen zur Darstellung bringen kann. Dazu braucht es vielmehr eine „Atmosphäre der Freiheit“164 statt einer Orientierung an äußeren Autoritäten. Seiner Unterscheidung von Form und Inhalt korrespondiert die erkenntnistheoretisch motivierte Unterscheidung von Glauben und Wissen. Glaube muss demnach als eine eigene epistemische Einstellung gefasst werden, die vom Wissen abzuheben ist. Glaube kann nicht andemonstriert werden, er kann nicht durch äußere Autoritäten oder äußere Erfahrung belegt werden. Glaube kann und muss sich daher auf eine Evidenz eigener Art berufen. So bekennt Lipsius: der Gott meines Glaubens, der Gott, zu dem ich beten, den ich meinen himmlischen Vater nennen kann, dieser Gott ist mir nothwendig ein persönlicher Gott, ich stehe im Glauben zu ihm in einem wirklich persönlichen Verhältnisse wie Person zu Person, wie Ich zu Du, und meine, daß dies keine bloße Einbildung oder Selbsttäuschung sei, sondern ernste, heilige Wirklichkeit, die mir selbst nicht minder gewiß ist als mein eigenes Leben.165

Zugleich bestreitet Lipsius die begriffliche Demonstrierbarkeit eines solchen persönlichen Gottes. Die philosophischen Versuche, den religiösen Gottesbegriff zu erfassen, verbleiben stets Annäherungen, welche die religiösen Gottesvorstellungen aus der Erfahrung des eigenen religiösen (Er-)Lebens nicht erschöpfen können. Eine religiöse Gesinnung des Menschen und die Erfahrung eines lebendigen Wechselverhältnisses zwischen Mensch und Gott gehören nach Lipsius zu Gegenständen, deren Möglichkeit sich dem Menschen prinzipiell nicht erschließt.166 Die Erfahrung des religiösen Verhältnisses des Menschen zu Gott stößt auf Erklärungsgrenzen. Die Frage, ob religiöser Erfahrung eines Gottesverhältnisses tatsächlich ein göttliches Gegenüber des Menschen korrespondiert, kann wissenschaftlich nicht beantwortet werden. Der religiösen Erfahrung ruht jedoch nach Lipsius eine Evidenz eigener Art inne. Dem religiösen Verhältnis von Mensch und Gott merke man an, „daß es innere Wahrheit ist.“167 Nähere Erläuterungen zu dieser Evidenz des religiösen Vollzugs bietet Lipsius hier nicht, da zunächst das Anliegen einer Einschärfung der Erkenntnisgrenzen des Glaubens im Vordergrund steht: Ich hätte noch hinweisen können auf die Bewährung des subjectiven Heilsglaubens im Leben, auf den unverkennbaren, unnachahmlichen Eindruck, welchen alle ächte christliche Frömmigkeit nothwendig auf jeden religiös Empfänglichen macht. Eine andere Gewähr für die Aechtheit religiöser Erfahrung besitze ich freilich nicht, bezweifle aber sehr stark, daß irgend Jemand bessere Garantien aufweisen könnte.168

164

A. a. O., 54. A. a. O., 75. 166 Vgl. a. a. O., 86–87. 167 A. a. O., 88. 168 A. a. O., 97–98. 165

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Religiöse Erfahrung umfasst demnach eine Realitätsanmutung, die sich jedoch jedem externen Beweisverfahren entzieht. Der Glaube kann prinzipiell nicht in Wissen überführt werden. Er kann sich nur in seinen Konsequenzen für das Leben bewähren. Die Tatsache religiöser Erfahrung und ihre Realitätsanmutung darf allerdings nicht mit ihren dogmatischen Ausdrucksformen verwechselt werden. Vielmehr ruht sie einer „geheimnißvollen Geburtsstätte religiöser Gedanken“169 auf. Lipsius’ Konzept des lebendigen Wechselverhältnisses zwischen Mensch und Gott ist ein Versuch, dieses Geheimnis des Ursprungs religiöser Erfahrung als ein Geheimnis zu explizieren. Sie markiert ein Surplus gegenüber Erklärungen religiöser Erfahrung, die jegliche Realitätsanmutung ausklammern. So ist die religiöse Erfahrung prinzipiell rein psychologisch erklärbar und so ganz auf menschliche Geistesaktivität reduzierbar. Aus der Perspektive der oder des Frommen muss eine solche Beschreibung religiöser Erfahrung jedoch als eine radikale Verarmung des eigentlichen Phänomens beurteilt werden. Dem frommen Erleben ist vielmehr eine Fülle eigen, die in endlichen Formen immer nur unvollkommen symbolisiert werden kann. Thatsachen sind mir der Kern der christlichen Religion, reale Verhältnisse zwischen Gott und Mensch. Und diese sollen wohl unangetastet bleiben, wenn auch die Ausdrücke, mit welchen wir diese Realitäten beschreiben, vervollkommnungsfähig und vervollkommnungsbedürftig sind.170

Aus dieser Unterscheidung von Glauben und Wissen als Unterscheidung von Inhalt und Form leitet Lipsius ein dialektisch-dialogisches Verhältnis von Dogmatik und Philosophie ab. Während die Dogmatik mit bildhaften Ausdrucksformen religiöser Erfahrung befasst ist, nimmt die Philosophie ihren Ausgang beim Begriff und versucht, die Phänomene der Religion in die begriffliche Welterschließung zu integrieren. Beide Zugangsweisen zur Religion können nicht aufeinander reduziert werden. So verbleibt zwischen beiden auch eine Spannung ihrer Erträge bestehen. Nichtsdestoweniger ist es eine Aufgabe, die begriffliche und die bildhafte Erschließung der Religion so gut wie möglich aneinander anzunähern. Lipsius verweist diesbezüglich auf eine Äußerung Schleiermachers gegenüber Jacobi, die er noch häufig heranziehen wird: Meine Philosophie und meine Dogmatik sind fest entschlossen, sich nicht zu widersprechen, aber eben deshalb wollen auch beide niemals fertig sein, und so lange ich denken kann, haben sie immer gegenseitig aneinander gestimmt und sich auch immer mehr angenähert.171

Die Verpflichtung auf eine bestimmte Lehrgestalt des Christentums würde diesen Prozess wechselseitiger Annäherung stillstellen. Nicht die Anerkennung wissen-

169

A. a. O., 104. A. a. O., 116. 171 A. a. O., 75. 170

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schaftlicher Erklärungsgrenzen in Glaubenssachen macht ein religiöses Bekenntnis trügerisch, wie es Koopmann Lipsius vorwirft, sondern die Verpflichtung auf eine Glaubenslehre macht das entsprechende Bekenntnis hohl und leer.172 Bereits in Glauben und Lehre bestimmt Lipsius das Grundphänomen der Religion als eine Erfahrung der menschlichen Selbsttranszendierung, welche auf einen dem Menschen überschreitenden Grund dieser Selbsttranszendierung verweist. Dieser äußere Grund wird religionstheoretisch als göttliche Wirksamkeit im Menschengeist bestimmt. Diese Wirksamkeit markiert gerade dasjenige Moment religiöser Erfahrung, welches durch eine rein psychologische Beschreibung eliminiert würde. So wenig dies Alles ohne eine psychologische Vermittelung zu Stande kommt, so gewiß ist darin eine geheimnißvolle göttliche Wirksamkeit anzuerkennen, welche das endliche Ich über sein natürliches Können hinaushebt, also allerdings ein Mysterium für den bloßen Verstand, ein übernatürlicher Factor des geistigen Geschehens, mit einem Worte ein Wunder.173

Bei dieser erkenntnistheoretisch motivierten Grundskizze seiner Religionstheorie operiert Lipsius mit einer Unterscheidung von Form und Inhalt, die er selbst problematisiert.174 Eine klare Grenzziehung zwischen Form und Inhalt ist ausgeschlossen. Sie kann immer nur hypothetisch und annäherungsweise durchgeführt werden. Aber eine feste allgemein verbindliche Gränze zwischen bleibendem Gehalt und vergänglicher Form läßt sich der Natur der Sache nach einmal nicht ziehen, und gerade darum, weil hier immer nur annähernde Sicherheit im Unterscheiden erreichbar ist, so sind die verschiedenen Richtungen zur Mitarbeit berufen, und dazu bedarf es eben der freien Bewegung.175

Gerade aus der Vorläufigkeit jeglichen Unterscheidens von Form und Inhalt heraus fordert Lipsius die Pluralität freier theologischer Forschung, die durch verpflichtende Lehrbekenntnisse unterdrückt würde. Ein Verzicht auf die Unterscheidung von Form und Inhalt des christlichen Glaubens ist jedoch keine denkbare Alternative. Nach Lipsius ist eine solche Unterscheidung zumindest als implizite unumgänglich. Es wird immer irgendwie zwischen Form und Inhalt kirchlicher Lehre unterschieden. In Glaube und Lehre wird deutlich, wie Lipsius auf einer erfahrungstheologischen Basis versucht, einer Freiheit des religiösen und kirchlichen Lebens das Wort zu reden. Der Glaube als religiöser Kern des Christentums erschließt sich demnach aus einem inneren Erleben in, an und durch potenziell vielfältige Formen christlichen Lebens. Das Wesentliche des christlichen Glaubens lässt sich daher nicht in normierten Lehr- und Praxisformen erkennen, sondern in einer 172

Vgl. a. a. O., 78. A. a. O., 118. 174 Vgl. a. a. O., 156. 175 A. a. O., 157. 173

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Atmosphäre der Freiheit, die es daher kirchlich zu kultivieren gilt. Festschreibungen des Christlichen verbieten sich vor diesem Hintergrund. Allerdings wird auch die Bestimmung und Erforschung des Christlichen vor die Herausforderung gestellt, ein freies, individuelles und vielseitiges religiöses Erleben auf den Begriff zu bringen, das immer nur annäherungsweise und vorläufig zwischen Kern und Hülle unterscheiden lässt.

b. Freiheit und schlechthinnige Abhängigkeit – Schleiermacher-Studien Die Kieler Jahre waren neben den Konflikten mit der Orthodoxie durch intensive Schleiermacherstudien geprägt. Diese zeigen, wie stark Lipsius’ frühe Theologie auf Schleiermachers Religionstheorie aufbaut. Neben Dogmatik, Ethik, Enzyklopädie, Geschichte der neueren Theologie und Geschichte des apostolischen Zeitalters las Lipsius vor allem Vorlesungen über Schleiermacher.176 In seiner theologischen Sozietät wurde Schleiermachers Glaubenslehre studiert.177 Er veröffentlichte 1867 seine ausführlichen Studien zu Schleiermachers Dialektik. A. H. Braasch berichtet zudem von enger Zusammenarbeit mit dem derzeit auch in Kiel wirkenden Wilhelm Dilthey an dessen Leben Schleiermachers, das nach Braasch unter maßgeblichen Einfluss von Lipsius entstanden sei.178 Jedenfalls hat Dilthey später leidenschaftlich versucht, Lipsius für eine religionsphilosophische Professur in Berlin zu gewinnen.179 Durch seine Vermittlung erging 1871 auch ein Ruf an Lipsius, den er jedoch ablehnte.180 Insgesamt muss Schleiermacher als die wichtigste theologische Referenz in Lipsius’ Werk gelten. Lipsius selbst versteht seine Dogmatik als eine Aktualisierung von Schleiermachers Erbe.181 Die auf-

176

Vgl. R, Die Grundlegung der christlichen Dogmatik als Wissenschaft bei Lipsius, 8. Vgl. B, Lipsius, 319. 178 Vgl. ebd. 179 Dilthey schrieb an Lipsius: „Sie haben Kenntnisse für die wissenschaftliche Grundlegung der Religionsphilosophie wie kein zweiter. Würden sie mit diesen die ganze Breite der Probleme vornehmen, in die Beschäftigung auch mit den anderen Religionen hineinzugehen die Muße finden, in der durchgearbeiteten Psychologie, Ethik etc. überall Mittel der Bearbeitung finden; so wären sie der Mann, Religionswissenschaft um einen wichtigen Schritt weiter zu fördern. Dann stünde ihnen immerhin frei, die Consequenzen für die Dogmatik selber zu ziehen. Ja, Sie könnten unter veränderten Verhältnissen in die theologische Fakultät zurückkehren. Für die Philosophie würde so eine wichtige Kraft gewonnen, die eines ihrer fruchtbarsten Gebiete produktiv bearbeiten würde.“ WI D: Brief an Lipsius. Berlin, 15. Juni 1871, in: Moritz Liepmann (Hg.): Von Kieler Professoren. Briefe aus drei Jahrhunderten z. Geschichte d. Univ. Kiel, Stuttgart/Berlin 1916, 380–382, hier 381. 180 Vgl. I, Liberale Theologie in Jena, 38. 181 Dies macht Lipsius anhand der positionellen Differenz zu seinem Freund Biedermann deutlich: „Wenn man den Unterschied von Biedermann und mir dahin formulirt hat, dass der alte Gegensatz von Hegel und Schleiermacher, wenn auch erheblich gemildert durch die dazwischen liegende Entwickelung, in uns beiden wiederaufgelebt sei, so wüsste ich meinerseits dem nicht zu widersprechen.“ L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1879, VIII. 177

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wendigsten Studien widmet er Schleiermachers Dialektik und seinen Reden.182 Dabei verbindet Lipsius feinsinnige Textstudien mit programmatischen Rekonstruktionen, die seine spätere Dogmatik grundlegen. Um die eigene Stoßrichtung in den Vordergrund zu stellen, ist die folgende Rekonstruktion auf die im literarischen Gespräch mit Schleiermachers Werk gewonnene theologische Programmatik konzentriert. In den Hintergrund tritt dabei die Beurteilung der Angemessenheit seiner Schleiermacherlesart. Dies entspricht dem erkennbaren Anliegen von Lipsius, mit Schleiermacher über Schleiermacher hinauszugehen und dabei die Freiheitsdimension der Religion stärker ins Zentrum zu rücken. Äußerlicher Anlass für seine Studien über Schleiermacher’s Dialektik von 1869 ist Schleiermachers 100. Geburtstag. Sachlich motiviert Lipsius seinen Griff zur Dialektik, da mit ihr ein umfassender Vermittlungsversuch zwischen Glauben und Wissen, zwischen Religion und Philosophie, vorliegt. Eine solche Vermittlung hält Lipsius für eine Voraussetzung einer Versöhnung von Christentum und moderner Kultur.183 Das entscheidende Verdienst Schleiermachers ist es hierfür, die Religion als ein eigenständiges kulturelles Phänomen sui generis ausgewiesen zu haben. Weder kann sie in Philosophie aufgelöst werden, noch sollte sie zu stark von Theologie, Christentum oder Dogmatik her verstanden werden.184 Schleiermacher wird so als Denker kultureller Differenzierung gewürdigt, der Religion einen Platz im Aufbau moderner Kultur sichert. Doch bleibt die philosophische Grundlegung seiner Religionslehre nach Lipsius revisionsbedürftig. Seine Kritikpunkte lassen sich in drei Themenkomplexe ordnen: Zunächst diagnostiziert Lipsius Mängel in der grundlegenden Wissenstheorie und ihrer Verhältnisbestimmung von Sein und Denken. Sodann wirft Lipsius Schleiermachers Konzeption einen Hang zum Determinismus vor, der sich in der einseitigen Bestimmung Gottes als absolute Kausalität zeige. Schließlich und eng damit verbunden kritisiert Lipsius die Konzeption des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit konstitutionstheoretisch. Diese Kritik weist auf seine spätere Grundlegung der Dogmatik voraus und wird von Lipsius in seinen Studien von Schleiermachers Reden vertieft: Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit soll nicht einseitig passivisch verstanden werden, sondern bedeutet eo ipso eine aktive Erhebung des Menschen über seine Endlichkeit zur Freiheit in Gott.

182

Diese Studien von Lipsius verdienen auch Beachtung in der Rezeptionsgeschichte Schleiermachers. Die These, dass mit Ritschl und Dilthey eine Historisierung Schleiermachers einsetzt (vgl. F V: Die Schleiermacher-Rezeption 1834–1889, in: M O [Hg.]: Schleiermacher Handbuch [Handbücher Theologie], Tübingen 2017, 442–455, hier 451) kann um den vorausgehenden Beitrag Lipsius’ erweitert werden, da auch er trotz aller systematischen Absichten theologie- und ideengeschichtliche Distanzen herausarbeitet und so Schleiermacher in seiner Zeit verortet. 183 Vgl. R A L: Studien über Schleiermacher’s Dialektik, in: Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie (1869) 12, 1–62.113–154, hier 2. 184 Vgl. a. a. O., 3.

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Die disparate Einheit von Denken und Sein: Mit seiner Dialektik hat Schleiermacher eine umfassende Wissenstheorie vorgelegt. Wissen ist dabei durch das Ideal einer Übereinstimmung von Denken und Sein – oder dem Ideellen und dem Realen – bestimmt. Nach Lipsius offenbart Schleiermachers philosophische Grundanschauung gerade hinsichtlich der Verhältnisbestimmung vom Ideellen und Realen jedoch ein folgenschweres Schwanken zwischen einer monistischen und einer dualistischen Konzeption.185 Monistisch ist nach Lipsius die implizite Zielvorstellung der dialektischen Wissensbildung, welche Wissen durch eine Übereinstimmung von Denken und Sein bestimmt. Um die Möglichkeit des Wissens in Aussicht zu stellen, muss Schleiermacher demnach eine prinzipielle Homogenität von Denken und Sein als Möglichkeitsbedingung von Wissen annehmen. Dass sich Denken und Sein für Menschen immer wieder als disparat herausstellen, ist demnach nur kontingenten Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit geschuldet. In einem Prozess wechselseitiger Kritik und Angleichung spekulativer und empirischer Erkenntnisbemühungen steht dem Menschen eine zunehmende Annäherung von Denken und Sein prinzipiell offen, die freilich unter den Bedingungen menschlicher Endlichkeit nicht an ein Ende kommt.186 Zugleich stellt Lipsius ein Plädoyer Schleiermachers für einen Dualismus von Denken und Sein heraus. In der Unterscheidung von Idealem und Realem bildet sich nach Lipsius gerade die kantische Zwei-Stämme-Lehre der Erkenntnis mit ihrer Unterscheidung von Sinn und Verstand ab.187 Demnach sind Ideales und Reales zwei wesenhaft verschiedene Formen des Seins, welche nicht wie zwei Pole eines gemeinsamen Kontinuums auftreten, sondern auch in Verbindungen distinkt bleiben. Die Wirklichkeit zeigt zwar Vermengungen von Denken und Sein, jedoch basieren diese „auf quantitativ verschiedenen Mischungsverhältnissen zweier schlechthin heterogenen Formen des Seins“188. Wissen konstituiert sich zwar aus der Relation von Ideellem und Realem, aber beide Relata der Beziehung bleiben notgedrungen getrennt.189 Sie gehören getrennten Seinssphären an, was jedoch der Zielvorstellung des Wissens widerspreche. Diese dualistische Heterogenität von Idealem und Realem und die mit Wissensansprüchen anvisierte Homogenität von Idealem und Realem sind für Lipsius unvereinbare Momente von Schleiermachers Dialektik. Auffällig ist dabei eine ablehnende Haltung gegenüber der kantischen Zwei-Stämme-Lehre. Einer solchen konstruktivistischen Erkenntnistheorie stellt Lipsius ein realistisches Verständnis menschlicher Wissensformen mit monistischer Tendenz entgegen, indem er die Forderung aufstellt,

185 Den Grund dieses Schwankens erblickt Lipsius in konfligierenden Einflüssen auf die Dialektik von Schellings Identitätsphilosophie einerseits und der kantischen Zwei-StämmeLehre der Erkenntnis andererseits. Vgl. a. a. O., 12. 186 Vgl. a. a. O., 7. 187 Vgl. a. a. O., 12. 188 A. a. O., 13. 189 Vgl. a. a. O., 12.

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dass nämlich in der objectiven Verknüpfung der Dinge oder in der realen Welt diesselben Gesetze walten, wie in unserm Denken der Dinge, und dass hierauf die Möglichkeit nicht blos einer Übereinstimmung der Denkenden unter einander, sondern auch des subjectiven Denkens und des objectiven Daseins beruhe.190

Die Möglichkeit von Wissen über die Wirklichkeit soll nach Lipsius sowohl im konsenstheoretischen wie im korrespondenztheoretischen Sinn als durch eine gemeinsame Gesetzlichkeit von Denken und Sein gewährleistet gedacht werden. Auf diese Weise versucht Lipsius, Pointen einer monistischen und einer dualistischen Grundlegung zu verbinden. Der dualistischen Intuition stimmt Lipsius insofern bei, als er an einer prinzipiellen Heterogenität zwischen der Wirklichkeit und ihren menschlichen Repräsentationsmöglichkeiten festhält. Einer monistischen Intuition verpflichtet sich Lipsius, indem er den menschlichen Denkstrukturen entsprechende Wirklichkeitsstrukturen postuliert. Das mögliche Übereinstimmen von Denken und Sein wäre nach Lipsius durch eine Vernunftidee als Postulat im Rahmen einer „wirkliche[n] Metaphysik“191 abgesichert. Schleiermacher hingegen rekurriere nicht auf eine solche Vernunftidee, sondern stütze sich auf die faktische Beschaffenheit des menschlichen Selbstbewusstseins als bereits wirkliche Vereinigung von Idealem und Realem. Die mögliche Einheit der an sich distinkten Relata von Denken und Sein werde bei Schleiermacher aus der faktisch gegebenen Einheit beider im unmittelbaren Selbstbewusstsein des Menschen abgeleitet.192 Wie kann jedoch die faktische Vereinigung von den heterogenen Formen Denken und Sein erklärt werden? Zur Beantwortung dieser Frage braucht es nach Schleiermacher den Rekurs auf das Absolute. Denn der Einheitsgrund von Denken und Sein kann beiden Formen durch ihre eigentliche Heterogenität nicht immanent sein. Es braucht also einen transzendenten Einheitsgrund: „Diese transcendentale Einheit der Gegensätze nun ist das Absolute oder Gott.“193 Die Gotteslehre der Dialektik: Bei Schleiermachers Gottesbegriff in seiner Dialektik handelt es sich nach Lipsius um ein Postulat, das sich nach einem einfachen Schlussverfahren aus der philosophischen Grundlegung ergibt.194 Das Sein ist durch Gegensätze bestimmt, die sich einerseits begrifflich nicht vereinen lassen, die im unmittelbaren Selbstbewusstsein des Menschen jedoch andererseits faktisch vereinigt sind. Daraus lässt sich nun das Postulat ableiten, dass es jenseits aller endlichen Gegensätze eine Einheit gibt, die zum einen alle Gegensätze in sich ausschließt und zum anderen als das einende Band des gegensätzlichen Seins fungiert.195

190

A. a. O., 16. Ebd. 192 Vgl. a. a. O., 31. 193 A. a. O., 32. 194 Vgl. ebd. 195 Vgl. ebd. 191

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Der Widerspruch zwischen dem thatsächlichen Vereintsein und dem begrifflichen einander sich Ausschliessen der Gegensätze wird also von der Reflexion dadurch gelöst, dass man eine letzte und höchste Einheit postuliert, welche von jeder Differenz schlechthin unberührt, dennoch alle diese Unterschiede und Gegensätze sammt dem Zusammensein oder Verknüpftsein des Unterschiedenen oder Entgegengesetzten schlechthin begründet: eben dieses Begründende aber ist das Absolute, oder in der religiösen Sprache ausgedrückt, Gott.196

In dieser Bestimmung des Gottesbegriffs sind allerdings zwei antagonistische Momente festgehalten. Das Absolute ist einerseits negativ durch den Ausschluss aller Gegensätze bestimmt, andererseits soll es positiv die Einheit der Gegensätze im Menschen und der Welt sicherstellen. Problematisch an Schleiermachers Dialektik ist nach Lipsius, dass sich die beiden gegensätzlichen Momente des Gottesbegriffs unvermittelt gegenüberstehen. Die negativen Aussagen über das Absolute drücken dessen Transzendenz aus. Als absolute Indifferenz ist das Absolute über alle Gegensätze erhaben. Gott darf daher weder als denkend noch als daseiend, weder als Geist noch als Natur, weder als ideal noch als real vorgestellt werden, weil ihn jede solche Vorstellung sofort in die Welt der Gegensätze wieder herabziehen, den Begriff der absoluten Indifferenz also vernichten würde.197

Der Welt als Einheit unter Einschluss aller Gegensätze steht der Gottesbegriff als Einheit unter Ausschluss aller Gegensätze gegenüber.198 Gott tritt so als eine ursprüngliche und unvermittelte Einheit auf, die der Einheit der Welt als Totalität der vermittelten Gegensätze gegenübersteht.199 Als Indifferenzpunkt gefasst, kann der Gottesgedanke nicht als ein freies Einzelwesen oder eine Persönlichkeit bestimmt werden.200 Auch die Relation zwischen Gott und Welt kann nicht erklärt werden, ohne den Gottesbegriff in endliche Beschreibungsformen einzubeziehen. So unterstellt Lipsius der rein-negativen Bestimmung des Gottesgedankens ein nihilistisches Resultat.201 „Eigentlich können wir dem Absoluten nichts anderes als es selbst zum Prädicat geben.“202 Lipsius sieht hier Schleiermacher ganz in der platonischen Tradition stehen, welche Gott jenseits des Seins verortet und damit jedes direkte Denken über Gott verbietet, da es Gott immer schon in einen Gegensatz von Subjekt und Objekt oder Form und Inhalt zwängen würde.203 In aller Konsequenz verliert der Gottesgedanke so auch seine Gestalt als Begriff. Das Denken gelangt an einen selbstzerstörerischen Punkt: „[D]as Denken, welches seinen Inhalt fortwährend aufhebt, vernichtet schliesslich sich 196

A. a. O., 32–33. A. a. O., 33. 198 Vgl. ebd. 199 Vgl. a. a. O., 34. 200 Vgl. a. a. O., 35. 201 Vgl. a. a. O., 37. 202 Ebd. 203 Vgl. a. a. O., 38. 197

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selbst.“204 Schleiermachers Arbeit am Gottesbegriff geht jedoch nach Lipsius nicht in dieser Form negativer Theologie auf. Nach Lipsius’ Interpretation stellt Schleiermacher neben seine negativen Aussagen über Gott auch eine positive Aussagenreihe, die stärker von der religiösen Rede gelebter Religiosität zehrt. Systematisch ergibt sie sich aus der Funktion des Absoluten als transzendenter Grund der Einheit von Ideellem und Realem in Selbst und Welt.205 Das Absolute ist bei Schleiermacher nicht nur ein Indifferenzpunkt, sondern zugleich ein lebendiges Band zwischen den Gegensätzen, „das wirkende Princip der Einheit und der Verknüpfung in den Dingen, kurz als die in sich unendliche Fülle des Seins“206. So gibt es neben dem Sein Gottes an sich immer auch ein Sein Gottes in den Dingen. Gott ist mit allem Sein auch dem Sein des menschlichen Bewusstseins immer schon mitgesetzt. Darin ist ein immanentes Wirken Gottes in der Welt adressiert. All diese Bestimmungen bewegen sich nach Lipsius allerdings immer auf einer uneigentlichen Sprachebene, die bestenfalls als symbolische Annäherungen an das Vermeinte gewertet werden könnte. Dies wendet Lipsius auch gegen Schleiermachers grundlegende Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Welt als absolute Kausalität. Diese Rede von einer gründenden Wirkung Gottes auf die Welt steht vor der Problematik, dass eine Kausalität gedacht werden muss, ohne endliche Kategorien und Vorstellungen von Kausalität einzutragen. So ist nach Lipsius die Rede von einer göttlichen Kausalität bereits inadäquat, weil dem göttlichen Wirken die Welt als Wirkung gegenübergestellt würde, was einer Verendlichung Gottes gleichkommt.207 Eine absolute Kausalität kann daher nur symbolischer Ausdruck für Gottes Fungieren als ideeller Grund aller Wirklichkeit sein.208 Gottes Sein ist das schlechthin ursprüngliche oder schlechthin sezende, das Sein der Welt das schlechthin gesetzte Sein, in welchem schlechthinnigen Gesetztsein durch das Absolute die Totalität der Kräfte und Erscheinungen wie der Ursachen und Wirkungen in der Welt inbegriffen ist.209

Den größten Fehler in der Grundlegung von Schleiermachers Theologie erblickt Lipsius in der Einseitigkeit dieser Gott-Welt-Verhältnis-Symbolisierung als ab-

204

A. a. O., 39. Vgl. ebd. 206 A. a. O., 40. 207 Vgl. a. a. O., 44. 208 Ulrich Barth hat für Schleiermachers Dialektik herausgearbeitet, dass Schleiermacher hier insgesamt nur von einer analogischen Beziehung zwischen der Einheit des Absoluten und der Einheit des menschlichen Selbstbewusstseins im Gefühl ausgeht. „Das Absolute ist die archetypische Einheit, das Gefühl die ektypische Einheit von Ideellem und Reellem.“ U B: Der Letztbegründungsgang der ›Dialektik‹. Schleiermachers Fassung des transzendentalen Gedankens, in: Ders.: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 353–385, hier 377. „Die Beziehung des Gefühls zum Absoluten ist kein Verhältnis intentionaler Art, sondern das einer ontischen Repräsentation des Absoluten.“ A. a. O., 376. 209 L, Schleiermachers Dialektik, 46. 205

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solute Kausalität. Die mögliche Vielfalt an symbolischen Repräsentationen des Gott-Welt-Verhältnisses werde hier unnötig verarmt.210 Die Rede von einer absoluten Kausalität wertet Lipsius dabei als Symbolisierung des göttlichen Wirkens in Analogie zur Naturkausalität.211 Demgegenüber wäre genauso eine Symbolisierung Gottes als absolute zwecksetzende Intelligenz denkbar, die Analogien zum menschlichen Bewusstsein zieht. Schleiermacher lehne dies vorschnell als unzulässige „Vergötterung des Bewusstseins“212 ab. Lipsius betont dagegen jedoch, dass sowohl Analogien zur Naturkausalität wie Analogien zum menschlichen Geistesleben inadäquate Momente enthalten und Gott verendlichen und das daher prima facie nicht mehr gegen eine Bezeichnung Gottes als absolute Intelligenz oder absolute Vernunft spricht als gegen eine Bestimmung Gottes als absolute Kausalität.213 Hierfür kann er sich auch auf Schleiermachers Rede vom „anthropoeidische[n]“214 Moment in aller religiösen Rede berufen. Wie Gott zum einen als Grund sämtlicher natürlicher Kausalität auftritt, was sich in dem symbolischen Ausdruck der absoluten Kausalität zeigt, so tritt Gott zum anderen als ein teleologisch-gestaltendes Prinzip auf, was durch den Ausdruck einer absoluten Vernunft symbolisiert würde. Entscheidend bleibt nach Lipsius immer das Bewusstsein, dass sich die positive Bestimmung des Gottesgedankens immer uneigentlicher bildlicher Rede verdankt, die einerseits versinnlichte Darstellungsweisen anbietet, andererseits immer Gefahr läuft, einer Verendlichung des Gottesgedankens Vorschub zu leisten. Diese Aufstellung einer doppelten Aussagenreihe über Gott, der positiven und der negativen, befürwortet Lipsius grundlegend, kritisiert aber die mangelnde Vermittlung der Aussagenreihen. Dieser Vermittlungsaufgabe schreibt Lipsius unmittelbare Kulturbedeutung zu, wird hier doch grundsätzlich das Verhältnis von Philosophie und Religion ausgehandelt und damit schließlich auch das Verhältnis von christlicher Tradition und neuzeitlichem Wahrheitsbewusstsein. So repräsentiert die negative Bestimmung des Absoluten das Anliegen philosophischer Reinheit und Redlichkeit. Die Philosophie bleibt dabei auf negative Aussagen über das Absolute restringiert.215 Die positive Aussagenreihe über das Absolute in seinem immanenten Wirken hingegen repräsentiert das Anliegen religiöser und speziell christlicher Traditionen und der in ihr verarbeiteten Erfahrung frommen Bewusstseins. Die Religion bleibt im Gegenzug aber auf eine Bildlichkeit ihrer Aussagen über das Absolute restringiert, die durch philosophische Kritik aufgedeckt und bewusst gehalten werden muss.216 Beide Anliegen 210

Vgl. a. a. O., 47. Vgl. a. a. O., 49. 212 A. a. O., 51. 213 Vgl. a. a. O., 52. Schleiermachers scheinbare Überordnung realer Momente statt idealer Momente im Verhältnis Gottes zur Welt interpretiert Lipsius als Nachwirkungen von der Spinoza nahestehenden Position Schleiermachers aus den Reden. Vgl. ebd. 214 A. a. O., 143. 215 Vgl. a. a. O., 144. 216 Vgl. ebd. 211

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gilt es in einem Prozess wechselseitiger Kritik zu vermitteln, der ein kooperatives Verhältnis von Philosophie und Dogmatik voraussetzt. Die Dogmatik hat über die wissenschaftliche Wahrheit ihrer Aussagen die Philosophie als Richterin anzuerkennen, die Philosophie umgekehrt die thatsächliche Wirklichkeit des in der frommen Erfahrung gesetzten Gehaltes nicht hinweg zu disputiren, sondern zu begreifen: jene muss daher der philosophischen Methode fortschreitend sich annähern, diese den Thatbestand der religiösen, also subjectiven Erfahrung annäherungsweise zu objectiver Erkentniss zurückführen.217

Bei Schleiermacher repräsentieren Philosophie und Religion nach Lipsius eine irreduzible Perspektivendifferenz auf das Absolute.218 Während die Philosophie am Ideal streng-logischer Redlichkeit orientiert ist, versucht die Religion, Symbolisierungen einer Immanenz des Absoluten zu bieten, die das Wirken des Absoluten in der Welt dem Menschen fassbar werden lassen. Entscheidend ist dabei für Lipsius einerseits, dass auch die religiöse Perspektive nicht nur eine defizitäre Darstellungsform des in der Philosophie in Reinform zu habenden Gedankens ist. Ihre positiven Aussagen sind trotz ihres bildlichen Charakters in einer Weise gehaltvoll, die durch das spekulative Denken des Absoluten unerreicht bleibt. In ihr spricht sich ein unmittelbares Gewahrsein einer lebendigen Wirklichkeitsfülle und ihrer im Selbstbewusstsein erlebbaren Einheit aus, das sich im philosophischen Begriff verflüchtigt. Andererseits droht die religiöse Symbolisierung des unmittelbaren Selbstbewusstseins, in sich verselbstständigende Vorstellungsgehalte umzuschlagen, die jegliches Differenzbewusstsein zwischen bildlicher Darstellungsform und dargestelltem Gewahrsein vermissen lässt. Lipsius rekonstruiert hier Schleiermachers Wissenstheorie in einer Weise, die unmittelbar in ein Plädoyer für ein dialektisch-dialogisches Verhältnis wechselseitiger Kritik und Kooperation von allgemeinen philosophischem Wahrheitsbewusstsein und religiöser Symbolrede übergeht. Damit ist der Kern sowohl von Schleiermachers Religionstheorie und auch Lipsius’ Anspruch auf eine Weiterentwicklung allerdings noch nicht berührt. Hierfür setzt Lipsius bei dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit an. Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit: Die wesentliche Präsenzform des Absoluten in der Welt ist für Schleiermacher das Gefühl.219 Den Hang zum Determinismus, den Lipsius in Schleiermachers gesamter Theologie ausmacht, sieht er in Schleiermachers Bestimmung der Präsenz des Absoluten als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit begründet. Gerade hier müsse eine Weiterentwicklung von Schleiermachers Theologie kritisch ansetzen. Lipsius ist es hier darum zu tun, die Freiheitsmomente im Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit selbst zu beto-

217

A. a. O., 43. Vgl. a. a. O., 142. 219 Vgl. a. a. O., 114. 218

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nen und gegen die Konzeption Schleiermachers zu wenden, die er im Kern für deterministisch hält.220 Das Gefühl kommt für Schleiermacher gerade deswegen als Präsenzform des Absoluten im Endlichen in Betracht, da Denken und Wollen dafür nicht in Frage kommen. Denken und Wollen operieren zwangsläufig in den endlichen Gegensätzen, die das Absolute aus sich ausschließen. Der Gegensatz von Realem und Idealem ist konstitutiv sowohl für das Denken, als Einbildung des Realen in das Ideale, und das Wollen, als Einbildung des Idealen ins Reale. Denken und Wollen sind so immer durch endliche Gegensätze vermittelt. Das Gefühl hingegen kann nach Schleiermacher das Absolute unvermittelt abbilden, da es eine Einheit von Idealem und Realem im Menschen darstellt, die allem Denken und Wollen immer schon vorausliegt. So kann Schleiermacher das Gefühl auch als unmittelbares Selbstbewusstsein fassen.221 Das Gefühl ist ein unvordenkliches, unvermitteltes Bewusstsein des Selbst. Hier setzt Lipsius mit einer konstitutionstheoretischen Kritik an, die ein Kritikmuster seines philosophischen Lehrers Weisse weiterführt.222 Das, was Schleiermacher mit dem Begriff des Gefühls zu fassen versucht, kann und sollte demnach nicht als etwas Unmittelbares aufgefasst werden.223 Vielmehr ist das Gefühl in seiner Konstitution abhängig von menschlichen Vorstellungen und menschlicher Fantasie.224 Das von Schleiermacher adressierte Gewahrsein einer Einheit von Ideellem und Realem als Grund aller menschlichen Geistesaktivität ist nach Lipsius nur vermittels der menschlichen Geistesaktivität zu haben. Durch subjektive Einflüsse auf die Konstitution des Gefühls nimmt es eine kulturrelative

220

Schleiermachers Glaubenslehre sei nach Lipsius durch eine deterministische Anschauung von vorne bis hinten geprägt. Vgl. a. a. O., 137. 221 Vgl. a. a. O., 114. 222 Siehe dazu Kapitel I.2.a/b. Max Scheibe führt die Aufwertung der Freiheit im Kern der Religion gegenüber Schleiermacher bei Lipsius auf den Einfluss von Leopold Immanuel Rückert zurück. Vgl. S, Art. Lipsius, 19. Wenngleich dies für die grundlegende Stoßrichtung gelten mag, zeigt die argumentative Struktur große Nähen zu Weisse. 223 Mit dieser Kritik schlägt Lipsius in eine vergleichbare Kerbe, wie die Dialektik-Studie Falk Wagners. „Das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl kann nur dann in eine Theorie der Freiheit ohne Bruch eingebracht werden, wenn man es als durch das selbsttätige Selbstbewußtsein konstruiert und vermittelt begreift.“ F W: Schleiermachers Dialektik. Eine kritische Interpretation, Gütersloh 1974, 9. 224 Der Begriff der Fantasie nimmt in Lipsius’ erkenntnistheoretischen Reflexionen der Religion eine zentrale Stellung ein. Vgl. Kapitel II.4. Auch wenn Lipsius hier versucht, die Bedeutung der Fantasie im Zentrum der Religion gegenüber Schleiermacher weiter aufzuwerten, sind es vor allem Schleiermachers Reden, die sich um eine religionstheoretische Apologie der Fantasie in Bezug auf Religion verdient gemacht haben: „Ihr, hoffe ich, werdet es für keine Lästerung halten, daß Glaube an Gott abhängt von der Richtung der Fantasie; Ihr werdet wißen daß Fantasie das Höchste und ursprünglichste ist im Menschen, und außer ihr alles nur Reflexion über sie; Ihr werdet es wißen, daß Eure Fantasie es ist, welche für Euch die Welt erschaft, und daß Ihr keinen Gott haben könnt ohne Welt.“ S, Über die Religion, 245.

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Gestalt an. Es ist in seiner konkreten Ausprägung immer auch von der Biografie, von der Welterfahrung und von Wünschen seiner Trägerperson geprägt. Denn das unmittelbare Selbstbewusstsein ist nicht transcendentale, sondern empirische Einheit, die unmittelbare Gegenwart unsres ganzen ungetheilten Daseins, das Innewerden unsrer selbst in der Totalität seines Inhalts, in seiner jedesmaligen ganzen, ungebrochenen Bestimmtheit oder Thätigkeit; […] Aber eben daraus ergibt sich, dass diese Einheit des Gefühls keine unvermittelte, sondern eine unendlich vermittelte ist, bestimmt und beeinflusst durch unsre ganze bisherige Lebensentwickelung in ihrer Wechselwirkung mit der äusseren Welt, und die Spuren an sich tragend von Allem, was wir bisher erfahren und gethan, empfunden, gedacht und gewollt haben.225

Lipsius zielt hier nicht nur auf eine lediglich faktische Vermengung der Religion mit ihr ursprünglichen fremden Momenten von Denken und Handeln, wie sie Schleiermacher selbst freilich einräumte.226 Auch prinzipiell stellt er eine exklusive Zuordnung der Religion zum Gefühl in Frage. Alle Formen menschlichen Geisteslebens – Denken, Wollen und Gefühl gleichermaßen – kommen als Präsenzform des Absoluten in Betracht. Religion kann demnach nicht mehr als eine eigene Provinz im Gemüte gefasst werden. So droht aber gerade das Verdienst Schleiermachers, die Verteidigung der Eigenständigkeit der Religion in der Kultur, verlustig zu gehen. Daher muss Lipsius ein Phänomen identifizieren, das genuiner Bezugspunkt der Religion ist. Ein solches Grundphänomen der Religion erkennt Lipsius in einem Unendlichkeitsbedürfnis des Menschen, das aus einem Endlichkeitsbewusstsein erwächst. Hier beruft sich Lipsius auf den vierten Paragraphen von Schleiermachers Glaubenslehre. Das Wechselspiel endlicher Abhängigkeit und endlicher Freiheit, dem jeder Mensch in seinem Leben ausgesetzt ist, verweist auf einen transzendenten Grund. Dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit, das sich im Wechselspiel von Freiheit und Abhängigkeit ausbildet, wohnt also ein Verweis auf ein Unendliches inne.227 Dieses im Endlichkeitsbewusstsein sich geltend machende Bedürfnis, einen unendlichen Grund anzunehmen, nennt Lipsius eine Nötigung. Es wohnt unserm Geiste also auch ehe es zu jener Reflexion kommt, eine unbewusste und instinktive Nöthigung inne, vom Endlichen zum Unendlichen zurückzugehen, die Totalität des endlichen Daseins, soweit es uns überhaupt in der Wechselwirkung mit dem Ich zum Bewusstsein gekommen ist, samt diesem unsern Ich selbst auf einen letzten, absoluten Grund zu beziehn und in die gleich unbedingte oder schlechthinnige Abhängigkeit von diesem Absoluten zu setzen.228 225

L, Schleiermachers Dialektik, 116. So hat Schleiermacher in seinen Reden selbst darauf verwiesen, dass es sich nur einer künstlich-isolierenden Perspektive verdankt, wenn der Kern der Religion in Abgrenzung von Denken und Handeln als Anschauung und Gefühl bestimmt wird. Faktisch liegt Religion nur im Verbund mit anderen Funktionen menschlichen Bewusstseins vor. Vgl. S, Über die Religion, 207. 227 Vgl. L, Schleiermachers Dialektik, 118. 228 A. a. O., 119. 226

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Die Nötigung äußert sich in einem „Gefühl der Unruhe“229, das erst in einem religiösen Gefühl der Verbundenheit mit dem Unendlichen zur Ruhe findet. Sie äußert sich nach Lipsius jedoch nicht im Gefühl allein. Sie äußert sich ebenso in der Fantasietätigkeit und dem Denken des Absoluten.230 Das wesentliche Bezugsphänomen der Religion ist also nicht das Gefühl an und für sich, sondern eine dem religiösen Gefühl zugrundeliegende Nötigung, das Endliche im Licht des Unendlichen zu betrachten. Die Konsequenz dieser Kritik an Schleiermachers Gefühlskonzeption ist, dass zwar einerseits das Absolute im Gefühl, in Fantasie und im Denken präsent, jedoch andererseits niemals direkter unvermittelter Gegenstand dieser Formen menschlicher Geistestätigkeit sein kann.231 Die menschliche Geistestätigkeit kann demnach stets nur letztlich inadäquate Symbolisierungen des Absoluten im Endlichen erreichen. Dies gilt es gerade in der religiösen Erkenntnistheorie bewusst zu machen und bewusst zu halten. Die Absage an eine unvermittelte Gegenwart des Absoluten im menschlichen Geistesleben ist zugleich Kritik an einer einseitig passivischen Auffassung von Religion, welche Schleiermachers Religionstheorie präge. Das Gefühl sei für Schleiermacher gerade als religiöse Provinz im Gemüt priorisiert, da es die Rezeptivität des Menschen im Kern der Religion betont und menschliche Aktivität bestenfalls als Folge von Religion zulässt.232 So wird Frömmigkeit von Schleiermacher als eine passive Zuständlichkeit des Menschen bestimmt. Lipsius hingegen verweist auf die konstitutive Geistesaktivität des Menschen in allen Formen von Religion. Die religiöse Zuständlichkeit des menschlichen Selbstbewusstseins ist durch Fantasie, Denken oder Wollen mitkonstituiert.233 Menschliches Gottesbewusstseins setzt so immer schon freie Selbsttätigkeit des Menschen voraus. Diese Betonung der menschlichen Geistesaktivität im Kern der Religion soll sie nach Lipsius jedoch keineswegs zu einer Spielerei menschlicher Fantasie erklären. Die menschliche Aktivität gibt vielmehr dem Absoluten eine konkrete symbolisch verdichtete Gestalt im menschlichen Bewusstsein, die von dem Absoluten selbst streng zu unterscheiden ist. Hier beruft sich Lipsius auf Schleiermachers Unterscheidung vom Absoluten an sich und dem Absoluten in uns.234 Die Einheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins ist nicht das Absolute an sich selbst, sondern nur eine Repräsentation des Absoluten im Menschen.235 Folglich ist es auch nicht die Phantasie, welche Gott schafft, indem sie die eigne innere Unendlichkeit über unsre empirische Individualität hinaus in einer objectiven Vorstellung reflectirt, sondern Gott selbst oder das Absolute ist der transcendente Grund auch für die

229

A. a. O., 120. Vgl. a. a. O., 119. 231 Vgl. a. a. O., 120. 232 Vgl. a. a. O., 121–122. 233 Vgl. a. a. O., 122. 234 Vgl. a. a. O., 127. 235 Vgl. a. a. O., 130. 230

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I. Die Formierungsphase 1830–1876

Thätigkeit unsrer Phantasie, und nur die Vorstellung Gottes als Ich nach der Analogie unsres Ich kommt auf Rechnung des transcendenten Grund eben damit zugleich in den Bereich der Gegensätze herunterziehenden Phantasie.236

Die freie menschliche Geistestätigkeit ist konstitutiv an der Religion beteiligt. Darin erschafft sie nicht Gott, sondern bringt ihn symbolisch zur Darstellung. Eine entscheidende Pointe bei Lipsius ist, dass die freie menschliche Geistestätigkeit in der Religion selbst zu einem solchen Ausdruck des selbstoffenbarenden Wirkens Gottes wird und nicht erst ihre Gegenstände. Die Religion kommt als eine menschliche Aktivität in den Blick, die aus frommer Perspektive zugleich als ein Wirken Gottes gilt. Sondern das Selbstbewusstsein als ,frommes,‘ d. h. in seiner Bezogenheit auf das Gottesbewusstsein, wird schliesslich erkannt werden müssen als der subjective Ausdruck einer wirklichen und wesentlichen Selbstoffenbarung des göttlichen Geistes im menschlichen Geist, also nicht blos als eine Bewegung des Menschen zu Gott hin, sondern auch als nothwendiger Reflex einer entsprechenden Bewegung Gottes zum Menschen hin237.

Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit wird bei Lipsius also einerseits seiner Unmittelbarkeit entkleidet und andererseits die Vermitteltheit des Gefühls selbst als eine durch Gott gegründete Aktivität menschlichen Geistes aufgefasst. Das konkrete religiöse Leben des Menschen selbst soll zugleich als freies menschliches Wirken und als Ausdruck göttlichen Wirkens ausgelegt werden. Für die Religion ist auch für Lipsius ein subjektiv-vermittelter Gegenstandsbezug wesentlich – wie es Weisse gegen Schleiermacher stark gemacht hat.238 Nicht jedoch der Gegenstand des Gegenstandsbezugs, sondern die Intentionalität selbst, wird allerdings als Reflex auf göttliches Wirken akzentuiert. Als Bedingung der Möglichkeit von religiöser Geistestätigkeit des Menschen, wird eine transzendentale Funktion des Gottesgedankens herausgestellt, die aus der Perspektive der Frömmigkeit als selbstoffenbarendes Wirken Gottes im Menschen ausgelegt wird. So werden auch die konkreten biographisch, geschichtlich und kulturell gefärbten Formen menschlichen Gottesbewusstseins als Teil einer göttlichen Selbstoffenbarungsgeschichte akzentuiert und ihre Vielfalt als Lebendigkeit der Religion gewürdigt.239 Ohne die unendliche Mannichfaltigkeit des endlichen Daseins, ohne den unerschöpflichen Reichthum des natürlichen und geistigen, höher des sittlichen Lebens, in welchem die fromme Betrachtung immer neue göttliche Offenbarungen erkennt, würde unsre Frömmigkeit allerdings eine sehr eintönige sein, und wenn sie überhaupt jemals kräftig hervorgetreten wäre, doch sicher aus Mangel an Nahrung ersterben.240

236

A. a. O., 130–131. A. a. O., 149–150. 238 Siehe dazu Kap. I.2.a. 239 Vgl. a. a. O., 138. 240 A. a. O., 140. 237

4. Kämpfe mit der Orthodoxie – Kiel 1865–1871

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Theologisch gewendet bedeutet die kulturrelative und historische Prägung der Religion, dass auch das selbstoffenbarende Handeln Gottes in und durch das menschliche Geistesleben an der Geschichte partizipiert. Die subjektiven Vorstellungen der Religion unterstehen so einer Entwicklung, welche als zunehmendes Offenbarwerden Gottes zu interpretieren ist: Im Gegentheile hat die Religionsphilosophie die göttliche Offenbarung selbst als Geschichte, und den Process des religiösen Bewusstseins als die subjective Seite dieser objectiven Geschichte zu betrachten, die zwar keine Geschichte Gottes selbst, aber doch eine göttliche Geschichte ist, nämlich die Geschichte der lebendigen Gegenwart Gottes im Menschen.241

Die Offenheit für die Vielfalt endlicher Symbolisierungen des Unendlichen ist für Lipsius gerade durch die fundamentale und wegweisende Umstellung der Theologie durch Schleiermacher von objektiven Aussagen über Gott auf Aussagen über das Bewusstsein Gottes am Ort des menschlichen Bewusstseins erreicht worden.242 So kann seine Kritik an der passivischen Religionstheorie als ein Versuch gefasst werden, mit Schleiermacher über Schleiermacher hinaus zu schreiten. Einerseits versucht Lipsius mit seiner konstitutionstheoretischen Kritik an Schleiermachers Konzept einer schlechthinnigen Abhängigkeit, die Theologie noch stärker auf die faktische Phänomenalität menschlichen Bewusstseins und ihrer kontingenten Prägungen einzuschwören. Andererseits bettet Lipsius diese Bewegung in eine spekulative Rahmenauslegungen dieser Phänomenalität aus der Perspektive des frommen Bewusstseins, indem er das Motiv, das freie menschliche Geistesleben als göttliche Selbstoffenbarung zu begreifen, auf das religiöse Leben des Menschen anwendet. In seinen Schleiermacherstudien versucht Lipsius, beide Perspektiven durch eine Verhältnisbestimmung von Aktivität und Passivität im Kern der Religion zu vermitteln. Die passivische Mystik von Schleiermachers Reden: Seine Kritik an einer einseitig-passivischen Religionstheorie erneuert Lipsius in seinen späteren Studien zu Schleiermachers Reden über die Religion von 1875 und nähert sich dabei seinem Lösungsansatz an. Auch hier diagnostiziert er eine deterministische Grundrichtung von Schleiermachers Philosophie.243 In Schleiermachers Reden erblickt Lipsius eine Synthese aus romantischen und mystischen Elementen. Romantisch sind die Reden, indem sie das Einzelne, Individuelle und Besondere aufwerten. Gerade in dem Individuellen und Besonderen soll das Unendliche anschaulich sein und angeschaut werden. So erscheint das Unendliche dem Menschen in einer je subjektiv gebrochenen großen Lebendigkeit und Vielfalt.244 Zu diesem roman241

A. a. O., 150. Vgl. a. a. O., 141. 243 Vgl. .: Schleiermachers Reden über die Religion, in: Jahrbücher für Protestantische Theologie (1875) 1, 134–184.269–315, hier 135. 244 Vgl. a. a. O., 142. Zu Lipsius’ Rekonstruktion der romantischen Prägung von Schleiermachers früher Theologie vgl. .: Schleiermacher und die Romantik, in: Ders.: Glauben und Wissen. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Berlin 1897, 275–298. 242

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I. Die Formierungsphase 1830–1876

tischen Motiv gesellt sich das mythische, indem Schleiermacher von einem unmittelbaren Bewusstsein des Unendlichen im Endlichem ausgeht. Gerade in dieser Unmittelbarkeit erblickt Lipsius Schleiermachers einseitig-mystische Auffassung von Religion begründet.245 So muss eine produktive Weiterbildung von Schleiermachers Religionstheorie hier ansetzen. Religion soll durchaus als eigenständiges Phänomen in der Kultur gewürdigt werden, aber gerade in Schleiermachers berühmter Zuordnung zu einer eigenen Provinz im Gemüt manövriert Schleiermacher die Religionstheorie in ihre problematische Einseitigkeit.246 Die berühmte Bestimmung der Religion als Anschauung und Gefühl oder auch als Sinn und Geschmack für das Unendliche kennzeichnen Religion durch eine Ahnung des Unendlichen. Das Universum bringt sich in dieser Ahnung allerdings selbst im Menschen zur Geltung. Eine Haltung „kindlicher Paßivität“247 des Menschen steht im Vordergrund. Zwar stellt Lipsius prinzipiell auch in der Religionstheorie von Schleiermachers Reden ein doppeltes Moment der Religion heraus: Religion ist einerseits durch ein aktives Moment eines Triebes zur Erhebung über die bloße Erscheinungswelt hin zum Unendlichen und andererseits durch ein passives Moment des Gewahrwerdens des Unendlichen in allem Endlichen gekennzeichnet. Bei Schleiermacher werde das aktive Moment der Religion jedoch sehr weit in den Hintergrund gerückt, was Lipsius auf Schleiermachers persönliche Frömmigkeit zurückführt.248 Der religiöse Trieb wird sofort als der Trieb das Unendliche anzuschauen bestimmt, also als lebendig erregte religiöse Empfänglichkeit, während die Erhebung über die Welt, die active

245

Vgl. ., Schleiermachers Reden, 136. Vgl. a. a. O., 160. 247 S, Über die Religion, 211. 248 Vgl. L, Schleiermachers Reden, 164. Gegen diese Feststellung eines PassivitätsPathos in Schleiermachers Reden durch Lipsius lassen sich allerdings auch Passagen anführen, die eher die Feststellung eines gewissen Freiheits-Pathos nahelegen. So ist eine freiheitliche Grundstellung des Menschen Aneignungsvoraussetzung der Religion. „Sie [sc. die Religion] ist kein Sklavendienst und keine Gefangenschaft; auch hier sollt Ihr Euch selbst angehören, ja dies ist sogar die einzige Bedingung, unter welcher Ihr ihrer teilhaftig werden könnt.“ S, Über die Religion, 242. Gerade die Beseitigung aller freiheitshinderlicher Haltungen im Menschen wird als das „fortgehende Erlösungswerk der ewigen Liebe“ (a. a. O., 234) ausgegeben: „Blinder Instinkt, gedankenlose Gewöhnung, todter Gehorsam, alles Träge und Paßive, alle diese traurigen Symptome der Asphyxie der Freiheit und Menschheit sollen vernichtet werden.“ (A. a. O., 234) Allerdings macht Schleiermacher über den Begriff der Eingebung deutlich, dass alle menschliche Selbsttätigkeit durch die Religion in einen Rahmen übergeordneter Passivität eingebettet ist. „Was heißt Eingebung? Es ist nur der religiöse Name für Freiheit. Jede freie Handlung, die eine religiöse That wird, jedes Wiedergeben einer religiösen Anschauung, jeder Ausdruk eines religiösen Gefühls, der sich wirklich mittheilt, so daß auch auf andre die Anschauung des Universums übergeht, war auf Eingebung geschehen; denn es war ein Handeln des Universums durch den Einen auf die Andern.“ A. a. O., 240–241. 246

4. Kämpfe mit der Orthodoxie – Kiel 1865–1871

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Bewegung des Ich zum Unendlichen hin, diese lebendige Wurzel aller religiösen Activität, gar nicht weiter in Betracht kommt.249

Die menschliche Aktivität wird von Schleiermacher von der Religion abgetrennt und dem Bereich des Sittlichen überantwortet. Auf diese Weise schränkt Schleiermacher die Religion auf ein Moment der Unmittelbarkeit ein und versteht Religion somit letztlich nur als Mystik.250 Alles Denken und Handeln kann zwar auf Religion bezogen sein, aber es ist nicht selbst Teil von Schleiermachers Religionstheorie. Demgegenüber fordert Lipsius, dass eine Religionstheorie auch die aus der von Schleiermacher adäquat erfassten Wurzel der Religion hervorgehenden Momente von Wissen und Tun mitumschließt.251 Religionstheorie soll eine Reihe geistiger Tätigkeiten beschreiben, welche der menschlichen Religion zugrunde liegen. Dieses Anliegen soll jedoch nicht hinter die Errungenschaften Schleiermachers zurücktreten. So ist und bleibt es nach Lipsius richtig, dass Dogmen nicht selbst Teil der Religion sind, wenngleich sie Reflexionsformen der Religion sind.252 Die Begriffe der Religion gewinnen ihren Bezug zur Religion durch ihren Bezug auf religiöse Erfahrung.253 Durch seine passivische Bestimmung religiöser Erfahrung gelingt es Schleiermacher, gerade einem Subjektivismus religiöser Erfahrung vorzubeugen. Seine Betonung der Passivität des Menschen bei der Anschauung des Unendlichen verhindert, sie als reine Konstruktionen einzelner Menschen werten zu müssen.254 So ist es Lipsius gerade nicht darum zu tun, das passivische Moment der Religion abzustreifen. Vielmehr setzt er hier mit dem prägenden Kunstgriff seiner späteren Religionstheorie an und fordert, das passive Moment der Religion mit menschlicher Geistesaktivität zu verschmelzen. Aber die Passivität ist zugleich geistige Activität, Aeusserung eines in lebendiger Thätigkeit begriffenen Triebes, ein Gedanke, der nur weiter verfolgt zu werden braucht, um auch die dem Schleiermacher’schen Religionsbegriffe noch anhaftende Einseitigkeit abzustreifen.255

Das aktive Moment der Religion nach Lipsius ist zugleich eine Möglichkeitsbedingung des Gewahrwerdens des passiven Moments. Die Anschauung des Un-

249

L, Schleiermachers Reden, 164. „Indem nun Schleiermacher die Religion lediglich auf dieses Moment der Unmittelbarkeit beschränkt, sie mit Einem Worte als Mystik und nur als Mystik versteht, ergibt sich auf seinem Standpunkte nothwendig von selbst, dass sie ihn nur Anschauung und Gefühl des Unendlichen ist, mit Ausschluss alles Denkens und Handelns, welches beides wol mit Religion, aber niemals aus Religion erfolgen soll.“ A. a. O., 165. Lipsius kritisiert hier nicht mystische Momente selbst, sondern deren Ausschließlichkeit. Später wird gerade seine Verteidigung eines mystischen Moments der Religion zum folgenreichen Differenzpunkt zur radikalen Ablehnung der Mystik bei Ritschl. Siehe dazu Kap. III.2.b. 251 Vgl. a. a. O., 166. 252 Vgl. a. a. O., 271. 253 Vgl. a. a. O., 273. 254 Vgl. ebd. 255 Ebd. 250

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endlichen setzt für den Menschen einen Begriff des Unendlichen überhaupt erst voraus. Grund für die Ausbildung eines solchen Begriffs des Unendlichen ist nach Lipsius die im Menschen angelegte Nötigung dazu.256 Diese Nötigung lässt sich ihm zufolge aus der Perspektive der Frömmigkeit als Wirken Gottes im menschlichen Geist auslegen. So wird das aktive Moment der Religion selbst auf einen göttlichen Grund zurückgeführt. Die Herausforderung dieser Konzeption ist es, die Aktivität und Passivität des Menschen in eins zu denken. Sie wird fortan zu einer Grundsignatur von Lipsius’ theologischer Grundlegung, die sich im Kern als Weiterentwicklung von Schleiermachers Religionstheorie versteht. Für die bereits in den Dialektik-Studien beklagte deterministische Anmutung von Schleiermachers gesamter Theologie scheint in seinen Studien von Schleiermachers Reden Lipsius’ Lösungsansatz auf. Die Rezeptivität des Menschen in der Religion soll verschmolzen werden mit konstitutiver Beteiligung sämtlicher Vollzugsformen menschlichen Geisteslebens, wie Denken, Handeln und Fühlen. Lipsius geht es um eine Freiheit, die untrennbar in dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit geborgen liegt und damit selbst das ,Woher‘ schlechthinniger Abhängigkeit in der eigenen freien Aktivität zur Darstellung bringt. In der sich hier in seinen Schleiermacherstudien andeutenden Konzeption verbleibt allerdings ein menschlicher Unendlichkeitstrieb des Menschen das Fundament des religiösen Lebens. Statt wie Schleiermacher selbst den Ausgang bei einer Beschreibung der Phänomenalität der Religion in den Reden oder einer transzendentalen Theorie menschlicher Subjektivität in der Dialektik zu nehmen, bietet Lipsius hier eine – zumindest scheinbare – Naturalisierung des Religionslebens des Menschen an, indem er es auf eine allgemeine Triebstruktur des Menschen zurückführt.257 Erst im weiteren Verlauf seiner theologischen Entwicklung wird Lipsius bezüglich dem theoretischen Status eines solchen Triebs eine klare Position gewinnen und sie entschieden selbst in einen freiheitstheoretischen Rahmen einbetten.258 Resümierend lässt sich über Lipsius’ Schleiermacherstudien festhalten, dass sie von einer produktiven Aneignung der Theologie Schleiermachers zeugen, die von Beginn auf die Ausbildung eines eigenen theologischen Programms hindeutet. Im Rahmen seiner Kritik an Schleiermachers Wissenstheorie plädiert er für eine realistische Erkenntnistheorie, die durch eine noch explizit als Metaphysik ausgegebene Rahmentheorie abgesichert wird. Aus seiner Rekonstruktion der Gotteslehre aus Schleiermachers Dialektik gewinnt Lipsius eine Doppelperspektivität auf das Absolute, die Religion und Philosophie als je eigene relevante Beiträge zum Aufbau menschlichen Kulturlebens ausweist. Schließlich in seiner

256

Vgl. a. a. O., 277. In einer solchen Konstruktion eines religiösen Triebes auch bei Lipsius identifiziert Korsch in Anschluss an Wilhelm Herrmann ein problematisches Ineinanderschieben von Faktizitäts- und Geltungsfragen, das auch den Blick auf Schleiermachers Konzeption des Gefühls verstellt. Vgl. D K: Religionsbegriff und Gottesglaube. Dialektische Theologie als Hermeneutik der Religion, Tübingen 2005, 112. 258 Siehe dazu Kap. III.1. 257

5. Weiterbildung liberaler Theologie – Jena 1871–1892

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kritischen Aneignung von Schleiermachers Konzeption des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit entwickelt Lipsius eine Religionstheorie, die durch zwei zentrale Grundannahmen gekennzeichnet ist: Auf der einen Seite postuliert Lipsius eine triebhafte Nötigung des Menschen, seine Wirklichkeit im Horizont des Unendlichen auszulegen, die zur Ausbildung von Religion führt. Auf der anderen Seite bestimmt Lipsius den Kern der Religion durch eine eigentümliche Verschmelzung von schlechthinniger Abhängigkeit als vollständige menschliche Passivität und freier menschlicher Geistestätigkeit als vollständige menschliche Aktivität. Dieser Konzeption zur Folge ist sich der Mensch in dem Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit eines transzendentalen Grundes seines gesamten Geisteslebens gewahr und zugleich ist dieses Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit nur durch menschliche Aktivität im Denken, Wollen und Fühlen ermöglicht. Diese menschliche Aktivität wird so selbst zum Ausdruck für ihren Grund. Aus der Perspektive der Frömmigkeit kann beides, das menschliche Unendlichkeitsbedürfnis und die Verschmelzung von Freiheit und Abhängigkeit im Kern der Religion als selbstoffenbarendes Wirken Gottes ausgelegt werden. Auf diese Weise deutet sich bereits das systemarchitektonische Zentrum von Lipsius’ späterer Theologie in seinen Schleiermacherstudien an, macht dabei jedoch auch deutlich, dass diese Grundkonzeption weiterer Klärung bedarf, die Lipsius erst im weiteren Verlauf seines Werks leistet.

5. Weiterbildung liberaler Theologie – Jena 1871–1892 Mit dem Wechsel an die theologische Fakultät Jenas als Professor für Systematische Theologie und Neues Testament 1871 fand Lipsius seine liberal-theologische Heimstätte. Erst hier begann Lipsius, seine systematische Theologie programmatisch zu entfalten und stellte sich dabei bewusst in die bereits etablierte freisinnige Tradition Jenas ein. Er gab ihr allerdings auch eine neue pointierte Gestalt, in der das liberale Profil in „eine[r] wesentlich schärfere[n] theologische Tonart“259 hervortrat.260 Die liberale Tradition Jenas vor Lipsius hatte seine Zentralgestalt in dem Dogmatiker und Kirchenhistoriker Karl von Hase.261 Er vertrat dezidiert eine am 259

H, Geschichte der theologischen Fakultät zu Jena, 281. Nachdem Lipsius an die Universität Jena umgesiedelt ist, war die theologische Fakultät mit dem Alttestamentler Ludwig Diestel (1825–1879), dem Neutestamentler und Dogmatiker Lipsius, dem Kirchengeschichtler und Dogmatiker Karl August von Hase (1800–1890) und dem Praktischen Theologen Otto Pfleiderer (1839–1908) besetzt. Daneben ist noch der außerordentliche Professor Adolf Hilgenfeld (1823–1907) hervorzuheben, welcher das 1890 ergänzte fünfte Ordinariat für das Neue Testament übernahm, womit Lipsius’ Aufgabenbereich auf die Systematische Theologie fokussiert wurde. Vgl. I, Liberale Theologie in Jena, 28–29. 261 Vgl. M H: Karl von Hase als Kirchenhistoriker (Beiträge zur historischen Theologie 167), Tübingen 2012, 65. 260

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I. Die Formierungsphase 1830–1876

Ideal der Freiheit ausgerichtete Theologie, die sowohl Forschung als auch Lehre bestimmen soll.262 Zentral ist hierbei der Versuch einer wissenschaftlichen Ergründung des Evangeliums, die an die Stelle eines Glaubens auf der Basis äußerer Autorität treten soll. Dabei sollen christliche Begeisterung, freies Denken und moderne Bildung eng verbunden werden.263 „Er [sc. von Hase] steht für ein historisch reflektiertes, religionstheoretisch begründetes und religionsphilosophisch anschlussfähiges Protestantismuskonzept.“264 In einem Nachruf betont Lipsius den großen Einfluss von von Hase auf ihn bereits in seinen Studienjahren.265 Auf das dogmatische Überblickswerk Hutterus redivivus von ihm hat Lipsius in nahezu jedem Lehrstück seines dogmatischen Lehrbuchs verwiesen. Nach dem Tod von Lipsius’ Amtsvorgänger Leopold Immanuel Rückert war es Karl von Hase, der versucht hat, Lipsius als Nachfolger für den Lehrstuhl für Systematische Theologie und neutestamentliche Exegese zu gewinnen. Er schrieb ihm, dass unser Jena, immer vorzugsweise eine theologische und philosophische Universität, wenn auch derzeit durch die orthodoxe Wuth und den Vermittlungswahn etwas herabgekommen, sich durch seine Erinnerungen, seine nothwendige Freiheit, seine Lage und immer noch billige gemüthliche Sitte, dazu angethan ist nach ihrer ursprünglichen Bestimmung die alte kaiserliche Reichsuniversität des Protestantismus zu sein.266

Lipsius nahm mit Freuden an, da sich die Konflikte mit dem Konfessionalismus intensiviert hatten. 1867 hatte Lipsius einen Ruf an die Heidelberger Universität auf die Lehrstuhlnachfolge Richard Rothes noch abgelehnt mit der Begründung „im preussischen Staate und im norddeutschen Bund“267 wirken zu wollen. Nachdem Lipsius dem Protestantenverein beigetreten ist und am Protestantentag 1868 in Bremen teilgenommen hatte, sah er sich Repressionen ausgesetzt, die ihm zum baldigen Fortgang bewegten: Er wurde aus der wissenschaftlichen Prüfungskommission entfernt,268 aufgrund „ungehöriger ,Agitation‘ gegen die confessionelle Partei“269 im Auftrag des Ministers von Mühler gerügt und früherer Rückhalt in Kiel löste sich auf. 1872 reflektiert Lipsius die preußische Universitätspolitik in der anonym veröffentlichten Schrift Ein Stück aus der Hinterlassenschaft des 262 Vgl. B J: Karl v. Hase. Ideale und Irrthümer, in: Eilert Herms (Hg.): Vergessene Theologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Studien zur Theologiegeschichte (Göttinger theologische Arbeiten 32), Göttingen 1984, 149–154, hier 152. 263 Vgl. K A  H: Annalen meines Lebens (Gesammelte Werke von Karl von Hase 11), Leipzig 1891, 180. 264 Vgl. I, Liberale Theologie in Jena, 22. 265 Vgl. R A L: Karl von Hase. Ansprache an seine Zuhörer, gehalten am Morgen des 6. Januar 1890, in: Ders.: Glauben und Wissen. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Berlin 1897, 314–320, hier 316. 266 Hase an Richard Adelbert Lipsius am 21.06.1871 zit. n. R, Lipsius Lebensbild, 32. 267 Brief von Lipsius vom 1. März 1870 zit n. I, Liberale Theologie in Jena, 37. 268 Vgl. R A L: Ein Stück aus der Hinterlassenschaft des Herrn von Mühler. Zur Erwägung für die Folgezeit, Berlin 1872, 57. 269 Ebd.

5. Weiterbildung liberaler Theologie – Jena 1871–1892

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Herrn von Mühler, der Politik, der er – seiner Darstellung nach – selbst zum Opfer gefallen ist. Mit dieser aufwendigen statistisch gesättigten Studie der Amtszeit vom preußischen Kultusministers Heinrich von Mühler hat Lipsius die „Schlüsselschrift zur Kultuspolitik der sechziger Jahre“270 geschrieben. Mühlers Politik habe freie theologische Forschung und freiheitlich gesinnte Theologie mit eiserner Hand unterdrückt und damit die preußischen Theologiefakultäten vom Fortschritt der theologischen Disziplinen abgekoppelt.271 Während zu Zeiten Schleiermachers, Marheinekes, de Wettes und Neanders die ganze theologische Jugend nach Berlin ausgerichtet gewesen sei, muss er 1872 konstatieren: „Heute liegt der Schwerpunkt des theologischen Lebens außerhalb Preußens.“272 Die Folge sei die Entfaltung eines „orthodoxen Fanatismus […], der nicht blos jede gesunde kirchliche Entwicklung und damit zugleich unsere ganze moderne Cultur bedroht, sondern bereits zu einer ernsten Gefahr für unser deutsches Staatsleben herangewachsen ist.“273 Die verbreitet wahrgenommene Marginalisierung der Theologie, welche von konservativen Theologen gerne liberaler Theologie angelastet wird, stellt Lipsius der Wissenschaftsfeindlichkeit der Orthodoxie in Rechnung.274 So ist es vor allem die Form freier wissenschaftlicher Forschung, der sich Lipsius mit seinem liberalen Selbstverständnis verpflichtet.275 Die Orientierung der Theologie an allgemeinen Wissenschaftsstandards und der so möglichen und erforderlichen kritischen Erforschung der eigenen christlichen Tradition ohne strenge Bekenntnisvorgaben kann als Grundstoßrichtung der Jenaer Fakultät im ausgehenden 19. Jahrhundert gelten. Das liberale Profil der Jenaer Theologie hängt dabei nicht an Einzelpersönlichkeiten, es wurde bewusst berufungsstrategisch verfolgt, um eine freie theologische Forschung unter Standards moderner Wissenschaftlichkeit und Wissenschaftsfreiheit des gesamten Lehrkörpers zu gewährleisten.276 Dieses liberale Profil konkretisiert sich in der entschieden historisch-kritischen und religionsgeschichtlich orientierten Exegese, einer wissenschafts- und erkenntnistheoretischen – vorwiegend kantischen – Fundierung der theologischen Arbeit und einem Anschluss an die kritischspekulative Schule Ferdinand Chr. Baurs.277 Mit diesem grob umrissenen Profil der Jenaer Theologie verfolgt sie das gemeinsame Anliegen, einer wahrgenommenen Diastase zwischen Christentum und moderner Kultur entgegenzuwir270

Vgl. J W: Theologiae Facultas. Rahmenbedingungen, Akteure und Wissenschaftsorganisation protestantischer Universitätstheologie in Tübingen, Jena, Erlangen und Berlin 1850–1870 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 108), Berlin 2008, 103. 271 Vgl. L, Hinterlassenschaft des Herrn Mühler, 2. 272 A. a. O., 5. 273 A. a. O., 69. 274 Für den Deutungsstreit über die verbreitet wahrgenommene Marginalisierung der Theologie vgl. W, Theologiae Facultas, 216–217. 275 Vgl. R A L: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik, Braunschweig 1876, 4. 276 Vgl. I, Liberale Theologie in Jena, 314. 277 Vgl. a. a. O., 315.

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I. Die Formierungsphase 1830–1876

ken.278 Diese Diastase wird vor allem auf einen wissenschaftlichen Anschlussverlust der Theologie zurückgeführt, der es mit kritischer wissenschafts- und erkenntnistheoretischer Reflexion entgegenzuwirken gilt. Beredtes Zeugnis der Brisanz dieser Problematik gibt der Strassburger Professor Heinrich Holtzmann in dem programmatischen ersten Eintrag von 1875 in dem maßgeblich von Lipsius konzipierten publizistischen Organ der Jenaer Theologie, den Jahrbüchern für protestantische Theologie.279 Unsere unmittelbare Gegenwart fühlt die Last und den Ernst des Daseins auf Herz und Gewissen, wie kaum je eine Zeit. Alte Weltanschauungen welken dem Grabe entgegen. […] Keine Zeit hat vermöge der überraschendsten Resultate der Natur- und Geschichtswissenschaften so grosse Ansprüche an die Fähigkeit der Menschen, liebgewordenen Illusionen zu entsagen, gestellt. Wir müssen beständig umlernen; […] Gilt das von irgend einer Wissenschaft, so gilt es von der Theologie, die nicht blos fortwährend genug zu thun hat, um nach innen aufzuräumen und nach aussen zu vertheidigen, sondern auch inmitten dieser rastlosen Arbeit sich selbst neu zu schaffen, als Wissenschaft im Sinne der Gegenwart280.

Das Ringen um eine modernegerechte wissenschaftliche Form wird hier als Aufgabe der Stunde ausgewiesen, die große Kulturbedeutung hat. Sie reagiert nämlich auf einen Konflikt der Weltanschauungen, welcher durch grundstürzende Erkenntnisse in allen Wissenschaften aufgebrochen ist. Kennzeichnend ist, dass diese Krisendiagnose nicht gepaart ist mit wissenschafts- oder fortschrittsfeindlichen Tönen, sondern es wird ganz im Gegenteil eine Theologie am Maßstab moderner Wissenschaftlichkeit als Ausweg aus der Krise motiviert. Zugleich ist dieses Drängen auf Modernisierung des theologischen Wissenschaftsbetriebs mit dem Anliegen verzahnt, ein idealistisches Erbe klassischer deutscher Philosophie zu bewahren. So steht die Theologie einerseits vor der Alternative der Traditionen Hegels und Schleiermachers, zwischen denen es zu vermitteln gilt und andererseits gilt es Religionsphilosophie und Erkenntnistheorie stärker mit den empirischen Wissenschaften zu verbinden. Gerade die anthropologische Rückbindung der Theologie durch religionspsychologische Überlegungen tritt dabei als Syntheseform von idealistischem Erbe und empirischer Grundausrichtung moderner Wissenschaftlichkeit in den Blick und bestimmt viele liberaltheologische Grundlegungen dieser Zeit. Vor dem Hintergrund dieser Grundaufgabe stellt sich Lipsius in die Jenaer Tradition und gibt ihr gemeinsam mit seinem Kollegen Otto Pfleiderer eine pointierte Gestalt, indem die Jenaer liberale Theologie energischer vom neokonfes-

278

Vgl. a. a. O., 320. Die Jahrbücher wurden von Lipsius, Pfleiderer, Schrader und von Hase herausgegeben und sollten sämtliche Gebiete der Theologie zum Gegenstand haben. Die Jahrbücher wurden nach dem Tod von Lipsius 1892 eingestellt. 280 Vgl. H H: Die theologische, insonderheit religionsphilosophische Forschung der Gegenwart, in: Jahrbücher für Protestantische Theologie (1875) 1, 1–38, hier 1–2. 279

5. Weiterbildung liberaler Theologie – Jena 1871–1892

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sionalistischem Lager und dem konservativ-lutherischen Mehrheitsprotestantismus abgegrenzt wurde.281 Lipsius entwirft dabei ein Programm für die Theologie, das er in seinem programmatischen Vortrag Glauben und Wissen und seiner Jenaer Antrittsvorlesung Die Stellung der Theologie im Gesamt-Organismus der Wissenschaften von seinem ersten Jenaer Lehrjahr 1871 vorstellt und hierbei entschiedene Abgrenzung vom hegelschen Erbe und stattdessen eine Weiterarbeit in „Schleiermachers Werkstätte“282 empfiehlt. Die Opposition zum Hegelianismus motiviert Lipsius vorrangig durch eine Rückbesinnung auf eine kantische Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen, die ihm zufolge besser erlaubt, eine Selbstständigkeit des Glaubens zu sichern.

a. Glauben und Wissen – Lipsius’ programmatische Hegelkritik Am Beginn seiner Jenaer Zeit hat Lipsius in zwei programmatischen Texten dargelegt, in welche Bahnen er seine Theologie lenken will. In seinem 1871 im Berliner Unionsverein gehaltenen Vortrag Glauben und Wissen zeichnet er das Bild eines geistesgeschichtlichen Scherbenhaufens, den die hegelsche Philosophie hinterlassen habe. Die Theologie habe die Pfade Hegels und seiner Epigonen zu verlassen und sich kontinuierlicher Weiterarbeit an der Grundrichtung Schleiermachers zu widmen. An seiner Ablehnung der hegelschen Philosophie hat Lipsius bereits 1870 in einem Artikel Zu Hegels hundertjährigem Geburtstag keinen Zweifel gelassen. Gerade zu Beginn seiner Jenaer Phase ist Hegel das theologischphilosophische Feindbild seiner Überlegungen. In seiner Antrittsvorlesung in Jena Die Stellung der Theologie im Gesamt-Organismus der Wissenschaften vom 13. Dezember 1871 umschreibt Lipsius die Chancen und Herausforderungen, die sich für die theologische Wissenschaft nach dem Zusammenbruch hegelscher Metaphysik ergeben und wie er seine Theologie unter – hier inzwischen explizit gemachter – starker erkenntnistheoretischer Orientierung an Kant und im Anschluss an die Theologie Schleiermachers zu treiben plant. Diesen Texten lassen sich Lipsius’ Motive seiner radikalen Hegelkritik entnehmen. Es wird deutlich, wie massiv er sich an der hegelschen Philosophie abarbeitet um auf einen Paradigmenwechsel der Theologie hinzuwirken, der sie auf – kantisch-bestimmte – menschliche Erkenntnisgrenzen einschwört. Dabei weist Lipsius einen Weg von

281

Vgl. J W: „Das Geschichtliche auszuschließen sei doch gegen das christl. Gefühl“ – Karl von Hases Jenaer Seminar 1850–1883 als Tradierungsort liberaler Bürgertheologie, in: Journal for the history of modern theology, 13 (2006) 2, 227–240, hier 239. Pfleiderer wurde ein Jahr vor Lipsius als Professor für Praktische Theologie mit Lehraufträgen in der Systematischen Theologie und im Neuen Testament berufen. Die intensive Zusammenarbeit mit Pfleiderer vor Ort war nur von kurzer Dauer, da Pfleiderer 1875 einem Ruf an die Berliner Fakultät folgte. 282 R A L: Glauben und Wissen. Vortrag, gehalten im Berliner Unionsverein, in: Ders.: Glauben und Wissen. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Berlin 1897, 1–29, hier 29.

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Hegel zurück auf die kantischen Motive der Unterscheidung von Glauben und Wissen, die zugleich mit einer religionstheoretischen Grundlegung im Gefolge Schleiermachers verschmolzen werden. Frühe Polemik: In Zu Hegels hundertjährigem Geburtstag bedient Lipsius in außerordentlich polemischer Manier verbreitete Ressentiments gegenüber der Philosophie Hegels: Hegels Verehrung für Napoleon sei eine historische Schande, seine Philosophie führe zu einer ,babylonischen Sprachverirrung‘, mit dem Losungswort, ,Alles was ist, ist vernünftig‘ habe Hegel den Polizeistaat und die Restaurationspolitik unterstützt und im Namen ,objektiver Sittlichkeit‘ habe Hegel liberale Gesinnung denunziert.283 Durch eine problematische Indifferenz der hegelschen Methode habe er unterschiedlichste Epigonen hervorgebracht, die in Hegels Philosophie eine Stütze unterschiedlichster Weltanschauungen und philosophisch-theologischer Positionen gefunden haben: In Wahrheit war aber diese Philosophie weder reactionär noch revolutionär, sondern einfach scholastisch und bot sich mit ihrer vermeinten absoluten Methode einem Jeden als williges Werkzeug dar, der sich darauf verstand, sie seinen Zwecken dienstbar zu machen. In ihrer ausgebildeten Gestalt ist sie nichts als eine abstracte Logik, die sich an die Stelle erfahrungsmäßiger Forschung setzt, und unter dem täuschenden Scheine des ,reinen Denkens‘ gerade dasjenige Weltbild wiedererzeugt, welches schon vorher in der Seele des Denkenden lebte.284

Anerkennende Worte findet Lipsius lediglich für den positiven Einfluss von Hegel auf das historische Denken. Er habe gelehrt, die „Geschichte wahrhaft als Geschichte zu verstehen.“285 Seine Phänomenologie des Geistes, seine Philosophie der Geschichte und vor Allem seine Religionsphilosophie werden als bahnbrechend für die Integration historischer Methodik in die Philosophie beurteilt, wenngleich Hegels Geschichtsschreibung nach Lipsius eher einem spekulativen Konstruieren der Geschichte gleiche. Den großen Erfolg der Philosophie Hegels sieht Lipsius durch ihre Verheißung einer Überführung des Glaubens in Wissen begründet. Gerade die theologische Hegelrezeption verspricht sich von ihr, die Glaubensgehalte des Christentums mit der Sicherheit der Deduktion erweisen zu können. Der orthodoxen Dogmatik wird ein rationales Fundament verheißen. Diese Verheißung hat sich aber nach Lipsius nicht bewahrheiten lassen. „Der schöne Traum von dem ewigen Frieden zwischen ,Glauben‘ und ,Wissen‘, den die Hegel’sche Philosophie zu bringen verhieß, ist heute zerronnen.“286 Das Scheitern dieser Verheißung führt Lipsius auf einen grundlegenden Plausibilitätsverlust einer idealistischen Grund283 Vgl. .: Zu Hegels hundertjährigem Geburtstag, in: Schleswig-Holsteinisches Kirchen- und Schulblatt (1870), 469–474, hier 469. Eine umsichtige Verteidigung Hegels gegenüber dem Bild des Restaurationsphilosophen bietet: K V: Hegel. Der Philosoph der Freiheit: Biographie, München 2019. 284 L, Zu Hegels hundertjährigem Geburtstag, 470–471. 285 A. a. O., 471. 286 A. a. O., 470.

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these zurück. Seiner Lesart zufolge baue die gesamte hegelsche Philosophie auf der Annahme auf, dass das Denken die innere Substanz der Wirklichkeit sei.287 Diese Akzentuierung der hegelschen Philosophie zeigt bereits, dass Lipsius hier zentrale Motive der Hegelkritik von Weisse übernimmt.288 Demnach sei bei Hegel die gesamte Realität durch ihre begriffliche Struktur in Analogie zu menschlichen Denkvollzügen bestimmt und vollziehe sich allein in der Bewegung der Gedankenbestimmungen. Diese Auffassung ist nach Lipsius die größte Selbsttäuschung der Philosophie. Die Einsicht in die Grenzen gedanklicher Durchdringund Ableitbarkeit der Wirklichkeit durch bloßes Denken lässt den Traum von einer Aufhebung des Glaubens in Wissen platzen. So ist es nach Lipsius eine begrüßenswerte Bewegung der zeitgenössischen Philosophie, sich wieder Kant und Schleiermacher zuzuwenden, die zugleich eine Zentralaufgabe der Theologie deutlich macht: Nach langen beschwerlichen Umwegen ist die heutige Philosophie wieder zu den verlassenen Pfaden Kants und Schleiermachers zurückgekehrt. Sie verzichtet bescheiden auf den Ikarusflug über die Welt unserer Erfahrung hinaus und schickt sich an, das unserer Forschung zugängliche Gebiet durch Treue im Kleinen um so sorgfältiger anzubauen. Die Theologie wird gezwungen sein, diesem Beispiele zu folgen, wenn sie noch als wirkliche Wissenschaft zählen will.289

Exkurs: Glauben und Wissen bei Kant und Hegel: Lipsius’ frühe Kritik in seiner kurzen Gelegenheitsschrift Zu Hegels hundertjährigem Geburtstag zeigt bereits, dass er seine polemische Abgrenzung von Hegel und die damit verbundenen Betonung einer Rückkehr zu Kant und Schleiermacher vor allem mit Rekurs auf das Begriffspaar Glauben und Wissen entfaltet. Damit rekurriert er auf eine zentrale Streitsache klassischer deutscher Philosophie, die Kant und Hegel als zwei gegensätzliche philosophische Optionen gegenübertreten lässt. Während Kant Glaube als eine eigenständige epistemische Einstellung zur Grundlage der Religionsphilosophie erhebt, kritisiert Hegel Versuche einer Rehabilitation des philosophischen Glaubensbegriffs: Mit Glauben und Wissen unterscheidet Kant im Kanonkapitel der Kritik der reinen Vernunft zwei epistemische Einstellungen des Menschen, die sich hinsichtlich ihrer Geltungsansprüche unterscheiden. Der Wissensbegriff bezeichnet dabei eine Gewissheit, die sich einem jeden vernünftigen Menschen andemonstrieren lässt, sich also auf allgemein ausweisbare Gründe bezieht. Ihre objektive Geltung lässt sich beweisen. Glaube hingegen kann keine objektive Geltung für 287

Vgl. a. a. O., 471. Siehe Kap. I.2.a. Es bleibt auch fraglich, ob Lipsius hier der hegelschen Philosophie in seiner Kritik gerecht wird. Die Möglichkeit einer nicht-psychologischen Auffassung begrifflicher Strukturen kommt hier nämlich nicht in Betracht. Dass eine solche nicht-psychologische Bestimmung begrifflicher Strukturen eine zentrale Pointe bei Hegel ist, stellt beispielsweise Robert Brandom heraus. Vgl. R B: Im Geiste des Vertrauens. Eine Lektüre der „Phänomenologie des Geistes“, Berlin 2021, 86–99. 289 L, Zu Hegels hundertjährigem Geburtstag, 473. 288

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sich beanspruchen. Glaube lässt sich nicht beweisen und nicht gebieten. „Ein Glaube, der geboten wird, ist ein Unding.“290 Es ist jedoch entscheidend für Kant, die epistemische Einstellung des Glaubens von bloßen beliebigen Meinungen abzugrenzen, die keinerlei Geltungsgründe auf ihrer Seite haben. Glaube hat dem Meinen gegenüber eine subjektive Form der Gewissheit voraus. Meinen ist ein mit Bewußtsein sowohl subjektiv, als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Ist das letztere nur subjektiv zureichend und wird zugleich für objektiv unzureichend gehalten, so heißt es Glauben. Endlich heißt das sowohl subjektiv als objektiv zureichende Fürwahrhalten das Wissen.291

Kant kennt verschiedene Formen und Quellen subjektiver Gewissheit, die einen Glauben über das bloße Meinen erheben können. Die stärkste und für Kants Philosophie wichtigste Form ist der moralische Glaube. Er beruft sich auf das „Recht des Bedürfnisses der Vernunft“292. Also auf die Überzeugung, dass es für die Vernunft notwendig und damit auch legitim ist, Voraussetzungen für eine Verwirklichung des sittlichen Gesetzes, dem höchsten Gut, für wirklich zu halten. Kant entfaltet im Kanonkapitel die Notwendigkeit eines moralischen Glaubens an Gott und ein künftiges Leben als derartige Voraussetzungen einer gelingenden Moralität und bestimmt sie entsprechend als notwendige Glaubensartikel einer moralischen Gesinnung. Die subjektive Gewissheit einer Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele sind „mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt“293, dass das eine ohne das andere nicht denkbar ist, „weil [sonst] meine sittliche[n] Grundsätze selbst umgestürzt werden würden, denen ich nicht entsagen kann, ohne in meinen Augen verabscheuungswürdig zu sein.“294 Das entscheidende Merkmal dieser Gewissheit macht Kant bereits grammatikalisch mit der Umstellung auf die Rede in der ersten Person Singular deutlich. Subjektive Gewissheit gründet auf Voraussetzungen eines Selbstverständnisses, dessen Verbindlichkeit ohne je eigenen Nachvollzug nicht zwingend ist. Ich kann einen Gottesglauben als Möglichkeitsbedingung eines von mir erlebten moralischen Selbstverständnisses erkennen, ohne das gleiche Selbstverständnis bei anderen voraussetzen zu können. Zur Legitimität eines solchen moralischen Glaubens ist es jedoch nach Kant auch erforderlich, dass die Glaubenssätze in keiner Weise dem gesicherten Wissen oder der Vernunft direkt widersprechen. Glaube tritt nicht als Antagonist des Wissens, sondern als Komplement für eine Sphäre jenseits des Wissens auf. So eröffnet also die Widerlegung jeglicher Möglichkeit eines Wissens von Gott und

290

I K: Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg 2003, AA 5,260. D.: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1998, A 822/B 850. 292 D.: Was heißt: sich im Denken orientieren? [Berlinische Monatsschrift, Oktober 1786, S. 304–330], in: H D. B (Hg.): Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften, Hamburg 1999, hier AA 8,137. 293 D., Kritik der reinen Vernunft, A 830/B 858. 294 A. a. O., A 828. 291

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der Unsterblichkeit der Seele, an beides auf Basis moralischer Gewissheit zu glauben. Oder in Kants oftmals fehlgedeutetem Wort: „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“295. In den Großfragen der Metaphysik, wie z. B. nach der Existenz Gottes, ist nach Kants Vernunftkritik kein Wissen mehr möglich, sondern vielmehr ein moralischer Glaube eröffnet, der dem Interesse der Vernunft an der Metaphysik eine hinreichende Erfüllung in Aussicht stellt. Dazu müssen die bleibenden Grenzen zwischen Glauben und Wissen jedoch erkannt und kultiviert werden. Glauben und Wissen markieren als epistemische Einstellungen so auch voneinander abgrenzbare Gegenstandssphären: auf der einen Seite die Gegenstände möglicher Erfahrung und auf der anderen Seite die Gegenstände jenseits aller möglichen Erfahrung. Hegel hat dies als eine Bankrotterklärung der Vernunft gebrandmarkt. In seinem Jenaer Text Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie von 1802 unterzieht Hegel die philosophische Abgrenzung von Glauben und Wissen einer fundamentalen Kritik. Kant, Jacobi und Fichte machen in einer je anderen paradigmatischen Weise die Vernunft wieder zur „Magd eines Glaubens“296. Indem nach Kant das Übersinnliche nicht von der Vernunft erkannt werden kann, rede Kant einer Diastase von Vernunft und dem Absoluten das Wort, die beide Größen unvermittelt gegenüberstellt. Auf diese Weise verstricke sich Kant in dem berechtigten Kampf gegen den Empirismus, der nur Endliches kennt, selbst in den Grundfehler seines Feindbildes. Kant trennt zwischen Glauben und Wissen, um das Unendliche, die Gegenstände jenseits möglicher Erfahrung, zumindest für die epistemische Einstellung des Glaubens zu sichern. Dabei stelle er jedoch das Unendliche dem Endlichen unvermittelt gegenüber. Das Unendliche finde dadurch aber paradoxer Weise an dem Endlichen selbst eine Grenze: „[W]enn aber so Unendlichkeit der Endlichkeit entgegengesetzt ist, ist eins so endlich als das andere“297. Das entsprechende Bild des Menschen sei durch ein ewiges Sehnen und Streben über die eigene Endlichkeit hinaus gekennzeichnet, das keinerlei Form der Erfüllung kenne. Auch Schleiermachers Religionstheorie begegnet Hegel hier mit fundamentaler Kritik, indem er ihn als Vertreter einer radikalisierten Fassung von Jacobis Glaubenskonzeption einführt. Die Tendenz Jacobis, das Unendliche im Rahmen von Subjektivität ausmachen zu wollen, werde mit Schleiermachers Reden auf die Spitze getrieben.298 Darin kann Hegel „nur das Suchen eines Sehnens“299 erkennen, das denkbar weit

295

A. a. O., B XXX. G W F H: Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, in: Ders.: Jenaer Schriften. 1801 – 1807, Frankfurt a. M. 1990, 287–433, hier 288. 297 A. a. O., 297. 298 Vgl. a. a. O., 391. 299 A. a. O., 393. 296

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von einer echten Vermittlung des Endlichen und Unendlichen entfernt bleibt. Dem kantischen, wie dem jacobischen, Versuch, die Dimension des Unendlichen und Absoluten durch ,philosophischen‘ Glauben zu erschließen, unterstellt Hegel desaströse Konsequenzen. Das Absolute steht dem Bereich des Wissbaren aber Endlichen unvermittelt gegenüber. Es öffne sich ein Dualismus vom Endlichen und Unendlichen, der sich in der Unterscheidung von Glauben und Wissen abbilde und den Begriff des Unendlichen selbst destruiere. Der Dualismus von Glauben und Wissen rückt die subjektiven Bezugnahmen in den Vordergrund und leistet einer problematischen Subjektfixierung Vorschub. Doch die Subjektivität und Freiheit selbst verlieren – nach Hegels Kritik – ohne den sicheren Bezug auf einen umfassenden Horizont des Absoluten ihre Substanz und verkommen zu unbestimmter Formalität. Erst die Überführung des Glaubens in Wissen verspreche, das Unendliche wirklich als das Unendliche denken zu können und so die menschliche Freiheit vor nihilistischen Konsequenzen zu bewahren. Glauben und Wissen bei Lipsius: Die wiederholten Polemiken gegenüber Hegel bei Lipsius zeigen deutlich, dass er diese Überlegungen und mit ihnen die gesamte Hegelsche Philosophie als gescheiterten Versuch versteht, Glauben in Wissen aufzuheben. In seinem Vortrag Glauben und Wissen weitet Lipsius diese Hegelkritik zu einer Beschreibung der Grundsituation der modernen Theologie seiner Zeit. Dazu entfaltet er ein groß angelegtes Narrativ über die geistesgeschichtlichen Verschiebungen in der Moderne, das erkenntnistheoretische Momente in den Vordergrund stellt. So ist es gerade das Auseinanderfallen von Glauben und Wissen, das er als eine unumstößliche Einsicht der Moderne zur Geltung bringen will. Hegels Philosophie kommt in diesem Narrativ als gescheitertes Aufbäumen gegen die moderne Situation zum Stehen. Das Scheitern der hegelschen Philosophie wird dabei nicht in eigener philosophischer Arbeit begründet oder durch eine Anti-Kritik gegenüber Hegels Kantkritik entfaltet, sondern eher als ein historisches Faktum inszeniert, das sich aus den ideengeschichtlichen Entwicklungen nach Hegel unweigerlich ergebe. Als Lehre daraus solle sich die Theologie eine kritische Unterscheidung der Glaubensperspektive von universalen Wissensansprüchen zu eigen machen. So könne Verabsolutierungen des Glaubens einerseits aber auch religionskritische Infragestellungen der Glaubensperspektive andererseits entgegengetreten werden. Die hegelsche Philosophie wird von Lipsius als umfassender Schlichtungsversuch des nachkantischen Widerstreits von Rationalismus einerseits und Supranaturalismus andererseits vorgestellt. So versprach die Philosophie Hegels einerseits der modernen Forderung – und Stoßrichtung des Rationalismus – Rechnung zu tragen, dass sämtlich Glaubensinhalte vor dem je eigenen Denken gerechtfertigt werden können sollen. Der christliche Glauben soll vereinbar sein mit der „Freiheit und Mündigkeit des Geistes“.300 Andererseits versprach sie den

300

Vgl. L, Glauben und Wissen, 2.

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Wert der christlichen Tradition und ihrer Glaubensgehalte – so die Stoßrichtung des Supranaturalismus – zu erhalten und erneut zu erschließen. In eine argumentative Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie tritt Lipsius hier nicht mehr ein, sondern verweist auf David Friedrich Strauß und Ludwig Feuerbach als Epigonen Hegels. Sie zeigen, dass Hegels Traum einer Versöhnung von Glauben und Wissen gescheitert sei.301 Feuerbach und der späte Strauß vertreten Spielarten eines Materialismus, der zwar mit Hegels Philosophie bricht, doch nach Lipsius eine ideengeschichtliche Konsequenz der hegelschen Philosophie ist. Denn der Zusammenbruch der spekulativen Philosophie Hegels habe ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Vernunfterkenntnissen, Teleologie und Idealen hervorgebracht.302 Die hegelsche Philosophie habe die Erkenntnisansprüche spekulativen Denkens derart in die Höhe getrieben, dass die Reaktionen auf Hegel jegliche Formen idealistischer Wirklichkeitsauffassung diskreditiert haben. War der Streit zwischen Glauben und Wissen bis Hegel ein Streit zwischen Christentum und Philosophie, stehen sich nach dem Zusammenbruch des hegelschen Systems Idealismus und materialistischer Szientismus unversöhnlich gegenüber. Das Wissen wird ganz auf die Resultate exakter empirischer Forschung begrenzt und für die einzig mögliche und nötige Quelle der Welterschließung gehandelt. Alle Behauptung einer die natürliche Kausalität überschreitenden Ordnung durch Vernunft, Moral und Zwecke wird als unseriöser Glaube abgetan. Auf diese Form des Materialismus reagierte eine orthodoxe Reaktion, indem sie die prinzipielle Entgegensetzung von Glauben und Wissen übernahm, jedoch nicht den Glauben, sondern das menschenmögliche Wissen depotenzierte.303 Der Materialismus wird als die unumgängliche Konsequenz des autonomen Denkens anerkannt, jedoch wird gerade diese These gegen das autonome Denken selbst gewandt. So prägt sich nach Lipsius in konfessionalistischer Orthodoxie eine Haltung aus, die heute als Fideismus bezeichnet werden kann: Sie ordnet Erkenntnisansprüche des Glaubens über das menschenmögliche Wissen und stellt dieses von ihrer Warte aus grundlegend infrage. Beide, Orthodoxie und Materialismus, ruhen nach Lipsius einem gemeinsamen Grundfehler auf: „Beide sind eins im Unglauben an die Macht des Geistes in der Geschichte, im geistlosen Glauben an äußere Handgreiflichkeiten, in dem niedrigen banausischen Sinn, dem nur das Sinnenfällige Wirklichkeit hat.“304 Sowohl die restaurativen Bestrebungen kirchlicher Rechtgläubigkeit als auch die vermeintlich wissenschaftlich-progressiven Bestrebungen des Materialismus teilen sich eine Gemeinsamkeit im Kern. Beide sind Formen von Empirismus. Dem „Empirismus der Lupe und des Lötrohrs“305 steht in der Orthodoxie ein „Empi-

301

Vgl. a. a. O., 4. Vgl. a. a. O., 5. 303 Vgl. a. a. O., 7. 304 Vgl. a. a. O., 8. 305 Ebd. 302

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rismus der dogmatischen Formel“306 gegenüber. Lipsius’ Diagnose zufolge ruhen die aufbrechenden Gräben zwischen wissenschaftsfeindlicher Orthodoxie und wissenschaftsaffinem Materialismus seiner Gegenwart dem gemeinsamen Phänomen der Reduktion der Wirklichkeit auf das Sinnenfällige auf. Zwar ist diese Reduktion durch eine berechtigte Abkehrbewegung von starken Formen des Idealismus, wie Hegels Philosophie, motiviert, führt jedoch zu weit. Gegenüber den vielgestaltigen Formen des Empirismus gilt es eine angemessene Form des Idealismus wiederzugewinnen, die auch eine erfahrungswissenschaftliche Grundausrichtung aufgreifen kann. Denn der moderne Geist der Wissenschaften hat die Welt nachhaltig verwandelt und erlaubt keinen Ruf hinter ihre Einsichten zurück. Wie eifrig man sich auch müht, die Rostflecken moderner Ideen von dem priesterlichen Gewande hinwegzuwischen, immer neue Flecken kommen bald an dieser bald an jener Stelle zum Vorscheine. Von dem Geiste heutiger Wissenschaft wird jeder, der kein geistloser Nachbeter sein will, berührt, und ob er seine Brust mit dreifachem Erze umpanzert hätte.307

Den Abwehrbewegungen religiöser Richtungen gegenüber den Einsichten der Moderne liegen nach Lipsius ein berechtigtes Motiv zugrunde. In dem Protest gegenüber einer Reduktion der Wirklichkeit auf die Erkenntnisse der Naturwissenschaft kommt die menschliche Nötigung, das endliche Dasein zu transzendieren und ein Unendliches und Ewiges zu ergreifen, zum Ausdruck.308 Hier rekurriert Lipsius auf sein Postulat eines Unendlichkeitstriebes des Menschen.309 „Er ist der Realität dieses Unendlichen und Ewigen als eines Faktors seines eigenen Selbstbewußtseins gewiß.“310 Die Frömmigkeit befeuert das Bewusstsein um die Wirklichkeit und Wirksamkeit des Unendlichem im Endlichen. Dieses Bewusstsein von einer Transzendenz verleiht supranaturalistischen Weltanschauungen ein Plausibilitätsmoment. Dieses Plausibilitätsmoment wird jedoch in supranaturalistischen Weltanschauungen der Orthodoxie in einer quasi-empiristischen Weise in eine sinnliche Form gekleidet und diese sinnlichen Formen selbst werden als unmittelbare Realität ausgegeben. Dieses Grauen vor der leeren Negation, dieses Erschrecken vor der Leugnung einer höheren, über die Sinnenwelt hinausliegenden Realität, das ists, was als letztes Motiv auch den sinnlichsten und rohesten Anschauungen von Gott und göttlichen Dingen zu Grunde liegt.311

Daraus kann jedoch keineswegs der Versuch gerechtfertigt werden, die sinnlichen Vorstellungsbilder des Unendlichen unkritisch zu wiederholen. Die markantes306

Ebd. A. a. O., 13. 308 Vgl. a. a. O., 14. 309 Siehe Kap. I.4.b. 310 Ebd. 311 A. a. O., 17. 307

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ten Einschnitte der Moderne erblickt Lipsius gerade in erkenntniskritischen Momenten. Die wesentlich moderne Einsicht ist, dass es vom Übersinnlichen kein Wissen geben kann. Gerade für diese Einsicht steht nach Lipsius das Scheitern der hegelschen Philosophie und vor allem die theologischen Versuche auf der Basis Hegels Philosophie, die altkirchlichen Dogmen zu beweisen.312 Es braucht folglich eine Erkenntnistheorie religiöser Aussagen, die diese Grenzen religiöser Erkenntnisansprüche bewusst hält. Nach Lipsius lässt sich eine solche Selbstbegrenzung religiöser Geltungsansprüche wiederum religiös reformulieren: Alle religiösen Aussagen sind demnach Beschreibungen der Wirkungen Gottes im menschlichen Bewusstsein und nicht von Gott selbst. Die Theologie hat folglich mit Schleiermacher konsequent von der direkten Rede über Gott auf die Rede über das Gottesbewusstsein des Menschen umzustellen. In der Religion habe ich es hier nicht mit einem Gegenstande der sinnlichen Wahrnehmung, sondern inmitten meiner Wechselwirkung mit der äußern Welt zugleich mit einem über alles endliche Dasein hinausliegenden, aber in demselben sich bethätigenden Faktor zu thun, dessen Natur und Substanz mir ewig verborgen bleibt, dessen Wirkung in mir ich aber mit derselben unmittelbaren Gewißheit erfahre, mit welcher ich der Einwirkung eines äußeren sinnenfälligen Dinges bewußt werde.313

Die moderne Erkenntniskritik ist so vorbehaltlos anzuerkennen. Sie ist jedoch zugleich gegen materialistische Folgerung in Stellung zu bringen. So ist einerseits Feuerbachs Versuch, die psychologischen Grundlagen der Entstehung religiöser Vorstellungen aufzudecken, in ihr volles Recht zu setzen. „Sein verhängnisvoller Irrtum aber ist der, daß er die Realität des Unendlichen und Ewigen widerlegt zu haben sich einbildet, wenn er den psychologischen Weg aufzeigt, auf welchem die Menschen zu den religiösen Vorstellungen gekommen sind.“314 Der empirische Blick auf Religion, den auch die Psychologie einnimmt, ist wichtig, jedoch ungeeignet, Geltungsfragen der Religion zu verhandeln. Dass in die Gestalt religiöser Vorstellungsbilder menschliche Bedürfnisse, Wünsche und kulturelle Prägungen eingehen, raubt den Vorstellungsbildern nicht jeglichen Wahrheitsgehalt.315 Dass sich der Glaube auf einen Gegenstand jenseits menschlicher Erfahrung bezieht, bedeutet nicht nur, dass kein Wissen über ihre Wirklichkeit möglich ist, es bedeutet gleichermaßen, dass auch kein gegenteiliges Wissen denkbar ist. Das Erfahrungswissen, z. B. der Psychologie, kann in keine Richtung über die Wahrheit des Glaubens urteilen. Vielmehr gilt nach Lipsius: Der Gottesglaube „trägt seine Legitimation in sich selbst; er ist einfach durch sein Vorhandensein im Gemüt der im Menschengeiste selbst geführte Thaterweis des göttlichen Geistes.“316 Dieser Taterweis ist jedoch keine Andemonstration arkaner Wahrheiten, sondern be-

312

Vgl. a. a. O., 18. A. a. O., 20–21. 314 A. a. O., 22. 315 Vgl. a. a. O., 23. 316 A. a. O., 24. 313

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schreibt eine Legitimation des Glaubens als Glauben und nicht als objektiv vermittelbares Wissen. Die Religion muss sich demnach nicht auf besseres Wissen berufen, sondern auf eine für ihre erkenntnistheoretisch begrenzten Geltungsansprüche suffiziente subjektive Gewissheit aus dem eigenen Erleben heraus. Diese Unterscheidung von Glauben und Wissen nicht zu wahren, sei der Fehler von Hegel gewesen und der Materialismus beerbt diesen Fehler trotz seiner antispekulativen Haltung. Denn der Materialismus versucht, die Wirklichkeit auf den Bereich des Wissens zu reduzieren, und versucht damit eo ipso, den Glauben durch Wissen abzulösen. Das macht ihn aber nach Lipsius nur zu einer vorläufigen Seitenerscheinung der modernen Erkenntniskritik, welche die moderne Situation der versöhnten Verschiedenheit von Glauben und Wissen noch nicht erkannt hat. „Der Materialismus, der für das Christentum, ja für alle religiöse Weltanschauung überhaupt, schon den Grabstein bereit hat, ist selbst nur eine geistige Krankheitserscheinung der Uebergangszeit.“317 Mit diesen Überlegungen zur modernen Situation motiviert Lipsius eine strenge Unterscheidung von einer Perspektive des Glaubens, die es in der Theologie zu reflektieren gilt, und den erfahrungswissenschaftlichen Wissensansprüchen. Sie kann als das kritische Grundanliegen von Lipsius’ gesamter Theologie gelten. Sie zeugt von der optimistischen Haltung, mit den Mitteln der erkenntnistheoretischen Reflexion die Legitimität auch des christlichen Glaubens in modernen Kulturen bewahren zu können, sofern dieser sich nicht über die eigenen Geltungsgrenzen hinaus erhebt. In Glauben und Wissen kommen diese Reflexionen ohne expliziten Kantbezug aus. Vielmehr münden seine Überlegungen in einem grundlegenden Bekenntnis zur Theologie Schleiermachers, als dessen Epigonen sich Lipsius inszeniert: Die Bauplätze der hegelschen Philosophie sind längst von den Bauleuten verlassen; in Schleiermachers Werkstätte arbeitet und hämmert noch immer ein jugendlich rüstiges Geschlecht, das auch in trüber Zeit den freudigen Arbeitsmut nicht verloren hat. Und auch die flüchtigen Gedanken, die ich heute ihnen vorzuführen die Ehre hatte, sie sind nach ihrem größten und besten Teile nicht mein, sondern Schleiermachers geistiges Eigentum.318

Wissenschaftstheorie der Theologie: Wie der Vortrag Glauben und Wissen in einem umfassenden Bekenntnis zur Theologie Schleiermachers mündet, so ist die Antrittsvorlesung Die Stellung der Theologie im Gesamt-Organismus der Wissenschaften durch einen expliziten Anschluss an die theoretische Philosophie Kants geprägt. Auch dieser Ruf zur Rückkehr „von dem schwindelnden Ikarusfluge der hegelschen Spekulation zu den bescheidenen, aber gangbaren Pfaden Kants“319 ist ganz gegen das Erbe Hegels ausgerichtet. Gerade die kantische Philosophie

317

A. a. O., 28. A. a. O., 29. 319 D.: Die Stellung der Theologie im Gesamt-Organismus der Wissenschaften. Antrittsrede, gehalten in der Aula zu Jena am 13. Dezember 1871, in: Ders.: Glauben und Wissen. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Berlin 1897, 437–467, hier 451. 318

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verspricht ihm durch ihren „Respekt vor den Realitäten des Lebens“320 eine geerdete, redliche und modernegerechte Grundlegung der Theologie. Konkret äußert sich dies in einer ,empirischen‘ Grundausrichtung der wissenschaftlichen Theologie, wobei zu klären ist, welches Verständnis von ,Empirie‘ Lipsius in Bezug auf das Phänomen Religion für angemessen hält. Eine empirische Grundausrichtung erhält die Theologie nach Lipsius zunächst durch die Umstellung von einer direkten Rede über Gott hin zu einer Untersuchung des faktischen Auftretens der Religion im menschlichen Geistesleben. Die Theologie setzt sich so eine Religionsphilosophie oder -theorie voraus, welche von einem gegenstandslogischen Paradigma auf ein vollzugslogisches Paradigma umgestellt hat. Ihr ist es nicht primär darum zu tun, religiöse Gegenstände wie beispielsweise Gott oder Seele zu bestimmen, zu erklären oder zu beweisen, sondern Religion als eigene Form menschlichen Bewusstseinsvollzugs zu erfassen. Dazu eignet zum einen die starke Integration historischer Erforschung des Christentums. Sie kann die kulturellen Erscheinungsformen des religiösen Bewusstseins in einer allgemein-wissenschaftlichen Form in den Blick nehmen. Zum anderen beobachtet Lipsius seit Schleiermacher vielseitige Mühen um eine erfahrungswissenschaftliche Religionspsychologie. So wird das faktische Auftreten von Religion und Gottesglaube im menschlichen Bewusstsein untersucht, ohne die mit religiösen Vorstellungen, Gefühlen und Lehrgehalten verbundene Geltungsansprüche zu beurteilen. Die empirische Ausrichtung der Theologie, die Lipsius fordert, konkretisiert sich gerade in diesem Absehen von gegenstandslogischen Geltungsfragen und ihrem Bezug auf positiv gegebenen religiösen Vollzug in historischen Dokumenten und aktuellen Selbstbeschreibungen von Menschen, die sich als religiös verstehen. Gemeint sind hingegen nicht quasi-naturwissenschaftliche Erklärungen der Religion durch natürliche Wirkursachen, die sich aus verallgemeinerbaren oder experimentell herstellbaren Erfahrungen schöpfen. So meint Lipsius, wenn er von Empirie spricht, keine Empirie im engeren Sinne, sondern eher eine Form von Kultur-, Geschichts- und Subjektivitätsphänomenologie. Der Phänomenologie des religiösen Lebens gilt es zudem, eine religiöse Erkenntnistheorie zur Seite zu stellen, die Möglichkeiten und Grenzen religiöser Geltungsansprüche reflektiert. Sie hat zur Aufgabe, die epistemische Einstellung des Glaubens zu bestimmen und so eine eigene Geltungslogik religiöser Aussagen herauszustellen und von empirischen Beschreibungen der Religion abzuheben. Eine empirisch ausgerichtete Grundlegung der Theologie kann aufgrund der Abgrenzung des empirischen Wissens von der Glaubensperspektive aber gerade nicht selbst über religiöse Geltungsansprüche richten. Insbesondere die dogmatische Arbeit hat die Geltung religiöser Rede vielmehr vorauszusetzen, kann sie jedoch in wissenschaftlicher Form reflektieren und kritisch gegenüber allem Wissen verantworten.321

320 321

Ebd. Vgl. a. a. O., 454.

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Die Geltungsansprüche der Religion bleiben nach Lipsius also konsequent an religiösen Vollzug gebunden, dem eine eigene Form der Evidenz inne ruht. „Der Realität des religiösen Verhältnisses wird der Mensch immer nur in und mit dem Akte der religiösen Erhebung selbst gewiß.“322 Die Theologie als Glaubenswissenschaft setzt diesen religiösen Vollzug als gegebene Größe des menschlichen Geisteslebens immer schon voraus und untersucht die Gesetze ihrer Entstehung. Sie kann die Geltung des religiösen Vollzugs nicht selbst sichern.323 Sie gewinnt jedoch eine umfassende Kulturbedeutung, indem sie die Bezogenheit der Religion auf eine allgemeine anthropologische Struktur erhebt. Religion tritt als Darstellung und Fortbildung einer menschlichen Transzendierung der eigenen Endlichkeit auf. Das Wesen des unendlichen Geistes an sich zu begreifen, wird immer vergebene Mühe bleiben. Aber seine Offenbarung im menschlichen Geistesleben liegt im religiösen Sinne als Thatsache vor. Das, was man das Unendliche im Menschen genannt hat, d. h. seine über seine endliche Naturbestimmtheit hinausweisende und hinaustreibende Geistbestimmung, kündigt sich in der Religion als die dem endlichen Menschengeiste eingeborene Nötigung an, über seine Wechselbeziehung mit der endlichen Welt hinaus Gemeinschaft mit dem ewigen geistigen Grunde seines und alles endlichen Daseins zu suchen.324

Mit der geistigen Erhebung, welche in der Religion Ausdruck gewinnt, ist jedoch ein Geschehen gemeint, das sich als Grund aller menschlichen Geistestätigkeit erweist. Alle menschliche Kultur und sein ganzes freies Geistesleben ruht dieser Endlichkeitstranszendierung auf und setzt sie um. Auch die Gedankenarbeit der Philosophie basiert auf einer geistigen Erhebung, welche in der Religion in hervorgehobener Weise ins Bewusstsein tritt. Die Struktur des Glaubens ist so auch jenseits expliziter Religiosität wirksam und präsent. Diese Erhebung über die endliche Welt zu Gott, in welcher das Wesen des religiösen Glaubens beruht, liegt schon allen jenen Denkakten zu Grunde, durch welche der Philosoph einen unendlichen Zweck alles endlichen Daseins erweist. So ist alles Philosophieren über das unendliche Sein in seinem letzten subjektiven Grunde ein Glaubensakt.325

Alle Philosophie von letzten Zwecken bestimmt Lipsius als einen Glaubensakt, da dieses Philosophieren diejenige Transzendierung der Erscheinungswelt voraussetzt, die in der Religion explizit thematisch wird. Diese Selbsttranszendierung als Erhebung des Menschen über die endliche Erscheinungswelt wird von der Religion als Wirkung des unendlichen Geistes im endlichen aufgefasst. Der letzte objektive Grund der religiösen Erhebung aber kann nichts anderes sein als eine Bethätigung des unendlichen Geistes im endlichen Geiste, durch welche dieser genötigt wird, über den Bereich des der unmittelbaren Erfahrung gegenwärtigen Daseins sich ahnend und glaubend hinauszuheben.326

322

Ebd. Vgl. a. a. O., 455. 324 A. a. O., 457–458. 325 A. a. O., 458. 326 Ebd. 323

5. Weiterbildung liberaler Theologie – Jena 1871–1892

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Für Lipsius gilt also jeder Akt des menschlichen Geisteslebens als im Kern religiös, der über ein Leben allein im Bereich der Erscheinungswelt und über ein Leben allein in naturkausaler Determination hinausweist und den Menschen als frei erweist. Dieser zunächst sehr weite Religionsbegriff, erlaubt es Lipsius auch, den christlichen Glauben und seine Sprach- und Anschauungsformen als eine Explikationsgestalt eines allgemeinen anthropologischen Phänomens zu begreifen. Der Mensch ist in der Lage, sich innerlich über naturkausale Determination zu erheben und sich somit zu sich und seiner Umwelt zu verhalten. Die religiöse Glaubensperspektive wird von Lipsius als eine Auslegung dieser menschlichen Erhebung zur Freiheit eingeführt, die die Möglichkeit einer solchen Erhebung auf einen göttlichen Grund zurückführt, welcher zugleich als wirksamer Faktor in aller menschlicher Freiheit gedacht ist. Diese Auslegung menschlicher Freiheit zu plausibilisieren, ist eine zentrale Aufgabe der Theologie nach Lipsius. Damit ist die Theologie jedoch vor die Herausforderung gestellt, das Ineinander von menschlicher Selbstwirksamkeit, welche erforderlich ist, um menschliche Freiheit wirklich als eine Form von Freiheit denken zu können, und göttlicher Wirksamkeit, welche die theologische Rede von einem göttlichen Grund menschlicher Freiheit ermöglicht, plausibel zu machen.327 Es geht um eine Doppelstruktur von Freiheit und Abhängigkeit der religiösen Erhebung, von einem menschlichen und einem göttlichen Wirken im menschlichen Geistesleben. So besteht jeder religiöse Akt seinem Wesen nach in einer doppelten Thätigkeit, in einem göttlichen und einem menschlichen Akte im menschlichen Geistesleben, die ungetrennt, aber auch unvermischt, in einem und demselben geistigen Vorgange beisammen sind.328

Die angemessene Beschreibung und Deutung dieser Doppelstruktur ist nach Lipsius die größte Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie. Sie markiert einen Grenzpunkt zwischen der empirischen Perspektive auf die Religion als menschlicher Vollzug und der Glaubensperspektive auf Religion als göttliche Wirkung im Menschen. Die Zusammenbestehbarkeit beider Perspektiven und damit ein komplementäres Verhältnis zwischen Glauben und Wissen auszuweisen, ist Teil des theologischen Kerngeschäfts. Wie kann die Theologie als Glaubenswissenschaft sich einen Reim auf die enge Verbindung von menschlicher Freiheit und göttlicher Gnadenwirkung machen?329 Sie muss menschliche Autonomie mit religiöser Abhängigkeit vermitteln und ist darin mit ihrer schwersten Problemstellung konfrontiert.330 Am Ende seiner wissenschaftstheoretischen Reflexionen der

327

Siehe Kap. I.4.b. Ebd. Im Rahmen seiner Antrittsvorlesung beruft sich Lipsius für diese Verschränkung von göttlichem und menschlichem Handeln im Kern der Religion auf die Dogmatik Biedermanns. In früheren Schriften konnte Lipsius für diese Grundidee auf seinen philosophischen Lehrer Weisse zurückgreifen (siehe Kap. I.2.b.) und konnte sie auch kritisch gegenüber Schleiermachers Religionstheorie herausarbeiten. Siehe Kap. I.4.b. 329 Vgl. a. a. O., 459. 330 Vgl. ebd. 328

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I. Die Formierungsphase 1830–1876

Theologie und seiner Skizze seines theologischen Programms gelangt Lipsius also zu derjenigen Kernproblematik, die auf den freiheitstheologischen Fokus seiner Theologie vorausweist.

b. Freiheit und Glaube – Abschluss der Formierungsphase Mit seinen frühen programmatischen Vorträgen von 1871 kommt die Formierungsphase von Lipsius früher Theologie zu einem relativen Abschluss. Hier finden die verschiedenen systematischen Reflexionen aus den frühen Lehrjahren, die sich in den verschiedenen Texten mit dem Charakter von Gelegenheitsarbeiten andeuten, in die Form einer Programmskizze. Äußerlich ist diese durch den expliziten Anschluss an Kant und Schleiermacher gekennzeichnet. Zwar zeigt sich die frühe Prägung durch die spätidealistische Philosophie Weisses noch deutlich in einer äußerst polemischen Abgrenzung gegen Hegel, dem Ringen um einen nachhegelianischen Idealismus mit stärkerer Integration erfahrungswissenschaftlicher Methodik und einem Fokus auf Freiheit als Grundmoment der Religion. Dies bleibt aber implizit. Die intensiven Auseinandersetzungen mit konfessionalistischen Kritiken liberaler Theologie schlagen sich ebenso wie die Wahrnehmung einer Gespaltenheit moderner Kultur zwischen wissenschaftlicher Welterschließung und idealistischen wie religiösen Weltanschauungen in der Konstruktion einer doppelten Frontstellung seiner Theologie nieder: Sie soll Materialismus und Fideismus gleichermaßen überwinden. Gegen den Materialismus und seiner Reduktion des Wirklichen auf erfahrungswissenschaftliches Wissen soll ein erkenntniskritisch geläuterter Idealismus wiedergewonnen werden. Gegen den Fideismus und seiner Infragestellung von Wissensbeständen auf Basis einer absolut gesetzten Glaubensperspektive soll eine kritische Eingrenzung überbordender Geltungsansprüche der Glaubensperspektive erreicht werden. Der entscheidende theoretische Schritt dafür ist für Lipsius eine Perspektiventrennung zwischen dem Bereich des Wissens und dem Bereich des Glaubens, die gleichermaßen von materialistischen Ablösungsvorstellungen des Glaubens durch Wissen oder fideistischen Überbietungsansprüchen erfahrungswissenschaftlicher Welterschließung unterboten würde. Hegels Philosophie fungiert als Gegenfolie für diese Überlegung, insofern er als Paradebeispiel eines Überführungsversuchs des Glaubens in Wissen und zugleich seine Nachgeschichte als dessen Scheitern von Lipsius inszeniert werden kann. Vor allem der Linkshegelianismus von Feuerbach und Strauß gilt ihm als fundamentaler Zusammenbruch des Idealismus, der eine verbreitete materialistische Tendenz der geistesgeschichtlichen Entwicklungen hervorgebracht habe.331 Auch gegen solche materialisti331 Das Motiv eines Zusammenbruchs des Idealismus’ nach dem symbolischen Datum von Hegels Tod 1831 ist ein verbreitetes Motiv der Philosophiegeschichtsschreibung, wenngleich es keineswegs unumstritten ist. Vgl. H S: Philosophie in Deutschland. 1831 – 1933, Frankfurt a. M. 61999, 15. Prominent und differenziert wurde dieses Motiv von Karl Löwith verfolgt. Der Vorwurf, Hegels (wie auch in anderer Hinsicht Goethes) Philo-

5. Weiterbildung liberaler Theologie – Jena 1871–1892

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schen Tendenzen richtet sich die Bestimmung des Religionsbegriffs bei Lipsius als eine Erhebung über die Natur. Die Reflexionen zur Stellung der Theologie im Konzert der Wissenschaften fokussiert die Theologie auf diejenigen Momente menschlicher Selbst- und Welterfahrung, die als eine Erhebung über die Natur sich den naturkausal strukturierten Beschreibungsmustern empirischer Wissenschaften entziehen. Die religiöse Erhebung tritt als paradigmatischer Fall einer inneren menschlichen Transzendierung von Endlichkeit auf. Der Bereich des Glaubens setzt aber eine geistige Transzendierung der naturkausalen Verflochtenheit des Menschen voraus. Um sich auf Dinge zu beziehen, die dem Bereich möglicher Erfahrung entzogen sind, ist es zwingende Voraussetzung, dass sich das menschliche Geistesleben von der Bindung an unmittelbare Reize befreien kann. Diese Freiheit von der unmittelbaren Bindung an die Erscheinungswelt wird von Lipsius jedoch grundsätzlich mit Religion konnotiert. Denn in der Religion wird diese Erhebung über die Naturverflochtenheit auf besondere Weise thematisch. In der Beziehung des Menschen auf eine unendliche Macht, wird die Transzendierung der Naturverflochtenheit auf ihren Möglichkeitsgrund hin durchsichtig gemacht. Religion repräsentiert nach Lipsius somit den Grund der Kultur überhaupt. Religion als Phänomen kann so auf einen Grund des menschlichen Geisteslebens verweisen, welchen materialistische Wirklichkeitsbeschreibungen nicht erfassen können. So führt das kulturelle Phänomen der Religion selbst eine Demarkationslinie zwischen dem Bereich des Glaubens und Wissens vor Augen. Einerseits gilt es nach Lipsius, das geschichtliche und psychologische Auftreten von Religion vorbehaltlos erfahrungswissenschaftlicher Untersuchung zu unterziehen und so auf verallgemeinerbare Strukturmomente des Menschseins zurückzuführen. Nach Lipsius ist es jedoch entscheidend, diese Ergebnisse in ihrer Erklärungsreichweite auf die Sphäre des Wissens zu beschränken und ihr so auch klare Grenzen in der Beurteilung von religiösen Geltungsfragen zu setzen. Eine derartige Grenze des Wissbaren zeigt sich Lipsius zufolge bei der Erschließung der Freiheit menschlichen Geisteslebens. Die Geltungsfragen andererseits gilt es, aus einer Perspektive der religiösen Selbsterfahrung zu thematisieren. Dabei ist eine grundlegende Wirklichkeit der Religion als Tatsache des Erlebens vorausgesetzt, die nicht mehr erwiesen, aber im Dialog mit dem Welt- und Selbstwissen des Menschen plausibilisiert werden kann. Die religiöse Glaubensperspektive soll demnach nicht gegen das Wissen ausgespielt werden oder aus dem Wissen abgeleitet werden; sie soll allerdings plausibel mit dem gesicherten Erfahrungswissen des Menschen zusammenbestehen können. Es geht Lipsius also darum, zwei unterschiedliche methodische Perspektiven auf das Phänomen Religion zu werfen und auch nebeneinander stehen zu lassen. Diese Doppelperspektivität soll nicht ineinander sophie sei ein unplausibel gewordener Versuch, den Bruchlinien der Moderne mit einer umfassenden Harmonisierung zu begegnen, wird dabei von Löwith als eine bereits bei Hegels Schülern auftretende Verzeichnung aufgefasst. Vgl. K L: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Hamburg 1995, 43.

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I. Die Formierungsphase 1830–1876

aufgehoben werden. Diese erkenntnistheoretische Grundfigur wird Lipsius in immer neuen Ausgestaltungen ausarbeiten und wiederholt als Argumentationsgrundlage einspielen.332 Vor dem Hintergrund einer solchen Sphärentrennung von einer Glaubensperspektive und erfahrungswissenschaftlicher Wirklichkeitserschließung lässt sich auch die von Lipsius identifizierte größte Aufgabe der Theologie verorten. Die Theologie soll ein plausibles Angebot machen, das Ineinander von menschlicher Aktivität und Passivität, von menschlichem und göttlichem Handeln, menschlicher Freiheit und göttlicher Gnadenwirkung, in der religiösen Erhebung „zusammenzureimen“333. Dies führt genau an den Punkt, an dem Lipsius Schleiermachers Religionstheorie fortzubilden gedenkt.334 Die Konzeption schlechthinniger Abhängigkeit soll mit einer damit verwobenen Konzeption schlechthinniger Freiheit verschmolzen werden. So gilt es auch im Kern der Religionstheorie, eine doppelte Perspektive auf den Vollzug religiöser Erhebung miteinander zu vermitteln. Aus einer Perspektive des Glaubens wird die Möglichkeit menschlicher Freiheit als Erhebung über die Natur als Taterweis göttlichen selbstoffenbarenden Wirkens gewertet. Aus einer Perspektive empirischer Beschreibung der Religion wird die menschliche Erhebung über die Natur aus psychologischen und historischen Zusammenhängen erklärt. Die zentrale Aufgabe der Theologie ist es, beide Beschreibungsmuster in einen komplementären Zusammenhang zu bringen. Die Formierungsphase von Lipsius mündet in einer klaren Fokussierung dieses systemarchitektonischen Scharnierstücks seiner Theologie. Eine systematische Entwicklung jener Vermittlung bleibt jedoch dem weiteren Entwicklungsgang von Lipsius’ Theologie vorbehalten.

332

Siehe dazu Kap. II.2–4.; Kap. III.2.d.; Kap. IV. 2.c. und Kap. IV. 3.a. L, Die Stellung der Theologie, 459. 334 Siehe Kap. I.4.b. 333

II. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876 Während in der bisherigen Betrachtung der Formierung von Lipsius’ Theologie die Rekonstruktion auf diverse Gelegenheitsschriften angewiesen war, kann nun zur Analyse eines umfangreichen Werks übergegangen werden: Das Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik von 1876 (21879 und postum 31893) stellt zweifelsohne den Mittelpunkt von Lipsius’ systematisch-theologischem Werk dar. Aus „dem Bedürfnisse akademischer Vorlesungen entsprungen“1 nahm Lipsius zunächst nur die Arbeit an einer gedruckten Vorlage für seine DogmatikVorlesungen auf, die ihm unter Rückgriff auf „langjährige Vorarbeiten ein Werk aus Einem [sic!] Guss“2 zur Entfaltung seiner Theologie geworden ist. Hier bündelt Lipsius die verschiedenen Erträge der Einzelstudien und Überlegungen vergangener Jahre zu einer systematisch-theologischen Gesamtschau. Dennoch bleibt diese Gesamtschau an den Bedürfnissen Studierender der Theologie ausgerichtet.3 Programmatische Entfaltungen eigener religionsphilosophischer und dogmatischer Überlegungen treten so nur verwoben mit überblicksartiger Darstellung traditioneller Lehrbestände christlicher Dogmatik auf, die das eigene Profil von Lipsius’ Theologie weniger stark offenlegen. Gerade die unmittelbare Rezeption von seinem Lehrbuch ist auch daher von Missverständnissen geprägt, die Lipsius einerseits beklagt, aber in diesem Zug auch Mängel eigener Präzision eingesteht, die er durch seine späteren Dogmatischen Beiträge und den stärker erkenntnistheoretisch und religionsphilosophischen ausgerichteten Neuen Beiträgen zur wissenschaftlichen Grundlegung der Dogmatik in den Jahrbüchern für protestantische Theologie zu beheben versucht.4 Nichtsdestoweniger ist es für einen werkbiographischen Zugriff geboten, das Lehrbuch der ersten Auflage in seiner eigenen Gestalt zu analysieren. Denn die späteren ergänzenden Beiträge 1

D., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, III. Ebd. 3 Dies zeigt sich an weiten Strecken unprogrammatischer Darstellung klassischer Lehrbestände, welche durch verstärkte Rückgriffe auf die populären Kompendien Karl von Hases Hutterus redivivus und Carl Ludwig Wilibald Grimms Institutio theologiae dogmaticae evangelicae historico-critica geprägt sind. Vgl. .: Ein Vorwort zu einem Vorwort, in: Protestantische Kirchenzeitung für das evangelische Deutschland (1876) 30, 641–651, hier 643. 4 Dass es auch in den flankierenden Beiträgen zum Lehrbuch aufgrund ihres Charakters als polemische Gelegenheitsschriften an der nötigen Präzision des Ausdrucks mangelt, beklagt Hüttenhoff. Vgl. H, Erkenntnistheorie und Dogmatik, 143. 2

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II. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876

sowie die neueren Auflagen des Lehrbuchs ruhen bereits der theologischen Weiterarbeit vor dem Hintergrund der intensiven Diskurse insbesondere mit Wilhelm Herrmann und Alois Emanuel Biedermann auf. Die erste Auflage des Lehrbuchs lässt hingegen deutlich stärker die frühen Quellen der Theologie Lipsius’ hervortreten. Daher soll im Folgenden Lipsius’ Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik in der ersten Auflage von 1876 unter besonderer Berücksichtigung der freiheitstheoretischen und offenbarungstheologischen Pointen analysiert werden. Zu Beginn gilt es, dafür das zugrundeliegende Dogmatikverständnis zu heben. Davon ausgehend können die psychologische und dogmatische Religionstheorien und ihre eigentümliche Verwobenheit in den Blick genommen werden. Im Anschluss rückt die religiöse Erkenntnistheorie ins Zentrum der Darstellung, welche Geltungsgrenzen religiöser Aussagen und des dogmatischen Geschäfts aus der Struktur der Religion heraus begründet. Dann kann das christliche Religionsverständnis anhand der trinitätstheologischen Bestimmung der Offenbarung in der speziellen Theologie, der Christologie und schließlich der Pneumatologie erhoben werden. Anhand dieser drei klassischen Topoi lässt sich die Verwobenheit von Freiheit und Offenbarung bei Lipsius paradigmatisch herausstellen.

1. Wissenschaftliches Selbstbewusstsein der Kirche – Zur Aufgabe der Dogmatik Trotz des äußerlichen Entstehungsanlasses verbindet Lipsius mit seinem Lehrbuch eine programmatische Hinwendung zu den material-dogmatischen Beständen des Christentums. In ihnen verdichten sich – so Lipsius – in sprachlich-bildhafter Form Kerngehalte christlicher Religion. Zugleich verhalten sich diese Sprachbilder nicht selten sperrig und spröde gegenüber modernem Denken, sodass fraglich erscheinen kann, inwiefern sie noch zu einer der Moderne angemessenen Repräsentation des christlichen Glaubens beitragen können. Lipsius’ liberale Theologie ragt durch eine prima facie widersprüchliche Haltung zum Erbe materialer Dogmatik heraus. Auf der einen Seite gibt er sich traditionalistisch, indem er gegenüber der Theologie seiner Zeit eine „Verballhornung des Dogma“5 beklagt, insofern in die dogmatischen Beständen fremde Ideen eingetragen und sie oberflächlich dem verständigen Denken angepasst werden. Ein wissenschaftlicher Zugang zum Dogma soll vielmehr einen genuin religiösen Nukleus in der Sperrigkeit der dogmatischen Bestände heben. „Grade das, was dem Verstande am kirchlichen Dogma am Anstössigsten ist, enthält fast immer seinen religiösen Kern“6. Auf der anderen Seite fordert er mit einer Klassifizierung dog-

5

Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, IV. Ebd. Paul Kirmß hat diese Verteidigung der Sperrigkeit materialdogmatischer Bestände als prägendes Merkmal Lipsius’ liberaler Theologie aufgefasst: „Er war gewiß mit ganzem 6

1. Wissenschaftliches Selbstbewusstsein der Kirche – Zur Aufgabe der Dogmatik

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matischer Lehrgehalte als bildhafte Ausdrucksformen einen hermeneutischen Zugriff auf Materialdogmatik, der ihre Bestände als zeitbedingte Ausdrucksformen eines religiösen Kerngehalts versteht, den es in jeder Zeit neu zu bestimmen und auszulegen gilt. Dogmengeschichte erscheint als Transformationsgeschichte religiöser Ausdrucksformen, die es progressiv fortzuschreiben gilt. Erst so kann ihr bleibender Gehalt in seinen historischen Variationen hervortreten.7 Das traditionalistische und das progressive Moment dieser Annäherung an die dogmatischen Lehrbestände fügen sich zusammen, insofern Lipsius für einen konservativen Umgang mit den christlichen Sprachbildern votiert und eine progressive Haltung auf der Ebene ihrer gegenwärtigen subjektiven und kirchlichen Aneignung einfordert. Aufgabe wissenschaftlicher Dogmatik ist vor diesem Hintergrund, paradigmatisch eine solche Aneignung in kohärenter und mit dem gesicherten Wissen zusammenbestehbarer Form zu entfalten, um so einen wissenschaftsförmigen Beitrag zu der Selbstverständigung der christlich Glaubenden über ihren Glauben und eine daraus erwachsene Weltanschauung zu leisten. Sie bringt Lipsius auf folgende Definition: Die christliche Dogmatik ist die wissenschaftliche Darstellung des christlichen Glaubens oder der religiösen Weltanschauung des Christenthums und des in ihr vorausgesetzten religiösen Verhältnisses vom Standpunkte des christlichen Glaubens aus und für die Genossen dieses Glaubens, zum Zwecke gemeinsamer Verständigung über den Inhalt desselben und über den diesem Inhalt angemessensten gedankenmässigen Ausdruck.8

Diese Definition gibt kompakt Auskunft über den Gegenstandsbereich, den Standpunkt, die Adressatinnen und Adressaten, Sinn und Zweck sowie die Form der Dogmatik. Den Gegenstandsbereich umgrenzt Lipsius durch eine dreifache

Herzen ein Führer der ,liberalen‘ Theologie im Gegensatz zur Orthodoxie. Dennoch hat er die orthodoxe Dogmatik nach ihrem eigentlichen Sinn und Inhalt besser verstanden als viele Orthodoxe selbst. Er ist immer mit größter Wärme dafür eingetreten, daß die Dogmen der Kirche auch da, wo sie dem heutigen Denken sehr fremdartig erscheinen, nicht müßige, verworrene Spekulationen sind, sondern Bilder ewiger Wahrheit, alte Bilder, die man lassen muß, wie sie sind, die man nicht modernisieren darf, deren fremdartige Züge man nicht verwischen soll, wie eine vermittelnde Richtung in der heutigen Theologie so gern thut, sondern die man eben in ihrer alten Gestalt verstehen muß; denn oft ist gerade das, was uns als das Fremdartigste an ihnen erscheint, das Sinnvollste, das religiös Wertvollste. Sie sind Bilder, aber eben deshalb nicht Gesetze, durch die man die Gewissen beschweren soll, sondern Bilder, deren ewigen Sinn wir für die Menschen der heutigen Zeit herauszuheben und so zu verkündigen haben, daß sie dieselben verstehen können. Lipsius hat weder den Buchstaben der Dogmen angebetet, noch sie hochmütig von der eingebildeten Höhe moderner Aufklärung aus verachtet, sondern er hat sich bemüht, sie zu verstehen.“ K, Lipsius, 9. 7 Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, V. 8 A. a. O., 1. Dabei verweist Lipsius auf Rothe, der Dogmatik als „die wissenschaftliche Darstellung der Lehrsätze, in welchen eine bestimmte kirchliche Gemeinschaft ihr eigentümliches frommes Bewusstsein ausdrücklich und authentisch in begrifflicher Weise ausgesprochen hat, nach ihrem inneren Zusammenhange unter einander“ definiert. R R: Zur Dogmatik, Gotha 1863, 14.

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II. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876

aufeinander aufbauende Bestimmung. Dogmatik ist allgemein auf den christlichen Glauben bezogen. Genauer ist es ihr um die aus dem Glauben hervorwachsende religiöse Weltanschauung zu tun. Ihr zentraler Gegenstand ist jedoch die christliche Fassung des religiösen Verhältnisses als religiöses Prinzip christlichen Glaubens und christlicher Weltanschauung. Der allgemeine Bezug der Dogmatik auf den christlichen Glauben verleiht der Dogmatik die spannungsreiche Gestalt einer Glaubenswissenschaft. Die Grundspannung geht aus dem epistemischen Gegensatz hervor, der sich nach Lipsius in dem Begriffspaar Glauben und Wissen ausdrückt. Mit dem Glaubensbezug der Dogmatik rekurriert Lipsius vorrangig nicht auf die umfassende Polyvalenz des christlichen Glaubensbegriffs. Vielmehr bezieht er sich auf eine epistemische Einstellung, die einer subjektiven Gewissheit aufruht, die sich nicht beweisen lässt und allein dem Bereich jenseits möglicher Erfahrung zugeordnet wird. Reichlich zugespitzt und vielfach missverstanden bringt er dies auf die Formel: „Der Glaube fängt genau dort an, wo die Wissenschaft aufhört.“9 Diese Formulierung ergibt sich aus dem Umstand, dass Lipsius Wissen und damit zugleich die Resultate der Wissenschaft auf den Bereich möglicher Erfahrung restringiert. Geglaubt werden kann in dem hier relevanten Sinn nur etwas, das sich prinzipiell einer Erklärung durch empirische Wissenschaften entzieht. Diese unterschiedlichen Bezugsgrößen der epistemischen Einstellungen insinuiert eine Kompatibilität zwischen Glauben und Wissen, die gerade kritisch gegenüber Vermengungen beider von Lipsius in Stellung gebracht wird. Glauben kann nie gesichertes Wissen ausstechen oder ersetzen. Im Gegenzug kann Wissen niemals den Glauben überflüssig machen oder das Gebiet des Glaubens in Wissen überführt werden. Durch ihren Bezug auf eine Perspektive des Glaubens erhalten auch die Sätze der Dogmatik den Status von Glaubenssätzen, deren Gültigkeit sich nicht mit wissenschaftlichen Mitteln erweisen lassen. Metaphysische Beweisverfahren schließt Lipsius damit im Kontext der Dogmatik ebenso kategorisch aus wie Versuche, Glaubensaussagen gegenüber unerwünschtem Wissen in Stellung zu bringen.10 „Glauben und Wissen behalten ihr getrenntes Gebiet, auch wenn eine bestimmte Form des Glaubens durch die Wissenschaft aufgelöst wird.“11 Für die Bestimmung der Dogmatik folgt, dass sie keine Wissenschaft im strengen Sinne ist, sondern als wissenschaftliche Reflexion des Glaubens eine andere Form annehmen kann und muss.

9

L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 2. Nicht zufällig erinnert diese Formulierung an Kants berühmtes Wort „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“. K, Kritik der reinen Vernunft, B XXX. 10 Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 2. 11 A. a. O., 7 „Es geht Lipsius vor allem darum, dass das (gläubige) Bewusstsein nicht aufgespalten wird in eine religiöse und eine wissenschaftliche Wahrnehmung der Welt, sondern beide mit gutem intellektuellen Gewissen aufeinander bezogen sein können.“ I, Die einheitliche Weltanschauung, 146.

1. Wissenschaftliches Selbstbewusstsein der Kirche – Zur Aufgabe der Dogmatik

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Diese allgemeinen erkenntnistheoretischen Grundüberlegungen zum Glaubensbegriff konkretisiert Lipsius mit dem Bezug der Dogmatik auf den Weltanschauungsbegriff. Mit ihm bemüht Lipsius einen Mode- und Karrierebegriff des 19. Jahrhunderts.12 Seine große und außerordentlich schnelle Verbreitung lässt sich auf seine sachliche Qualität als Bündelung wesentlicher Grunderfahrungen der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts zurückführen. Im Erfolg des Begriffs der Weltanschauung verdichten sich Differenzerfahrungen zwischen pluralen Formen menschlicher Perspektiven auf die Welt, die Stellung des Menschen in ihr und die daraus erwachsenden Handlungsorientierungen. Der Begriff verbindet dabei vier Strukturelemente:13 Durch den Weltanschauungsbegriff wird erstens eine Gesamtvorstellung der Welt zumeist mit systemischen Zügen thematisch. Zweitens treten die Konstitutionsbedingungen von Weltwahrnehmung überhaupt und damit die erkenntnistheoretische und hermeneutische Dimension des Weltanschauungsbegriffs in den Blick. Drittens umfassen Weltanschauungen stets auch praktische Momente und geben Aufschluss über eine Grundorientierung des Handelns. Viertens schließlich hat das Konzept als eine Anschauung den Charakter als visuelle Metapher, sodass auch ästhetische Aspekte aufgerufen sind. Durch diese Momente verbindet der Begriff die Suche nach einer Gesamtkonzeption des Wirklichen mit einer gleichzeitigen perspektivischen Brechung und Selbstbegrenzung derartiger Versuche. Sie ist im Zuge einer radikaleren Etablierung des historischen Denkens nötig geworden, welche die Vielfalt der Beurteilungen der Welt parallel vor Augen führt und nicht selten in einen Relativismus mündet. Das Konzept der Weltanschauung erlaubt demgegenüber die Rede von gebremster Pluralisierung, da es einerseits mehrere Anschauungen unauflöslich nebeneinanderstellt, doch mit dem Bezug auf Welt im Singular bleibt eine mitlaufende Einheitsvision der Weltanschauungen bestehen.14 Jedoch wird die rationale Vermittelbarkeit zwischen den Perspektiven auf die Welt zweifelhaft. Mit ähnlicher Stoßrichtung greift auch Lipsius das Konzept programmatisch auf.15

12 Die beeindruckende Karriere des Weltanschauungsbegriffs im 19. Jahrhundert ist schon zur Zeit von Lipsius als Mode bezeichnet und reflektiert worden. Vgl. A B: Ueber Begriff und Grundriss der Weltanschauung überhaupt und der christlichen Weltanschauung insbesondere, in: Jahrbücher für Protestantische Theologie (1877) 8, 84–147, hier 84. Der Weltanschauungsbegriff ist ein Neologismus des späten 18. Jahrhunderts und ist erstmals in Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft belegt. Vgl. H T: Art. Weltanschauung, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel u.a. 1992 ff., 453–460. 13 Vgl. J Z: Weltbild, Weltanschauung, Religion. Ein Paradigma intellektueller Diskurse im 19. Jahrhundert, in: Christoph Johannes Markschies (Hg.): Die Welt als Bild. Interdisziplinäre Beiträge zur Visualität von Weltbildern (Arbeiten zur Kirchengeschichte 107), Berlin 2008, 171–194, hier 173. 14 Vgl. a. a. O., 176. 15 Die genauen Quellen von Lipsius’ Verwendung des Begriffs Weltanschauung sind umstritten und angesichts der weiten Verbreitung des Konzepts zu der Zeit schwer mit Sicherheit zu bestimmen. Nach Markus Iff übernimmt Lipsius seinen Weltanschauungsbegriff jedoch

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II. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876

Mit dem Begriff der Weltanschauung adressiert Lipsius ein systematisches Ganzes als Horizont sämtlicher Welt- und Selbsterfahrung des Menschen, der menschliche Perspektiven einerseits prägt, sich andererseits selbst Ausdeutungsprozessen verdankt. Eine Weltanschauung ist somit kein unmittelbares Resultat von Erfahrung allein, sondern trägt notgedrungen konstruktiven Charakter. Sie ergibt sich aus Ausdeutungen und Ergänzungen der Welt- und Selbsterfahrung.16 Damit ist die Weltanschauungskonstruktion der Dogmatik von einem metaphysischen Deduktionssystem einerseits und einem reinen Positivismus andererseits abzugrenzen.17 Sie setzt sich aus empirischen Daten der Selbst- und Welterfahrung sowie spekulativen Elementen der Ganzheitskonstruktion zusammen.18 Als Organ der spekulativen Elemente nennt Lipsius das anschauende Produzieren und produzierende Anschauen der Phantasie, vorbehaltlich etwaiger pejorativer Konnotationen des Begriffs.19 Dies hat zunächst die erkenntnistheoretische Pointe, die Weltanschauung der epistemischen Einstellung des Glaubens zuzuordnen und vom Wissen abzugrenzen. Daraus folgt für Lipsius jedoch keineswegs Beliebigkeit. Ihr Prüfkriterium bleibt ihre Einheitlichkeit und Fähigkeit, die gesamte menschliche Selbst- und Welterfahrung in sich zu integrieren. So muss sie auch die gesicherten Wissensbestände der Erfahrungswissenschaften einbinden können. Die Kompatibilität zwischen Glauben und Wissen ist demnach

von Karl Schwarz und Alexander Schweizer und verweist dafür auf Schwarz‘ Zur Geschichte der neuesten Theologie. Vgl. I, Liberale Theologie in Jena, 145. Schwarz identifiziert eine von Alexander Schweizer und dem Einfluss Ferdinand Christian Baurs ausgehende theologische Bewegung in der Schweiz, die sich unter dem Stichwort moderne Weltanschauung zusammenfassen lasse und auf eine Synthese von moderner Wissenschaft und christlicher Kirchlichkeit ziele. Vgl. K S: Zur Geschichte der neuersten Theologie, Leipzig 1864, 479–482. 16 Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 3. 17 Insbesondere gegenüber philosophisch-metaphysischen Versuchen der Legitimation des Realitätsanspruchs religiöser Gehalte erklärt Lipsius seine umfassende Skepsis, ohne Realitätsansprüche religiöser Gehalte grundsätzlich zu verneinen. „Zu einer Metaphysik, welche jene Realität auf rein begrifflichem Wege deducirt, habe ich alles Vertrauen verloren; andererseits bin ich fest überzeugt, dass Keiner ein wirklich religiöser Mensch zu bleiben vermag, dem die Religion nur noch als poetischer Schmuck des Lebens gilt.“ A. a. O., VI. 18 Vgl. a. a. O., 9. Seine Betonung spekulativer Elemente der Dogmatik wendet sich prima facie gegen Rothes Grundlegung der Dogmatik, die Dogmatik ganz als eine historisch-kritische Disziplin begreift und spekulative Elemente ablehnt: „Ein mixtum compositum aus positiven und speculativen Elementen unter dem Namen der Dogmatik ist das allerschwächste und ungeniessbarste.“ R, Zur Dogmatik, 17. Lipsius nähert sich jedoch durch seine erkenntnistheoretische Beurteilung der spekulativen Elemente des dogmatischen Geschäfts als Produkte der Fantasie wieder Rothes Position an, die eine „religiöse Phantasiewelt“ zu einem integralen Bestandteil der Religion erklärt. Vgl. a. a. O., 5. Auch hier sind pejorative Konnotationen des Fantasiebegriffs fernzuhalten. 19 Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 10. Nähere Bestimmungen des Fantasiebegriffs bietet Lipsius in seiner religiösen Erkenntnistheorie. Um eine ausführlichere Entfaltung bemüht er sich jedoch erst in der dritten Auflage seines Lehrbuchs.

1. Wissenschaftliches Selbstbewusstsein der Kirche – Zur Aufgabe der Dogmatik

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selbst eine Forderung einer einheitlichen Weltanschauung. Dass die menschliche Weltanschauungsbildung auf Einheit angewiesen ist, führt Lipsius – in der ersten Auflage – unter Berufung auf Schleiermachers Reden auf einen menschlichen Einheitstrieb zurück, der gleichermaßen der Religion wie der philosophischen Spekulation zugrunde liegt.20 Diese Begründung der Einheitlichkeit von Weltanschauungen legt ein vorrangig theoretisches Verständnis von ihr nahe. In seiner Religionstheorie geht Lipsius jedoch von einem Ursprung religiöser Weltanschauungen in praktischen Bedürfnissen aus.21 Nicht allein der Drang des Menschen, seine Lebenswelt zu verstehen, sondern die Frage, wie in ihr zu handeln ist, macht eine Gesamtdeutung der Lebenswelt erforderlich. Während hier in der ersten Auflage das Einheitsbedürfnis des Menschen noch zwischen theoretischen und praktischen Momenten schillert, wird Lipsius später entschieden für eine praktische Orientierungsfunktion des Weltanschauungsbedürfnisses votieren.22 Mit der Integration der Weltanschauungskonstruktion in die Dogmatik ist das Geschäft der Dogmatik jedoch nicht hinreichend bestimmt, da die Abgrenzung zur Philosophie noch ungeklärt bleibt. Der wesentliche Unterschied ergibt sich nach Lipsius aus einem ideellen Fundament der religiösen Weltanschauung, das Lipsius als religiöses Prinzip bezeichnet. Der eigentliche Hauptgegenstand der Dogmatik ist das religiöse Prinzip. Es bezeichnet den ideellen Kerngehalt einer Religion, der das verbindende Merkmal der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen angibt. Unter ,Princip‘ versteht man insgemein eine innere geistige Einheit, aus welcher eine Mannichfaltigkeit von Merkmalen eines Ganzen oder ein zu einem Ganzen verbundener Complex von verschiedenartigen Erscheinungen erklärt wird. Zu einem geistigen Ganzen verhält sich das Princip wie die Seele zum Leibe. Es ist daher eben nur in diesem Ganzen als beseelende Kraft wirklich da, unterscheidet sich aber von ihm wie das Innere vom Aeusseren, wie das Ideale vom Realen, wie das Wesen von der Wirklichkeit.23

Auch das religiöse Prinzip soll das koordinative Zentrum der vielfältigen Erscheinungsformen von Religion angeben, das nur durch diese Erscheinungsformen Bestand hat. Das religiöse Prinzip ist also das ideale Zentrum der christlichen Weltanschauung und damit der Kerngehalt des Dogmas. Lipsius kann so nahezu synonym vom religiösen Prinzip, vom religiösen Grundverhältnis, von der Grundanschauung des Christentums und dem einheitlichen Kern des christlichen Dogmas sprechen.24 Es ist eine entscheidende Aufgabe der Dogmatik, das religiöse Prinzip als ihren eigentlichen Gegenstand erst aus den dogmatischen 20

Vgl. ebd. Lipsius verweist hier selbst auf seine Studie von Schleiermachers Reden. Vgl. ., Schleiermachers Reden, 136 ff.; 152 ff. 21 Vgl. ., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 23. 22 Siehe Kap. III.1. 23 A. a. O., 545–546. 24 „Der einheitliche Kern des christlichen Dogma ist also das religiöse Grundverhältnis und die dadurch bestimmte Grundanschauung des Christenthums, mit andern Worten sein religiöses Princip.“ A. a. O., 12.

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II. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876

Beständen des Christentums heraus zu entwickeln. Auf diese Weise soll die „Substanz des Dogma“25, der Kern innerhalb der Schale zeitbedingter dogmatischer Lehrentwicklung, in den Blick kommen. Für diese Scheidung von Schale und Kern des Dogmas beruft sich Lipsius auf Schleiermachers Unterscheidung des religiösen Gehalts individueller und kollektiver religiöser Erfahrung einerseits und seiner begrifflich-reflexiven Fassung andererseits.26 Auch für Lipsius ist der Kern der Religion in Erfahrungen zu suchen, die den dogmatischen Ausdrucksgestalten zugrunde liegen. Jedoch betont Lipsius gegen Schleiermacher, dass fromme Gefühlszustände selbst nicht als der entscheidende Kern zu gelten haben, sondern ein der religiösen Erfahrung zugrunde liegendes religiöses Verhältnis, gleichsam als Kern des Kerns. Dieses grundlegende Verhältnis bestimmt Lipsius als das lebendige Wechselverhältnis zwischen Mensch und Gott.27 Diesen formelhaft als religiöses Verhältnis bezeichneten ideellen Kern der Religion entwickelt Lipsius im Rahmen seiner mehrstufigen Religionstheorie. Seine allgemeine Struktur zu erfassen, ist nach Lipsius Teil der Religionsphilosophie, die in die Prolegomena seiner Dogmatik integriert ist. Die christliche Dogmatik wird als Ausgestaltung einer spezifisch christlichen Modifikation dieses Verhältnisses zwischen Gott und Mensch verstanden. Sache der Dogmatik ist nach Lipsius jedoch nur die Bestimmung und Auslegung des religiösen Verhältnisses, nicht jedoch seine Begründung. Die objektive Realität des religiösen Verhältnisses setzt die Dogmatik als „Thatsache subjectiver Erfahrung“28 der Glaubenden voraus. Diese Grunderfahrung gilt es, anhand religiöser Ausdrucksformen zu analysieren und ihre christlichen Interpretamente in ihrem geschichtlichen Wandel auf ihre Erschließungskraft hin zu befragen.29 Da die Dogmatik nach Lipsius Voraussetzungen, wie die Wirklichkeit des religiösen Verhältnisses, macht, eignet ihr eine Positionalität und Perspektivität. Sie ist ein Geschäft, das vom Standpunkt des christlichen Glaubens ausgeht und sich in ihren Erträgen zuvorderst an Anhängerinnen und Anhänger des christlichen Glaubens richtet. Ihren spezifischen Standpunkt und die damit gesetzten Geltungsansprüche werden nicht eigens problematisiert.30 Darin unterscheidet sich die Dogmatik von Religionsphilosophie und Apologetik, die sich um einen relativen Erweis der religiösen Weltanschauung als „unter allen möglichen Lebensansichten die befriedigendste“31 bemühen. Im Sinne dieser Positionalität und Perspektivität kann Lipsius die Dogmatik als eine Funktion der Kirche bestimmen. Sie wird von Anhängerinnen und Anhängern des christlichen Glaubens aus der Perspektive dieses Glaubens betrieben und richtet sich in ihren Erträgen an

25

Ebd. Vgl. ebd. 27 Vgl. a. a. O., 3. 28 Ebd. 29 Zur geschichtlichen Wandelbarkeit religiöser Prinzipien vgl. a. a. O., 13. 30 Vgl. a. a. O., 5. 31 A. a. O., 3. 26

1. Wissenschaftliches Selbstbewusstsein der Kirche – Zur Aufgabe der Dogmatik

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Christinnen und Christen. So setzt Lipsius voraus, dass Dogmatiker „mitten inne stehen in dem religiösen Leben der kirchlichen Gemeinschaft“32. Wer christliche Dogmatik betreiben möchte, muss sich nach Lipsius selbst auf subjektive Erfahrung des religiösen Verhältnisses berufen können. Entsprechend geht es in der Dogmatik um eine Selbstverständigung des christlichen Glaubens. Er soll zur „Klarheit über sich selbst“33 geführt werden. Der entscheidende Zweck der Dogmatik ist: „Erhebung des unmittelbaren Glaubensbewusstseins der Kirche durch kritische Verarbeitung ihrer Lehrüberlieferung in die Form wissenschaftlich durchgebildeter Glaubenserkenntnis.“34 Lipsius betont dabei ausdrücklich gegenüber der auf die Freiheit des Geistes ausgerichteten Bestimmung Biedermanns, die Dogmatik als einen Dienst an der Kirche zu begreifen.35 Sie soll das „wissenschaftliche Selbstbewusstsein“36 der Kirche zum Ausdruck bringen. Gegen Schleiermacher betont Lipsius jedoch, dass die Dogmatik ihre Gestalt nicht nur durch den praktischen Bezug auf die Kirche gewinnt, sondern ausgehend von ihrer spezifischen Perspektivität eigene konstruktive Aufgaben umfasst, die einen stärker kritischen Umgang mit der kirchlichen Lehrüberlieferung erfordern. Die Kirche hat demnach nur eine pädagogische Autorität über kirchliche Lehrüberlieferung.37 Sie soll zur mündigen Teilhabe an der kirchlichen Gemeinschaft verhelfen, aber sie ist stets als entwicklungsfähig und entwicklungsbedürftig zu begreifen. Vor diesem Hintergrund strebt die Dogmatik auch eine reflexive Läuterung religiöser Vorstellungsgehalte an, sodass das christliche Prinzip klarer hervortritt. Wenngleich die Dogmatik als Glaubenswissenschaft nicht selbst objektives Wissen hervorbringen kann, ist sie auf eine wissenschaftliche Form verpflichtet. Die wissenschaftliche Form der Dogmatik äußert sich zuvorderst in ihrer systematischen Gestalt. Die Dogmatik strebt nach Kohärenz und Konsistenz in sich, unter Einbeziehung anerkannter Ergebnisse der Wissenschaften, sowie aller „gesicherten Erfahrung“.38 Aus der Forderung der wissenschaftlichen Form heraus verbietet sich jeglicher Rückzug auf „übernatürliche Autorität“.39 Die Dogmatik ruht zwar Geltungsvoraussetzungen auf. Diese beziehen sich jedoch nur auf die Kerngehalte des Glaubens und nicht auf die Form ihrer Vermittlung mit Erfahrung und Wissenschaft. Mit dem Bewusstsein der eigenen Perspektivität gilt es, eine kohärente Weltanschauung zu entfalten, die etwaige problematische Folgen des eigenen Standpunkts aufgreifen und bearbeiten muss. 32

A. a. O., 4. Ebd. 34 A. a. O., 13. 35 Vgl. a. a. O., 4. Zu Biedermanns Bestimmung der Dogmatik, die ein freieres Verhältnis zum kirchlichen Leben vertritt. Vgl. A E B: Christliche Dogmatik, Zürich 1869, 2. 36 L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 4. 37 Vgl. a. a. O., 11. 38 Vgl. a. a. O., 3. 39 Vgl. a. a. O., 2. 33

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II. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876

Der Dogmatiker sucht diese zunächst subjectiv […] giltigen Sätze annäherungsweise zu objectiv giltigen zu erweitern, indem er sie in einen universellen Zusammenhang hineinstellt, sie mit unserer gesammten Welterkenntnis zu einem einheitlichen Ganzen zusammenschliesst.40

Aus dieser Bestimmung der Aufgabe der Dogmatik ergibt sich nach Lipsius ein vierteiliges Vorgehen: Die Dogmatik ermittelt zuerst das religiöse Princip des Christenthums aus der gemeinsamen und individuellen religiösen Erfahrung [prinzipieller Teil], legt darnach die geschichtliche Ausprägung dieses Princips im kirchlichen Lehrbegriffe dar [historischer Teil], und entwickelt zuletzt auf Grund einer kritischen Verarbeitung des kirchlichen Lehrstoffs [kritischer Teil] den Inhalt des christlichen Glaubens in der Form eines zusammenhängenden wissenschaftlichen Systems [spekulativer Teil].41

Während der prinzipielle Teil geschlossen vorgelagert in den Prolegomena bearbeitet wird und sich in eine Religions-, Christentums- und Protestantismustheorie gliedert, wird der historische, kritische und spekulative Teil jeweils für die traditionellen Loci protestantischer Dogmatik nach heilsgeschichtlicher Anordnung entwickelt.42 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Lipsius Dogmatik als eine theologische Disziplin versteht, die deskriptive und konstruktive Momente durch systematisches Synthetisieren traditioneller dogmatischer Ausdrucksformen mit gegenwärtiger Selbst- und Welterfahrung verzahnt. Auf diese Weise setzt er die Verbindung von empirischer Grundausrichtung der Theologie mit spekulativer Rekonstruktion der Glaubensgegenstände um, die er an dem Programm einer philosophischen Dogmatik Weisses affirmativ herausgestellt hat.43 Jedoch begrenzt er auf der Basis der erkenntnistheoretischen Unterscheidung von Glauben und Wissen die Geltungsreichweite der Spekulation auf einen Selbstklärungsprozess der Glaubenden und macht bereits im grundlegenden Dogmatikverständnis deutlich, dass sie keine verallgemeinerbare Beweisverfahren kennt. Entsprechend hebt sie sich als Konstruktion einer christlich-religiösen Weltanschauung von der Philosophie ab. Sie nimmt hingegen explizit eine voraussetzungsreiche Glaubensperspektive ein, deren Geltung einerseits nicht mehr zur Disposition gestellt wird, die andererseits jedoch eine modernegerechte Auslegung erfordert, welche eine Zusammenbestehbarkeit des Glaubens und ihres Prinzips eines Gott-Mensch-Verhältnisses mit dem gesicherten Erfahrungswissen ermöglicht. Sie erfordert also Protagonistinnen und Protagonisten, die sich einerseits als Teil der Gemeinschaft christlicher Glaubenden verstehen und aus eigener Anschauung des religiösen Lebens schöpfen und andererseits sich auf der Höhe modernen Wahrheitsbewusstseins bewegen und so Glauben kohärent gegenüber

40

A. a. O., 7. A. a. O., 14. 42 Vgl. a. a. O., 18. 43 Siehe Kap. I.2.a/b. 41

2. Abhängigkeitsgefühl und Freiheitstrieb – Die Religionspsychologie

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mündigen Christinnen und Christen verantworten können. So verbinden sich in Lipsius’ Dogmatik-Programm die Momente von wissenschaftlicher Form und Glaubensperspektive zu dem, was Lipsius wissenschaftliches Selbstbewusstsein der Kirche nennt. Ein Blick voraus auf die späteren Diskurse um die Dogmatik von Lipsius zeigt deutlich, dass vor allem ihr prinzipieller Teil Beachtung und Widerspruch gefunden hat. Er ist freilich auch die Grundlage, um die materialdogmatischen Überlegungen von Lipsius einzuordnen. Zudem zeigt sich Lipsius in den Prolegomena am meisten programmatisch, wohingegen die materialdogmatischen Teile den Lehrbuchcharakter des Werkes stärker hervortreten lassen. Daher wird auch der Fokus der folgenden Rekonstruktion auf dem prinzipiellen Teil liegen. Nichtsdestoweniger muss sich gerade an einem exemplarischen Blick auf Gotteslehre, Christologie und Pneumatologie der behauptete freiheitstheologische Fokus von Lipsius’ Theologie ausweisen lassen. Daher beschließen diese exemplarischen Ausblicke das Kapitel.

2. Abhängigkeitsgefühl und Freiheitstrieb – Die Religionspsychologie An den Beginn der theologischen Prinzipienlehre stellt Lipsius eine psychologische Religionstheorie. Religion wird dabei als „Thatsache des menschlichen Geisteslebens“44 in den Blick genommen und auf ihren Ursprung und ihr Wesen befragt. Auf diese Weise soll das Auftreten religiöser Vorstellungen im menschlichen Bewusstsein unabhängig von jeglicher Beurteilung ihrer Geltungsansprüche verstehbar und auf eine menschliche Vermögensstruktur zurückgeführt werden. Das dogmatische Geschäft setzt sich also eine Analyse der kulturellen Phänomenalität religiösen Lebens voraus. Sie gilt es in die Konstruktion einer religiösen Weltanschauung zu integrieren, indem sie später mit den Geltungsansprüchen religiöser Vorstellungen und allgemeiner menschlicher Selbst- und Welterfahrung vermittelt werden. So ist es für ein Verständnis von Lipsius’ theologischer Systematik entscheidend, zu erschließen, was Lipsius unter Religionspsychologie versteht, wie er die Ausbildung von Religion religionspsychologisch erklärt und was daraus für die Bestimmung der Religion im Allgemeinen folgt. Religionspsychologie versteht Lipsius in einem weiten Sinne als empirische Disziplin. Das dabei in Anschlag gebrachte Verständnis von Psychologie deckt sich nicht mit heutigen Formen empirischer oder psychologischer Wissenschaft, insbesondere dann nicht, wenn sie von einem naturwissenschaftlichen Selbstverständnis geleitet ist. Die religionspsychologischen Ausführungen des Lehrbuchs der evangelisch-protestantischen Dogmatik schillern zwischen erfahrungswissenschaftlichen, transzendentalphilosophischen und subjektivitätstheoretischen Momenten, was sich auch in einem weitgehend synonymen Gebrauch von den 44

A. a. O., 19.

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II. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876

Begriffen Religionsphilosophie, Religionspsychologie und Religionswissenschaft niederschlägt.45 Der Sache nach setzt Lipsius hier seine Arbeit an Schleiermachers Religionstheorie und seinem Konzepts des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit fort.46 Sie knüpft jetzt allerdings explizit an die von Schleiermacher und Hegel geprägten Theologen Karl Schwarz und Otto Pfleiderer an. Entsprechend treten Schwarz‘ Das Wesen der Religion von 1847 und Pfleiderers Die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte von 1869 als entscheidende Referenzen auf.47 Schwarz ist besonders für die grundlegende Anlage der Religionstheorie bei Lipsius richtungsweisend. Er bestimmt Religion und Offenbarung als wechselseitig aufeinander bezogene Bewegungen eines lebendigen Verhältnisses von Gott und Mensch. Offenbarung wird dabei als göttlicher Grund der Religion und „Bewegung Gottes zum Menschen hin“48 und Religion komplementär als „menschliche Wirklichkeit der Offenbarung“49 und menschliche Bewegung hin zu Gott bestimmt. Dies erlaubt ihm eine Perspektive auf Religion als durchweg menschengemachte Funktion menschlichen Geisteslebens. Der Mensch ist das Subjekt der Religion. „Ihr Wesen muß daher aus einer Analyse des menschlichen Bewußtseins, d. h. psychologisch erklärt werden.“50 Auch hier meint das psychologische Erklären eine Annäherung an Religion über das Auftreten von ihr im Bewusstsein des Menschen. So wird Religion in die geistige Vermögensstruktur des Menschen eingeordnet und aus ihr abgeleitet. Über die grundlegende Anlage der Religionspsychologie hinaus sind es aber besonders Biedermann und Pflei-

45

Freilich hängt dies auch damit zusammen, dass sich Psychologie zur Zeit von Lipsius erst als eigenes Fach in der universitären Fächerstruktur herausbildet. Vgl. S, Philosophie in Deutschland 1831–1933, 96–97. 46 Siehe Kap. I.4.b. 47 Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 19. Vgl. K S: Das Wesen der Religion, Halle 1847. Vgl. O P: Die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte. Das Wesen der Religion, Leipzig 1869. Iff verweist darauf, dass bereits Schleiermacher in seiner Psychologievorlesung die Psychologie als eine Art Grundwissenschaft eingeführt hat, jedoch erst Karl Schwarz habe eine Religionsphilosophie auf der Basis von Psychologie entworfen. Vgl. I, Der psychologische Vorgang in der Religion, 104–105. Doch Wilhelm Martin Leberecht de Wette hat bereits 1828 einen umfassenden Paradigmenwechsel in der Theologie herausgestellt, nach dem die Psychologie an die Stelle der Logik als das eigentliche Organon wahrer christlicher Theologie trete. Vgl. D W, W M L: Einige Gedanken über den Geist der neueren protestantischen Theologie, in: Theologische Studien und Kritiken (1828) 1, 125–136, hier 135. De Wette meint dabei eine aus dem inneren Leben geschöpfte Kenntnis der Genese religiöser Vorstellungen. In dieser Stoßrichtung kann auch der Ansatz von Lipsius verortet werden. 48 S, Das Wesen der Religion, 1. Für eine theologiegeschichtliche Würdigung von Schwarz‘ Arbeit am Religionsbegriff vgl. M D K: Zwischen Hegel und Schleiermacher. Der Religionsbegriff bei Carl Schwarz (1812–1885), in: Georg Pfleiderer (Hg.): Die Religion der Bürger. Der Religionsbegriff in der protestantischen Theologie vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 2021, 294–304, hier 302–303. 49 S, Das Wesen der Religion, 1. 50 A. a. O., 4.

2. Abhängigkeitsgefühl und Freiheitstrieb – Die Religionspsychologie

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derer, die für die konkrete Durchführung der Religionstheorie bei Lipsius prägend sind.51 Während sich die Nähe zu Biedermann in den Resultaten der Religionspsychologie und der späteren dogmatischen Religionstheorie deutlich zeigt, ist Pfleiderers Vorbild für die argumentative Entwicklung der Religionspsychologie bei Lipsius entscheidend. In Die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte, auf Grund des gegenwärtigen Standes der philosophischen und der historischen Wissenschaft von 1869 fordert Pfleiderer eine Erforschung der Religion als innerlich-psychologische Erscheinung gegenüber einem von ihm beklagten Apriorismus bei Hegel und Schelling ein.52 Wissenschaftliche Religionsforschung muss ihren Ausgang bei der Quelle der Religion nehmen und daher mit der „Selbstanschauung des religiösen Selbstbewusstseins“53 anheben. Durch eine solche introspektive Religionsphänomenologie hebt sich die Religionspsychologie von spekulativeren Spielarten subjektivitätstheoretischer Religionstheorie ab. Nichtsdestoweniger zehrt sie noch stark von den begrifflichen Mitteln klassischer deutscher Philosophie und ihrer religionstheoretischen Grundmotive. So verspricht sich Pfleiderer von einem hegelianischen Ansatzpunkt der Religionstheorie bei einem menschlichen Endlichkeitsbewusstsein Aufklärung über das religiöse Selbsterleben, die Einseitigkeiten einer von Fichte geprägten Fokussierung des menschlichen Freiheitsbewusstseins oder Schleiermachers Fokussierung des Abhängigkeitsgefühls überwindet.54 Die dabei aufgegriffenen Grundmotive werden jedoch in einem triebtheoretischen Vokabular reformuliert, was sie zumindest scheinbar positiviert und naturalisiert.55 Ein näherer Blick auf die Herleitung der Religion bei Pfleiderer zeigt diese Verschmelzung psychologischer und subjekttheoretischer Motivik: Religion wird als Lösung einer im menschlichen Endlichkeitsbewusstsein angelegten Spannung eingeführt. Das für das menschliche Geistesleben kennzeichnende Wissen um die eigene Endlichkeit besteht aus zwei einander widerstrebenden Momenten. Auf der einen Seite führt das Endlichkeitsbewusstsein die je eigene Endlichkeit und Abhängigkeit vor Augen. Auf der anderen Seite indiziert gerade das Wissen darum eine Transzendierung dieser Endlichkeit und ist so

51

Mit ihren Ergebnissen erklärt sich Lipsius explizit einig. Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 28. 52 Vgl. P, Die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte, 9–12. Für eine theologiegeschichtliche Würdigung Pfleiderers Arbeit am Religionsbegriff vgl. M L: „Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage“. Zur spekulativen Religionsphilosophie Otto Pfleiderers (1839–1908), in: Georg Pfleiderer (Hg.): Die Religion der Bürger. Der Religionsbegriff in der protestantischen Theologie vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 2021, 736–753, hier 750–752. 53 P, Die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte, IX. 54 Vgl. a. a. O., 68. 55 Dietrich Korsch stellt diesen Hang zur Naturalisierung insbesondere in Bezug auf die Übernahme von Schleiermachers Gefühlsbegriff bei Pfleiderer heraus, der sich beispielhaft in einer Verwechselung von Apriorität und Angeborensein ausspreche. Vgl. K, Religionsbegriff und Gottesglaube, 109–110.

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II. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876

selbst bereits eine Erhebung über sie, die nach Pfleiderer etwas Unendliches im menschlichen Bewusstsein aufblitzen lässt. Dieses Unendliche – das Subjekt des menschlichen Endlichkeitsbewusstsein – wird von Pfleiderer als individueller menschlicher Selbstheitstrieb näherbestimmt: Dieses Unendliche kann aber nichts anderes sein als der Grundtrieb jedes menschlichen Einzelwesens, der Trieb der Selbstheit, der Trieb, selbst zu sein d. h. für sich selbst und durch sich selbst zu sein, oder der Trieb nach Selbstgenuss und Selbstbethätigung.56

Im Endlichkeitsbewusstsein spricht sich eine Subjektivität aus, die sich zu ihrer Endlichkeit verhalten kann, und dabei einem Trieb zur Erhaltung eigener Selbstständigkeit aufruht. Allerdings heften an diesem Selbstheitstrieb wiederum Strukturen der Endlichkeit. Neben seinen positiven Eigenschaften als Streben, Spontaneität und Kraft trägt er zugleich die negativen Merkmale des Mangels, des Bedürfnisses und des empfundenen Leidens.57 Der Selbstheitstrieb transzendiert zwar die Endlichkeit des Menschen, erweist sich darin allerdings als bleibend abhängig. Die Triebstruktur des Unendlichen im Menschen kennzeichnet, dass der Mensch das Unendliche nicht voll ergriffen hat und besitzt. So erscheint dem Menschen das Unendliche im Streben nach Selbstheit als eine Kraft, die ihn über das Endliche erhebt, aber zugleich als eine Macht, von der der Mensch abhängig ist.58 Das Streben des Menschen als Selbstheit nach Aufrechterhaltung und Stärkung der Selbstheit, das sich in seinem Endlichkeitsbewusstsein kundtut, trägt daher eine Grundspannung von Freiheit und Abhängigkeit, von Endlichkeit und Unendlichkeit, in sich. Die Religion wird nun als Versöhnungsprozess dieser Spannung von Freiheit und Abhängigkeit im Menschen eingeführt.59 Die Versöhnung von Freiheit und Abhängigkeit im Menschen äußert sich im Gefühl.60 So ergeben sich Momente religiöser Lust, die die gelingende Vermittlung von Freiheit und Abhängigkeit im Menschen darstellen, aber auch Momente religiöser Unlust, wie Kampf, Zweifel, Furcht, Kleinmut, Reue und Schuldgefühle, die misslingende Vermittlung von Freiheit und Abhängigkeit

56

P, Die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte, 68. Vgl. a. a. O., 70. 58 Vgl. a. a. O., 70–71. 59 Vgl. a. a. O., 71. Pfleiderer verweist hier auf die große sprachliche Nähe zu der spätidealistischen Konzeption Immanuel Herrmann Fichtes in dessen Psychologie. Dort heißt es: „Und so ergibt sich denn, dass in jenem primitiven, noch dunkel wirkenden Religionsgefühle […] zwei Gefühlselemente miteinander in einem natürlichen Kampfe liegen: das Gefühl des eigenen Selbst und das Abhängigkeitsgefühl, beide gleich mächtig, gleich ursprünglich und somit gleich unaustilgbar. Aber dieser ,natürliche‘ Widerstreit wird dadurch getilgt, indem der Geist eben über seine Unmittelbarkeit (,Natürlichkeit‘) allmählich und immer entschiedener sich erhebt: im theoretischen Denken durch die Speculation, im Gefühle und im Willen durch die vollendete Entwickelung des Religionsgefühls.“ I H F: Psychologie. Die Lehre vom bewussten Geiste des Menschen; oder Entwickelungsgeschichte des Bewusstseins; begründet auf Anthropologie und innerer Erfahrung, Leipzig 1864, 727. 60 Vgl. P, Die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte, 77. 57

2. Abhängigkeitsgefühl und Freiheitstrieb – Die Religionspsychologie

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anzeigen.61 Mit diesen Überlegungen verbindet Pfleiderer Momente von Schleiermachers Theorie schlechthinniger Abhängigkeit mit einer stärkeren Betonung menschlicher Eigenaktivität im Herzen der Religion und ihrer reflexiven Vermitteltheit. Sie wird gerade als Befriedigung einer triebhaft-bedingten aber reflexiv erfassten Spannung zwischen einer unendlichen Spontaneität des Menschen im Streben danach, selbstständiges Subjekt zu sein, und der unendlichen Abhängigkeit dabei eingeführt. Auf diese Weise zeigt Pfleiderer eine ähnliche Stoßrichtung, wie sie Lipsius in seinen Schleiermacherstudien begründet hat. Auch für Pfleiderer ist klar: Religion ist eine „Regsamkeit unserer Freiheit.“62 Lipsius’ Religionspsychologie ist stark an diesen Bestimmungen Pfleiderers orientiert und zeigt viele parallele argumentative Schritte in der Entwicklung des psychologischen Religionsbegriffs. Auch er kritisiert grundlegend die Begründungsversuche der Religion bei Schelling und Hegel.63 Auch er hebt auf eine „eigenthümliche Beschaffenheit des menschlichen Selbstbewusstseins“64 ab, die ein Transzendieren der Endlichkeit ausdrückt und sich zugleich abhängig von einer Unendlichkeit zeigt. Auch nach Lipsius übersteigt der Mensch im Endlichkeitsbewusstsein bereits seine Endlichkeit. Dieses über seine endliche Naturverflochtenheit erhobene Selbstverständnis des Menschen als ein höheres Selbst führt auch nach Lipsius zu einem Widerspruch zu der faktisch erfahrenen endlichen Naturverflochtenheit. Während Pfleiderer von einem Trieb spricht, der als Subjekt der Erhebung des Menschen über seine Endlichkeit auftritt, spricht Lipsius vorrangig von einer Nötigung. Die selbsterlebbare Beschaffenheit menschlichen Geisteslebens umfasst einen Drang, die Spannung von Freiheit und Abhängigkeit aufzuheben. Im Wesen des Menschen erblickt Lipsius demnach einen Grund zur Ausbildung von Religion. Sie ist eine mögliche und nach Lipsius auch naheliegende kulturelle Umgangsform mit einer im Menschen angelegten Spannung. Religion ist damit jedoch nicht selbst im Menschen angelegt. Auf diesen Unterschied legt Lipsius großen Wert, wenn er gegen Theorien von einer „‘besonderen religiösen Anlage‘ oder einem besonderen ,religiösen Organ‘“65 polemisiert. Religion ist Bearbeitung einer Problemkonstellation. Die Problemkonstellation ist in der Struktur des Menschen angelegt, nicht jedoch die Religion selbst.

61

Vgl. a. a. O., 73. A. a. O., 79. 63 Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 20. 64 Ebd. 65 Ebd. Damit grenzt sich Lipsius zugleich von Schleiermacher ab, der in seinen Reden eine solche religiöse Anlage des Menschen explizit vertritt: „Der Mensch wird mit der religiösen Anlage geboren wie mit jeder andern, und wenn nur sein Sinn nicht gewaltsam unterdrükt, wenn nur nicht jede Gemeinschaft zwischen ihm und dem Universum gesperret und verrammelt wird […], so müßte sie sich auch in Jedem unfehlbar auf seine eigne Art entwickeln“ S, Über die Religion, 252. 62

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II. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876

Die von Lipsius identifizierte Nötigung, die Spannung von Freiheit und Abhängigkeit aufzuheben, hat eine theoretisch-praktische Doppelstruktur. So erwächst aus dem menschlichen Endlichkeitsbewusstsein ein theoretischer und ein praktischer Antrieb, der zur Ausbildung einer religiösen Weltanschauung führen kann.66 Einerseits leitet Lipsius Religion theoretisch aus dem Drang, von dem Rätsel des Daseins Rechenschaft abzulegen, ab.67 Andererseits entspringt sie dem praktischen Impuls, gegenüber den Hemmungen der Endlichkeit „sich selbst zu behaupten und sein Wohlsein zu fördern.“68 Beide Impulse konkretisieren sich in dem Verlangen nach einer einheitlichen Weltanschauung, die das menschliche Dasein verständlich macht und ihm eine Stellung in der Welt zuschreibt, die es erlaubt, sich als freies Subjekt gegenüber allen weltlichen Abhängigkeiten zu behaupten.69 Beide Impulse führen nach Lipsius zu einer Reflexion der eigenen endlichen Subjektivität unter Rekurs auf eine Unbedingtheitsdimension. So führt diese Weltanschauung die den Menschen befremdenden Erscheinungen der äusseren Natur und die sein Leben theils fördernden, theils hemmenden äusseren Einflüsse auf eine höhere Causalität, die Mannichfaltigkeit und das Stückwerk der Erscheinungen auf eine höhere Einheit, den Wechsel auf ein Beharrliches, das räumlich und zeitlich Begränzte auf ein Unendliches und Ewiges, in jeder dieser Formen aber das in der Erfahrung Gegebene auf eine geistige Macht zurück, der sich der Mensch trotz seiner natürlichen Abhängigkeit von ihr als geistiges Wesen innerlich nahe fühlt.70

Diese Rückfragen von Naturkausalität auf unbedingte Kausalität, von Vielfalt auf eine Einheit, vom Endlichen aufs Unendliche und vom Zeitlichen aufs Ewige, von endlicher Subjektivität auf eine absolute geistige Macht sind nach Lipsius nicht um ihrer selbst willen als religiöse zu klassifizieren, sondern sie werden religiös, sobald sie im Interesse der Erhaltung des höheren Selbst gestellt werden. Die Frage nach der Unbedingtheitsdimension muss aus existentieller Betroffenheit der Persönlichkeit erfolgen, um ein Fall von Religion zu sein. Aber immer ist der Glaube an eine das empirische Dasein beherrschende, also über dasselbe hinausliegende höhere Macht einem Bedürfnisse der Selbstbehauptung des persönlichen Menschengeistes entsprungen, welcher in der Noth nach Hilfe, in der Angst des Irdischen nach Trost, in der Unzulänglichkeit alles menschlichen Erkennens nach Gewissheit, in dem Gefühle der Friedlosigkeit nach Frieden, im Schmerze des Endlichen nach Erhebung, im innern Zwiespalt nach Versöhnung verlangt.71

Religion wird hier als eine Reflexion der eigenen Endlichkeit im Horizont des Unendlichen unter existentieller Betroffenheit bestimmt. Die existentielle Betroffenheit ergibt sich aus einem Bezug zwischen der Endlichkeitsreflexion mit

66

Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 21. Vgl. a. a. O., 20. 68 A. a. O., 21. 69 Vgl. ebd. 70 Ebd. 71 A. a. O., 23. 67

2. Abhängigkeitsgefühl und Freiheitstrieb – Die Religionspsychologie

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dem eigenen triebhaften Anliegen, die eigene freie Subjektivität zu kultivieren. Die Religion ist demnach wesentlich eine Sache der Behauptung des höheren Selbst, der eigenen Persönlichkeit. Die Unbedingtheitsdimension wird in ihr durch den Gottesbegriff repräsentiert. Die Vorstellung einer geistigen Macht wird zur Vorstellung einer Gottheit fortgebildet, indem sie selbst von den Bedingungen und Kategorien der Endlichkeit befreit gedacht wird. Sie hat demnach einen übernatürlichen und überempirischen Charakter. Diese Abhebung der Gottheit von den naturkausalen Bedingtheiten ist zunächst Ausdruck einer als geheimnisvoll und wundersam erfahrenen Wirksamkeit der geistigen Macht. Analog zum menschlichen Geistesleben wird allerdings die Vorstellung der Gottheit auch mit den Attributen menschlichen Geisteslebens ausgestattet.72 Sie wird als Grund der Freiheit der eigenen Selbstheit adressiert und damit als Ermöglichung der inneren Transzendierung endlicher Abhängigkeit aufgefasst.73 „Im Glauben an die Gottheit findet der Mensch erst wahrhaft sich selbst“74. Darin liegt nach der psychologischen Bestimmung der Religion die Hauptfunktion der Religion. Das Selbstbewusstsein des Menschen als freies geistiges Wesen soll trotz der eigenen Verflochtenheit in die Natur bewahrt werden, indem eine geistige Macht gesetzt wird, die über die Endlichkeit erhebt. Von dieser Grundüberlegung gelangt Lipsius zu einer formelhaften Bestimmung der psychologischen Funktion von Religion: Ihrem vollen psychologischen Gehalte nach ist daher die Religion die Versöhnung des menschlichen Freiheitstriebes mit dem Abhängigkeitsgefühl, durch die zugleich mit dem Innewerden der religiösen Abhängigkeit sich vollziehende Erhebung über den ganzen Bereich endlicher Abhängigkeit und endlicher Freiheit zur Freiheit in Gott oder zur persönlichen Lebensgemeinschaft mit ihm.75

Religion tritt also auch hier in psychologischer Perspektive als eine Bearbeitung einer in der Struktur des menschlichen Selbstbewusstseins angelegten Grundspannung auf. Die Selbsterfahrung menschlichen Lebens ist durch das Gegenüber von Freiheitstrieb und Abhängigkeitsgefühl gekennzeichnet. Mit der Religion tritt eine strukturell neue Form der Abhängigkeit in das Bewusstsein des Menschen, die zugleich eine strukturell neue Form des Freiheitsbewusstseins bedeutet. Diese neue Freiheit wird dabei als Nähe zu einer überempirischen geistigen Macht gefasst, die als Gott bezeichnet wird. Das religiöse Leben ist diese neue freie Lebensgemeinschaft mit Gott, die einer Erhebung über die Natur gleichkommt. Diese Bestimmung ist erkennbar an dem berühmten § 4 von Schlei-

72

Vgl. a. a. O., 25. Vgl. a. a. O., 27. 74 A. a. O., 23. 75 A. a. O., 28. Diese Bestimmung ragt sehr nah an die grundlegende Bestimmung bei Biedermann heran. Dort lautet sie: „Erhebung des Menschen, als endlichen Geistes, aus der eigenen endlichen Naturbedingtheit zur Freiheit über sie in einer unendlichen Abhängigkeit.“ B, Christliche Dogmatik 1869, 30. 73

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II. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876

ermachers Glaubenslehre und ihrer zentralen Theorie des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit orientiert, umfasst aber zugleich diejenigen Momente, die Lipsius als seine eigene Fortbildung ausgibt. Wie bereits in seinen Schleiermacherstudien entfaltet, kritisiert Lipsius die Restringierung religiösen Bewusstseins auf ein schlechthinniges Abhängigkeitsbewusstsein.76 Es ist nur ein Moment, das psychologisch zudem nur durch einen menschlichen Akt der persönlichen Selbstbeziehung auf Gott zustande kommt.77 Das menschliche Gottesverhältnis ist das Ergebnis einer freien Erhebung des Menschen über seine natürliche Abhängigkeit durch die Setzung der religiösen Abhängigkeit von Gott. Entscheidend ist, dass sich die religiös gesetzte Abhängigkeit auf einer gänzlich anderen kategorialen Ebene bewegt als alle erfahrbare endliche Abhängigkeit, die er daher auch mit Biedermann als unendliche Abhängigkeit bezeichnen kann.78 Die für Lipsius relevante Pointe ist dabei jedoch lediglich die Abgrenzung der religiösen Abhängigkeit vom „Mechanismus des endlichen Causalzusammenhanges“79. Die Setzung einer solchen unendlichen Abhängigkeit verdankt sich demnach aber bereits einer Erhebung des Menschen über seine naturkausal beschreibbare Verwobenheit und deutet auf die Fähigkeit, sich zu ihr verhalten zu können, hin. Vor diesem Hintergrund wendet Lipsius gegen Schleiermacher ein, dass man die Rede von schlechthinniger Abhängigkeit ebenso gut durch die Rede von einer schlechthinnigen Freiheit ersetzen kann.80 Denn die Konstitution des Bewusstseins unendlicher Abhängigkeit verdankt sich bereits einer inneren Erhabenheit über die Naturverflochtenheit, die als unendliche oder schlechthinnige Freiheit bestimmt werden kann. Denn damit der Mensch sich auf eine transzendente Macht beziehen kann, muss er bereits zu Bezugnahmen über das Natürliche hinaus in der Lage sein. Die Religion insgesamt ist so Ausdruck einer „im geistigen Wesen des Menschen gelegenen Freiheit“81.

76 Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 27. Siehe zur Schleiermacherkritik Kap. I.4.b. 77 Vgl. ebd. 78 Vgl. ebd. Vgl. B, Christliche Dogmatik 1869, 30. 79 L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 27. 80 Vgl. a. a. O., 28. Schleiermacher schließt die Rede von einem schlechthinnigen Freiheitsgefühl kategorisch aus: „Ein schlechthinniges Freiheitsgefühl kann es demnach für uns gar nicht geben“ F S: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe. Berlin 2003, Bd. I, 27, § 4.3. Es ist jedoch fraglich, ob hier die sachliche Differenz zwischen Schleiermacher und Lipsius eher oberflächensemantischer Natur bleibt, da auch Lipsius diese schlechthinnige Freiheit „von anderswärtsher“ (a. a. O., Bd. I, 28, § 4.3.) – sc. von Gottes Wirken her – begründet sieht. Im Gegenzug macht auch Schleiermacher die Notwendigkeit eines die schlechthinnige Abhängigkeit begleitenden Freiheitsgefühls namhaft. „Ohne alles Freiheitsgefühl aber wäre ein schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl nicht möglich.“ Ebd. 81 L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 28.

2. Abhängigkeitsgefühl und Freiheitstrieb – Die Religionspsychologie

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Lipsius ist es hier um eine stärkere Akzentuierung der Freiheitsdimension der Religion gegenüber Schleiermacher zu tun. Der Sache nach werden ein aktivisches und ein passivisches Moment der Religion festgehalten und damit eine enge Verbundenheit von unbedingter Freiheit und unbedingter Abhängigkeit im Kern der Religion herausgestellt. Religion ist durch das Neben- und Ineinander dieses Doppelmoments gekennzeichnet: das passivische Moment des Innewerdens der schlechthinnigen Abhängigkeit, als ein Innewerden des göttlichen Wirkens im je eigenen Selbst und der erfahrenen Welt einerseits; Das aktivische Moment der Erhebung über die eigene Endlichkeit andererseits. Das passivische Moment besteht im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl. Es verweist auf eine höhere, d. h. nicht natürliche oder mechanische, Kausalität, die sich im Menschen als die Nötigung zur Religion kundtut. Diese höhere Kausalität wird in der Religion als eine „Selbstbethätigung oder Selbstbeurkundung Gottes im Menschengeiste“82 interpretiert. Das aktivische Moment demgegenüber besteht in dem Transzendieren seiner eigenen Abhängigkeit durch den Menschen. Beide Momente der Religion stehen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. In religionspsychologischer Perspektive wird zunächst betont, dass das aktivische Moment der Erhebung über die endliche Abhängigkeit des Menschen eine Bedingung der Möglichkeit des Bewusstseins der schlechthinnigen Abhängigkeit ist. Würde das menschliche Geistesleben voll und ganz naturkausal abhängig sein, wäre ein Innewerden der schlechthinnigen Abhängigkeit nicht denkbar. In diesem Sinne des Entdeckungszusammenhangs ist das passivische Moment durch das aktivische bedingt.83 Ohne die relative Lösung des menschlichen Selbstbewusstseins von der unmittelbaren Naturbestimmtheit, die sich bereits im Bewusstsein der eigenen Endlichkeit vollzieht, ist auch das Gewahrwerden schlechthinniger Abhängigkeit undenkbar. Das passivische Moment der Abhängigkeit wird aber ebenso als Auslöser und Möglichkeitsbedingung der eigenen Erhebung über den unmittelbaren Naturzusammenhang bestimmt.84 Ohne die geistige Macht als Grund menschlicher Freiheit, die mit dem Abhängigkeitsbewusstsein gesetzt ist, ist die Transzendierung der endlichen Naturverflochtenheit des Menschen nicht möglich. Das aktivische Moment ist demnach im Sinne des Begründungszusammenhangs durch das passivische Moment bedingt. Aus diesem wechselseitigen Bedingungsverhältnis vom aktivischen und passivischen Moment leitet Lipsius ihre Gleichursprünglichkeit ab. So treten sie immer nur numerisch identisch auf. Gleichsam sind das passivische und das aktivische Moment zwei Seiten derselben Medaille. „Somit ist diese Doppelbewegung das eigentliche Grundphänomen des religiösen Lebens“85. Eine Beschreibung der Religion kann sie nicht auf eines der beiden Momente reduzieren.

82

Ebd. Vgl. a. a. O., 29. 84 Vgl. ebd. 85 Ebd. 83

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II. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876

Die beiden Momente der Religion ordnet Lipsius den Begriffen Frömmigkeit und Glauben zu.86 Mit Frömmigkeit bezeichnet er das passivische Moment des Innewerdens der schlechthinnigen Abhängigkeit. Hier schließt sich Lipsius weitestgehend dem Begriffsgebrauch Schleiermachers an: Frömmigkeit ist weder Wissen noch Tun, sondern eine „zuständliche Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins oder des Gefühles“87. Das Gewahrsein des Abhängigkeitsgefühls ist Frömmigkeit. Glaube hingegen bezeichnet das aktivische Moment der Erhebung über den endlichen Naturzusammenhang hin zur höheren geistigen Macht. Im Gegensatz zur Frömmigkeit ist Glaube nicht im Gefühl zu verorten, sondern wird von Lipsius – an Kants Bestimmung des Glaubens als subjektiv begründetes Fürwahrhalten orientiert – theoretisch-praktisch als ein Wissen und ein Tun bestimmt.88 Glaube wird dabei als eine Gewissheit von Gegenständen, die möglicher Erfahrung nicht zugänglich sind, und eine menschliche Lebensführung, die an dieser grundlegenden Gewissheit orientiert ist, näher bestimmt. Damit restringiert Lipsius die Verortung der Religion im Gefühl von Schleiermacher auf ein Moment der Religion. Insgesamt gilt jedoch für die Religion, dass sie Anteil an allen Funktionen des menschlichen Geisteslebens hat.89 Jegliche Versuche, Religion auf das Wollen, auf ein Wissen oder auf das Gefühl zu beschränken, lehnt Lipsius ab und kann dafür auf einen breiten Konsens der religionstheoretischen Entwürfe Biedermanns, Zellers, Schwarz’ und Pfleiderers verwei-

86 Vgl. ebd. Lipsius’ Fassung der beiden Momente der Religion, Frömmigkeit und Glaube, ist sehr stark an Biedermanns Fassung der Correlation von Offenbarung und Glauben orientiert, wenngleich Lipsius betont, stärker zwischen Aktivität und Passivität zu scheiden. Vgl. a. a. O., 30–31. Lipsius setzt jedoch terminologisch die Frömmigkeit an die Stelle der Offenbarung bei Biedermann. Der Grund dafür ist in der stärkeren Trennung zwischen dem psychologischen und metaphysischen Begriff der Religion bei Lipsius zu suchen. Bei Biedermann markieren Offenbarung und Glaube wechselseitige Selbstbeziehungen zwischen Gott und Mensch: „Die Selbstbeziehung Gottes auf den Menschen macht den Begriff der Offenbarung aus, die Selbstbeziehung des Menschen auf Gott den Begriff des Glaubens.“ B, Christliche Dogmatik 1869, 37. Bei Lipsius werden die beiden Momente der Religion psychologisch am Ort des erfahrungswissenschaftlich erhebbaren menschlichen Geisteslebens als Passivität und Aktivität ausgewiesen. Folgerichtig bleibt der Begriff der Offenbarung bei Lipsius der metaphysischen Bestimmung der Religion vorbehalten, die den erfahrungsgesättigten Blick auf das menschliche Geistesleben überschreitet und so von einer Selbstbeziehung Gottes auf den Menschen sprechen kann. Hierin zeigt sich bereits auch die Skepsis gegen eine Metaphysik im Sinne Biedermanns, dass bei Biedermann die Offenbarung ein notwendiges Korrelat des Glaubensbegriffs ist, während bei Lipsius in psychologischer Perspektive das Konzept einer Selbstbeziehung Gottes auf den Menschen der frommen Interpretation vorbehalten bleiben muss. Die Offenbarung als eine Aktivität Gottes kann aus der psychologischen Religionsbetrachtung nicht selbst gewonnen werden. Das aktive und passive Moment von Frömmigkeit und Glaube hingegen können in ihrer numerischen Identität am Ort des menschlichen Geisteslebens ausgewiesen werden. 87 Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 29. 88 Vgl. a. a. O., 30. 89 Vgl. a. a. O., 32.

2. Abhängigkeitsgefühl und Freiheitstrieb – Die Religionspsychologie

109

sen.90 So kann Lipsius zwar der Frömmigkeit das Gefühl und dem Glauben das Wissen und Tun zuweisen, aber diese Zuordnungen unterscheiden lediglich Momente eines numerisch identischen religiösen Prozesses. Womöglich treten bisweilen aktivische oder passivische Momente zeitweise in den Vordergrund. Beides bleibt jedoch stets verwoben. Denn auch für Frömmigkeit und Glaube gilt die numerische Identität des aktivischen und passivischen Moments. „Frömmigkeit und Glaube sind nur die beiden Seiten eines und desselben subjectiv menschlichen Vorgangs“91. Die starke Betonung eines Moments innerer Freiheit im Herzen seiner psychologischen Religionstheorie könnte den Verdacht wecken, dass Lipsius Religion einerseits – nach kantischem Vorbild – näher an Moral und Sittlichkeit binden möchte und andererseits einem religiösen Individualismus das Wort redet. Beiden Eindrücken tritt Lipsius jedoch bereits im Rahmen seiner psychologischen Religionstheorie entgegen. Zunächst ist für ihn klar, dass Religion immer auch praktische Formen annimmt. Sie äußert sich in einem praktischen Verhältnis zu der Unbedingtheitsdimension, wie sich in diversen Formen des Kultes zeigt. Religion ist immer auch ein freies Sich-Ins-Verhältnis-Setzen zum Unbedingten.92 Im Verlauf der kulturellen Entwicklung der Menschheit reichert sich dieses Verhältnis des Menschen zum Unbedingten mit sittlichen Motiven des zwischenmenschlichen Lebens an. So werden Momente der sittlichen Verhältnisregulierung zwischen Menschen auf das Verhältnis des Menschen zu der unbedingten Macht übertragen.93 „Weil der Mensch die Erhabenheit der göttlichen Macht über das natürliche Dasein nur nach Analogie seiner eignen Geistigkeit auffassen kann, stellt er sein Verhältnis zu Gott selbst nach Art eines menschlichsittlichen Verhältnisses vor.“94 So treten Gebote im Verhalten gegenüber dem Göttlichen auf. Außerdem werden zunehmend sämtliche sittlichen Ordnungen auf eine göttliche Einsetzung zurückgeführt.95 Die entscheidende Pointe ist dabei für Lipsius jedoch, dass die genuin sittlichen Motive innerhalb der Religion sekundäre Anreicherungen darstellen. Diese sind zwar aus der Eigenstruktur der Religion heraus motiviert und werden von Lipsius keineswegs negativ beurteilt. Wichtig ist ihm jedoch, dass Religion und Sittlichkeit als ursprünglich unabhängige Phänomene der menschlichen Geistesgeschichte gefasst werden, wenngleich sich im Verlauf der kulturellen Entwicklung sittliche und religiöse Verpflichtungen überlagern. Vor diesem Hintergrund ist eine „relative Unabhängigkeit von Religion und Sittlichkeit“96 festzuhalten, die sich auch kritisch gegenüber religiösen Moralismen in Stellung bringen lässt.

90

Vgl. ebd. A. a. O., 31. 92 Vgl. a. a. O., 23. 93 Vgl. a. a. O., 24. 94 Ebd. 95 Vgl. ebd. 96 Ebd. 91

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II. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876

Die relative Selbstständigkeit der Religion gegenüber Sittlichkeit ist jedoch keine Selbstständigkeit der Religion gegenüber Vergemeinschaftungsformen. Wenngleich die Religion von Lipsius als eine Funktion der Selbstbehauptung der individuellen Persönlichkeit gegenüber seiner Naturverflochtenheit eingeführt wird, kann Religion keine Sache isolierter Individuen sein. Dies liegt bereits in dem Umstand begründet, dass biographisch die je eigene Religiosität immer durch etablierte religiöse Kommunikation angeregt ist: „[F]remde Vorstellungen geben dem religiösen Bewustsein des Einzelnen seine ursprüngliche Form.“97 Der individuellen Religiosität liegt in aller Regel objektive Religion, d.h. positive Vergemeinschaftungsformen von religiösen Menschen, voraus.98 Religiöse Gemeinschaftsformen helfen der Vergewisserung religiöser Überzeugungen.99 Lipsius geht jedoch von einer diese Umstände übersteigenden „Nothwendigkeit der religiösen Gemeinschaft“100 aus. Die durch Religion bewusste Freiheit von der natürlichen Abhängigkeit führt nach Lipsius zugleich zu einem Gemeingeist der geistig über die Natur Erhobenen. Dieser Gemeingeist findet in Formen des Kultus seinen Ausdruck.101 Er geht aber nicht allein aus einem menschlichen Mitteilungsbedürfnis hervor, sondern Religion ist genuin auf Vergemeinschaftung angewiesen.102 Individuelle religiöse Erfahrung formiert sich nämlich nur angeregt durch und im Austausch mit kollektiver religiöser Erfahrung.103 Wenngleich es in der Religion um ein individuelles Selbst des Menschen zu tun ist, das in seiner Freiheit entdeckt und erhalten werden soll, ist sie auf das allgemeine menschliche Phänomen des Umgangs mit der Endlichkeit bezogen. Die religiösen Erfahrungen geistiger Freiheit sind trotz ihrer jeweilig individuellen Ausprägungen eine Menschheitsangelegenheit. Für die Religion gilt: „Sie ist also zugleich das Individuellste und wieder das Allerallgemeinste im menschlichen Geistesleben.“104 In ihr ist es demnach zwar um das ganz konkrete Selbst zu tun, jedoch in einem ständigen Wissen um die Freiheit anderer, die eine Verbundenheit der Freien unter sich bedeutet. Zusammenfassend zeigt sich, dass die religionspsychologische Religionstheorie von Lipsius ein anspruchsvolles Theoriestück ist. Zunächst fußt sie auf einer voraussetzungsreichen anthropologischen Grundbeobachtung eines menschlichen Bedürfnisses, das eigene Leben in seiner Grundspannung von endlicher Freiheits- und Abhängigkeitserfahrung im Horizont des Unbedingten zu reflektieren. Sie knüpft an den Umstand an, dass sich menschliches Leben einerseits in natürlichen Bedürfnissen und natürlichen Grenzen eigener Entfaltung vorfindet

97

A. a. O., 37. Vgl. a. a. O., 90. 99 Vgl. a. a. O., 560. 100 A. a. O., 89. 101 Vgl. a. a. O., 91. 102 Vgl. a. a. O., 90. 103 Vgl. a. a. O., 91. 104 A. a. O., 90. 98

2. Abhängigkeitsgefühl und Freiheitstrieb – Die Religionspsychologie

111

und andererseits durch die prinzipielle Möglichkeit gekennzeichnet ist, sich relativ frei zu dieser Situiertheit verhalten zu können. Es ist ein theoretischer Wunsch, diese Spannung zweier scheinbar gegenläufigen Erfahrungen zu verstehen und ein praktischer Drang, die Freiheit der eigenen Subjektivität auszubauen und zu erhalten, die nach Lipsius den Menschen nötigen, sich auf eine Unbedingtheitsdimension zu beziehen. Doch bereits diese Selbstreflexion im Horizont des Unbedingten bewegt sich auf einer kategorialen Ebene, die über das Wechselspiel von begrenzter Freiheits- und Abhängigkeitserfahrung hinausweist. Sie ist bereits ein Akt einer inneren Transzendierung der Naturverflochtenheit, die Ausdruck einer unbedingten Freiheit ist. Zugleich erweist sich diese Transzendierung selbst auf eine unbedingte Weise abhängig von einem absoluten über die Natur erhabenen Grund. Die Religion wird als kulturelle Erscheinungsform dieser Transzendierung eingeführt, die menschliche Transzendierung der eigenen Naturverwobenheit auf ein Gott-Mensch-Verhältnis zurückführt und Gott somit als Grund menschlicher Freiheit fasst. Sie ist somit durch das Ineinander der aktiven Erhebung zur geistigen Freiheit im Glauben an Gott und das passive Bewusstsein der Verdanktheit dieser geistigen Freiheit gegenüber Gott in der Frömmigkeit gekennzeichnet. Beides – Aktivität und Passivität – sind zwei Seiten desgleichen psychologischen Prozesses. Religion kommt dabei in dreifacher Weise als ein Freiheitsgeschehen in den Blick: Zum einen setzt sie eine grundlegende Erfahrung eigener endlicher Freiheit voraus, sodann ist sie selbst eine Art geistiger Befreiungsprozess von der Naturbedingtheit menschlichen Lebens und schließlich thematisiert sie diesen Befreiungsprozess reflexiv, indem sie auf Gott als Grund der Freiheit bezogen ist. So verschränken sich in der psychologischen Religionstheorie von Lipsius jedoch einige Theorieebenen: Sie verbindet Momente einer philosophischen Anthropologie endlicher Persönlichkeit, einer transzendentalphilosophischen Theorie menschlicher Freiheit, einer Theorie religiöser Erfahrung der Endlichkeitstranszendierung und einer Philosophie des Unbedingten. Dem grundlegenden Zuschnitt nach ist sie darin Schleiermachers Religionstheorie verwandt, die sie fortzubilden versucht, ist aber durch mindestens drei Strukturmomente davon abzugrenzen. Zuerst versucht Lipsius die Freiheitsdimension der Religion und ihre aktivischen Momente terminologisch stärker in den Vordergrund zu stellen, indem er der schlechthinnigen Abhängigkeit eine schlechthinnige Freiheit zur Seite stellt. Dann wird Religion nicht einem eigenen psychologischen Vermögen des Menschen zugeschrieben, sondern als Aktivität der gesamten menschlichen Vermögensstruktur aufgefasst. Schließlich wird Religion bereits auf der allgemeinen psychologischen Beschreibungsebene auf einen noch sehr weit gefassten Gottesbegriff enggeführt. Religion ist ein Verhältnis von Gott und Mensch. So kommt das Woher-schlechthinniger-Abhängigkeit stärker in seiner menschlich bedingten Konzeptualisierung als konkrete geistige Macht in den Blick. Auf der Ebene der Religionspsychologie sind diese Bestimmungen bei Lipsius jedoch nicht als eine Herleitung der Wirklichkeit Gottes zu verstehen, sondern als eine Phänomenalität religiösen Lebens. Etwaige Geltungsfragen sind hier noch nicht explizit behandelt. Es sind jedoch mit den transzendentalphilo-

112

II. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876

sophischen Überlegungen zu einem Unbedingten als Möglichkeitsbedingung geistiger Freiheit Anknüpfungspunkte für die religionsdogmatische Auslegung der Religion benannt. Die psychologische Religionstheorie legt Religion als ein Freiheitsgeschehen aus und bestimmt so den zentralen Bezugspunkt religiöser Rede.

3. Das Mysterium der Offenbarung – Die Religionsdogmatik Der psychologische Begriff der Religion ist aus religiöser Perspektive unvollständig. Er entfaltet lediglich Ursprung und Wesen der Religion als Phänomen des menschlichen Geisteslebens, ohne die Geltungsansprüche der Religion in den Blick zu nehmen. Deshalb wird im Rahmen der theologischen Prinzipienlehre die Religionspsychologie um eine Bestimmung des „dogmatischen Religionsbegriff[s]“105 ergänzt, die hier als Religionsdogmatik bezeichnet werden soll. Ergänzend zur Phänomenalität der Religion am Ort des menschlichen Subjekts tritt also nun eine spekulative Reflexion der Objektebene religiösen Erlebens hinzu. Wenngleich die Religionsdogmatik damit die empirische Beschreibungsebene verlässt, knüpft sie doch an eine Erlebensdimension frommer Subjekte an. Sie nimmt bewusst eine Perspektive des Glaubens auf Religion ein, die die Geltung ihrer Gehalte voraussetzt. Während in der Religionspsychologie eine starke Orientierung an den Religionsphilosophien Schleiermachers und Pfleiderers erkennbar ist, zeugt die dogmatische Religionstheorie von großer Nähe zu Biedermann. Gegenüber seinem Entwurf, der sich von den metaphysischen Mitteln des reinen Denkens einen allgemeinen Erweis der objektiven Geltung religiöser Gehalte erhofft, betont Lipsius jedoch, dass sich die Bestimmungen der Religionsdogmatik nur auf subjektive Evidenz der Glaubensperspektive berufen und keinerlei objektive Geltung im wissenschaftlichen Sinne für sich behaupten können.106 Vielmehr legt die Religionsdogmatik offen, wie eine Selbstverständigung über den christlichen Glauben ihre dogmatische Rede auf das in der psychologischen Religionstheorie freigelegte Freiheitsgeschehen der Religion beziehen kann. Die Religionsdogmatik schließt an die im Rahmen der psychologischen Religionstheorie herausgestellte Vorstellung einer Gott-Mensch-Beziehung an und legt diese als tatsächliche Wirklichkeit aus. Dogmatisch wird Religion also – mit den Worten Biedermanns – als „Wechselbeziehung zwischen Gott als unendlichem und dem Menschen als endlichem Geiste“107 bestimmt. Entscheidend ist für Lipsius jedoch, dass es sich bei dieser Auslegung nicht um einen bewussten Deutungsprozess handelt, sondern um eine eigene Erlebensqualität, die sich im Rah-

105

A. a. O., 38–64. Vgl. a. a. O., 39. 107 Ebd. Lipsius übernimmt diese Formulierung aus Biedermanns Dogmatik: Vgl. B, Christliche Dogmatik 1869, 35. 106

3. Das Mysterium der Offenbarung – Die Religionsdogmatik

113

men der Glaubensperspektive einstellt. Erleben und Interpretieren sind so miteinander verschränkt, dass sich das lebendige Verhältnis von Mensch und Gott aus der Glaubensperspektive als eine konkret erlebbare Wirklichkeit mit einer unmittelbaren Evidenz zeigt. So wird die religiöse Erhebung zur Freiheit für ein religiöses Subjekt eo ipso zur Erfahrung des Wirkens Gottes. „Die objective Realität dieser Wechselbeziehung ist für den Frommen unmittelbar zugleich mit dem Acte seiner religiösen Erhebung selbst als Thatsache seines frommen Selbstbewusstseins gegeben“108. Die Erhebung des Menschen über seine Endlichkeit wird hier als tatsächliches Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch interpretierend erlebt und erlebend interpretiert. So gilt: „Der religiöse Glaube trägt für den Gläubigen seine Legitimation in sich selbst.“109 In dem Erleben religiöser Erhebung über die Endlichkeit erschließt sich die höhere geistige Macht der psychologischen Religionstheorie als konkrete persönliche Gottheit. Das religiöse Erleben des Menschen wird mithin als selbstoffenbarendes Wirken Gottes im Menschen erlebt. In dem so unwillkürlich ausgelegten religiösen Leben wird die in der Religion erlangte geistige Freiheit als eine Erscheinungsform Gottes am Ort menschlichen Bewusstseins gewertet. Unter Verweis auf Schleiermacher spricht Lipsius diesbezüglich von einem Berührungspunkt zwischen Gott und Mensch. Entscheidend ist allerdings, dass nicht irgendein isolierbares Geschehen im menschlichen Geistesleben als diese Verbindung von Gott und Mensch bestimmt wird, sondern das menschliche Geistesleben selbst ist diese Verbindung: Nur ist dieser ,Berührungspunkt‘ nicht etwa wieder an einer besondern, man weiss nicht welcher, mystischen Stelle im Menschengeiste zu suchen, sondern er ist einfach das menschliche Geistesleben selbst, dessen Erhebung über seine endliche Natürlichkeit zu seinem unendlichen geistigen Grunde eben unmittelbar als solche die Realität des unendlichen göttlichen Geistes erweist.110

Das menschliche Geistesleben als eine Form der menschlichen Selbsttranszendierung wird hier dogmatisch insgesamt als ein Wirken Gottes im menschlichen Geist oder besser als ein Erwirken des menschlichen Geistes bestimmt. Wie verhalten sich jedoch göttliches und menschliches Wirken zueinander, wenn menschliche Freiheit als menschliche Selbsttätigkeit zugleich göttliche Tätigkeit sein soll? Wie bereits auf der Ebene der Religionspsychologie stellt Lipsius in der Religionsdogmatik auf ein Ineinander von Aktivität und Passivität ab. Auch der dogmatische Religionsbegriff ist also durch die Vereinigung eines doppelten Moments gekennzeichnet. Er umfasst einerseits eine Selbstbeziehung des göttlichen auf den menschlichen Geist und andererseits eine Selbstbeziehung des menschlichen auf den göttlichen Geist. Das Moment der göttlichen Selbstbeziehung versieht Lipsius mit dem Begriff der Offenbarung und das Konzept der

108

L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 39. Ebd. 110 A. a. O., 40. Hervorhebungen von M. B. 109

114

II. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876

menschlichen Beziehung mit dem Begriff der Religion.111 Der psychologische Religionsbegriff wird so als Selbstbeziehung des Menschen auf Gott in die Religionsdogmatik integriert, erfährt aber durch den Begriff der Offenbarung als Selbstbeziehung Gottes auf den menschlichen Geist eine theologische Deutung. Denn auch Offenbarung und Religion werden als ein einziges numerisch identisches Geschehen bestimmt: Offenbarung und Religion sind also Wechselbegriffe; beide haben nur mit einander Realität und bezeichnen ein und dasselbe Verhältnis innerhalb des menschlichen Geisteslebens nach seinen zwei verschiedenen Seiten hin: die Offenbarung als der objectiv-göttliche Grund, die Religion als die subjectiv-menschliche Folge innerhalb eines und desselben geistigen Vorgangs.112

Zugleich ist hier freilich die bleibende Differenz von Gott und Mensch in ihrer lebendigen Wechselbeziehung zu betonen.113 Diese Differenz tritt jedoch in dem religiösen Verhältnis nicht als endliche Gegenüberstellung, sondern als funktionale Differenzierung auf. Zwischen Offenbarung und Religion besteht ein logisches – nicht kausales – Folgeverhältnis. Während die religionspsychologische Perspektive gerade bei der Religion als ein Erzeugnis des menschlichen Geisteslebens ansetzt, begreift die Religionsdogmatik Religion als ein Handeln Gottes am Menschen. Erscheint psychologisch der Offenbarungsglaube als ein Resultat der Religion, so erscheint religionsdogmatisch die Religion als ein Resultat der Offenbarung. Aus dogmatischer Perspektive gilt: „Die Religion ist der Erkenntnisgrund der Offenbarung, die Offenbarung der Realgrund der Religion“114. Erst durch das religiöse Leben des Menschen tritt ihm die Offenbarung als Offenbarung ins Bewusstsein. Erst durch das Konzept der Offenbarung jedoch wird das religiöse Leben von einem möglicherweise illusionären Geschehen zu einem objektiven, wenngleich es für diese Behauptung einer Objektivität nach Lipsius nur subjektive Gewissheit des religiösen Erlebens gibt. Das prinzipielle Bestreiten von Offenbarung kommt so jedoch einer prinzipiellen Erklärung aller Religion zur Illusion gleich.115 Wie ist Offenbarung als eine Tätigkeit Gottes und Religion als eine Tätigkeit des Menschen bestimmbar, wenn es sich dabei um eine numerische Identität handeln soll? Diese Frage verschärft sich noch durch den Umstand, dass die Religion als eine logische Folge von Offenbarung auftreten soll. Die Lösung aus dogmatischer Perspektive ist, dass Offenbarung nicht als eine Art supranaturale Belehrung oder als ein bloßes Innewerden einer göttlichen Tätigkeit bestimmt wird, sondern als „ein in Thätigkeit Gesetztwerden des Menschengeistes durch den in ihm wirkenden göttlichen Geist“116. Offenbarung ist so das Eröffnen 111

Vgl. a. a. O., 41. A. a. O., 42. 113 Vgl. a. a. O., 44. 114 A. a. O., 45. 115 Vgl. ebd. 116 Ebd. 112

3. Das Mysterium der Offenbarung – Die Religionsdogmatik

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menschlicher Freiheit, die sich in dem allem menschlichen Geistesleben zugrundeliegenden Selbstbewusstsein zeigt. Religion und Offenbarung haben es demnach mit einem identischen Gegenstand aus freilich funktional geschiedenen Perspektiven zu tun. Jeder religiöse Vorgang im Menschen ist im Rahmen der Religionsdogmatik zugleich als menschlicher Akt und göttliche Wirkung zu werten. Diese funktionale Bestimmung des Offenbarungsbegriffs als Komplementärbegriff zur Religion und als Auslegungsbegriff eines menschlichen Freiheitsgeschehens hält sich sehr eng an ein zentrales Moment der Dogmatik von Biedermann, was sich bis hinein in die verwendete Begrifflichkeit zeigt. So schreibt Biedermann im freiheitstheologisch zentralen § 32: In der Erhebung des menschlichen Ich zum wirklich freien Geistesleben über seinem endlich-natürlichen Bestimmtwerden – als Erhebung seines Bewusstseins zu einer über seine natürliche Bewusstseinsvermittlung hinaus reichenden Vernunfterkenntniss; als Erhebung seines Gefühls zu einem über seiner natürlichen Bestimmtheit hinaus liegenden Selbstbewusstsein, und als Erhebung seines Willens zu einer über seine natürliche Determination hinaus gehenden Selbstbestimmung – offenbart sich Gott, im Verhältniss der Lebensgemeinschaft, als die unendliche Kraft freien Geisteslebens, – was subjectiv vom Menschen als seine eigene religiöse Freiheit erfahren wird.117

Auch bei Biedermann ist es das Ineinander von menschlicher Aktivität und Passivität, das den Akt der Erhebung zur religiösen Freiheit kennzeichnet.118 Was Lipsius’ Entwurf jedoch fundamental von Biedermanns abhebt, ist die erkenntnistheoretische Rahmung dieser freiheitstheologischen Grundmotivik. Bei Lipsius markiert der Offenbarungsbegriff eine Grenze wissenschaftlicher Erklärungsversuche des freien menschlichen Bewusstseinslebens. Vermittels des Offenbarungsbegriffs bezieht er auch die religiöse Rede von Wunder und Mysterium auf das menschliche Freiheitsgeschehen der religiösen Erhebung über seine Naturverwobenheit. Offenbarung ist das eigentliche religiöse Wunder.119 Menschliches Geistesleben lässt sich nicht naturkausal erklären. Dass der Mensch überhaupt in der Lage ist, sich über seine endliche Bestimmtheit durch äußere Ursachen zu einem Unendlichen oder Ewigen zu erheben, stellt endliche Erklärungen vor ein Geheimnis. Die psychologische Erklärung der Religion stößt hier auf eine Grenze, die durch die dogmatische Perspektive als Offenbarung gedeutet wird. So lange der Versuch nicht gelingt, die innere Erhebung des Geistes über die Verkettung endlicher Ursachen und Wirkungen zu einem Unendlichen und Ewigen selbst aus endlichen Ursachen zu erklären, wird wol auch das religiöse Mysterium seine Stelle behaupten.120

Mit diesem Begriff des religiösen Mysteriums ist ein Schlüsselbegriff von Lipsius’ Theologie benannt. Er markiert den Übergang von psychologischer und dog117

B, Christliche Dogmatik 1869, 69. Vgl. a. a. O., 72. 119 Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 58. 120 Ebd. 118

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II. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876

matischer Religionsbestimmung. Die prinzipielle Erklärungsgrenze der einen markiert den Einsatzpunkt der anderen. Der Offenbarungsbegriff ist bei Lipsius die dogmatische Ausdeutung des Freiheitserlebens, während er bei Biedermann als metaphysische Erklärung auftritt. Die Möglichkeit menschlicher Freiheit im Sinne einer Erhebung über die Natur verbleibt genauso für eine empiristische oder naturalistische Perspektive eine Erklärungsgrenze. Freiheit ist in diesem Sinne ein Geheimnis. Die religiös-dogmatische Rede bezieht sich auf dieses Geheimnis und legt es als Wirksamkeit Gottes aus. Dabei ist es entscheidend, dass die dogmatische Perspektive nicht kontingente Erklärungslücken wissenschaftlicher Welterschließung adressiert, sondern an prinzipielle Grenzen naturkausaler Erklärungsmuster anknüpft. Religion soll sich nicht gleichsam in ein Rückzugsgefecht mit den naturwissenschaftlichen Welterklärungen begeben und stets dasjenige als Wirklichkeit Gottes ausgeben, was noch nicht ausreichend wissenschaftlich ergründet ist. Vielmehr ist die religiöse Perspektive nach Lipsius mit ihrer Rede von einem göttlichen Grund auf eine sachlich ausweisbare Grenze materialistischer Wirklichkeitsdeutungen angewiesen. Damit Glaube mit dem Wirklichkeitswissen rational vereinbar sein kann, braucht es prinzipielle Grenzen des Wissens. Die empirische Unerklärbarkeit menschlichen Lebens aus Freiheit eröffnet so einen Korridor für eine Glaubensperspektive auf der Basis subjektiver Gewissheit des frommen Erlebens. Dieser Übergangspunkt erlaubt der Dogmatik also, die religiöse Weltanschauung mit den Ergebnissen empirischer Forschung kompatibel zu halten. Um als Deutungsbegriff des Übergangspunktes zwischen dem Bereich möglicher Erfahrung und dem Bereich jenseits dergleichen auftreten zu können, braucht der Offenbarungsbegriff ebenfalls eine Doppelstruktur. Er ist übernatürlich und natürlich zugleich. Alle Offenbarung ist nach Form und Inhalt übernatürlich und natürlich zugleich, übernatürlich als eine ursprüngliche und unmittelbare Bestimmung des Menschengeistes durch das göttliche Geisteswalten in ihm, über die endlich-natürliche Bestimmtheit seines Bewustseins hinaus; natürlich als eine immer zugleich psychologisch und geschichtlich vermittelte Verwirklichung eines an sich im geistigen Wesen des Menschen gelegenen Bewustseinsinhaltes.121

Gerade die numerische Identität von der göttlichen Selbstbeziehung auf den menschlichen Geist als ein übernatürliches Geschehen und der menschlichen Selbstbeziehung auf Gott als ein natürliches Geschehen des menschlichen Geisteslebens erlaubt den Übergang vom Wissen zum Glauben, nicht jedoch die metaphysische Ergründung göttlichen Wirkens. Der Offenbarungsbegriff ermöglicht, die menschliche Freiheitserfahrung des religiösen Geisteslebens einer spekulativen Deutung zuzuführen, welche die menschliche Freiheitserfahrung in einen Sinnhorizont stellt. Diesen Sinnhorizont gilt es in Auseinandersetzung mit den materialdogmatischen Gehalten des Christentums zu einer umfassenden Weltanschauung zu verdichten. Mit der Religionsdogmatik ist vorerst der Über121

A. a. O., 58–59.

3. Das Mysterium der Offenbarung – Die Religionsdogmatik

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gangspunkt der dogmatischen Rede zur allgemeinen menschlichen Selbst- und Welterfahrung benannt, welcher es erlauben soll, eine Weltanschauung zu entfalten, die das religiöse Selbstverständnis eines frommen Menschen mit dem modernen Wahrheitsbewusstsein in einen kohärenten Zusammenhang bringen kann. So hat die dogmatische Religionsbestimmung auch eine apologetische Funktion. Der Bezug der dogmatischen Rede von Offenbarung auf Religion als ein Freiheitsgeschehen im menschlichen Bewusstsein hat neben dieser apologetischen Funktion Konsequenzen für die religiöse Rede. Zunächst wird die Plausibilität ihrer Gehalte an das tatsächliche Erleben geistiger Erhebung gebunden. Die entscheidende Pointe dabei ist für Lipsius, dass nur dasjenige als essenzieller Bestandteil von Religion und Offenbarung gelten kann, was „auf wirklicher religiöser Erfahrung beruht, was also auch wirklich als innere geistige Thatsache im menschlichen Bewustsein von Neuem erzeugt werden kann.“122 So muss auch die Tradition einer religiösen Gemeinschaft immer wieder neu angeeignet werden, indem sie als Anregung religiöser Erfahrung auftritt. Ein religiöser Gehalt muss also in jedem Bewusstsein neu und ursprünglich erzeugt werden.123 Diese im Individuum erzeugt Offenbarungsgewissheit bezeichnet Lipsius mit der dogmatischen Tradition als testimonium Spiritus Sancti internum.124 Zudem ist der Offenbarungsbegriff streng von einer besonderen Präsenz Gottes in einem isolierbaren raum-zeitlichen Ereignis in Natur und Geschichte abzuheben. Um dies deutlich zu machen, führt Lipsius die Unterscheidung von innerer und äußerer Offenbarung ein, die er mit einer eigenwilligen Interpretation von Richard Rothes Unterscheidung von Inspiration und Manifestation als zwei Formen der Offenbarung verbindet.125 Innere Offenbarung steht dabei für das wesentliche Offenbarungsgeschehen des göttlichen Geistes in dem und durch den menschlichen Geist, also der Selbstkundgabe Gottes im menschlichen Geistesleben. Als Inspiration kann die innere Offenbarung – nach Lipsius – näher qualifiziert werden, wenn sie die geistige Aktivität des Menschen anregt, also dem psychologischen Religionsmoment Glauben korrespondiert. Inspiration thematisiert die innere Offenbarung im menschlichen Geistesleben als Anregung religiöser Freiheit und religiöser Aktivität.126 Als Manifestation ist Offenbarung hingegen – nach Lipsius – zu fassen, wenn sie das religiöse Abhängigkeitsgefühl erregt, also dem psychologischem Religionsmoment Frömmigkeit korrespondiert.127 Dem Begriff der Ma122

A. a. O., 46. Vgl. a. a. O., 47. 124 Vgl. a. a. O., 48. 125 Vgl. a. a. O., 49. Lipsius gibt dabei den Hinweis auf R, Zur Dogmatik, 68 ff. Seine Definition der Unterscheidung bei Rothe deckt sich jedoch nicht unmittelbar mit Rothes Ausführungen. Gerade seine Korrelierung von Manifestation und Erregung des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit sowie Inspiration und Erregung religiöser Aktivität des Menschen überrascht vor dem Hintergrund des Originals. 126 Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 54. 127 Vgl. a. a. O., 49. 123

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nifestation ordnet Lipsius die Rede von äußerer Offenbarung Gottes in Natur und Geschichte zu und verhandelt darunter vor allem den Wunderglauben.128 Lipsius lehnt die verbreitete Vorstellung äußerer Offenbarung in Natur und Geschichte nicht ab, ordnet sie jedoch der inneren Offenbarung unter. Äußere Offenbarung setzt innere Offenbarung der Sache nach immer schon voraus. Erst ausgehend von der Erfahrung innerer Offenbarung kann Äußeres als Offenbarung interpretiert und so als Medium der Offenbarung beurteilt werden.129 Allerdings tritt die innere Offenbarung zumeist über äußere Medien in das Bewusstsein des Einzelnen. Durch die Erfahrung einer herausgehobenen Offenbarung im Äußeren wird die innere Offenbarung als Offenbarung erkannt. Äußere Offenbarung kann also für den Menschen als Entdeckungszusammenhang innerer Offenbarung bestimmt werden, während innere Offenbarung den Begründungszusammenhang der äußeren Offenbarung angibt. Äußere Offenbarung ist so immer nur mittelbar als Offenbarung zu bestimmen, während innere Offenbarung als unmittelbare Offenbarung des religiösen Verhältnisses gelten kann.130 Mittelbar kann durch das menschliche Bewusstsein der Naturordnung oder auch sittlichen Ordnungen und der daraus erwachsenden Stimme des Gewissens Offenbarungsqualität zugesprochen werden.131 Diese Zuschreibung setzen jedoch die göttliche Begründung des menschlichen Geisteslebens durch die unmittelbare Offenbarung des religiösen Verhältnisses voraus. Zusammenfassend lässt sich herausstellen: Die Religionsdogmatik von Lipsius’ dogmatischen Hauptwerk legt offen, wie er die dogmatische Rede auf das in der Religionspsychologie freigelegte religiöse Freiheitsgeschehen bezieht. In der religiösen Freiheitserfahrung des Menschen erkennt die Religionsdogmatik ein grundlegendes Mysterium, das durch den Begriff der Offenbarung eine theologische Deutung erfährt. Die Freiheit des Menschen als Erhebung über die endliche Naturverflochtenheit wird aus dogmatischer Perspektive als Wirken Gottes im Menschengeist bestimmt und aus der Perspektive des Glaubens als ein lebendiges Verhältnis mit Gott erlebt. Dabei sind es jedoch keine einzeln isolierbaren Wirkungen Gottes, die als Offenbarung gefasst werden, sondern im Kern ist durch das Konzept der inneren Offenbarung die Stiftung des menschlichen Selbstbewusstseins als Freiheit insgesamt adressiert. Gott bewirkt die Freiheit 128

Vgl. a. a. O., 50. Vgl. a. a. O., 49. 130 Vgl. a. a. O., 61. 131 Vgl. a. a. O., 61–62. Hierfür bezieht sich Lipsius auf das Ordnungsmodell von Alexander Schweizer. Vgl. a. a. O., 63. Schweizer hat ausgehend von der traditionellen dogmatischen Unterscheidung des bonum naturale, des bonum morale und des bonum spirituale zwischen Naturordnung, sittlicher Weltordnung und der Heilsordnung unterschieden. Vgl. S, Christliche Glaubenslehre, 209–224. In dieser Stufenfolge der Ordnungen reichert sich die Offenbarung an. In der Naturordnung tritt Gott als absolute Kausalität auf. Erst im Rahmen der sittlichen Weltordnung erlangt Gott Attribute der Intelligenz, wie Wille, Güte, Weisheit und Gerechtigkeit. Die eigentliche Erkenntnis Gottes als gnadenhafte Liebe ist nur im Horizont der höheren Heilsordnung möglich. 129

4. Religiöse Erfahrung und bildlicher Ausdruck – Die religiöse Erkenntnistheorie 119

des menschlichen Bewusstseins durch Inspiration und eröffnet damit erst die Möglichkeit bewussten menschlichen Lebens. Auf diese Weise wird eine transzendentale Abhängigkeit des menschlichen Geisteslebens insgesamt von Gott behauptet, durch die menschliche Freiheitserfahrung in einen teleologischen Sinnhorizont eingestellt wird. Damit findet die dogmatische Rede einen zentralen und fundamentalen Bezugspunkt in einer geistigen Transzendierung endlichen Lebens des Menschen. Aus dieser religionsdogmatischen Bestimmung eines solchen Bezugspunktes folgt freilich nicht, dass sich die gesamte dogmatische Rede in diesem Bezugspunkt erschöpft. Vielmehr müssen die materialdogmatischen Ausführungen zeigen, inwiefern das religiöse Freiheitsgeschehen in eine umfassende religiöse Weltanschauung integriert werden kann und damit in einen Sinnhorizont eingestellt wird. Ausgehend von der inneren Offenbarung Gottes in der Stiftung menschlichen Geisteslebens kann dann auch nach Lipsius die menschliche Naturerfahrung sowie Kultur- und Religionsgeschichte als eine Geschichte göttlicher Manifestation gedeutet werden, die ein religiöses Bewusstsein um den göttlichen Grund des eigenen Geisteslebens weckt und erhält.

4. Religiöse Erfahrung und bildlicher Ausdruck – Die religiöse Erkenntnistheorie Erkenntnistheoretische Reflexion ist nach Lipsius ein Hauptmoment wissenschaftlicher Dogmatik. Mit der Einforderung einer erkenntnistheoretischen Grundlagenreflexion des dogmatischen Geschäftes hat er stark auf die Theologie seiner Zeit gewirkt und wurde daher vor allem als theologischer Erkenntnistheoretiker gewürdigt. Kennzeichnend ist, dass er nicht müde wird, stets die begrenzten Geltungsansprüche des dogmatischen Geschäfts zu betonen. Dogmatische Aussagen behalten die Struktur von Glaubensaussagen und können sich nur auf subjektive Geltung berufen. Sie können nicht andemonstriert oder geboten werden, sondern setzen eigene religiöse Erfahrung bei Adressatinnen und Adressaten voraus. Die erkenntnistheoretischen Grenzen sind nach Lipsius nicht als Rückzug der Religion vor der Wissenschaft zu begreifen, sondern liegen in dem Phänomenbestand der Religion begründet. Dies soll die Theorie des religiösen Erkennens entfalten, die Lipsius an die Entwicklung des dogmatischen Religionsbegriffs anschließt. Auch im Bereich der religiösen Erkenntnistheorie schließt Lipsius sich an Überlegungen Schleiermachers an. Hier steht besonders die Verzahnung von Anschauung und Gefühl als Elemente von Religion im Vordergrund, wie sie Schleiermacher in der ersten Auflage seiner Reden vertritt:

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Anschauung ohne Gefühl ist nichts und kann weder den rechten Ursprung noch die rechte Kraft haben, Gefühl ohne Anschauung ist auch nichts: beide sind nur dann und deswegen etwas, wenn und weil sie ursprünglich Eins und ungetrennt sind.132

In Anschluss daran bestimmt Lipsius das religiöse Bewusstsein formell durch die Einheit von einem – auf Anschauung zurückgehenden – gegenständlichen und einem zuständlichen Bewusstsein, dem Gefühl.133 Sie verbindet zuständliches Bewusstsein des Ichs in seiner Beziehung zu Gott – Lipsius denkt hier an ein unmittelbares Selbstbewusstsein – und „innere Anschauung Gottes in seiner Beziehung auf das Ich und auf dessen Welt“134. In dem religiösen Bewusstsein verbindet sich demnach ein unmittelbares Erleben der eigenen freien Subjektivität mit einer Bezugnahme auf Gott als gegenständlich veranschaulichten absoluten Grund dieser freien Subjektivität. Diese doppelte Bestimmung der Religion hat zur Folge, dass die ihr eigentümliche Form von Erkenntnis stets subjektiv ist. Dabei ist es entscheidend, dass das Konzept subjektiver Erkenntnis von Lipsius einen Doppelsinn hat. Zuvorderst stellt sie eine negative Eingrenzung der Geltungsansprüche religiöser Erkenntnis gegenüber den objektivierenden Erkenntnisformen z. B. der Naturwissenschaften dar. Zwar gilt auch nach Lipsius für die naturwissenschaftliche Welterschließung, dass sie durch die subjektiven Erkenntnisbedingungen des Menschen geformt ist. Sie ist in ihren Ergebnissen auf den Bereich der Erscheinung im Sinne Kants einzuschränken und erreicht nie eine vollständige Unabhängigkeit von den menschlichen Denk- und Anschauungsformen. Nichtsdestoweniger kann die Erfahrungswissenschaft im Wissen um seine subjektiven Bedingungen darauf drängen, diese zunehmend aus ihren Ergebnissen zu eliminieren.135 Gerade dieser Schritt ist der religiösen Erkenntnis verwehrt. Dies liegt in dem positiven Aspekt der Subjektivität religiöser Erkenntnis begründet. Die Subjektivität religiöser Erkenntnis meint, dass sie Erkenntnis von Subjektivität ist. Religiöse Erkenntnis ist Selbsterkenntnis.136 Gerade diese Subjektivität des Gegenstandes religiöser Erkenntnis bleibt objektivierender Erkenntnis prinzipiell entzogen. Es handelt sich hier – ganz ähnlich wie auf dem ästhetischen Gebiet – unmittelbar und zunächst um Thatsachen des menschlichen Bewustseins selbst, um innere Vorgänge im subjectiven Geistesleben des Menschen, die vom Subjecte gar nicht abgetrennt werden können.137

Religion ist demnach eine Sache nicht objektivierbarer Subjektivität. Religiöses Erkennen ist eine Form des Selbsterkennens. So ist sie nur durch persönliche Beteiligung erfahrbar, denn: „In erster Linie handelt es sich in der Religion um

132

S, Über die Religion, 221. Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 64. 134 Ebd. 135 Vgl. a. a. O., 65. 136 Vgl. a. a. O., 64. 137 A. a. O., 66. 133

4. Religiöse Erfahrung und bildlicher Ausdruck – Die religiöse Erkenntnistheorie 121

den Menschen selbst“138. Freilich ist diese Selbsterkenntnis der Religion nicht als eine beziehungslose zu verstehen. Religion ist ein „Sich-Wissen um seine Beziehung auf Gott“139. Vor diesem Hintergrund muss die Subjektivität religiöser Erkenntnis allerdings als eine sachgemäße beurteilt werden. Die erkenntnistheoretischen Grenzen der Dogmatik als Glaubenswissenschaft sind durch ihren Gegenstand vorgegeben. Die Substanz des Dogma ist nicht wieder ein Dogma, sondern ein geistiger Thatbestand im Innern des Menschen, ein Complex von inneren Vorgängen im Menschengemüthe, deren Verlauf, soweit er im Lichte des Bewustseins sich vollzieht, sich unmittelbar in Anschauungen und Gefühlen, mittelbar in bestimmten Vorstellungen ausprägt.140

Im Kern bezieht sich das religiöse Bewusstsein auf einen letztlich nicht objektivierbaren Phänomenbestand. Dennoch setzt das religiöse Leben unentwegt sprachliche Formen und Vorstellungen aus sich heraus, die beanspruchen Ausdruck der religiösen Grundphänomene zu sein. Die Dogmatik vollzieht sich im Medium derartiger Ausdrucks- und Objektivierungsversuche. Das zweite Anliegen der Theorie des religiösen Erkennens ist es daher, die Struktur und den Status religiöser Vorstellungen zu bestimmen.141 Ursprünglich setzt sich eine religiöse Aussage gemäß der Doppelstruktur des religiösen Bewusstseins aus einem Anschauungsbild und einer begleitenden Gefühlsbestimmtheit zusammen.142 Als dieses Amalgam kann eine religiöse Aussage als wahrer Ausdruck einer tatsächlichen religiösen Erfahrung gelten.143 Löst sich

138

A. a. O., 67. Ebd. 140 A. a. O., 79. 141 Dabei bezieht sich Lipsius auf den Excurs über das Wesen der Vorstellung aus Biedermanns Dogmatik. Biedermann bestimmt hier die Vorstellung als Erfassung eines geistigen Inhalts in sinnlicher Form. Damit ist sie ein Mittelglied des menschlichen Bewusstseinsprozesses zwischen Wahrnehmung und Denken. Sie unterscheidet sich von der Wahrnehmung, da sie ihren Inhalt auch ohne aktualen Bezug zur Wahrnehmung repräsentiert. Sie unterscheidet sich aber auch vom begrifflichen Denken, da sie ihren Inhalt noch in sinnlicher Form repräsentiert, insofern in ihr ihre Gehalte noch nicht in ihre einzelnen Aspekte zergliedert vorliegen, sondern in einem kontingenten Ineinander von Merkmalen. Nach Biedermann haftet daher der Vorstellung ein innerer Widerspruch an, da ihr keine objektive Realität entspricht. Dies gilt auch dann, wenn Vorstellungen als Versinnlichungen von Vernunftideen auftreten. Vgl. B, Christliche Dogmatik 1869, 41–53. Lipsius schließt sich der grundlegenden Bestimmung der Vorstellung als geistiger Gehalt in sinnlicher Form an und übernimmt auch die Hinweise auf eine Spannung zwischen Gehalt und Form der Vorstellung. Im Gegensatz zu Biedermann bestreitet Lipsius jedoch, dass ein reines Denken ohne Rückgriff auf versinnlichte Vorstellung vollends möglich ist. Geistige Gehalte lassen sich nach Lipsius nur im Modus der Vorstellung repräsentieren und kommen so nur in uneigentlicher bildlich-symbolischer Rede zum Ausdruck. Entsprechend wendet Lipsius seine stärker an Schleiermacher orientierte Theorie der Vorstellungen „mit Biedermann gegen Biedermann“. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 68. 142 Vgl. a. a. O., 67. 143 Vgl. ebd. 139

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jedoch das Anschauungsbild von der ursprünglich begleitenden Gefühlsbestimmtheit, nimmt es die Form einer religiösen Vorstellung an.144 Das Anschauungsbild ist dabei durch sinnliche Komponenten geprägt, die sich in der religiösen Erfahrung an einen geistigen Gehalt geheftet haben. So ist auch die religiöse Vorstellung durch eine sinnliche Form geprägt, die jedoch nicht selbst mit dem geistigen Gehalt der religiösen Vorstellung identifiziert werden kann. Umgekehrt kann der geistige Gehalt der religiösen Vorstellung auch nicht unabhängig von den sinnlichen Komponenten repräsentiert werden. Jede religiöse Vorstellung ist nur ein mehr oder minder sinnlich gefärbter Ausdruck eines geistigen Gehaltes, ein durch Abstraction mehr oder minder verallgemeinertes Anschauungsbild, dessen ursprünglich sinnliche Bestimmtheit sich durch fortgesetztes Abstractionsverfahren dem Bewustsein verdeckt, aber niemals völlig abgestreift werden kann, ohne dass der religiöse Gehalt der ursprünglichen Anschauung völlig ausgeleert würde.145

Religiöse Vorstellungen sind also vorrangig sinnliche Ausdrucksformen eines übersinnlichen Ausdrucksgehalts. Die Unterscheidung von sinnlich und übersinnlich modelliert Lipsius unter Bezug auf die kantischen Formen der Anschauung, also Raum und Zeit. Bei sinnlich-bildlichen Ausdrucksformen handelt es sich nach Lipsius also um raum-zeitlich strukturierte Repräsentationen eines nicht raum-zeitlich strukturierten ideellen Gehalts. Im Umgang mit diesen Vorstellungen hebt er einen Abstraktionsprozess hervor, der den sinnlichen Gehalt der religiösen Vorstellungen in den Hintergrund drängt und die Vorstellung tatsächlich als ein Ausdrucksmedium des Übersinnlichen nutzen lässt. Der Mensch kann demnach eine Einstellung zu religiösen Ausdrucksformen einnehmen, die ihrer symbolischen Struktur Rechnung trägt und so die versinnlichte Repräsentation eines geistigen Gehaltes nicht selbst unmittelbar zum Sinn der religiösen Ausdrucksform erklärt. Dieser Abstraktionsprozess kann jedoch nicht ganz die sinnliche Struktur religiöser Vorstellungen abstreifen und es bleibt so eine immer gegebene Gefahr, die Uneigentlichkeit religiöser Rede zu unterschlagen. Als Beispiele für die bleibende sinnliche Vermitteltheit religiöser Symbolik führt Lipsius die Negationen überweltlich, überräumlich und überzeitlich an.146 Zwar drücken diese Konzepte selbst die Negation der sinnlichen Kategorien wie Zeitlichkeit und Räumlichkeit aus. Durch ihre negierende Struktur bleiben diese Konzepte jedoch auf das Negierte bezogen. Überzeitlichkeit z. B. ist ohne die Struktur der Zeitlichkeit nicht bestimmbar. Der Bedeutungsgehalt bleibt also abhängig von den sinnlichen Kategorien. Er bleibt so der Sinnlichkeit verhaftet. Dies birgt die Gefahr, Überzeitlichkeit als eine zeitlich strukturierte Zeit „neben“ der sinnlichen Zeit zu begreifen, anstatt von einer wirklichen Aufhebung der Zeit auszugehen. Dieses notwendige sinnliche Substrat aller religiöser Vorstellungen hat häufig eine an sich unzulässige Versinnlichung dogmatischer Gehalte zur Folge.

144

Vgl. a. a. O., 68. Ebd. 146 Vgl. a. a. O., 69. 145

4. Religiöse Erfahrung und bildlicher Ausdruck – Die religiöse Erkenntnistheorie 123

So zum Beispiel, wenn das Verhältnis von Offenbarung als göttliches Wirken im Menschen und Religion als psychologischer Prozess im menschlichen Bewusstsein als zeitlich verschiedene Tatsachen aufgefasst werden, obwohl sie nach Lipsius in ihrer numerischen Identität zu erfassen sind.147 Derartige Versinnlichungen dogmatischer Gehalte bilden eine der größten Problemstellungen des dogmatischen Geschäfts, denn die Relationen von überempirischen Gehalten zur empirischen Welt werden fraglich und verstricken sich in Widersprüche, werden sie sinnlich modelliert: Das Verhältnis von menschlicher Freiheit und göttlicher Gnade, das Verhältnis von absoluter Kausalität Gottes und endlicher Kausalität, die Allgegenwart und Ewigkeit Gottes im Verhältnis zum raum-zeitlichen Geschehen oder auch das Verhältnis von göttlichem Handeln im Menschen und der geschichtlich und psychologischen Bedingtheit religiöser Erfahrung bilden alle Problemkonstellationen, die eine nicht sinnliche Relation zu denken aufgeben, aber nicht anders als in sinnlich geprägten Konzepten vorgestellt und umschrieben werden können.148 Wird Gott beispielsweise als ideeller Grund menschlicher Erhebung über eine Naturbestimmtheit bezeichnet, soll damit nicht gemeint sein, dass Gott ein raumzeitliches Wesen ist, das als individuierbare Tat das menschliche Geistesleben einsetzt. Es meint vielmehr eine logische Abhängigkeit menschlichen Geisteslebens vom Absoluten. Diese Art der Abhängigkeit und das Absolute selbst sind nach Lipsius zwar erlebbar, allerdings lassen sie sich nicht adäquat sprachlich ausdrücken, da jegliches sprachliche Verstehen des Menschen an Kategorien gebunden bleibt, die ohne ihren zumindest mittelbaren Bezug auf den Bereich möglicher Erfahrung unvorstellbar bleiben. Jeglicher Bezug auf Überempirisches des Menschen bleibt immer an inadäquate Versinnlichungen gebunden. So gilt auch für religiöse Vorstellungen, dass sie nach Lipsius aufgrund des bleibenden sinnlichen Substrats immer als uneigentliche Ausdrucksformen zu begreifen sind. Sie sind bildlich. Sie stehen für etwas, auf das sie verweisen, das sie aber selbst nicht ganz in sich erfassen können. Für Lipsius ist klar, „dass wir über die Bildlichkeit alles unsres Vorstellens geistiger Wahrheiten und der religiösen zumal niemals hinauskommen.“149 Daher muss die Religion und die Theologie andere Formen des Umgangs mit der notwendigen Bildlichkeit ihrer sprachlichen Ausdrucksformen ausbilden. Es braucht eine Selbstunterscheidung zwischen Ausdrucksgestalt und vermeintem Sinn. Um ein solches Bildlichkeitsbewusstsein – oder Symbolizitätsbewusstsein – gegenüber religiösen Ausdrucksformen zu kultivieren, ist nach Lipsius eine freiere Einstellung zu den religiösen Ausdrucksformen der religiösen Tradition erforderlich. So kann das Wissen um die Notwendigkeit, religiöse Gehalte in bildlicher Sprache kommunizieren zu müssen, zu einer vorbehaltloseren Anerkennung der kulturgeschichtlichen Bedingtheit religiöser Ausdrucksformen füh-

147

Vgl. ebd. Vgl. a. a. O., 70. 149 A. a. O., 71. 148

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ren.150 Religiöse Vorstellungen unterstehen dem Wandel allgemeiner menschlicher Weltanschauungen. Entsprechend können auch neue religiöse Ausdrucksformen erforderlich werden, um Religion zeitgemäß zu kommunizieren. Vor diesem Hintergrund bezieht sich Lipsius affirmativ auf dogmengeschichtliche Transformationsprozesse. Der kulturgeschichtliche Wandel religiöser Vorstellungsformen bietet die Chance der „fortschreitenden Vergeistigung ihrer sinnlich-bildlichen Form“151. In dem Prozess kultureller Entwicklung kommt es zu scharfer Kritik des verständigen Denkens an den religiösen Vorstellungsgehalten, die das Widersprüchliche sinnlicher Darstellungsversuche geistiger Gehalte herausstellt. Die gedankliche Unzulänglichkeit bildlicher Ausdrucksformen wird immer wieder gegen die religiösen Gehalte selbst gewendet. In den so entstehenden Diskursen vollzieht sich nach Lipsius eine Vergeistigung der bildlichen Gehalte, ein approximativer Prozess der Abstreifung sinnlicher Prägung religiöser Vorstellungen. Neue Vorstellungen und neue Ausdrucksformen werden herangezogen, um einen Gehalt klassischer religiöser Kommunikationsformen in einer Weise auszudrücken, die besser vor verendlichenden Missverständnissen geschützt ist. Beispielsweise die dogmatische Zwei-Naturen-Lehre zur GottMensch-Einheit in Christus, welche nach Lipsius Gottheit und Menschheit als zwei schlechthin unterschiedene geistige Substanzen auffasst, die auf „absolut wunderbare Weise“ miteinander verbunden sind, provoziert aus einer inneren Logik heraus entweder eine Form „doketischer Verflüchtigung der Menschheit“ oder eine Form „ebionitischer Herabsetzung der Gottheit“152 Christi. Vor diesem Hintergrund ist sie nach Lipsius eine nicht mehr angemessene Ausdrucksform für den vermeinten Sinn einer Gott-Mensch-Einheit in Christus. Dennoch enthält sie einen religiöse Aussagengehalt, den es in andere Aussageformen zu übertragen gilt. Dieser Prozess der dogmatischen Transformation kann – nach Lipsius – nie an ein Ende kommen. So bleibt es Aufgabe der Dogmatik, das Bewusstsein der notwendigen Bildlichkeit religiöser Vorstellungen in die religiöse Weltanschauung einzuweben.153 Es ist als genuin religiöses Interesse hochzuhalten, dass die Spannung religiöser Vorstellungen zwischen geistigem Gehalt und sinnlicher Form erkannt und bearbeitet wird, da dem religiösen Bewusstsein „Trübung“154 droht, wenn diese Spannung zutage tritt. Es ist also eine Aufgabe der Dogmatik, fortwährend das Verhältnis zwischen Form und Gehalt religiöser Vorstellungen zu bestimmen und zu justieren. Während Lipsius kaum allgemeine Aussagen über eine konkrete Gestalt des geforderten Bildlichkeitsbewusstseins im Umgang mit religiöser Sprache trifft, bietet er hingegen allgemeine Aussagen zu Verfehlungen eines solchen Bildlichkeitsbewusstseins an. Zunächst kritisiert er vor diesem Hintergrund Formen von 150

Vgl. ebd. Ebd. 152 Alle Zitate des Satzes: A. a. O., 478. 153 Vgl. a. a. O., 72. 154 Ebd. 151

4. Religiöse Erfahrung und bildlicher Ausdruck – Die religiöse Erkenntnistheorie 125

Orthodoxie, die er als unmittelbare Identifizierung von Ausdrucksform und Gehalt religiöser Vorstellungen näher bestimmt.155 Jegliche Versuche, die religiösen Ausdrucksformen selbst dogmatisch als feste Lehre zu fixieren, unterlassen schlicht die nötige Selbstunterscheidung religiöser Kommunikation. Stattdessen wird eine historisch bedingte Lehrgestalt des Christentums als übernatürliche Belehrung Gottes gefasst und mit göttlicher Autorität ausgestattet.156 Anfragen der Verstandeskritik an diese Lehrgehalte werden nicht produktiv aufgenommen, sondern für unangemessen erklärt.157 Der so aufklaffende Graben zwischen Orthodoxie und allgemeinem Wahrheitsbewusstsein provoziert entweder Umbildungen der Lehrgestalt durch Einzelne (Heterodoxie) oder wirklichen ,Unglauben‘ als Ablehnung jeglichen geistigen Gehalts religiöse Vorstellungen.158 Mit der Verstandeskritik der Form religiöser Vorstellungen droht so ihr religiöser Gehalt gänzlich verneint zu werden, wie es Lipsius vor allem bei der genetischen Religionskritik seiner Zeit beobachtet. Hier wird die psychologische Erklärung der Religion, wie auch Lipsius selbst sie entfaltet hat, zugleich als Reduktion von Religion auf ihren subjektiv-menschlichen Ursprung verstanden und so die Offenbarung grundsätzlich bestritten.159 Dagegen muss jedoch die Unterscheidung von dem dogmatischen Gehalt als eigentliche religiöse Erfahrung und ihrem defizitären bildlichen Ausdruck vollzogen werden. Unmittelbare Aussage des Glaubens ist immer nur der in einer gegebenen Vorstellungsform des Glauben gewis gewordene Thatbestand des religiösen Verhältnisses selbst […], nicht aber die vorstellungsmässige Form jener innern Gewisheit160.

Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung muss die Verstandeskritik an den religiösen Vorstellungsformen als Kritik an einer psychologisch und geschichtlich bedingten Form des Glaubens und nicht an dem Kerngehalt des Glaubens selbst gelten.161 So kann sie auch produktiv bei der Konstruktion einer zeitgemäßen religiösen Weltanschauung aufgegriffen werden. Die Unterscheidung zwischen Ausdrucksform und Gehalt, die das Leitthema von Lipsius’ religiöser Erkenntnistheorie darstellt, umkreist das Problem der Darstellbarkeit des Übersinnlichen mit sinnlichen Mitteln. Getragen ist dies von der These, dass alles menschliche Denken, Vorstellen und Erfahren an Kategorien gebunden ist, die konstitutiv auf Sinnlichkeit bezogen sind. Übersinnliches kann so nur in bildhafter und uneigentlicher Rede zur Darstellung gebracht werden. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten für die Dogmatik zeigen sich

155

Vgl. a. a. O., 74. Hier treten Motive seiner Streitschriften mit dem konfessionalistischen Bischof Koopmann erneut auf. Siehe dazu Kap. I.4.a. 156 Vgl. a. a. O., 75. 157 Vgl. ebd. 158 Vgl. a. a. O., 76–77. 159 Vgl. a. a. O., 77. 160 A. a. O., 78. 161 Vgl. ebd.

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besonders im Hinblick auf ihren zentralen Gegenstand. Das lebendige Verhältnis von Gott und Mensch als das Ineinander von dem Wirken des göttlichen Geistes im menschlichen und der psychologisch vermittelten Bezugnahme des Menschen auf einen absoluten Grund seiner Freiheit soll im Rahmen christlicher Dogmatik in einer zeitgemäßen Art konzeptualisiert werden. Dabei muss die dogmatische Rede spannungsreiche sinnliche Ausdrucksformen verwenden, um ein ideelles Verhältnis zum Ausdruck zu bringen. Im Rahmen seiner religiösen Erkenntnistheorie bietet Lipsius eine Typologisierung möglicher Verfehlungen dieses Anspruchs. In Anlehnung an die Häresientafel aus Schleiermachers Glaubenslehre (§ 22) entfaltet er eine Art erkenntnistheoretische Häresiologie.162 Die möglichen Verfehlungen resultieren aus der äußerlichen Gegenüberstellung von Offenbarung und Religion, welche immer eine einseitige Betonung eines der beiden Momente zur Folge hat.163 Dem Rationalismus wird eine einseitige Betonung der Religion als wahrhaft menschliches Geschehen unter Missachtung der göttlichen Realität im religiösen Verhältnis zugeschrieben. Dem Supranaturalismus hingegen ordnet Lipsius die einseitige Betonung der Offenbarung als überempirisches Geschehen unter Missachtung der subjektiv-psychologischen Vermittlung zu.164 Rationalismus verleitet nach Lipsius letztlich zu Deismus und Pelagianismus.165 Im Deismus wird die Transzendenz Gottes als raum-zeitliche Absonderung Gottes von der Welt modelliert und damit der Unterschied Gottes vom Menschen in sinnlichen Kategorien gefasst.166 Auf diese Weise wird die wirksame Präsenz Got162 Bereits Schleiermacher hat im § 22 seiner Glaubenslehre mit Doketismus, Nazoräismus, Manichäismus und Pelagianismus sog. natürliche Ketzereien am Christentum systematisch zusammengestellt. Dabei sind ausdrücklich nicht konkrete historische Gruppen gemeint, sondern an ihre Namen wird eine Typologie möglicher Verfehlungen einer angemessenen Konzeptualisierung der Erlösung durch Jesus Christus geheftet. Der Manichäismus steht für eine Leugnung menschlicher Erlösungsfähigkeit, der Pelagianismus für eine Leugnung der menschlichen Erlösungsbedürftigkeit, der Doketismus steht für die Bestreitung Jesu Menschlichkeit, sodass er nicht wirklich die Menschen als Menschen erlösen könne und schließlich der Nazoräismus oder auch Ebionismus steht für die die Bestreitung der Gottheit Jesu, sodass er nicht die Fähigkeit zur Erlösung haben kann. Auf diese Weise repräsentieren die ,Häresien‘ die Grenzen des christlich-dogmatischen Korridors. Vgl. S, Der christliche Glaube, Bd. I, 129–134, § 22. Lipsius überträgt dieses systematische Typologisierungsverfahren von den Grenzen des Christlichen auf die Grenzen des eigentlich Religiösen. Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 83. Ihm geht es um die Grenzen einer angemessenen Konzeptualisierung des religiösen Verhältnisses. 163 Vgl. a. a. O., 81. 164 Vgl. a. a. O., 82. Lipsius ergänzt hier noch eine Kritik an der Vermittlungstheologie, die er als oberflächliche Verquickung von Rationalismus und Supranaturalismus bestimmt. Auch sie bleibt einseitig, da auch hier die Durchschlagskraft der Verstandeskritik und ihren transformierenden Einfluss auf die religiösen Vorstellungen der dogmatischen Tradition unterschätzt wird. Vgl. ebd. 165 Vgl. a. a. O., 88. 166 Vgl. a. a. O., 85. Deismus beobachtet Lipsius in gnostischer Theologie, in Emanationslehren, aber auch in den Konzepten eines theogonischen Prozesses der Spätphilosophie Schellings und der Philosophie seines Lehrers Weisse. Vgl. a. a. O., 86.

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tes in der Welt aufgehoben. Im Pelagianismus hingegen werden menschliche Freiheit und das göttliche Wirken im Menschengeist als zwei sinnlich abgrenzbare endliche Ursachen im Menschen unterschieden und damit menschliche Freiheit als eine vom göttlichen Wirken unabhängige Kraft gesetzt.167 Freiheit und Offenbarung werden hier als endlich unterscheidbare Kräfte voneinander abgehoben, was ihre – für Lipsius Religionstheorie konstitutive – numerische Identität aufhebt. Hier bestimmen sinnliche Aspekte religiöser Ausdrucksgestalten das Verständnis der Selbstbeziehung des Menschen auf Gott. Supranaturalismus hingegen verleitet nach Lipsius letztlich zu Pantheismus und Determinismus.168 Im Pantheismus wird die göttliche Kausalität mit dem endlichen Kausalnexus in Raum und Zeit identifiziert.169 Auf diese Weise wird die Selbstbeziehung Gottes auf den Menschen als ein endliches Geschehen in Raum und Zeit angesehen, Offenbarung also in sinnlichen Kategorien interpretiert und damit die schlechthinnige Unterschiedenheit von Gott und Mensch aufgehoben. Im Determinismus hingegen wird die schlechthinnige Abhängigkeit des Menschen von Gott als eine endliche Abhängigkeit gefasst.170 Die göttliche Kausalität erscheint hierbei als eine alles determinierende raum-zeitliche Wirkursache. Auf diese Weise wird die Freiheit des Menschen aufgehoben. In allen vier Typen der verfehlten – da vereinseitigenden – Konzeptualisierungen des religiösen Verhältnisses wird nach Lipsius Religion verfehlt. Sie markieren demnach die Grenzen des Korridors möglicher Konzeptualisierungen religiöser Erfahrung. Mit dieser erkenntnistheoretischen Häresiologie beschließt Lipsius seine Theorie des religiösen Erkennens und hat so zugleich für Arbeit an den materialdogmatischen Beständen die Grenzen ihres Gelingens abgesteckt. Zusammenfassend lässt sich unterstreichen, dass Lipsius in seiner religiösen Erkenntnistheorie die Form und Repräsentierbarkeit religiöser Erfahrungserkenntnis reflektiert. Religiöse Erfahrung wird als eine Verbindung von gegenständlicher Anschauung mit einer gefühlten Zuständlichkeit des je eigenen Selbst näher bestimmt. Damit ist sie in einem doppelten Sinne subjektive Erkenntnis. Zum einen ist sie negativ auf subjektive Gewissheit begrenzt. Sie kann also nicht verallgemeinert werden, ihr Nachvollzug setzt eine eigene Erfahrungsbasis voraus und sie kann nicht bewiesen werden. Zum anderen ist sie positiv Erfahrung der eigenen Subjektivität als unbedingt freie und zugleich schlechthinnig abhän167 Vgl. a. a. O., 87. Pelagianismus bestimmt Lipsius unabhängig von seinem historischen Namensgeber Pelagius. Er subsumiert darunter jegliche Form des Synergismus oder auch der Kreaturvergötterung. Vgl. a. a. O., 88. 168 Vgl. ebd. 169 Vgl. a. a. O., 84. Pantheismus beobachtet Lipsius im Spinozismus, in Strauß‘ später Position aus Der alte und der neue Glaube, in Popularisierungen der Philosophie Hegels sowie in Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewussten. Vgl. ebd. 170 Vgl. a. a. O., 86. Religiösen Determinismus beobachtet Lipsius bei sämtlichen reformatorischen Theologien. Er fasst allerdings auch mechanistische Weltanschauungen des Naturalismus und darwinistischer Kulturhistoriker als Auswüchse des Determinismus. Vgl. a. a. O., 87.

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gige Subjektivität. Sie ist eine Erfahrung des eigenen Selbst als etwas, das sich frei zu naturkausalen Abhängigkeiten verhalten kann, sich in dieser Möglichkeit aber von einem absoluten Möglichkeitsgrund dieser Freiheit abhängig erfährt. Dieses freie Selbsterleben entzieht sich vergegenständlichen Sprachformen und kann nur bildlich-symbolisch adressiert werden. Das religiöse Verhältnis, als Ineinander von göttlichem und menschlichem Wirken im menschlichen Geistesleben, kann demnach ausschließlich in bildhafter Rede thematisiert werden. So sind religiöse Sprach- und Vorstellungsformen als bildlich-symbolische Ausdrucksformen eines Gehaltes zu begreifen, die stets vom vermeinten Gehalt selbst zu unterscheiden sind und durch Kultur und Geschichte geprägt sind. Auch die Dogmatik bleibt an diese Sprachformen gebunden und bedient sich als Glaubenswissenschaft uneigentlicher Rede. Sie hat jedoch auch zur Aufgabe, ein Differenzbewusstsein zwischen religiösem Gehalt und Ausdrucksform zu befördern, das es erlaubt, die Bildhaftigkeit religiöser Rede bewusst zu halten und so den religiösen Gehalt vor problematischen Versinnlichungen zu bewahren. Sie muss die Ausgestaltung einer religiösen Weltanschauung davor bewahren, das religiöse Verhältnis einseitig als menschliche Eigenaktivität oder unvermitteltes göttliches Wirken zu begreifen. Dabei kann sie Religionskritik als Kritik unzureichender Darstellungsformen des religiösen Verhältnisses produktiv in einen Transformationsprozess religiöser Ausdrucksformen integrieren. Für die Bearbeitung der materialdogmatischen Bestände des Christentums erwächst aus diesen erkenntnistheoretischen Überlegungen die Aufgabe, die zentralen Konzepte des christlichen Glaubens in einer Weise zu entfalten, die es erlaubt, das religiöse Verhältnis auf der Höhe neuzeitlichen Wahrheitsbewusstseins kohärent zur Darstellung zu bringen. Dazu muss sie Sprach- und Ausdrucksformen finden, die das Ineinander von menschlicher Freiheit und göttlichem selbstoffenbarendem Erwirken dieser Freiheit als plausible Option menschlicher Weltanschauung und Darstellung menschlichen Selbsterlebens erscheinen lassen.

5. Das christliche Prinzip – Die Offenbarungsdreiheit Die bisher verhandelte Grundlegung der Dogmatik in Lipsius’ Hauptwerk bezieht sich dem eigenen Anspruch nach nicht auf ein spezifisch christliches Verständnis der Religion, sondern beansprucht, allgemeine Aussagen über Religion zu treffen. Trotz ihrer theistischen Engführung und ihrer Genese vor dem Hintergrund einer evangelischen Theologietradition seien Religionspsychologie, Religionsdogmatik und religiöse Erkenntnistheorie bei Lipsius nicht an eine bestimmte positive Religion gebunden. Dies soll ausdrücklich auch für die einer glaubenden Vollzugsperspektive verpflichteten Religionsdogmatik gelten. Erst vor dem Hintergrund weiterer religionsgeschichtlicher Überlegungen leitet Lipsius die Grundlegung seiner Dogmatik zum Christentum über und versucht, den christlichen Glauben als eine spezifische und geschichtlich konkrete Modifikation des allgemeinen Verständnisses von Religion und Offenbarung zu bestim-

5. Das christliche Prinzip – Die Offenbarungsdreiheit

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men. Ehe in die Arbeit an den materialdogmatischen Beständen christlicher Glaubenstradition eingetreten werden kann, entwirft Lipsius also Grundzüge einer Christentumstheorie, die nach dem zentralen historischen Bezugspunkt christlichen Glaubens und dem Prinzip seiner Modifikation des Religions- und Offenbarungsverständnisses fragt. Ihr Spezifikum erlangt der christliche Glaube nach Lipsius durch ihre Auffassung von Jesus Christus als historische Offenbarung, die den religionsdogmatischen Offenbarungsbegriff zu einer Offenbarungsdreiheit fortbildet, also die göttliche Stiftung des religiösen Verhältnisses als das Werk der trinitarischen Personen Vater, Sohn und Heiliger Geist konzeptualisiert. Seine Religionstheorie der Prolegomena beschließt Lipsius mit einer Reflexion auf die Geschichte der Religion. Die Religionsgeschichte wird von Lipsius dabei mit einer großspurigen Typologisierung in eine umfassende kulturgeschichtliche Entwicklung der Menschheit eingebettet.171 Sie bestimmt er als „Fortschritt von überwiegender Naturbestimmtheit zu geistiger Freiheit“172. Der Prozess menschlicher Erhebung über seine Naturgebundenheit zu der Möglichkeit, sich frei zu ihr zu verhalten, wird so nicht nur als individualbiographischer Befreiungsprozess, sondern zugleich als eine kulturelle Emanzipationsgeschichte der Menschheit aufgefasst. Kulturgeschichte ist Befreiungsgeschichte. Dabei handelt es sich allerdings nach Lipsius keineswegs um eine sich notwendig vollziehende Entwicklung. Hinsichtlich der Religionsentwicklung weist er auf Möglichkeiten von Stagnation und gegenläufigen Wandlungsprozessen hin.173 Nichtsdestoweniger zeichnet Lipsius die geschichtliche Gesamtentwicklung als eine Fortschrittsgeschichte, der auch die Religionen Schritt halten müssen. So entsprechen der kulturgeschichtlichen Entwicklung religionsgeschichtliche Entwicklungslinien, die Lipsius als zunehmende „Vergeistigung des Gottesglaubens“174 beschreibt. Die Religionsgeschichte wird als eine Entwicklung hin zu zunehmender Selbstdurchsichtigkeit der Struktur des religiösen Verhältnisses als Ineinander von göttlichem und menschlichem Wirken inszeniert. Im Fortschreiten der Religionen von Naturreligionen, über mythologischen, zu ethischen Religionsformen und schließlich zu reinen Erlösungsreligionen werden demnach unterschiedliche Modelle der Konzeptualisierung des religiösen Verhältnisses durchlaufen, die Gottes Transzendenz und die ideelle Immanenz seines Wirkens zunehmend adäquat erfassen. Dabei geht es vor allem um die zunehmende Einsicht in die Geistigkeit Gottes, die ihn von Naturprozessen und sittlich-sozialen Verhältnissen abhebt.175 Erst in der Erlösungsreligion werde die schlechthinnige Erhabenheit des Gottesgedankens über den endlichen Menschen deutlich. Zudem stellt Lipsius einen Universalisierungsprozess der Religionen von Familien171

Vgl. a. a. O., 93. A. a. O., 95. 173 Vgl. a. a. O., 101. 174 A. a. O., 97. 175 Vgl. a. a. O., 98–99. 172

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und Stammesreligionen, über Volksreligionen hin zu Weltreligionen fest.176 Insbesondere hinsichtlich der Gottesvorstellungen vollziehe sich außerdem eine allgemeine Entwicklung hin zum Monotheismus.177 Das Christentum wird in diese Entwicklungsgeschichte einerseits als ein Resultat der skizzierten Tendenzen eingeführt und andererseits selbst als wandlungsfähige historische Größe gefasst, innerhalb der sich diese Tendenzen in der Geschichte des christlichen Glaubens fortsetzen. Zudem gilt es unter expliziter Einbeziehung der Religion des Alten Testaments als relative Höchstform der religionsgeschichtlichen Entwicklung, wenngleich diese Verortung des Christentums von Lipsius als eine Aussage des christlichen Glaubens relativiert wird.178 Vor dem Hintergrund dieser religionsgeschichtlichen Reflexion und der religionstheoretischen Grundlegung seiner Dogmatik ist klar, dass Lipsius das Christentum in seiner Verwobenheit mit allgemeinen Entwicklungen menschlicher Kultur und Religiosität bestimmt. Es ist eine geschichtlich geformte Modifikation menschlichen Offenbarungsglaubens. Um diese Modifikation zu bestimmen, braucht es nach Lipsius sowohl eine historische als auch eine systematische Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Christentums. Historisch ist das Christentum nach Lipsius hinreichend durch seinen Bezug auf Jesus Christus als Sohn Gottes und Erlöser der Menschen umrissen.179 Jesus Christus als historische Offenbarung kann so als die Grundtatsache des christlichen Glaubens benannt werden.180 Durch diese historische Grundtatsache ist jedoch zugleich ein religiöses Prinzip des Christentums in die Geschichte eingetreten, das nicht identisch mit seiner geschichtlichen Erscheinungsform ist, sondern in verschiedenen Konkretionen durch die Geschichte des Christentums hindurch Gestalt gewinnen kann. Es ist eine entscheidende Aufgabe der Dogmatik, „das religiöse Princip des Christenthums von seiner geschichtlichen Erscheinung fortschreitend zu unterscheiden“181. Es gilt demnach, das Christentum auch als eine ideelle Konstellation zu begreifen, dessen Gehalte sich nicht allein durch historische Arbeit erschließen, sondern auch einer spekulativen Durchdringung bedürfen. Positives Christentum konstituiert sich in gemeinsamem Kult, gemeinsamer Sitte, aber auch in gemeinsam geteilten Lehrformen. Diese Formen sind immer als Amalgam aus zeitbedingten Prägungen und ihrem vermeinten ideellen Gehalt zu ver176

Vgl. a. a. O., 96. Vgl. a. a. O., 99. 178 Vgl. a. a. O., 93. 179 Vgl. a. a. O., 107. 180 Vgl. a. a. O., 113. 181 Ebd. Die „grundsätzliche Unterscheidung der religiösen Idee des Christenthums von jeder seiner geschichtlichen Erscheinungsformen“ (a. a. O., 123) macht insbesondere den Grundgehalt des Protestantismus aus. Dabei fasst Lipsius jedoch auch den Protestantismus als ein Prinzip, das selbst von jeglicher historischen Gestalt des Protestantismus unterschieden werden muss. Als ein solches Prinzip schlägt sich Protestantismus nach Lipsius schon weit vor der Reformationszeit nieder, wenngleich er erst in der Reformation des 16. Jahrhunderts kirchenbildend geworden ist. Vgl. a. a. O., 122. 177

5. Das christliche Prinzip – Die Offenbarungsdreiheit

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stehen, sodass Lipsius hier erneut mit einer Unterscheidung von Schale und Kern operiert. So sollte die geforderte Unterscheidung von historischer Grundtatsache und Prinzip keineswegs als Loslösung des Christentums von ihrem historischen Grund verstanden werden. Vielmehr geht es darum das Leitthema der historischen Variationen des Christentums zu bestimmen. So bleibt auch die Dogmatik für die Bestimmung des spezifisch christlichen Verständnisses des religiösen Grundverhältnisses auf das positive Christentum verwiesen.182 Denn: Lipsius bestimmt das Prinzip als die „ideelle Einheit der concreten christlichen Gemeinschaft“183, die geschichtlich gegeben ist. Das Princip einer Religion ist also keine blosse ,Idee‘, wenn man Idee im Sinne eines blos vorbildlichen Ideales [sic!] nimmt; es ist nicht blos Norm, sondern zugleich lebendige geistige Macht, nicht blos ein Sollen, sondern zugleich ein Sein, welches sich als innerer Grund der Erscheinungen bethätigt.184

Lipsius umschreibt dieses Verhältnis zwischen einer positiven Religion und seinem Prinzip weiter gleichnishaft als Verhältnis von Leib und Seele.185 Das Prinzip bleibt trotz seiner Unterscheidung an seine Realisierungsgestalten gebunden. Es ist das geistige Band einer historischen Wirklichkeit. Als ein solches geistiges Band der positiven christlichen Religion bestimmt Lipsius die Vorstellung eines vollkommenen religiösen Verhältnisses zwischen Mensch und Gott. Dieses soll sich urbildlich in Jesus Christus vollzogen haben.186 Bei Jesus Christus und seinem persönlichen Selbstbewusstsein erscheint das Verhältnis von Gott und Mensch als eine umfassende Lebensgemeinschaft, welche den Gegensatz von Gott und Mensch aufgehoben hat. So verbindet sich die Vorstellung einer idealen Verwirklichung des vollkommenen religiösen Verhältnisses mit der historischen Wirklichkeit einer geschichtlichen Person. Der dogmatische Ausdruck dieser Lebensgemeinschaft ist bei Christus die Sohnschaft bei Gott.187 Ihm korrespondiert die Vorstellung einer Heilsgemeinschaft aller in die Lebensgemeinschaft mit Gott getretenen Menschen, das Gottesreich.188 Gotteskindschaft und das Gottesreich sind christliche Interpretamente des vollkommenen religiösen Verhältnisses zwischen Mensch(heit) und Gott. Vor diesem Hintergrund erfährt das Offenbarungsverständnis im Christentum seine spezifische Modifikation als Offenbarungsdreiheit. So tritt die ökonomische Trinitätslehre des Christentums als Ausdruck des unbegreiflichen Mysteriums der Offen-

182

Vgl. a. a. O., 115. Vgl. a. a. O., 546. 184 Ebd. 185 Vgl. a. a. O., 545. 186 Vgl. a. a. O., 108. 187 Vgl. a. a. O., 109. Siehe dazu Kap. I.3.b. 188 Vgl. a. a. O., 113. Zu der Hervorhebung von Gotteskindschaft und dem Reich-GottesKonzept siehe Kap. I.3.b. 183

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barung, also der Selbstbeziehung des göttlichen Geistes auf den menschlichen Geist, auf.189 Der christlichen Offenbarungsdreiheit liegt als religiöse Wahrheit zu Grunde, dass das Sein Gottes im Menschen für den Glauben in der Person Jesu Christi objectiv-geschichtliche Wirklichkeit, im heiligen Geiste aber eine innere Thatsache des subjectiven Selbstbewusstseins der Gläubigen ist.190

Durch diese Engführung von trinitarisch strukturierter Konzeptualisierung göttlicher Offenbarung und dem christlichen Prinzip liegt es nahe, der speziellen Theologie, der Christologie und schließlich der Pneumatologie eine herausgehobene Stellung unter den materialdogmatischen Beständen des Christentums einzuräumen und an ihnen eine exemplarische Würdigung der materialdogmatischen Überlegungen bei Lipsius vorzunehmen. In dem dogmatischen System des Lehrbuchs der evangelisch-protestantischen Dogmatik tritt diese Heraushebung der ökonomischen Trinität allerdings erst in der dritten Abteilung hervor. Ihr sind eine allgemeine Gotteslehre als erste Abteilung und eine Lehre von der Welt und vom Menschen als zweite Abteilung vorgeschaltet. Die folgende Analyse betrachtet nichtsdestoweniger allgemeine Gotteslehre und Ökonomie des Vaters von Lipsius im Verbund und schließt Rekonstruktionen der Ökonomie des Sohnes als Christologie und Ökonomie des Geistes als Pneumatologie an. Denn gerade an der ökonomisch-trinitarischen Konzeptualisierung der Offenbarung muss sich nach Lipsius das spezifische Profil des Christlichen zeigen können. Zudem muss sich hier das religionsdogmatische Scharnierstück des Ineinanders von göttlichem und menschlichem Wirken in dem religiösen Freiheitsgeschehen der Erhebung über die Natur als angemessener Schlüssel für die Erschließung traditioneller dogmatischen Aussagen des Christentums erweisen.

a. Der Quell der Freiheit – Zur Gotteslehre Bereits die Prolegomena von Lipsius’ Dogmatik entfalten Grundzüge einer religionstheoretischen Gotteslehre. Gott wird dabei allgemein als geistige und absolute Macht bestimmt, die Grund einer schlechthinnigen Abhängigkeit und unendlichen Freiheit menschlichen Geisteslebens ist. Die religiöse Erhebung über die Natur des Menschen wird in ihr auf ein selbstoffenbarendes Wirken Gottes im Menschen zurückgeführt. Im Rahmen seiner materialdogmatischen Durchführung der Gotteslehre zeichnet Lipsius systematisch eine formelle Differenzierung und Anreicherung des Gottesgedankens nach. Darin wird deutlich, wie die christlichen Modifikationen des religionstheoretischen Offenbarungsbegriffs die

189 Vgl. a. a. O., 267. Dabei ist jedoch nach Lipsius konsequent von aller Spekulation über innertrinitarische Strukturen Abstand zu nehmen, und die trinitarische Struktur des christlichen Offenbarungsverständnisses am Ort religiöser Erfahrung als ökonomische Trinität oder auch Offenbarungsdreiheit zu entfalten. Vgl. a. a. O., 275–278. 190 A. a. O., 278.

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menschliche Freiheitserfahrung in einen Sinnhorizont einstellen und ihr einen soteriologischen Richtungssinn verleihen. Zugleich ist die Durchführung der Gotteslehre durch eine dialektische Struktur geprägt, die sich aus den Herausforderungen, das Absolute zu konzeptualisieren, ergeben. Sie werden deutlich vor einem antinomischen Verhältnis zwischen der religiösen Gottesidee einer erlebbaren Persönlichkeit Gottes und der Philosophie des Absoluten. Aufgabe der dogmatischen Gotteslehre ist es, die Absolutheit philosophisch-metaphysischer Gotteslehre mit der religiösen Vorstellung einer Persönlichkeit Gottes zu vermitteln, die aufgrund der Bildlichkeit dogmatischer Aussagen nur approximativ erfüllt werden kann. So gliedert sich die Gotteslehre bei Lipsius in die drei Teile: die religiöse Gottesidee, der philosophische Begriff des Absoluten und die dogmatische Lehre von Gott, die jeweils von neuem eine je eigene Akzentuierung des Gottesgedankens entwickeln. Religionspsychologische Gotteslehre: In Die religiöse Gottesidee zeichnet Lipsius erneut – in den Bahnen seiner religionspsychologischen Grundlegung – die psychologische Genese des Gottesgedankens nach und entwickelt dabei die zentralen Momente religiöser Gottesvorstellung. Die Wurzeln des Gottesglaubens liegen im unmittelbaren Selbstbewusstsein des Menschen.191 Entsprechend liegt der Ursprung der Gottesidee nach Lipsius nicht in Versuchen der Welterklärung, der Sittlichkeitsreflexion, Absolutheitsspekulation oder ästhetischer Weltbetrachtung. Gott findet der Mensch in sich selbst.192 Wie in der psychologischen Religionstheorie bestimmt, gelangt der Mensch auf der Basis einer erlebten Nötigung, die Spannung von endlicher Freiheit und endlicher Abhängigkeit zu überwinden, zu der Vorstellung einer über alle endliche Abhängigkeit erhabenen Macht, die den Menschen über seine Naturverwobenheit erheben kann. In der Bezugnahme auf diese Macht erlebt der Mensch zugleich eine geistige Freiheit über seine Naturverwobenheit und eine schlechthinnige Abhängigkeit dieser geistigen Freiheit von Gott. Indem aber der Fromme in dem Acte seiner religiösen Erhebung selbst einen Thaterweis des göttlichen Geistwirkens im eignen Geistesleben erkennt, führt er zugleich auch seine in der religiösen Erhebung selbst sich bethätigende Freiheit auf göttliche Ursächlichkeit zurück193.

Auf der Basis dieses unmittelbaren Bewusstseins der schlechthinnigen Abhängigkeit des gesamten menschlichen Geisteslebens und ihrer Übertragung auf die gesamte Wirklichkeit bildet sich die Vorstellung Gottes als absolute Kausalität aus.194 Sie gilt Lipsius „als allgemeinster Inhalt der Gottesidee“195. Mit ihr wird

191

Vgl. a. a. O., 162. Vgl. a. a. O., 163. 193 A. a. O., 169. 194 Vgl. a. a. O., 164. 195 Ebd. 192

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Gott zuerst via causalitatis als Grund aller Wirklichkeit bestimmt.196 Der Erfahrungsgrund dieser Bestimmung ist nach Lipsius das eigene Erleben einer geistigen Freiheit in der religiösen Erhebung, sodass Gott als absolute Ursächlichkeit zugleich Grund und Quelle der Freiheit ist.197 An die in der religiösen Erhebung gewonnene Freiheit wird im religiösen Bewusstsein der göttlichen Ursächlichkeit dieser Freiheit zugleich eine Norm herangetragen. Die Vorstellung von Gott als Quell der Freiheit reichert sich so zweitens mit der Vorstellung von Gott als einer „höchsten Norm auch für des Menschen freies Verhalten zu ihr und für den Erfolg dieses Verhaltens“198 an. Gott wird als die Norm gelingenden Lebens aus Freiheit konzeptualisiert, die es erlaubt, einem Selbstsein als Persönlichkeit gerecht zu werden. Eine dritte Grundbestimmtheit des Gottesgedankens ergibt sich aus einem der Freiheitserfahrung inhärenten Richtungssinn. In der Erfahrung der Spannung zwischen endlicher Abhängigkeit und endlicher Freiheit, stößt der Mensch nach Lipsius auf seine Bestimmung, diese Spannung aufzuheben. Da das gesamte Wechselverhältnis von endlicher Freiheit und endlicher Abhängigkeit insgesamt in dem Verhältnis schlechthinniger Abhängigkeit zu Gott steht, erfährt der Mensch auch diese seine Bestimmung als eine Ordnung Gottes. Der Gottesgedanke entwickelt sich darin also als zwecksetzende Instanz fort. Gott erscheint als das höchste teleologische Prinzip.199 Als absolute Kausalität ist Gott jedoch nicht nur als Setzer der Bestimmung des Menschen zu geistiger Freiheit zu fassen. Zugleich ist Gott auch als der Grund gelingender Freiheit angesprochen. So erweist sich Gott als teleologisches Prinzip nicht nur als zwecksetzende Instanz, sondern zugleich als zweckdurchsetzende Instanz.200 Gott als geistige Macht repräsentiert die Kraft zur gelingenden Versöhnung menschlicher Freiheitserfahrung mit der Naturverflochtenheit des Menschen. Auf diese Weise wird Gott als Grund, Norm und Ziel bestimmt und erscheint als „Urbild des vollkommenen Geisteslebens“201. Für die religiöse Gottesvorstellung ist es nach Lipsius entscheidend, dass es sich um eine Erfahrungsgestalt religiösen Glaubenslebens handelt. Diese Erfahrungsgestalt verdankt sich Versinnlichungen des absoluten Geistes, die Lipsius auf Analogien aus dem endlichen menschlichen Geistesleben zurückführt.202 Dabei werden die Analogien via eminentiae von ihrer Endlichkeit abstrahiert und so Vollkommenheit menschlichen Geisteslebens auf Gott projiziert. Entsprechend

196

Zu Lipsius’ Adaption der scholastischen Unterscheidung zwischen Bestimmungen Gottes via causalitatis, negationis und eminentiae vgl. A. a. O., 204. 197 Die Bestimmung Gottes als letzter geistiger Quell aller menschlichen Kraft zum Guten und sittlicher Freiheit sieht Lipsius gerade durch den Begriff des Gewissens vermittelt. Vgl. a. a. O., 169. 198 A. a. O., 165. 199 Vgl. a. a. O., 166. 200 Vgl. ebd. 201 A. a. O., 174. 202 Vgl. a. a. O., 167.

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erscheint Gott als höchste Vernunft und höchster Wille.203 In diesem Zug werden auch genuin sittliche Motive auf den Gottesgedanken übertragen. Die eigene Kraft zum sittlichen Handeln wird auf Gott zurückgeführt und im Gefühl sittlicher Ohnmacht wird von Gott Erlösung erbeten.204 In diesem Zusammenhang ordnet Lipsius auch die Bestimmung Gottes als Persönlichkeit ein. Indem der religiöse Mensch der wirksamen Gegenwart Gottes in seinem sittlichen Leben bewust wird, gestaltet sich der Gottesglaube zur unmittelbaren Gewisheit einer persönlichen Wechselbeziehung mit Gott innerhalb seines eignen Geisteslebens.205

Ausgehend von der sittlichen Bestimmung Gottes gestaltet sich das Wechselverhältnis zwischen Mensch und Gott als ein persönliches „Verhältnis von Ich und Du“206. Diese Bestimmung Gottes als Persönlichkeit ist jedoch nicht als eine Wesensbestimmung Gottes zu begreifen, sondern als die subjektive Erfahrungsgestalt der Gottesvorstellung in religiöser Perspektive.207 Die Bestimmung Gottes als Persönlichkeit ist eine Aussage über die Beziehung Gottes zum Menschen und keine theoretische Aussage über das objektive Wesen Gottes.208 Sie ist auf der Ebene religiös-symbolischer Rede zu verorten. Sie erweitert sich zudem auch auf das ganze menschliche Verständnis von Welt und Sittlichkeit. Die funktionale Bestimmtheit von Gott als absolute Kausalität, höchste Norm sowie höchste zwecksetzende und zweckdurchsetzende Kraft wird so zur Bestimmung Gottes als „weltschöpferische Allmacht, […] weltordnende Allweisheit und […] weltregierende Gerechtigkeit und Güte.“209 In der höchsten Entwicklungsstufe der religiösen Gottesidee gestaltet sich das menschliche Bewusstsein des religiösen Verhältnisses als Heilsbewusstsein. Gott ist Quelle des Heils und das Heil selbst eine Lebensgemeinschaft mit Gott.210 Dem liegt die religiöse Erfahrung zugrunde, dass Gott nicht nur als Grund, Norm und Telos auftritt, sondern zugleich auch als eine ,Kraft‘, die den Menschen seine Bestimmung erreichen lässt.211 Gott als zweckdurchsetzende Kraft wird so zu der Vorstellung von Gott als Liebe fortgebildet.212 Die Fassung Gottes als die Liebe ist dabei Ausdruck dafür, dass Gott sich dem menschlichen Bewusstsein auch in der Erfüllung der menschlichen Bestimmung zur Freiheit über die endliche Abhängigkeit als wirksam kundtut. „Gott ist die Liebe, sofern er den Menschen in

203

Vgl. ebd. Vgl. a. a. O., 169–170. 205 A. a. O., 170. 206 Ebd. 207 Diese Differenz zur metaphysischen Konstruktion einer absoluten Persönlichkeit betont Rohls: Vgl. J R: Gott, Trinität und Geist. Ideengeschichte des Christentums (Ideengeschichte des Christentums 3,2), Tübingen 2014, 986. 208 Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 171. 209 A. a. O., 174. 210 Vgl. ebd. 211 Vgl. a. a. O., 175. 212 Vgl. ebd. 204

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seine Lebensgemeinschaft aufnimmt, sofern er sich ihm also innerlich als die unendliche Kraft, die unendliche Norm und das unendliche Ziel alles höhern Lebens erschliesst.“213 Gerade im christlichen Gottesglauben, so Lipsius, ist diese Fortbildung des Gottesgedankens zur Liebe vollzogen und als positive Religion ausgebildet. Sie konkretisiert sich in der Rede von Gottes Väterlichkeit, Güte, Heiligkeit und Gerechtigkeit.214 Die Fortbildung des Offenbarungsbegriffs zu einer Offenbarungsdreiheit von Vater, Sohn und Geist setzt dies um.215 Der christliche Gottesglaube in seiner geschichtlichen Gestalt ist der Glaube an den himmlischen Vater, der im Sohne die gottentfremdete Menschheit mit sich versöhnt, im heiligen Geiste aber die Gläubigen ihrer Gotteskindschaft gewis macht und als in ihnen gegenwärtigen Kraft des göttlichen Lebens sie zur Lebensgemeinschaft mit sich zusammenschliesst.216

In der Offenbarung als Vater, Sohn und Geist erwirkt Gott zugleich das Heil, das sich in der Freiheit von endlicher Abhängigkeit erfahrbar macht. Mit diesem Abschlusspunkt des Nachvollzugs der religiösen Gottesidee zeigt Lipsius, wie die spezifisch christliche Modifikation des religionstheoretischen Offenbarungsbegriffs, die religionsdogmatische Auslegung des religiösen Freiheitsgeschehens mit einem Heilsgedanken verbindet. Die menschliche Erhebung über die Natur wird damit als ein Heilsgeschehen ausgelegt, in dem sich Gott aus der Perspektive des christlichen Glaubens als liebender, gütiger, gerechter und heiliger Vater erleben lässt. Philosophische Gotteslehre: In seiner Analyse des philosophischen Begriffs des Absoluten führt Lipsius den Begriff des Absoluten als Reflexionsbegriff der religiösen Gottesidee ein. Die Philosophie des Absoluten gilt ihm als Versuch, die Erhabenheit des Gottesgedankens über alle endlichen Kategorien konsequent zu denken. Dabei geht Lipsius nicht nur wie selbstverständlich davon aus, dass sich der philosophische Begriff des Absoluten und die religiöse Gottesidee dasselbe Denotat teilen, sondern attestiert der philosophischen Absolutheitsspekulation sogar einen religiösen Ursprung.217 Der Begriff des Absoluten hat demnach seinen Ursprung „in der Reflexion über den geistigen Gehalt der religiösen Weltbetrachtung“218, nicht jedoch in theoretischen Bemühungen um einen systematischen Abschluss des Welterkennens. Diese starke These vom religiösen Ursprung der Philosophie des Absoluten wird Lipsius später zurücknehmen.219 Sachlich motiviert er die Idee des Absoluten in der ersten Auflage allerdings bereits durch das menschliche Bedürfnis, seine gesamte Welt- und Selbsterfah-

213

Ebd. Vgl. a. a. O., 177–182. 215 Vgl. a. a. O., 183. 216 A. a. O., 182. 217 Vgl. a. a. O., 185. 218 Ebd. 219 Siehe Kap. III.1./3. 214

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rung auf eine einheitliche Weltanschauung zu bringen. Eine Affinität zwischen Religion und diesem Einheitsbedürfnis ergibt sich daraus, dass Lipsius in der ersten Auflage seines Hauptwerks das menschliche Einheitsbedürfnis als eine Quelle der Nötigung, zur Erhebung über die Natur erachtet. Das Absolute zu denken, erfordert die Erhebung über die Naturverwobenheit des Menschen, die Lipsius als religiöses Geschehen betrachtet. Der Begriff des Absoluten entzieht sich entsprechend wissenschaftlicher Beweisbarkeit und kann im Gegenzug auch keine wissenschaftliche Erklärung leisten.220 Er kann nur als eine Voraussetzung einer Weltanschauung auftreten. Eine solche Voraussetzung gewinnt jedoch nach Lipsius Plausibilität durch das Scheitern materialistisch-mechanischer Weltanschauungen, welche die Wirklichkeit auf die naturkausal strukturierte Erscheinungswelt restringieren wollen.221 Ihnen gelingt es nach Lipsius prinzipiell nicht, die gesamte menschliche Erfahrungswirklichkeit als Einheit zu denken. Die Notwendigkeit, den Begriff des Absoluten zu denken, ergibt sich nach Lipsius daher auch – ungeachtet der These von seinem religiösen Ursprung – durch das menschliche Bedürfnis, eine einheitliche Weltanschauung zu gewinnen. So steht nach Lipsius auch die Philosophie vor der Aufgabe, einen über die Natur erhabenen ideellen Grund der Welttotalität exakt zu denken. Aus diesem Anliegen bilden sich nach Lipsius Attribute des Absoluten heraus, die analog zu den Grundattributen der religiösen Gottesidee sind. Im Sinne eines „Realgrund[s] alles endlichen Daseins überhaupt“222 wird das Absolute als eine unendliche Kausalität bestimmt, die sich kategorial von aller endlichen Naturkausal unterscheidet. Damit das Absolute gleichermaßen auf alles erscheinende Sein bezogen sein kann, muss es in Negation zur Räumlichkeit und Zeitlichkeit gedacht werden. Daher ist das Absolute als Geistigkeit, im Sinne von Unkörperlichkeit und Raumlosigkeit, sowie Ewigkeit zu bestimmen.223 Zugleich tritt das Absolute als Grund aller Räumlichkeit und Zeitlichkeit auf. Indem der gesamte raum-zeitliche Zusammenhang und den in ihm wirkenden Gesetzmäßigkeiten auf die absolute Kausalität zurückgeführt werden, tritt das Absolute als unendlicher Idealgrund auf.224 Das Absolute wirkt also als Norm in und durch die Gesetzmäßigkeiten des endlichen raum-zeitlichen Seins. So vollzieht sich jegliche Zweckerfüllung innerhalb des endlichen raum-zeitlichen Zusammenhangs aufgrund der absoluten Kausalität, sodass sie darauf aufbauend als unendliches teleologisches Prinzip bestimmt werden kann.225 Auf diese Weise gelangt die Philosophie des Absoluten zu der dreifachen Bestimmung des Absoluten als Grund, Norm und Ziel des Weltganzen. Das Absolute tritt als „die absolut lebendige Weltenergie, die absolut vernünftige Weltnorm und das absolute teleologische 220

Vgl. ebd. Vgl. ebd. 222 A. a. O., 186. 223 Vgl. a. a. O., 187. 224 Vgl. a. a. O., 188. 225 Vgl. a. a. O., 189. 221

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Weltprincip, oder als absolut weltschöpferisches Leben, absolut weltordnende Idee und absolut weltregierender Geist“226 auf. Zusammenfassend lässt sich die Metaphysik des Absoluten nach Lipsius in dem Begriff des absoluten Geistes, der dem endlichen Geist als raumzeitlich gebundener, individuell und geschichtlich bedingter Geist gegenübersteht. Der absolute Geist ist schlechthin vom endlichen Geist des Menschen unterschieden (transzendent) durch seine Überräumlichkeit und Überzeitlichkeit, aber zugleich als Grund, Norm und Ziel im endlichen Geistesleben präsent (immanent).227 So bestimmt ist auch das Absolute als „unendlicher geistiger Quell unsrer geistigen Freiheit, und als schöpferischer Grund, ordnende Norm und zwecksetzendes Princip der geistigen Welt“228 zu fassen. Entscheidend sind für Lipsius bei dieser Rekonstruktion des Absoluten dennoch weniger die analogen Strukturen zur religiösen Gottesidee, sondern eine zur Religion gegenläufige Tendenz im Bilden des absoluten Gottesgedankens. Für die Philosophie des Absoluten steht die schlechthinnige Andersartigkeit und Erhabenheit des Gottesgedankens über die Wechselbeziehung aller Endlichkeit im Vordergrund.229 Während die Religion bildhafte Versinnlichungen Gottes hervorbringt und so versucht, eine Erlebensdimension des Absoluten als göttliche Persönlichkeit zu repräsentieren, betont die philosophische Absolutheitsreflexion die Unmöglichkeit adäquater Konzeptualisierungen des Absoluten. Damit nimmt sie eine autodestruktive Form an, die Lipsius bereits in seinen Schleiermacherstudien herausgestellt hat.230 Demnach stellt der Begriff des Absoluten vor das Problem, dass er zwar als ein spekulatives Postulat aufgestellt und konstruiert, nicht jedoch konkret gedacht werden kann.231 Denn alles menschliche Denken bleibt nach Lipsius letzten Endes an seine Raum-Zeitlichkeit gebunden. Jegliche Vorstellung des Absoluten muss so via negationis von der Philosophie destruiert werden. So mahnt die Philosophie des Absoluten auch gegenüber dem religiösen Bewusstsein zu einem Bewusstsein der notwendigen Inadäquanz aller ihrer Vorstellungsbilder. Philosophie und Religion geraten in ein dialektisches Verhältnis zueinander. Dogmatische Gotteslehre: Die dogmatische Lehre von Gott ist vor diesem Hintergrund um eine Synthese zwischen der religiösen Gottesidee und dem philosophischen Begriff des Absoluten bemüht. Dieses Anliegen ist nach Lipsius einerseits durch den historischen Umstand bedingt, dass die dogmatischen Lehren der Christentumsgeschichte immer wieder von Vermittlungsversuchen zwischen philosophischen und religiösen Gotteslehren zeugen.

226

A. a. O., 191. Vgl. a. a. O., 193. 228 A. a. O., 192. 229 Vgl. a. a. O., 184. 230 Siehe Kap. I.4.b. 231 Vgl. a. a. O., 195. 227

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Die kirchliche Lehre von Gott […] beruht auf dem mit klarem Bewusstsein verfolgten Streben, den biblischen Glauben an den persönlich den Personen sich beurkundenden Gott mit der philosophischen Idee des Absoluten zu einer und derselben Vorstellung zu verknüpfen.232

Andererseits liegen diesem Anliegen die sachlichen Überschneidungen und die von Lipsius behauptete sachliche Identität des Gegenstandes philosophischer und religiöser Gotteslehren zugrunde.233 Die Aussagen beider Perspektiven über den Gottesgedanken stehen jedoch nach Lipsius zugleich in einer unüberwindbaren Spannung zueinander. Während die religiöse Gottesidee gerade die Persönlichkeit Gottes betont und diese mit Analogien zum menschlichen Geistesleben vorstellt, stellen philosophische Gotteslehren die Absolutheit Gottes ins Zentrum.234 Dabei ist beiden Perspektiven aus unterschiedlichen Gründen eine mangelhafte Bestimmung des Gottesgedankens zu unterstellen. Während die Bestimmung Gottes als Persönlichkeit nur als bildliche oder analogische Vorstellung ausgehend von den Strukturen menschlichen Geisteslebens gelten können, verbleibt die philosophische Lehre des Absoluten bei negativen Bestimmungen Gottes.235 Eine adäquate Bestimmung des Gottesgedankens ist daher weder ausgehend von religiöser Erfahrung noch ausgehend von philosophischer Spekulation zu erreichen. Es bleibt also die doppelte Forderung, „Gott einerseits wirklich als lebendigen Geist, andrerseits ihn wirklich als absolut zu denken.“236 Diese doppelte Forderung erlaubt keine einseitige Aufhebung. Vielmehr stehen philosophische und religiöse Gotteslehre in einem dialektischen Verhältnis. Ausgehend von religiöser Erfahrung bilden sich religiöse Vorstellungen aus, die versuchen, den Kerngehalt der religiösen Erfahrung auszudrücken und im Bewusstsein zu wahren. Der philosophische Begriff des Absoluten hat demgegenüber eine regulative Funktion.237 Durch die philosophische Beurteilung religiöser Vorstellungen sollen die religiösen Gottesvorstellungen von endlichen Bestimmungen befreit und so zunehmend ,vergeistigt‘ werden.238 Es gilt also, philosophisch alle endlichen Attribuierungen des Gottesgedanken abzustreifen, ohne den religiösen Kerngehalt religiöser Erfahrung gänzlich zu verneinen. Diese „annäherungsweise Läuterung“239 des religiösen Gottesgedankens bleibt eine unendliche Aufgabe. Das göttliche Wirken im Menschengeist bleibt auf uneigentliche Ausdrucksformen angewiesen. Erst in späteren Werken versucht Lipsius, herausgefordert durch die Kritik Wilhelm Herrmanns, zu erläutern, wie er die Möglichkeit einer Läuterung der Gottesvorstellung mit der Un-

232

A. a. O., 201. Vgl. a. a. O., 198. 234 Vgl. a. a. O., 204. 235 Vgl. ebd. 236 A. a. O., 205. 237 Vgl. a. a. O., 206. 238 Vgl. ebd. 239 Vgl. ebd. 233

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möglichkeit adäquater Gottesvorstellung zusammenbringen will.240 Klar ist jedoch, dass Lipsius metaphysische Beweisverfahren der Gottesidee konsequent ablehnt. Dies wird beispielhaft in seiner Behandlung der klassischen Gottesbeweise deutlich. Im Anschluss an Kant beurteilt er sämtliche Beweisverfahren des Daseins Gottes als gescheitert. Allerdings zeichnen die unterschiedlichen Gottesbeweise nach Lipsius die verschiedenen psychologischen Wege menschlicher Bezugnahmen auf das Göttliche nach: Die praktisch-religiöse Bedeutung jener Beweise und damit zugleich ihre dem populären Bewustsein einleuchtende Wahrheit besteht darin, dass sie, wenn auch in wissenschaftlich unhaltbarer Form, doch den psychologischen Weg aufzeigen, auf welchem die religiöse Gottesidee thatsächlich entsteht, und dadurch das religiöse Bewustsein über seinen eigenen Inhalt verständigen.241

Der kosmologische Beweis repräsentiert die menschliche Reflexion des Endlichen, Bewegten, Kontingenten im Horizont des Unendlichen, einer ersten Bewegung oder des Notwendigen; der teleologische Beweis repräsentiert die Reflexion zweckhafter Weltzusammenhänge im Horizont des Gottesgedankens als höchster zwecksetzender und zweckdurchsetzender Instanz; der moralische Beweis repräsentiert die menschliche Reflexion des Sittengesetzes unter Bezug auf einen absoluten Urheber des Sittlichen; der historische Beweis repräsentiert das Schließen von der Verbreitung des Gottesglaubens auf die Existenz Gottes und schließlich der ontologische Gottesbeweis repräsentiert den Schluss vom höchsten Begriff Gottes auf dessen objektive Existenz außerhalb des menschlichen Bewusstseins.242 Allen diesen Beweisverfahren liegt nach Lipsius die Verwechselung von der psychologischen Nötigung des Menschen zur Ausbildung eines Gottesglaubens als Resultat eines Endlichkeitsbewusstseins mit einem Beweis seiner objektiven Gewissheit zugrunde. Vergleichbar urteilt Lipsius über die kirchliche Trinitätslehre. Die starke Betonung der Offenbarungsdreiheit als spezifische christliche Modifikation des Offenbarungsglaubens könnte vermuten lassen, dass Lipsius der Trinitätslehre selbst großen Raum in seiner Dogmatik einräumt. Nach kurzem Durchgang durch die wesentlichen Etappen der trinitarischen Dogmenbildung fordert er jedoch entschieden den Abschied von jeglicher Spekulation über die Wesensstruktur Gottes oder innergöttliches Leben und fordert, die Trinitätslehre ganz auf einen religiösen Erfahrungsgehalt zurückzuführen.243 Der christlichen Offenbarungsdreiheit liegt als religiöse Wahrheit zu Grunde, dass das Sein Gottes im Menschen für den Glauben in der Person Jesu Christi objectiv-geschichtliche Wirklichkeit, im heiligen Geiste aber eine innere Thatsache des subjectiven Selbstbewustseins der Gläubigen ist.244 240

Siehe Kap. III.2.b. A. a. O., 213. 242 Vgl. a. a. O., 208–210. 243 Vgl. a. a. O., 278. 244 Ebd. 241

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Die dogmatische Reflexion kirchlicher Vorstellungsbildung kann demnach nur versuchen, das religiöse Selbstverständnis auf der Basis eines frommen Selbstund Wirklichkeitserlebens zu erschließen und mit ihren erkenntnistheoretischen Geltungsgrenzen zu konfrontieren. Die dogmatische Gotteslehre kann sich nur um eine philosophisch-kritisch geläuterte Aneignung kirchlicher Vorstellungsgehalte bemühen, die von einem Bewusstsein der Bildlichkeit ihrer Aussagen getragen ist und sie als einen plausiblen Ausdruck eigener freier Selbst- und Welterfahrung im Horizont des Unbedingten ansieht. Gegenüber der allgemeinen religionsdogmatischen Rede von der Offenbarung ragt die Aneignung christlicher Tradition durch ein Heilsbewusstsein heraus, das mit dem religiösen Freiheitsgeschehen über die Natur verbunden wird. Diese Anlage der Gotteslehre in Lipsius’ Dogmatik zeigt erneut, wie stark er den Gottesgedanken als Grund und Quell der Freiheit entwickelt und damit auf das religiös ausgelegte Freiheitserleben der Erhebung über die Natur zurückführt. Zugleich weist er durch die Gegenüberstellung von religiöser und philosophischer Gotteslehre auf eine Dialektik im Gottesgedanken selbst hin. Gottes Transzendenz und Immanenz, seine Erhabenheit über alle Natur und sein Fungieren als geistiger Grund von Selbst und Welt führen die dogmatische Arbeit am Gottesbegriff in eine Antinomie, die keine vollständige dogmatische Auflösung erlaubt. Vielmehr verweist Lipsius auf die bleibende Aufgabe, die Gehalte religiösen Erlebens und daraus erwachsender Vorstellungsbildung mit einem begleitenden kritischen Bewusstsein ihrer Bildlichkeit zu verzahnen. Die Perspektive des christlichen Glaubens versieht dabei jedoch die religiöse Freiheitserfahrung mit einem soteriologischen Richtungssinn.

b. Das Urbild der Freiheit – Zur Christologie Die christliche Modifikation des Offenbarungsglaubens ist durch die Überzeugung getragen, dass sich Gott in Jesus Christus historisch selbst offenbart hat. Das Christentum als historische Größe konstituiert sich durch den Bezug auf die Person Jesus Christus als ihre Grundtatsache. Zugleich soll in Jesus Christus Grundsätzliches über das religiöse Verhältnis von Mensch und Gott deutlich werden, welches sich prinzipiell in jedem Menschen vollziehen kann. In ihm wird die Heilsbedeutung des Wirkens Gottes deutlich. Auf diese Weise verbinden sich in der Christologie Aussagen über ein historisches Stiftungsgeschehen des christlichen Glaubens und einer Heilswirksamkeit einer konkreten Person mit Aussagen über das vollkommene Verhältnis zwischen Gott und Mensch im Allgemeinen, die in Leben und Werk Christi verwirklicht wurden. Die Christologie von Lipsius kreist um das Verhältnis beider Aussageebenen. In ihr geht es um die Verhältnisbestimmung von dem Prinzip des christlichen Glaubens und der Bedeutung der geschichtlichen Person Jesu. Sie steht vor der Aufgabe, Prinzip und Person zu unterscheiden und doch ihre Verwobenheit im Christentum zu durchdringen.

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Mit dieser Fokussierung auf die Verhältnisbestimmung von Prinzip und Person stellt sich Lipsius in ein christologisches Paradigma ein, das auf David Friedrich Strauß und Ferdinand Christian Baur zurückgeht. In Auseinandersetzung mit Schleiermachers Urbildchristologie hat Baur explizit die christologische Unterscheidung von Prinzip und Person entwickelt, um ein ideales Christusbild von der historischen Person abzuheben.245 Schleiermacher hatte sich mit der Übertragung des Urbildbegriffs auf Jesus kritisch von Kants Taxierung Jesu als vorbildliche Exemplifizierung eines moralischen Menschheitsideals abgegrenzt. Jesu „stetige Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins, welche ein eigentliches Sein Gottes in ihm war“246, macht Jesus zum Urbild. Als ein Urbild ist er kein überbietbares Vorbild, sondern in ihm realisiert sich singulär und geschichtlich konkret das vollkommene gotteinige religiöse Leben und somit ist es als eine greifbare Kraft in die Geschichte eingetreten. Bereits Strauß hat sich in seinem berühmten Leben Jesu kritisch von Schleiermachers Urbildchristologie abgegrenzt, indem er die Singularität der Verwirklichung der Idee einer Gott-Mensch-Einheit in Jesus Christus in Frage stellte. Zunächst bestreitet er prinzipiell, dass sich ein Ideal singulär realisiert. Das ist ja gar nicht die Art, wie die Idee sich realisiert, in Ein Exemplar ihre ganze Fülle auszuschütten, und gegen alle andern zu geizen; in jenem Einen sich vollständig, in allen übrigen aber immer nur unvollständig abzudrücken: sondern in einer Mannigfaltigkeit von Exemplaren, die sich gegenseitig ergänzen, im Wechsel sich setzender und wiederaufhebender Individuen, liebt sie ihren Reichthum auszubreiten.247

Neben diesem prinzipiellen Einwand übt Strauß drei Kritikpunkte an Schleiermacher: Der Mensch als unvollkommenes Wesen kann nicht beurteilen, ob der biblische Christus vollkommen ist, die biblischen Texte zeichnen nur ein unvollständiges Bild von Christus und schließlich könnte die Steigerung von Jesus als Vorbild zu einem Urbild menschengemacht sein.248 Auch Baur bestreitet mit seiner Unterscheidung, dass Schleiermacher die Identifizierung des Ideals eines vollkommenen christlichen Glaubens mit einer konkreten historischen Person gelungen ist. Vielmehr beobachtet er auch bei Schleiermacher eine implizite Trennung zwischen Prinzip und Person, wenn Schleiermacher zwischen einem Wesen Christi und seiner zeitbedingten Erscheinung unterscheidet.249 So gelinge es ihm

245 Vgl. F C B: Die christliche Lehre von der Dreieinigkeit und Menschwerdung Gottes in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Tübingen 1841–1843, Bd. 3, 880–881. Vgl. dazu auch J R: Vorbild, Urbild und Idee. Zur Christologie des 19. Jahrhunderts, in: Ruben Zimmermann/Jan Rohls/Jörg Frey (Hg.): Metaphorik und Christologie (Theologische Bibliothek Töpelmann 120), Berlin 2003, 219–241, hier 233. 246 S, Der christliche Glaube, Bd. II, 43, § 94. 247 D F S: Das Leben Jesu. Kritisch bearbeitet, Tübingen 31839, 766–767. 248 Vgl. R, Vorbild, Urbild und Idee, 231. 249 Vgl. B, Die christliche Lehre von der Dreieinigkeit und Menschwerdung Gottes, Bd. 3, 870.

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nicht, deutlich zu machen, warum Jesus tatsächlich Urbild und nicht nur erstes Beispiel des christlichen Prinzips sein soll.250 Nach Baur und Strauß erscheint die christologische Identifizierung von Prinzip und Person als eine lediglich akzidentielle Verbindung. Auch Biedermann teilt die Überzeugung, dass zwischen Prinzip und Person unterschieden werden muss.251 Allerdings grenzt sich Biedermann von Baur und Strauß ab, indem er nicht nur ein akzidentielles, sondern ein innerlich verwobenes Verhältnis von Prinzip und Person vertritt.252 Lipsius’ Aneignung einer Problematisierung unmittelbarer Einheit von Prinzip und Person ist vor allem durch diese relativierte Form aus Biedermanns Christologie geprägt. Sowohl Biedermann als auch Lipsius begreifen die Gotteskindschaft im Sinne einer spezifischen „Bestimmtheit des religiösen Wechselverhältnisses zwischen absolutem und endlichem Geist“253 als christologisches Prinzip des Christentums. Nach Biedermann ist dieses Prinzip ein idealer Gehalt, der auch abstrakt unabhängig von Jesus Christus Bestand haben kann. Er ist „an sich aber ewig im Wesen Gottes und des Menschen als ihr wahres religiöses Verhältniss enthalten“254. Nichtsdestoweniger ist das christliche Princip erst in der Thatsache des religiösen Selbstbewusstseins Jesu und des Glaubens an ihn in die Wirklichkeit der Geschichte eingetreten: die Bestimmung seines Inhalts ist daher nicht so zu fassen, dass derselbe auch vor und abgesehn von jener Thatsache sich eo ipso in der Menschheitsgeschichte realisiert hätte.255

Die historische Verwirklichung des christlichen Prinzips ist demnach essenziell an das konkrete historische Auftreten von Jesus Christus gebunden. Prinzip und Person bleiben unterschieden, aber ohne diese Person hätte sich das Prinzip nicht realisiert. Auch Lipsius erhebt die Verhältnisbestimmung von Prinzip und Person zum Grundthema seiner christologischen Reflexion, macht sich die Kritik von Baur an Schleiermacher zu eigen, knüpft an Biedermanns Vermittlungsversuch von Prinzip und Person an und versucht schließlich mit einer freiheitstheologischen Pointe, die Unterscheidung von Prinzip und Person in eine Urbildchristologie einzubetten. Die spezifisch christliche Frömmigkeit erlangt nach Lipsius – wie bei Biedermann – ihre Bestimmtheit durch ihre spezifische Fassung des religiösen Verhältnisses zwischen Mensch und Gott als „Gotteskindschaft oder […] Lebens- und Liebesgemeinschaft mit Gott“256 und ihren Bezug auf Jesus Christus als historische Offenbarung dieser spezifischen Fassung.257 Dabei kommt die Gotteskindschaft als Prinzip und Christus als Person zum Stehen. Zwischen beidem setzt 250

Vgl. a. a. O., 879. Vgl. B, Christliche Dogmatik 1869, 679. 252 Vgl. a. a. O., 691. 253 A. a. O., 680. 254 A. a. O., 681–682. 255 A. a. O., 681. 256 L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 446. 257 Vgl. a. a. O., 447. 251

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Lipsius – Biedermann vergleichbar – ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis. Der Glaube an Jesus Christus ruht der religiösen Erfahrung der Wirklichkeit der Gotteskindschaft im christlichen Glaubensleben auf. Die Grundaussage des christlichen Glaubens, dass der in den vorchristlichen Religionen noch unter der vorbereitenden Gnade verhüllt gebliebene göttliche Heilswille im Evangelium von Jesus Christus geschichtlich offenbart sei, beruht auf der Thatsache religiöser Erfahrung, dass das vollkommene religiöse Verhältnis der Gotteskindschaft oder der Lebens- und Liebesgemeinschaft mit Gott in dem Glaubensleben der christlichen Gemeinschaft geschichtlich verwirklicht ist, in diesem aber im Gegensatze zu der Gottesferne des natürlichen, der Gottentfremdung des sündigen Menschen als Versöhnung mit Gott, im Gegensatze zu der geistigen Ohnmacht des natürlichen und sündigen Menschen als Erlösung von der endlichen Naturbestimmtheit in der Welt und von der Herrschaft des Fleisches über den Geist empfunden wird.258

Im Gegenzug ist diese religiöse Erfahrung ermöglicht durch das historische Eintreten des Ideals der Gotteskindschaft in das christliche Glaubensleben durch die Person Jesus Christus. Diese eigenthümliche Grundbestimmtheit des christlichen Bewustseins oder das eigenthümliche religiöse Princip des Christenthums ist in der Person Jesu Christi als wirksame religiöse Lebensmacht in die Geschichte eingetreten und mittelst des Glaubens an ihn ein Gegenstand gemeinsamer und individueller Erfahrung geworden259.

Einerseits bedingt die Erfahrung aktualer Gotteskindschaft den christlichen Glauben an Jesus als historische Offenbarung. Andererseits bedingt das geschichtliche Auftreten Jesu die Erfahrbarkeit des christlich bestimmten religiösen Verhältnisses als Gotteskindschaft. Lipsius folgt hier Biedermann darin, dass das Prinzip der Gotteskindschaft der zentrale Gehalt des christlichen Prinzips ist und den sachlichen Grund der Verehrung Jesu bietet. Zugleich sieht auch Lipsius die Notwendigkeit einer historischen Realisierung des Prinzips in der Person Jesu für die Wirklichkeit des Prinzips, die nicht nur akzidentiell an die Person Jesu gebunden ist. In der überkommenen Lehrbildung der Kirche hat dieses wechselseitige Bedingungsverhältnis von Prinzip und Person jedoch zu einer weitgehenden Identifikation von beidem geführt. Vor diesem Hintergrund nahm die christliche Fassung des vollkommenen religiösen Verhältnisses zwischen Mensch und Gott die Gestalt von Aussagen über die geschichtliche Person Jesus an.260 Was mit dem religiösen Verhältnis gemeint ist, zeigt die kirchliche Lehrtradition demnach durch das, was sie über Leben und Werk Jesu aussagt. Dies hat nach Lipsius zur Konstruktion einer Idealgestalt geführt, dem dogmatischen Christus, der an das historische Jesus-Bild geheftet wurde. Es folgte „die Idealisierung des Historischen und die Historisierung des Idealen.“261

258

A. a. O., 446. Ebd. 260 Vgl. a. a. O., 448. 261 Ebd. 259

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Eines der deutlichsten Resultate dieses Prozesses ist nach Lipsius die ZweiNaturen-Lehre. Die christologischen Spitzensätze des Konzils von Chalcedon bringen die Identifizierung von der Person Jesu mit dem dogmatischen Christus auf den Begriff. Die göttliche und menschliche Natur Christi liegen zugleich unvermischt, ungewandelt, ungetrennt und ungesondert bei Jesus Christus vor. Diese Spitzensätze beurteilt Lipsius gespalten. Einerseits gelten sie ihm als widersprüchliche Lehrgestalt, die einer unkritischen Identifizierung von religiösem Ideal und historischer Wirklichkeit Vorschub leisten. Andererseits sind ihnen Kernaussagen über das religiöse Verhältnis eingebettet. Die geschichtliche Person Christi ist also dogmatische Person: der einzelne Mensch Jesus ist unmittelbar zugleich Gott, ohne darum aufzuhören, wirklicher Mensch zu sein. Grade in diesem absoluten Widersinn steckt aber der tiefste religiöse Sinn.262

In dieser paradoxen Bestimmung Christi ist für Lipsius die religiöse Kernaussage des Wirkens des unendlichen Geistes im endlichen Menschengeist ausgedrückt. Die auch für das religiöse Verhältnis behauptete numerische Identität zwischen menschlicher Erhebung über die endliche Natur und göttlichem Wirken im Menschen oder auch die numerische Identität von Freiheit und Offenbarung findet einen kirchlichen Ausdruck in der numerischen Identität von Gott und Mensch in Jesus Christus. Die christologische Zwei-Naturen-Lehre wird nach Lipsius allerdings dann problematisch, wenn die Gottheit und die Menschheit Jesu im Rahmen endlicher Kategorien gegenübergestellt werden.263 Erst wenn die Gottheit Jesu auf einer kategorial anderen Ebene als die Menschheit behauptet wird, kann von der Gott-Menschheit Jesu gesprochen werden, ohne entweder einseitige Auflösungen zu provozieren oder eine widerlogische Einheit endlich entgegengesetzter Gegenstände behaupten zu müssen. Die Trennung von Gottheit und Menschheit Jesu im Rahmen endlicher Kategorien stellt – wie bereits in der Rekonstruktion der religiösen Erkenntnistheorie aufgegriffen – vor die falschen Alternativen von doketischer Verflüchtigung der Menschheit Jesu, Leugnung der echten Gottheit Jesu oder widerlogischer Einheit endlicher Gegensätze.264 Jene kategoriale Differenz von Jesu Menschheit und Jesu Gottheit erfordert nach Lipsius, zugleich Person und Prinzip weder unmittelbar miteinander zu identifizieren noch beides gänzlich voneinander zu trennen. Nicht alle Aspekte des historischen Zeugnisses von Jesu können zugleich als Ideal des vollkommenen religiösen Verhältnisses herhalten. Auch hier gilt es zwischen religiösem Gehalt und zeitbedingtem, kontingentem Rahmen zu unterscheiden. Allerdings ist auch die Wirklichkeit des religiösen Verhältnisses der Gotteskindschaft im christlichen Glaubensleben nicht ohne ein urbildliches Auftreten desgleichen zu begreifen. Es muss als konkrete historische Kraft aufgetreten sein, die sich nur in einem konkreten Lebensbild greifen lässt. 262

A. a. O., 478. Vgl. ebd. 264 Vgl. ebd. 263

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Gerade die dogmengeschichtliche Entwicklung von dem christologischen Dogma offenbart nach Lipsius ihre Auslegungsschwierigkeit und das Scheitern an dem nötigen Balanceakt zwischen Prinzip und Person: „Wenn irgendwo, so ist beim christologischen Dogma die Geschichte desselben zugleich die Kritik.“265 Bis in seine Gegenwart hinein identifiziert Lipsius Deutungen der Zwei-NaturenLehre, die ihren religiösen Gehalt als Aussage über das vollkommene religiöse Verhältnis verflüchtigen. In neuorthodoxen Theologien seiner Zeit beobachtet Lipsius eine erneute unmittelbare Identifizierung von Prinzip und Person, die erzwingt, auch alle zeitbedingten Elemente der biblischen Jesusbilder für unmittelbare und wesentliche Glaubensgrundlage des Christentums zu erklären. Dagegen Lipsius: Die wunderbare Geschichte Gottes ist als geschichtliche Darstellung der religiösen Idee des Christenthums unmittelbares Glaubensobject; die wunderbare Geschichte eines göttlichen Menschen, und sei er auch der absolut Sündlose und Gotteinige, ist dies nicht.266

Lipsius opponiert hier entschieden gegen die Bindung des christlichen Glaubens an vollständiges Fürwahrhalten jeder einzelnen Erzählung von Jesu Wunderhandeln. Auf der anderen Seite kritisiert er philosophische Christologien: Bei Kant, Jacobi, Fichte, Schelling oder auch Strauß beobachtet Lipsius die Degradierung der Person Jesu zur bloßen Veranschaulichung einer Idee oder eines Prinzips, das auch gänzlich unabhängig von der geschichtlichen Person Jesu Bestand hat.267 Der Blick auf die geschichtliche Gestalt geht so immer schon von einer bereits konstruierten Idee aus, wie es Lipsius insbesondere an den an Hegel orientierten Denkern seiner Zeit kritisiert.268 Obwohl Schleiermachers Christologie bei weitem die ausführlichste Würdigung von Lipsius erfährt, bleibt auch sie ihm ein Beispiel für eine unzureichende christologische Würdigung der geschichtlichen Person Jesu.269 Dabei ist mit Schleiermachers berühmter Formel von der stetigen Kräftigkeit Christi Gottesbewusstsein nach Lipsius eine angemessene Beschreibung des vollkommenen religiösen Verhältnisses und einem Sein Gottes in Christus gegeben.270 Indem nun Schleiermacher diese stetige Kräftigkeit von Christi Gottesbewusstsein als urbildliche Verwirklichung des vollkommenen religiösen Verhältnisses bestimmt, gelingt ihm, an der Verbindung von Prinzip und Person bei Christus festzuhalten. Der Urbildbegriff erscheint Lipsius als geeignetes Mittel, die Unterschiedenheit von Prinzip und Person sowie ihre bleibende Verbindung zugleich auszusa265 A. a. O., 479. Lipsius spielt hier auf die berühmte Formel von Strauß an: „Die wahre Kritik des Dogmas ist seine Geschichte.“ D F S: Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft, Tübingen 1841, 71. 266 L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 498. 267 Vgl. a. a. O., 490. 268 Vgl. a. a. O., 497. 269 Vgl. a. a. O., 496. 270 Vgl. a. a. O., 494.

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gen. Christus erscheint nämlich als Verwirklichung des Ideals des vollkommenen religiösen Verhältnisses, ist aber zugleich selbst Ursache der Kräftigkeit des religiösen Verhältnisses innerhalb der christlichen Gemeinschaften.271 Diese Verknüpfung von Prinzip und Person bleibt jedoch nach Lipsius’ Urteil, das der Kritik Baurs verwandt ist, bei Schleiermacher letztlich abstrakt, sodass die Christologie Schleiermachers im Konkreten wieder doketisch erscheint.272 „[D]ie Person Christi ist eben die Verwirklichung des menschlichen Gattungsbegriffes als solchen in seiner reinen Idealität.“273 Das konkrete Lebensbild Christi, insbesondere in der von Lipsius immer wieder hochgehaltenen Gethsemane-Perikope, kann nicht in Schleiermachers Entwurf integriert werden. Es bleibt so vorerst eine offene Aufgabe der Dogmatik, erklärlich zu machen, warum sich die Offenbarung des christlich-religiösen Prinzips zunächst an die Person Christi gebunden hat. Hier ist die christologische Reflexion an die religiöse Gemeinschaft als Trägergruppe des Bewusstseins der historischen Offenbarung in Jesus Christus verwiesen.274 Entstammen ihr doch die Zeugnisse über Leben und Werk Jesu. Das religiöse Bewusstsein der frühen christlichen Gemeinschaft hat sich gerade in dogmatischen Aussagen über Person und Werk Jesu Christi niedergeschlagen.275 Warum hat die „erfahrungsmässige Wirklichkeit und Wirksamkeit jenes Prinzips in Christi Person und Werk ihren geschichtlichen Grund“276? Diese Frage gilt es, in der Christologie zu beantworten, gerade ohne einer unmittelbaren Identifizierung von Prinzip und Person das Wort zu reden. Wie können nun Person und Prinzip unterschieden werden und zugleich die Bindung des Prinzips an eine geschichtliche Person durch frühe Christinnen und Christen plausibel gemacht werden?277 Die Lösung, welche Lipsius für diese Frage anbietet, macht das freiheitstheologische Profil seiner Christologie deutlich. Denn er erklärt die Bindung des christlichen Prinzips an eine Person, indem er das christliche Prinzip des religiösen Verhältnisses als Persönlichkeitsideal entschlüsselt. Es ist das Ideal religiöser Erhebung zu einem freien Persönlichkeitsleben, das an ein konkretes Leben – eine konkrete Persönlichkeit – gebunden wirksam in die Geschichte eingetreten ist. So ist es nicht ein äußerliches Lebensbild, das mit Christus in die Welt getreten ist, sondern ein persönliches Selbstbewusstsein. Nicht dem äußerlichen Menschen gilt so die christliche Verehrung:

271

Vgl. a. a. O., 495. Vgl. ebd. 273 Ebd. 274 Vgl. a. a. O., 538. 275 Vgl. ebd. 276 A. a. O., 539. 277 „Das Einsgewordensein von Person und Princip für die unmittelbare gläubige Anschauung der Gemeinde ist nach dem Allem mindestens als eine Thatsache des subjectivfrommen Bewustseins anzuerkennen, die aufgehellt sein will, auch wenn das wissenschaftliche Denken beides wieder unterscheiden muss.“ A. a. O., 545. 272

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Die religiöse Bedeutung der Person besteht also nicht in ihrer geschichtlichen Erscheinung als solcher, sondern in dem substantiellen Gehalte ihres persönlichen Selbstbewusstseins und Lebens, oder in dem Ewigen und Ideellen, was in und durch die Person ans Licht getreten ist.278

So ist das Ideelle des christlichen Prinzips, das in Christus urbildlich in Erscheinung getreten sein soll, aber auch nicht losgelöst von der geschichtlichen Person erfassbar. Entsprechend kann die religiöse Bedeutung Jesu nicht auf eine moralische, philosophische oder gar ästhetische Lehre enggeführt werden, da all dies von der Persönlichkeit Jesu ablösbar wäre, „ein religiöses Prinzip aber kann sich nur als persönliches Selbstbewusstsein und durch persönliche Selbstdarstellung offenbaren.“279 Die historische Offenbarung in Jesus Christus kann nicht von seiner Person abgelöst werden, da sie eine spezifische Gestalt von Persönlichkeit zum Gegenstand hat. Hier wiederholt sich erneut die doppelsinnige Subjektivität religiöser Erfahrung. Die Verbindung von Prinzip und Person ergibt sich aus der Perspektive des Glaubens, die nur subjektive Geltung für sich behaupten kann. Zugleich ist der Inhalt dieser religiösen Erfahrung selbst als Subjektivität zu bestimmen. Die historische Offenbarung in Jesus Christus bleibt an seine Person gebunden, da sie die Offenbarung einer Subjektivität religiös-freier Persönlichkeit ist. Die Gottesoffenbarung in Jesus ist „nicht blos Lehre, sondern Leben“280. Als ein solches Leben ist Jesus Urbild der religiösen Erhebung zur Freiheit in der gotteskindschaftlichen Lebensgemeinschaft mit Gott. Er ist die Erfüllung für „die menschliche Lebensbestimmung zur Verwirklichung religiöser Freiheit über die Welt, durch innere Erhebung über die äussere Gesetzesverbindlichkeit und über die der Sinnlichkeit, Selbstliebe und Weltliebe entspringenden Versuchungen zur Sünde“281. Gerade in seiner Überwindung menschlicher Endlichkeit erweist Jesus seine Gotteskindschaft. „Diese seine Gottesgemeinschaft ist also unmittelbar Eins mit seiner Freiheit über die Welt; hat diese in jener ihren innern Grund, so jene an dieser ihre stete Bewährung.“282 Das vollkommene religiöse Verhältnis soll also in der Person Jesu unter Bedingung menschlicher Endlichkeit erscheinen. Aber dafür braucht es eine „siegreiche Ueberwindung aller Versuchungen und innerer Schwankungen“283, wie sie nach Lipsius mustergültig in der Gethsemane-Perikope vor Augen steht, und nicht eine gänzliche idealisierte Enthobenheit über alles menschliche Schwanken. Nicht das absolute Leben Gottes selbst ist Mensch geworden, auch nicht der absolute Gedanke selbst, sondern Gott als Geist ist gegenwärtig im Menschengeiste, und diese Gegenwart ist im vollkommenen religiösen Verhältnisse persönliche Offenbarung der göttlichen Liebe in einem persönlichen mit Gott in der Liebe geeinten Menschenleben. Von 278

A. a. O., 541. Vgl. a. a. O., 542. 280 A. a. O., 583. 281 A. a. O., 565. 282 A. a. O., 567. 283 A. a. O., 573. 279

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dieser Liebe sagt der christliche Glaube aus, sie sei in Christus, als Offenbarung des innersten Wesens und Willens Gottes, sein ganz persönliches Dasein, sein Wollen und Wirken erfüllend erschienen; und er gründet sein Recht zu dieser Aussage einfach auf das Selbstbewustsein der christlichen Gemeinde von der in Christus und durch Christus ihr aufgeschlossenen Gewisheit ihrer Liebesgemeinschaft mit Gott. Dies allein kann die ,Gottheit Christi‘ besagen wollen.284

Gegenüber Schleiermacher fordert Lipsius also, das biblische Lebensbild Christi stärker als konkrete Erzählung eines urbildlichen Erhebungsprozesses über seine Naturbestimmtheit in die Christologie einzubeziehen und dabei die menschliche Seite dieser Erzählung zu stärken. Damit Jesu Leben und Werk als Überwindung der endlichen Versuchungen erscheinen kann, muss seine Endlichkeit als etwas zu Überwindendes konkreter Teil des religiös verehrten Lebensbildes Jesu sein. Es ist eine urbildliche Emanzipationserzählung zu vollkommener religiöser Freiheit in Lebensgemeinschaft mit Gott. Zusammenfassend lässt sich herausstellen: Die dogmatische Reflexion der historischen Offenbarung kommt zu dem Schluss, dass die göttliche Geistesgegenwart im menschlichen Geist urbildlich in Jesus Christus offenbar geworden ist und dass darin die Gottheit Christi begründet liegt. Diese Offenbarung muss an eine geschichtliche Persönlichkeit gebunden sein, denn es geht in ihr um den Kern menschlicher Persönlichkeit, der geistigen Freiheit und Erhabenheit über die Naturnotwendigkeit. Diese das menschliche Leben konstituierende Freiheit des Geisteslebens findet in seiner Vollkommenheit für Christenmenschen ein Urbild in Jesus. Zugleich wird dabei die Freiheitserfahrung mit einem Richtungssinn versehen, der das freie Geistesleben als Erzeugnis göttlicher Liebe fasst und den Menschen zur Gotteskindschaft erhebt. In der Verwirklichung der religiösen Freiheit besteht das Heil des Christenmenschen. Christus ist Urbild dieser prinzipiellen Botschaft und so lässt sich das Ideal der Erhebung über die Natur und seiner Heilsbedeutung nicht von Jesu Leben ablösen, da es ihre Bestimmtheit in seinem Lebensbild findet. Diese Bestimmtheit ist nur nicht mit einer Gleichsetzung von Prinzip und Person zu verwechseln. So ist es Aufgabe der Dogmatik, den religiösen Gehalt des christlichen Glaubens von zeitbedingten Zeugnissen über Jesus abzuheben, um ihren prinzipiellen Rang klarzustellen.

c. Die Zueignung der Freiheit – Zur Pneumatologie Die Pneumatologie reflektiert unter dem Titel „Oekonomie des Geistes“285 die Zueignung des in Christus historisch offenbarten Heils an Individuen und die christliche Gemeinschaft. Subjektive Zueignung von Erlösung und Versöhnung sowie die Fassung religiöser Gemeinschaft als geschichtliches Mittel zur Vermittlung des Heils sind ihre zentralen Gegenstände.286 Die Reflexion des Geistes 284

A. a. O., 578–579. A. a. O., 591. 286 Vgl. a. a. O., 591–592. 285

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nimmt in Lipsius’ Hauptwerk – im Vergleich zur Theo- und Christologie – wenig Raum ein. Er stellt fest: „Die Lehre vom heiligen Geiste ist in der kirchlichen Dogmatik so gut wie ohne Ausführung geblieben.“287 Systematisch kommt ihr dennoch ein zentraler Ort in der christlichen Weltanschauung als Ausdruck der Wirksamkeit des christlichen Prinzips zu. In ihr reflektiert Lipsius die Präsenz des göttlichen Geistes im menschlichen Geist und damit die Form des religiösen Verhältnisses. So ist auch sie mit der antinomischen Struktur des religiösen Verhältnisses konfrontiert und hat zur Aufgabe, das Ineinander von göttlichem und menschlichem Wirken in der religiösen Erhebung zur Freiheit ausdrückbar zu machen. In seinen Ausführungen stellt Lipsius unterschiedliche Bestimmungen des Heiligen Geistes nebeneinander, die sich verschiedenen Perspektiven verdanken. Die kirchliche Lehre vom Geist als göttliche Person verschiebt Lipsius auf die Reflexion der Trinitätslehre und misst ihr keinen wesentlichen Gehalt für die Pneumatologie bei.288 Aus der Perspektive frommen Erlebens stellt sich der Heilige Geist als die Offenbarung der göttlichen Liebe im Menschengemüth, als göttlicher Gnadentrost im Gefühlsleben, als göttliche Gnadenkraft im Willen des Menschen [dar], daher der Fromme sein höheres Leben ausschließlich auf die Gnadenwirkung des in ihm gegenwärtigen Gottesgeistes zurückführt, ohne dass dadurch jedoch die Einheit des menschlichen Geisteslebens durchbrochen oder die subjectiv-psychologische Vermittlung des Heilsbewusstseins an irgend einem Punkte aufgehoben würde.289

Gerade in der religiösen Vorstellung von der Geistwirksamkeit konkretisiert sich das Christentum als Gnadenreligion. Das menschliche Geistesleben wird in ihr auf Gottes freie Gnadenwirksamkeit zurückgeführt. Aus der spekulativen Perspektive der religionsdogmatischen Bestimmung repräsentiert die Rede vom heiligen Geist dieses Fungieren Gottes als Grund, Norm und Prinzip des menschlichen Geisteslebens im menschlichen Geistesleben. Der heilige Geist ist seinem Wesen nach gar nichts andres, als der göttliche Geist in seiner Immanenz im menschlichen Geiste, oder der im endlichen Geistesleben des Menschen sich als absoluter Grund, absolute Norm und absolutes teleologisches Princip bethätigende unendliche Geist.290

Im religiösen Erleben kommt diese formelle Rückführung des Geisteslebens auf Gott einer Anreicherung des Geisteslebens mit einer Heilsdimension gleich. Die eigene Erhebung über die Natur wird in der Religion als Ausgießung göttlicher Liebe, im Gefühl als Trost und Versöhnung, im Willensleben als Kraft zum Guten und Erneuerung der Willensrichtung erlebt.291 Nach Lipsius sind diese Erfah287

A. a. O., 592. Vgl. a. a. O., 597. 289 Ebd. 290 A. a. O., 598. 291 Vgl. ebd. 288

5. Das christliche Prinzip – Die Offenbarungsdreiheit

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rungsmomente jedoch nicht als externe Eingriffe in das menschliche Selbstbewusstsein oder als äußere Eindrücke zu bestimmen, sondern sie verdanken sich einer bestimmten Form des Selbsterlebens. Das Wirken des Geistes ist auch hier nicht als ein Wirken von außen auf die freie menschliche Selbsttätigkeit zu verstehen, sondern ist eine spezifische Perspektive auf die menschliche Selbsttätigkeit selbst. Es ist eine hölzerne Theologie, welche von dem ,Zeugnisse des Geistes‘ keine Erfahrung zu besitzen behauptet, weil sich der Unterschied von Gnadenwirkungen und dem eigenen innern Verhalten des Menschen empirisch nicht nachweisen lasse. Aber dieser Nachweis ist ganz einfach darum nicht möglich, weil das göttliche Geisteswirken im Menschen und dessen eigne religiös-sittliche Thätigkeit nicht zwei verschiedene äusserlich aufeinander bezogene Thatsachen, sondern die beiden wesentlichen Moment eines und desselben untheilbaren inneren Vorgangs sind292.

Dieses behauptete Ineinander von göttlichem und menschlichem Geist zu denken, stürzt auch die pneumatologische Reflexion in eine spannungsreiche Grundkonstellation. Die Bestimmung des Heiligen Geistes als zueignende Gnade ist Ausdruck einer Passivität des menschlichen Heilserwerbs. Das Verhältnis von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit entpuppt sich jedoch dabei als eine Antinomie, die es kritisch aufzulösen gilt. Einerseits soll allein die heilsbewirkende Gnade das menschliche Heilsleben begründen. Andererseits soll gerade die menschliche Freiheit die Erscheinungsform des menschlichen Heilslebens sein und so muss ein Determinismus auch in Fragen des Heilsaneignung vermieden werden. Denn der Mensch soll auch in seiner Heilsaneignung als wirkliche freie Persönlichkeit bestimmt werden können.293 Auf diese Weise bleibt auch die menschliche Heilsaneignung als ein psychologischer Prozess im Menschen beschreibbar. Wird das Verhältnis göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit in der Aneignung des Heils als ein in endlichen Kategorien gefasstes Gegenüber getrennter Kräfte modelliert, scheitert die Dogmatik an der Antinomie. Es bleiben nur die Optionen einer naturalistischen Bestreitung göttlicher Gnadenwirkung, deterministische Bestreitung menschlicher Freiheit oder schließlich eine pantheistische Bestreitung des Unterschieds zwischen menschlichem und göttlichem Wirken.294 Demgegenüber braucht es eine kritische Unterscheidung der Perspektiven psychologischer Beschreibung menschlicher Freiheit und ihrer spekulativ-theologischen Deutung. Das Wirken göttlicher Gnade und das menschlicher Freiheit müssen als zwei kategorial unterschiedene Momente eines numerisch identischen Prozesses gefasst werden. Menschliche Freiheit ist ein im Menschen und durch den Menschen sich ereignendes Geschehen und kann trotzdem voll und ganz auf die ideelle Wirkung göttlicher Gnade zurückgeführt werden.

292

A. a. O., 599. Vgl. a. a. O., 614. 294 Vgl. ebd. 293

152

II. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876

Gnadenwirkung und Freiheitsbethätigung sind also nur die zusammengehörigen Momente eines und desselben einheitlichen Lebensprocesses, jene also in keinem Momente ohne diese und umgekehrt; wohl aber hat diese in jener immer ihren geistigen Grund.295

Demnach ist das offenbarende Wirken des Heiligen Geistes als zueignende Gnade in seiner psychologischen Erscheinungsform menschliche Freiheit, die sich über die Naturverflochtenheit des Menschen erhebt. In diesem Sinne ist die Pneumatologie eine Reflexionsfigur der menschlichen Freiheit als göttliche Offenbarung. Dabei erfährt die Freiheitserfahrung eine Auslegung, die sie mit einer Heilsdimension versieht. Menschliche Freiheit über die Natur wird mit der christlichen Rede vom Heil zusammengeführt und so in einen umfassenden Sinnhorizont eingestellt. „Seinem allgemeinen geistigen Gehalte nach ist der Heilsprocess die Verwirklichung des gottebenbildlichen Wesens des Menschen, oder seiner geistigen Freiheit über die Welt in der religiösen Abhängigkeit von Gott“296. Hier zeigt sich noch einmal der freiheitstheologische Fokus von Lipsius’ Dogmatik in aller Deutlichkeit. Wie auch die Analysen der Gotteslehre und der Christologie ergeben haben, bezieht Lipsius die materialdogmatischen Bestände des Christentums auf das in der Religionstheorie freigelegte religiöse Freiheitsgeschehen der Erhebung des Menschen über seine Natur. Mit der ökonomischen Trinität – dem Wirken des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes – reflektiert Lipsius Quell, Urbild und Zueignung der Freiheit, die sie auf ein selbstoffenbarendes Wirken Gottes zurückführt.

6. Dogmatik der Freiheit – Zwischenfazit Die Rekonstruktion der theologischen Systematik von Lipsius’ dogmatischem Hauptwerk hat gezeigt, wie er Dogmatik auf das Entwerfen einer christlich-religiösen Weltanschauung und ihrem Prinzip ausrichtet. Dogmatik wird als Disziplin wissenschaftlicher Selbstklärung christlichen Glaubens eingeführt, die auf eine Selbstdurchsichtigkeit des christlichen Glaubens zielt und dabei sich zugleich darum bemüht, eine Aneignung der christlichen Glaubenstradition durchzuführen, die mit dem modernen Wahrheitsbewusstsein zusammen bestehen kann. Dies setzt er freiheitstheologisch um. Die psychologische Religionstheorie entschlüsselt Religion als Erhebung über eine anthropologische Grundspannung zwischen endlicher Freiheit und endlicher Abhängigkeit über die unendliche Abhängigkeit von Gott zur unendlichen Freiheit. Religion ist demnach ein Freiheitsgeschehen, das seinen Grund in einer absoluten Macht hat. Auffällig ist hierbei, wie nah Lipsius die Rede von religiöser Freiheit von der Natur an die generelle Freiheit menschlichen Geisteslebens heranführt. Jede innere Distanznahme zu unmittelbaren Reizen, jeder Rekurs auf 295 296

A. a. O., 616. A. a. O., 647–648.

6. Dogmatik der Freiheit – Zwischenfazit

153

überempirische Ideen, jedes Selbstgefühl, setzt diejenige Erhabenheit des menschlichen Bewusstseins über die Natur voraus, die er paradigmatisch in der Religion verwirklicht sieht. Der Gottesbegriff kommt so als Bedingung der Möglichkeit selbstbewussten menschlichen Lebens in den Blick und wird transzendentalphilosophisch motiviert. Die Religionsdogmatik schließt an diesen Gottesbegriff an und setzt ihn als tatsächliche Wirklichkeit. Das freie menschliche Geistesleben erscheint so als Wirken des göttlichen Geistes im Menschengeist; Freiheit wird als Gottes Selbstoffenbarung deutend erlebt. Auf diese Weise finden die dogmatischen Gehalte des Christentums einen Bezugspunkt im menschlichen Freiheitsgeschehen, das sie theologisch auslegen und fundieren. Damit wird die menschliche Erhebung über die Natur zur Freiheit als ein Mysterium aufgefasst und ihre prinzipielle Unerklärlichkeit behauptet. Sie ist eine Grenze wissenschaftlichen Erklärens und als eine prinzipielle Grenze des Wissens eröffnet sie einen Übergang in eine Glaubensperspektive, die der subjektiven Gewissheit des freien Erlebens aufruht. Diese Glaubensperspektive erfordert, das religionsdogmatisch adressierte Ineinander von göttlichem Wirken und menschlicher Selbstwirksamkeit denken, erleben und plausibilisieren zu können. Hier setzt die religiöse Erkenntnistheorie an und reflektiert religiöse Erkenntnis als bildliche Vorstellungsbildung. Ihre kritische Reflexion muss diese Bildlichkeit religiöser Aussagen herausstellen und bewussthalten. In Bezug auf das religiöse Verhältnis zwischen Menschen und Gott gilt es besonders, das göttliche Wirken auf einer kategorial anderen Ebene als das naturkausale Wirkungsgeflecht anzusetzen. Endliche und unendliche Kategorien müssen unterschieden bleiben, um sie wechselseitig aufeinander beziehen zu können statt sie als gegenläufige Kräfte verstehen zu müssen. Mit Deismus, Pelagianismus, Determinismus und Pantheismus sind die Grenzen bildlicher Konzeptualisierungen des Ineinanders von göttlichem und menschlichem Wirken, von Immanenz und Transzendenz, markiert. Der christliche Glaube wird als historisch konkrete Modifikation des Offenbarungsglaubens eingeführt. Das Christentum gilt Lipsius als höchste Religionsform, da sie ihm zufolge das höchste Maß der Selbstdurchsichtigkeit des religiösen Prinzips bietet und das menschliche Freiheitsgeschehen Religion in einen umfassenden soteriologischen Horizont stellt. Konstitutives Merkmal des Christentums ist der Bezug auf Jesus Christus als historische Offenbarung des vollkommenen religiösen Verhältnisses. Vermittels der ökonomischen Trinität von Vater, Sohn und Heiligem Geist wird dieser Glaube an eine historische Offenbarung mit dem religionstheoretischen Offenbarungsbegriff verwoben. Die Gotteslehre wird als Reflexionsform des Quells der Freiheit angeeignet. Jesus Christus wird als wirksamer Eintritt eines Prinzips vollkommenen religiösen Verhältnisses in die Geschichte gefasst und die traditionelle Erinnerung an ihn als Urbild der religiösen Freiheit angeeignet. Die Pneumatologie schließlich reflektiert die individuelle und kollektive Aneignung des christlichen Urbilds als eigene Form göttlicher Wirksamkeit und somit die göttliche Zueignung religiöser Freiheit. Auf

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II. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876

diese Weisen werden traditionelle Symbole des christlichen Glaubens auf die menschliche Erhebung zur Freiheit bezogen. Der christliche Glaube wird als Freiheitsglaube inszeniert, der menschliches Leben aus Freiheit mit einer Heilsdimension versieht und es in einen Sinnhorizont einstellt. Damit diese Art des Freiheitsglaubens mit dem modernen Wahrheitsbewusstsein zusammenbestehen kann, fordert Lipsius, den christlichen Symbolen inhärente Spannungsmomente bewusst zu halten und nicht einseitig aufzulösen. Die Verbindungen von göttlicher Absolutheit und Persönlichkeit, von christlichem Prinzip und der historischen Person Jesu und die Verbindung von göttlicher Gnadenwirksamkeit und menschlicher Selbsttätigkeit haben eine antinomische Struktur, die nur eine bildliche Auflösung erlaubt und so auf ein stetiges Gegenüber von erfahrungsfundierter bildlicher Rede und ihrer kritischen Läuterung angewiesen bleibt.

III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879 Das systematisch-theologische Denken von Lipsius präsentiert sich nach der Veröffentlichung des Lehrbuchs der evangelisch-protestantischen Dogmatik reaktiv und diskursiv. Er reflektiert, präzisiert und reformuliert die Hauptpunkte seiner Theologie vor dem Hintergrund zeitgenössischer Herausforderungen und expliziter Kritiken. Dabei stehen in den beiden Jahren 1877 und 1878 vier Diskursfelder im Vordergrund: die Reaktion auf einen erstarkenden Materialismus, der Streit mit Albrecht Ritschl und Wilhelm Herrmann, der Diskurs über Metaphysik mit Alois Emanuel Biedermann und schließlich die ambivalente Rezeption des Neukantianismus von Friedrich Albert Lange. In allen vier Zusammenhängen schärft Lipsius das freiheitstheoretische und offenbarungstheologische Profil seiner liberalen Theologie und verortet es zwischen den Schulrichtungen seiner Zeit. Der große Einfluss von Lipsius’ kritischer Auseinandersetzung mit dem Materialismus auf sein weiteres Werk lässt sich vor allem in den beiden Vorträgen Die Gottesidee und Die Weltregierung greifen. Durch sie treten praktische Argumentationsmuster der Religionstheorie von Lipsius in den Vordergrund und werden stärker von philosophischer Spekulation abgehoben. Die wichtigste Quelle für die systematische Theologie dieser Jahre sind jedoch die Dogmatischen Beiträge zur Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs von 1878. Grundsätzlich lässt sich eine große und überwiegend positive Resonanz auf Lipsius’ Dogmatik konstatieren. Dabei wurde es von Beginn an nicht als ein Lehrbuch, sondern als Entfaltung eines neuen theologischen Systems wahrgenommen.1 In seinen Dogmatischen Beiträgen positioniert Lipsius dieses System nun als eine Mittelposition zwischen den Theologien Ritschls und Biedermanns, indem er sich ausführlich gegen Rezensionen von Herrmann und Biedermann verteidigt.2 Neu ist dabei

1

Dass mit Lipsius’ Lehrbuch ein neues theologisches System auftritt, heben Holtzmann und Nitzsch in ihren Rezensionen hervor. H, Rez. Lehrbuch der evangelischprotestantischen Dogmatik 1876; F N: Rez: Lipsius, Kirchenrath Prof. Dr. Rich. Adelb., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik. Braunschweig 1876, in: Theologische Literaturzeitung (1877) 10, 266–271. Wittichen fasst Lipsius’ Dogmatik hingegen als Summe historischer Erkenntnisbemühungen in der Dogmatik. Vgl. K W: Rez: Lipsius, Dr. Rich. Adal., Kirchenrath u. Prof., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik. Braunschweig, 1876., in: Literarisches Centralblatt für Deutschland (1877) 17, 553–557. 2 Diese Selbstpositionierung macht Lipsius bereits in einer Selbstanzeige seines Haupt-

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III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

auch eine starke Rezeption der neukantischen Philosophie Langes, mit dessen Mitteln Lipsius seine Erkenntnistheorie der Religion neu fundiert. In Abgrenzung von Langes Taxierung religiöser Vorstellungen als lebensdienlicher Dichtung lässt sich Lipsius jedoch auch herausfordern, unmittelbare Wahrheitsansprüche religiöser Vorstellung zu verteidigen. Den Abschluss dieser Werkphase bildet 1879 die zweite Auflage seines Lehrbuchs der evangelisch-protestantischen Dogmatik, die nur geringfügige Präzisierungen und Anpassungen vornimmt, sodass die starke Kontinuität von Lipsius’ Position durch die frühen Diskurse um sein Hauptwerk hindurch markanten Ausdruck findet.

1. Freiheit und Materialismus – Die Gottesidee und Die göttliche Weltregierung Mit den beiden Vorträgen Die Gottesidee von 1877 und Die göttliche Weltregierung von 1878 lässt Lipsius eine intensivierte Auseinandersetzung mit dem erstarkenden Materialismus erkennen. Er erscheint dabei als die größte Herausforderung einer christlich-religiösen Weltanschauung. Dem gegenüber macht sich Lipsius zur Aufgabe, den Gottesgedanken als ein Freiheitsbedürfnis und teleologisches Muster der Wirklichkeitsbeschreibung als unabdingbares Element christlicher Soteriologie zu verteidigen, was beides mit materialistischen Grundannahmen unvereinbar ist. Ein Materialismus der zeitgenössischen Naturforschung stand Lipsius konkret in der Gestalt von seinem Jenaer Kollegen, dem Zoologen Ernst Haeckel, vor Augen. Haeckel kann als früher Importeur des Darwinismus in Deutschland gelten, der einerseits die darwinische Evolutionstheorie bedeutend weiterentwickelt und andererseits sie zu einer umfassenden monistischen Weltanschauung fortgebildet hat. Haeckel steht für einen Materialismus, der sich dezidiert als Wissenschafts- und Naturglauben gegen Religion aufstellt. Besonders mit dem ungeheuren Erfolg seines späteren Werkes Die Welträtsel von 1899 wurde er zu einem wirkmächtigen Wegbereiter eines Materialismus mit konfessionellen Zügen.3 So entstand unter seinem Einfluss 1906 in Jena werks, Ein Vorwort zu einem Vorwort, von 1876 explizit, noch bevor Biedermann und Wilhelm Herrmann mit ausführlichen Rezensionen auf Lipsius’ Hauptwerk reagiert haben. Vgl. L, Ein Vorwort zu einem Vorwort, 644. Die Auswahl der beiden theologischen Referenzen, Biedermann und Ritschl, hat auch gewichtige biographische Gründe. Mit Biedermann verbindet Lipsius viele positionelle Konvergenzen und eine längere Freundschaft. Siehe Kap. I.4.a. Besonders dem Verhältnis zwischen Ritschl und Lipsius liegt eine lange Freundschaftsund Entfremdungsgeschichte zugrunde, welche sich in feindseligen Polemiken niedergeschlagen hat. Siehe Kap.III.2.a. Die größte theologische Nähe hingegen stellt Lipsius zwar zu Alexander Schweizer heraus, die sich aus der starken Orientierung an Schleiermacher und der gemeinsamen Skepsis gegenüber philosophischen Domestizierungsversuchen der Dogmatik ergibt. Vgl. ., Ein Vorwort zu einem Vorwort, 644. Schweizers Theologie ist in den Dogmatischen Beiträgen jedoch nicht explizit verhandelt. 3 E H: Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Phi-

1. Freiheit und Materialismus – Die Gottesidee und Die göttliche Weltregierung 157

der Deutsche Monistenbund.4 Sein dezidiert über wissenschaftsmethodische Fragen hinausweisendes weltanschauliches Engagement hat sein Wirken bereits in den 1870er Jahren in Konkurrenz zur dogmatischen Weltanschauungskonstruktion von Lipsius treten lassen. Ab 1872 war Lipsius maßgeblich in universitätspolitische Konflikte mit Haeckel involviert, in denen Lipsius einer materialistisch motivierten Geringschätzung von geisteswissenschaftlichen und idealistischen Ansätzen vorbeugen wollte.5 In Die Gottesidee und Die göttliche Weltregierung begegnet Lipsius dem Materialismus einerseits, indem er bereits vertraute Motive seiner freiheitstheoretischen Religionsauffassung und seiner erkenntnistheoretischen Unterscheidung von Glauben und Wissen als Scheidung von einer weltanschaulichen und naturwissenschaftlichen Geltungssphäre aufruft. Andererseits nimmt Lipsius dabei den Materialismus als weltanschauliche Option ernster und fragt nach seinen Plausibilitätsmomenten.6 Entscheidend ist für die weitere werkbiographische Entwicklung, dass sich eine grundlegende Akzentverschiebung seiner gesamten theologischen Systematik vom Theoretischen zum Praktischen zeigt, die sich vor losophie, Bonn 41899. Zur Feststellung konfessioneller Züge des von Haeckel angestoßenen Monismus’: Vgl. S, Philosophie in Deutschland 1831–1933, 124. 4 Vgl. G H: Art. Monistenbund, in: Hans Dieter Betz u.a. (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart, vierte, völlig neu bearbeitete Auflage, Tübingen 1998–2005, 1450. 5 Konkret studieren lässt sich diese universitätspolitische Frontstellung an der Besetzungsfrage um die Nachfolge des Jenaer Philosophen Kuno Fischer. Eine Gruppe naturwissenschaftlicher Professoren um Haeckel hat den Berliner Philosophen Karl Eugen Dühring (1833–1921) auf die Berufungsliste setzen lassen. Von Dührings materialistischem Ansatz versprach sich Haeckel Unterstützung in seinen weltanschaulichen Überlegungen. In einem Gutachten verwarf Lipsius ausdrücklich eine Berufung Dührings mit dem Argument, einer sich verbreitenden materialistischen Ablehnung von Geisteswissenschaften und ideeller Weltanschauung an der Jenaer Fakultät entgegenzutreten. Vgl. I, Liberale Theologie in Jena, 39. 6 Wolfgang Reu vertritt die These, dass der Vortrag Die Gottesidee eine fundamentale Wende innerhalb der Werkbiografie von Lipsius markiert. Erstmals trete hier der Materialismus als ernstzunehmende Gegenposition auf. Zuvor im Lehrbuch habe Lipsius Materialismus lediglich als unmoralische Position oder philosophischen Dilettantismus abgetan. Vgl. R, Die Grundlegung der christlichen Dogmatik als Wissenschaft bei Lipsius, 39. Diesen Dilettantismus unterstellt Lipsius im Lehrbuch allen naturphilosophischen Versuchen, das Weltganze ohne eine Idee des Absoluten mechanisch zu erklären. Den materialistischen Monismus fasst Lipsius als einen möglichen Fall mechanistischer Weltanschauung. Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 185. Die Auseinandersetzung mit dem Materialismus hat aber schon die programmatischen Vorträge von 1871 geprägt. Siehe Kap. I.5.a. Während Lipsius dort den Materialismus noch als ein flüchtiges Übergangsphänomen der erkenntniskritischen Moderne fassen konnte, stellen die Texte von 1877/78 tatsächlich den Materialismus als größere Herausforderung dar. Allerdings spricht gegen die These einer grundlegenden Wende, dass Lipsius auch 1877/78 bereits etablierte Argumentationsmuster in seiner Auseinandersetzung mit dem Materialismus bemüht und bei seinen Überarbeitungen für die zweite Auflage seines Lehrbuchs die Klassifizierung des Materialismus als philosophischen Dilettantismus noch verstärkt. Vgl. ., Lehrbuch der evangelischprotestantischen Dogmatik 1879, 189. Siehe zudem Kap. III.3.

158

III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Materialismus motivieren lässt. Durch sie wird der Freiheitsfokus der Theologie von Lipsius weiter gestärkt. Die Gottesidee: Der Vortrag Die Gottesidee wurde von Lipsius 1877 in der deutsch-reformierten Kirche in Frankfurt am Main gehalten und bietet eine Apologie des Gottesgedankens als ein Freiheitsbedürfnis des Menschen gegenüber atheistischen Implikationen des Materialismus. Damit reagiert Lipsius auf seine Wahrnehmung einer verbreiteten Abwendung vom Gottesglauben und Religion im Allgemeinen. Gegenüber früheren Auseinandersetzungen mit atheistischem Materialismus betont er hier die große Ernsthaftigkeit und das wissenschaftliche Fundament dieser Bewegung.7 Dem modernen Materialismus eignet nach Lipsius zudem eine neuartige Radikalität, welche nicht nur Gottesbilder oder personalistische Bestimmungen des Absoluten problematisiert und umformt, sondern die Axt an die Wurzel der Religion überhaupt legt. Hierbei ist die Infragestellung des Religiösen fundamentaler als beispielsweise in David Friedrich Strauß‘ prominenter Abwendung vom christlichen Gottesglauben in Der alte und der neue Glaube von 1872. Selbst Strauß‘ Neuer Glaube mit seiner Andacht zum Universum sei noch implizit von einer Gottesidee oder zumindest einer Form des Absoluten durchdrungen.8 Auch die Bestreitung einer Persönlichkeit Gottes in pantheistischen Weltdeutungsmodellen unterbietet die grundlegenden Einschnitte in die religiöse Vorstellungswelt des Materialismus. Die radikale, offene, rückhaltlose Gottesleugnung aber hat erst der Materialismus gebracht, der in den Kreisen der heutigen Naturforschung – ich darf nicht sagen die alleinherrschende, aber doch die zur Zeit vorwiegende Richtung bildet.9

Unter Materialismus versteht Lipsius „die konsequent mechanische Weltanschauung“10. In ihr wird die gesamte Wirklichkeit auf einen naturkausalen Zusammenhang der Materie reduziert. Sinnfällig wird ihm dies in der Erklärung aller psychischen Erscheinungen und damit auch des menschlichen Geistes allein aus physischen Ursachen. Geist ist nach dieser Weltanschauung nur eine Funktion der bewegten und bewegenden Stoffe; die Vorstellungen sind molekulare Anziehungen und Abstoßungen im Zentralnervensystem, Empfindungen und Willensakte verwickelte Bewegungen der Eiweißmoleküle in den Ganglienzellen.11

Nicht die mechanische Erklärung selbst, sondern die Reduktion der gesamten Wirklichkeit darauf, ist das weltanschauliche Moment und die Herausforderung 7

Vgl. .: Die Gottesidee. Vortrag, gehalten in der deutsch-reformierten Kirche zu Frankfurt a. M., in: Ders.: Glauben und Wissen. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Berlin 1897, 62–83, hier 65. 8 „Man fühlte es ganz richtig heraus, daß das vernünftige und gütige Universum im Grunde nur ein anderer Name sei für eine vernünftige und gütige Gottheit.“ A. a. O., 64. 9 A. a. O., 67. 10 Ebd. 11 A. a. O., 68.

1. Freiheit und Materialismus – Die Gottesidee und Die göttliche Weltregierung 159

aller Religion. Als methodisch festgelegte Perspektive naturwissenschaftlicher Forschung ist Materialismus nach Lipsius berechtigt und aus religiöser Perspektive nicht anstößig. Erst das reduktive Moment macht den Materialismus zu einer Weltanschauung, „die ebenso dogmatisch, ebenso unkritisch, ebenso unbeweisbar ist, als die von ihr verhöhnte altkirchliche Dogmatik.“12 Problematisch ist an dieser Reduktion nach Lipsius, dass sie die Selbsterfahrung des inneren geistigen Lebens der Menschen nicht angemessen in die eigene Weltanschauung integrieren kann und es stattdessen als illusorisches Epiphänomen herabsetzen muss. Indem aber der Materialismus seine in der Naturwissenschaft für die Erklärung der räumlichen Erscheinungen völlig berechtigte Methode als den einzigen Schlüssel zum Verständnisse des Welträthsels betrachtete, trat er zugleich in unversöhnlichen Gegensatz mit einer idealen Betrachtung der Welt und des Menschengemütes, mit den Thatsachen und Erfahrungen unseres inneren Lebens, die noch auf ganz andere Realitäten hinweisen als auf Atomgruppen und Molekularbewegungen, und noch auf einen höheren Zusammenhang als auf die Verkettung mechanischer Ursachen und Wirkungen in Zeit und Raum.13

Gegenüber dem Materialismus fordert Lipsius einen kritischen Standpunkt ein, der zwischen dem gesicherten Erfahrungswissen und ihren weltanschaulichen Ausdeutungen zu unterscheiden erlaubt.14 Während das gesicherte Wissen empirischer Welterschließung so voll gewürdigt werden kann, sind die Geltungsanliegen der religiösen Tradition wie der weltanschaulichen Überschüsse des Materialismus gleichermaßen im Rahmen eines Glaubensdiskurses und nicht eines Wissensdiskurses zu verhandeln. Für das religiöse Selbstverständnis folgt daraus, dass auch religiöse Vorstellungen vorbehaltlos auf ihre psychologische Basis sowie ihre historische und biographische Kontingenz hin befragbar bleiben müssen und Aussagen über etwaiges göttliches Offenbarungshandeln der epistemischen Einstellung des Glaubens überantwortet bleiben. Mit Blick auf Lipsius’ Lehrbuch ließe sich also sagen, den kritischen Standpunkt gegenüber Religion einzunehmen, heißt, die Perspektiven und Geltungsgrenzen von Religionspsychologie und Religionsdogmatik zu unterscheiden. So gilt es auch, die Aussagen des christlich-frommen Selbstbewusstseins mit psychologischen Herleitungsmodellen der Religion aus einem menschlichen Bedürfnis zu konfrontieren. Doch hinsichtlich dieser psychologischen Herleitung der Religion aus menschlichen Bedürfnissen zeichnet sich in Die Gottesidee eine nur vermeintlich geringfügige Akzentverschiebung ab, die zu Transformationen der Systematik bei Lipsius führt: Für die religionstheoretische Grundlegung seiner Dogmatik war es kennzeichnend, dass Religion in psychologischer Perspektive sowohl auf einem theoretischen Bedürfnis nach einer einheitlichen Weltanschauung, dem Einheitstrieb,

12

A. a. O., 69. A. a. O., 69–70. 14 Vgl. a. a. O., 71. 13

160

III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

als auch in praktischen Selbstbehauptungsinteressen des Menschen zurückgeführt wird.15 Gerade die gemeinsame Wurzel im Einheitstrieb des Menschen war für Lipsius ein einendes Band von Religion und Philosophie.16 In Die Gottesidee zeichnet Lipsius hingegen eine ursprüngliche Trennung von Einheitstrieb und der Wurzel des religiösen Lebens ein, korrigiert damit seine frühere Auffassung und grenzt dabei Philosophie und Religion stärker voneinander ab. Das Streben, eine letzte Ursache der Welt, einen letzten Einheitsgrund für das endliche und geteilte Dasein zu finden, kann sich mit dem religiösen Interesse auf einer bestimmten Entwicklungsstufe verbinden, aber ursprünglich ist es ein philosophisches, kein religiöses.17

Das anthropologische Fundament der Religion bezeichnet Lipsius nun entschieden als Freiheitsbedürfnis: Das Bedürfnis, welches zur religiösen Weltansicht, zum Gottesglauben führt, ist nicht das Einheitsbedürfnis, sondern das Freiheitsbedürfnis des Menschengeistes, das Streben nach Selbstbehauptung unserer geistigen Freiheit gegenüber der blinden Naturgewalt.18

Mit der Rede von einem Freiheitsbedürfnis greift Lipsius auf bereits etablierte Motive der psychologischen Religionstheorie seines Lehrbuchs zurück, hebt sie jedoch entschiedener von theoretischen Motiven der Welterklärung ab. Religion ruht demnach dem menschlichen Bedürfnis auf, sich als freie Persönlichkeit über die Natur zu erheben. „In der Erhebung zu Gott haben die Menschen von jeher die innere Freiheit gefunden, die sie gegenüber ihrem Verflochtensein in das äußere Naturdasein erstreben müssen, um wahrhaft bei sich selbst zu sein.“19 Auffällig ist dabei, dass Lipsius nun entsprechend der stärker praktischen Ausrichtung auf eher sittliches Vokabular zurückgreift, um das Bedürfnis zur religiösen Erhebung zu motivieren. Gerade die Vorstellung einer Würde des Menschen erfordert eine menschliche Transzendierung endlicher Abhängigkeit hin zur Freiheit. Nur der Glaube an die gemeinsame Abhängigkeit alles Endlichen von einer höchsten, unendlichen Vernunft und Freiheit giebt auch dem Menschen die Möglichkeit, sich der blinden Naturgewalt gegenüber als ein vernünftiges und freies Wesen zu behaupten, seine Menschenbestimmung zu erfüllen, seiner Menschenwürde Genüge zu thun.20

Ein angemessenes Verständnis des Menschseins ist nach Lipsius demnach im Materialismus nicht zu erreichen, da die eigentlichen Charakteristika des Men-

15

Siehe Kap. II.2. „Die philosophische Speculation, mag sie auch in manchen modernen Systemen noch so sehr in die Irre gehn, beruht also auf demselben Grundtrieb, wie die religiöse.“ D., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 10. 17 D., Die Gottesidee, 73. 18 A. a. O., 74 19 A. a. O., 76. 20 A. a. O., 75. 16

1. Freiheit und Materialismus – Die Gottesidee und Die göttliche Weltregierung 161

schen gerade in demjenigen ansichtig werden, was die naturkausale Geschlossenheit transzendiert. Mit der Abhebung der Religion vom menschlichen Einheitstrieb hat Lipsius in Die Gottesidee eine wichtige Weichenstellung für die weitere Entwicklung seiner Theologie vorgenommen.21 An die Stelle der theoretisch-praktischen Doppelfundierung der Religion aus seinem Lehrbuch ist die entschiedene Herleitung der Religion aus einem Freiheitsbedürfnis getreten. Nicht zufällig nimmt Lipsius diese Umstellung in Auseinandersetzung mit dem Materialismus vor. Begegnet Lipsius doch in dem Materialismus seiner Zeit einem Phänomen, das genuin areligiös ist, jedoch als ein weltanschauliches Resultat des menschlichen Einheitstriebes gehandelt werden kann. Die materialistische Reduktion der Wirklichkeit scheint sogar ganz aus einem menschlichen Einheitstrieb heraus motiviert zu sein, insofern er eine holistische Wirklichkeitsbestimmung liefert, die sich durch Einheit, Einfachheit und Geschlossenheit auszeichnet. Die Unzulänglichkeit des Materialismus ist nach Lipsius hingegen im Bereich des Praktischen klar zu greifen. Er widerstrebt einem menschlichen Selbstverständnis als Person mit Freiheit und Würde. Vor diesem Hintergrund stellt Lipsius die praktischen Motive der Religion in den Vordergrund, die bereits in seinem dogmatischen Lehrbuch an-

21

Umstritten ist in der Lipsius-Forschung, wie diese systematische Transformation, welche Religion vom menschlichen Einheitstrieb löst, zu beurteilen ist und welche Einflüsse dabei in dem Werk von Lipsius zur Geltung kommen. Wolfgang Reu erblickt in dieser Transformation eine grundlegende Wende zu einer praktischen Grundausrichtung, die aus der Auseinandersetzung mit den Einwänden von Biedermann und Herrmann gegen das Lehrbuch erwachsen sei. Fortan begreife Lipsius Religion ganz von ihrem Wert für die Moralität des Menschen. Reu deutet diese Wende gerade als eine „Annäherung an Ritschl“. R, Die Grundlegung der christlichen Dogmatik als Wissenschaft bei Lipsius, 43. Hüttenhoff widerspricht dieser Darstellung: Ritschl deutet den menschlichen Trieb nach einer Einheitlichkeit in der Weltauffassung gerade religiös. Lipsius trennt nun stärker zwischen der praktischen Nötigung als Wurzel der Religion und dem menschlichen Einheitstrieb als Wurzel der Philosophie. Aber auch die Rede von einer Wende zum Praktischen ist nach Hüttenhoff unangebracht, weil bereits in der ersten Auflage des Lehrbuchs Religion auf eine vorrangig praktische Nötigung, dem Widerspruch von Freiheitserfahrung und Naturverflochtenheit des Menschen, zurückgeführt wird. Reu behält jedoch auch nach Hüttenhoff Recht in dem Hinweis, dass Lipsius der Religion kein genuines Interesse an einer einheitlichen Weltanschauung zuschreibt. Vielmehr ist das religiöse Interesse an der Konstruktion einer Weltanschauung funktional auf die Selbstbehauptung des menschlichen Selbst gegenüber der Naturverflochtenheit zu beziehen. Vgl. H, Erkenntnistheorie und Dogmatik, 162–164. Doch auch hier ist festzuhalten, dass dieses praktische Moment des menschlichen Bedürfnisses nach einer Weltanschauung bereits im Lehrbuch formuliert ist. Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 21. Mit Reu den Vortrag Die Gottesidee als eine Neuausrichtung der Theologie Lipsius’ auf eine vorrangig praktische Deutung der Religion im Sinne Ritschls zu verstehen, führt zu weit. Lipsius’ religionspsychologische Deutung der Religion als Mittel zur Selbstbehauptung des freien menschlichen Geisteslebens gegenüber seiner naturkausal bedingten Endlichkeit liegt bereits im Lehrbuch vor. Reus Beobachtungen decken dennoch das zunehmende Bedürfnis bei Lipsius auf, Religion schärfer von theoretischer Welterklärung abzugrenzen.

162

III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

gelegt waren. Das im Lehrbuch zentrale Anliegen, eine einheitliche Weltanschauung zu entfalten, behält Lipsius weiterhin bei. Es wird jedoch dem praktischen Interesse an einer Selbstbehauptung der freien Persönlichkeit funktional untergeordnet. Wenn der Mensch sich als freies, geistiges Wesen dieser Welt der Notwendigkeit und des toten Mechanismus gegenüberstellt, so bedarf er einer Weltanschauung, welche dieser seiner Selbstbeurtheilung entspricht, welche dem praktischen Bedürfnisse seines Geistes Genüge leistet, indem sie das Rätsel des Lebens ihm löst.22

Lipsius ist es mit einer solchen religiösen Weltanschauung nach wie vor nicht um eine Gegenerzählung der Religion zu einem naturwissenschaftlichen Weltbild zu tun. Religiöse Weltanschauung konkurriert nicht mit den Naturwissenschaften, sondern muss ihre Ergebnisse in sich aufnehmen können. In Auseinandersetzung mit dem Materialismus macht Lipsius jedoch deutlich, dass eine religiöse Weltanschauung mit weltanschaulichen Überschüssen naturwissenschaftlicher Theoriebildung konkurriert. So ist gegenüber sämtlichen weltanschaulichen Systemen der kritische Standpunkt einzunehmen, der die Bildlichkeit aller Aussagen über Gegenstände jenseits möglicher Erfahrung erkennt. So ist auch alle Rede über Gott uneigentlich und bildlich, weil sie – wie alle Rede über erfahrungstranszendente Gegenstände – anthropomorph ist. Genau besehen, anthropomorphisieren wir überall, wo wir die Grenzen der unserer Erfahrung zugänglichen Erkenntnis überschreiten und eine Erkenntnis der letzten Ursachen der Erscheinungen gewinnen wollen. Alle unsere Aussagen über das Unendliche und Ewige sind schließlich doch nur der Analogie des Menschengeistes, seiner Kräfte und Eigenschaften entlehnt. Unseren Denkformen selbst, die man so gerne als ,reine Vernunfterkenntnisse‘ betrachtet, haftet ein menschliches, psychophysisch bedingtes Element an.23

Einen Vorzug der christlichen Tradition führt Lipsius dennoch an: Die dogmatische Tradition des Christentums drängt selbst auf die Transzendierung eines buchstäblichen Verständnisses ihrer Gehalte. So ist nach Lipsius die christliche Dreieinigkeitslehre buchstäblich derartig paradox, dass sie selbst zu einem symbolischen Verständnis anleitet. Die kirchliche Dreieinigkeitslehre ist wie eine Hieroglyphe: sie deutet, in ihrem wirklich religiösen Gehalte verstanden, auf die höchste Vollendung der religiösen Gottesidee, wie sie geschichtlich durch Jesus Christus und durch den Geist der christlichen Gemeinschaft erreicht ist. Hingegen in ihrem buchstäblichen, dem Verstande so anstößigen Sinne ist sie eine bleibende Warnung vor jener falschen Metaphysik, welche die Schranken unseres Erkennens überfliegt und über das verborgene Wesen Gottes spekuliert, als wäre dasselbe unserer Forschung so zugänglich wie ein anatomisches Präparat.24

22

D., Die Gottesidee, 75. A. a. O., 78. 24 A. a. O., 82. 23

1. Freiheit und Materialismus – Die Gottesidee und Die göttliche Weltregierung 163

In dieser Wahrnehmung kann die Trinitätslehre selbst dazu verhelfen, den kritischen Standpunkt einzunehmen, welcher dem naturwissenschaftlichen Interesse an einer kausal geschlossenen Erklärung der Erscheinungswelt gerecht wird und zugleich die Grenzen menschlichen Wissens markiert. Die göttliche Weltregierung: In Die göttliche Weltregierung von 1878 wirbt Lipsius erneut in Auseinandersetzung mit dem Materialismus für seinen kritischen Standpunkt. Hier stehen jedoch nicht überzogene epistemische Ansprüche im Fokus, sondern problematische soteriologische Ansprüche religiöser und idealistischer Weltanschauungen werden als eine Wurzel des Materialismus in den Blick genommen. Nach Lipsius ist es eine einseitig eudämonistische Auffassung des Heils, die den Glauben an eine göttliche Weltregierung in eine Krise treiben muss. Die Erfahrung der eigenen Endlichkeit durch materiellen Mangel, angesichts des Todes oder eigener Krankheit ist ein Stein des Anstoßes, an einer göttlichen Weltregierung zu zweifeln.25 Erhebt man die sinnliche Bedürfnisbefriedigung des Menschen zum alleinigen Maßstab für eine Weltanschauung, bleibt nur ein pessimistisches Urteil möglich.26 Den Erfolg von der „Philosophie des Weltschmerzes“27, den Lipsius anhand der Philosophien von Arthur Schopenhauer und Eduard von Hartmann in seiner Zeit beobachtet, erklärt er sich aus jener einseitig eudämonistischen Perspektive. In letzter Konsequenz muss diese Perspektive nach Lipsius zu einer materialistischen Reduktion der Wirklichkeit auf einen moralisch indifferenten Kausalnexus, der keine Sinndimension aufweist, führen. „Es existiert überhaupt nichts als Materie und ihre Bewegung, man darf daher nur nach den Ursachen, aber niemals nach Zwecken des Geschehens, nur nach dem Warum? Aber niemals nach dem Wozu? fragen.“28 In dieser beobachteten geistesgeschichtlichen Entwicklung hin zum Materialismus identifiziert Lipsius ein kritisches Wahrheitsmoment des Materialismus gegenüber unkritischem Idealismus.29 Die Plausibilität des Materialismus geht aus seiner Ablehnung jeglicher idealistischer Naturüberwindungsansprüche hervor. Er verweist damit auf die unumgängliche Naturverflochtenheit des Menschen. „Die Naturwelt wird nicht nach sittlichen, sondern nach natürlichen Gesetzen regiert, und auch der Menschengeist vermag die Natur nur mittelst der Erkenntnis ihrer unverbrüchlichen Gesetze zu beherrschen.“30 Der mechanisch beschreibbare Kausalnexus der Natur ist ein unumgängliches Medium menschlichen Weltumgangs. Die Vernunft wirkt auf die Welt nur „soweit unsere Gedanken und Vorsätze in materielle Arbeit sich umsetzen.“31 Aus dieser Unumgäng-

25

Vgl. .: Die göttliche Weltregierung, in: Ders.: Glauben und Wissen. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Berlin 1897, 84–110, hier 85. 26 Vgl. a. a. O., 91. 27 A. a. O., 89. 28 A. a. O., 91. 29 Vgl. a. a. O., 94. 30 Ebd. 31 Ebd.

164

III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

lichkeit der Naturverwobenheit des Menschen folgt nach Lipsius, dass sinnliche Empfindung immer eine Quelle natürlicher Übel bleiben wird. Trotz aller Strategien zur Vermeidung von Leid kann keine Weltanschauung ein endgültiges Ende vom Leid endlichen Lebens in Aussicht stellen. Für den christlichen Glauben und für idealistische Weltanschauungen kann aus dieser Einsicht in die bleibende Naturverflochtenheit des Menschen jedoch kein Verzicht auf eine teleologische Einbettung allen Geschehens abgeleitet werden. Die Rede von einer göttlichen Weltregierung würde leer werden. Wie lässt sich jedoch an einer göttlichen Weltregierung und somit einem Sinnhorizont freien Lebens angesichts menschlicher Naturverflochtenheit festhalten? Wie kann sich dennoch ein göttliches Wirken am Ort des individuellen Geschicks des Menschen ausweisen lassen? Beides ist nach Lipsius nur von einem kritischen Standpunkt aus möglich. Durch einen Perspektivendualismus kann das bleibende Recht der naturkausalen Wirklichkeitserklärung anerkannt werden und zugleich in anderer Perspektive eine teleologische Einbettung des Geschehens behauptet werden.32 Beide Perspektiven müssen als kompatible Beschreibungen wirklichen Geschehens gefasst werden. Dass dies möglich ist, veranschaulicht Lipsius am Beispiel der Webstuhlarbeit.33 Webt ein Webstuhl ein kunstvolles Muster, ist das ein rein mechanisch beschreibbares Geschehen, das ohne geistige Ursachen auskommt. Das Kräftespiel zwischen Walzen, Schiffchen und Garn ist ein rein naturkausaler Prozess. Dennoch entspringt diesem Prozess ein Muster im Gewebe, das sich durch den mechanischen Prozess von dem Geist des Webers in das Gewebe überträgt. Auf diese Weise dient ein vollständig kausal beschreibbares Geschehen zugleich einem Zweck, der sich nicht aus der kausalen Beschreibung ergibt. Dieses Beispiel zeigt uns klar, wie unbeschadet des strengsten mechanischen Zusammenhanges in der Verknüpfung von Ursache und Wirkung doch der Naturmechanismus zugleich einem Zwecke dienen, wie er die gesetzmäßige Offenbarung einer unendlichen Intelligenz sein könne, deren Walten wir erkennen, wenn wir uns von der Betrachtung des einzelnen zum ganzen erheben.34

Lipsius vertritt also einen Kompatibilismus von teleologischer und naturkausaler Wirklichkeitsbeschreibung. Es kann demnach von einem kritischen Standpunkt aus trotz der ungebrochenen Naturverflochtenheit alles Geschehens und

32

Vgl. a. a. O., 95. Vgl. a. a. O., 97. Lipsius Ausführungen zur Webstuhlarbeit decken sich auffällig mit Kants Beschreibungsdualismus der Kausalität, welche einen empirischen Charakter von einem intelligiblen Charakter der Kausalität unterscheidet, der sich an einer Wirkung unterscheiden lässt. Vgl. K, Kritik der reinen Vernunft, A 538–541/B 566–569. Wie Kant wirbt Lipsius für einen Kompatibilismus zwischen naturkausaler Geschlossenheit alles Geschehens in der Erscheinungswelt und einer zugleich denkbaren Kausalität aus Freiheit, die durch die naturkausal-beschreibbaren Wirkungen gleichsam ,hindurch‘ wirksam ist. Lipsius erweitert diesen Kompatibilismus jedoch zugleich auf eine umfassende Teleologie hin. 34 L, Die göttliche Weltregierung, 97. 33

1. Freiheit und Materialismus – Die Gottesidee und Die göttliche Weltregierung 165

Lebens eine göttliche Teleologie als wirksam angenommen werden. Vom kritischen Standpunkt aus kann jedoch göttliche Weltregierung nicht als eine natürliche Wirkursache neben anderen verstanden werden. Dies hat nach Lipsius Folgen für den christlichen Vorsehungsglauben und seiner Heilsvorstellung. Rigoros weist Lipsius jegliche Votiv-Struktur von dem christlichen Vorsehungsglauben fort. Die göttliche Weltregierung erweist sich im individuellen menschlichen Leben nicht durch Wunscherfüllung. Derartige Vorstellung reduzieren christliche Soteriologie auf eine Glückseligkeitslehre, welche gerade Pessimismus und Materialismus als Gegenbewegung provoziert. Das Paradigma christlichen Vorsehungsglaubens erblickt Lipsius demgegenüber in der Gethsemane-Perikope: Jedes Gebet um Erfüllung auch der heißesten Wünsche muß, wenn es anders ein frommes sein soll, das Gebet des ringenden Erlösers im Garten Gethsemane sich zum Muster nehmen: es muß mit einem: ,Vater ists möglich‘ beginnen und ausklingen in dem Worte stiller Ergebung: ,Doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!‘35

Die Gethsemane-Perikope wird hier von Lipsius als paradigmatischer Ausdruck einer Transformation der Haltung des christlichen Glaubens zum Weltgeschick gehandelt. Aus dem Wunsch nach unmittelbarer Wunscherfüllung wird ein Vertrauen auf eine umfassende teleologische Einbettung allen Geschehens, das sich in einer inneren Freiheit gegenüber dem Naturgeschehen äußert. Die Möglichkeit des Menschen, sich innerlich frei zu seiner Naturverwobenheit verhalten zu können, wird so als zentrales Moment der religiösen Heilsvorstellung in Anspruch genommen. Die religiöse Erhebung über die Natur ist keine Überwindung von Naturverwobenheit, sondern ein innerer Freiheitsgewinn ihr gegenüber. [I]st nicht die Freiheit des selbstbewußten und wollenden Ich von dem endlichen und vergänglichen Dasein in der Welt, die innere Freiheit des gottebenbildlichen Geistes über die Welt unser einiges höchstes Gut, in welchem allein alle Menschenwürde und mit ihr zugleich auch alle innere Seligkeit unseres Gemütes, Heil und Friede unserer Seele beruht?36

In der Freiheit als Erhebung über die Naturverflochtenheit ist nach Lipsius der Ort göttlicher Weltregierung anzusetzen. Freiheit ist die Form göttlicher Weltregierung. Sinnliches Leid wird dabei nicht geleugnet oder verklärt, es wird allerdings als ein Stachel zur inneren Erhebung über die eigene Endlichkeit gefasst.37 Die Leiderfahrung kann die Dringlichkeit innerer Erhebung vor Augen führen. Christlicher Vorsehungsglaube vom kritischen Standpunkt aus verspricht kein Ende des Leids, sondern dessen Unerheblichkeit für individuelle Seligkeit, so Lipsius. Mit diesen Überlegungen bezieht er sich affirmativ auf Fichte und seine Schrift Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Welt-

35

A. a. O., 100. A. a. O., 104. 37 Vgl. a. a. O., 105. 36

166

III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

regierung.38 Wie Fichte in der Freiheit des Ichs über endliche Abhängigkeit den Grund des Glaubens an eine moralische Weltordnung finde, so finde der Mensch in seiner Erhebung über die Natur die Seligkeit. Diese unsere Bestimmung ist die Befreiung unseres ganzen Zustandes von aller äußeren Abhängigkeit in der Welt, und diese innere Freiheit ist Seligkeit, in welcher die Sehnsucht unseres Herzens nach einem höheren, unvergänglichen Sein ihre Befriedigung findet.39

Freiheit als Erhebung über die Natur ist das Zeichen göttlicher Weltregierung und eine Form göttlicher Gebetserhörung: „Erhebung über die Welt, Trost und Freudigkeit im inneren Leben, Kraft und Mut, auch das schwerste Erdenleid im seligen Bewußtsein der Gottesnähe und des Gottesfriedens zu tragen.“40 Die menschliche Freiheit selbst kann so soteriologisch als innere Seligkeit aufgeladen werden. Resümierend lässt sich festhalten, dass die beiden beleuchteten Vorträge der Jahre 1877 und 1878 zeigen, dass Lipsius die dogmatische Reflexion durch ein Erstarken materialistischer Weltanschauungen herausgefordert sieht und dagegen versucht, den kritischen Standpunkt der Perspektivendualität seiner theologischen Systematik zu motivieren. Gerade der Vortrag Die Gottesidee nimmt in der werkgeschichtlichen Entwicklung eine Schlüsselstellung ein, denn: Explizit vollzieht Lipsius hier erstmals die Abkehr von einer religiösen Deutung des menschlichen Einheitstriebs, des menschlichen Bedürfnisses eine einheitliche Weltanschauung aus seinen inneren und äußeren Erfahrungen zu bilden. Dieser Korrektur korrespondiert eine Akzentverschiebung von Lipsius religionstheoretischer Grundlegung, welche auch die materialdogmatischen Ausführungen in einen anderen Rahmen stellt. Der freiheitstheoretische Fokus von Lipsius’ Dogmatik tritt dadurch stärker heraus. Der menschliche Freiheitstrieb wird nun als die entscheidende Wurzel der Ausbildung von Religion gefasst. Hinter dieser Korrektur steht eine stärkere Abgrenzung zwischen Philosophie und Religion. Die Selbstständigkeit der Religion als Phänomen menschlichen Geisteslebens wird zusätzlich gestärkt und praktische Motive und Argumentationen treten in den Vordergrund, wenngleich sie in Grundzügen im Lehrbuch erster Auflage bereits angelegt sind. Diese weitreichende Akzentverschiebung verarbeitet Lipsius in seinen Dogmatischen Beiträgen und übernimmt sie in die zweite Auflage seines Hauptwerks. Darüber hinaus zeigt Die göttliche Weltregierung noch einmal, wie weitreichend Lipsius die religiöse Freiheit der Erhebung über die Natur ins Zentrum seiner Theologie stellt. Innere Freiheit wird als Inbegriff von Seligkeit und als Ausdruck göttlicher Weltregierung inszeniert. Entscheidend ist hierbei die religiöse Freiheit nicht als eine Herauslösung des Menschen aus seiner weltlichen Situiertheit und seiner weltlichen Bezüge zu verstehen, sondern als die Möglichkeit, sich frei zu ihnen zu verhalten. 38

Vgl. J G F: Ueber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung, in: Ders.: Zur Religionsphilosophie, Tübingen 2013, 175–189. 39 L, Die göttliche Weltregierung, 106. 40 A. a. O., 108.

2. Dogmatische Beiträge: Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878 167

2. Dogmatische Beiträge zur Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878 In seinen Dogmatischen Beiträgen zur Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs nimmt sich Lipsius Rezensionen seines Lehrbuchs zum Anlass, die Grundlinien seiner Theologie in episodischen Artikeln im Jahrbuch für protestantische Theologie gegenüber Angriffen und Missverständnissen zu verteidigen. Insbesondere die ausführlichen Besprechungen von Herrmann und Biedermann haben ihn dazu herausgefordert und stellen den Konterpart seiner Erläuterungen dar. In einem ersten Artikel setzt Lipsius anlässlich einer vernichtenden Kritik Herrmanns seine Theologie ins Verhältnis zur Ritschl-Schule. Nach Herrmann entbehre Lipsius’ Lehrbuch jeglichen wissenschaftlichen Wert und sei nur eine inkonsequente Vermengung von Versatzstücken der Theologien Ritschls und Biedermanns.41 Die ausfallenden Attacken Herrmanns lassen sich nicht allein auf sachliche Differenzen zurückführen und haben weit über Lipsius hinaus Aufsehen erregt. Sachlich reagiert Lipsius mit einer umfassenden Erläuterung seiner theologischen Systematik und der Profilierung seines Standpunkts im Gegenüber zu Herrmann und Ritschl. Das zentrale Motiv hierbei ist die Abwehr von dem „einseitigen Moralismus Herrmann’s und seiner Geringschätzung des mystischen Elementes in der Religion“42. Diese Auseinandersetzung markiert das Ende einer Entwicklung, die von einer frühen Freundschaft zwischen Ritschl und Lipsius zu einer endgültigen Entfremdung beider Theologen geführt hat. Die mitunter sehr persönliche Streitsache erlangt theologiegeschichtliches Gewicht, da in ihr entscheidende Bruchlinien zwischen der klassisch-liberalen Theologie, die Lipsius repräsentiert, und der frühen Ritschl-Schule aufgedeckt werden. So führt Lipsius seine Differenzen zu Herrmann selbst immer wieder auf programmatische Unterschiede zwischen den Ansätzen Ritschls und ihm zurück. Bei Herrmann treten diese Differenzen in radikaler Form heraus. Von der Warte Lipsius’ sind grundlegende liberale Intuitionen in der Ritschl-Schule aufgegeben, wenngleich er sich in vielen Punkten ganz ausdrücklich affirmativ auf Ritschl beziehen kann. Um diese sachlichen Differenzen herauszustellen, ist zunächst die konkrete Streitsituation auf die bestimmenden Anlässe hin zu befragen. Anschließend können die inhaltlichen Konfliktpunkte auf entscheidende Tendenzen der Abgrenzung von liberaler Theologie einerseits und der Ritschl-Schule andererseits hin durchsichtig gemacht werden. Ein zweiter Artikel der Dogmatischen Beiträge ist der Auseinandersetzung mit Biedermann vorbehalten. Hier diskutiert Lipsius die Leistungsfähigkeit der Me-

41

Vgl. .: Dogmatische Beiträge. Zur Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs, in: Jahrbücher für Protestantische Theologie (1878) 1–4, 1–78.193–240.385–433. 593–634, hier 2. 42 A. a. O., 4–5.

168

III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

taphysik und der Religionsphilosophie, verteidigt sein Konzept des religiösen Mysteriums und bestreitet die Möglichkeit einer Wesenserkenntnis Gottes. Hierbei ist es Lipsius darum zu tun, trotz weitreichender Übereinstimmungen in der Dogmatik die Unterschiede der theologischen Grundlegungsfragen zu Biedermann präziser herauszuarbeiten. Dabei wendet Lipsius seine Hegelkritik auf Biedermann an und erneuert sie gegenüber Biedermanns Fortbildung der Hegelschen Philosophie zu seiner Konzeption einer immanenten Metaphysik. Auch Biedermanns Theologie scheitere an dem Versuch, Glauben und Wissen zu versöhnen. Demgegenüber versucht Lipsius, eine genuin religiöse Gewissheitsstruktur herauszustellen, die von allen Wissensansprüchen befreit werden muss und die es in ihrer Selbstständigkeit zu bestimmen gilt. In beiden Artikeln bezieht Lipsius erstmals einen explizit neukantianischen Standpunkt, der vor allem an Lange angelehnt ist. Mit den Mitteln der Erkenntnistheorie von Lange versucht Lipsius einerseits, seine Unterscheidung von Glauben und Wissen neu zu fundieren. Andererseits verteidigt Lipsius gegenüber Lange unmittelbarer Wahrheitsansprüche des Glaubens. Ein Vergleich mit der zeitgenössischen Lange-Rezeption bei Alexander Schweizer hilft, die Pointe von Lipsius’ religiösem Realismusanspruch zu konturieren.

a. Ritschl und Lipsius – Die Entfremdungsgeschichte zweier Theologien Die große Bedeutung von Herrmanns polemischer Rezension für Lipsius’ weitere Theologie lässt sich nur vor dem Hintergrund einer zurückreichenden Freundschafts- und Entfremdungsgeschichte zwischen Ritschl und Lipsius verständlich machen. Aufgrund der enormen Prägekraft der Auseinandersetzung mit Ritschl für nahezu alle weiteren Veröffentlichungen von Lipsius ist ein Blick auf die Wendungen ihres Verhältnisses zu werfen, wenngleich sich dabei neben sachlichen Differenzen auch allzu menschliche Motive offenbaren.43 Um das Jahr 1856 hat sich eine freundschaftliche und fachliche Verbindung zwischen Ritschl und Lipsius entwickelt, die sich vor allem in reger Korrespondenz geäußert hat, aber auch gegenseitige Besuche umfasste.44 Albrecht Ritschl selbst hat in einem Brief an seinen Vater, der auf den 15.07.1856 datiert ist, eine Prägekraft von Lipsius auf sein dogmatisches Denken angedeutet. Im Gegenzug rühmt er sich, dass sich Lipsius im Wesentlichen seiner Deutung der Geschichte des Urchristentums angeschlossen hat:

43

Aufschluss über das Verhältnis von Lipsius und Ritschl bis zu den Dogmatischen Beiträgen von 1878 hat vor allem Otto Ritschl durch Anführungen ihrer Korrespondenz in der Biografie über seinen Vater gegeben. 44 Vgl. O R: Albrecht Ritschls Leben. Erster Band 1822–1864, Freiburg i. Br. 1892, 271. Ritschl schreibt seiner Mutter 1857 von erfreulichen Wanderungen mit Lipsius im Siebengebirge. Vgl. a. a. O., 300.

2. Dogmatische Beiträge: Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878 169 Es war mir interessant, daß neulich der Dr. Lipsius in Leipzig, mit dem ich correspondire, mir seine Postulate für die Dogmatik mittheilte, und ich mir sagen mußte, daß ich im Wesentlichen nach ihnen gearbeitet habe. Ich werde also wenigstens bei diesem Fachgenossen auf Abhäsion in dogmaticis rechnen dürfen wie er in Beziehung auf die urchristliche Geschichte speciell mir sich angeschlossen hat.45

Diese Andeutung überrascht, denn später wird die Vorstellung, Lipsius’ Dogmatik habe größtenteils Züge von Ritschl kopiert, zu einem entscheidenden Motiv für ein nachhaltiges Zerwürfnis zwischen beiden Theologen. Jener frühe Brief von Ritschl legt jedoch für dogmatische Fragen ein umgekehrtes Abhängigkeitsverhältnis nahe.46 Auf eine Phase der engen Freundschaft folgte ein Prozess sachlicher Entfremdung, der bereits nach der Berufung von Lipsius nach Jena 1871 Ausdruck gefunden hat. Ritschl berichtet am 14.07.1871 brieflich an Ludwig Diestel über eine Jena-Reise anlässlich von Lipsius’ Berufung und einer Enttäuschung über Lipsius’ theologische Position. Gerade die Streitschriften Glauben und Lehre sind für folgendes Urteil Ritschls Anlass gewesen: Es kommt mir vor, als ob er einerseits mehr Traditionalist ist, als er glaubt, indem er sich auf der Linie der für Schleiermacher wie für die Lutheraner gültigen Auffassung des Christenthums als Erlösung oder Heil hält; andererseits ist diese Auffassung bei ihm nicht sicher gegen die socinianischen Antriebe abgegrenzt, worauf alle hinauskommen, welche sich mehr oder weniger genau an Baur anschließen und sich im Protestantenverein wohl fühlen. […] Ich bin mir aber darüber klar, daß dogmatisch die Idee der Erlösung nur richtig gefaßt wird als Mittel für den obersten Zweck des Reiches Gottes.47

Ritschl deutet hier vor allem soteriologische Differenzen an. Die fehlende Unterordnung der Erlösungslehre unter die Reich-Gottes-Idee und die Kritik an sozinianischen Momenten, die Ritschl wahrscheinlich gegenüber einer Trennung von Prinzip und Person in der Christologie anbringt, nimmt Ritschl als entscheidende Differenz wahr. 1874 erfolgte die einzige explizite literarische Verhandlung von Lipsius im Werk von Ritschl. In der Einleitung des zweiten Bandes von Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung übt Ritschl methodische Kritik an Lipsius’ Erfahrungstheologie. Dabei wird Lipsius von Ritschl in eine Reihe mit Gottfried Thomasius und Johann von Hofmann gestellt. Wie sie mache auch er sein eigenes religiöses Bewusstsein zum zentralen Stoff der Theologie.48 Zwar beruft sich Lipsius ausdrücklich auf gemeinsam geteilte innere Erfahrungen, nicht auf die je eigenen, und schreibt der Anknüpfung an die geschichtliche Person Jesu eine regulative Funktion zu. Ritschl wendet jedoch ein, dass die Bestim45

A. a. O., 279. So auch Heinrich Weinel: Vgl. W, Lipsius-Gedächtnisrede, 37–38. 47 O R: Albrecht Ritschls Leben. Zweiter Band 1864–1889, Freiburg i. Br. 1896, 107. 48 Vgl. A R: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Der biblische Stoff der Lehre, Bonn 1874, 7–8. 46

170

III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

mung gemeinsamer religiöser Erfahrungen notwendig einem je eigenen Maßstab des Theologen unterworfen sein muss. Dies könne jedoch keine Basis für eine freie Wissenschaft sein.49 Zudem echauffiert sich Ritschl über die auch bei Lipsius auftretende Verbindung des Begriffs testimonium Spiritus Sancti internum mit dem Konzept religiöser Erfahrung.50 Bei beiden Konzepten handele es sich vielmehr um Gegenbegriffe. Erfahrung stehe für eine Bewegung des menschlichen Subjekts und das testimonium Spritus Sancti internum für einen „mystischen Mechanismus des göttlichen Geistes“51, der gerade den menschlichen Erfahrungsprozess verneint. Deshalb ist dieses Formalprincip des religiösen und des theologischen Erkennens unbrauchbar; sein Mechanismus ist sogar noch unerträglicher für das theologische Erkennen, als derjenige, welcher in der Unterwerfung desselben unter das Gesetz des kirchlichen Lehrbegriffs ausgedrückt ist52.

Auf diese knappe und harsche Kritik reagiert Lipsius mit einem Brief an Ritschl.53 Darin bezeichnet Lipsius die Zuordnung zu Hofmann als ,Bosheit‘,

49

Vgl. a. a. O., 9. Vgl. a. a. O., 6. 51 A. a. O., 7. 52 Ebd. 53 Lipsius’ Brief ist vermutlich als eine humorvolle Replik auf die Kritik von Ritschl zu verstehen, die versucht die bleibenden Differenzen zwar herauszustellen, aber einen ironischen Umgang mit ihnen zu pflegen. Für Ritschl markiert er ein Ende ihrer Freundschaft, trotz Ludwig Diestels Vermittlungsversuchen zwischen beiden. Vgl. dazu R, Albrecht Ritschls Leben II, 242. Der Brief wird von Otto Ritschl folgendermaßen zitiert: „Sie haben sich in den letzten Monaten verschiedene Verdienste um mich erworben, für die ich Ihnen noch immer den Dank schuldig geblieben bin. Nicht nur, daß Sie sich bemüht haben, mir die recht christliche Vollkommenheit zu lehren, haben Sie auch durch den zweiten Band Ihrer Rechtfertigungs- und Versöhnungslehre mir Gelegenheit zu allerlei logischen Exercitien gegeben, von denen ich Ihnen versichern darf, daß ich dieselben nicht wie sündhafte katholische Kapläne ihre geistlichen Exercitien zur Kreuzigung meines Fleisches durchgemacht habe. [...] Auch glaube ich nicht, daß Sie dabei die Absicht hatten, mir eine Kreuzigung meiner Vernunft zuzumuthen, um so weniger, als Sie sich endlich gemüht haben, die neutestamentlichen Schriftsteller und den Paulus speciell zur Vernunft zu bringen und ihnen allerlei überflüssiges dogmatisches Reisegepäck, mit dem die bisherige Exegese sie belastet habe, glücklich wieder abzunehmen. Ob es mir nun freilich gelingen werde, im Gebiete paulinischer Theologie so gründlich umzulernen, als Sie es von Ihren Lesern erheischen, muß ich der Zukunft und speciell der Zeit überlassen, wo ich es versuchen werde, mit Hierochorios in der Biblischen Theologie – natürlich nur des Neuen Testaments, denn von der des Alten verstehe ich nichts – zu concurriren. Einstweilen müssen Sie sich also mit der Versicherung begnügen, daß ich auch den zweiten Band im Schweiße meines Angesichts – in Jena ist es nämlich diesen Sommer sehr heiß – studirt habe und Ihnen eventuell den Beweis dafür durch zahlreiche Bleistiftstriche am Rande ad oculos führen könnte. Ihre kleine Bosheit, mich den Herrn von Hofmann verwandten Kreisen zuzuzählen, hat mich sehr heiter gestimmt, ich fürchte aber, daß Sie damit den Erlanger Rabbi tödtlich beleidigt haben. Übrigens muß ich Ihnen bekennen, durch Ihre Kritik meiner Methode um so weniger überzeugt zu sein, da mein Begriff der religiösen Erfahrung das Zurückgehen auf das biblische Material nicht aus-, sondern einschließt. Auf 50

2. Dogmatische Beiträge: Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878 171

zeigt sich von Ritschls Kritik an seiner erfahrungstheologischen Methode allerdings unbeeindruckt, „da mein Begriff der religiösen Erfahrung das Zurückgehen auf das biblische Material nicht aus- sondern einschließt.“54 Lipsius betont hier, dass seine Theorie religiöser Erfahrung nicht eine Alternative zum theologischen Schriftbezug darstellt, sondern selbst eine hermeneutische Pointe hat. Die biblischen Schriften sind als Zeugnis religiöser Erfahrung Stoff der Theologie. Der Bruch zwischen Ritschl und Lipsius ließ sich damit jedoch nicht abwenden. Anlässlich der Veröffentlichung seines Lehrbuchs der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876 nahm Lipsius wieder Kontakt zu Ritschl auf, sendete ihm ein Exemplar und betont in einem Begleitschreiben großen Einfluss von Band eins und drei von Ritschls Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung auf seine Theologie. Gerade in Christologie, Rechtfertigungslehre und Ekklesiologie betont Lipsius dabei Einigkeit.55 Ritschl zeigt sich in einem Antwortschreiben überrascht über die freundlichen Worte von Lipsius, aber äußert ihm gegenüber eine „Versicherung meiner Freundschaft“56. Lipsius hat darauf wohl nicht mehr geantwortet.57 Vielmehr folgte ein endgültiges Zerwürfnis im Zusammenhang mit Herrmanns außerordentlich polemischer Rezension von Lipsius’ Dogmatik. Dieser konkrete Streitfall setzte mit einer Ritschl- und Herrmann-kritischen Bemerkung ein, die Lipsius in seiner Selbstanzeige Ein Vorwort zu einem Vorwort von 1876 geäußert hat. Zunächst ist hier die große Nähe zwischen Ritschl in der Auffassung der christlichen Heilslehre, der Christologie und den Lehren von Versöhnung, Erlösung und dem Reich Gottes herausgestellt.58 Allerdings konstatiert Lipsius eine entscheidende Differenz in der dogmatischen Methode: Während Ritschl das Christentum allein ausgehend von seinem Wert für die christliche Gemeinde beurteile, klagt Lipsius eine stärkere Universalisierung durch psychologische und religionsgeschichtliche Grundlegung der Dogmatik ein. Damit soll einer zu radikalen Loslösung christlicher Dogmatik von wissenschaftlichen Erkenntnissen vorgebeugt werden, die gerade in Herrmanns programmatischer Schrift zur Metaphysik in der Theologie vertreten werde.59 Herr-

den dritten Band, der uns den Abaelardus redivivus leibhaftig darstellen soll, bin ich natürlich sehr gespannt. Bis zu seinem Erscheinen bleiben Sie mit jeder Kritik von meiner Seite verschont, wenn mich nicht etwa vorher der Teufel plagt, unsre projectirte neue Zeitschrift mit einer Abhandlung über die ,Rechtfertigung‘ (sic) füllen zu helfen.“ A. a. O., 240–242. 54 A. a. O., 242. Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 14–15. 55 Vgl. R, Albrecht Ritschls Leben II, 305–306. 56 A. a. O., 306. 57 Vgl. a. a. O., 307. 58 Vgl. L, Ein Vorwort zu einem Vorwort, 649. 59 Vgl. a. a. O., 650. Der Lipsius-Schüler Pünjer hat Herrmanns Metaphysikkritik als problematische Universalisierung einer berechtigten Kritik an einer bestimmten Verhältnisbestimmung von Metaphysik und Religion kritisiert. Herrmanns Kritik gehe nur dann auf,

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III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

manns Metaphysik-Aufsatz wird hier als schädlicher Missbrauch der Methodik Ritschls beurteilt.60 Es scheint, als möchte man sich unbekümmert um alle streng philosophische Forschung eine Freistätte sichern, innerhalb deren man das was man für die Zweckbestimmung der religiösen Weltanschauung erachtet, ohne jede Controle [sic!] des wissenschaftlichen Denkens verfolgen kann.61

Aus der Korrespondenz von Ritschl und Herrmann geht hervor, wie stark Herrmann sich über diese Bemerkungen Lipsius’ echauffiert hat. Er interpretiert Lipsius’ Kritik als ein Manöver, trotz seiner großen Nähe zu Ritschl nicht seine Schülerschaft erklären zu müssen.62 Aus dieser Verärgerung fasst Herrmann den Plan, Lipsius’ Lehrbuch zu rezensieren. Ritschl bestärkt Herrmann aktiv darin, Lipsius in der Rezension nicht zu schonen.63 Die daraus erwachsene Rezension Herrmanns ist gefüllt mit hitziger Polemik, was Ritschl selbst befürwortet: Lehrreich genug ist sie [sc. die Rezension von Herrmann]; ich besorge nur, daß Lipsius selbst nur die Schärfe Ihrer Ironie herausschmecken wird. Aber verdient sind die Hiebe, die er erfährt. Der Mann ist mit seinen Schleiermacherschen und Hegelschen Gesichtspunkten von Hause aus veraltet, und hat kein Recht, sich als das wissenschaftliche Haupt der Gegenwart aufzuspielen, da er keine Ahnung von Lotze hat. Er zeugt nur aber von einer frühzeitigen Verknöcherung, daß er für die an Lotze orientierte Seite meines Gesichtskreises gar keinen Blick gehabt hat. Ich bin begierig, ob er repliciren wird; seine Eitelkeit läßt es fast erwarten.64

Die Rezension Herrmanns hat nicht nur bei Lipsius Repliken provoziert. Eine Anti-Rezension stellt Herrmanns Beurteilung als eine persönliche Verunglimpfung dar, die sich aus persönlicher Verbitterung über Lipsius’ Herrmannkritik ergebe.65 Nicht Lipsius sei der Ritschl-Schüler, sondern Herrmann sei eine bloße ,Kopie‘ Ritschls. Noch Ernst Troeltsch hat sich anlässlich der „abscheulich[en]“ Behandlung Lipsius’ durch Herrmann genötigt gefühlt, seine ausführliche Rewenn Metaphysik als diejenige Disziplin verstanden wird, die das Reale feststellen soll, und Religion mit der Fortsetzung dieser Arbeit überfrachtet werde. Vgl. B P: Rez: W. Herrmann, die Metaphysik in der Theologie., in: Jenaer Literaturzeitung (1876) 88, 516–518. 60 Für Lipsius’ Kritik von Herrmanns Metaphysik-Schrift kommt auch die dort entfaltete negative Bewertung der Theologie Otto Pfleiderers als Auslöser in Frage. 61 L, Ein Vorwort zu einem Vorwort, 650. 62 Vgl. W H: Brief an Ritschl, 27. Juli 1876, in: Christophe Chalamet u.a. (Hg.): Albrecht Ritschl; Wilhelm Herrmann. Briefwechsel 1875 – 1889, Tübingen 2013, 88–89. 63 Vgl. A R: Brief an Herrmann, 03. August 1876, in: Christophe Chalamet u a. (Hg.): Albrecht Ritschl; Wilhelm Herrmann. Briefwechsel 1875 – 1889, Tübingen 2013, 90–91. 64 D.: Brief an Herrmann, 25. April 1877, in: Christophe Chalamet u.a. (Hg.): Albrecht Ritschl; Wilhelm Herrmann. Briefwechsel 1875 – 1889, Tübingen 2013, 111–113, hier 111. 65 Vgl. G. G: Zur Abwehr, in: Protestantische Kirchenzeitung für das evangelische Deutschland (1877) 4, 492–501.

2. Dogmatische Beiträge: Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878 173

zension von Lipsius’ Lehrbuch zu einem Essay fortzubilden, der Troeltschs Gegensatz zur Ritschl-Schule deutlich machen soll.66 Ritschl führt spätere Berufungsschwierigkeiten von Herrmann auf sein Image als ,Streithahn‘ zurück, das ihm die Lipsius-Rezension eingebracht habe.67 Herrmann selbst hat sich in der Einleitung von Die Religion im Verhältniß zum Welterkennen und zur Sittlichkeit von 1879 für den Ton seiner Lipsius-Rezension entschuldigt, von den sachlichen Einwänden hat er jedoch nichts zurückgenommen.68 In seinen Dogmatischen Beiträge baut Lipsius seine Replik auf Herrmanns Rezension zu einer ausführlichen Verhältnisbestimmung zwischen seiner und Ritschls Theologie aus. Neben der Herausarbeitung vorwiegend methodischer Differenzen betont Lipsius auch große Nähen. Herrmann wird dabei von Lipsius ganz zum Ritschl-Schüler stilisiert. Er bezeichnet ihn als „– ich glaube sagen zu dürfen unberufenen – Wortführer der Ritschl’schen Schule.“69 Diese Wendung verdient Beachtung, da durch Lipsius erstmals eine Schulbildung um Ritschl explizit ausgesprochen ist und die gebräuchliche Rede von einer Ritschl-Schule hier ihren Ursprung hat.70 Für Ritschl markiert jedoch gerade diese Rede von einer Ritschl-Schule einen erheblichen Affront von Lipsius, was zur endgültigen Entfremdung führte.71 Ein Selbstverständnis als Schulhaupt hat Ritschl zu diesem Zeitpunkt vehement abgelehnt und die darin eingelassene Unterstellung der Steuerung von Herrmann und weiteren als scharfe Beleidigung bewertet, wenngleich die Korrespondenz von Ritschl und Herrmann – beispielsweise durch die oben genannte Aufforderung an Herrmann, Lipsius in seiner Rezension nicht zu schonen – auf Wahrheitsmomente dieser Unterstellung verweist. Seit den Dogmatischen Beiträgen hat sich Ritschl jedenfalls nicht mehr öffentlich mit Lipsius auseinandergesetzt. In Lipsius’ Werk ist die Verhältnisbestimmung seiner theo-

66

Vgl. E T: Ernst Troeltsch an Wilhelm Bousset, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Briefe II (1894–1904) (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe 19), Berlin/Boston 2015, 53–54, hier 54. 67 Vgl. A R: Brief an Herrmann, 15. Juli 1878, in: Christophe Chalamet u.a. (Hg.): Albrecht Ritschl; Wilhelm Herrmann. Briefwechsel 1875 – 1889, Tübingen 2013, 165–168, hier 165. 68 Vgl. W H: Die Religion im Verhältniß zum Welterkennen und zur Sittlichkeit, Halle 1879, 7–8. Ritschl hatte Herrmann von dieser ,Abbitte‘ vehement abgeraten. Vgl. .: Brief an Ritschl, 17. Juli 1878, in: Christophe Chalamet u.a. (Hg.): Albrecht Ritschl; Wilhelm Herrmann. Briefwechsel 1875 – 1889, Tübingen 2013, 168–169, hier 168–169 und vgl. A R: Brief an Herrmann, 22. Juli 1878, in: Christophe Chalamet u.a. (Hg.): Albrecht Ritschl; Wilhelm Herrmann. Briefwechsel 1875 – 1889, Tübingen 2013, 169–170, hier 169. 69 L, Dogmatische Beiträge, 4. 70 Vgl. C, C/F-A, P/W, J: Einleitung, in: Christophe Chalamet u.a. (Hg.): Albrecht Ritschl; Wilhelm Herrmann. Briefwechsel 1875 – 1889, Tübingen 2013, 1–26, hier 4. Vgl. auch J W: Wilhelm Herrmanns Stellung in der Ritschlschen Schule (Beiträge zur historischen Theologie 97), Tübingen 1996, 39. 71 Vgl. R, Albrecht Ritschls Leben II, 308.

174

III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

logischen Systematik zur Ritschl-Schule hingegen ein durchgehend präsentes Anliegen. Diese Entfremdungsgeschichte von Ritschl und Lipsius zeigt sowohl Momente sachlicher und persönlicher Differenzen. Die persönliche Streitsache weist jedoch über sich selbst hinaus auf eine theologiegeschichtliche Bruchlinie zwischen der Ritschl-Schule und der klassischen liberalen Theologie. Gerade durch die abgrenzende Positionierung junger Ritschl-Anhänger wie Herrmann, Harnack und Gottschick gegenüber der als zu spekulativ-wahrgenommenen liberalen Theologie von Dorner, Biedermann und Lipsius einerseits und konfessioneller Theologie andererseits nimmt das theologiegeschichtliche Phänomen ,Ritschl-Schule‘ früh Konturen an.72 Diese Opposition zur liberalen Theologie überrascht angesichts der heute geläufigen Verhandlung der Ritschl-Schule als Inbegriff liberaler Theologie.73 Die Diskurse zwischen Lipsius und der RitschlSchule, die in den Dogmatischen Beiträgen und Lipsius’ weiterem Werk erheblichen Raum einnehmen, versprechen hier wertvolle Beiträge zu einem differenzierten Blick auf liberale Theologien des 19. Jahrhunderts.

b. Moralismus und Mystik – Eine Kritik der Ritschl-Schule In seinen Dogmatischen Beiträgen weitet Lipsius seine Antikritik gegen Herrmanns Angriffe auf das Dogmatik-Lehrbuch zu einer grundlegenden Verhältnisbestimmung zur Theologie Herrmanns und Ritschls aus. Der sich daraus entspinnende Diskurs haftet einerseits konkret an Herrmanns Rezension, wird andererseits von Lipsius durchgehend auf fundamentalere positionelle Differenzen hin durchsichtig gemacht. Im Folgenden sollen die dabei herausgestellten Frontlinien aus der Perspektive von Lipsius’ Darstellung analysiert werden. Unbeschadet ihres Charakters als mäandernde Gelegenheitsschriften lassen sich die Ausführungen in drei Themenkreise ordnen. Zunächst zerwerfen sich beide Theologen in der Frage nach der maßgeblichen Methode oder Referenzwissenschaft der Theologie. Während Lipsius eine religionspsychologische Grundle-

72

Vgl. C, C/F-A, P/W, J, Einleitung zum Ritschl-Herrmann-Briefwechsel, 4. 73 Vgl. dazu die Einleitung der vorliegenden Arbeit oben. Der heute geläufige summarische Begriff Liberale Theologie als ursprünglich polemische Fremdbezeichnung für eine theologiegeschichtliche Linie von Schleiermacher über Ritschl zu Herrmann und Troeltsch kann auf Rudolf Bultmanns programmatischen Text Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung von 1924 zurückgeführt werden. Vgl. B, Die liberale Theologie. Vgl. dazu K, Religionsbegriff und Gottesglaube, 178. Die Gräben zwischen der klassischen liberalen Theologie zur Zeit von Lipsius und der Ritschl-Schule stehen im 19. Jahrhundert im Vordergrund. Einerseits kann hier auf die Proteste gegenüber der Berufung eines RitschlSchülers als Jenaer Nachfolger von Lipsius hingewiesen werden, die sich an der damit in Verbindung gebrachten Abbruch der liberalen Tradition Jenas entzündeten. Siehe Kap. I.5. Andererseits ist der Überwindungsanspruch gegenüber der liberalen Theologie bei RitschlSchülern explizit ausgesprochen.

2. Dogmatische Beiträge: Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878 175

gung der gesamten dogmatischen Arbeit einfordert, verteidigt Herrmann die These, dass nur die Ethik das grundlegende Organon der Theologie sein kann. Vor diesem Hintergrund stellen sich dann verwandte Fragen nach der Beweisbarkeit religiöser Grundaussagen, der Erschließung der Menschheitsbestimmung und dem allgemeinen Verhältnis von Sittlichkeit und Religion. Sodann trennen erkenntnistheoretische Grundlagen beide Theologien. Lipsius begrenzt die Geltungsansprüche dogmatischer Sätze ganz auf wissenschaftsförmige Glaubenssätze. Dies liegt in einer durchgehenden Bildlichkeit religiöser Sätze begründet, die lediglich eine Annäherung an die religiösen Kerngehalte erlaubt. Herrmann bestreitet, dass eine solche Annäherung vor dem Hintergrund einer unumgänglichen Bildlichkeit dogmatischer Sätze sinnvoll sein kann. Er wirbt zum einen für eine stärkere ekklesiologische Rückbindung theologischer Geltungsansprüche. Zum anderen verteidigt er in diesem Rahmen die Beweisbarkeit theologischer Aussagen. Es zeigt sich bei beiden also eine andere Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen sowie eine gegensätzliche Beurteilung religiöser Erfahrung. Während Lipsius die Thematisierung religiöser Erfahrung als notwendiges mystisches Element aller Religion einfordert, kritisiert Herrmann eine solche Berufung auf Mystik. Beides konkretisiert sich in der Gotteslehre. Schließlich betrifft ein davon nicht scharf abtrennbarer dritter Themenkreis das Offenbarungsverständnis. Während Lipsius Offenbarung primär am Ort des religiösen Individuums aufsucht, will Herrmann den Offenbarungsbegriff durchgehend an christliche Gemeinschaft zurückgebunden wissen. Diese ekklesiologische Rückbindung macht sich bei Herrmann sowohl methodisch als auch erkenntnistheoretisch geltend und wird für ihn geradezu zum entscheidenden Signum der Theologie überhaupt. Demgegenüber setzt sich Lipsius für eine universalistische wissenschaftliche Form der Theologie ein. Pointiert nimmt dieser Gegensatz in der Christologie Gestalt an. Methodische Differenzen: Die methodischen Differenzen zwischen Lipsius und Herrmann lassen ein unterschiedliches Verständnis von Dogmatik erkennen. Für Lipsius ist die Dogmatik damit betraut, die Weltanschauung christlicher Frömmigkeit in eine wissenschaftliche Form zu bringen und dabei mit aller gesicherten menschlichen Erfahrung zu vermitteln. Damit soll geprüft und versichert werden, dass die religiösen Aussagen einen Platz finden (können) in den zeitgenössischen Versuchen der Welterklärung und von ihnen nicht ausgeschlossen werden.74 Dabei ist die Dogmatik trotz einer durchgehenden christlichen Perspektivität auf – nur approximativ erreichbare – universelle Plausibilisierung christlicher Weltanschauung ausgerichtet.75 Diese Universalität hat eine doppelte Stoßrichtung: Einerseits sollen die Glaubenssätze antastbar und kritisierbar durch wissenschaftliche Forschung bleiben. Andererseits verficht Lipsius in den Dogmatischen Beiträgen den Anspruch, die Dogmatik verteidigt eine relative Höchstgeltung christlicher Weltdeutung. 74 75

Vgl. L, Dogmatische Beiträge, 33. Vgl. a. a. O., 34.

176

III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

Eine einheitliche ,Weltanschauung‘, welche das Gebiet der Erfahrung notwendigerweise überschreitet, um den letzten Gründen alles erfahrungsmässigen Daseins und Geschehens nachzuspüren, lässt überhaupt keine directe, sondern wie ich gesagt habe, nur eine indirecte Beweisführung zu, nämlich so weit es gelingt, sie als die befriedrigendste unter allen möglichen Weltanschauungen zu erweisen.76

Letztbegründungen von Weltanschauungen sind ausgeschlossen. An die Stelle wissenschaftlicher Metaphysik muss die wissenschaftsförmige Arbeit an einer christlichen Weltanschauung treten, die ihre eigene Standortgebundenheit und Perspektivität mitreflektiert. Daraus folgt kein Relativismus, wie Herrmann Lipsius vorwirft. Über die Plausibilität einer Weltanschauung lässt sich sinnvoll streiten. Wesentliches Plausibilitätskriterium ist nach Lipsius die Fähigkeit einer Weltanschauung, die gesamte menschliche Erfahrung zu integrieren.77 Herrmann kritisiert diese starke Vermittlung von gegenwärtiger Weltwissenschaft und der Dogmatik. Die Theologie mache sich in ihrem ureigenen Erkenntnisgebiet abhängig von empirischer Wissenschaft und lasse sich von dieser dogmatische Gehalte vorschreiben.78 Lipsius unterwerfe hier – wohl motiviert vom Erfolg des Materialismus, spekuliert Herrmann – die gesamte Dogmatik einem naturwissenschaftlichen Maßstab.79 Mit seiner Forderung, auch die gesicherten Ergebnisse der Naturwissenschaften in eine christliche Weltanschauung einzubinden, schreibt Lipsius tatsächlich den Wissenschaften eine Korrekturfunktion auch in dogmatischen Fragen zu. Dies verdankt sich jedoch nicht einem szientistischen Religionsverständnis, sondern ist nach Lipsius eine Forderung des allgemeinen menschlichen Wahrheitsbewusstseins. Sie gründet im menschlichen Einheitstrieb, den Lipsius seit Die Gottesidee klar von Religion abgrenzt.80 Nach Ritschl hingegen – so Lipsius – liegt der Einheitstrieb des Menschen in der Suche nach einer zweckhaften Ordnung der Wirklichkeit begründet, was er bereits als ein genuin religiöses Anliegen deutet.81 Eine solche religiöse Deutung des Einheitstriebes lehnt Lipsius gerade zur Abgrenzung vom Materialismus ab, da auch materialistische Weltanschauungen dem Einheitstrieb gerecht werden können.82 Dennoch müssen sich auch religiöse Überzeugungen nach Lipsius gegenüber den Wissenschaften behaupten können, wenngleich sie sich weder wissenschaftlich beweisen oder herleiten lassen. Sie sollen gesichertem Wissen dennoch nicht widersprechen. Im Gegenzug erblickt er ein starkes Plausibilitätsmoment religiöser 76

Ebd. Vgl. ebd. 78 Vgl. a. a. O., 35. 79 Lipsius könne diesen szientistischen Maßstab der Theologie nur behaupten, wenn er eine unausgesprochene höhere Einheit zwischen empirischer Welterkenntnis und dem christlichen Prinzip annehmen würde, die sich dem menschlichen Geist prinzipiell entzieht. Vgl. W H: Rez: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik von R. A. Lipsius. 1876, in: Theologische Studien und Kritiken (1877) 3, 521–554, hier 526. 80 Siehe Kap. III.1. 81 Vgl. L, Dogmatische Beiträge, 14. 82 Vgl. a. a. O., 44. 77

2. Dogmatische Beiträge: Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878 177

Weltanschauungen darin, dass sie neben den in empirischen Wissenschaften erhobenen Erfahrungen auch die empirische Wirklichkeit transzendierende Freiheitserfahrung in ihre Beschreibungen einbinden können. Vor diesem Hintergrund ist auch Lipsius’ religionspsychologische Grundlegung zu begreifen. Die systematische Erschließung der Erfahrungsgestalt von Religion dient ihrer Integration in die christliche Weltanschauung. Eine solche religionspsychologische Fundierung der dogmatischen Arbeit zieht massive Kritik von Herrmann auf sich. Nach Herrmann verschwimmen bei Lipsius empirische Psychologie im Sinne einer naturwissenschaftlichen Untersuchung physiologischer Grundlagen menschlichen Bewusstseins und Motive rationaler Psychologie, die auf der Ebene der Bewusstseinsinhalte ansetzt.83 Empirische Psychologie könne das Phänomen Religion allerdings überhaupt nicht adäquat adressieren und rationale Psychologie könne aufgrund der teleologischen Struktur menschlichen Bewusstseins nur in Abhängigkeit von Ethik formuliert werden.84 Lipsius’ Konzeption der Religionspsychologie entzieht sich jedoch der von Herrmann eröffneten Alternative: In den Dogmatischen Beiträgen kann Lipsius von Religionspsychologie und Religionsphilosophie geradezu synonym sprechen. Religionspsychologie ist mit der empirischen Erforschung der Religion als Phänomen der inneren Erfahrung betraut.85 Es sollen Gesetzmäßigkeiten religiöser Erfahrung bestimmt werden.86 So lassen sich ohne Voraussetzung von religiösen Geltungsansprüchen Strukturen der Religion untersuchen. Die Empirie der Religionspsychologie ist allerdings bei Lipsius nicht im Sinne einer naturwissenschaftlichen Psychologie zu verstehen. Er beruft sich vielmehr auf Friedrich Albert Langes Fassung der Psychologie als Lehre vom Vorstellungswechsel.87 Ihr ist es um ,kausale‘ Zusammenhänge zwischen menschlichen Vorstellungsbildungen zu tun. Es geht um eine „den geistigen Vorgängen innewohnende Gesetzmässigkeit“88, eine Gesetzmäßigkeit innerer Erfahrung des Menschen, unabhän83

Vgl. a. a. O., 60. Vgl. a. a. O., 65. 85 „Der Religionsphilosophie aber weise ich die wissenschaftliche Aufgabe zu, die religiösen Vorstellungen zunächst als psychische Phänomene zu betrachten, und aus der Gesetzmässigkeit des menschlichen Geisteslebens zu erklären.“ A. a. O., 40. 86 Vgl. A. a. O., 59. 87 Vgl. a. a. O., 62. Lipsius schließt sich hier dem Verweis auf Lange an, den Graue gegenüber Herrmanns Kritik der Religionspsychologie bei Lipsius bereits vorgebracht hat. Vgl. G, Zur Abwehr, 495. Gegenüber Lipsius’ Berufung auf Lange ist jedoch festzuhalten, dass Lange einer Lehre des Vorstellungswechsels selbst skeptisch gegenübersteht. Er stimmt zwar prinzipiell einer eigenständigen Gesetzmäßigkeit psychischer Prozesse zu, die nicht in physiologischen Gesetzmäßigkeiten aufgeht. Fraglich ist ihm jedoch, „ob es überhaupt für den Vorstellungswechsel eine durchgehende und immanente Kausalität gibt oder nicht.“ F A L: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1974, Bd. 2, 837. Für Lange steht es noch aus, ob sich eine innere Kausalität der Vorstellungen ausmachen lässt, die sich nicht letztlich wieder auf physiologische Zusammenhänge zurückführen lässt. Vgl. a. a. O., Bd. 2, 840. 88 L, Dogmatische Beiträge, 27. 84

178

III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

gig von ihren physiologischen Grundlagen.89 Auch diese Gesetzmäßigkeit religiöser Vorstellungsbildung soll in die christliche Weltanschauung einbezogen werden. Herrmann unterstellt Lipsius, einen psychologischen Beweis der Religion geben zu wollen und einer metaphysischen Notwendigkeit der Religion für den Menschen das Wort zu reden. Dies hat Lipsius bereits in seiner Dogmatik dementiert.90 Wenn Lipsius von einer im menschlichen Geistesleben begründeten praktischen Nötigung zur Ausbildung zur Religion gesprochen hat, soll dies nicht als eine anthropologische Notwendigkeit verstanden werden.91 Religion antwortet jedoch auf eine Problemkonstellation von anthropologischer Reichweite. Alle Menschen geraten nach Lipsius in den Konflikt ihres Freiheitstriebes mit der ihr gegenüberstehenden endlichen Abhängigkeit. Religion reagiert auf eine Grundstruktur menschlichen Selbstbewusstseins. Sie ist jedoch nicht selbst Teil dieser Grundstruktur. Ich finde die ,eigenthümliche Beschaffenheit unsres Selbstbewusstseins‘, auf die es mir hier ankommt, in der Selbstunterscheidung des Ich als denkendes und wollendes Wesen von der äussern Natur und von seiner eignen Naturbestimmtheit.92

Die praktische Nötigung zur Ausbildung der Religion liegt dabei in dieser Struktur der Selbstunterscheidung des Subjekts von seiner natürlichen Bedingtheit begründet. Die psychologische Nöthigung zur Religion beruht mir also darin, dass das Ich, indem es als denkendes und wollendes Wesen sich von seiner empirischen Naturbestimmtheit unterscheidet, den Trieb in sich fühlt, über den sein Wesen behaftenden Widerspruch hinauszukommen und sich jener seiner Naturbestimmtheit gegenüber in seiner Selbstständigkeit zu behaupten.93

Diese Nötigung entspringt dem menschlichen Endlichkeitsbewusstsein, das als Bewusstsein seiner Endlichkeit selbst schon die Transzendierung von der eigenen Naturbestimmtheit vollzieht. Wenn ich behaupte, dass der Mensch schon im Bewusstsein seiner Endlichkeit innerlich über dieselbe hinausgehoben sei, so meine ich natürlich, dass der Mensch eben dadurch, dass er ein Bewusstsein von seiner Endlichkeit hat, also als denkendes Subject, sich von seiner endlichen Naturbestimmtheit, vermöge deren er ein Object natürlicher oder mechanischer Einwirkungen ist, unterscheidet, sich also eben damit innerlich über dieselbe erhebt.94

In der Erkenntnis eigener Endlichkeit liegt demnach bereits eine Transzendierung der eigenen Endlichkeit vor, die eine Selbstunterscheidung des Menschen von 89

Vgl. L, Geschichte des Materialismus, Bd. 2, 835. Vgl. L, Dogmatische Beiträge, 20. 91 Vgl. a. a. O., 22. Siehe dazu Kap. II.2. 92 Ebd. 93 A. a. O., 22–23. 94 A. a. O., 26. 90

2. Dogmatische Beiträge: Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878 179

seiner Naturverwobenheit im Sinne einer unablegbaren Eingebundenheit in „den mechanischen Zusammenhang der sinnenfälligen, räumlichen und zeitlichen Erscheinungen“95 bedeutet. Die Religion reagiert auf eine dieser Selbstunterscheidung eingeschriebenen Spannung (Freiheit und Abhängigkeit) und expliziert und kultiviert die darin bereits angelegte Transzendierung der menschlichen Endlichkeit zur Freiheit. Herrmann problematisiert die Annahme einer Quelle der Religion im menschlichen Endlichkeitsbewusstsein. Lipsius verkenne, dass Religion nur im Rahmen einer Ethik überhaupt angemessen adressiert werden könne. Prinzipiell sind sich Herrmann und Lipsius einig, dass Religion als eine Form der Erhebung des Menschen über seine Naturbestimmtheit zu fassen ist. In der Religion findet der Mensch seine Bestimmung, welche seine endliche, empirisch-fassbare, Bestimmtheit transzendiert. Lipsius identifiziere diese Erhebung allerdings direkt mit dem menschlichen Selbstbewusstsein. „Lipsius verlegt die innere Erhebung des Menschen über die Natur in das Selbstbewußtsein, in die Apperception der Identität verschiedener Bewußtseinsacte.“96 Das Endlichkeitsbewusstsein als Wissen um die mechanische Abhängigkeit vom Naturverlauf ist nach Herrmann klar von einer Erhebung über die Abhängigkeit abzugrenzen.97 Erst ein Selbstwertbewusstsein leiste die gefragte Erhebung, soll nicht wie bei Lipsius dem „trostlosen Wahn von dem selbständigen Werthe des Wissens“98 das Wort geredet werden. Lipsius’ Sakralisierung des Selbstbewusstseins sei wie seine Vorlage bei Biedermann als ,Gespensterglaube‘ abzutun: Aber dies Bestreben, die Erhebung über die Natur, wie sie in der aus dem Christentum gedeuteten Religion gemeint ist, mit einer Naturbestimmtheit des Geistes zu confundiren, durch welche er sich von dem im Raume Bewegten unterscheidet, steht auf derselben Höhe, wie der Glaube des Volkes an Gespenster.99

Biedermanns und Lipsius’ Fehler sei gleichermaßen, dass sie die formalen Strukturmerkmale des menschlichen Geistes mit dem Grund seiner Überweltlichkeit und seinem Wert verwechseln. Religion könne nicht wie bei Lipsius von einem Akt menschlicher Naturbestimmtheit abhängig gemacht werden. Religion setzt Freiheit immer schon voraus und ist nur aus ihr heraus zu verstehen. Das verbindet für Herrmann Ethik und Religion. Wie der Gegenstand der Ethik, so ist auch der Gegenstand der Religion nur durch Freiheit gegeben. „Dann ergibt sich, daß nicht die Psychologie, überhaupt nicht die wissenschaftliche Erkenntnis der thatsächlich gegebenen Welt zum Organon der Dogmatik tauglich ist, sondern die Ethik, deren Gegenstand durch die Freiheit gegeben ist.“100 Diese These ruht

95

A. a. O., 27. H, Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik, 533. 97 Vgl. ebd. 98 A. a. O., 534. 99 Vgl. ebd. 100 A. a. O., 531.

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III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

der schematischen Zuordnung von Religion und Ethik zu einer teleologischen Gegenstandssphäre auf, die stark von einer empirisch erhebbaren Sphäre der Naturkausalität abgegrenzt wird. Menschliches Handeln und menschliches Bewusstsein wird dabei ganz durch teleologisches Vokabular beschrieben. Zwecksetzungen bestimmen das über die Natur Erhabene des menschlichen Geisteslebens. Sie sind nur durch Freiheit möglich und konstituieren sich durch Werturteile. Eine empirische Perspektive auf Religion, die sich der Wertung über religiöse Geltungsansprüche versagt, kann Religion nicht erfassen, da der Phänomenbestand der Religion durch die Wertung erst entsteht.101 Ein Konflikt von Freiheit und Abhängigkeit ist so immer schon eine ethische Problemstellung.102 Diese These Herrmanns konkretisiert Lipsius durch einen Rückgang auf die Religionstheorie Ritschls. Er definiert Religion als „das praktische Gesetz des Geistes, demgemäss er seine Totalität d. h. seine durchgehende Bestimmung als Zweck an sich gegen die Hemmungen der Natur, welche er erfährt, aufrecht erhält“103. Die Religion erlaubt es demnach, eine Bestimmung des Menschen als Selbstzweck aufrechtzuerhalten, dem gegenüber die Natur immer nur als Mittel zu diesem Zweck betrachtet werden kann. Auf diese Weise löst die Religion den menschlichen Konflikt zwischen seiner Freiheitserfahrung und der Naturverwobenheit. Ritschl bezieht hier seine Religionskonzeption auf die gleiche menschliche Problemkonstellation, die Lipsius als psychologischen Grund der Religion bezeichnet: Dem „Contraste zwischen der Abhängigkeit des Menschen von der Welt und seinem Streben nach Freiheit über die Welt und über den gewöhnlichen Verkehr mit ihr“104. Nach Ritschl ist es jedoch auch eine Selbstwertzuschreibung, die als Grundsatz des menschlichen Geisteslebens auftritt. Religion macht diesen Selbstwert denkbar. So kann Ritschl noch in der ersten Auflage seines Hauptwerks, Die Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, einen moralischen Gottesbeweis führen. Gott muss gedacht werden, damit das Dasein vernünftiger Wesen in der Welt unter moralischen Gesetzen gedacht werden kann, die den Selbstwert der Menschen versichern.105 Nach Herrmann ist die Religion schließlich ganz ein Ausgleich zwischen sittlichen Ansprüchen des Menschen und seiner empirischen Weltstellung. Herrmann radikalisiert hier nach 101 Nach Friedrich Traub übersehe Lipsius die Grundpointe von Herrmanns Werturteilsbegriff. Lipsius verstehe unter Werturteilen Aussagen, die ausgehend von einer Wertempfindung gemacht werden und die Seinsfragen offen lassen. Herrmann meine hingegen mit Werturteilen Urteile über Gegenstände, deren Sein in der Werterfahrung selbst besteht und für einen gleichgültigen Beobachter nicht vorhanden wäre. Vgl. T, Grundlegung und Methode der Lipsiusschen Dogmatik, 489–490. 102 Vgl. H, Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik, 536. 103 A R: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Die positive Entwickelung der Lehre, Bonn 1874, 191. 104 L, Dogmatische Beiträge, 11. 105 Vgl. a. a. O., 12. Nach Lipsius ist es gerade diese Wendung zu einem moralischen Gottesbeweis, die Herrmanns und Ritschls Religionsbegriff ganz als Lösung eines sittlichen Problems erscheinen lässt.

2. Dogmatische Beiträge: Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878 181

Lipsius eine Tendenz, die bei Ritschl bereits angelegt ist: Die religionspsychologischen Überlegungen von Ritschl, mit denen sich Lipsius noch weitestgehend einig weiß, werden durch ethische Überlegungen verdrängt.106 Gerade in dieser Reduktion des menschlichen Geisteslebens auf teleologische Strukturen und in der damit einhergehenden ethischen Einhegung der Religion erblickt Lipsius eine fundamentale Differenz nicht nur gegenüber Herrmann, sondern auch Ritschl. Das menschliche Bewusstseinsleben kann nicht allein oder primär durch Ethik beschrieben werden. Vielmehr identifiziert Lipsius darin eine problematische Abkopplung der Theologie von sämtlicher empirischer Forschung.107 So fasst Ritschl Religion und theoretische Erkenntnis als „entgegengesetzte Geistesthätigkeiten“108. Herrmann steigert dies dann zur vollkommenen Indifferenz der Theologie gegenüber allen metaphysischen Rahmenannahmen: „[F]ür die Erschwerung oder Erleichterung der religiösen Aufgabe macht es gar nicht aus, ob die Metaphysik, welcher der Christ folgt, materialistisch oder idealistisch gerichtet ist.“109 Für Lipsius ist es unmittelbar evident, „dass unser Geist eine absolute Trennung beider Gebiete, der Religion und des theoretischen Erkennens, schlechterdings nicht erträgt.“110 Gegen eine allzu schematische Sphärentrennung zwischen Natur und Freiheit – durch die Trennung einer naturkausalen und einer teleologischen Sphäre – fordert Lipsius eine komplexere Beschreibung menschlicher Bewusstseinsprozesse, die beide Sphären zu verbinden vermag. Einerseits geht das menschliche Bewusstsein nicht in einer teleologischen Struktur auf und andererseits kann die menschliche Zwecktätigkeit selbst auf sie konstituierende kausale Strukturen befragt werden.111 Ritschls und Herrmanns Betonung teleologischer Strukturen des menschlichen Bewusstseins hat nach Lipsius durchaus ihr Recht gegenüber materialistischen Reduktionen. Das Eigentümliche des menschlichen Bewusstseins geht darin jedoch nicht auf. Das gemeinsame Merkmal menschlicher Bewusstseinsprozesse ist die Freiheit von naturkausaler Determination, die sich im Denken, Wollen und Fühlen gleichermaßen geltend macht. Nach Lipsius’ Analyse haben diese methodischen und bewusstseinstheoretischen Differenzen zwischen Ritschl, Herrmann und ihm eine entscheidende Wurzel in der Auffassung der Religion. Ihnen liegen auseinanderfallende Bestimmungen des Glutkerns der Religion zugrunde. Ritschl und Herrmann – so sein Hauptvorwurf – blenden mystische Aspekte der Religion aus und setzen eine moralistische Religionstheorie an ihre Stelle. Wenngleich Lipsius selbst in seiner

106

Vgl. a. a. O., 13. Vgl. a. a. O., 42. 108 R, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung III 1874, 170. 109 W H: Die Metaphysik in der Theologie, in: Ders.: Schriften zur Grundlegung der Theologie (Theologische Bücherei 36), München 1966, 1–80, hier 16. 110 L, Dogmatische Beiträge, 59. 111 Vgl. a. a. O., 47. In seiner Spättheologie übernimmt Lipsius selbst unbefangener primär-teleologische Beschreibungsmuster menschlichen Geisteslebens. Siehe Kap. IV. 2.d. 107

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III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

Schleiermacherkritik und seiner religionstheoretischen Grundlegung seiner Dogmatik die Momente menschlicher Aktivität im Kern der Religion betont hat, würde nach ihm die ethische Eingrenzung der Religion das Moment menschlicher Aktivität auf Kosten der passivischen Momente zu stark in den Vordergrund stellen.112 Lipsius fordert dagegen die Abhängigkeit von Gott als das primäre Moment der Religion herauszustellen.113 Das praktische Ziel der Religion ist selbst jedoch nur eine Folge des Gottesverhältnisses. In dieser Auffassung der Religion nach Lipsius hat nicht ein sittliches, sondern ein mystisches Element die Hauptsache zu sein.114 Dieses persönliche Verhältnis zu Gott ist einerseits ein Innewerden unsrer Abhängigkeit von Gott, andrerseits ein Act innerer Erhebung des Menschen zu Gott, um durch praktische Anerkennung jener Abhängigkeit sein Verhältnis zu Gott in einer seinem Willen gemässen Weise zu ordnen, und dadurch nun auch sein praktisches Ziel, die Unabhängigkeit von den Hemmungen, welche der Mensch in seiner Welt erlebt, oder sein persönliches Wohl in der Freiheit von der Welt zu erreichen.115

Lipsius lehnt also Herrmanns Interpretation der menschlichen Selbstbehauptung als allein sittliche Selbstbehauptung als eine moralistische Funktionalisierung der Religion ab. Er hat bereits in seinem Lehrbuch auf die relative Selbstständigkeit von Sittlichkeit und Religion hingewiesen.116 Den Faktor der Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit des menschlichen Subjekts in der Religion gilt es gerade von sittlicher Selbstständigkeit abzugrenzen. Daran scheitere Ritschl jedoch, da bei ihm das mystische Element fehlt.117 Dies zeigt auch die Zurückstellung des Lehrstücks vom testimonium Spiritus Sancti internum.118 An die Stelle jenes der religiösen Mystik so wichtigen Gedankens der unmittelbaren Gegenwart des Geistes Gottes im frommen Subject muss dann, weil er nur zu leicht der Hallucination verdächtig erscheint, einfach die geschichtliche Offenbarung des göttlichen Versöhnungswillens für die Gemeinde treten und von der Anerkennung dieser geschichtlichen Offenbarung als äusserer Thatsache wird die Reflexion über den gesetzmässigen Zusammenhang der innern geistigen Vorgänge, durch welche sich die Herstellung des Gottesgemeinschaft für die Gemeinde ebenso wie für den Einzelnen vollzieht, völlig resorbirt.119

112 So wolle Herrmann den Begriff der Abhängigkeit von Gott ganz durch das Konzept von Zugehörigkeit bei Gott ersetzen. Vgl. a. a. O., 15. Bei Ritschl trete die Abhängigkeit von Gott auch nur als Bedingung für die sittliche Welt- und Lebensbetrachtung auf. Zu Lipsius’ Verhältnisbestimmung von aktivischen und passivischen Momenten der Religion siehe Kap. I.4.b. und Kap. II.2. 113 „Die Anerkennung seiner Abhängigkeit von Gott bildet den Ausgangspunkt jedes religiösen Actes“ A. a. O., 10. 114 Vgl. a. a. O., 16. 115 Ebd. 116 Siehe Kap. II.2. 117 Vgl. A. a. O., 9. 118 Vgl. a. a. O., 17. 119 Ebd.

2. Dogmatische Beiträge: Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878 183

Die Ursache für die deutliche Abkehr der mystischen Momente der Religion erkennt Lipsius in der gänzlichen Bestreitung eines „Gebiet[s] unmittelbarer religiöser Erfahrung“120. So hat die Betonung der mystischen Aspekte bei Lipsius eine methodische Pointe. Die religiöse Erfahrung soll als wesentlicher Bezugspunkt dogmatischer Arbeit behauptet werden. Wenngleich Lipsius stets die aktivischen Anteile des Menschen an der religiösen Erfahrung betont hat, bleibt Erfahrung ein primär passivisches Moment des menschlichen Geisteslebens, das in einer Erschließung von Religion im Rahmen ethischer Theoriebildung nach Lipsius unterbelichtet bleibt. In dieser Zentralstellung religiöser Erfahrung liegt demnach Lipsius’ Plädoyer für eine Religionspsychologie anstelle der Ethik als wichtigste Referenzdisziplin der Theologie begründet. Ritschls Theologie erscheint ihm in dieser Hinsicht zumindest ambivalent; Herrmann jedoch sieht Lipsius vollständig in einen theologischen Moralismus abgleiten. Erkenntnistheoretische Differenzen: Neben Abgrenzung der Erfahrungstheologie von Lipsius und der Ethiktheologie von Ritschl und Herrmann trennen beide Theologietypen erkenntnistheoretische Grundlagen. Dies konkretisiert sich in Herrmanns Kritik an der These einer durchgehenden Bildlichkeit dogmatischer Sprache. Nach Lipsius’ religiöser Erkenntnistheorie ist dogmatische Rede immer uneigentliche Rede.121 Sie hat ihren Ursprung im „producirenden Anschauungsvermögen“122 des Menschen und hat daher immer anthropomorphe Momente.123 So ist auch jede Gottesvorstellung geprägt durch die Welt- und Selbsterfahrung. Beispielsweise die Rede von einer Geistigkeit Gottes ist demnach immer auch eine Analogie des Menschen zu seinem Selbstbewusstsein.124 Diese Bildlichkeit dogmatischer Rede ist Lipsius Ausdruck einer unumgänglichen Inadäquanz zu ihrem adressierten Gehalt. Zugleich geht Lipsius von einem nicht-bildlichen Kerngehalt dogmatischer Rede aus. Auch in der Dogmatik geht es ihm also um ein Repräsentationsverhältnis. Aufgabe der Dogmatik ist es hier, dieses Repräsentationsverhältnis bewusst zu halten; im negativen Sinn der Erinnerung an ihre Bildlichkeit und im positiven Sinn der Bewahrung ihres Verweischarakters. So deckt sie durch Verstandeskritik Anthropomorphismus auf und beteiligt sich an kreativen Umbildungen dogmatischer Sprache, die den adressierten Kerngehalt in den Vordergrund stellen kann. Dogmatik ist in dieser Hinsicht eine methodische Fortführung des religionsgeschichtlichen Transformationsprozesses dogmatischer Rede, den Lipsius Vergeistigung nennt, was jedoch nicht als ein reiner Abstraktionsprozess von der Bildlichkeit verstanden werden kann.125 Dieser Transformationsprozess kommt prinzipiell an kein Ende. Es 120

A. a. O., 18. Siehe Kap. II.4. 122 D., Dogmatische Beiträge, 54. 123 Vgl. a. a. O., 207. 124 „Selbstbewusstsein ist ein analogischer Ausdruck, den ich auf Gott übertrage, weil ich mir ihn als absoluten Urgrund, eben damit aber zugleich als absolutes Urbild alles concreten geistigen, d. h. bewussten Lebens denken muss.“ A. a. O., 209. 125 Vgl. a. a. O., 200. 121

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III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

bleibt eine unendliche Aufgabe, den eigentlichen Bedeutungsgehalt von religiösen Ausdrucksformen herauszustellen. Dennoch gibt es Ausdrucksformen, die diese Aufgabe besser als andere Ausdrucksformen erfüllen. Lipsius versucht also, eine bleibende und unumgängliche Bildlichkeit aller religiöser Aussagen mit einem Gradunterschied der Adäquanz religiöser Bildersprache zu verbinden. Gerade an dieser Verbindung setzt Herrmanns Kritik an. Er bestreitet, dass sich eine Theorie durchgehender Bildlichkeit religiöser Sprache mit der Annahme eines solchen Gradunterschieds der Adäquanz verbinden lässt.126 Vielmehr gleiche Lipsius’ Konzeption einer zunehmenden Vergeistigung der religiösen Bildersprache einer ,Verdünnung‘ der Bildersprache, der keinerlei religiöses oder kultisches Interesse zugrunde liege.127 Schließlich sei der Grad der Vergeistigung gleichgültig, wenn eine adäquate religiöse Sprache von vornherein ausgeschlossen ist.128 Diese Kritikpunkte Herrmanns lassen sich in dem formellen Kritikpunkt bündeln, dass ein Gradunterschied der Adäquanz kriterienlos bleiben muss, ohne die Möglichkeit einer vollständig-adäquaten Ausdrucksform einzuräumen. Gegen diese Kritik beruft sich Lipsius auf eine Unterscheidung von Ausdrucksform und Gemeintem.129 Trotz der Unmöglichkeit, präzise und erschöpfende Ausdrucksformen für dogmatische Gehalte zu finden, ist es nach Lipsius möglich, Auffassungen von der Aussageintention, dem Gemeinten, dogmatischer Rede formal zu benennen. Deutlich wird dies an einem Beispiel: Lipsius führt den Unterschied von den Gottesattributen Ausserweltlichkeit und Überweltlichkeit an. Gemeint sei bei beiden Ausdrücken, dass Gott nicht als der Raumform unterworfen gedacht werden soll. Während nun eine Ausserweltlichkeit eine räumliche Verortung Gottes neben unserer Welt insinuiert, drücke die Bezeichnung überweltlich die Freiheit Gottes von aller Raumform adäquater aus. Beide Ausdrücke bedienen sich jedoch räumlicher Schematisierungen (außer/über) der göttlichen Erhabenheit über Räumlichkeit. Sie versuchen, das Nicht-Räumliche räumlich auszudrücken. Dennoch kann für Lipsius der Übergang von ,außerweltlich‘ zu ,überweltlich‘ als angemessener Läuterungsversuch dogmatischer Rede aufgefasst werden. Denn der erneut sinnliche Ausdruck ,überweltlich‘ stelle die eigene Unangemessenheit besser zur Schau, sodass ihr Verweischarakter auf die Nicht-Räumlichkeit in den Vordergrund trete. Eine solche Unterscheidung von Ausdrucksform und Gemeintem setzt voraus, dass es irgendeine Form des Bewusstseins des Gemeinten jenseits seiner sprachlichen Ausdrucksformen gibt. Erst wenn Lipsius einen solchen Zugang zum Gemeinten angeben kann, kann er damit Herrmanns Vorwurf der Maß126

Vgl. a. a. O., 195–196. Vgl. a. a. O., 196. 128 Vgl. ebd. 129 „[S]o weiss doch ein philosophisch geschultes Denken recht gut zwischen dem bildlichen Ausdruck und dem was mit jenem Ausdrucke Geistiges gemeint ist zu unterscheiden.“ A. a. O., 196–197. 127

2. Dogmatische Beiträge: Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878 185

stabslosigkeit des Transformationsprozesses dogmatischer Rede entgegentreten. Denn die Vorstellung einer adäquaten Ausdrucksform „von dem göttlichen Wesen an sich, dem übersinnlichen unendlichen und ewigen Sein“130 schließt Lipsius konsequent aus. Religiös gesprochen bleibt Gott jenseits seiner Selbstoffenbarung ein verborgener Gott.131 Herrmann verkennt jedoch, dass Lipsius in der religiösen Erfahrung einen solchen Zugang zum dogmatisch Gemeinten annimmt. Dazu beigetragen hat womöglich Lipsius’ schwankender Gebrauch des Erfahrungsbegriffs zwischen einer kategorial verfassten empirischen Welterfahrung und einer religiösen Selbsterfahrung, die hingegen stärker durch Momente vorprädikativen Bewusstseins geprägt ist und für die er später konsequenter den Begriff des Erlebens verwendet. Menschliche Ausdrucksformen können Gott oder das Absolute in ihrer wesentlichen Beschaffenheit nicht adäquat zur Darstellung bringen, sie können jedoch eine angemessene Ausdrucksform menschlichen Gotteserlebens sein und damit eine Erfahrungsgestalt Gottes anschaulich machen.132 Die Aussagen der Frömmigkeit über Gott sind so nie als metaphysische Aussagen über das Sein Gottes zu verstehen, sondern als Erfahrungsbericht innerer religiöser Erhebung.133 Sie sind relationale Aussagen über das Erleben des religiösen Verhältnisses, nicht jedoch über die Substanz des Göttlichen. Die Aussagen der Frömmigkeit über die Art, wie wir im religiösen Vorgange von Gott afficirt werden, sind für die religiöse Betrachtung eo ipso zugleich Aussagen über die Selbstthätigkeit Gottes in uns, oder über die bestimmte Weise, wie Gott als Geist in unserm Geistesleben zu uns in Relation tritt.134

Diese Erfahrung nimmt nach Lipsius jedoch immer eine kulturell und geschichtlich geprägte Konkretion an. So partizipiert die Transformation religiöser Ausdrucksgestaltungen an einem umfassenden kulturgeschichtlichen Entwicklungsprozess.135 Er ist verstanden als Prozess der „fortschreitenden Befreiung des Geistes von der Natur“136. Die Umbildung religiöser Bildersprache erfolgt also nicht allein einem genuin religiösen Anliegen, sondern folgt auch einem „ästhetischen, ethischen, intellectuellen Interesse“137. Die Befreiung von der Herrschaft des Sinnenschein und seinen Täuschungen vermittelt sich durch die Erkenntniss der Gesetze, welche einerseits unser Vorstellen und Denken, anderseits den Zusammenhang der Erscheinungen in unserer Welt bestimmen. Die Bezähmung des Naturtriebs und die Beherrschung der äussern Natur vermittelt sich durch das

130

A. a. O., 198. Vgl. a. a. O., 212. 132 Vgl. a. a. O., 198. 133 Vgl. a. a. O., 214. 134 A. a. O., 213. 135 Vgl. a. a. O., 201. 136 A. a. O., 204. 137 Ebd. Neben den genannten Motiven geht es der Religion bei der Transformation ihrer Ausdrucksformen auch darum, einer ,Verkümmerung‘ religiöser Gestimmtheit entgegenzuwirken. Vgl. a. a. O., 205. 131

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III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

Streben nach gemeinsamen Zwecken und Gütern, durch sittliche Arbeit und Bildung eines sittlichen Willens. Endlich die Darstellung der Herrschaft des Geistes über die Natur vermittelt sich durch die künstlerische Gestaltung, durch Umbildung der sinnlichen Form zum Sinnbilde der Idee, zum Ausdruck des Schönen oder der harmonischen Erscheinung des Geistes in der Natur.138

Lipsius übernimmt hier Grundzüge von einer allgemeinen Theorie des menschlichen Kulturfortschritts, wie Schleiermacher sie beispielsweise in seiner philosophischen und theologischen Ethik zugrunde gelegt hat. Die Religion partizipiert an einem allgemeinen Prozess menschlicher Geistesgeschichte hin zur zunehmenden Herrschaft des Geistes über die Natur. Der Umbildungsprozess religiöser Bildersprache partizipiert demnach an einer umfassenden Befreiungsgeschichte der Menschheit von ihrer Naturverwobenheit. Vor diesem Hintergrund kommt auch der Vergeistigung religiöser Ausdrucksform ein freiheitstheoretischer Richtungssinn zu. Die Reaktion von Lipsius auf Herrmanns Einwand, dass Lipsius’ Bildlichkeitstheorem auffallend kriterienlos auftritt, unterstreicht, wie stark Lipsius religiöse Kommunikation nach einem Kern-Schale-Modell fasst. Dabei treten jedoch nicht die eigentlich vermeinten religiösen Gegenstände an die Stelle des Kerns, sondern das religiöse Erleben, dem aus der Perspektive der Frömmigkeit selbst ein Verweischarakter auf eine Gottheit zugeschrieben wird. Selbst eine adäquate Ausdrucksform religiöser Erfahrung kann so nicht als Wesensbestimmung Gottes auftreten. Religiöse Erfahrung kann jedoch dogmatisch als Offenbarung Gottes ausgelegt werden. Die Transformation religiöser Bildersprache wird nicht als Annäherung an den religiösen Kern beschrieben, sondern als gesteigertes Bewusstsein der Differenz von Kern und Schale – also der Bildlichkeit religiöser Aussagen –, das sich zunehmend in den Ausdrucksformen selbst niederschlägt. Dogmatische Rede kann sich des Göttlichen nicht ermächtigen, sondern nur der Kommunikation religiöser Erfahrung dienen. Dieser Konzeption liegt die Grundannahme voraus, dass es sich bei dem Bezugsgegenstand der Religion um einen transzendenten Wirklichkeitsgrund handeln muss, der sich nicht in Kategorien des Endlichen fassen lässt. Menschliche Denk- und Darstellungsformen bleiben diesem Wirklichkeitsgrund gegenüber immer inadäquat. Die Angemessenheit religiöser Ausdrucksformen muss sich nach Lipsius vielmehr anhand ihrer Fähigkeit messen lassen, verendlichenden Interpretationen religiöser Erfahrung entgegenzutreten. Das Transzendenzmoment religiösen Erlebens gilt es als solches ins Bewusstsein zu heben. Offenbarungstheologische Differenzen: Die methodischen und erkenntnistheoretischen Differenzen von Lipsius und Herrmann kulminieren in ihren gegensätzlichen Fassungen des Offenbarungsbegriffs. Die religiöse Erfahrung des Einzelnen als Offenbarung auslegen zu können, ist ein Zentralmotiv von Lipsius Dogmatikkonzeption. Nach Herrmann zeige sich gerade darin ein mangelhaftes

138

A. a. O., 204.

2. Dogmatische Beiträge: Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878 187

Theologieverständnis. Es decke den Subjektivismus von Lipsius theologischer Methodik auf. Dogmatik ist sowohl bei Herrmann als auch bei Lipsius an eine Perspektive des christlichen Glaubens gebunden. Auch bei Lipsius ist Dogmatik daher als wissenschaftliches Bewusstsein der Kirche ekklesiologisch rückgebunden.139 Nach Herrmann unterbietet Lipsius diesen Anspruch allerdings mit einem teils subjektivistischen teils metaphysischen Offenbarungsbegriff. Im Anschluss an Ritschls enger Verzahnung von Ekklesiologie und Soteriologie bestimmt Herrmann den Offenbarungsbegriff als eine Funktion der christlichen Gemeinde. „Offenbarung für den Einzelnen als solchen gibt es gar nicht. Das nennen wir nicht Offenbarung, sondern Hallucination.“140 Mit seinem erfahrungstheologischen Aufsuchen der Offenbarung im individuellen Subjekt mache Lipsius den Offenbarungsbegriff schwanken und binde ihn an die Intensität religiöser Gestimmtheit. Dies könne jedoch keine verlässliche Grundlage der dogmatischen Arbeit bieten. Hinzu kommen metaphysische Restbestände, die sich aus einer unreflektierten Nähe zu Biedermann ergeben würden.141 Gegenüber Herrmanns Fassung der Offenbarung als Funktion der Gemeinde verteidigt Lipsius einen Bezug des Offenbarungsbegriffs auf menschliche Subjekte. Konkrete Offenbarungsempfänger bleiben nach Lipsius immer lebendige Individuen und keine Kollektivgrößen. Dieser Rekurs auf das religiöse Subjekt soll keineswegs einem religiösen Subjektivismus das Wort reden, der die Intensität der religiösen Gefühle zum Kriterium echter Offenbarung mache.142 Die kollektive Offenbarungsgewissheit christlicher Gemeinschaft ist für Lipsius vielmehr ein notwendiges Korrektiv subjektiver Trübungen des religiösen Bewusstseins.143 Wissenschaftliche Dogmatik muss dennoch am menschlichen Offenbarungsbewusstsein ansetzen. Ihr ist es dabei um die Bestimmung des „allgemeine[n] geistige[n] Wesen[s] des mit dem Namen Offenbarung bezeichneten Vorgangs im Menschengeiste“144 zu tun. Diesem Unternehmen entspricht ein allgemeiner religionstheoretischer Offenbarungsbegriff, der noch nicht auf die spezifische Offenbarungskonzeption des Christentums enggeführt ist. Mit ihm bezeichnet Lipsius das religiöse Verhältnis als göttliches Wirken am Ort des menschlichen Geisteslebens. Während die Wirklichkeit der Offenbarung der wissenschaftlichen Perspektive ein unergründliches und damit problematisches Mysterium bleibt, soll das menschliche Offenbarungsbewusstsein als menschliche Vorstellung religionspsychologisch untersucht werden.145 Die Wirklichkeitsan139

Siehe Kap. II.1. H, Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik, 541. 141 Vgl. a. a. O., 537–541. 142 Vgl. L, Dogmatische Beiträge, 77. 143 Vgl. a. a. O., 78. 144 A. a. O., 75. 145 Vgl. a. a. O., 71. Zum Begriff des Mysteriums und Lipsius’ Bestimmung des Offenbarungsbegriffs als Wechselverhältnis von göttlichem und menschlichem Geist siehe Kap. II.3. Der Begriff des Mysteriums trennt – entgegen dem Vorwurf von Herrmann – Lipsius’ Offenbarungskonzeption von derjenigen Biedermanns, trotz der Anleihen, welche Lipsius in seinem Lehrbuch explizit macht. Vgl. ebd. 140

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III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

sprüche menschlicher Rede von Offenbarung können oder sollen bei Lipsius jedoch nicht religionspsychologisch erwiesen werden. Herrmanns Vorwurf, Lipsius mache den Offenbarungsbegriff schwanken, ruht der unberechtigten Unterstellung auf, dass Lipsius dies beabsichtige. Die Realität der Offenbarung ist nach Lipsius für die Arbeit der Dogmatik hingegen immer schon methodisch vorausgesetzt.146 Das Drängen auf ein universalistisches Verständnis des Offenbarungsbegriffs bei Lipsius im Gegenüber zur Rückbindung der Offenbarung an die Ekklesiologie bei Herrmann und Ritschl tritt insbesondere in der Christologie deutlich zutage. Hier verbindet sich der allgemeine Offenbarungsbegriff von Lipsius mit der spezifisch christlichen Bestimmung Christi als historische Offenbarung. Auch hier zeigt sich eine universalistische Stoßrichtung von Lipsius’ Offenbarungskonzeption, welche er gegenüber einer ekklesiologischen oder positivistischen Rückbindung christlicher Soteriologie bei Herrmann und Ritschl ins Feld führt. Zentral dafür ist seine Unterscheidung von Prinzip und Person in der Christologie.147 Demnach lässt das historische Auftreten der Person Jesu eine allgemeine Struktur des göttlichen Heilswillens in Erscheinung treten, das Prinzip, sodass sie unabhängig von den konkreten Umständen des historischen Lebens Jesu eine konkrete religiöse Gewissheit werden kann. Das geschichtliche Offenbarungswerk Christi kommt auf den Einzelnen durch die Vermittlung christlicher Gemeinden, die das historische Heilswerk tradieren. Aus dieser gemeindlichen Vermittlung als Entdeckungszusammenhang christlicher Heilsgewissheit kann nach Lipsius jedoch keine Abhängigkeit des christlichen Heils von der Gemeindezugehörigkeit abgeleitet werden. Daran hält Lipsius fest, wohlwissend, dass für Glieder einer christlichen Gemeinschaft „es eine Erfahrungsthatsache [ist], dass sie innerhalb der christlichen Gemeinschaft ihrer Versöhnung und Erlösung gewiss geworden sind“148. Prinzipiell bestreitet Lipsius gegen Herrmann und Ritschl eine Abhängigkeit des christlichen Heilsprinzips von Vergemeinschaftungsformen:149 sowohl des inneren Heils als auch der Zugehörigkeit zur übersinnlichen Heilsgemeinschaft, dem „Reiche des Geistes und der Freiheit“150. Entsprechend kann die historische Heilsoffenbarung Christi nicht an eine historische Gemeindegründung durch Christus gebunden werden.151

146

Vgl. ebd. Vgl. a. a. O., 232. Hier reformuliert Lipsius die Christologie seines Lehrbuchs. Siehe Kap. II.5.b. Es ist ein zentrales Merkmal von Lipsius’ Spättheologie, dass er sich von der Unterscheidung von Prinzip und Person verabschiedet und der historischen Offenbarung größere Relevanz einräumt. Siehe Kap. IV. 1.b. und Kap. IV. 3.b. 148 A. a. O., 235. 149 Vgl. a. a. O., 233. 150 Ebd. 151 Vgl. a. a. O., 235. 147

2. Dogmatische Beiträge: Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878 189 Man kann daher nach meiner Anschauung nicht sagen, dass die Wahrheit der christlichen Idee von dem äussern Ereignisse des historischen Heilswerks Christi abhängig sei. Das was an und in diesem Werke das wahrhaft Versöhnende und Erlösende ist, ist mir der in und mit demselben ans Licht getretene geistige Gehalt, näher der bestimmte Complex festgeordneter innerer Vorgänge im Menschengemüth, durch welche das Bewusstsein der Gotteskindschaft in uns erzeugt wird, oder in welchen Gottes Geist unmittelbar selbst im Menschengeiste seine versöhnende und erlösende Gegenwart beurkundet.152

Lipsius geht es dabei nicht darum, die christliche Soteriologie von der Christologie gänzlich abzukoppeln. Das Christusgeschehen ist für Lipsius vielmehr eine unüberbietbare historische Konkretion des religiösen Verhältnisses, die das Prinzip verkörpert. Allerdings wird hier das Historische an Jesus Christus denkbar weit von der Heilsbedeutsamkeit Christi losgesprochen. Relativierend könnte angeführt werden, dass Lipsius seine Unterscheidung von Prinzip und Person nur als eine wissenschaftliche Abstraktion versteht, die keineswegs für die Perspektive der Frömmigkeit Geltung hat. „Für die unmittelbar religiöse Vorstellung ist Christi Person allerdings untrennbar mit dem christlichen Principe verschmolzen.“153 In seiner theologischen Systematik dient die Unterscheidung von Prinzip und Person allerdings dazu, die christliche Heilsbotschaft in ihrem universalen Charakter zu bewahren und eine Partikularisierung durch Rückbindung an begrenzte Tradierungskollektive abzuwehren. In den unterschiedlichen Offenbarungsbegriffen bei Herrmann und Lipsius treten ihre theologischen Gegensätze zusammen. Während Lipsius’ allgemeiner Offenbarungsbegriff als eine Chiffre für die Erfahrung des religiösen Verhältnisses am Ort des individuellen Subjekts auftritt, kann nach Herrmann Offenbarung theologisch nur als Funktion der Gemeinde gefasst werden. Während Lipsius das Offenbarungsbewusstsein in der Religionspsychologie einer wissenschaftlichen Untersuchung unterzieht, erkennt Herrmann darin eine Gefährdung des Offenbarungsglaubens. Schließlich: Während Lipsius die historische Offenbarung in Jesus als Urbild eines allgemeinen, überzeitlichen Heilsprinzips bestimmt, erblickt Herrmann in der Unterscheidung von Prinzip und Person nur „dieses wirre Durcheinander entgegengesetzter Gedanken“154. In diesen gegensätzlichen Positionierungen scheinen viele der Motive auf, die später explizit Gegenstand grundlegender Diskurse zwischen klassisch-liberaler Theologie und der RitschlSchule werden.155 Lipsius drängt gegenüber dem starken Autonomiegestus der theologischen Methodik der Ritschl-Schule darauf, die Theologie stärker mit dem naturwissenschaftlichen Wissen zu vermitteln. Er vertritt eine Universalität christlicher Heilsvorstellung gegen eine ekklesiologische Rückbindung der Soteriologie und sucht sie daher am Ort des Subjekts und nicht der Gemeinde auf. Er betont die Selbstständigkeit der Religion gegenüber der Sittlichkeit, die er in 152

A. a. O., 233. A. a. O., 238. 154 H, Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik, 552. 155 Siehe Kap. IV. 2.d. 153

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III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

der Ritschl-Schule gefährdet sieht. Schließlich vertritt Lipsius eine Erfahrungstheologie mit Sinn für Mystik und unterstellt der Ritschl-Schule gerade in ihrer Kritik am Mystischen einen theologischen Moralismus.

c. Metaphysik und Mysterium – Eine Kritik Biedermanns Die zweite Hälfte der Dogmatischen Beiträge ist der Auseinandersetzung mit der philosophischen Grundlegung von Alois Emanuel Biedermanns Theologie gewidmet. Im Gegensatz zu der Auseinandersetzung mit Herrmann ist die Diskussion der Einwände Biedermanns von einem Geist der Freundschaft und wechselseitiger Anerkennung getragen. Lipsius betont einen „weitreichenden theologischen Consensus“156 mit Biedermann, der sich besonders in der materialen Dogmatik zeigt.157 Der Konsens ist allerdings durch fundamentale Differenzen im Methodischen gebrochen. Stehen sich doch nach Lipsius in ihrer Auseinandersetzung die „zwei philosophischen Hauptrichtungen“158 ihrer Zeit gegenüber. Hier bildet sich die „Discussion zwischen der mehr kantisch-kritischen und der mehr hegelisch-speculativen Richtung“159 ab. Der Kernpunkt der Differenzen zwischen Biedermann und Lipsius besteht in der Beurteilung der Leistungsfähigkeit und Bedeutung der Metaphysik. Während Biedermann in der wissenschaftlichen Metaphysik den zentralen Evidenzgaranten religiöser Überzeugung ausmacht, bezweifelt Lipsius die Möglichkeit, religiöse Überzeugung durch wissenschaftsförmige Erkenntnis zu stützen. Biedermann überschätze schlicht die Bedeutung exakter wissenschaftlicher Erkenntnis für religiöse Gewissheit.160 Für die Selbstgewissheit des religiösen Bewusstseins trägt es meines Erachtens schlechterdings nichts aus, ob die objective Realität des im Glauben erlebten Verhältnisses zu Gott sich aus metaphysischen Principien deduciren lässt oder nicht.161

Diese These versucht Lipsius in seinen Dogmatischen Beiträgen gegenüber Biedermann zu verteidigen. Einerseits kritisiert er nicht plausibilisierbare idealistische Voraussetzungen von metaphysischen Erkenntnisansprüchen. Andererseits beschreibt er eine eigene Gewissheitsstruktur der Religion, die für die Wissenschaft ein problematisches und unerklärliches Mysterium verbleiben muss.

156

L, Dogmatische Beiträge, 386. Dass sich trotz der Differenzen in der theologischen Grundlegung so weitreichende dogmatische Konvergenzen zwischen beiden feststellen lassen, ist für Lipsius ein deutliches Zeichen für die Selbstständigkeit der Dogmatik gegenüber philosophischen Grundlegungsfragen. Vgl. ebd. 158 A. a. O., 392. 159 Ebd. 160 Vgl. a. a. O., 388. 161 A. a. O., 389. 157

2. Dogmatische Beiträge: Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878 191

Lipsius’ Metaphysikkritik tritt bereits in der Formierungsphase seiner Theologie deutlich hervor.162 Angestoßen durch die Hegelkritik seines philosophischen Lehrers Weisse und der damit verbundenen Betonung einer Freiheit der Wirklichkeit gegenüber rationalistischen Wirklichkeitskonstruktionen, hat Lipsius eine grundlegende Dementierung metaphysischer Wissensansprüche entwickelt. Mit der einsetzenden Rezeption des Neukantianismus in seinen Dogmatischen Beiträgen festigt sich Lipsius’ Ablehnung aller wissenschaftlicher Metaphysik, was Lipsius – auch von Biedermann – Skeptizismusvorwürfe eingebracht hat. Problematisch daran ist nach Biedermann, dass aus Lipsius’ skeptischer Taxierung metaphysischer Erkenntnisansprüche eine zu unkritische Haltung den Ansprüchen der Frömmigkeit gegenüber resultiere.163 Er könne zwei Arten des Missbrauchs seiner Theologie nichts entgegensetzen: Einem vollständigen Relativismus in Religionsfragen, der alles Religiöse zu bloß subjektiven Ansichten erklärt und einem Offenbarungspositivismus, der eine übernatürliche und widervernünftige religiöse Lehre als übernatürliche Offenbarung ausgibt und sie so aller Kritik enthebt.164 Gegenüber Lipsius versucht Biedermann daher, die Möglichkeit metaphysischer Erkenntnisbildung zu verteidigen.165 Dabei dürften jedoch nicht verzerrte Vorstellungen einer weltübersteigenden Metaphysik in Anschlag gebracht werden. Freilich ist es auch Biedermann nicht darum zu tun in spekulativer Manier eine transzendente Wirklichkeit gleichsam ,hinter‘ der empirisch fassbaren Wirklichkeit zu ersinnen. Er fordert vielmehr eine immanente Metaphysik, die an der menschlichen Erfahrung ansetzt und sie auf logische Grundstrukturen der Wirklichkeit befragt. In diesem Prozess können durch reines Denken wissenschaftlich sichere Aussagen über die letzten nicht-sinnlichen Strukturmerkmale der Wirklichkeit getroffen werden. Die „wahre Metaphysik“ fasst Biedermann als eine an Hegel geschulte „logisch[e] Principienlehre“166. Nach Lipsius kann eine solche Metaphysik trotz ihres Ausgangs von der Erfahrung nur dann einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit begründen, wenn Grundannahmen eines panlogisti162

Siehe Kap. I.2.b. und Kap. I.5.a. Vgl. ., Dogmatische Beiträge, 594. 164 Vgl. A E B: Die Dogmatik von Lipsius. beurtheilt von A. E. Biedermann, in: Protestantische Kirchenzeitung für das evangelische Deutschland (1877) 2, 21–32, hier 24. Zu Biedermanns Verhältnis zu Lipsius zur Zeit dieser Rezension vgl. O R: Religion und Spekulation. A. E. Biedermann (1819 – 1885); Entstehung und Gestaltung seines Entwurfs im Horizont der zeitgenössischen Diskussion (Beiträge zur rationalen Theologie 13), Frankfurt a. M. 2004, 302–310. Reinmuth weist in seine BiedermannStudie auf eine gewisse Berechtigung von Lipsius’ Kritik der Metaphysik Biedermanns hin, die sich in der von Biedermann ergänzten erkenntnistheoretischen Grundlegung der zweiten Auflage seiner Dogmatik niederschlägt. Gegenüber dieser Begründung des Übergangs von der Erkenntnistheorie zur Metaphysik wird Lipsius in Philosophie und Religion mit einer erneuten und ausführlicheren Diskussion von Biedermanns Metaphysik reagieren. Siehe Kap. IV. 2.b. 165 Vgl. B, Die Dogmatik von Lipsius, 23. 166 A. a. O., 25. 163

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III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

schen absoluten Idealismus zugestanden werden. Dass diese Grundannahmen in der Moderne nicht mehr erschwinglich sind, war bereits das zentrale Motiv seiner früheren Hegelkritik.167 In den Dogmatischen Beiträgen versucht Lipsius deutlich zu machen, dass auch Biedermanns immanente Metaphysik diesem Verdikt unterliegt.168 Um dies zeigen zu können, muss Lipsius belegen, dass Biedermanns Konzeption die implizite Voraussetzung einer gedankenförmigen Wirklichkeit trifft, sodass die menschlichen Denkformen zugleich die Gesetze des objektiven Geschehens sind.169 Denn mit einem solchen Identitätsverhältnis steht und fällt die wirklichkeitserschließende Kraft von Biedermanns Metaphysik. Ein solches Identitätsverhältnis vermittelt sich nach Lipsius durch drei Momente: Soll es überhaupt eine wissenschaftliche Erkenntniss des Uebersinnlichen geben, so muss erstens ein Identitätsverhältniss bestehen zwischen dem Uebersinnlichen, welches dem objectiven Dasein zu Grunde liegt und dem Uebersinnlichen im erkennenden Subject. Zweitens muss dieses Uebersinnliche im Subject eben sein Denken selbst sein, mit welchem es das Uebersinnliche in den Dingen erfasst, dieses letztere muss also, wenn es vom Denken rein und ohne Rest erkannt werden soll, selbst Gedanke sein. Drittens muss dieser ,Gedanke‘ in den Dingen auch wirklich ihr inneres Wesen, ihre eigentliche Substanz sein: das Realprincip alles Daseins muss schlechthin identisch sein mit seinem Idealprincip.170

Bereits in dem Anspruch, mit den Mitteln des logischen Denkens übersinnliche Wirklichkeitsstrukturen adäquat abzubilden, liegt nach Lipsius ein solches Identitätsverhältnis in Biedermanns Metaphysik vor. So vertrete Biedermann entgegen seiner Selbsteinschätzung einen absoluten Idealismus.171 Sein Idealismus ist zwar von dem Hegel zugeschriebenen dadurch zu unterscheiden, dass nach Biedermann keine apriorische Weltkonstruktion, keine Deduktion der Wirklichkeit aus Begriffen, möglich ist.172 Für Lipsius ist es jedoch bereits eine Form absoluten Idealismus’, wenn dem Denken die Fähigkeit beigemessen wird, in der logischen Verarbeitung der Erfahrung die Wirklichkeit zu erfassen.173 Dabei wird nämlich unterstellt, dass die Grundstruktur der Wirklichkeit sich überhaupt logisch fassen lässt. Dies ist die panlogistische Grundvoraussetzung bei Biedermann.174 „Logik ist ihm zugleich Erkenntnistheorie und Metaphysik, denn die Gesetze der Logik sind ihm eo ipso die Gesetze der objectiven Welt.“175 Mit dieser Annahme begehe Biedermann den Grundfehler aller idealistischer Spekulation. 167

Siehe Kap. I.5.a. Lipsius konzentriert sich in seiner Rekonstruktion von Biedermanns immanenter Metaphysik ganz an der Entwicklung dieser Konzeption in seiner Christlichen Dogmatik von 1869. Vgl. ., Christliche Dogmatik 1869. 169 Vgl. L, Dogmatische Beiträge, 394. 170 A. a. O., 397. 171 Vgl. ebd. 172 Vgl. a. a. O., 398. 173 Vgl. a. a. O., 399. 174 Vgl. a. a. O., 401. 175 A. a. O., 403. 168

2. Dogmatische Beiträge: Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878 193 Weil die Gesetzmässigkeit des Geschehens, soweit unsre Erfahrung reicht, eine unverbrüchlich allgemeine ist, so wird der hieraus abstrahirte allgemeine Begriff der immanenten Gesetzmässigkeit zum objectiven Princip alles Geschehens in der Welt hypostasirt, also der für unsere Erfahrung unbedingt giltige Satz, dass in allem Geschehen eine strenge Gesetzmässigkeit walte, zu einem metaphysischen Princip der ,einen und alleinigen Welt‘ mit angeblich apodiktischer Gewissheit gestempelt.176

Lipsius sieht in derartigen Identitätsbehauptungen zwischen den Gesetzmäßigkeiten der Erscheinungswelt und der Wirklichkeit einen oftmals unreflektierten und letztlich unzulässigen Übergang. Ob die Erscheinungswelt der objektiven Wirklichkeit entspricht, ist vielmehr schlicht eine offene Frage.177 Diese Frage bleibt offen, obwohl sich eine Korrespondenz zwischen den Gesetzmäßigkeiten der Erscheinungswelt und des menschlichen Denkens feststellen lässt. Mit Lange führt Lipsius eine solche auf eine gemeinsame Wurzel der menschlichen Denkund Anschauungsformen „in unsrer psychophysischen Organisation begründete[n] räumliche[n] Anschauung“178 zurück. Die menschliche Wirklichkeitserschließung kann demnach aber einer gattungsbedingten anthropozentrischen Perspektivität nie gänzlich entkommen: „[S]o ist alle Mühe vergeblich, gleichsam hinter uns selbst zu kommen, und die letzte Grundlage unsrer Organisation und damit zugleich unsrer Welt zu belauschen.“179 Daraus will Lipsius keinen radikalen Konstruktivismus ableiten, der im Umkehrschluss Wirklichkeitserkenntnis gänzlich von der Hand weisen würde. Eine hinreichende Korrespondenz zwischen der Erscheinungswelt und der objektiven Wirklichkeit muss stets für die menschliche Lebensführung postuliert werden und scheint sich auch in der praktischen Folgerungen menschlicher Welterschließung zu behaupten.180 Nichtsdestoweniger muss eine Metaphysik, die die anthropologischen Erkenntnisgrenzen nicht beachtet, als transzendente Begriffsdichtung gelten.181 So ist auch Biedermanns immanente Metaphysik vor dem Hintergrund seiner panlogistischen Voraussetzung letztlich eine transzendente Metaphysik im Sinne einer den Bereich möglicher Erfahrung überschreitenden Wissenschaft.182 Auch sie könne bestenfalls „abstract-sinnliche Vorstellungen“183 gewinnen, die den menschlichen Denk- und Anschauungsformen verhaftet bleiben, selbst dann, wenn sie auf raum-zeitliche Metaphorisierungen verzichten. In dieser Skizze einer fundamentalen Metaphysikkritik sind bereits die konzeptionellen Differenzen von Lipsius und Biedermann benannt und Lipsius’ Kritikstrategie offengelegt. Später in Philosophie und Religion werden sie zu einer

176

A. a. O., 405. Vgl. a. a. O., 406. 178 Vgl. ebd. 179 A. a. O., 407. 180 Vgl. ebd. 181 Vgl. a. a. O., 409. 182 Vgl. a. a. O., 428. 183 A. a. O., 432. 177

194

III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

umfassenden argumentativen Kritik aller metaphysischen Wissensansprüche ausgebaut, die er pars pro toto anhand Biedermanns Konzeption führt.184 In den Dogmatischen Beiträgen versucht Lipsius zugleich deutlich zu machen, dass die Wirklichkeitsansprüche der Religion von einer Verabschiedung metaphysischer Wissensansprüche nicht betroffen sind. Dabei stellt er eine eigene Gewissheitsstruktur des Glaubens heraus, die weder auf Objektivitätsansprüche verzichten kann, noch sich in objektives Wissen überführen lässt. Lipsius’ Standpunkt in dieser Frage wurde Skeptizismus und Dogmatismus zugleich vorgeworfen. So sehr Lipsius sich skeptisch zu der Möglichkeit eines wissenschaftlichen Beweises der religiösen Aussagen äußert, desto mehr kann die Setzung ihrer Objektivität nur dogmatisch im Sinne einer unbegründeten und unreflektierten Behauptung auftreten – so der Vorwurf: Das „Zuweniggeltenlassen als wissenschaftlich sicher“ schlägt in ein „Zuvielgeltendmachen als religiöse Aussage“185 um. Tatsächlich kann Lipsius in seiner theologischen Systematik mit keiner apodiktischen Versicherung des Wirklichkeitsanspruches von Glaubensaussagen aufwarten. Diesen Umstand sieht er jedoch nicht als konzeptionelle Schwäche, sondern als phänomenologisch angemessene Bestimmung des Glaubens. Ein Beweis der Objektivität von Glaubensaussagen ist unter menschlichen Erkenntnisbedingungen prinzipiell ausgeschlossen. Es muss immer eingeräumt werden, dass es sich um eine Täuschung handeln kann.186 Selbst dann, wenn sie Grundstrukturen der menschlichen Gattung aufruhen mag, folgt daraus nicht, dass es eine bloße kollektive Illusion sein kann, der ein religiöses Bewusstsein verfallen ist. Die Möglichkeit bleibenden Zweifels will Lipsius mit dem missverständlichen Satz „Wo die Wissenschaft aufhört, fängt der Glaube an“187 ausgedrückt wissen. Der Streit um die Objektivitätsansprüche des religiösen Bewusstseins muss daher auf Plausibilitätskämpfe zwischen Weltanschauungen verlagert werden. Hier ist nur indirekte Beweisführung möglich. So ist nach Lipsius einer Weltanschauung der Vorzug zu gewähren, die „die Würde unsres Geistes gegenüber der blinden Naturgewalt besser wahrt“188. Dieser praktische Wert entscheidet über die existentielle Plausibilität einer Weltanschauung, insofern sie nicht in Widerstreit mit dem gesicherten Wissen gerät.189 Aus der Perspektive der Frömmigkeit sind solche externen Plausibilisierungsstrategien allerdings nebensächlich. Hier ist vielmehr das eigene religiöse Erleben die entscheidende Quelle religiöser Gewissheit. Auch dogmatische Sätze bleiben abhängig von diesem frommen Erleben. Sie sind

184

Siehe Kap. IV. 2.b. Beide Zitate: D., Dogmatische Beiträge, 594. 186 Vgl. a. a. O., 596. 187 A. a. O., 610. 188 A. a. O., 596. 189 Die Idee einer praktischen Evaluation von Weltanschauung führt Lipsius in Philosophie und Religion systematisch aus. Siehe Kap. IV. 2.c. 185

2. Dogmatische Beiträge: Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878 195 Aussagen des frommen Bewusstseins der christlichen Gemeinschaft, nur kritisch geläutert, auf ihren rein religiösen Gehalt zurückgeführt, und im Zusammenhange einer universellen Weltanschauung entwickelt, für welche die objective Wahrheit des religiösen Verhältnisses den Ausgangspunkt bildet.190

Die innere Legitimation des Objektivitätsanspruchs religiöser Gewissheit setzt also bei dem Faktum religiösen Bewusstseins an. Wie Lipsius wiederholt vertritt, ist es selbst bereits Ausdruck einer sich in der Religion vollziehenden Erhebung des Menschen über seine Naturverflochtenheit zur Freiheit. „Diese Erhebung ist ein Act des producirenden Anschauungsvermögens oder der Fantasie, welche in der Religion dem Freiheitstriebe, in der Speculation dem Einheitstriebe unsres Geistes zu genügen sucht.“191 Die anspruchsvolle glaubensphänomenologische These von Lipsius ist dabei, dass diese spezifische Freiheitserfahrung von selbst darauf drängt als ein Wirken einer transzendenten Macht im menschlichen Geist ausgelegt zu werden. Dieses Erleben und Deuten kann Lipsius auch als einen „unwillkürlichen Syllogismus“192 des religiösen Bewusstseins bezeichnen. Der Perspektive der Frömmigkeit stellt sich die eigene Freiheit unwillentlich als Präsenz Gottes im je eigenen Geistesleben dar. Diese Vorstellung ist unabhängig ihrer subjektiven Evidenz des eigenen Freiheitserlebens allerdings nicht ergründlich. „Wie es objectiv zugehe, dass der göttliche und der menschliche Geist in einem und demselben untheilbaren Geistesacte sich aufeinander beziehen können, bleibt unbegreiflich.“193 Daher spricht Lipsius trotz der massiven Kritik von Biedermann an diesem Konzept von einem religiösen Mysterium, das in dem frommen Freiheitserleben eingelassen ist. Dies soll ausdrücken, dass der menschlichen Freiheitserfahrung in ihrer frommen Auslegung etwas prinzipiell Unerklärliches zu eigen ist, das zugleich als Grund der Freiheit erlebt wird. Die religiösen Auslegungen können und müssen dabei nichts erklären. Religiöse Aussagen sind vor diesem Hintergrund ein bildlicher Hinweis auf einen unendlichen Grund der Freiheit des menschlichen Bewusstseins, der sich nicht außerhalb bildlicher Aussagen adressieren lässt. Wird dies doch versucht, muss notgedrungen zu raum-zeitlichen Metaphorisierungen gegriffen werden, die den übersinnlichen oder unendlichen Gegenstand religiöser Rede verendlichen. Stelle ich ihn [sc. den der Wissenschaft unzugänglichen Rest] nun als ein hinter dem unserer Erkentniss zugänglichen religiösen Processe noch verborgenes x, als Ding an sich des religiösen Verhältnisses dar, so habe ich mir ihn selbst wieder anthropomorphistisch versinnlicht, ganz ebenso wie wenn ich das Absolute als hinter dem Weltprocesse noch verborgenes x, also als räumlich ausserweltlich und als zeitlich vorweltlich vorstelle.194

190

A. a. O., 594. A. a. O., 611. 192 A. a. O., 595. 193 A. a. O., 615. 194 A. a. O., 617. 191

196

III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

Lipsius macht hier deutlich, dass die als religiöses Verhältnis ausgelegte Freiheitserfahrung des Menschen nicht als Referenz auf einen von diesem Erleben unterscheidbaren Gegenstand verstanden werden kann, ohne sie zu verendlichen. Ihre ,Objektivität‘ hat die religiöse Rede in diesem Erleben selbst. Ihr Sinn geht in dem Bezug auf das Freiheitserleben jedoch nicht auf. Sie basiert zudem auf dem praktischen „Streben, die Freiheit des Menschengeistes gegenüber der Naturgewalt zu behaupten.“195 So gehen in religiöse Aussagen immer auch „Werthurtheil[e] über das Verhältniss des Menschengeistes zur Natur“196 ein. Wenn ich mir den Begriff eines unendlichen geistigen Grundes der Erscheinungswelt gebildet habe, so hat derselbe für mich den ganz bestimmten Werth, Ausdruck einer einheitlichen Weltanschauung zu sein, in welcher das Geistige als das höhere und vornehmere Sein gegenüber dem materiellen Dasein beurtheilt wird. Eine Erweiterung meiner wissenschaftlichen Welterkenntnis habe ich damit freilich nicht gewonnen, wohl aber eine ideale Anschauung, durch welche ich mich in meiner Welt zu orientiren, Sinn und Bedeutung derselben für mich zu bestimmen suche. Ich erkläre mir das Räthsel des Daseins, indem ich die Welt auf Verwirklichung geistigen Lebens angelegt setze und zu dem Ende auch den letzten Einheitsgrund von Geist und Natur, den ich postuliren muss, als geistig betrachte.197

Mit diesen Überlegungen verbindet Lipsius eine Erfahrungstheologie mit praktisch motivierten Postulaten. Sowohl die Evidenz des Erlebens der Freiheit als auch die Evidenz praktischer Bedürfnisse einer menschlichen Selbstwertzuschreibung werden zur Plausibilisierung einer Glaubensperspektive herangezogen. Beides ist jedoch streng von Wissensansprüchen oder Beweisverfahren abzugrenzen. Es lässt sich zusammenfassend festhalten, dass Lipsius in seinem Diskurs mit Biedermann eine Grenzziehung zwischen Glauben und Wissen einschärft, die gegen metaphysische Beweisverfahren von Glaubensgehalten gerichtet ist. In seiner Biedermannkritik erneuert er also seine Hegelkritik. Es zeigt sich auch hier, dass sich diese Motive weniger einer philosophisch-metaphysischen oder erkenntnistheoretischen Argumentation verdanken, sondern grundlegend an einem Plausibilitätsverlust eines jeden absoluten Idealismus’ ansetzen. Eine durchgehend begriffliche Erfassbarkeit der Wirklichkeit hat Lipsius nicht widerlegt. Sie erscheint ihm vielmehr in der Moderne nicht mehr erschwinglich. Die Wirklichkeit geht nach Lipsius nicht im Rationalen auf. Aus dieser Überzeugung folgert Lipsius allerdings keinen vollen Irrationalismus, sondern fordert umso dringlicher, das mögliche Wissen des Menschen in seiner Weltanschauung bestmöglich zur Geltung zu bringen. Eine Weltanschauung, die dem gesicherten Erfahrungswissen des Menschen keine Beachtung schenkt, kann in der Moderne nicht aufrechterhalten werden. Darüber hinaus gilt es jedoch, die Weltanschauung für eine Sphäre des Glaubens zu öffnen, die ihre wirklichkeitsbestimmende

195

A. a. O., 621. A. a. O., 630. 197 A. a. O., 629. 196

2. Dogmatische Beiträge: Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878 197

Kraft in der je eigenen Freiheitserfahrung zeigt. Diese Freiheitserfahrung bleibt aber für das Verstandesdenken ein unerschöpfliches Geheimnis. Lipsius ist jedoch überzeugt, dass dieses Geheimnis von selbst darauf drängt, religiös ausgelegt zu werden und so auf einen göttlichen Wirklichkeitsgrund zurückgeführt wird. Diese Auslegung zeichnet sich dabei durch einen praktischen Sinn aus, der zu einer Behauptung freien persönlichen Lebens gegenüber seiner Naturverflochtenheit beiträgt.

d. Dichtung und Wahrheit – Zur Neukantianismusrezeption Lipsius’ Dogmatische Beiträge zeugen von einer starken Rezeption der neukantianischen Philosophie Friedrich Albert Langes. Mit großer Selbstverständlichkeit werden Langes Logische Studien und seine Geschichte des Materialismus als Gewährsposition für Lipsius’ erkenntnistheoretische Überlegungen herangezogen, was die hohe Wirkkraft Langes in den 1870er Jahren veranschaulicht.198 Diese Selbstverständlichkeit kann auf den großen Erfolg seiner Geschichte des Materialismus in ihrer zweiten Auflage von 1873–75 zurückgeführt werden. Der Titel verschleiert, dass mit diesem Werk „ein geradezu enzyklopädischer Aufriß der aktuellen Probleme in Philosophie, Wissenschaft und Gesellschaft mit einem Wurf behandelt worden war“199. Der enorme Beitrag dieser Schrift zur Popularisierung der kantischen Philosophie macht Lange zu dem bedeutendsten unter den frühen Neukantianern.200 Auffällig ist bei Lipsius’ Rezeption allerdings, dass er mit seinem Rückgriff weitestgehend die erkenntnistheoretischen Pointen verteidigt, welche er schon früher ohne Bezug auf Lange vertreten hat. Hier sind vor allem eine erkenntnistheoretische Begrenzung des Wissens auf den Bereich möglicher Erfahrung, eine Kritik an der kantischen Lehre von den zwei Stämmen der Erkenntnis, die Abgrenzung der Idealbildung (Glauben) vom Bereich des möglichen Wissens und seine Materialismuskritik zu nennen. Mit der Philosophie Langes glaubt Lipsius, in den Dogmatischen Beiträgen ein geeignetes Fundament für diese Anliegen seiner Erkenntnistheorie gefunden zu haben. Der Rückgriff auf Lange bleibt allerdings für Lipsius ambivalent. Indem Lange alle Idealbildung und mit ihr auch die Religion als Dichtung auffasst, gefährdet seine Philosophie Wahrheitsansprüche der Religion, ohne die sie nach Lipsius keinen Bestand haben kann. Die Frage, wie eine starke Lange-Rezeption mit dem Anspruch ,höherer‘ Wahrheit der Religion verbunden werden kann, teilt Lipsius mit

198

„Ich darf hierfür im Allgemeinen auf die grundlegenden Untersuchungen Albert Lange’s in der ,Geschichte des Materialismus‘ und in den ,Logischen Studien‘ verweisen.“ A. a. O., 410. Vgl. L, Geschichte des Materialismus; Vgl. .: Logische Studien. Ein Beitrag zur Neubegründung der formalen Logik und der Erkenntnisstheorie, Iserlohn 1877. 199 K, Entstehung des Neukantianismus, 246. 200 Vgl. a. a. O., 233–257. Vgl. U S: Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus. Die Geschichte einer philosophischen Schulgemeinschaft (Studien und Materialien zum Neukantianismus 4), Würzburg 1994, 86–106.

198

III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

Alexander Schweizer.201 Die Differenz ihrer Antwortstrategie unterstreicht Lipsius’ praktisch-freiheitstheoretisches Profil seiner Religionstheorie. Der Ansatzpunkt für Lipsius’ Rückgriff auf Lange ist die physiologische Interpretation der kantischen Erkenntnistheorie. Die Begrenzung menschlichen Wissens auf den Bereich möglicher Erfahrung wird dabei auf sinnesphysiologische Konditionierungen menschlichen Weltzugangs zurückgeführt. An die Stelle des kantischen Apriori tritt die psychophysische Organisation des Menschen. Lange bringt dies prägnant zum Ausdruck, wenn er an Hermann von Helmholtz anknüpfend behauptet: „Die Physiologie der Sinnesorgane ist der entwickelte oder der berichtigte Kantianismus“202. Die zentrale Konsequenz dieser Interpretation ist, dass die Wissensgrenzen des Menschen anthropologisch fundiert werden. Die Welt ist nicht nur Vorstellung, sondern auch unsre Vorstellung: ein Produkt der Organisation der Gattung in den allgemeinen und notwendigen Grundzügen aller Erfahrung, des Individuums in der frei mit dem Objekt schaltenden Synthese.203

Die Rede von objektiver Erkenntnis kann so nur eine gattungsweite Gültigkeit menschlicher Wissensbestände meinen.204 Wie weit diese einer bewusstseinsunabhängigen Wirklichkeit entsprechen, bleibt dabei in letzter Instanz immer offen, da es sich bei objektiver Erkenntnis auch um Täuschungen und Illusionen handeln könnte, die alle Menschen gleichermaßen betreffen. In den Worten von Lipsius: So wenig wir hinter unser Auge ein zweites Auge einzusetzen vermögen, um zu sehen, wie sich die Dinge die unser Auge schaut hinter dem Bilde auf der Netzhaut ausnehmen würden, so wenig sind wir im Stande, hinter das in den Formen unsres Erkennens aufgefasste Weltbild zu kommen, und zu erkennen, wie sich die Welt abgesehen von unserm menschlichen Erkennen ausnehmen würde. […] Erscheinung ist in der That ,Alles was wir haben;‘ die Erscheinungswelt ist die Welt unsrer Wirklichkeit und das einzig mögliche Object wissenschaftlicher Erkenntniss.205

201

Vgl. A S: Die Zukunft der Religion, Leipzig 1878, 40–67. Dazu: R A L: Rez: Schweizer, Alexander, Die Zukunft der Religion. Leipzig 1878., in: Theologische Literaturzeitung (1878) 24, 591–593. 202 L, Geschichte des Materialismus, Bd. 2, 850. Diese physiologische Interpretation des kantischen Apriori wurde maßgeblich durch Hermann von Helmholtz berühmten Vortrag Ueber das Sehen des Menschen von 1855 befeuert, der zu einem wichtigen Impuls für die Entstehung des Neukantianismus wurde. Vgl. H  H: Ueber das Sehen des Menschen. Vortrag gehalten zu Königsberg am 27. Februar 1855. In: Ders.: Vorträge und Reden, 87–117. Vgl. K, Entstehung des Neukantianismus, 151–167. Köhnke verweist allerdings auch kritisch darauf, dass die Verehrung von Helmholtz als Gründer des Neukantianismus bei Neukantianern oftmals strategisch die wissenschaftliche Motivation dieser Philosophierichtung unterstreichen soll. 203 L, Geschichte des Materialismus, Bd. 2, 982. Hervorhebungen im Original. 204 Bei Lange tritt die ,Gattungsorganisation‘ an die Stelle des kantischen Apriori. Vgl. S, Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus, 101. 205 L, Dogmatische Beiträge, 420–421.

2. Dogmatische Beiträge: Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878 199

Der Mensch bleibt an die Grenzen der Erscheinungswelt gebunden, wie sie ihm nur sinnesphysiologisch konditioniert gegeben ist. Über diese prinzipielle Grenze allen Wissens kann es nach Lipsius kein Hinaus geben oder wie er auch mit den berühmten Worten aus der Rede Über die Grenzen des Naturerkennens von dem Physiologen Emil Heinrich Du Bois-Reymond sagt: ignoramus et ignorabimus.206 Lange und in Anlehnung auch Lipsius steigern die physiologische Konditionierung menschlichen Bewusstseins dadurch, dass sie auch die menschlichen Denkformen aus den physiologisch bedingten Anschauungsformen ableiten. „In Wirklichkeit entspringen alle unsere Verstandeskategorien der räumlichen Anschauung, diese selbst aber beruht wieder auf unsrer psychologischen Organisation, welche das Apriori für alle Erfahrung ist.“207 Für Lipsius verspricht diese Herleitung, dualistische Tendenzen der kantischen Philosophie abzuwehren, die in seiner Zwei-Stämme-Lehre der Erkenntnis begründet liegen. Bei Kant sind Sinnlichkeit und Verstand für Erkenntnis konstitutive Stämme und die Möglichkeit einer etwaigen gemeinsamen Wurzel beider Stämme muss offen bleiben.208 Mit Lange die räumliche Anschauung als diese gemeinsame Wurzel zu setzen, soll die bereits in seinen Schleiermacherstudien kritisierte Zwei-Stämme-Lehre überwinden.209 Damit radikalisiert Lipsius allerdings auch die kantisch motivierte Begrenzung des Wissens auf den Bereich möglicher Erfahrung. Denn folglich können unanschauliche Gegenstände nicht nur nicht erfahren, sie können nicht einmal angemessen gedacht werden.210 Beispielsweise eine formelle Definition des Absoluten muss so auch als psychophysisch bedingte und so anthropomorph gefärbte Idee bewertet werden. Auch die Formen des menschlichen Denkens sind aufgrund ihrer Genese aus den Anschauungsformen an diese bleibend rückgebunden. Diese Radikalisierung bildet in den Dogmatischen Beiträgen ein wichtiges Fundament für Lipsius Bestreitung einer adäquaten Gottesvorstellung und damit auch eines adäquaten nicht-bildlichen Gottesgedankens. Kritisch hingegen greift Lipsius die markante These Langes auf, dass Metaphysik und Religion epistemisch dem Bereich der Dichtung zugeordnet werden müssen. Bei Lange ergibt sich diese Zuordnung organisch aus der Begrenzung von Wahrheit auf Sinneserkenntnis. Unmittelbare Wahrheitsansprüche in Metaphysik und Religion sind damit gleichermaßen ausgeschlossen. Einen emphatischen Begriff von Wahrheit oder Wirklichkeit, der eine mögliche Korrespon206 Vgl. a. a. O., 425. Vgl. E D B-R: Über die Grenzen des Naturerkennens, in: Ders.: Reden, Berlin 1912, 441–473, hier 464. Für die große Prägekraft dieser Rede für die zeitgenössischen Debatten vgl. K B/M G/W J (Hg.): Der Ignorabimus-Streit, Hamburg 2012. Die Reaktionen in der Theologie beleuchtet: J R: Die Grenzen des Naturerkennens und die Theologie, in: Kerygma und Dogma (2013) 59, 125–148. 207 L, Dogmatische Beiträge, 418–419. 208 Vgl. K, Kritik der reinen Vernunft, B 29. Kant sagt, dass uns eine solche gemeinsame Wurzel unbekannt ist. 209 Siehe Kap. III.2.b. 210 Vgl. H, Erkenntnistheorie und Dogmatik, 150.

200

III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

denz der Erscheinungswelt mit einer ,echten‘, ,festen‘ und ,unabhängigen‘ Realität insinuiert, kann es nach Lange aber ohnehin nicht geben.211 Nach Lipsius ist ein solches Selbstverständnis der Religion als Dichtung dennoch nicht denkbar.212 Der Religion ist ein Anspruch auf Realitätsbezug konstitutiv eingeschrieben. Den religiösen Aussagen muss etwas Wirkliches entsprechen, damit sie Plausibilität für sich beanspruchen können. Ist diese Möglichkeit ausgeschlossen, muss Religion nach Lipsius an ein Ende kommen. Hier hilft auch nicht, dass Lange von einer Veranlagung des Menschen zur Idealbildung und einer Notwendigkeit des Idealen für das Menschenleben ausgeht. Eins ist sicher: daß der Mensch einer Ergänzung der Wirklichkeit durch eine von ihm selbst geschaffene Idealwelt bedarf, und daß die höchsten und edelsten Funktionen seines Geistes in solchen Schöpfungen zusammenwirken.213

Für Lipsius ist es tödlich für Religion, würden sich ihre propositionalen Bezüge ganz auf Setzungen des menschlichen Bewusstseins reduzieren lassen. Langes Philosophie ist in dieser Hinsicht – nach Lipsius – jedoch uneindeutig. In seiner Geschichte des Materialismus finden sich auch Andeutungen einer ,bildlichen‘ Wahrheit von Philosophie und Religion, die im Gegensatz zu den Erträgen der Wissenschaften zwar unbeständig, perspektivisch und kulturrelativ ist, dafür aber ein ganzheitliches Wirklichkeitsgefüge zur Darstellung bringt. In den Relationen der Wissenschaften haben wir Bruchstücke der Wahrheit, die sich beständig mehren, aber beständige Bruchteile bleiben; in den Ideen der Philosophie und Religion haben wir ein Bild der Wahrheit, welches sie uns ganz vor Augen stellt, aber doch stets ein Bild bleibt, wechselnd in seiner Gestalt mit dem Standpunkt unsrer Auffassung.214

Empirische Erkenntnisse bleiben partikularistisch und dadurch dem Menschen im Ganzen unverständlich. „Das Weltall, wie wir es bloß naturwissenschaftlich begreifen, kann uns so wenig begeistern, wie eine buchstabierte Ilias.“215 Synthesen dieser Bruchstücke sind nach Lange Schritte einer Idealbildung. Den Idealbildungen kommt daher die Möglichkeit zu, mittelbar Wahres auszusagen. Dabei muss jedoch ein anderes Kriterium an den Wahrheitsbegriff angelegt werden. Was gemessen am naturwissenschaftlichen Maßstab als „Hirngespinst“ erscheint, kann vielmehr als „Erhebung der Gemüter über das Wirkliche und in der Erschaffung einer Heimat der Geister“216 gefasst werden.217 Die Begrenzung der wissenschaftlichen Erkenntnis auf die Erscheinungswelt lässt es offen, ob dieser 211

Vgl. L, Geschichte des Materialismus, Bd. 2, 982. Vgl. L, Dogmatische Beiträge, 607. 213 L, Geschichte des Materialismus, Bd. 2, 987. 214 A. a. O., 938–939. Lipsius zitiert diese Passage in seinem Sinne verkürzt: „Die Wissenschaft gibt Bruchstücke der Wahrheit, die Ideen der Philosophie und Religion geben ein Bild der Wahrheit, welches sie uns ganz vor Augen stellt“ L, Dogmatische Beiträge, 607. 215 L, Geschichte des Materialismus, Bd. 2, 986. 216 A. a. O., Bd. 2, 989. Dieses Kernanliegen der Religion sieht Lange hervorragend in Schillers Dichtung verwirklicht. 217 Der Lipsius-Schüler Bernhard Pünjer macht die Beziehung von Langes Heimat der 212

2. Dogmatische Beiträge: Vertheidigung und Erläuterung meines Lehrbuchs 1878 201

in der Religion möglichen Heimat der Geister, ein tatsächliches Verhältnis der Menschen zu einer transzendenten Macht korrespondiert. Hier kann Lipsius mit seiner religiösen Erkenntnistheorie ansetzen und religiöse Sätze als bildliche Wahrheitsausdrücke einführen. Sie verbinden expressive Momente des Ausdrucks einer Zuständlichkeit des Selbst mit propositionalen Momenten einer Bezugnahme auf den transzendenten Grund des freien Selbst. Für Sie bleibt wenigstens die Möglichkeit einer Wirklichkeitskorrespondenz bestehen. Religiöse Erfahrung kann nach Lipsius die Annahme einer solchen Korrespondenz plausibel machen; da sich in der damit verbundenen Erhebung zur Freiheit die gesuchte Wirklichkeit der Religion selbst zeigt. Das religiöse Erleben ist „ein Thaterweis, der für den schlechterdings keinem Zweifel unterliegt, der in der religiösen Erhebung die wahre Heimat des Geistes gefunden hat.“218 Diese Art der Lange-Rezeption verbindet Lipsius mit Alexander Schweizer.219 In seiner Schrift Die Zukunft der Religion von 1878 identifiziert auch Schweizer im Materialismus die größte Gefahr für die Religion.220 Die Philosophie Langes dient ihm dagegen als ein theologisch unvoreingenommenes Mittel, die Religion gegen materialistische Reduktionsversuche zu verteidigen und die mangelnde Kulturfähigkeit des Materialismus aufzudecken.221 Die erkenntnistheoretische Unterscheidung von Wissenschaft und Idealbildung gilt ihm dabei als größtes Verdienst, ihre dualistische Trennung hingegen als größte Schwäche Langes.222 Um diesen Dualismus aufzuheben, restituiert Schweizer das von Lange verworfene kantische Konzept des Dings an sich.223 Wenn Lange die Legitimität der Ideale auf ihre Befriedigung von gattungsbedingten Bedürfnisse des Menschen zurückführt, sieht Schweizer die Idealbildung durch eine direkte Korrespondenz zu den Dingen an sich begründet. Die Dinge an sich sind ein einheitlicher Grund beider Welten – der exakten Wissenschaft und der Idealwelt – und affizieren Geister zur Personwerdung explizit, die für Lipsius entscheidend ist: „Die Religion ist wahr in einem höheren poetischen Sinn; sie führt uns ein in die wahre Heimath unsers Geistes, die allein befriedigt die Bedürfnisse und Interessen unsers Gemüths, diese höhere, ideale Seite unsers Wesens, welche uns recht eigentlich zur Person macht.“ P, Geschichte der christlichen Religionsphilosophie, 322. 218 L, Dogmatische Beiträge, 609. Hervorhebung von M. B. 219 Die große Nähe seiner Theologie zu Schweizer hat Lipsius vielerorts stark und fast überschwänglich betont. Z.B.: Vgl. a. a. O., 3; Vgl. ., Ein Vorwort zu einem Vorwort, 644; Vgl. ., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1879, 8. Die explizite Auseinandersetzung mit seiner Theologie tritt gegenüber der Auseinandersetzung mit der Ritschl-Schule und Biedermann jedoch auffällig zurück. Dies kann als ein Anzeichen für das große Einverständnis gewertet werden, das Lipsius zu den Ausführungen Schweizers sieht. 220 Vgl. S, Die Zukunft der Religion, 22. In drei Punkten wird der Materialismus zur Infragestellung der Religion: die naturalistische Erklärung der Genese des menschlichen Geisteslebens, die Bestreitung aller Teleologie in der Naturerklärung und die Reduktion des menschlichen Bewusstseins auf gehirnphysiologische Prozesse. Vgl. a. a. O., 32. 221 Vgl. a. a. O., 27. 222 Vgl. a. a. O., 51. 223 Vgl. a. a. O., 44.

202

III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

sowohl Erkenntnis- als auch Idealbildung.224 Von diesen Dingen an sich beziehen Ideale ihre Wahrheit, die jedoch nur bildlich in ihnen ausgedrückt ist. Wir gelangen zur Einsicht, daß die höhere Wahrheit, weil dem Wissen unzugänglich, als erhebende Kraft inne geworden, nur in idealen Andeutungen, symbolischen Zeichen und Vorstellungen, Gleichnissen, Bildern und Dogmen sich andeuten lasse, weil, sobald man diese innern Erlebnisse so wie die Erscheinungswelt erkennen, sie logisch in Rede wiedergeben will, unausweislich Bestandtheile des Denkens verwendet werden müssen, mit denen man das eigentlich nicht aussprechliche, gefühlte und erlebte doch immer nur symbolisch andeutet.225

Lipsius hat in diesen Ausführungen seinen eigenen Standpunkt weitestgehend wiedererkannt.226 Genau wie er versucht auch Schweizer, einen Realitätsanspruch der religiösen Idealbildung zu bewahren. Allerdings deutet Lipsius Widerspruch gegenüber Schweizers Gebrauch des Dings an sich an. Er trägt ihm zu viele Züge von einer ,Hinterwelt‘.227 Religion bezieht sich nach Lipsius ausdrücklich nicht auf eine versteckte zweite Wirklichkeit ,hinter‘ der erfahrbaren Wirklichkeit. Religion zeugt von einer Begegnung des Menschen mit dem Grund der einen auch erscheinenden Wirklichkeit.228 In den Dogmatischen Beiträgen führt Lipsius die Legitimation der bildlichen Wahrheitsansprüche religiöser Sätze entsprechend nicht auf eine Theorie gegenständlicher Affektion durch die Dinge an sich zurück, sondern – treuer zur Vorlage Langes – auf die Angewiesenheit des freien persönlichen Lebens des Menschen auf das Transzendieren der Erscheinungswelt. Die Verneinung einer höheren Wahrheit der Idealbildung kommt nach Lipsius einer Bestreitung der Erhebung des Menschen über die Natur gleich, die Grundlage seiner Würde ist. Die Legitimation für das Recht jener ,bildlichen Stellvertretung der Wahrheit‘ liegt in der Nöthigung des Menschengeistes, über die Welt der Erscheinung sich zu erheben, um wahrhaft bei sich selbst zu sein. Die Leugnung, dass jenen Bildern eine höhere Wahrheit zu Grunde liege, ist also gleichbedeutend mit der Verleugnung unserer Menschenwürde, unsrer geistigen Lebensbestimmung.229

Im Umkehrschluss kann Lipsius daher das Erleben der Erhebung über die Naturverflochtenheit selbst bereits als einen subjektiven Erweis der ,höheren‘ Wahrheit der Religion verstehen. Und eben darum sind die innern Erfahrungen und Erlebnisse des Frommen in der Erhebung zur Freiheit über die Welt in der Gemeinschaft mit seinem Gott der einzig mögliche Beweis für die objektive Wahrheit der Religion – freilich kein Beweis im metaphysischen, aber auch kein Beweis im naturwissenschaftlichen Sinne, aber ein Thaterweis.230 224

Vgl. a. a. O., 63. A. a. O., 59. 226 Vgl. L, Rez. Die Zukunft der Religion, 592. 227 Vgl. a. a. O., 593. 228 Vgl. a. a. O., 592. 229 D., Dogmatische Beiträge, 608. 230 A. a. O., 608–609. 225

3. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1879

203

Religiöse Sätze sind demnach für Lipsius die bildliche Repräsentation einer Wahrheit, die im menschlichen Freiheitsvollzug erfahren wird. Im Gegensatz zu Schweizer will Lipsius diese im Freiheitsvollzug präsente Wahrheit nicht auf eine wie auch immer geartete davon unterschiedene Gegenständlichkeit zurückführen. Es ist die freie Erhebung, die eine Wirklichkeit eröffnet, welche in den bildlichen Darstellungsformen der Religion zum Ausdruck kommt.231

3. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1879 Die beleuchteten Diskurse aus Lipsius’ Dogmatischen Beiträgen zeugen von teils heftigen Kontroversen um das theologische Programm aus seinem Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik. Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzungen hat er in eine Neuauflage seines dogmatischen Hauptwerks von 1879 eingearbeitet. Ein Blick auf sie eignet sich daher, um ein Resümee seiner theologischen Entwicklung in den Jahren 1877 und 1878 zu ziehen. Es zeigt sich jedoch hauptsächlich, wie wenig die frühen Diskurse mit Biedermann und der Ritschl-Schule ihn zu größeren Eingriffen in den Text bewegt haben. Anlass der Neuauflage war schlicht, dass die Erstauflage vergriffen war.232 Sie kommt mit geringfügigen Änderungen aus, die größtenteils missverständliche Formulierungen glätten. Die Auseinandersetzungen aus den Dogmatischen Beiträgen werden von Lipsius jedoch in eine kurze Selbstverortung im Rahmen eines neuen Vorworts überführt. Dort rühmt sich Lipsius, die „Verhandlung der erkenntnistheoretischen Fragen von Neuem in Fluss“233 gebracht zu haben. Echauffiert zeigt er sich über Vorwürfe des Skeptizismus und der Offenbarungsleugnung. Will er doch die Unabhängigkeit der religiösen Gewissheitsstruktur von metaphysischen Erörterungen herausstellen und die objektive Realität der Offenbarung als Voraussetzung der Theologie verteidigen.234 Zwischen sich und Biedermann sieht er den „Gegensatz von Hegel und Schleiermacher“235 in gemilderter Form aufleben.

231 Eine vergleichbare Pointe schreibt Lipsius 1880 auch der Theologie Wilhelm Martin Leberecht de Wettes zu. „Der Grundgedanke ist die Scheidung der verständigen und der idealen Ansicht der Welt. Die verstandesmäßige Erkenntnis der Erscheinungswelt und ihres mechanischen Zusammenhanges dringt nicht in das wahre Wesen der Dinge: denn im Bewußtsein unserer Freiheit und unseres ewigen Wertes fühlen wir uns innerlich über das erscheinende Dasein hinausgehoben.“ D.: Zur Säkularfeier de Wettes, in: Ders.: Glauben und Wissen. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Berlin 1897, 299–313, hier 311. Entscheidend ist für Lipsius, dass bei de Wette die Idee der Freiheit den Wirklichkeitsraum der Religion eröffnet. „Die Idee der Freiheit eröffnet so dem Geiste eine innere Welt, eine Welt der Ideen, die in der Idee Gottes ihren Mittelpunkt finden.“ Ebd. 232 Vgl. ., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1879, 6. Vgl. auch ., Dogmatische Beiträge, 1. 233 Vgl. ., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1879, 7. 234 Vgl. ebd. 235 A. a. O., 8.

204

III. Erste Verteidigungen und Erläuterungen 1877–1879

Gegenüber Ritschl betont er die „zahlreichen Berührungen“236 ihrer Theologien und verweist für ihre Differenzen lediglich auf die Dogmatischen Beiträge. Größte Einigkeit konstatiert er zur Theologie Alexander Schweizers.237 Zum Abschluss des Vorwortes ruft Lipsius die freie protestantische Wissenschaft auf, sich im Widerstand zu ihren Gegnern zu einen.238 Es wird deutlich, dass Lipsius vor allem Konvergenzen beschwört. Aufgabe der Zeit ist ihm der geschlossene Einsatz für eine dezidiert wissenschaftliche Theologie, die sich von konfessionalistischen Engführungen und Grabenkämpfen theologischer Schulen löst. Mit seinen Eingriffen versucht Lipsius, auftretenden Missverständnissen seiner Theologie vor allem im Bereich ihrer Religionstheorie vorzubeugen und unternimmt nur vereinzelt Korrekturen.239 Eine deutliche Verschiebung ergibt sich allerdings aus der bereits in Die Gottesidee und den Dogmatischen Beiträgen vertretenen Neufassung des menschlichen Einheitstriebes. Das Bedürfnis nach einer einheitlichen Weltanschauung wird ausdrücklich nicht mehr als ein religiöses eingeführt.240 Es ist vielmehr allgemein menschlich. Um ihm gerecht zu werden, muss Dogmatik einen Mittelweg zwischen „phantastischen Idealismus“ und einem „ideenlosen Materialismus“241 finden, in dem sowohl die empirische Forschung als auch das Teleologische des menschlichen Geisteslebens – wie es beispielsweise in der Willensbestimmung hervortritt – in eine Weltanschauung integriert werden. Gegen Herrmann betont er auch hier: Eine Weltanschauung kann nicht allein auf teleologischen Erklärungsmustern aufgebaut werden.242 Die Loslösung des menschlichen Einheitstriebs von seiner zuvor behaupteten religi-

236

Ebd. Vgl. ebd. 238 Vgl. ebd. 239 Diese Korrekturen lassen sich jedoch nicht auf den Bereich der Prolegomena begrenzen: Gegenüber dem Vorwurf, Lipsius würde die Unsterblichkeit leugnen, hat er seinen entsprechenden Paragraphen neu formuliert. Hat er in der Erstauflage noch die „Hoffnung auf eine individuelle Fortdauer nach dem Tode“ (A. a. O., 862) für eine für die Religion entbehrliche und ursprünglich nicht religiöse Vorstellung bestimmt, betont er nun, dass Religion und Unsterblichkeitslehre eine gemeinsame psychologische Wurzel haben und mit dem religiösen Bewusstsein der Christen engstens verbunden sind. Den Formulierungen beider Auflagen liegt jedoch das gleiche Anliegen zugrunde, die metaphysische Lehre von der Unsterblichkeit der Seele als eine spätere Entwicklung christlicher Ideengeschichte zu kennzeichnen und sie maßgeblich auf platonische Einflüsse zurückzuführen. Vgl. ., Lehrbuch der evangelischprotestantischen Dogmatik 1876, 863. Vgl. ., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1879, 853. Anlass zur Korrektur gab Lipsius eine Rezension in der Neuen evangelischen Kirchenzeitung, die zwar lobt, dass Lipsius ein dogmatisches System vorgelegt hat, was eine Ausnahme in der theologischen Linken sei, aber seine Unsterblichkeitsleugnung widerspreche dem Schrift- und Offenbarungszeugnis. Vgl. [A]: Rez: Lipsius: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik in zweiter Auflage, in: Neue Evangelische Kirchenzeitung (1879) 21, 105–106. 240 Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1879, 10. 241 Beide Zitate: A. a. O., 11. 242 Vgl. ebd. 237

3. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1879

205

ösen Genese, schlägt sich zudem in der Theorie des Absoluten nieder. Die überraschende These über den religiösen Ursprung der Idee des Absoluten aus der ersten Auflage wird revidiert. Der Begriff des Absoluten ist „nicht unmittelbar selbst religiösen Ursprungs, obwol seine Ausbildung in der alexandrinischen und neuplatonischen Philosophie, vollends bei Schelling und Hegel wesentlich in religionsphilosophischem Interesse erfolgt ist.“243 Insgesamt markiert die Veröffentlichung der zweiten Lehrbuch-Auflage das Ende einer Werkphase, die trotz der Neubewertung des Einheitstriebs durch Kontinuität gekennzeichnet ist. Die Diskurse vor allem mit Biedermann und der Ritschl-Schule haben keine Neuausrichtung erzwungen. Die Jahre 1876 bis 1878 sind vielmehr durch eine öffentliche Selbstverortung seiner bisherigen theologischen Position geprägt. Anhand der Auseinandersetzung mit Biedermann bemüht sich Lipsius um eine Emanzipation seiner Theologie vom spekulativ-metaphysischen Erbe der liberalen Theologie. Dieses Emanzipationsbestreben betrifft in auffälliger Isolation lediglich die methodischen Grundlegungsfragen, die Lipsius nicht veranlassen, sich in materialdogmatischen Fragen von Biedermann abgrenzen zu müssen. Eng mit diesem Emanzipationsbestreben hängt die explizite Zuwendung zur neukantianischen Philosophie Langes zusammen, die ihm einen erkenntnistheoretischen Rahmen bereitstellt, um frühere Positionierungen pointierter zu entfalten. Der Einfluss Langes und die Abgrenzung vom Materialismus lässt praktische Argumentationsmuster in Lipsius’ Religionstheorie stärker hervortreten. Nichtsdestoweniger verteidigt er liberale Positionierungen gegenüber einer sich herausbildenden Ritschl-Schule, die sich offensiv von ihnen abgrenzt. Dabei sperrt sich Lipsius gegen ihre als einseitig ethisch wahrgenommene Religionstheorie. Er verteidigt das religionstheoretische Ansetzen am Individuum und seiner Erfahrung gegenüber einer zu starken ekklesiologischen Rückbindung der Dogmatik im Allgemeinen und der Soteriologie im Besonderen. Er wirbt für ein dialogisches Verhältnis der Dogmatik zu Naturwissenschaften und warnt vor einer Selbstisolierung der Theologie gegenüber dem wissenschaftlichen Fortschritt. Nicht zuletzt ist es Lipsius um eine eigene Gewissheitsstruktur der Religion zu tun, die sich sowohl empirischer Forschung als auch ethischer Modellierung entzieht. Sie zielt auf unmittelbare Evidenz religiösen Erlebens als einer Freiheitserfahrung, die als Offenbarung Gottes im Menschen erlebt wird. Dies ist ihm das mystische Element aller Religion. Von ihm lässt sich nur bildlich sprechen. Es zeigt sich jedoch im Vollzug menschlicher Erhebung über seine Naturverwobenheit als ihr tragender Grund. 243

A. a. O., 188. Unmittelbar in Anschluss wird betont, dass sich die Idee des Absoluten sich einer theoretischen Syntheseleistung des Menschen verdankt. Reu hat diese Selbstkorrektur auf eine neue Anerkennung des Materialismus als ernstzunehmende Gegenposition zurückgeführt. Vgl. R, Die Grundlegung der christlichen Dogmatik als Wissenschaft bei Lipsius, 39. Anhand der Zweitauflage von Lipsius’ Hauptwerk lässt sich dies jedoch nicht erhärten. Den Dilettantismusvorwurf gegenüber dem Materialismus bestärkt er eher, indem er ihm Reflexionsmangel attestiert. Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1879, 189.

IV. Die Spättheologie 1880–1892 Das Denken von Lipsius war durchgehend in Bewegung. Insbesondere zeichnen sich zwischen früher und später Theologie signifikante Neuakzentuierungen ab, die sich im direkten Vergleich von zweiter und dritter Auflage seines Lehrbuchs evangelisch-protestantischer Dogmatik widerspiegeln. Zwischen beiden Auflagen geben eine Reihe von Schriften Aufschluss über diese Entwicklungen. Dass sich in diesen Texten ein Wandel von Lipsius’ dogmatischem Denken niedergeschlagen hat, ist weitestgehender Konsens bisheriger Darstellungen und Kommentierungen von Lipsius’ Werk. Wie tiefgreifend dieser Wandel ist, wie er sich beschreiben lässt und worauf er zurückzuführen ist, ist hingegen umstritten. Generalisierend gesprochen stehen hierbei Wahrnehmungen einer Hinwendung zur positiven Theologie, zur Theologie Biedermanns und zur Theologie der RitschlSchule nebeneinander. So attestiert beispielsweise Holtzmann Lipsius’ Spätwerk einen kirchlicheren Ton,1 Troeltsch beobachtet eine vor dem Hintergrund seines theologischen Systems überraschende Hinwendung zu einer positiven Consensustheologie2 und Fleisch spricht von einem theologischem Schwenk nach rechts hin zur positiven Theologie.3 Geringfügige Annäherung an Biedermann erkennt Hüttenhoff im erneuten Diskurs um die Bedeutung der Metaphysik für die Theologie.4 Häufiger begegnet die Beobachtung, Lipsius habe sich der Ritschl-Schule und besonders Herrmann angenähert, indem er eine praktische Wende vollzogen habe. Nicht selten wird diese Wahrnehmung in polemischer Manier von Ritschlianern vorgetragen, wie sich paradigmatisch bei Johannes Gottschick zeigt.5 Allerdings spricht auch der Lipsius-Schüler Lüdemann von „unglücklichen Konzessionen an Ritschl“6. Insbesondere Traub unterstreicht eine Ambivalenz der auch von ihm wahrgenommenen Annäherung an die Ritschl-Schule. Lipsius’

1 Vgl. H H: Die neue Auflage der Lipsius’schen Dogmatik, in: Protestantische Kirchenzeitung für das evangelische Deutschland (1893) 21, 481–487, hier 484–486. 2 Vgl. T, Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 50. 3 Vgl. F, Die erkenntnistheoretischen und metaphysischen Grundlagen, 189. So auch: Vgl. R E: Lipsius’ Dogmatik, in: Deutsche Rundschau (1894) 10, 315–317, hier 317. 4 Vgl. H, Erkenntnistheorie und Dogmatik, 166. 5 Vgl. J G: Rez: Lipsius, Rich. Adelb., Philosophie und Religion. Neue Beiträge zur wissenschaftlichen Grundlegung der Dogmatik. Leipzig 1885, in: Theologische Literaturzeitung (1886) 10, 226–234. 6 L, Richard Adelbert Lipsius, 857–858.

208

IV. Die Spättheologie 1880–1892

Theologie habe sich zu einer praktischen, geschichtlich-positiven und stärker kantischen Theologie entwickelt, deren Nähe zu Ritschl mit immer stärkeren Abgrenzungspolemiken verbunden auftritt.7 Allen drei generalisierenden Wahrnehmungen lassen sich Wahrheitsmomente zuschreiben, allerdings erschließt erst ein genauerer Blick auf die Texte zwischen 1880 und 1892, welche Kontinuitäten und Diskontinuitäten sich in ihnen festmachen lassen. Der Frage nach einer positiven Wende lässt sich an den werkgeschichtlich bedeutsamen Vorträgen Die letzten Gründe der religiösen Gewißheit von 1880, Die Bedeutung des Historischen im Christentume von 1881 und Unser gemeinsamer Glaubensgrund im Kampfe gegen Rom von 1889 nachvollziehen. Legt Lipsius 1880 nochmals in aller Deutlichkeit die Konturen seines liberalen Standpunktes offen, scheint er gleich 1881 eine prima facie gegenläufige Richtung einzuschlagen, indem er die Berufung des Christentums auf eine historische Heilsoffenbarung in Jesus Christus im traditionalistischen sprachlichen Gewand ins Zentrum seiner Theologie rückt. 1889 schließlich betont er das Verbindende von liberaler und positiver Theologie und deckt so ein verstärktes Engagement für schulübergreifende theologische Konsense auf. Der Frage nach einer praktischen Wende lässt sich insbesondere im Studium der Neuen Beiträgen zur wissenschaftlichen Grundlegung der Dogmatik von 1885 nachgehen, die erneut den derzeitigen Stand seiner erkenntnis- und religionstheoretischen Überlegungen reflektieren und entfalten. In diesen Texten, die er gleich 1885 geschlossen unter dem Titel Philosophie und Religion wiederveröffentlicht hat, entwickelt er die klarste Gestalt seiner kantischen Erkenntnistheorie und theologischen Grundlegung. Auch hier positioniert sich Lipsius explizit zwischen Biedermann und der Ritschl-Schule und rückt dabei ihre jeweils unterschiedlichen Beurteilungen der Bedeutung von Metaphysik für die Religion abermals in den Vordergrund des Diskurses. Zugleich versucht Lipsius auch hier, schulübergreifende Gemeinsamkeiten zeitgenössischer Theologie herauszustellen und auf eine empirisch-praktische Neuausrichtung wissenschaftlicher Theologie im späten 19. Jahrhundert zurückzuführen. Aufschlussreich für Lipsius’ Entwicklung sind weniger die weitgehend in Kontinuität zum früheren Werk stehenden Pointen seiner Selbstpositionierung, sondern die neuen argumentativen Wege, die er dafür wählt. Das stärkere Hervortreten kantischer Moraltheologie, teleologisches Beschreibungsvokabular menschlichen Geisteslebens und ein sittlicher Bewährungszusammenhang des Religiösen lassen dabei größere Nähen zur Ritschl-Schule erkennen. Mit der nach Lipsius’ Tod 1892 veröffentlichten dritten Auflage seines Lehrbuches der evangelisch-protestantischen Dogmatik lässt sich schließlich eine Summe von Lipsius’ Spättheologie greifen, deren Grundzüge er bereits 1889 in Die Hauptpunkte der christlichen Glaubenslehre im Umrisse dargestellt skizziert hat. Die Reformulierungen von Religionstheorie und Christologie geben dabei

7

Vgl. T, Grundlegung und Methode der Lipsiusschen Dogmatik, 528.

1. Eine positive Wende? – Neuakzentuierung liberaler Theologie

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am meisten Aufschluss über Lipsius’ Vermittlungsversuche zwischen den Neuakzentuierungen seiner Spättheologie und der früheren Dogmatik. Dabei treten offenbarungspositivistische Züge von Lipsius’ Spättheologie hervor, die vor dem Hintergrund seiner religionstheoretischen Grundlegung überraschen.

1. Eine positive Wende? – Neuakzentuierung liberaler Theologie Spätestens ab dem Jahr 1881 ist dem Werk von Lipsius eine Neuakzentuierung seiner Theologie zu entnehmen. Er betont die Vereinbarkeit seiner liberalen Theologie mit reformatorischer Theologie, den Anforderungen kirchlichen Lebens und der Sprache traditioneller evangelischer Frömmigkeit. Damit stemmt er sich gegen konfessionalistische Angriffe auf liberale Theologie, die sich nur um den ,Kopf‘ kümmere und dem ,Herzen‘ nichts zu bieten habe. Er tritt damit einer einseitigen Wahrnehmung seines theologischen Systems als skeptisches und kritisches Programm entgegen. Liberaler Theologie ist es seinem Selbstverständnis nach nicht darum zu tun, traditionelle Überzeugungen einzureißen und etablierte Bekenntnisse zu dekonstruieren. Seine liberale Theologie ist – kurz gesagt – nicht ausschließlich negativ. Sein Spätwerk macht deutlich: Lipsius sucht Nähe zu positiver Theologie. Diese Neuakzentuierung lässt sich anhand zweier Vorträge aus den Jahren 1880 und 1881 studieren. 1880 hat Lipsius in Die letzten Gründe der religiösen Gewißheit erneut das erkenntnistheoretische Fundament seiner theologischen Systematik entfaltet und sich dabei gegenüber dem religionskritischen Illusionismus-Vorwurf verteidigt. Hierbei zeigt sich in voller Schärfe das liberale Profil seines dogmatischen Denkens. Betont wird die Notwendigkeit einer inneren Beglaubigung religiöser Gehalte im Erleben des freien Subjekts. Bereits 1881 tritt in Die Bedeutung des Historischen im Christentum demgegenüber die positive Neuakzentuierung deutlich hervor. Der Schwerpunkt liegt hier auf äußeren geschichtlichen Gewissheitsquellen des Glaubens.8 Gerade das ist als positive Wende von Lipsius aufgefasst worden. Er kehre damit schrittweise seinen idealistischen und liberalen Wurzeln den Rücken. Tatsächlich lässt der Vortrag allein durch seine sprachliche Gestalt den in der Wahrnehmung von Lipsius’ Spättheologie herausgestellten ,frömmeren‘ oder ,kirchlicheren‘ Ton anklingen, der sich klar von früheren Darstellungsweisen, wie in Die letzten Gründe religiöser Gewißheit, abhebt. Ein genauerer Blick auf beide Vorträge zeigt jedoch große Kontinuitäten untereinander und insgesamt zur früheren theologischen Systematik. Die grundlegenden Theoreme bleiben in Geltung. Daher trifft die Rede von einer

8

In Philosophie und Religion führt Lipsius beide Vorträge von 1880 und 1881 als komplementäre Behandlungen der ,erkenntnistheoretischen‘ und der ,theologischen‘ Frage an und schreibt ihnen damit selbst eine herausgehobene Bedeutung in seinem Werk zu. Vgl. R A L: Philosophie und Religion, Leipzig 1885, 2.

210

IV. Die Spättheologie 1880–1892

Neuakzentuierung der bisherigen liberalen Theologie besser den Wandel des theologischen Denkens von Lipsius. Vollends deutlich wird dies in dem späteren Vortrag Unser gemeinsamer Glaubensgrund im Kampfe gegen Rom von 1889. Hier tritt beides zutage: Die positiv-theologische Präsentation und das anhaltende Selbstverständnis als liberaler Theologe. Das Plädoyer von Lipsius’ Spättheologie wird hier explizit: Liberale Theologie ist positive Theologie. Ein Durchgang durch diese Vorträge zeigt also die Motive von Lipsius’ positiver Neuakzentuierung und lässt ermessen, wie diese Neuakzentuierung auf sein Denken zurückwirkt. Es wird deutlich, wie Lipsius mit dem Offenbarungsbegriff zeigt, dass sich Geschichte und Erleben, Frömmigkeit und Freiheit sowie Bekenntnis und Wissenschaftlichkeit wechselseitig auslegen und stützen.

a. Die liberale Stoßrichtung – Die letzten Gründe der religiösen Gewißheit 1880 Der Theologie von Lipsius ist wiederholt Skeptizismus und Subjektivismus vorgeworfen worden. Seine strikte Begrenzung der christlichen Glaubensgehalte auf subjektive Geltung, seine Betonung der menschlichen Fantasie als zentrales Organ religiöser Vorstellungen und die damit verbundene durchgehende Bildlichkeit dogmatischer Sätze provozieren diese Kritiken geradezu. So liegt der Vorwurf nahe, dass Lipsius mit seiner religiösen Erkenntnistheorie radikaler Religionskritik nichts entgegenzusetzen habe. Sein Verzicht auf die Möglichkeit einer Wesenserkenntnis Gottes setze sein gesamtes theologisches Denken dem Feuerbachschen Illusionsvorwurf aus.9 Vordergründig attestiert Lipsius der Position Feuerbachs, die er ganz als Reduktion der Religion auf menschliches Wunschdenken auslegt, sogar Plausibilität: Die Thatsache lässt sich nicht leugnen, dass die Entstehung und spezielle Ausgestaltung der religiösen Vorstellungen den Feuerbach’schen Satz, der Mensch glaubt, was er wünscht, durch zahllose Beispiele zu bestätigen scheint.10

Dennoch erblickt Lipsius darin keine prinzipielle Anfechtung seiner Theologie. Seine Erkenntnistheorie der Religion versteht er vielmehr als angemessene Antwort auf Feuerbach. Dies versucht Lipsius in seinem Vortrag Die letzten Gründe 9 Am meisten pointiert hat Isaak August Dorner diese Kritik gegenüber Lipsius formuliert. Vgl. I A D: Ueber die psychologische Methode in der Dogmatik und ihr Gegensatz gegen die Metaphysik. Mit besonderer Beziehung auf Dr. Rich. Adalb. Lipsius, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik. 1876., in: Jahrbuch für Deutsche Theologie (1876) 22, 177–206, hier 196. Karl Rub hat sowohl Lipsius als auch Ritschl vorgeworfen, die Theologie Feuerbach vollkommen auszuliefern. Vgl. R, Die Erkenntnistheorie von R. A. Lipsius, 31–32. Feuerbach tritt hier als Chiffre für unterschiedliche Formen von Religionskritik auf, die religiöse Vorstellungen auf Projektionen menschlicher Wünsche reduziert und sie damit als Illusionen traktiert, denen keine objektive Realität entspricht. Die spezifische Religionstheorie von Feuerbach tritt hierbei in den Hintergrund. 10 L, Philosophie und Religion, 183.

1. Eine positive Wende? – Neuakzentuierung liberaler Theologie

211

der religiösen Gewißheit von 1880 deutlich zu machen.11 Die These, dass alle Rede von religiöser Erfahrung und sämtliche religiöse Überzeugungen auf Täuschungen basieren, tritt hier als bestimmendes radikal-religionskritisches Motiv seiner Zeit auf und wird von Lipsius mit einem materialistischen Zeitgeist in Zusammenhang gebracht. Einem dabei beobachteten einseitig-theoretischem Religionsverständnis setzt er eine enge Bindung religiöser Gewissheit an die Selbsterfahrung freier mündiger Personen entgegen. Die Religionskritik verweist jedoch auch auf eine zirkuläre Struktur von Legitimationsversuchen des Glaubens, die Lipsius für unaufhebbar erachtet. Den Illusionsvorwurf führt Lipsius auf ein materialistisch verengtes Bild von Religion zurück. Wer behauptet, bei religiösen Vorstellungen handele es sich nur um Illusionen, der unterstellt der Religion gegenständliche Wissensbehauptungen, die sich prinzipiell als Illusion herausstellen können. „Kurz, religiöses Erkennen wird behandelt analog dem Naturerkennen.“12 Lipsius kritisiert, dass eine solche Religionsauffassung Glauben als Wissen behandelt.13 Ihre weite Verbreitung zu seiner Zeit erklärt er dadurch, dass auch weite Teile theologischer Tradition diesem Bild verhaftet sind. So schreibt Lipsius diesen Grundfehler theologischem Rationalismus und Supranaturalismus gleichermaßen zu.14 Sowohl der Versuch, die Vernunft als ein Erkenntnisorgan des Übersinnlichen zu bestimmen, als auch eine Berufung auf eine Offenbarung – als übernatürliche Belehrung aufgefasst – setzen religiöse Wahrheit mit theoretischer Erkenntnis gleich.15 Gleiches attestiert Lipsius jeglichen Versuchen, mit den Mitteln der Metaphysik die Wahrheit des Glaubens abzusichern.16 Religiöse Überzeugung ist dagegen als praktische Erkenntnis zu begreifen. Damit ist zunächst gesagt, dass sie unmittelbare Bedeutsamkeit für die menschliche Lebensführung für sich beanspruchen kann und muss. Religiöse Überzeugung schöpft sich aus und bewährt sich in dem Selbstverständnis eines Menschen als freie Persönlichkeit. Dieses bereits etablierte Motiv seiner Theologie reformuliert Lipsius hier in großer terminologischer Nähe zu Ritschl und Herrmann: Glaube als praktische Erkenntnis wird nun auch bei Lipsius stark an Wertzuschreibungen gebunden und mit teleologischem Vokabular von theoretischen Erkenntnisformen abgehoben. Seine gegen die Ritschl-Schule gerichtete Forderung einer Zusammenbestehbarkeit der praktischen Glaubenserkenntnis mit dem theoretischen Weltwissen des Menschen schwächt er hingegen nicht ab. Zu-

11 Vgl. .: Die letzten Gründe der religiösen Gewißheit, in: Ders.: Glauben und Wissen. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Berlin 1897, 30–61, hier 30. 12 A. a. O., 35. 13 Zur Unterscheidung von Glauben und Wissen siehe Kap. I.5.a. 14 Vgl. ., Die letzten Gründe der religiösen Gewißheit, 31. 15 Vgl. a. a. O., 33. 16 Vgl. a. a. O., 37–39. Hier bezieht sich Lipsius zugleich auf seine Metaphysikkritik gegenüber Hegel und Biedermann. Siehe Kap. I.5.a. und III.2.b. Weitet diese hier allerdings auch auf Otto Pfleiderer aus.

212

IV. Die Spättheologie 1880–1892

dem lehnt er weiterhin die Reduktion des menschlichen Geisteslebens auf teleologische Strukturen ab. Vielmehr adressiert seine Religionstheorie nach wie vor eine Selbsterschlossenheit menschlicher Subjektivität, die im Selbstbewusstsein vorliegt und allem Denken und Handeln vorausgeht. „Dieses lebendige Ich ist das Urdatum, welches aller Erkenntnis vorhergeht; sein Dasein ist mir das allergewisseste was es giebt, von dem alle anderweite Gewißheit und alles anderweite Wissen abhängig ist.“17 Dieses konstitutionstheoretische Primat einer im Selbsterleben gewissen Selbsterschlossenheit verleiht dem menschlichen Selbstbewusstsein ein höheres Maß an Evidenz als es jegliche Form theoretischer Erkenntnis für sich beanspruchen kann. Inwiefern kann jedoch religiöse Gewissheit an dieser Evidenz des Selbsterlebens partizipieren? Lipsius’ Verständnis von Religion als praktische Erkenntnis verbindet Momente von Erfahrungstheologie und Postulatenlehre kantischer Provenienz.18 So schöpft die religiöse Gewissheit einerseits – so das erfahrungstheologische Motiv – aus dem Selbsterleben freier Persönlichkeit. Darin inbegriffen sind nach Lipsius jedoch praktische Nötigungen, die – so das postulatentheoretische-Motiv – die eigene Freiheitserfahrung im Sinne einer Transzendierung naturkausaler Determination auf eine göttliche Macht zurückzuführen, welche die eigene Freiheitserfahrung ermöglicht und sie zugleich mit einem umfassenden Sinn verbindet. Während die Freiheitserfahrung als Faktum adressiert wird, wird die Wirklichkeit der religiösen Gehalte als Möglichkeitsbedingung dieses Faktums motiviert. Dabei erhält die in das menschliche Selbsterleben eingelassene praktische Nötigung neben ihrem Charakter als Erlebensqualität auch Züge eines Kalküls praktischer Vernunft: Die Freiheit ist nur gesichert, wenn es eine die Welt durchwaltende Willensmacht giebt, welche die Natur als Mittel zum Zweck der Persönlichkeit geschaffen hat und regiert, welche die Menschenwelt zu einem Reiche persönlicher Geister vereinigt, in welchem alles Dasein seinen Endzweck erreicht, welche endlich dem einzelnen Subject trotz seiner eigenen Natürlichkeit Kraft giebt, freie sittliche Persönlichkeit immer mehr zu werden.19

Eine solche teleologische Weltanschauung braucht es nach Lipsius, um eine Selbstwertzuschreibung des Menschen aufrecht erhalten zu können.20 Lipsius führt mit diesen Überlegungen die Selbstgewissheit, eine freie Persönlichkeit zu sein, und die religiöse Gewissheit einer umfassenden teleologischen Einbettung des freien persönlichen Lebens denkbar eng zusammen. Sie verdankt sich demnach Postulaten, welche jedoch aus dem Selbsterleben als freie Persönlichkeit 17

A. a. O., 43. Die Verbindung von erfahrungstheologischen und postulatentheoretischen Momenten in Lipsius’ Religionstheorie hat Ernst Troeltsch in seiner Rezension der dritten Auflage von Lipsius’ Dogmatik auf den Begriff gebracht. Troeltsch schließt sich hier zudem Kritikern an, die in dieser Doppelstruktur einen handfesten Widerspruch erkennen. Vgl. T, Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 41. Siehe dazu Kap. V. 3. 19 L, Die letzten Gründe der religiösen Gewißheit, 50. 20 Vgl. A. a. O., 53. 18

1. Eine positive Wende? – Neuakzentuierung liberaler Theologie

213

heraus motiviert sind (praktische Nötigung) und sich aus der Perspektive der Frömmigkeit als Realitäten erfahrbar darstellen. Quelle eines Glaubens an eine solche teleologische Einbettung menschlichen Lebens aus Freiheit ist die religiös gedeutete Erfahrung der Freiheit selbst, nämlich der erlebten relativen Unabhängigkeit der eigenen Persönlichkeit von der eigenen und umgebenden Natur durch die Beziehung zu einer transzendenten Macht.21 Diese Freiheitserfahrung ist mit dem unmittelbaren Selbstbewusstsein des Menschen bereits mitgesetzt. Sie liegt im Ichgefühl vor. Als Voraussetzung und Grund auch allen theoretischen Urteilens ist dieses Ichgefühl selbst nicht theoretisch beweisbar, allerdings auch nicht auf eine theoretische Legitimation angewiesen.22 Eine entscheidende Pointe von dieser Grundlegung religiöser Gewissheit ist, dass das praktische Selbsterleben des Menschen nicht nur die Quelle der religiösen Gewissheit ist. Es ist nicht lediglich ein Entdeckungs- oder Begründungszusammenhang der religiösen Vorstellungen. Vielmehr ist die menschliche Freiheitserfahrung wesentlicher Inhalt religiöser Gewissheit. „Eine Offenbarung aber, die sich an die praktische Erfahrung der Person wendet, kann zu ihrem Inhalte auch nichts anderes haben, als was persönlich erfahren und erlebt werden kann.“23 Religiöse Gewissheit fußt nicht nur auf einer Erfahrung eines freien persönlichen Lebens, sondern besteht in einem freien persönlichen Leben. „Sie ist persönliche Gewißheit, kein Wissen, ein Bestandteil unserer persönlichen Existenz, kein für das persönliche Leben gleichgiltiges theoretisches Erkennen.“24 Darin besteht nach Lipsius ihre im freien Persönlichkeitsleben verwirklichte praktische Wahrheit. So gewiß das eigene Freiheitserleben auch sein mag, seine religiöse Auslegung als Offenbarung eines zur Freiheit erhebenden göttlichen Grunds bleibt trotzdem strittig. Doch gerade mit dem Offenbarungsbegriff steht und fällt nach Lipsius die Realitätsanmutung religiöser Gewissheit. Für ihn ist es allerdings klar, dass es keinen argumentationslogischen Abschluss einer Begründung religiöser Gewissheitsansprüche geben kann. Einerseits ist der letzte Grund religiöser Gewissheit in dem persönlichen Erleben aufzusuchen. Andererseits verdankt sich das persönliche Erleben immer schon einem Deutungshorizont, den es daher nicht zirkelfrei begründen kann. Aus der Perspektive der Frömmigkeit gilt der bloße Umstand eines freien persönlichen Lebens des Menschen bereits als Präsenz des göttlichen Geistes im menschlichen Geist, worauf Lipsius wiederholt als Selbst-

21

„Die Freiheit ist gar nichts anderes als die Unabhängigkeit der lebendigen Persönlichkeit von der eigenen sinnlichen Natürlichkeit und von der Natur um uns her, die Verwirklichung unserer eigenen geistigen Bestimmung, deren wir inne werden so gewiß als wir leben und sind.“ A. a. O., 50. 22 „Der Glaube baut sich unmittelbar auf dem Urdatum aller Wirklichkeit, dem Ichgefühle auf; er bedarf daher keiner Legitimation durch das theoretische Erkennen, er behauptet sich um der persönlichen Selbstbewahrung willen auch gegenüber allen Zweifelsfragen, welche der äußere Naturverlauf ihm entgegenwirft.“ A. a. O., 49. 23 A. a. O., 46. 24 A. a. O., 51.

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IV. Die Spättheologie 1880–1892

erweis Gottes im menschlichen Bewusstsein rekurriert.25 Dogmatisch wird dieses Evidenzgeschehen als „testimonium Spiritus Sancti internum“26 bezeichnet und menschlicher Verfügbarkeit entzogen. Die Berufung religiöser Gewissheit auf eine solche sie stiftende innere Offenbarung nimmt das zu Beweisende bereits in Anspruch. Beweisen kann sie demnach nichts. Dieser Ausschluss jeglicher apodiktischen Beweisbarkeit religiöser Gewissheit ist kennzeichnend für Lipsius’ Theologie. Allerdings lassen sich religiöse Annahmen ihm zufolge durch das „Korrektiv“27 religiöser Gemeinschaft und ihrer Berufung auf eine objektive und historische Offenbarung stärken. „Es giebt keinen anderen Prüfstein für die Echtheit und Wahrheit subjektiv religiöser Erlebnisse, als das Zeugnis einer geschichtlichen Gemeinschaft, als deren Glied der einzelne sich fühlt.“28 Die Gemeinschaft übernimmt für die Religion eine versichernde Funktion. Sie hat Lipsius schon früher wiederholt herausgestellt.29 Diese Funktion kann sie haben, da Lipsius unter religiöser Erfahrung nichts Individuelles oder gar Idiosynkratisches versteht. Die gemeinschaftliche Kommunikation religiöser Erfahrung und dokumentierter religiöser Erfahrungen der Religionsgeschichte sollen eine Allgemeinheit religiösen Erlebens versichern. So ist der gemeinschaftliche Rückbezug des Christentums auf eine objektive Heilsoffenbarung in Jesus Christus der entscheidende Ausdruck eines allgemeinen Geltungsanspruchs religiöser Erfahrung für alle Menschen. Doch in diesem Christusbekenntnis wiederholt sich nach Lipsius die Zirkularität religiöser Gewissheitsbildung. Dass Christus als objektive Heilsoffenbarung angesehen werden kann, legitimiert sich demnach erst im individuellen Erleben. So stützt sich die religiöse Gewißheit des Christen auf die geschichtliche Offenbarung in Christus: sie reift an ihr heran und richtet an ihr, wenn sie schwankend werden will, sich wieder empor. Aber der letzte und tiefste Grund dieser Gewißheit ist für die lebendige Person immer nur die persönliche Erfahrung, durch welche sich die Wahrheit jener geschichtlichen Offenbarung für mich bewährt30.

Diese zirkuläre Struktur religiöser Gewissheit kann nach Lipsius jedoch nicht überwunden werden. Sie gilt ihm vielmehr als eine sachgemäße Beschreibung religiöser Gewissheitsbildung. Für eine Apologie eines solchen Glaubens verbleibt nur die Bewährung des Glaubens in einer aus dem Glauben schöpfenden Lebensführung. Der Glaube bewährt sich in dem Gut der Freiheit, das sich in freier Lebensführung realisiert und zu dessen Erhalt er beiträgt. Das freie persönliche Leben des Menschen kann selbst bereits als eine Plausibilisierung reli-

25

Vgl. A. a. O., 57. Ebd. 27 A. a. O., 58. 28 Ebd. 29 Vgl. z.B. ., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 90. Siehe auch Kap. II.2. 30 D., Die letzten Gründe der religiösen Gewißheit, 61. 26

1. Eine positive Wende? – Neuakzentuierung liberaler Theologie

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giöser Gewissheit gelten, da nach Lipsius religiöse Gewissheit das freie persönliche Leben zum zentralen Inhalt hat, wenngleich es ausgelegt als Offenbarung einen umfassenden Sinnhorizont mitsetzt, der strittig bleiben muss. In diesen Überlegungen zur religiösen Gewissheit zeigt Lipsius noch einmal das liberale Profil seiner religiösen Erkenntnistheorie. Im Zentrum steht die Kultivierung freier und mündiger Persönlichkeit, deren religiöse Auslegung als Wirkung Gottes sich für das mündige Subjekt bewähren muss. Das freie Leben der Persönlichkeit markiert zugleich einen entscheidenden Grund und Maßstab religiöser Gewissheit. Die Perspektive der Frömmigkeit deutet die je eigene Freiheitserfahrung als Wirken Gottes im Menschen und stellt sie so in einen umfassenden teleologischen Zusammenhang ein. Diese Deutung schöpft aus einer unmittelbaren Evidenz des Selbsterlebens und der ihr eingelassenen praktischen Nötigung, entzieht sich jedoch sicherer Beweise. Mit dem Weg der Selbstvergewisserung durch das Wiederentdecken des eigenen Erlebens in kirchlicher Gemeinschaft und historischen Frömmigkeitszeugnissen deutet Lipsius bereits eine hohe Relevanz der christlichen Rede von historischer Offenbarung an. Im Christentum stiftet der gemeinsame Bezug auf die historische Offenbarung in Jesus Christus einen gemeinsamen Glaubensgrund, der sich als solcher nur im je eigenen Erleben legitimieren lässt. Dieser Verweis auf die Bedeutung historischer Offenbarung bleibt jedoch eigentümlich unvermittelt mit seiner im Vordergrund stehenden Konzeption allgemeiner innerer Offenbarung und ihr Beitrag zur Bestimmtheit christlicher Glaubensvorstellung bleibt auffällig wenig reflektiert. Hier wird die Spättheologie verstärkt ansetzen, wie sich bereits im nächsten Abschnitt zeigt. Trotz emphatischer Beteuerung der Relevanz der geschichtlichen objektiven Offenbarung, bleibt es hier klar ein auf Gott zurückgeführtes unmittelbares Erleben praktischer Nötigung, das den letzten Grund religiöser Gewissheit ausmacht. Diese Priorisierung einer inneren Offenbarung vor der äußeren kann als Lipsius’ liberale Stoßrichtung gelten. Bei diesen Überlegungen bewegt sich Lipsius klar im Rahmen seiner bisherigen theologischen Systematik. Jedoch zeigen sich zugleich terminologische Konzessionen gegenüber der RitschlSchule: Lipsius verwendet unbefangener teleologisches Vokabular, um das menschliche Geistesleben zu beschreiben, betont stärker die Relevanz religiöser Gemeinschaft für die Versicherung religiöser Überzeugungen und grenzt das Erleben stärker von psychologischen Beschreibungen ab.31

b. Die positive Stoßrichtung – Die Bedeutung des Historischen im Christentume 1881 Während der Vortrag Die letzten Gründe der religiösen Gewißheit von 1880 die Momente innerer Vergewisserung des Glaubens durch das Erleben betont, stellt Die Bedeutung des Historischen im Christentume im Gegenzug die Momente äu-

31

Zum dabei in Anschlag gebrachten Begriff des Erlebens siehe unten Kap. IV. 2.d.

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IV. Die Spättheologie 1880–1892

ßerer Vergewisserung des Glaubens an historischen Zeugnissen ins Zentrum. Es kann der Eindruck entstehen, Lipsius habe zwischen 1880 und 1881 in dieser Frage eine Kehrtwende vollzogen. So folgt der Vortrag dem Anliegen, die unveräußerliche Relevanz der historischen Offenbarung in Jesus Christus für den christlichen Glauben zu betonen.32 Er endet mit einem von Lipsius selbst als solchem bezeichneten „Glaubensbekenntnis zu dem gekreuzigten und auferstandenen Christus, dem Sohne des lebendigen Gottes, unserem Heilande und Erlöser.“33 Ihm ist es dabei darum zu tun, die positiven Momente der Jenaer Theologie herauszustellen. Ihre Wissenschaftsaffinität soll nicht als Gegenüber, sondern als integraler Bestandteil protestantischer Frömmigkeit ausgewiesen werden: „[D]er Protestantismus sei von Natur der Wissenschaft blutsverwandt.“34 Er adressiert zudem explizit den Vorwurf, die Jenaer Theologie „bilde nur den Verstand und lasse das Herz leer, sie reiße nur ein und baue nicht auf, sie sei also unfähig, segensreich wirkende Geistliche zu bilden.“35 Vor diesem Hintergrund lässt sich eine sprachliche Annäherung an einen positiven Theologietypus beobachten. Ausgehend von dieser Neuakzentuierung seiner liberalen Theologie stellt sich jedoch die Frage, ob sie auch handfeste Änderungen der theologischen Systematik nach sich zieht. Eine hohe Bedeutung des Historischen für Religion ergibt sich nach Lipsius bereits aus dem Umstand, dass Religionen stets geschichtliche Erscheinungen sind, was er gegenüber Konstruktionen einer ,natürlichen Religion‘ herausstellt. „Alle wirklichen Religionen sind geschichtliche; geschichtliche Thatsachen bilden ihre Grundlage, geschichtliche Gemeinschaften sind die Stätten, in denen religiöses Leben erzeugt und fortgepflanzt wird.“36 Allerdings steht Religion trotz dieser notwendigen historischen Situiertheit in einem spannungsreichen Verhältnis zu ihrer Geschichtlichkeit. Es entsteht daraus, dass Religionen nach Lipsius stets von einer Heilsvorstellung bestimmt sind, die auf etwas Ewiges Bezug nimmt. Heil wird als ein überzeitliches Gut aufgefasst. Religion hat demnach eine

32

Ein Anreiz für Lipsius, die Bedeutung des Historischen in seiner Theologie stark zu betonen, könnte die Darstellung seiner Theologie durch Eduard von Hartmann sein. In seiner 1880 veröffentlichten Studie Die Krisis des Christenthums in der modernen Theologie hat er in den Theologien von Lipsius, Biedermann und Pfleiderer eine spekulative Rekonstruktion christlicher Heilsvorstellung diagnostiziert, die sich nur aus mangelnder Konsequenz der benannten Autoren nicht von der christlichen Berufung auf eine historische Offenbarung lossage. Ihre Berufung auf geschichtliche Heilstatsachen sei nicht mit ihrer Theologie vereinbar. Vgl. H, Die Krisis des Christenthums, 114. Da dies von Lipsius hier jedoch nicht explizit aufgegriffen wird, bleibt die Behauptung eines Zusammenhangs eine Vermutung. 33 R A L: Die Bedeutung des Historischen im Christentume, in: Ders.: Glauben und Wissen. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Berlin 1897, 111–142, hier 141. 34 A. a. O., 142. Lipsius zitiert hier seinen Leipziger Lehrer Winer. 35 A. a. O., 141. 36 A. a. O., 120.

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doppelte Stellung zu diesem Geschichtsprozess: Einerseits ist sie vollkommen als Teil der Geschichte zu begreifen. Andererseits zielt sie auf ein Heil, das Geschichtlichkeit an sich transzendiert. Im Christentum ist dies an der Rede von Jesus Christus als historischer Offenbarung nachzuvollziehen. Einerseits bezieht sich das Konzept historischer Offenbarung auf ein Geschehen in der Ereignisgeschichte. Andererseits soll dieses historische Geschehen ein überzeitliches Heil vermitteln, das zu keinem Zeitpunkt in der Christentumsgeschichte abgegolten ist. Gerade die darin verheißene Freiheit des Menschen transzendiert die Zeitlichkeit der Geschichte. Aber das in Christo uns zugeeignete Gut ist doch vor allem ein geistiger Besitz, es ist seinem inneren Gehalte nach ein Gut, welches über allen Zeitenwechsel erhaben ist. Sein Besitz erhebt uns über unser endliches Dasein in der Sinnenwelt und bürgert uns ein in einer Welt des übersinnlichen und überirdischen Seins, in welcher es keine Vergangenheit und keine Zukunft, sondern nur eine ewige Gegenwart giebt.37

Die christliche Heilsvorstellung beschreibt Lipsius als ein Ergreifen des Ewigen unter Bedingungen der eigenen Endlichkeit. Es kommt der religiösen Erhebung des Menschen zur Freiheit in Gott gleich. Indem Jesus Christus die Möglichkeit und Wirklichkeit des über die Natur erhobenen Lebens aus Freiheit in Gott verkörpert, bringt es ewiges Leben in der Geschichte urbildlich zur Darstellung. Freilich kann dabei ewiges Leben nicht als zeitlich unendlich ausgedehntes Leben verstanden werden, sondern meint Aspekte freien persönlichen Lebens, die sich einer zeitlich strukturierten Beschreibung entziehen. Der Mensch kann an dieser Freiheit über die Natur nur unter geschichtlichen Bedingungen Anteil haben. Damit tritt das prozesshafte Erheben des Menschen zur Freiheit ins Zentrum der Betrachtung. Freiheit hat der Mensch demnach nur im Prozess der Befreiung. Vor diesem Hintergrund beschreibt Lipsius die Aneignung der religiösen Freiheit als innere Geschichte des religiösen Verhältnisses.38 Damit kommt die individuelle Heilszu- und Heilsaneignung als Befreiungsprozess in den Blick. Die zentrale Pointe seiner Religionstheorie, dass der Mensch die intelligible Freiheit nur in schlechthinniger Abhängigkeit von einer Gottheit und nicht aus eigener endlicher Kraft erlangt, reformuliert Lipsius hier theologisch als Sündenerkenntnis des Menschen in der Konfrontation mit dem Gesetz Gottes. Erst aus einer Haltung des Glaubens heraus eröffnet sich mit dem Eingeständnis eigener Ohnmacht die Möglichkeit, Gottes erlösende Gnade zu ergreifen. Vor dem Hintergrund dieser Passage zeigt sich deutlich der vielfach bei Lipsius wahrgenommene ,kirchlichere Ton‘ seiner Spättheologie: Wie kommt in einem Menschengemüte die Gottesgemeinschaft, die Gewißheit der Gotteskindschaft und des ewigen Lebens in Gott zu stande? Der thatsächliche Zustand, in dem wir uns finden, ist nicht die Gottesgemeinschaft, sondern das natürlich-sinnliche Leben des Menschen ohne Gott; nicht die Gottesnähe, sondern die Gottesferne, nicht die Freund-

37 38

A. a. O., 122. Vgl. a. a. O., 127.

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IV. Die Spättheologie 1880–1892

schaft Gottes, sondern die Freundschaft der Welt. Das Sinnen und Trachten des menschlichen Willens steht im Widerspruche mit dem göttlichen Willen, erscheint im Lichte dieses heiligen Willens als sündig. Indem der natürliche Mensch seinen Widerspruch mit dem Gesetze Gottes erkennt, erkennt er sich als Sünder vor Gott, von der Macht der Sünde beherrscht, von der Schuld der Sünde befleckt und von der Gemeinschaft mit Gott, dem ewigen Gute, getrennt. Das ist kein bloß theoretisches Erkennen, das ist ein Erlebnis des inwendigen Menschen, eine ernste furchtbare Realität. Der ewige Gotteswille offenbart sich im Gewissen des Sünders als heiliger Ernst, der vom Sünder sich abkehrt, als strafende Gerechtigkeit. Der Sünder erkennt aber zugleich, daß er nicht aus eigener natürlicher Kraft jenen Widerspruch aufheben, die Macht des Bösen besiegen, die Schuld gegen Gott abtragen, dem ewigen Strafgerichte entfliehen kann. Er erkennt es, weil er es erfährt und er erfährt es um so lebendiger, je ernsterer und lauterer sein Bemühen ist, ein neuer Mensch zu werden. In diesen Nöten des inwendigen Menschen hilft nur eins: er muß Gott allein die Ehre geben, er muß schlechthin auf alles eigene natürliche Können und Verdienen verzichten. Er muß sich selbst verleugnen, um allein von Gottes Gnade zu leben. […] So muß er denn vor allem der Gnade Gottes gewiß werden, die ihn mit sich versöhnt, indem sie ihn zugleich von der Welt und von der Sünder erlöst; er muß den Trost der göttlichen Gnade im Glauben ergreifen, um die Kraft des göttlichen Geistes im Gemüthe erfahren zu können. Das Wunder der Wiedergeburt des natürlichen und sündigen Menschen, die Geburt des Gotteskindes in uns, vollzieht sich so nach Gottes ewiger Heilsordnung immer auf Grund der Rechtfertigung des Sünders vor Gott, oder auf Grund der seligen Gewißheit, daß Gott uns trotz unserer Sünde gnädig sein will.39

Hier wird deutlich, dass Lipsius von einer Konvergenz seiner liberaltheologischen Religionstheorie mit den Grundmotiven reformatorischer Frömmigkeit ausgeht. Er beschreibt den inneren Weg des endlichen Menschen zu seiner Freiheit in Gott als die Abfolge von Gesetz und Evangelium, die einen Menschen sich in seiner Endlichkeit als unendlich hilfsbedürftigen Sünder „trotz seiner Sehnsucht nach Freiheit von der Welt“40 erkennen lässt und in dem Bewusstsein seiner Angewiesenheit auf einen gnädigen Gott bereit ist, den Glauben als Gewissheit göttlicher Gnade zu ergreifen. Die gnädige Rechtfertigung des Sünders erläutert hier das Wirken des göttlichen Geistes im Menschengeist, das nach Lipsius’ Religionsbegriff gerade die Erhebung über die eigene Endlichkeit zur Freiheit in Gott ist. Entscheidend ist dabei, dass diese innere Geschichte ganz als ein inneres Erleben geschildert wird, das zunächst einmal unabhängig von jeglicher Kenntnis historischer Offenbarung Bestand hat.41 Von hier aus jedoch versucht Lipsius die Bedeutung des Historischen für diese innere Geschichte der Heilsaneignung zu gewinnen. Dabei verfolgt Lipsius zwei Argumentationslinien: Zunächst verweist er darauf, dass die christlichen Gemeinschaften faktisch den Entdeckungszusammenhang für die christliche Heilsvorstellung bilden. Die innere Geschichte des christ-

39

A. a. O., 125–127. A. a. O., 126. 41 „Ohne diese Erfahrungen und Erlebnisse des inwendigen Menschen nützt auch alle geschichtliche Kenntnis nichts.“ A. a. O., 127. 40

1. Eine positive Wende? – Neuakzentuierung liberaler Theologie

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lichen Glaubens kann nur durch Zeugnisse dieser Geschichte bei anderen Menschen angestoßen werden. Dieses äußere wechselseitige Anstecken der inneren Geschichte des Glaubens kann dann auf ihren geschichtlichen Quellpunkt in Jesus Christus zurückgeführt werden.42 Dafür gewinnt das persönliche Lebensbild Jesu unmittelbare religiöse Bedeutsamkeit, da Jesus Christus die innere Geschichte des religiösen Verhältnisses unüberbietbar verkörpert.43 Diese herausgehobene Stellung des Persönlichkeitsbildes Christi in den Zeugnissen christlicher Tradition ruht der Bestimmung von Religion als Entwicklung und Bewahrung freier Persönlichkeit auf. „In der Religion ist die Persönlichkeit alles; das Werk ist hier nicht ablösbar von seinem Träger, denn dieses Werk ist ja in erster Linie selbst persönliche Lebensvollendung.“44 Dieser Argumentationslinie für die historische Bedeutsamkeit Jesu korrespondiert die Menschlichkeit Jesu und so reformuliert sie die zuvor entfaltete Urbild-Christologie.45 Diese Argumentationslinie wird nun um eine weitere ergänzt, die der Göttlichkeit Jesu zugeordnet ist. Die historische Offenbarung kann nicht nur als eine Verkörperung des religiösen Verhältnisses gefasst werden. Lipsius hat in der inneren Geschichte der Heilsaneignung die Gewissheit der göttlichen Gnade – das Evangelium – als entscheidendes Moment ausgewiesen. Die Gewissheit des göttlichen Liebeswillens wird von Lipsius als etwas herausgestellt, das sich nicht aus der religiösen Erfahrung des Individuums selbst legitimieren lässt. So kommt die historische Offenbarung in Christus als „thatsächliche Offenbarung der Gnade Gottes in Christo“46 in den Blick. Der göttliche Liebeswille erlangt in dem historischen Zeugnis von Jesus Christus „geschichtliche Objektivität“47. Indem die in der ,objektiven‘ Historizität verbürgte Heilsgewissheit einen konstitutiven Teil der inneren Geschichte der christlichen Heilsaneignung ausmacht, wird die Bedeutung des Historischen für den christlichen Glauben in Lipsius theologischer Systematik gestärkt. Für die Offenbarung von Gottes Heilswillen stellt Lipsius „Kreuzestod und die Auferstehung“48 als zentrale Bezugspunkte religiöser Wertschätzung des Historischen heraus. In seiner Dogmatik hatte Lipsius die christliche Heilsdimension des religiösen Verhältnisses in der historischen Offenbarung als Offenbarung des Liebeswillens bereits festgemacht.49 Diese war jedoch stärker als Bestandteil des christlichen Prinzips bestimmt, dem eine relative Selbstständigkeit gegenüber dem historischen Lebensbild Jesu zugeschrieben wurde. Nun

42

Vgl. a. a. O., 128. Hier beruft sich Lipsius auf die vorherrschende Bewegung der Christologie seit Schleiermacher hin zu einer echt menschlichen Bestimmung von Leben und Werk Jesu Christi. Vgl. a. a. O., 129. 44 A. a. O., 128. 45 Siehe Kap. II.5.b. 46 A. a. O., 130–131. 47 A. a. O., 131. 48 A. a. O., 138. 49 Siehe Kap. II.5.b. 43

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IV. Die Spättheologie 1880–1892

betont Lipsius: Beide Momente sind unzertrennlich in dem historischen Zeugnis von Christus verwoben. In ihm zeigt sich eine urbildliche Verwirklichung eines vollkommenen religiösen Verhältnisses und zugleich drückt sich in ihm der göttliche Liebeswille aus. Insgesamt kann nach Lipsius die Zwei-Naturen-Lehre die doppelte Bedeutsamkeit des Historischen für die innere Geschichte der Heilsaneignung deutlich machen. Die Gegenwart Gottes in ihm ist der Real-Grund der vollkommenen Gotteinheit seines menschlichen Lebens; wiederum dieses sein gotteiniges Menschenleben ist für die Gemeinde der Erkenntnis-Grund der wahrhaftig in ihm gegenwärtigen Gottheit.50

Die göttliche Natur, als Moment interpretiert, macht den göttlichen Liebeswillen an einer geschichtlichen Objektivität gewiss und die menschliche Natur, als Moment interpretiert, bietet den Menschen ein lebendiges Bild einer freien Persönlichkeit im Sinne einer Erhabenheit über die eigene Endlichkeit durch das religiöse Verhältnis zu Gott. Gerade die Rede von einer geschichtlichen Objektivität als Grund religiöser Gewissheit von dem Liebeswillen Gottes erscheint prima facie als eine Priorisierung der äußeren vor der inneren Offenbarung. Lipsius macht jedoch gleich darauf deutlich, dass er an seiner Priorisierung innerer Offenbarung als Legitimation des Bezugs auf Christus als historische Offenbarung festhält. Erst diese thatsächliche Erfahrung von dem neuen Leben in Gott, das sie im Glauben an Christus gewonnen hat, bestätigte ihr die Wahrheit des Bekenntnisses zu ihm als zu ihrem Erlöser und Seligmacher und gab ihr den Mut zum fröhlichen Zeugnisse von dem in Christo thatsächlich gefundenen Heil.51

Der letzte Grund religiöser Gewissheit bleibt auch hier das innere Erleben als testimonium Spiritus Sancti internum: „Zuletzt ist es doch immer nur das innere Zeugnis des heiligen Geistes, welches wahrhaft göttliche Gewissheit giebt.“52 So ist Die Bedeutung des Historischen im Christentume weniger eine fundamentale theologische Wende, sondern eine Reformulierung seines doppelten Offenbarungsbegriffs, den er bereits in seinem Lehrbuch erster Auflage entfaltet hat. In Anlehnung an Richard Rothes Unterscheidung von Inspiration und Manifestation entwickelt Lipsius die Bedeutung des Historischen im Rahmen einer wechselseitigen Angewiesenheit beider Momente des Offenbarungsbegriffs.53 Hier besteht nach Lipsius eine wechselseitige Begründungsstruktur religiöser Offenbarungsgewissheit: Es braucht eine äußere Offenbarung als Anstoß und Korrektiv einer inneren Offenbarung. Aber erst die innere Offenbarung kann die äußere Offenbarung als Offenbarung legitimieren, womit Lipsius seine Priorisierung innerer Offenbarung als letzten Grund religiöser Gewissheit beibehält.

50

A. a. O., 131. A. a. O., 133. 52 Ebd. 53 Siehe Kap. II.3. 51

1. Eine positive Wende? – Neuakzentuierung liberaler Theologie

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Die objektive Gottesoffenbarung in Christo ist der Grund, auf welchem das neue Leben im Geiste Gottes sich erbaut und auf dem es sich wenn wir straucheln, immer wieder aufrichtet; das subjective Geisteszeugnis ist der von dem lebendigen Gotte selbst im Menschengeiste geführte Beweis, daß jene geschichtliche Offenbarung wirklich die Manifestation Gottes in der Geschichte ist.54

Der Vortrag Die Bedeutung des Historischen im Christentume verlässt trotz der Stärkung des argumentativen Gewichts historischer Offenbarung mit diesen Überlegungen nicht den Rahmen, welcher in Die letzten Gründe der religiösen Gewißheit gesteckt ist und weitestgehend in Kontinuität zu der im Lehrbuch entfalteten Offenbarungskonzeption steht. 1881 macht Lipsius jedoch deutlich, dass er versucht, im Kontext dieser theologischen Systematik ihre Anschlussfähigkeit an das konkrete kirchliche Leben und die Sprache positiver Theologie zu suchen.55 Aus dem Gestus des Kampfes für die Wissenschaftlichkeit der Theologie gegen neuorthodoxen Konfessionalismus in den frühen Jahren ist zunehmend einer der Bekenntnistreue liberaler Theologie geworden. Sachlich entspricht dieser Tendenz eine stärkere Arbeit an der Vermittlung von äußerer und innerer Offenbarung. Insgesamt markiert Lipsius’ Vortrag von 1881 jedoch weniger eine vollständige Neuausrichtung seiner Theologie, sondern eine neue Legitimationsstrategie seines theologischen Standpunkts gegenüber positiven Strömungen.56 In diesem Sinne inszeniert Lipsius seinen Vortrag nicht als wissenschaftliche Theologie, sondern als eine fromme Praxis, die gerade die wissenschaftliche Reflexion einschließt. Daher mündet sein Vortrag in einem – wie er sagt – Glaubensbekenntnis und er schließt den Vortrag mit „Amen“57.

54

A. a. O., 135. Die Priorisierung der inneren Offenbarung kann Lipsius auch mit der reformatorischen Unterscheidung des seligmachenden Glaubens vom Geschichtsglauben reformulieren. Vgl. a. a. O., 136. Das Fürwahrhalten von einzelnen Tatsachen oder Erzählungen hat keine unmittelbare Heilsrelevanz. Die Geschichtstatsachen des Christentums können so auch problemlos historischer Kritik ausgesetzt werden. Vgl. a. a. O., 137. Relevant ist an den christlichen Geschichtstatsachen, „daß Vergebung der Sünde, Gnade und alles Heil in Christo angeboten werde.“ A. a. O., 136. So kann Lipsius lediglich dem Kreuzestod und der Auferstehung Jesu eine unmittelbare Heilsrelevanz zumessen, die sich jedoch nur aus der Erfahrung des Glaubens heraus als heilsrelevant legitimieren lassen. 55 Eine solche Auslegung der theologischen Neuausrichtung von Lipsius’ Spätwerk, die darin weniger ein neues dogmatischen Programm als einen neuen Ton erkennt, hat bereits Heinrich Holtzmann in seiner Rezension der dritten Auflage von Lipsius’ Dogmatiklehrbuch angedeutet. Vgl. H, Die neue Auflage der Lipsius’schen Dogmatik, 484–486. 56 Klar gesehen hat dies bereits Max Reischle. In einem Nachruf erblickt er gerade in diesem Versuch, liberale und positive Theologie zu vermitteln, das bleibende Verdienst von Lipsius’ Theologie, wenngleich er darüber hinaus Lipsius’ theologischem System keine Originalität zuschreiben kann: „Als einer von denen, die daran mitgearbeitet haben, eine zugleich liberale und positive, eine gegenüber der wissenschaftlichen Forschung unbefangene und doch vom Glauben an Jesum Christum getragene Theologie auszugestalten, wird Lipsius, wenn er auch nicht zu den großen schaffenden Geistern gehört, einen ehrenvollen Platz in der Geschichte der Theologie behalten.“ R, Lipsius und seine dogmatische Arbeit, 272. 57 L, Die Bedeutung des Historischen im Christentume, 142.

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IV. Die Spättheologie 1880–1892

c. Konsensualtheologie – Gemeinsamer Glaubensgrund im Kampf gegen Rom 1889 Mit dem kontroverstheologischen Vortrag Unser gemeinsamer Glaubensgrund im Kampf gegen Rom von 1889 macht Lipsius die irenische Tendenz seines Spätwerks explizit, die gerade das Verbindende seiner liberalen Theologietradition mit positiver Theologie in den Vordergrund stellt. Als Gründungsmitglied hat er diesen Vortrag auf der Generalversammlung des Evangelischen Bundes in Eisenach gehalten, was zugleich ein institutionelles Indiz für sein Engagement für die Einheit kirchenpolitischer Strömungen gibt.58 Mit Blick auf den zurückliegenden Kulturkampf fordert Lipsius hier eine Besinnung der vielfältigen Strömungen des Protestantismus auf ihre einende Glaubensgrundlage, die sämtliche Konfessions- und theologische Schulstreitigkeiten transzendiert. Mit den drei Grundsätzen vom Glauben an einen persönlichen Gott, dem Glauben an die Offenbarung in Jesus Christus und der reformatorischen Rechtfertigungslehre beschwört Lipsius diejenigen verbindenden Elemente, die den Protestantismus seines Erachtens einen. Nach Lipsius markiere bereits der evangelische Glauben an einen lebendigen Gott einen Differenzpunkt zur katholischen Frömmigkeit. Während die evangelische Lehre von einem unmittelbaren Gottesverhältnis jedes gläubigen Individuums ausgehe, sei dieses im Katholizismus durch eine kirchliche Vermittlung unterbrochen, was einem unbedingten Abhängigkeitsverhältnis der Glaubenden zur Kirche gleichkomme.59 Die römische Kirche statte durch eine „Vergötterung der Kirche und ihres Lehramtes“60 eine irdisch-sinnlich fassbare Kirche mit göttlichen Attributen aus. Der evangelische Glaube stütze sich hingegen auf die „gewaltige Objektivität der geschichtlichen Gottesoffenbarung in Christus“61, wie sie in der Heiligen Schrift bezeugt ist. Innere Erlebnisse können nur durch ihren Bezug und inhaltlichen Zusammenhang zu dieser historischen Offenbarung als echte religiöse Erfahrung gelten.62 Die kontroverstheologische Pointe der evangelischen Christologie ist nach Lipsius die alleinige Mittlerschaft von Christus zwischen Gott und Mensch. Die Parole ,Christus allein‘ müsse demnach als ,Feldgeschrei‘ gegen die Kirche als Mittlerin zwischen Gott und Mensch, die 58

Stefan Gerber weist darauf hin, dass Lipsius seit der Gründung des Evangelischen Bundes führendes Mitglied war. Vgl. S G: Die Universität Jena 1850–1918, in: Senatskommission zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert (Hg.): Traditionen – Brüche – Wandlungen. Die Universität Jena 1850 – 1995, Köln 2009, 23–253, hier 192–204. 59 Vgl. R A L: Unser gemeinsamer Glaubensgrund im Kampf gegen Rom. Vortrag, gehalten auf der dritten Generalversammlung des evangelischen Bundes in Eisenach am 2. Oktober 1889, in: Ders.: Glauben und Wissen. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Berlin 1897, 390–413, hier 397–398. 60 A. a. O., 399. 61 A. a. O., 403. 62 Vgl. ebd.

1. Eine positive Wende? – Neuakzentuierung liberaler Theologie

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Heiligenverehrung und die überbordende Marienfrömmigkeit des Katholizismus geführt werden.63 Schließlich sei die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders durch Gnade mittels des Glaubens die eigentliche Parole des evangelischen Glaubens gegen den Katholizismus.64 Sie betrifft die ,religiöse Grundfrage‘ nach der Gewissheit der Sündenvergebung für den Sünder.65 Während der Katholizismus Werkgerechtigkeit predige, bleibe die Rechtfertigung allein durch das Ergreifen der göttlichen Gnade im Glauben das Zentrum evangelischer Lehre und Frömmigkeit.66 Dass diese Auseinandersetzung mit dem Katholizismus weder darum bemüht ist, ein treffendes Bild katholischer Frömmigkeit zu zeichnen, noch Gemeinsamkeiten zwischen den Konfessionen zu finden, die auch Verständigungen oder Annäherungen ermöglichen könnten, liegt auf der Hand. Der Katholizismus wird hier ganz auf eine Negativfolie reduziert, um eine Einheit evangelischer Theologie im Angesicht eines Feindbildes zu beschwören. So wird schnell deutlich, dass die Differenzen zwischen den Konfessionen nicht das eigentliche Thema sind. Lipsius versucht vielmehr deutlich zu machen, wie auch die liberale Theologie sich auf dem gemeinsamen Boden des Protestantismus bewegt. Der Vortrag erfüllt so eine Vermittlungsaufgabe zwischen liberaler und positiver Theologie. Hierbei geht Lipsius auch selbstkritisch mit seiner Theologietradition ins Gericht, indem er Lernprozesse liberaler Theologie benennt, die sie erst auf den gemeinsamen evangelischen Glaubensgrund zurückgeführt hat. Einen weitestgehenden Konsens evangelischer Theologie seiner Zeit erblickt Lipsius in der Anerkennung einer hohen Bedeutung der Geschichte für den evangelischen Glauben. Eine Theologie, welche die Wahrheit des christlichen Glaubens in gänzlich ahistorischen Vernunftwahrheiten erblickt, wird nicht mehr vertreten.67 Eine Unterscheidung von positiver Theologie als Theologie der Tatsachen und liberaler Theologie als Theologie der Ideen ist vor diesem Hintergrund nicht mehr treffend.68 Liberaler Theologie kann auch nicht mehr vorgeworfen werden, sich in maßlos destruktiver Kritik zu ergehen. Vielmehr spricht sich in der Pflege historischer Kritik ein urprotestantischer Wahrheitssinn aus.69 Einen weiteren Lernprozess liberaler Theologie erblickt Lipsius in der vollen Zuwendung zu einem persönlichen Gottesbegriff, nachdem pantheistische Tendenzen der Theologie im Anschluss an Schleiermacher und Hegel nicht von der Hand zu weisen waren.70 Dass Gott im Christentum als Persönlichkeit mit Bewusstsein und Willen ausgestattet gedacht werden muss, kann nun auch als weitestgehender Kon-

63

Vgl. a. a. O., 406. Vgl. a. a. O., 407. 65 Vgl. a. a. O., 409. 66 Vgl. a. a. O., 408. 67 Vgl. a. a. O., 394. 68 Vgl. a. a. O., 393. 69 Vgl. a. a. O., 394. 70 Vgl. a. a. O., 398. 64

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IV. Die Spättheologie 1880–1892

sens evangelischer Theologie gelten. Auch ein Leben nach der Erfahrung des Todes wird nur noch vereinzelt bestritten.71 Frühere Neigungen liberaler Christologien, Christus nicht als historisches Faktum, sondern als abstrakt-philosophisches Prinzip zu fassen, sind im Verschwinden begriffen.72 Nicht ganz ohne Berechtigung – so Lipsius – wurde ihnen vorgeworfen, ein Prinzip als das eigentlich Erlösende zu traktieren. Hierbei scheint Lipsius auch selbstkritisch auf seine frühere christologische Position zu blicken und seine Neuakzentuierung von 1881 zu würdigen, wenn er eine Reduktion von Christus auf ein Urbild des vollkommenen religiösen Verhältnisses kritisiert. Und was das Wichtigste ist, man vergaß weiter, daß es sich bei der Offenbarung in Christo doch nicht bloß um die Darstellung des vollkommenen religiösen Verhältnisses des Menschen zu Gott, sondern zuerst und vor allem um die vollkommene Offenbarung des göttlichen Versöhnungswillens an die Menschen handelt.73

Zusammenfassend lässt sich herausstellen: Lipsius wirbt ersichtlich um eine Verständigung von liberaler und positiver Theologie. Entgegen der verbreiteten Beobachtung eines Bruchs im Werk Lipsius’ ist jedoch auch hier festzuhalten, dass Lipsius in keiner Weise beabsichtigt, sich von der liberalen Theologie abzuwenden. Die Neuausrichtung besteht nicht darin, sich eine positive Theologie anzueignen, sondern deutlich zu machen, dass liberale Theologie – abseits einiger überwundener Extrempositionen – schon immer positiv war und ist.74 Die verschiedenen theologischen Schulrichtungen sollen sich in wechselseitiger Kritik vor Einseitigkeiten bewahren. Die liberale Theologie repräsentiert dabei einen wissenschaftlichen Ernst, der gerade auf die Zusammenbestehbarkeit christlichen Glaubens mit den Resultaten allgemeiner wissenschaftlicher Forschung verweist und drängt. Doch auch sie hat sich – darauf hat Lipsius mit den Lerngeschichten liberaler Theologie hinweisen wollen – von anderen Theologieausrichtungen kritisieren lassen.75 Lipsius’ späte Theologie zeugt von diesem Lernwillen, wenngleich er sich weniger in einer grundlegenden Veränderung seines theologischen Systems äußert, sondern er seine Systematik in einem stärker traditionalistischen Ton reformuliert. Es kann hier also nicht von einer Wende im starken Sinn gesprochen werden, aber von einer Neuakzentuierung mit positiver und irenischer Tendenz.

71

Vgl. a. a. O., 400. Vgl. a. a. O., 403. 73 A. a. O., 404–405. 74 Die Positivität der liberalen Theologietradition Jenas hat Lipsius auch bereits bei seiner Antrittsvorlesung 1871 unterstrichen. Vgl. ., Die Stellung der Theologie, 467. Doch erst in seiner Spättheologie bemüht sich Lipsius explizit darum, dies auszuweisen. 75 „Und gerade von der liberalen Theologie der Gegenwart wird man es ehrlich bekennen müssen, daß sie sich redlich bemüht hat, von den anderen Richtungen zu lernen.“ D., Unser gemeinsamer Glaubensgrund, 393. 72

2. Eine praktische Wende? – Philosophie und Religion

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2. Eine praktische Wende? – Philosophie und Religion Im Jahr 1885 hat Lipsius in episodischen Beiträgen in den Jahrbüchern für protestantische Theologie die erkenntnistheoretische Grundlegung seiner Dogmatik verteidigt und erläutert. Diese Neuen Beiträge zur wissenschaftlichen Grundlegung der Dogmatik wurden sogleich 1885 unter dem Titel Philosophie und Religion gebündelt veröffentlicht und stellen neben seiner Dogmatik die wichtigste Quelle für das Studium der theologischen Position von Lipsius dar. Erneut sucht er die Auseinandersetzung mit Biedermann und Herrmann. Anlass dafür boten vorrangig Herrmanns Die Religion im Verhältniss zum Welterkennen und zur Sittlichkeit von 1879 und der ergänzten erkenntnistheoretischen Erörterung in der zweiten Auflage von Biedermanns Christlicher Dogmatik von 1883.76 Zentraler Erörterungsgegenstand ist das „Rechte der Metaphysik in der Theologie“77. In dieser lebendigen Streitsache seiner Zeit bemüht sich Lipsius weiterhin um eine Mittelposition zwischen Verteidigung strenger Erkenntnisansprüche wissenschaftlicher Metaphysik bei Biedermann und des zumindest scheinbar gänzlichen Metaphysikverzichts bei Herrmann und Ritschl. Dabei stellt sich Lipsius nun explizit als erkenntnistheoretischer Kantianer auf.78 Die Bezeichnung seiner philosophischen Grundlegung als Neukantianismus will er jedoch nur zulassen, wenn darunter nicht eine „empiristisch-sensualistische“ Interpretation von Kants Transzendentalem Idealismus oder ein „schroffe[r] Dualismus zwischen der ,Welt der Wirklichkeit‘ und der ,Welt der Werte‘ oder ,der Ideen‘, wie ihn nicht blos Albert Lange, sondern auch Herrmann vertritt“79 verstanden wird. An dieser Selbstverortung ist zu betonen, dass Lipsius hier deutlich kritischer gegenüber einer physiologischen Kantinterpretation aufgestellt ist, als es seine früheren Dogmatischen Beiträge nahelegen. In Philosophie und Religion tritt an die Stelle der starken Orientierung an Lange ein intensives Studium der kantischen Texte und eine Prägung der Kantdeutung durch Albrecht Krause.80 Auffällig ist die Autorität der kantischen Philosophie in Lipsius’ erkenntnistheoretischen und metaphysischen Ausführungen. So transformiert sich der Streit um die Sache nicht selten in Streitigkeiten über die Kantauslegung, wenngleich dabei weniger eine kleinteilige Exegese kantischer Schriften kennzeichnend ist, sondern stärker der Versuch, die kantische Philosophie als ein System zu rekonstruieren, das Mehrdeutigkeiten

76

Vgl. ., Philosophie und Religion, 1–2. A. a. O., 2. 78 Vgl. a. a. O., 5. Diese Einordnung seiner Philosophie als „erkenntnistheoretischer Neukantianismus“ (a. a. O., 318–319) übernimmt Lipsius affirmativ von Pünjer. Vgl. P, Geschichte der christlichen Religionsphilosophie, 329. 79 L, Philosophie und Religion, 3. 80 Lipsius bezieht sich prominent auf Albrecht Krauses 1884 vorgelegte Verteidigung der kantischen Philosophie gegenüber Kuno Fischer. Vgl. A K: Immanuel Kant wider Kuno Fischer. zum ersten Male mit Hülfe des verloren gewesenen Kantischen Hauptwerkes: Vom Übergang von der Metaphysik zur Physik vertheidigt, Lahr 1884. 77

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der Textgrundlagen einebnet und vor grundlegenden Modifikationen nicht zurückschreckt. Wie bereits bei den früheren Dogmatischen Beiträgen stellen die Ausführungen von Philosophie und Religion keine von Grund auf systematische Einführung einer philosophischen Grundlegung seiner Dogmatik vor, sondern sind bisweilen unpräzise und unvollständige polemische Gelegenheitsschriften.81 Trotzdem geben sie das beste Zeugnis von Lipsius’ argumentativem Ringen um seine Position und das hohe Maß seiner Vertiefung in philosophische und religionstheoretische Streitfragen. Sie bieten zudem die ausführlichste Selbstverortung in dem Diskurszusammenhang um die theologischen Grundlegungen seiner Zeit. Das Hauptanliegen seiner erkenntnistheoretischen Arbeit hat Lipsius zudem in Die Hauptpunkte der christlichen Glaubenslehre von 1889 unterstrichen.82 In diesen Diskursen um die Grundlegungsfragen theologischer Dogmatik zeigen sich ein explizites Engagement für einen philosophischen Realismus, eine bleibende Kritik an metaphysischen Beweisverfahren trotz einer Stärkung der Bedeutung metaphysischer Reflexion in der Theologie, Lipsius’ Wahrnehmungen methodischer Konvergenzen der Religionstheorie seiner Zeit sowie eine explizite Reflexion auf große Nähen und diffizile Differenzpunkte zwischen den theologischen Grundlegungen bei Herrmann und Lipsius.

a. Realistischer Kantianismus – Die Metaphysik der Grenzbegriffe Die erkenntnistheoretischen Ausführungen aus Philosophie und Religion versteht Lipsius als Präzisierungen seiner bisherigen Position. Tatsächlich gießt er mit großer Kontinuität verfochtene Grundsätze in eine neue Form, die sich von der 81 Auf die Schwierigkeiten in der Bestimmung von Lipsius’ erkenntnistheoretischer Position hat bereits Hüttenhoff eindringlich hingewiesen. Vgl. H, Erkenntnistheorie und Dogmatik, 143. Es besteht eine auffällige Diskrepanz zwischen der starken Betonung der Relevanz erkenntnistheoretischer Grundlegung der Dogmatik bei Lipsius und dem Umstand, dass er keine umfassende systematische Darstellung seiner Erkenntnistheorie vorgelegt hat. Allerdings führt das radikale Urteil Johannes Gottschicks aus dem Kontext der RitschlSchule zu weit: „Kurz, hier herrscht eine völlig unauflösliche Verwirrung, und ein Schwanken, das alles eher als Einheit der philosophischen Principien bezeugt.“ G, Rez. Philosophie und Religion, 229. Gottschick wirft Lipsius – nicht ohne jede Berechtigung – vor, in seiner Aneignung der kantischen Philosophie stark von Fichte und Hegel beeinflusst zu bleiben. Zugleich spekuliert Gottschick jedoch darüber, dass die Kritiken von Ritschl und Kaftan in Philosophie und Religion auf die Enttäuschung zurückzuführen seien, dass junge Theologen sich geschlossen Ritschl und nicht Lipsius anschließen. Die polemische Rezension lässt keine ernstzunehmende Verstehensversuche des Standpunktes Lipsius’ erkennen. 82 Die kurzen erkenntnistheoretischen Hinweise aus den Hauptpunkten decken sich durchgehend mit den Ausführungen aus Philosophie und Religion, wenngleich die materialdogmatischen Auskünfte von einem Zeitgenossen – ganz im Sinne einer positiven Wende von Lipsius – als ein Schritt Richtung positiv-konservativer Theologie im irenischen Interesse wahrgenommen wurde. Vgl. H S: Rez: Lipsius, R. A:, Die Hauptpunkte der christlichen Glaubenslehre im Umrisse dargestellt, in: Theologisches Literaturblatt (1890) 11, 281–282.

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vorrangig an Lange orientieren Grundlegung aus den Dogmatischen Beiträgen abhebt. Die Neufassung seiner erkenntnistheoretischen Grundlegung bemüht sich nun explizit um eine Vermittlung der Grundlagen kantischer Erkenntnistheorie mit dem „Realismus“83. Im Wesentlichen versucht Lipsius, zwei wichtige Motive seiner bisherigen erkenntnistheoretischen Überlegungen zu vereinigen:84 Einerseits will Lipsius – so das kantische Motiv – das Wissen des Menschen nach wie vor auf den Bereich möglicher Erfahrung begrenzt wissen.85 Andererseits will Lipsius – so das realistische Motiv –, dass dieses Wissen tatsächliche subjektunabhängige Verhältnisse adäquat repräsentiert, die dem Menschen in der Erfahrung gegeben sind. Der systematische Ort der Vermittlung beider Motive ist in Philosophie und Religion die kantische Konzeption des Dings an sich. Daher tritt Lipsius hier in den hochspezialisierten Auslegungsdiskurs von diesem Grundbegriff kantischer Philosophie ein. Zur Debatte steht die Möglichkeit objektiver Wirklichkeitserkenntnis des Menschen und davon abgeleitet die theologisch brisante Frage nach Erkenntnismöglichkeiten des Übersinnlichen.86 Unhinterfragter Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie ist hier die Begrenzung menschlichen Wissens auf das Gebiet möglicher Erfahrung. Es gilt, die Welterschließungsfähigkeit durch Erfahrung präzise zu ermessen. Kann auf Basis menschlicher Erfahrung Wirklichkeit adäquat repräsentiert werden? Um diese Frage zu beantworten, ist nach Lipsius zunächst zwischen einem subjektiven und einem objektiven Faktor der Erfahrung zu unterscheiden. Mit dem subjektiven Faktor der Erfahrung bezeichnet er eine doppelte Abhängigkeit der Erfahrung von dem menschlichen Subjekt. Einerseits gibt es Erfahrung immer nur für Subjekte und ist daher von einer vorgängigen Selbsterschlossenheit des Subjekts abhängig. Andererseits ist die Erfahrung von den Anschauungs- und Denkformen des Subjekts mitbestimmt. Von dem menschlichen Selbstbewusstsein spricht Lipsius als „Urdatum aller Wirklichkeit“87. Es ist menschlichen Subjekten durch das Erleben unmittelbar gewiss. Wenngleich es in sämtlichen Bewusstseinsvollzügen präsent ist, kann es selbst nicht objektiviert Gegenstand menschlicher Erkenntnis sein.88 Nichtsdes83

L, Philosophie und Religion, 5. Vgl. H, Erkenntnistheorie und Dogmatik, 143–144. 85 In Die Hauptpunkte der christlichen Glaubenslehre benennt Lipsius diesen Ausgangspunkt seines Denkens explizit als solchen: „Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie bleibt der Kant’sche Grundgedanke, dass zu wirklicher Erkenntnis Begriff und Anschauung zusammengehören. ,Begriffe ohne Anschauungen sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind‘ […] Hieraus ergibt sich, dass unsere Erkenntnis nur soweit reicht, als das Gebiet unsrer räumlich-zeitlichen Anschauung.“ L, Die Hauptpunkte der Glaubenslehre, 1–2. Lipsius variiert das kantische Original geringfügig. Das Kantzitat lautet im Original „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ K, Kritik der reinen Vernunft, A 51/B 75. 86 Vgl. L, Philosophie und Religion, 6. 87 A. a. O., 45. 88 „Das transcendentale Selbstbewusstsein wird erlebt, aber nicht erkannt.“ A. a. O., 48–49. 84

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toweniger konstituiert es alles Erfahren und ist in diesem Sinne prägender Faktor jeglicher Erfahrung. Zu einer Differenz zwischen Erfahrung als Repräsentation und repräsentierter Wirklichkeit führen jedoch die Erkenntnisformen des Subjekts. Sie prägen der Erfahrung eine durch das Subjekt vorgegebene Gesetzmäßigkeit ein, die zum einen als ein Ermöglichungsgrund menschlicher Welterschließung gilt, zum anderen jedoch die Differenz zwischen Repräsentation und Repräsentiertem hervorbringt. Eine vollumfängliche Identität von der Erscheinung eines Gegenstandes für ein Subjekt und der subjektunabhängigen Beschaffenheit dieses Gegenstandes ist dadurch ausgeschlossen. Lipsius’ realistische Kantinterpretation hält an dieser prinzipiellen Differenz fest, versucht sie jedoch gleichsam klein zu halten. Einen Dualismus zwischen Repräsentation der Wirklichkeit in der Erscheinung und der repräsentierten Wirklichkeit gilt es zu vermeiden. Daher verteidigt er eine starke Korrespondenz von Erscheinung und Wirklichkeit.89 So beharrt er auf seiner deutlichen Kritik der kantischen ZweiStämme-Lehre, die ihm als „der schwächste Punkt in der Vernunftkritik“90 erscheint. In den Dogmatischen Beiträgen hat Lipsius im Anschluss an Lange versucht, die Dualität der Erkenntnisstämme bei Kant durch eine Ableitung aller Anschauungs- und Denkformen des Menschen aus der räumlichen Synthesis zu überwinden.91 Trotz erheblicher Kritik und eigener Distanzierung zur physiologischen Kantinterpretation hält Lipsius in Philosophie und Religion daran fest.92 Dadurch versucht Lipsius sicherzustellen, dass es eine starke Korrespondenz von der subjektabhängigen Gesetzmäßigkeit der Erscheinungswelt und der tatsächlichen Gesetzmäßigkeit der Wirklichkeit geben kann.93 Der objektive Faktor der Erfahrung wird damit bei Lipsius im realistischen Interesse gegenüber seiner

89 Vgl. a. a. O., 14. Das realistische Motiv von Lipsius’ Erkenntnistheorie ist nicht der Versuch, eine solche Identität zwischen Repräsentation und Repräsentiertem wiederzugewinnen, sondern eine starke Korrespondenz zwischen der Gesetzmäßigkeit unseres Denkens und Erkennens auf Seiten unserer Repräsentation der Wirklichkeit und der Gesetzmäßigkeit unter den repräsentierten Dingen zu verteidigen. Trotzdem kann Lipsius Erkenntnis „keine realobjektive, sondern nur eine phänomenal-objektive Geltung“ zusprechen. H, Erkenntnistheorie und Dogmatik, 148. 90 L, Philosophie und Religion, 45. 91 Siehe Kap. III.2.b-d. Lipsius selbst verweist in Philosophie und Religion auf die erhebliche Kritik, die er dafür erfahren habe. Vor allem Eduard von Hartmann und Isaak August Dorner werden hier genannt. Vgl. ebd. 92 Dies ist gegen die Darstellung bei Fleisch zu betonen. Vgl. F, Die erkenntnistheoretischen und metaphysischen Grundlagen, 76. „Thatsächlich entstehen uns alle Beziehungsbegriffe erst durch die Synthesis in der räumlichen Anschauung, welche die formale beharrliche Einheit für den Vorstellungswechsel bildet.“ L, Philosophie und Religion, 45. 93 In Die Hauptpunkte der christlichen Glaubenslehre gibt Lipsius die „durchgängige Correspondenz“ von repräsentierter Gesetzmäßigkeit der Wirklichkeit und repräsentierender Gesetzmäßigkeitsauffassung als Grund für die objektive Geltung menschlicher Denk- und Anschauungsformen an, sodass sie „zur Auffassung der Gesetzmässigkeit in den Beziehungen der Dinge geeignet sind.“ D., Die Hauptpunkte der Glaubenslehre, 2.

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kantischen Grundlage deutlich ausgebaut: „Und zwar ist uns nicht blos der Stoff überhaupt zu unseren Empfindungen und Wahrnehmungen gegeben, sondern dieser Stoff ist uns zugleich in bestimmten von unserer Subjektivität unabhängigen Verhältnissen gegeben.“94 Den Verstandes- und Denkformen des Menschen schreibt Lipsius dabei ein Korrelat in der Wirklichkeit zu. Demnach gibt es eine den menschlichen Denkformen entsprechende subjektunabhängige Gesetzmäßigkeit der Wirklichkeit, die Lipsius mit dem Begriff des Dings an sich adressiert.95 Das macht ihn zum Schlüsselbegriff seines realistischen Anliegens. Während die kantische Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich oftmals als Ausdruck eines Realismus-skeptischen Konstruktivismus aufgefasst wird, ist es Lipsius darum zu tun, die Möglichkeit objektiver Wirklichkeitserkenntnis durch sie zu verteidigen. Dazu beruft er sich auf die Unterscheidung einer empirischen und transzendentalen Gebrauchsweise des Begriffs Ding an sich bei Albrecht Krause.96 In empirischer Hinsicht bezeichnet das Ding an sich, die Dinge außer uns, wie sie ganz alltäglich raumzeitlicher Bezugspunkt menschlicher Gegenstanderkenntnis sind. Diese Dinge außer uns werden zwar umgangssprachlich von Erscheinung unterschieden, wenn sie unabhängig von Täuschungen oder der individuellen Erlebnisqualität angesprochen werden.97 Sie sind jedoch bereits Resultat menschlicher Denk- und Anschauungsformen, wie es ihre raum-zeitliche Bestimmtheit offenlegt. Sie als empirische Dinge an sich sind demnach „im transcendentalen Sinne selbst wieder Erscheinung.“98 Der transzendentale Begriff des Dings an sich hingegen verdankt sich einer Reflexion auf die Dinge außer uns, welche von allen menschlichen Denk- und Anschauungsformen

94

D., Philosophie und Religion, 8. Diese These von einer den menschlichen Denk- und Anschauungsformen entsprechenden subjektunabhängigen Seinsordnung, welche sich in menschlicher Erfahrung zur Geltung bringt, hat Lipsius bereits in seinen frühen Schleiermacher-Studien angedeutet. Siehe Kap. I.4.b. Mit ihr zeigt sich eine starke erkenntnistheoretische Nähe zur Position Biedermanns. Vgl. R, Religion und Spekulation, 324. Zugleich steht Lipsius damit in der Nähe von der hegelianischen – und von ihm stark bekämpften – Annahme einer begrifflichen Struktur der Wirklichkeit. Von ihr unterscheidet sich Lipsius lediglich dadurch, dass er den menschlichen Denk- und Anschauungsformen bestenfalls eine Korrelation und keine Identität mit einer Seinsordnung zugesteht. 95 Vgl. L, Philosophie und Religion, 9. 96 Hierbei bezieht sich Lipsius auf eine empirische und eine transzendentale Rede vom Ding an sich in Kants Kritik der reinen Vernunft selbst, lässt sich dabei aber maßgeblich durch Albrecht Krauses Unterscheidung von einem Ding an sich im eigentlich transzendentalen Sinn und einem Ding außer uns leiten. Vgl. K, Immanuel Kant wider Kuno Fischer, 98. Krause hat diese Unterscheidung gegenüber Kuno Fischers Kant-Auslegung eingeklagt, um bereits auf der Ebene der Erscheinung einen Unterschied zwischen den Dingen und menschlicher Repräsentationen von ihnen zur Geltung zu bringen. Vgl. a. a. O., 90–91. 97 So kann – nach Kants eigenem Beispiel – eine Rose aus kontingenten Gründen jedem Menschen anders erscheinen und doch lassen sich allgemeine Aussagen über die Rose als Wahrnehmungsobjekt treffen, die für jeden Menschen gelten. Vgl. K, Kritik der reinen Vernunft, B 45. 98 L, Philosophie und Religion, 11.

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abstrahiert.99 Er bezieht sich damit nicht auf eine andere Realität als die Dinge außer uns. Zwischen Dingen an sich im transzendentalen Sinn und den Dingen außer uns besteht vielmehr eine numerische Identität, so ist das Ding ausser uns eben ,das Ding an sich‘; d. h. keine verborgene Ursache hinter dem Erscheinungsding selbst, sondern eben dieses selbst, sofern es abgesehen von unserem, d. h. von jedem für uns möglichem Erkennen desselben, lediglich gedacht wird.100

Vor diesem Hintergrund ist nach Lipsius die Frage nach dem objektiven Verhältnis von Erscheinung und Ding an sich absurd. „Den ganzen Gespensterspuk von dem unbekannten x hinter den Erscheinungen“101 lehnt er als Missverständnis ab. Die Gegenstände der Erscheinung entsprechen den Dingen an sich. Die Differenz zwischen beiden Konzepten ist eine der theoretischen Perspektive und menschlicher Erkenntnisgrenzen. Obwohl ein Mensch nur gedanklich das Ding an sich konstruieren kann, indem er seine Erscheinung nimmt und von ihrer Formung durch menschliche Denk- und Anschauungsformen abstrahiert, lässt sich deshalb nach Lipsius keineswegs alle menschliche Erkenntnis als der Wirklichkeit unangemessen entlarven. Vollends die Objektivität unserer Erkenntniss bezweifeln zu wollen, weil letztere ihre Bedingung wie ihre Schranke an der menschlichen Erkennbarkeit der Gegenstände hat, ist doch ebenso thöricht, als etwa die Wirklichkeit meines Sehens zu bezweifeln, weil ich mir hinter meine Augen keine anderen Augen einsetzen kann, um zuzusehen, wie es zugeht, dass ich sehe.102

Die Einschränkung des Wissens auf den Bereich möglicher Erfahrung soll also keineswegs mit einem Subjektivismus des Erfahrungswissens verwechselt werden. Die Dinge an sich sind der objektive Faktor der Erfahrung, welcher die Objektivität des Wissens sicherstellen soll. Mit dieser realistischen Interpretation der Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich, stemmt sich Lipsius gegen jegliche Subjektivismus-, Dualismus-, Relativismus- und Skeptizismusvorwürfe, die ihm gegenüber vorgebracht wurden. Es kann jedoch mit guten Gründen in Frage gestellt werden, ob Lipsius 99

Vgl. a. a. O., 14. Lipsius spricht sich damit im bis heute anhaltenden Auslegungsstreit für eine Deutung der kantischen Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich im Sinne einer Zwei-Aspekt-Theorie aus. Die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich verdankt sich demnach unterschiedlicher Bezugnahmen auf dieselben Gegenstände. Er grenzt sich damit von der Zwei-Welten-Lesart ab, welche die Dinge an sich als eigene Gegenstandsklasse auffasst, die das Subjekt affiziert. Vgl. H-U B: Art. Ding an sich, in: Marcus Willaschek (Hg.): Kant-Lexikon, Berlin/Boston 2015, 426–429, hier 428. 100 L, Philosophie und Religion, 10. Darauf weist Hüttenhoff gegenüber Neumann hin. Das Ding außer uns kann demnach nichts Drittes neben dem Erscheinungsding und dem Ding an sich selbst sein, wie Neumann behauptet. Vgl. N, Grundlagen und Grundzüge der Weltanschauung von R. A. Lipsius, 35. Vgl. H, Erkenntnistheorie und Dogmatik, 152. 101 L, Philosophie und Religion, 15. 102 A. a. O., 12–13.

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im Rahmen von Philosophie und Religion die Vermittlung von Kantianismus und Realismus gelungen ist.103 Aufgrund der numerischen Identität von den Dingen außer uns und den Dingen an sich in transzendentaler Hinsicht meint Lipsius, die Dinge außer uns selbst als objektiven Faktor der Erfahrung fassen zu können.104 Er selbst weist jedoch darauf hin, dass die Dinge außer uns in transzendentaler Hinsicht Erscheinung sind. Sie sind also ein Konstitutionsprodukt menschlicher Denk- und Anschauungsformen. Als ein solches Konstitutionsprodukt können sie jedoch die Subjektunabhängigkeit nicht mehr sicherstellen, die Lipsius für die Verständigung mit dem Realismus verteidigt. Die entscheidende Bedeutung des Dings an sich für Lipsius’ theologische Grundlegung ist damit aber noch nicht thematisiert. Neben diesem Plädoyer für die Möglichkeit objektiver Wirklichkeitserkenntnis des Menschen bereitet die Verhandlung des Dings an sich zusätzlich die theologisch relevante Frage nach der Erkenntnismöglichkeit des Übersinnlichen vor. Sie entscheidet über die Möglichkeit und Grenzen der Metaphysik. Hierbei zeigt sich zugleich eine geringfügige Annäherung an Biedermann. Das Ding an sich im transzendentalen Sinne, gefasst als Dinge außer uns unter Abstraktion menschlicher Denk- und Anschauungsforen, bezeichnet nur eine negative Bedeutung des Dings an sich. Ihr stellt Lipsius eine positive Bedeutung des Dings an sich als Grenzbegriff an die Seite.105 Ihm zufolge dienen Grenzbegriffe dazu, einerseits das menschliche Erkennen zu begrenzen und andererseits die menschliche Erkenntnis offen für das Unbedingte zu halten, das als „jene letzten Ursachen aller Realität“106 fungiert. Die Grenzbegriffe übernehmen zunächst eine begrenzende Funktion. Sie bezeichnen den Punkt, „bis zu welchem unsere Erkenntniss vorschreiten, den sie aber nicht überschreiten kann, ohne sich

103 Vgl. S, Religionsphilosophie im Umriss, 80–82. Vgl. F, Die erkenntnistheoretischen und metaphysischen Grundlagen, 74–75. Vgl. H, Erkenntnistheorie und Dogmatik, 154. 104 So stellen nach Lipsius die Dinge außer uns die subjektunabhängige Gesetzmäßigkeit, die sich nach Lipsius’ realistischen Prämisse in der Erfahrung als objektiver Faktor niederschlagen soll. „Die Gesetzmässigkeit der Erscheinung ist selbst die Gesetzmässigkeit der Dinge ausser uns, hinter welcher keine andere Gesetzmässigkeit der Dinge an sich steht.“ L, Philosophie und Religion, 14. 105 Die Unterscheidung von einer negativen und einer positiven Bedeutung kann sich auf die entsprechende Unterscheidung von der positiven und negativen Bedeutung des Noumenons bei Kant beziehen. Eigenwillig ist dabei jedoch Lipsius’ Verknüpfung vom GrenzbegriffBegriff mit der positiven Bedeutung des Noumenons. Einerseits beziehen führende Kantinterpreten seiner Zeit wie Lange und Hermann Cohen den Begriff des Grenzbegriffs gerade nicht auf das Noumenon im positiven, sondern im negativen Sinn. Für die Schwierigkeiten dieser Zuordnung vgl. H, Erkenntnistheorie und Dogmatik, 156. Andererseits deckt sich Lipsius’ Verwendung des Grenzbegriff-Begriffs nicht mit den kantischen Vorgaben, sondern ist stärker Schleiermachers Begriff der Denkgrenze verpflichtet. Vgl. ., Erkenntnistheorie und Dogmatik, 158. Auf Schleiermachers Begriff der Denkgrenze ist Lipsius bereits in seinen frühen Schleiermacherstudien eingegangen. Vgl. L, Schleiermachers Dialektik, 46. 106 D., Philosophie und Religion, 21.

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in Illusionen zu verwickeln.“107 Sie sind Ausdruck der Unerkennbarkeit des Unbedingten. Gesichertes Wissen lässt sich vom übersinnlichen Unbedingten, von den letzten Ursachen aller Dinge demnach nicht erreichen.108 Neben dieser begrenzenden Funktion haben sie eine positive Verweisfunktion auf einen zwar unerkennbaren aber denknotwendigen unbedingten Grund allen Daseins. Der Begriff des Unbedingten ist ein nothwendiger Begriff; nicht dass alles Bedingte in einem Unbedingten begründet sei, sondern nur die Beschaffenheit der Objekte, welche dem Begriffe des Unbedingten entsprechen, kann problematisch bleiben.109

Der Schluss von der Erfahrungswelt auf diesen ihren unbedingten Grund ist durch die begrenzende Funktion der Grenzbegriffe nicht ausgeschlossen. Während das Wesen des unbedingten Grundes unerkennbar ist, ist die Notwendigkeit der Annahme eines solchen Grundes durch die Grenzbegriffe angezeigt. Die Denknotwendigkeit des Unbedingten lässt sich demnach mit einem „exakt-logischen Schlussverfahren von der erfahrungsmässigen Weltwirklichkeit auf deren einheitlichen Grund“110 erweisen. Lipsius begreift Grenzbegriffe demnach als Übergangskonzepte von einer empirischen Erklärung, die mit ihnen an ein Ende kommen muss, zu einer metaphysischen Erklärung, die mit ihnen anhebt. Mit seinen Reflexionen über die Funktion des Dings an sich verfolgt Lipsius weitgehend vertraute Motive, die auch in früheren erkenntnistheoretischen Überlegungen präsent sind. Allerdings gibt er die frühere radikale Ablehnung einer angemessen Denkbarkeit metaphysischer Konzepte für eine abstrakte Denkbarkeit und Notwendigkeit metaphysischer Rahmenannahmen auf. Darin kann eine Annäherung an Biedermann erblickt werden. Durch diese positive Übergangsfunktion der Grenzbegriffe räumt Lipsius der wissenschaftlichen Metaphysik mehr Recht als in früheren erkenntnistheoretischen Beurteilungen ein.111 Allerdings ermöglicht eine solche Metaphysik der Grenzbegriffe keine wissenschaftlichen Erkenntnisse im strengen Sinne. Sie bringt kein Wissen hervor, verweist jedoch auf die Notwendigkeit, das gesicherte Wissen in einem weltanschaulichen Horizont auszudeuten.

b. Kritik aller wissenschaftlichen Metaphysik – Biedermanns Panlogismus Lipsius’ Theologie ist durch ein ambivalentes Verhältnis zur Metaphysik geprägt. Einerseits bestreitet er jede wissenschaftliche Geltung metaphysischer Spekula-

107

A. a. O., 24. „Nicht das ist sein Sinn, dass die ,Dinge ausser uns‘ möglicherweise ganz anders beschaffen sein können, wenn wir sie in ihrem Ansich, abgesehen von unserer Auffassung betrachten, sondern dass uns die letzten Ursachen der Dinge absolut unerkennbar sind.“ A. a. O., 21. 109 A. a. O., 22. 110 A. a. O., 86. 111 Vgl. H, Erkenntnistheorie und Dogmatik, 166. 108

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tion. Mit den Mitteln der Metaphysik lässt sich kein Wissen gewinnen. Die Metaphysik kann auch keine konstitutive Rolle für die Glaubensgewissheit spielen. Vielmehr hat Lipsius es als ein Missverständnis der Gewissheitsstruktur religiösen Glaubens taxiert, wenn für ihn metaphysische Begründungsversuche angestrengt werden.112 Darin besteht eine große Nähe zwischen Herrmann, Ritschl und Lipsius. Andererseits ist nach Lipsius metaphysische Reflexion für den Menschen und besonders für ein religiöses Leben unerlässlich. Jede Weltanschauung besitzt metaphysische Strukturen, da sie notgedrungen erfahrungstranszendente Annahmen umfasst. Auf Weltanschauung kann ein Mensch nicht verzichten.113 Dafür steht seine Rede von einem Einheitstrieb des Menschen. Die Realitätsansprüche des religiösen Glaubens sind zwar nicht unmittelbar durch eine Weltanschauung fundiert. Sie drängen jedoch darauf, in eine umfassende Weltanschauung integriert zu werden, sodass sie mit dem Wissen des Menschen zusammenbestehen können. Vor diesem Hintergrund redet er einer umfassenden Transformation klassischer Metaphysik in eine „Metaphysik als Weltanschauung“114 das Wort. So muss er sowohl Biedermanns metaphysische Wissenschaft ablehnen als auch gegen Herrmanns gänzlichen Metaphysikverzicht der Theologie polemisieren. In Philosophie und Religion versucht Lipsius, diese Mittelstellung zwischen Biedermann und Herrmann systematisch zu verteidigen. Dafür unterzieht er Biedermanns immanente Metaphysik einer erneuten Kritik auf der Basis von Biedermanns neuer erkenntnistheoretischer Einleitung der zweiten Auflage seiner Christlichen Dogmatik. Die Diskussion von Biedermanns Metaphysik-Konzeption hat dabei paradigmatische Bedeutung. Sie repräsentiert, von Lipsius’ Standpunkt aus, den einzigen erfolgsversprechenden Versuch einer wissenschaftlichen Metaphysik. Mittels Biedermann erörtert Lipsius also pars pro toto die Zukunft aller möglichen wissenschaftlichen Metaphysik.115 112

Siehe Kap. III.2.c. In Die Hauptpunkte der christlichen Glaubenslehre führt Lipsius eine Reihe metaphysischer Konzepte auf ein notwendiges Vernunftbedürfnis zurück und spricht ihnen – nach kantischem Vorbild – eine wichtige Funktion als regulative Vernunftideen zu. „So entstehen uns die Begriffe des unbedingten oder absoluten Seins, des Weltganzen und der letzten Weltelemente, endlich der Seele als des unsrer erfahrungsmässigen selbstbewussten Selbstthätigkeit zu Grunde liegenden Seins.“ L, Die Hauptpunkte der Glaubenslehre, 3. 114 D., Philosophie und Religion, 100. 115 „[W]eil der einzige Weg, der zu einem metaphysischen Wissen führen kann, der von Biedermann eingeschlagene ist, habe ich geprüft, zu welchen sicheren Erkenntnissen gerade dieser führe.“ A. a. O., 99. Trotz dieser paradigmatischen Stellung der Metaphysik Biedermanns kommt Lipsius kursorisch noch auf metaphysische Ansätze bei Pfleiderer, Eduard von Hartmann und Herrmann Lotze zu sprechen: Pfleiderer scheint einen Mittelweg zwischen der Metaphysik-Skepsis von Lipsius und der Etablierung einer streng wissenschaftlichen Metaphysik bei Biedermann bereiten zu wollen, indem er metaphysische Erkenntnis prinzipiell verteidigt, ihr jedoch je weniger „Bestimmtheit, Klarheit und Sicherheit“ (Vgl. a. a. O., 92) zutraut, desto weiter sie sich von dem sicheren Grund unmittelbarer Erfahrung löst. Ein solcher Gradunterschied der Erkenntnis des Absoluten ist für Lipsius im Bereich wissenschaftlicher Metaphysik jedoch selbstwidersprüchlich. Wird ein solcher Gradunterschied ein113

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IV. Die Spättheologie 1880–1892

Diese herausgehobene Bedeutung hat sie, weil Biedermann Metaphysik auf Psychologie und Erkenntnistheorie gründet.116 Prima facie verspricht dieser Zugang Lipsius Erfolg, da er die Inhalte des metaphysischen Denkens aus dem Bereich möglicher Erfahrung bezieht und damit Momente von Lipsius’ kantischem Ausgangspunkt teilt. Davon ausgehend verspricht Biedermann Einsichten in die letzten Gründe der Wirklichkeit durch die Bearbeitung der Erfahrungswirklichkeit mittels des reinen Denkens. Grundlage für diese Möglichkeit ist der von Biedermann vertretene konkrete Monismus. Das Grundschema dieser metaphysischen Position ergibt sich aus der Kreuzung zweier ontologischer Unterscheidungen: zwischen dem materiellen und ideellen Sein einerseits und Existenz und Essenz andererseits. Materielles Sein meint das sinnlich gegebene raumzeitliche Sein; ideelles Sein hingegen das nicht raumzeitlich aber logisch strukturierte Sein. Existenz wiederum meint das selbstständig Seiende, während Essenz die Form der Gegebenheit eines Seienden bezeichnet. Ein konkreter Monismus nach Biedermann behauptet einen Gegensatz von Ideellem und Materiellem nur auf der Ebene der Essenz, während auf der Ebene der Existenz beides immer ungetrennt bleibt. Weder Ideelles noch Materielles existieren isoliert vom anderen aus sich selbst heraus. Zugleich gilt, dass Ideelles und Materielles nicht nur zwei trennbare Aspekte des Gleichen sind. Mit dem Essenzgegensatz ist vielmehr eine Differenz der Seinsweise gemeint. Das jeweilige Wesen dieser Seinsweisen lässt sich nach Biedermann jedoch nicht bestimmen. Wenngleich sich die Wirklichkeit dem Menschen nicht als gänzliche Einheit von Ideellem und Materiellem darbietet, kann die ideelle Arbeit des reinen Denkens grundlegende Aussagen über die logische Form des Wirklichen treffen. Da diese logische Form allerdings die Form der Existenz ist, können über sie abstrakt metaphysische Aussagen von universeller Reichweite getroffen werden. Mit diesem metaphysischen Schema versucht Biedermann mit Hegel, an einer vollen Intelligibilität der logischen Form der Wirklichkeit festzuhalten.117 Damit gezogen, ist die wissenschaftlich-gesicherte und vollkommen adäquate Kenntnis des Absoluten bereits verneint. An ihre Stelle können nur unterschiedlich adäquate Bilder des Absoluten treten, wie Lipsius sie selber in den religiösen Ausdrucksformen erkennt. Frei von Anthropomorphismus sind diese jedoch nie. Vgl. a. a. O., 96. Ohne genauer auf sie einzugehen, verweist Lipsius darauf, dass auch die Metaphysik bei Lotze oder die Metaphysik des Unbewussten von Eduard von Hartmann den Status hypothetisch bildlicher Aussagen über die letzte Wirklichkeit nicht überwinden. Vgl. a. a. O., 98–99. 116 Vgl. a. a. O., 55. In den Worten Biedermanns: „Die Metaphysik ist die auf die Erkenntniss der letzten Gründe des Seins und Erkennens gerichtete Wissenschaft. Die Bestimmung ihrer Leistungsfähigkeit als Wissenschaft, die Bestimmung der natürlichen Grenzen des Erkennens, macht speciell die Erkenntnistheorie aus. Diese selbst aber, soll sie mehr als ein willkürlich angenommenes Axiom sein, muss auf die Psychologie, als die Wissenschaft vom thatsächlichen Bewusstseinsprocess des menschlichen Geistes, durch welchen Erkenntniss zu Stande kommen soll, fussen.“ A E B: Christliche Dogmatik, Berlin 2 1884, 57. 117 Auch Reinmuth hat herausgearbeitet: An der logischen Struktur und Erfassbarkeit der Welt hält Biedermann mit Hegel fest. Vgl. R, Religion und Spekulation, 320.

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verspricht er einen über Lipsius hinausgehenden Realismus. Gegen Hegel will sich Biedermann jedoch dadurch positionieren, dass mit den Mitteln der Logik die Wirklichkeit nicht logisch konstruiert werden kann, sondern auf die Erfahrungserkenntnis der Existenz angewiesen bleibt.118 Biedermann teilt demnach Lipsius’ kantisch-kritischen Ausgangspunkt. Wenn seine Konzeption einer immanenten Metaphysik auf Basis des konkreten Monismus aufgeht, müsste Lipsius im Interesse seiner Grundlegung diese Konzeption übernehmen. Lipsius zufolge bleibt diese Metaphysik jedoch Voraussetzungen verpflichtet, die der Moderne – wie er gegen Hegel eingewendet hat – nicht mehr erschwinglich sind.119 Auch Biedermanns erweiterte Metaphysikbestimmung vertrete einen Panlogismus. Lipsius’ erneute Biedermann-Kritik bestreitet, dass die abstrakt-logischen Sätze der Metaphysik, welchen er inzwischen selbst größere Bedeutung beimisst, als „wirkliche positive Erkenntnis“120 gelten können. Dies wäre nur dann möglich, wenn sich die Wirklichkeit auf eine logisch strukturierte Beschreibung reduzieren lasse; wenn sie ganz logischen Gesetzen unterstehen würde.121 Dass ein solcher Panlogismus nicht möglich ist, bildet ein von Weisse übernommenes Fundament des gesamten theologischen Denkens bei Lipsius.122 Biedermann bestreitet jedoch explizit, sich einen solchen Panlogismus zu eigen gemacht zu haben. Ich sage einfach: in unseren Anschauungs- und Denkformen sind uns eben die Seinsformen der objectiven Welt gegeben; vom Wesen dieser sind unserm Bewußtsein nur diese Formen gegeben; was wir von ihm wissen können, können wir daher auch nur in diesen Formen wissen vom Wesen, der Essenz der Materie nur ihre Seinsform in Raum und Zeit, vom Wesen des Geistes nur die logischen Formen des ideellen Seins.123

118 Biedermann arbeitet sich kritisch an Hegels Erkenntnistheorie ab und wirft seiner Religionstheorie vor, nicht genug erfahrungsgesättigt zu sein. Vgl. M N: Die Vermessung des Glaubens. Zum Religionsbegriff bei Alois Emanuel Biedermann (1819–1885), in: Georg Pfleiderer (Hg.): Die Religion der Bürger. Der Religionsbegriff in der protestantischen Theologie vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 2021, 573–591, hier 578. 119 Siehe Kap. I.5.a. 120 L, Philosophie und Religion, 57. Bezüglich dieser Kritik hat bereits Seydel kritisch angemerkt, dass es Lipsius nicht gelungen ist, sein Verständnis von ,wirklicher Erkenntnis‘, hinreichend klar darzulegen, sodass sich die genaue Reichweite seiner erneuten Biedermann-Kritik nicht erheben lasse. Vgl. S, Religionsphilosophie im Umriss, 75–87. Diese Unklarheit der Kritik-Reichweite ist besonders daher problematisch, da Biedermann selbst die Erkenntnisreichweite der Metaphysik auf formale Erkenntnisse eingeschränkt hat, die keine volle Wesenserkenntnis erreichen kann oder soll. Vgl. R, Religion und Spekulation, 325. Lipsius muss sich daher bereits gegen die Idee einer logischen Form der Wirklichkeit gewendet haben. 121 L, Philosophie und Religion, 67. 122 Siehe Kap. I.2.b., Kap. I.5.a. und Kap. III.2.c. 123 B, Christliche Dogmatik 1884, 167.

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Lipsius versucht dagegen zu zeigen, dass Biedermanns Metaphysik eine doppelte Identifikation vornimmt, die auf einen Panlogismus hinauslaufe. Sie unterstellt erstens dem Geist eine logische Substanz und zweitens der Welt eine geistige Substanz. Aus beidem ergibt sich die implizite Voraussetzung einer logischen Substanz der Welt. In diesem Sinne beerbe Biedermann den hegelschen Grundfehler. Nicht die aprioristische Methode, welche den ganzen Daseinsprocess der Welt aus reinem Begriffe deducirt, sondern der logische Formalismus, welcher das Wesen des ,Geistes‘, und weiterhin freilich auch das Wesen der ganzen Welt, in reinen Denkbestimmungen glaubt ausdrücken zu können, ist mir immer als die charakteristische, wenn auch in ihrer Weise grossartige, Einseitigkeit der Hegel’schen Philosophie erschienen.124

Lipsius kritisiert mit dem Hinweis auf Biedermanns Hegelianismus dessen Metaphysik nicht primär anhand dessen eigenen Maßstäben. Er formuliert keine immanente Kritik des philosophischen Systems, von dessen Kohärenz und Konsistenz Lipsius stets im höchsten Tönen spricht. Vielmehr bestreitet er vorrangig eine logizistische Rekonstruktion des menschlichen Geisteslebens mit den Mitteln einer Phänomenologie des menschlichen Selbsterlebens. So bietet bereits die Rede vom Logischen als Substanz des Geistes bei Biedermann den Ansatzpunkt von Lipsius’ Kritik.125 Lipsius versteht sie als die These, dass sich die Struktur von Subjektivität mit Verstandesbegriffen vollständig beschreiben lässt. Sie falsifiziert sich – ihm zufolge – an dem Erleben der eigenen Subjektivität.126 Die Seinsform des bewussten Subjektes ist eben das Bewusstsein selbst als lebendige unübertragbare Subjektivität oder Ichheit, dieses nur erlebbare, aber nicht definirbare, in keine logische Kategorie zu fassende Urdatum aller für uns existirenden Wirklichkeit.127

Das erlebbare Subjekt des Menschen lässt sich nach Lipsius schon allein dadurch nicht in abstrakt-logische Bestimmungen aufheben, da es uns Menschen nur in der Zeitform gegeben ist.128 Eine Erkenntnis der logischen Form dieses Subjekts

124

L, Philosophie und Religion, 64. Biedermann stimmt der ersten von Lipsius identifizierten Identifikation von dem Logischen als Substanz des Geistes selbst zu. Vgl. B, Christliche Dogmatik 1884, 148. Die zweite Identifikation, bzw. die Rede von einer geistigen Substanz der Welt lehnt er jedoch ab: „Diese pantheistische Identificirung des absoluten Grundes der Dinge mit der Substanz der Dinge selbst liegt meinem reinen Denken völlig fern“ A. a. O., 164. Hüttenhoff weist darauf hin, dass es Lipsius nicht gelingt, nachzuweisen, dass Biedermann von einer geistigen Substanz der gesamten Wirklichkeit ausgeht. Vgl. H, Erkenntnistheorie und Dogmatik, 172. Lipsius unterstellt dies ungerechtfertigterweise. Seine Kritik setzt allerdings bereits bei der ersten These von der logischen Substanz des Geistigen an, sodass Lipsius sich Biedermanns Position bereits aufgrund dieser ersten Identifikation nicht zu eigen machen kann. 126 „Aber das Erlebniss des Bewusstseins erschöpft seine Realität nicht in den logischen Denkbestimmungen.“ L, Philosophie und Religion, 85. 127 A. a. O., 80. 128 Vgl. a. a. O., 73. „Aber das wirkliche Bewusstseinssubjekt, von welchem wir wissen, ist 125

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unabhängig von der Zeitform, wie es eine abstrakt-logische Bestimmung fordert, ist daher nicht denkbar. Vielmehr erwächst nach Lipsius aus dem Erleben der eigenen Subjektivität unumgänglich ein Dualismus zwischen der objektiv erfahrbaren Wirklichkeit und der im inneren Erleben gegebenen Wirklichkeit.129 Sobald Biedermann versucht, das abstrakt-logische Denken eines raum- und zeitfreien Daseinsgrundes als Erkenntnis auszugeben, überschreite er nach Lipsius die Grenzen seiner immanenten Metaphysik hin zu klassischen Formen transzendenter Metaphysik. Denn das reine Denken verlässt damit die Grenzen möglicher Erfahrung, die Biedermann eigentlich selbst seiner immanenten Metaphysik gesetzt hat.130 Was sich nach Lipsius bereits hinsichtlich der wissenschaftlichen Erklärungsversuche des Wesens menschlicher Subjektivität zeigt, gilt analog auch für eine metaphysische Erkenntnis des Absoluten.131 Auch sie beansprucht, Erkenntnisse über etwas zu formulieren, das unabhängig von Raum und Zeit gedacht werden muss, aber so prinzipiell den Boden möglicher Erfahrung verlässt. Aus diesen Gründen ist für Lipsius klar, dass auch Biedermanns Metaphysik stellvertretend für sämtliche wissenschaftliche Metaphysik kein metaphysisches Wissen in Aussicht stellen kann. Trotz dieser so grundgelegten fundamentalen Skepsis gegenüber jeglichen Erkenntnisansprüchen kann Theologie nicht ohne jeden Bezug auf Metaphysik auskommen. Indem Lipsius die Dogmatik mit der Konstruktion einer einheitlichen Weltanschauung betraut, schließt sie vielmehr unmittelbar an das metaphysische Projekt an. Eine Metaphysik der Weltanschauung ist unverzichtbar: „Denn wir wollen wissen, ob und inwieweit das auf Werthurtheilen hin für wirklich Angenommene mit aller anderweiten, erlebten und erkannten Wirklichkeit zu Einer Wirklichkeit sich vereinigen lässt.“132 Eine solche systematische Aufbereitung der gesamten Erfahrungswirklichkeit unterscheidet sich von einer wissenschaftlichen Metaphysik zum einen durch den epistemischen Status ihrer Resultate. Weltanschauungs-Metaphysik ist kein Wissen. Sie schafft keine positiven Erkenntnisse. Sie ist vielmehr auf eine Art intellektuelle Anschauung oder Intuition zurückzuführen. „Gemeint ist hiermit das Vermögen der produktiven Anschauungskraft oder des anschauenden Producierens, mit einem Worte der Phantasie, durch welche wir uns Bilder des Uebersinnlichen zu entwerfen vermögen.“133 Der Fantasie-Begriff ist hierbei gänzlich frei von jeglichem pejorativen Beiklang zu verstehen. Er meint keine „willkürlichen oder leeren Einbildungen“134, sondern sie resultieren aus den praktischen Nötigungen des Bewusst-

eben kein ideelles Sein in dem angegebenen Sinne, sondern ein in der Zeit Lebendiges, räumlich Anschauendes.“ A. a. O., 75. 129 Vgl. a. a. O., 80. 130 Vgl. a. a. O., 83. 131 Vgl. a. a. O., 86. 132 A. a. O., 100. 133 A. a. O., 105. 134 Ebd.

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seins, die nicht voluntativ oder individualistisch zu verstehen sind. Allerdings meint es bildliche oder symbolische Ausdrucksformen, die ihren Bezugsgegenstand nur indirekt zum Ausdruck bringen.135 Zum anderen ist eine Weltanschauungs-Metaphysik durch ein umfassendes Verständnis der Erfahrungswirklichkeit geleitet. Meint Erfahrungswirklichkeit die interessenlos erhobenen empirischen Daten innerer und äußerer Anschauung, wie es für die empirischen Wissenschaften kennzeichnend ist, dann ist die Konstruktion einer Totalität dieser Daten Metaphysik im wissenschaftlichen Sinne. Davon hebt sich die von Lipsius geforderte Metaphysik als Weltanschauung ab. Für sie umfasst die Erfahrungswirklichkeit die „praktischen Nöthigungen und Gewissheiten der lebendigen Person“136. Ihren Ausgangspunkt bildet ein wertbehaftetes inneres Erleben. Erst von diesem Punkt ausgehend soll das innere Erleben mit den empirischen Daten innerer und äußerer Anschauung vermittelt werden.137 Die Weltanschauungsbildung soll also einen Deutungshorizont der Wirklichkeit bieten, der es erlaubt, aus dem wertgeladenen Selbsterleben geschöpfte Annahmen mit dem gesicherten Erfahrungswissen zu verbinden. Es geht ihr um die Zusammenbestehbarkeit von Geltungsansprüchen des Glaubens mit dem Wissen, nicht um den Beweis der Geltungsansprüche selbst. Wenngleich die Weltanschauungsmetaphysik nicht als Quelle der Geltung dogmatischer Sätze fungieren kann, reflektiert sie dennoch den Möglichkeitsrahmen einer solchen Geltung. Das hat weitreichende Folgen für die Arbeit am Religionsbegriff und die Wahrheitsansprüche der Dogmatik. Vor diesem Hintergrund verweist er auf die breite Tendenz theologischer Religionsforschung hin zu empirischer Methodik und praktischen Modellen der Bewährung religiöser Überzeugungen.

c. Psychologie und Moraltheologie – Empirisch-praktische Religionstheorie Mit seiner finalen Kritik der metaphysischen Versuche, die Geltung der Religion zu beweisen, verabschiedet Lipsius die Vorstellung, die Plausibilität von Religion ließe sich theoretisch-wissenschaftlich gewährleisten. Dieser Einsicht korrespondiert nach Lipsius eine weitreichende Tendenz wissenschaftlicher Theologie seiner Zeit. So erblickt er in der theologischen Arbeit am Religionsbegriff 1885 weitreichende Konvergenzen und rückt diese mit irenischer Tendenz in den Vordergrund. Diese zeigen sich einerseits methodisch an einer empirischen Wende innerhalb der Religionsforschung. Andererseits resultiert daraus inhaltlich das Vorwiegen eines praktischen Religionsverständnisses. Diese Konvergenzen macht er an den an Ritschl anknüpfenden Religionstheorien von Herrmann und Julius Kaftan sowie an den an Hegel anknüpfenden Religionstheorien von Pfleiderer

135

Vgl. a. a. O., 106. A. a. O., 100. 137 Vgl. ebd. 136

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und Biedermann fest, welche zusammengenommen nach Lipsius die Hauptströmungen seiner Zeit ausmachen.138 Insbesondere bei der Entfaltung seines praktischen Religionsverständnisses in Philosophie und Religion zeigt Lipsius ein stärkeres Aufgreifen kantischer Moraltheologie als zuvor. Diese Überlegungen münden in der Betonung praktisch-pragmatischer Bewährung religiöser Gewissheit, die neben indirekten Plausibilisierungsverfahren die einzige bleibende Möglichkeit ist, über religiöse Wahrheitsansprüche zu urteilen. Die methodische Konvergenz der Religionsforschung äußert sich nach Lipsius in einem Ausgang in einer „empirischen Untersuchung“139 der Religion als inneres Erleben des Menschen. Demnach hat sich eine religionspsychologische Grundlegung der theologischen Arbeit weitgehend etabliert, wenngleich Lipsius dies gegen das Selbstverständnis beispielsweise Herrmanns behaupten muss.140 Voraussetzung dieser These ist auch hier, dass Psychologie nicht im Sinne der „‘exakten Psychologie‘“141 mit einer naturwissenschaftlichen Methodik verstanden ist, sondern einer Phänomenologie der Religion am Ort des individuellen Geisteslebens unter Absehung von Geltungsfragen gleicht.142 In Philosophie und Religion entfaltet Lipsius also kein neues Verständnis von Religionspsychologie, sondern versucht herauszuarbeiten, dass sie einen Grundkonsens der Theologie seiner Zeit darstelle. Wenngleich dieser Grundkonsens besonders mit Blick auf viele Ritschlianer fraglich bleiben muss, legt es doch das Selbstverständnis von Lipsius offen, mit seiner Religionspsychologie keine eigenwilligen Wege zu ge-

138

Vgl. a. a. O., 198. Daneben beobachtet Lipsius bei Isaak August und August Johannes Dorner sowie bei Paul Gloatz eine Strömung, die an Schleiermachers Religionskonzeption metaphysisch anknüpft. Doch auch mit dieser Religionstheorietradition verspricht Lipsius eine Verständigung. Vgl. a. a. O., 199. Das Metaphysische von Schleiermachers Religionstheorie besteht nach Lipsius darin, dass Schleiermacher eine Notwendigkeit der Religion aus seinem Gedanken der transzendentalen Einheit der Gegensätze heraus ableitet. Vgl. a. a. O., 246. Ein solcher Versuch, begrifflich die Notwendigkeit der Religion für den Menschen zu behaupten, hält Lipsius für verfehlt. Dennoch sieht er bei Dorners Analyse des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls ansatzweise ein religionspsychologisches Vorgehen. Vgl. ebd. Bei Gloatz wird die Religionspsychologie zudem explizit aufgegriffen, jedoch um eine metaphysische Deduktion des Gottesbewusstseins erweitert. Lipsius lehnt diese Deduktion ab; sieht wesentliche Differenzen zu Gloatz allerdings in Missverständnissen seiner Konzeption begründet, die Lipsius eine Nähe zum Denken Feuerbachs unterstellen und seine Religionstheorie eudämonistisch interpretieren. Vgl. P G: Spekulative Theologie in Verbindung mit der Religionsgeschichte, Gotha 1883, 138. 139 L, Philosophie und Religion, 205. 140 Vgl. a. a. O., 199. Als wichtigste Pioniere der Religionspsychologie nennt Lipsius jetzt neben Karl Schwarz auch Eduard Zeller, was er an ihrem Einfluss auf Otto Pfleiderer festmacht. Vgl. a. a. O., 203. Gegen Herrmanns explizite Ablehnung religionspsychologischer Arbeit behauptet Lipsius, dass der Sache nach Herrmanns ethische Religionsbestimmung und sein Verständnis von Religionspsychologie sich weitgehend überschneiden und ihre Differenz größtenteils ein Streit der Nomenklatur ist. Vgl. a. a. O., 202. 141 Ebd. 142 Vgl. A. a. O., 201.

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hen. Durch die vielen Rückbezüge auf Subjektivitätsphilosophie legt sich zudem erneut der Eindruck nahe, dass seine Religionspsychologie mehr eine positive Evolutionsstufe idealistischer Subjektivitätstheorie ist, die ihre Motive bewusstseinsphänomenologisch wendet. Die Rede von einer empirischen Wende der Religionstheorie kann vor diesem Hintergrund nicht als wissenschaftliche Revolution verstanden werden. Dafür sprechen die hohen Kontinuitäten zu religionstheoretischen Grundlagen von Kant, Hegel und Schleiermacher, die allesamt als Ahnherren der von Lipsius beobachten empirischen Wende verstanden werden können. Diese Theorietraditionen werden jedoch fundamental modifiziert und ihre zentralen Motive neu akzentuiert, indem sie nun phänomenologisch am Erleben des frommen Subjektes ausgewiesen werden sollen und deren Plausibilität von diesem Erleben abhängig bleibt. Neben dieser methodischen Konvergenz identifiziert Lipsius eine inhaltliche Konvergenz in der praktischen Akzentuierung von Religion. Greifen lässt sie sich in der Zentralstellung der Persönlichkeit.143 Religion ist eine Sache der Selbstbehauptung des persönlichen Lebens und damit praktisch zu verstehen. Dieses Motiv kann Lipsius auch als religiösen Trieb bezeichnen, wenngleich dies Anlass für Missverständnisse gegeben hat. Es mag oberflächensemantisch naheliegen, aber Lipsius wendet sich explizit gegen eine naturalisierende Auslegung seines triebtheoretischen Vokabulars: Gemeint ist keine im Menschen angelegte natürliche Neigung zur Religion, sondern ein menschlicher Akt aus Freiheit: „Derselbe [sc. Der religiöse Trieb] ist als ein persönlicher Lebensakt des Ich zugleich eine Bethätigung seiner intelligibeln Freiheit, die erlebt, aber nicht als empirisches Faktum erklärt wird.“144 Die praktische Akzentuierung von Religion rückt den Freiheitsbegriff ins Zentrum des theologischen Denkens. Auch hier ist deutlich erkennbar, wie Lipsius versucht, eine weitgehende Konsensualität seines eigenen theologischen Denkens zu inszenieren. Dabei sind zumindest terminologische Annäherungen an die Ritschl-Schule zu konstatieren, wenngleich er dabei weitgehend frühere Pointen seiner Theologie in der Sprache seiner theologischen Gegenspieler reformuliert. Sachlich sind die Konvergenzen schon früh durch die freiheitstheologische Stoßrichtung von Lipsius’ Religionstheorie begründet. Ihr ist es um die Ausbildung, den Erhalt und die Kultivierung intelligibler Freiheit zu tun. Mit der intelligiblen Freiheit meint Lipsius dabei das Vermögen, sich selbst als Selbstbewusstsein zu bestimmen. Nicht der logische Unterschied von Subjekt und Objekt als solchem, auch nicht das Bewusstsein als psychisches Phänomen, aber der persönliche Bewusstseinsakt, durch welchen sich das Ich seinem Nichtich gegenüberstellt, ist ein intelligibler Freiheitsakt, durch wel-

143 Zur lagerübergreifenden Zentralstellung des Persönlichkeitsbegriffs im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vgl. F W G: Rettung der Persönlichkeit. Protestantische Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, Stuttgart 1989, 103–131, hier 120–125. 144 L, Philosophie und Religion, 211.

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chen der persönliche Geist erst von seinem Dasein Besitz nimmt, sich als persönliches Ich setzt.145

Diese intelligible Freiheit wird sowohl im Bereich der Sittlichkeit als auch im theoretischen Bereich in Anspruch genommen. Sowohl das moralische Handeln als auch die Wissenschaft zeugt von einer Autonomie des Bewusstseins und des Willens eines persönlichen Ichs.146 Beides für sich kann jedoch die Selbsterhaltung einer freien Persönlichkeit nicht garantieren. Das wissenschaftliche Erkennen ist als freier Akt mit dem Widerspruch behaftet, dasjenige aufzudecken, das nicht frei, sondern naturkausal bedingt ist.147 Das moralische Handeln wiederum ruht Voraussetzungen auf, die es selbst nicht garantieren kann. Nach Lipsius kann erst Religion die prinzipielle Möglichkeit sittlicher Selbstverwirklichung und die dazu nötige Kraft des Willens versichern. Darin zeigt sich beides: Die starke wechselseitige Bezogenheit von Sittlichkeit und Religion sowie ihre relative Selbstständigkeit, welche Lipsius gegenüber der Ritschl-Schule einklagt. Die wechselseitige Bezogenheit macht Lipsius religionsgeschichtlich deutlich. Der praktischen Bestimmung von Religion entspricht so eine Auffassung der Religionsgeschichte als fortwährende Entwicklung hin zu ethischen Religionen, an deren Spitze das Christentum als die wahre sittliche Religion steht.148 Erst sie erfülle das Motiv, das den Ursprung der Religion darstellt: Erst durch sie kann der Mensch seine freie Persönlichkeit gegenüber der Natur behaupten.149 Das Christenthum lehrt die Weltüberwindung, indem es alles Naturdasein als Mittel zu dem Zwecke der sittlichen Persönlichkeit betrachtet und demgemäss die sittliche Arbeit in und an der Welt zur Verwirklichung jenes sittlichen Endzweckes fordert.150

Das wesentliche Fortschrittsmoment, das Lipsius hier in die Religionsgeschichte einzeichnet, betrifft den Wandel von einem natürlichen eudämonistischen Verständnis von Selbsterhaltung, das der Naturreligion zugrunde liegt, zu einem sittlich-personalen Verständnis von Selbsterhalten, das ethischen Religionen zugrunde liegt. Im Christentum erstrebt der Mensch nach Lipsius nicht mehr Neigungsbefriedigungen, wie er es Naturreligionen unterstellt, sondern die volle Verwirklichung sittlicher Freiheit. Die in der Religion erstrebte persönliche Selbstbehauptung ist fortan streng von egoistisch-eudämonistischen Interessen abzugrenzen.151 Dieses religionsgeschichtliche Schema macht deutlich, dass die innere Entwicklung von Religion aus genuin religiösen Motiven heraus als Anreicherung mit moralischen Motiven verstanden wird. Es zeigt die kulturgeschichtliche Ausbildung einer Abhängigkeit der Religion von Moral an, da erst durch ein

145

A. a. O., 217. Vgl. a. a. O., 218. 147 Ebd. 148 Vgl. a. a. O., 216. 149 Vgl. a. a. O., 214. 150 Vgl. Ebd. 151 Vgl. a. a. O., 216. 146

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moralisches Verständnis menschlicher Selbsterhaltung der freien Persönlichkeit der religiöse Trieb erfüllt werden kann. Religion braucht demnach die Sittlichkeit, um ein eudämonistisches Religionsverständnis zu überwinden, das nach Lipsius ein frühes Motiv zur menschheitsgeschichtlichen Ausbildung von Religion war. Doch die Sittlichkeit allein kann den Selbsterhalt der freien Persönlichkeit ebenso wenig garantieren, da sie ihre tatsächliche Verwirklichung nicht sicherstellen kann. Sie kann nur dem intelligiblen Charakter des Menschen ein Gesetz geben. Sie kann aber weder die faktischen Handlungsbedingungen des Menschen bestimmen, noch aus sich selbst heraus den Menschen zur Übernahme eines moralischen Selbstverständnisses motivieren. Religion und Sittlichkeit sind aufeinander bezogen und angewiesen.152 Wie die Religion erst als ethische Religion ihre Vollendung findet, so wird die Erreichung des sittlichen Endzwecks erst in derjenigen Religion verbürgt, welche den Menschen nicht blos ihre sittliche Aufgabe als den Willen Gottes erkennen lehrt, sondern ihnen auch die Kraft verleiht, diesen Willen und damit zugleich ihre sittliche Aufgabe zu erfüllen.153

Der Sache nach eignet sich Lipsius hier implizit die Funktionsbestimmung eines moralischen Glaubens bei Kant an. Bei Kant kristallisiert sich aus einem moralischen Selbstverständnis eine subjektive Gewissheit heraus, dass es einen Gott gibt, der sicherstellen kann, dass das höchste Gut, auf das das moralische Handeln sich ausrichtet, auch möglich ist.154 Der Gottesgedanke kommt hierfür infrage, da er gleicherweise als Grund der Natur als auch der Freiheit adressiert werden kann. Der Gottesbegriff als Postulat gewährleistet dadurch gleichsam die Verbindung von Natur und Freiheit. Auch für Lipsius ist es gerade das Unvermögen der Sittlichkeit, einen solchen Übergang zu garantieren, die sie Ergänzungsbedürftig durch Religion erscheinen lässt. „Das sittliche Ideal hat keine Macht über den Naturzusammenhang.“155 Wenngleich Lipsius den Ursprung der Religion in einem menschlichen Freiheitsgeschehen aufsucht, erschöpft sich Religion also nicht darin.156 Vielmehr adressiert sie mit der Gottesvorstellung einen gemeinsamen Grund der natürlichen wie der intelligiblen Aspekte der Wirklichkeit. Aus psychologischer Perspektive entspricht dieser Gottesvorstellung eine schlechthinnige Abhängigkeit, die der intelligiblen Freiheit des Menschen kor-

152

Vgl. a. a. O., 220. Ebd. 154 „Ohne also einen Gott und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft a priori bestimmt und notwendig ist, erfüllen.“ K, Kritik der reinen Vernunft, A 813. 155 L, Philosophie und Religion, 221. 156 „Der Akt, in welchem der Mensch sich über seine Welt zu Gott erhebt, ist ein Akt seiner ,intelligiblen Freiheit‘. Aber dieser Freiheitsakt für sich allein ist noch nicht die Religion.“ A. a. O., 217. 153

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respondiert.157 Es ist nach Lipsius gerade die Einsicht in eine Abhängigkeit des menschlichen Freiheitsvollzuges selbst, die menschliche Freiheitserfahrung für ihre Auslegung als religiöses Verhältnis von Mensch und Gott öffnet. Da Gott als Grund der Freiheit als ein unendlicher und absoluter Grund gesetzt wird, muss er zugleich auch als unendlicher Grund alles Endlichen und damit auch der Natur angesehen werden. So repräsentiert der Gottesgedanke einen gemeinsamen Grund der Wirklichkeit, der eine moralförmige Verwirklichung von Freiheit in der endlichen Welt denkbar macht. Im Rahmen einer solchen Religionstheorie erscheint die Religion als ein Mittel für den Zweck der Verwirklichung von Moral. Im Gegenüber zur Moral erhält die Religion dabei einen Werkzeug-Charakter. In psychologischer Perspektive kann Lipsius darin menschlich-eudämonistische Motive als Ursprung der Religionsausbildung erkennen. In dem Erleben der schlechthinnigen Abhängigkeit des eigenen Freiheitserlebens und ihrer religiösen Symbolisierung vollzieht sich nach Lipsius jedoch eine Zweck-Mittel-Umkehrung, die er auch religionsgeschichtlich als Übergang von Naturreligion zur ethischen Religion rekonstruiert. Was zuerst als Mittel erschien, um den Anspruch des Subjektes auf Leben zu befriedigen, die Erhebung zu Gott, wird zum letzten Zweck auch des persönlichen Lebens; was als letzter Zweck alles persönlichen Strebens erschien, wird zum Mittel herabgesetzt zur Verwirklichung des allein absoluten Zweckes.158

In der Religionsgeschichte vollzieht sich demnach eine Emanzipation der Religion davon, Mittel für eudämonistische Selbstbehauptungszwecke zu sein. Dabei reichert sich die Religion zunächst mit sittlichen Motiven an, indem das ihr zugrundeliegende Freiheitsverständnis der menschlichen Selbstbehauptung in ein moralisch konditioniertes überführt wird. Freiheit kann keine individuelle Willkür oder keine reine Unabhängigkeit äußerer Einflüsse meinen, sondern meint das Vermögen, einer eigenen nicht naturkausalen Gesetzmäßigkeit zu folgen. So korrespondiert Moral als Gesetz der Freiheit der Erhebung über die Natur. In der Religion wird das moralische Gesetz als Wille Gottes symbolisiert, der als „das persönliche Urbild des Guten“159 auftritt, wodurch die Differenz von endlich-empirischer und der spezifisch religiös-sittlichen Freiheit eingeschärft wird. Denn nur in der unbedingten Abhängigkeit unseres Willens von dem göttlichen Willen wird jener von dem abstrakten Freiheitsbewusstsein befreit, welches die transcendentale Freiheit mit der empirischen identificirt[.] […] Im Christenthum ist der Wille Gottes als der schlechthin gute Wille offenbar, der als das Ideal der intelligiblen Freiheit zugleich die unbedingte ethische Nothwendigkeit des Wollens in sich selbst trägt, oder als derjenige Wille, welcher im Wollen zugleich das unverbrüchliche Gesetz seines Willens erzeugt.160

157

Vgl. a. a. O., 212. A. a. O., 222. 159 A. a. O., 228. 160 A. a. O., 224–225. 158

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Mit diesen Überlegungen implementiert Lipsius weitgehend Grundkoordinaten kantischer Moralphilosophie in seine Religionstheorie. Mit der Rede von der intelligiblen Abhängigkeit der Erhebung über die Natur emanzipiert sich die Religion nach Lipsius jedoch nicht nur von einer eudämonistischen Ingebrauchnahme. Sie kann auch nicht mehr als Mittel zur Verwirklichung einer moralischen Welt allein in den Blick genommen werden. Auch hinsichtlich des Verhältnisses von Moral und Religion beschreibt Lipsius eine Zweck-Mittel-Umkehr gegenüber einer kantischen Religionstheorie. Diese ist bereits in der Rede von einer intelligiblen Abhängigkeit der intelligiblen Freiheit angelegt.161 Mit der intelligiblen Abhängigkeit wird deutlich, dass Religion ihrem Wesen nach nicht auf ein Geschehen im menschlichen Subjekt reduziert werden kann: „[I]n der Religion handelt es sich nicht blos um das Mysterium unseres eigenen, in sich abgeschlossenen persönlichen Lebens, sondern um das Mysterium der Wechselbeziehung zwischen Gott und dem Menschen.“162 Vielmehr wird in der Religion die Selbstbehauptung der freien Persönlichkeit selbst als ein Mittel in einen umfassenden teleologischen Prozess eingeordnet. Sie tritt als Mittel zur Selbstoffenbarung Gottes in den Blick. Mit dieser Rede von der Hinordnung der Religion auf Offenbarung hebt Lipsius auch seine moraltheologischen Überlegungen von einer Reduzierung der Religion auf ein Verwirklichungsmittel der autonomen Sittlichkeit ab. Vielmehr will er eine eigenständige Wahrheit der Religion herausstellen, die sich allerdings nur anhand ihrer das freie persönliche Leben kultivierenden Wirkung plausibilisieren lässt, zu der sie immer auch moralische Formen annehmen muss. Lipsius stellt hier also konsequenter als zuvor auf pragmatische Bewährung als Plausibilisierung religiöser Wahrheitsansprüche um und reflektiert vor diesem Hintergrund die seiner Theologie zur Verfügung stehenden Plausibilisierungsverfahren religiöser Geltungsansprüche. Die spezifisch religiöse Wahrheitsfrage ist nach Lipsius die Frage nach der Anwendbarkeit des Offenbarungsbegriffs auf das religiöse Leben. Über den Offenbarungsbegriff verhandelt eine Religion demnach ihren Wahrheitsanspruch: Die Frage nach der Wahrheit der Religion fällt also zusammen mit der anderen Frage, inwiefern das sittlich-religiöse Leben der Menschheit überhaupt und das der Christenheit insbesondere unter den Gesichtspunkt göttlicher Offenbarung gestellt werden könne.163

Die Anwendbarkeit des Offenbarungsbegriffs auf das religiöse Leben entscheidet sich nach Lipsius an einer Bewährung oder inneren Beglaubigung durch das Erleben frommer Subjekte. Ihre Glaubensperspektive kann an einem Verweisungscharakter persönlicher Freiheit, einem ihm zugrundeliegenden geheimnisvollen Grund anknüpfen, der als Voraussetzung eigener Freiheit erlebt wird. Erst die religiöse Auslegung der schlechthinnigen Abhängigkeit des Freiheitsvollzugs 161

Vgl. a. a. O., 238. Ebd. 163 A. a. O., 248. 162

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als göttliches Wirken lässt dieses Freiheitsgeschehen im menschlichen Geist als „Uroffenbarung“164 erscheinen. So erweist sich der persönliche Freiheitsakt der religiösen Erhebung auf seinen transcendentalen Grund hin angesehen als ein Gottesakt in uns, durch welchen wir über die Welt erhoben werden. Und das Innewerden unserer transcendentalen Abhängigkeit im religiösen Verhältnisse erweist sich als Kundgebung des göttlichen Geistes im menschlichen Geistesleben.165

Wie er bereits in früheren Aufsätzen deutlich gemacht hat, ist dieses religiöse Erleben nach Lipsius in seiner Phänomenalität nicht fraglich, ihre Auslegung als Offenbarung hingegen ist nicht hinreichend vor einem Illusionsverdacht geschützt. Einem solchen „mystische[m] Subjektivismus“166 droht auch nach Lipsius der Verdacht, leere Einbildung zu sein. Dieser Verdacht lässt sich zwar abschwächen, indem sich der Glaube eine subjektübergreifende Bestimmtheit durch Bezug auf religiöse Gemeinschaft und ihren im Christentum konstitutiven Bezug auf eine historische Offenbarung in Jesus Christus gibt. Doch auch dies kann nach Lipsius nichts erweisen.167 Religiöse Gemeinschaften können ihrem Glauben nicht selbst Geltung verleihen. Ein derartiges „argumentum a consensu“168 unterstellt Lipsius Ritschls Bestimmung des Offenbarungsbegriffs als Funktion der Gemeinde und versucht, dies als Adaption an katholische Frömmigkeit zu diskreditieren.169 Vielmehr braucht es auch eine „innere Beglaubigung der Wahrheit geschichtlicher Offenbarung durch die praktische Erfahrung von ihr“170. Sie ist eine „subjektive Wiederholung des sittlich-religiösen Erfahrungsgehaltes jener geschichtlichen Offenbarung“171. Für das Persönlichkeitsbild Jesu im christlichen Glauben folgt daraus nach Lipsius, dass es nicht kategorial vom allgemeinen menschlichen Persönlichkeitsleben abgehoben und damit zu einem gänzlich singulären Ereignis gemacht werden darf. Die Isolierung der geschichtlichen Offenbarung in Christus gegenüber allem, was sonst im geschichtlich religiösen Leben der Menschheit als Glaube an göttliche Offenbarung vorkommt, macht jene zu einem ohne jeden Zusammenhang mit der religiösen Gesammtentwickelung der Menschheit ganz abrupt in die Geschichte hineingestellten äusseren Ereignisse172.

164

A. a. O., 264. Ebd. 166 A. a. O., 257. 167 Vgl. a. a. O., 270. 168 A. a. O., 271. 169 Vgl. ebd. 170 A. a. O., 262. 171 A. a. O., 263. Diese Ausführungen bleiben ganz den Überlegungen aus den beiden einschlägigen Vorträgen Die letzten Gründe der religiösen Gewißheit von 1880 und Die Bedeutung des Historischen im Christentume von 1881 treu. Siehe Kap. IV. 1.a/b. 172 A. a. O., 250. 165

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Das in Christus urbildlich verwirklichte religiöse Verhältnis muss – trotz geringerer Vollkommenheit – prinzipiell im religiösen Erleben der Glaubenden wiederholbar sein. Denn das eigene Erleben dieser inneren Offenbarung ist für die Glaubensperspektive „der einzige direkte Wahrheitsbeweis für die christliche Religion“173. Was Lipsius hier ,Wahrheitsbeweis‘ nennt, gilt allein im innerreligiösen Offenbarungsdiskurs. Einen direkten apologetischen Beweis der Religion schließt er aus. Nach außen bleiben der christlichen Religion nur indirekte Plausibilisierungsstrategien. Dazu rechnet Lipsius eine praktische Bewährung der Religion: „[D]as Kriterium ihrer Wahrheit ist, dass sie die Erwartung des Menschen nich [sic!] täuscht, dass sie ihm wirklich zum Besitze der Güter verhilft, die er von ihr erwartet.“174 Die Religion muss für ihre Plausibilität demnach wirklich zur Selbsterhaltung freier Persönlichkeit im Gegenüber zur Natur beitragen. Die wissenschaftliche Reflexion kann nach Lipsius hingegen nur zwei indirekte Wahrheitsbeweisstrategien verfolgen: einen apologetisch-religionsphilosophischen ,Beweis‘ oder einen dogmatischen ,Beweis‘.175 Der apologetische indirekte Beweis besteht darin, die menschlichen Motive, welche zur Ausbildung von Religion führen, herauszuarbeiten und als praktisch notwendig auszuweisen. Wie es Lipsius in seiner Religionspsychologie umzusetzen versucht hat, soll gezeigt werden, dass die Religion auf eine Problemstellung reagieren kann, die allgemein menschlich ist. Hier ist seine Berufung auf eine praktische Nötigung zu verorten. Dieses anspruchsvolle religionsphänomenologische Konzept führt Lipsius dabei nicht auf eine bestimmte philosophische Schulrichtung zurück.176 Allerdings verdankt sie sich der kantischen „Einsicht in den Begriff der intelligibeln Freiheit im Unterschiede von der empirischen“177 und Schleiermachers Einsicht „von dem spezifischen Unterschiede des religiösen Abhängigkeitsbewusstseins vom Bewusstsein unserer Abhängigkeit in der Welt“178. Was Kant und Schleiermacher für das Verständnis dieser spezifischen Freiheit und Abhängigkeit des menschlichen Geisteslebens auf den Begriff gebracht haben, ist nach Lipsius aber unmittelbarer Gegenstand persönlichen Erlebens. „Um diese Einsicht zu gewinnen, braucht man weder Kantianer noch Hegelianer zu sein, sondern hat nur nöthig, die Augen aufzuthun.“179 Praktische Nötigungen sind mit einem Selbstverständnis als freie Persönlichkeit und dem damit verwobenen Existenzinteresse und Würdegefühl verbunden.180 Ein apologetischer Auf173

A. a. O., 274. A. a. O., 261. 175 Vgl. a. a. O., 275. 176 Vgl. a. a. O., 287. 177 Ebd. 178 A. a. O., 288. 179 Ebd. 180 So reformuliert es der Lipsius-Schüler Hermann Lüdemann treffend, demzufolge Lipsius unter praktischen Nötigungen „doch vornehmlich die ganz ,persönlich‘ geartete an der religiösen Subjektivität haftende, mit ihrem Existenzinteresse und ihrem Würdegefühl un174

2. Eine praktische Wende? – Philosophie und Religion

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weis allgemeinmenschlicher Motive zur Religion kann nach Lipsius weder die praktische Nötigung zur Religion ersetzen oder erzeugen.181 Er kann jedoch nach Lipsius eine Angewiesenheit freien persönlichen Lebens auf Religion aufzeigen. „Dass der Mensch sich als Person nicht wahrhaft behaupten kann ohne sie.“182 Hier steigert Lipsius den Bewährungsanspruch religiösen Lebens. Er soll nicht nur ein möglicher Weg sein, die eigene Persönlichkeit zu behaupten, sondern sie soll sich letztlich als der einzig mögliche Weg erweisen, ein Leben als wirklich freie Persönlichkeit zu führen, wie es Lipsius im Rekurs auf kantische Moraltheologie zu motivieren versucht hat. Diesem apologetischen Plausibilisierungsverfahren stellt Lipsius das indirekte dogmatische Beweisverfahren zur Seite, ausgehend vom religiösen Standpunkt eine einheitliche Weltanschauung zu konstruieren, die sämtliche Erfahrungen des Menschen integrieren kann. „Gemeint ist eine wissenschaftliche Rechtfertigung der christlichen Weltanschauung vor dem Bewusstsein der Gläubigen, sofern diese zugleich wissenschaftlich Gebildete oder doch Denkende sind.“183 Es wird die Vereinbarkeit religiöser Vorstellungen mit dem allgemeinen Wahrheitsbewusstsein dargelegt. Es soll verhindert werden, dass der Glaube dem Wissen widerstreitet.184 Der bisherige Blick hat gezeigt, dass Lipsius zunehmend praktische Argumentationsmuster unter stärkerer Berücksichtigung kantischer Moraltheologie und pragmatische Bewährungsverfahren religiöser Gewissheit in den Vordergrund stellt. Seine wiederholte Grundsatzkritik an metaphysischen Beweisversuchen gibt dieser praktischen Ausrichtung ein theoretisches Fundament. Er partizipiert damit auch sachlich an seiner explizit diagnostizierten allgemeinen Entwicklungstendenz der Theologie seiner Zeit, Religion praktisch als Sache der Persönlichkeitsbewährung aufzufassen. Im irenischen Geist versucht Lipsius primär, die Konvergenzen der theologischen Schulen zu beschwören, Differenzen als Missverständnisse zu entlarven und mit offenbarungstheologischen Mitteln die Positivität seiner liberalen Theologie freier Persönlichkeit unter Beweis zu stellen. Von außen wurden die Hinwendung zum Praktischen oftmals als Annäherung an die Theologie der Ritschl-Schule wahrgenommen und terminologische Annäherungen ließen sich bereits herausstellen. Trotzdem überwiegt auch in Philosophie und Religion eine polemische Auseinandersetzung mit der RitschlSchule, die im Folgenden auf Gemeinsamkeiten und Grenzen beider kantisch ausgerichteter Theologietypen untersucht werden soll.

löslich verwachsende Gegenwart der Ideale in ihrem Geistesleben“ versteht. H L: Das Erkennen und die Werturteile, Leipzig 1910, 156. 181 Vgl. L, Philosophie und Religion, 293. 182 Ebd. 183 A. a. O., 306. 184 Vgl. a. a. O., 307.

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IV. Die Spättheologie 1880–1892

d. Erleben und Erklären – Der Werturteilsstreit mit der Ritschl-Schule Die in Philosophie und Religion erneuerte Kritik an allen Versuchen, die Geltung der Religion metaphysisch zu stützen, sowie die stärker praktische Akzentuierung seiner Theologie mitsamt stärkerer Betonung der Bedeutung des Historischen für den Glauben rücken Lipsius prima facie in große Nähe zur Theologie von Ritschl und Herrmann. In der zunehmend teleologischen und axiologischen Terminologie sowie dem deutlicheren Hervortreten von Motiven kantischer Moraltheologie bei Lipsius zeugt sein Spätwerk von direkten Annäherungen.185 Auf expliziter Ebene überwiegen jedoch wie zuvor kritische bis abweisende Töne. Deutlichstes Beispiel hierfür ist der späte Vortrag Die Ritschl’sche Theologie von 1888. Lipsius würdigt hier zwar die Ritschl-Schule als eine prägnante theologische Richtung seiner Zeit und zollt ihr Anerkennung für eine Popularisierung der Metaphysikkritik in kirchlichen Kreisen sowie der starken Herausarbeitung ethischer Wahrheiten des Christentums.186 Dem stellt er jedoch eine Phalanx von Kritikpunkten entgegen: Er beklagt zweifelhafte Exegesen, Reduktionen der Offenbarung auf göttliche Willenskundgebung, zweifelhafte Kant-Interpretationen, Eingrenzungen der Religion auf teleologisches Bewusstsein, Rückbindungen der Soteriologie an die Ekklesiologie, Ausblendungen mystischer Aspekte der Religion und schließlich dualistische Konzeptualisierungen von Wirklichkeit.187 Die Fülle christlicher Religionsgeschichte werde auf ein dürftiges Substrat von „Gottvertrauen, Berufstreue und allgemeine[r] Menschenliebe“188 reduziert. In alldem versuche die Theologie Ritschls, sich „einen orthodoxen Schein“189 zu 185 Diese Annäherung an Ritschl und Herrmann in Lipsius’ Spätwerk wurde von vielen zeitgenössischen Kommentatoren hervorgehoben. So spricht auch Lüdemann von Konzessionen an die Ritschlsche Theologie, die nicht ausreichend mit den Kontinuitäten seines theologischen Systems vermittelt wurden. Vgl. L, Richard Adelbert Lipsius, 852–855. Pfleiderer nennt die Religionstheorien von Herrmann und Lipsius in einem Atemzug, stellt jedoch ihre Verhältnisbestimmung von Religion und Wissenschaft als bleibende Differenz heraus: „Nach Herrmann und Lipsius beruht die Religion nicht sowohl auf dem allgemeinen Glückseligkeitstrieb, als vielmehr auf dem praktischen Bedürfniss, die sittliche Persönlichkeit und ihren unbedingt werthvollen Zweck gegen den Naturmechanismus zu behaupten mittelst einer ethisch-teleologischen Weltanschauung. Aber während diese praktische Weltbeurtheilung nach Herrmann in keiner Beziehung zur theoretischen Welterklärung steht und sich mit der materialistischen Theorie so gut wie mit der idealistischen verträgt, fordert dagegen Lipsius die Konstruktion einer einheitlichen religiösen Weltanschauung, in welcher auch die Mystik einer realen Gottesgemeinschaft Raum finden soll, auf dem Grunde der praktischen Nöthigungen unserer sittlichen Persönlichkeit.“ O P: Grundriss der christlichen Glaubens- und Sittenlehre als Compendium für Studirende und als Leitfaden für den Unterricht an höheren Schulen, Berlin 61898, 11–12. 186 Vgl. R A L: Die Ritschlsche Theologie. Vortrag, gehalten auf dem Thüringer Kirchentage zu Hildburghausen, in: Ders.: Glauben und Wissen. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Berlin 1897, 321–355, hier 321; 353–354. 187 Vgl. a. a. O., 325–326, 339, 346, 350 und 353. 188 A. a. O., 333. 189 A. a. O., 332. Diese Kritik an Ritschls Moralismus kehrt in Luthers Lehre von der Busse

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geben. Darüber hinaus bestreitet Lipsius die vielfach selbstbescheinigte Originalität der Theologie Rischls.190 In dieser sehr polemischen Besprechung zeigt sich noch einmal deutlich, wie stark sich Lipsius an der Ritschl-Schule abarbeitet und er ihren Aufstieg problematisiert.191 Die daraus hervorgehende Spannung von positioneller Nähe und expliziter Polemik hat Martin Kähler mit der Bezeichnung von Lipsius als „feindliche[r] Zwillingsbruder“192 Ritschls prägnant zum Ausdruck gebracht. Sicher sind auch jene späten Polemiken durch die zuvor beleuchteten persönlichen Streitpunkte zwischen Ritschl und Lipsius beeinflusst. In Philosophie und Religion verfolgt Lipsius jedoch die Nähe und Differenzen zwischen seinem und dem ritschlianischen Theologietyp auf sachliche Differen-

von 1892 wieder. Hier versucht Lipsius in einer aufwendigen Studie zu zeigen, dass die Ritschl-Schule nicht auf dem Boden reformatorischer Theologietradition stehe: Vordergründig versucht Lipsius historisch zu klären, ob Luther eine Priorität der poenitentia evangelica oder eine Priorität der poenitentia legalis vertreten hat. Ritschl und seine Schule – Lipsius untersucht hier Werke von Ritschl, Herrmann, Loofs und Harnack – vertreten, dass der Buße aus der Gesetzeserkenntnis bereits eine Buße aus der Erkenntnis des Evangeliums vorausgeht. Vgl. .: Luthers Lehre von der Busse, in: Jahrbücher für Protestantische Theologie (1892) 18, 161–340, hier 338. Dies versucht Lipsius als unreformatorisch (mit der Ausnahme von Agricola) auszuweisen. Vgl. a. a. O., 174. Zu Agricola vgl. Vgl. a. a. O., 168. Ritschl reduziere den Glaubensbegriff insgesamt auf Willensausrichtung des Menschen. Vgl. a. a. O., 314. Für die reformatorische Dimension von Sünde und Gnade habe die auf Sittlichkeit enggeführte Theologie Ritschls keinen Sinn. Das Urteil von Lipsius ist klar: Die Ritschlsche Theologie und insbesondere ihr Moralismus trennt sie von der reformatorischen Tradition ab. 190 Zentral ist der Hinweis, dass nicht erst Ritschl den Reich-Gottes-Gedanken in das Zentrum der gesamten Theologie gestellt hat. „Nach Andeutungen Hegels ist, um von Theremin abzusehen, hier schon Karl Schwarz vorangegangen, und Referent [sc. Lipsius] hat verwandte Gedanken ausgeführt, lange vor Erscheinen des Ritschlschen Buches.“ D., Die Rischlsche Theologie, 328. Lipsius bezieht sich hierbei vermutlich auf seinen frühen Aufsatz über die Idee des göttlichen Reichs von 1866. D., Die Idee des göttlichen Reichs. Lipsius hat hier unter Bezug auf seinen philosophischen Lehrer Weisse die zentrale Bedeutung des ReichGottes-Gedankens für die gesamte Theologie herausgestellt. Siehe dazu Kap. I.3.b. 191 Die vehemente Kritik Lipsius’ an der Ritschl-Schule wurde von ritschlianischer Seite aus früh als eine Art Neidreflex ausgelegt, da seine liberale Theologie keine vergleichbare Schule hervorbringen konnte. Ritschl selbst hat bereits 1877 Lipsius unterstellt, neidisch auf die Proselyten seiner theologischen Schulrichtung zu sein. Zum Beispiel brieflich am 12.06.1877 gegenüber Harnack: Vgl. A R: Brief an Harnack, 12. Juni 1877, in: Joachim Weinhardt (Hg.): Albrecht Ritschls Briefwechsel mit Adolf Harnack. 1875 – 1889, Tübingen 2010, 153–158, hier 157. So urteilt auch ein Artikel aus der ersten Auflage von Die Religion in Geschichte und Gegenwart von 1912 über Lipsius: „Eine Schule zu begründen gelang dem mannigfache Bestandteile in seiner Theologie vereinenden Systematiker nicht; er empfand den Erfolg der Ritschlschen Schule […] als eine Verdrängung der von ihm vertretenden Theologie und hat zeitweise schwer darunter gelitten. Doch war er unbestrittenes Haupt der Jenaischen Theologie“ P: Art. Lipsius. Richard Adelbert (1830–92), in: Friedrich Michael Schiele u.a. (Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 1909–1913, 2168–2171, hier 2168–2169. 192 K, Geschichte der protestantischen Dogmatik, 263.

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zen innerhalb ihrer jeweiligen Religionstheorien zurück. Diese Verhältnisbestimmung identifiziert den Hauptgegensatz in der Vermittlung religiöser Überzeugung und wissenschaftlichem Welterkennen. Den dabei erhobenen Hauptvorwurf drückt Lipsius später in Die Hauptpunkte der christlichen Glaubenslehre am pointiertesten aus: Während nun aber die Ritschl’sche Schule zwischen dem theoretischen Welterkennen und der sittlich religiösen Gewisheit eine chinesische Mauer aufführt, fordern wir eine einheitliche Weltanschauung, welche das Gesamtgebiet unsrer Erfahrung zu einem Ganzen zusammenzieht. So wenig wie eine doppelte Wahrheit, kann es eine doppelte Wirklichkeit geben193.

Lipsius wirft der gesamten Ritschl-Schule eine radikale Aufspaltung der Wirklichkeit vor, die einem religiösen Menschen ein zwiespältiges Wahrheitsbewusstsein, geradezu ein „Doppelleben“194, abverlangt. Auf der einen Seite stehen die empirischen Erkenntnisse naturwissenschaftlicher Weltzugänge, auf der anderen Seite die erlebte Wirklichkeit des sittlichen und religiösen Lebens. Die RitschlSchule steigere die wertvolle Unterscheidung von Erkennen und Erleben in eine gänzliche Trennung. Beides – so der Hauptkritikpunkt – bleibe nicht nur unvermittelt, sondern der Gegensatz werde zum Teil in einen schädlichen Antagonismus gesteigert: Widersprüchliche Wirklichkeiten sollen zugleich akzeptiert werden.195 Die Begründung dieses entschiedenen Urteils führt ins Zentrum der Religionstheorien Ritschls, Herrmanns und Lipsius’ und gibt Aufschluss über das auch für Lipsius zentrale Konzept des Erlebens sowie dem Streit über das adäquate Verständnis von Werturteilen im Kontext der Religion. So sind es vor allem die neuen Begründungswege und weniger die Resultate der erneuten Auseinandersetzung, die werkbiographisch Aufschlussreiches bieten. Für diese erneute Verhältnisbestimmung von Lipsius steht vor allem der Diskurs mit Herrmann im Vordergrund. Ritschl selbst hat sich nach den Dogmatischen Beiträgen von Lipsius nicht mehr öffentlich explizit zur Theologie von Lipsius geäußert.196 Eine sachliche Verständigung schien ihm offenbar nicht mehr möglich oder nötig. Herrmann hingegen hat sich in Die Religion im Verhältniß zum Welterkennen und zur Sittlichkeit von 1879 für frühere Polemiken entschuldigt, ohne von seinen sachlichen Kritikpunkten an Lipsius’ Theologie abzurücken.197 Dieses frühe Hauptwerk Herrmanns zeugt jedoch von einer anhaltenden Auseinandersetzung mit Kritiken und Thesen Lipsius’ und gibt ihnen viel Raum, 193

L, Die Hauptpunkte der Glaubenslehre, 6. D., Philosophie und Religion, 118. 195 Vgl. ebd. „Nach Herrmann soll es zwei ganz verschiedene Bedeutungen des Wortes ,Wirklichkeit‘ geben.“ A. a. O., 128. 196 Siehe Kap.III.2.a. Gegenüber Herrmann bezeichnet Ritschl Lipsius in einem Brief neben Nippold und der Baur-Schule als ,verlorenen Freund‘. Vgl. A R: Brief an Herrmann, 28. Dezember 1883, in: Christophe Chalamet u.a. (Hg.): Albrecht Ritschl; Wilhelm Herrmann. Briefwechsel 1875 – 1889, Tübingen 2013, 331–333, hier 331. 197 Vgl. H, Die Religion, 7. 194

2. Eine praktische Wende? – Philosophie und Religion

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sodass Lipsius in Philosophie und Religion erneut den Diskurs mit ihm als paradigmatischen Vertreter der Ritschl-Schule sucht. Bestimmendes Thema der gesamten Auseinandersetzung bleibt die unterschiedliche Beurteilung der Bedeutung von Metaphysik in der Theologie. Dabei fungiert die Metaphysikkritik als systematischer Ort für die Diskussion um das Verhältnis der christlichen Religion zur wissenschaftlichen Welterklärung. Bereits in den Dogmatischen Beiträgen hat sich Lipsius deutlich von grundlegenden Motiven der ritschlianischen Metaphysikkritik losgesagt.198 In Philosophie und Religion entwickelt er diese Kritik weiter und verteidigt gegen Ritschl und Herrmann ein begrenztes Recht und eine notwendige Funktion metaphysischer Reflexion innerhalb der Theologie. Gerade in dem Aufbau einer einheitlichen Weltanschauung als Rahmen für die Möglichkeit der Wirklichkeit religiöser Vorstellungen braucht es demnach eine metaphysische Reflexion, also für das dogmatische Plausibilisierungsverfahren der Glaubensgewissheit.199 So sind es gerade die Wirklichkeitsansprüche der Religion, die nach Lipsius metaphysische Reflexion zu ihrem ureigenen Anliegen machen. Dem könne die ritschlianische Theologie aufgrund einer moralistischen und rationalistischen Tiefenstruktur nicht gerecht werden. Blickt man auf Ritschls Verständnis religiöser Weltanschauungsbildung, treten zunächst verbindende Motive der Religionstheorien zwischen ihm und Lipsius zutage: Die religiöse Weltanschauung ist in allen ihren Arten darauf gestellt, daß der menschliche Geist sich in irgend einem Grade von den ihn umgebenden Erscheinungen und auf ihn eindringenden Wirkungen der Natur an Wert unterscheidet. Alle Religion ist Deutung des in welchem Umfang immer erkannten Weltlaufs, und zwar in dem Sinne, daß die erhabene Macht, welche in oder über demselben waltet, dem persönlichen Geist seinen Wert gegen die Hemmungen durch die Natur oder die Naturwirkungen der menschlichen Gesellschaft erhält oder bestätigt.200

Auch Ritschl richtet religiöse Weltanschauungsbildung auf die Behauptung menschlichen Geisteslebens gegenüber der Natur aus. Es geht um die Bildung einer Weltanschauung, die dem Freiheitsanspruch der Person gegenüber den Hemmnissen der Natur gerecht wird. Religion ist „ein Akt der Selbstauslegung des Geistes.“201 Nach Ritschl ist es der Theologie darum zu tun, eine „Gesammt198

Siehe Kap. III.2.b. „Ist auch die Religion nicht selbst in erster Linie eine eigenthümliche Weltanschauung, so kann sie doch nicht ohne eine eigenthümliche Weltanschauung bestehen.“ L, Philosophie und Religion, 126. 200 A R: Theologie und Metaphysik. Zur Verständigung und Abwehr, Schutterwald/Baden 2009, 24. In fast identischem Wortlaut ist diese Bestimmung in Die Lehre von der Rechtfertigung und der Versöhnung von 1883 übernommen. Vgl. .: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Die positive Entwickelung der Lehre, Bonn 2 1883, 17. 201 A  S: Religion als Selbstdeutung des Geistes. Der Religionsbegriff bei Albrecht Ritschl (1822–1889), in: Georg Pfleiderer (Hg.): Die Religion der Bürger. Der Religionsbegriff in der protestantischen Theologie vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 2021, 623–643, hier 634. 199

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IV. Die Spättheologie 1880–1892

anschauung von Welt und menschlichem Leben“202 zu entwickeln, die mit einer Erhabenheit des Menschen über die Natur vereinbar ist. Beiden ist diese Auffassung von religiöser Weltanschauung als wertkonstitutive Deutungsleistung gemein.203 Der trennende Punkt ist die Frage nach der Einbindung philosophischer, metaphysischer und naturwissenschaftlicher Welterklärungsmodelle in diese Deutungsleistung. Nach Ritschl kann es keine Vermittlung von religiöser und philosophisch-metaphysischer Weltanschauung geben. „Denn zu diesen steht eben das Christenthum in Gegensatz.“204 Die Behauptung einer solchen starken Opposition kann als das zentrale Movens von Lipsius’ Kritik der Ritschl-Schule gelten. Ritschl hat in Theologie und Metaphysik von 1881 und Band drei seines Hauptwerks Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung von 1883 seine Metaphysikkritik entfaltet. Er hat dabei keineswegs eine Ablehnung von Metaphysik an sich formuliert. Er hat sie jedoch auf eine Art formeller Erkenntnis enggeführt, die weder den persönlichen Gottesbegriff des Christentums erfassen kann noch von anderer direkter Relevanz für theologische Reflexion wäre.205 Nach Lipsius ist es erst Herrmann, der die Radikalität dieser Motive offenlegt. Er erst steigere Ritschls Antagonismus religiöser und philosophischer Weltanschauung zu einer Aufspaltung der Wirklichkeit. In Die Religion im Verhältniß zum Welterkennen und zur Sittlichkeit versucht Herrmann deutlich zu machen, dass Religion streng vom Welterkennen abzuheben ist.206 Er unterscheidet dafür explizit unterschiedliche Wirklichkeitsbegriffe von Religion und Metaphysik.207 Der dabei in Anschlag gebrachte Realitätsbegriff meint eine Art der Geltung einer Vorstellung für das Bewusstsein und ist daher als Syntheseprodukt eines spezifisch menschlichen Weltzugangs modelliert und nicht als sein gegenüberstehendes Korrelat.208 Der Geltungsmodus der Me-

202

R, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung III 1883, 24. Ritschl hat seine werttheoretischen Überlegungen ab der zweiten Auflage von Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung auf der Basis von Überlegungen Lotzes, Herrmanns und Kaftans entwickelt. Vgl. S, Religion als Selbstdeutung des Geistes, 635. Die reife Ausarbeitung von Ritschls origineller Theorie religiöser Werturteile ist erst in der dritten Auflage seines Hauptwerks von 1888 enthalten. Vgl. M N: Lotze und Ritschl. Reich-Gottes-Theologie zwischen nachidealistischer Philosophie und neuzeitlichem Positivismus (Beiträge zur rationalen Theologie 11), Frankfurt a. M. u.A. 2002, 172. Zu der komplexen Forschungslage um Ritschls Theorie des Werturteils vgl. ., Lotze und Ritschl, 152–156. Lipsius greift primär auf Herrmanns werttheoretische Argumentationen zurück, die er seit seinen Dogmatischen Beiträgen kritisiert. 204 R, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung III 1883, 24. 205 Vgl. a. a. O., 16–17. 206 Vgl. H, Die Religion, 5. 207 Vgl. a. a. O., 111–116. „Das verschiedene Verhältniß beider zum theoretischen Erkennen führt darauf, daß in Metaphysik und Religion ein verschiedener Begriff der Realität gehandhabt wird.“ A. a. O., 91. 208 „Realität bedeutet die Art, wie das Bewußtsein seine Zustände mit einer ihm schon feststehenden Ordnung von Gegenständen in Verbindung bringt; sie ist die Art der Geltung, welche eine Vorstellung für das Bewußtsein hat.“ A. a. O., 37. 203

2. Eine praktische Wende? – Philosophie und Religion

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taphysik wird hier auf der gleichen Ebene wie der des Welterkennens angesetzt, sodass sie als über den Bereich möglicher Erfahrung hinaus verlängerter Arm des Welterkennens und auf Kosmologie enggeführt verstanden wird. Die so verstandene Metaphysik ist dem Welterklären verpflichtet und teilt sich einen Wirklichkeitsbegriff mit naturwissenschaftlichen Erklärungsmodellen. Die Religion hingegen ist auf den Bereich des Erlebens gerichtet, dem ein eigener Wirklichkeitsbegriff zugeschrieben wird. „Wirklich ist hier also nicht das Erklärbare, sondern das, was von dem so in seiner Tiefe erfaßten Selbstgefühl genossen werden kann, das Erlebbare.“209 Mit dem Erleben adressiert Herrmann ein Wertgefühl, das gemeinsam mit dem Willen als Wert-Realisierungs-Vermögen Personen kennzeichnet.210 Es ist ein Selbstgefühl, das den „mit allem Uebrigen unvergleichbare[n] Werth unserer geistigen Bewegungen“211 unmittelbar bewusst macht. Im Wertgefühl konstituiert sich eine Wirklichkeit, die von dem Naturerkennen und aller Metaphysik nicht erfasst werden kann, da sie gerade durch eine kategorial von Naturkausalität unterschiedene Gesetzmäßigkeit bestimmt ist. Das Wertgefühl ist durch ein moralisches Gesetz als Gesetz der Freiheit bestimmt und darin von der Naturgesetzmäßigkeit abgehoben. So vollziehe eine menschliche Person in der Aneignung des Sittengesetzes die Selbstunterscheidung von der Natur.212 Die Wirklichkeit des Erlebens ist hier also sittlich strukturiert und Person-Sein ist durch eine Selbstwertzuschreibung getragen. Eine Psychologie, die sich nicht zugleich als Ethik versteht, taxiert Herrmann vor diesem Hintergrund als „vergleichende Zoologie“213, denn sie muss die Struktur menschlich-personaler Existenz notwendig verfehlen. Ein Vernunftvermögen des Menschen ist demnach erst durch einen sittlich-moralischen Gebrauch etwas, das den Menschen über die Natur und das Tierische im Menschen erhebt.214 Naturkausale Beschreibungsmodelle und der dabei in Anschlag gebrachte Wirklichkeitsbegriff müssen demnach personale Existenz unterbieten. Vor diesem Hintergrund ist auch Herrmanns Metaphysikkritik letztlich moralisch motiviert. Sucht eine Metaphysik, die Wirklichkeit des Welterkennens mit der Wirklichkeit der Sittlichkeit auf einen gemeinsamen Grund zurückzuführen, wird Religion und Moral verneint. Denn beides entstehe gerade aus der Abgrenzung von der Natur. 209

A. a. O., 114. „Wir nennen den Menschen, sofern er nicht nur Bewußtsein hat, sondern in seinem Gefühl Werthe empfindet und in seinem Willen das Vermögen zu besitzen glaubt, vorgestellte Werthe zu realisiren, Person.“ A. a. O., 40. 211 A. a. O., 106. 212 „Dieser Begriff [sc. das Übernatürliche] erlangt positiven Gehalt und innere Wahrheit nur durch die Selbstunterscheidung von der Natur, welche der Mensch in der Aneignung des Sittengesetzes als seines eigenen vollzieht.“ A. a. O., 268. 213 A. a. O., 88. 214 Herrmann zitiert für diese Überzeugung gegen Lipsius gerichtet aus Kants Kritik der praktischen Vernunft: „[D]enn im Werthe über die bloße Thierheit erhebt ihn das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Thieren der Instinct verrichtet“ K, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5,61. 210

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IV. Die Spättheologie 1880–1892

Die Metaphysik, welche den gemeinsamen Grund des Sittlichen und der Naturwelt erkennen will, ist daher nicht nur unsittlich, sondern auch irreligiös; sie bestreitet die Realität des Sittlichen und die absolute Geltung der positiven Religion.215

Lipsius teilt weite Teile dieser Unterscheidung von Erklären und Erleben. Umso entschiedener bestreitet er jedoch die daraus abgeleitete und moralisch motivierte Aufspaltung der Wirklichkeit. Sie ist ihm zufolge nicht notwendig, erstrebenswert oder angemessen. Zunächst gilt auch Lipsius die innere Erfahrung des Menschen – das Erleben – als eine „eigene Gruppe der Wirklichkeit.“216 Wie auch Herrmann bestreitet er, dass sich das menschliche Geistesleben erschöpfend mit naturkausalen Beschreibungsmodellen erfassen lässt. „Selbstbehauptung der Persönlichkeit“217 im Gegenüber der Natur ist auch für Lipsius der Leitbegriff der Religionstheorie. Die damit verbundene Kritik metaphysischer Beweisverfahren in der Religion teilt er ebenfalls. Für ihn ist die Kritik wissenschaftlicher Metaphysik jedoch allein erkenntnistheoretisch und nicht moralisch motiviert.218 Diese Differenz lässt sich letztlich auf ein unterschiedliches Verständnis freier Personalität zurückführen. Während Herrmann Persönlichkeit und die Erhebung des Menschen über die Natur auf eine Selbstwertzuschreibung zurückführt, bezeichnet Lipsius mit dem Erleben eine unmittelbare Gewissheit des eigenen Selbst, die allem bewussten Welt- und Selbstbezug sowie allem Werten und Erklären immer schon konstituierend vorausliegt. Sie ist das „Urdatum aller Wirklichkeit“219. In diesem erlebten Selbstbewusstsein sieht Lipsius bereits eine Selbstunterscheidung von der Natur angelegt, die er auf den Begriff der Freiheit bringen kann, aber als ursprünglich nicht sittlich versteht. Der Persönlichkeitsbegriff kann nach Lipsius nicht werttheoretisch bestimmt werden, da die mit ihm bezeichnete Freiheit menschlichen Geisteslebens alles Werten erst ermöglicht. Das unmittelbare Selbstbewusstsein als Grund von Persönlichkeit verdankt sich nicht einer Selbstwertzuschreibung, sondern geht allen Wert- und Seinsurteilen konstituierend voraus.220 Auf diese Weise adressiert Lipsius eine vorgängige Selbsterschlossenheit freier Subjektivität, die gleichsam als gemeinsame Wurzel von den bei Herrmann getrennten Wirklichkeitsbeschreibungen fungiert. Sie macht die Forderung einer einheitlichen Weltanschauung notwendig. Mit Herrmann unterscheidet Lipsius also zwischen Erklären und Erleben als zwei Geltungssphären, ohne diese Geltungssphären in zwei getrennte Wirklichkeiten übergehen zu lassen. Die Glaubensgewissheit ergibt sich nach Lipsius aus den praktischen Nötigungen, welche sich aus dem Erleben herauskristallisieren

215

H, Die Religion, 269. L, Philosophie und Religion, 113. 217 A. a. O., 121. 218 „Die Abweisung der transcendenten Metaphysik beruht für mich auf wissenschaftlichen, erkenntnistheoretisch gerechtfertigten Erwägungen. Für Herrmann dagegen erscheint sie als eine moralische und religiöse Pflicht.“ A. a. O., 142. 219 A. a. O., 120. 220 Vgl. a. a. O., 129. 216

2. Eine praktische Wende? – Philosophie und Religion

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und auch der Ausbildung von Moral zugrunde liegen.221 Die religiöse Gewissheit ist nach Lipsius für religiöse Menschen so fundamental mit der Selbstgewissheit als freie Persönlichkeit verbunden, dass das eine ohne das andere nicht aufgegeben werden kann.222 Aus dieser Selbstgewissheit durch unmittelbares Erleben ergeben sich dann die Werturteile eines religiösen Bewusstseins, die fest mit dem Selbsterleben verwoben sind. „Wie diese Erlebnisse selbst, so bilden auch jene Urtheile ein Stück seiner persönlichen Existenz, welches es ohne Selbstverzicht nicht aufgeben kann.“223 Ihren Geltungsgrund haben religiöse Werturteile demnach auch bei Lipsius in dem Erleben. Kennzeichnend für religiöse Überzeugungen ist nach Lipsius jedoch auch, dass sich die Gewissheit des Erlebens auf gegenständliche religiöse Vorstellungen überträgt. Religiöser Glaube nimmt Bezug auf eine übersinnliche Realität und setzt diese als wirklich.224 Von sittlich-religiösen Objekten können wir überhaupt nur reden auf Grund innerer Erlebnisse oder Erfahrungen, deren Gewissheit mit der Selbstgewissheit unseres persönlichen Daseins unmittelbar verschmolzen ist und sich von hier aus auf die Objekte überträgt.225

Im Rahmen des Glaubens transformiert sich also das Erleben praktischer Nötigung in die Erfahrung der religiösen Gegenstände selbst. „Erst wo dieser Glaube vorhanden ist, gewinnen die inneren Erlebnisse des sittlich-religiösen Subjekts für dessen Bewusstsein den Charakter von Erfahrungen übersinnlicher Realitäten.“226 Lipsius hat dies früher als unwillkürlichen Syllogismus bezeichnet.227 Auch religiöser Gegenstandsbezug ist in dem menschlichen Selbsterleben fundiert. Glaubensgegenstände und Glaubenserfahrungen setzen, um als wirkliche Realitäten hingenommen werden zu können, die praktischen Nöthigungen des religiös-sittlichen Subjektes als erlebte und empfundene voraus und existiren als Realitäten überhaupt nur für den, welcher diese Nöthigungen in sich erfahren hat.228

Lipsius kritisiert an Herrmann nicht die darin ausgedrückte Geltungstrennung von religiöser und empirischer Gewissheit. Er kritisiert jedoch eine prima facie naheliegende Schlussfolgerung aus diesem Umstand: Die subjektive Bedingtheit religiöser Gewissheit durch eine Gewissheitsbasis im Selbsterleben führt nach Lipsius keineswegs dazu, die Gegenstände religiöser Gewissheit ausschließlich auf eine erlebte Wirklichkeitsdimension zu restringieren.

221

Vgl. a. a. O., 121. Vgl. a. a. O., 130–131. 223 A. a. O., 184. Gegen Ritschls Werturteilstheorie versucht Lipsius deutlich zu machen, dass diese Werturteile, die unmittelbar aus der Selbstgewissheit als freie Persönlichkeit hervorgehen, unabhängig vom etwaigen Lust- oder Unlustempfinden des Menschen sind. 224 Vgl. a. a. O., 122. 225 A. a. O., 125. 226 Ebd. 227 Siehe Kap. II.3. 228 A. a. O., 126. 222

256

IV. Die Spättheologie 1880–1892

Wenn der Glaube jene auf erlebte Nöthigungen hin als real setzt, so meint er damit keine geringere Realität, als die Realität des empirischen Daseins. Gegeben sind auch die Realitäten des Glaubens, wenn es gleich bestimmter sittlich-religiöser Bedingungen bedarf, um sie zu finden.229

Das Erleben wird also von Lipsius als subjektiver Geltungsgrund religiöser Gewissheit herangezogen und zugleich als ein Entdeckungszusammenhang gegenständlicher Wirklichkeitsansprüche. Diese Ansprüche können jedoch unbeschadet ihrer subjektiven Genese auf eine subjektunabhängige Wirklichkeit Bezug nehmen. Wenngleich religiöse Vorstellungen von Lipsius auf Fantasie im Sinne einer konstruktiven Leistung des menschlichen Subjekts zurückgeführt werden, kann es als möglich eingeräumt werden, dass diese menschlichen Konstruktionen Wirklichkeit ergreifen. Wie diese adressierte Wirklichkeit auch beschaffen sein mag; ein solcher Anspruch setzt nach Lipsius voraus, dass er mit dem allgemeinen Wahrheitsbewusstsein des Menschen vereinbar ist, da religiöse Vorstellungen auf keine andere Wirklichkeit Bezug nehmen als auf die Wirklichkeit naturwissenschaftlicher Welterschließung. Für Lipsius ist es also entscheidend, zwischen der Quelle religiöser Gewissheit, der Quelle der konkreten religiösen Vorstellungen des Menschen und dem Bezugsgegenstand religiöser Vorstellungen zu unterscheiden. Wenn das Selbsterleben des Menschen als freie Persönlichkeit als wesentliche Quelle religiöser Gewissheit gefasst wird und die religiösen Vorstellungen menschliche Konstruktionen darstellen, die diese unmittelbare Selbstgewissheit voraussetzen, folgt daraus nicht, dass der Bezugsgegenstand religiöser Vorstellung auf eine subjektive Setzung reduziert werden kann. Die Unterscheidung von Vorstellung und Bezugsgegenstand wird vor allem dann relevant, wenn Lipsius die bleibende Bedeutung der Idee des Absoluten für die Theologie gegenüber Ritschl und Herrmann deutlich macht. Während Ritschl die Idee des Absoluten als einen metaphysischen Götzen bezeichnet und ihn ganz aus der Theologie verbannen will, verweist Lipsius auf seine entscheidende Funktion.230 Mit dem Absoluten ist nach Lipsius der gemeinsame Grund der einen Wirklichkeit bezeichnet, welche sich dem Menschen getrennt in Erleben und Erklären darstellt. Die Konstruktion des Absoluten verdankt sich der Suche nach einem „identischen Grund der sittlichen Welt und der Natur“231, die durch den menschlichen Einheitstrieb motiviert ist. Zwischen der religiösen Vorstellung eines persönlichen Gottes und der metaphysischen Konstruktion des Absoluten besteht auch nach Lipsius eine unaufhebbare Differenz. Nichtsdestoweniger haben sie nach Lipsius den gleichen Bezugsgegenstand.232 Beide Konzepte beziehen sich auf den Grund der Wirklich229

A. a. O., 133–134. Vgl. a. a. O., 135. Die polemische Bezeichnung des Absoluten als ,metaphysischen Götzen‘ hat Ritschl in Theologie und Metaphysik gegenüber der Theologie Franks vorgebracht. R, Theologie und Metaphysik, 42. 231 L, Philosophie und Religion, 116. 232 „So gewiss das Absolute der Metaphysik und der Gott des Glaubens zwei verschiedene 230

2. Eine praktische Wende? – Philosophie und Religion

257

keit. Dabei verdanken sie sich unterschiedlichen Perspektiven, die verschiedene Aspekte des Wirklichkeitsgrunds behaupten. Sie sind nach Lipsius allerdings nicht frei von Überschneidungen. So versucht er, auch in den Theologien Ritschls und Herrmanns Momente des Absoluten nachzuweisen: Eine sittliche Religion bestimmt den Gottesbegriff als einen Garanten für die sittliche Weltordnung und zugleich für die Möglichkeit der Verwirklichung des sittlichen Zwecks. Dafür wird Gott als „allmächtiger, zwecksetzender und zweckdurchsetzender Wille“233 bestimmt. Diese Zuschreibungen implizieren jedoch nicht nur ein teleologisches Verhältnis von Gott und Welt, sondern zugleich auch ein kausales.234 Weder Ritschl noch Herrmann bestreiten dieses Kausalverhältnis.235 Eine kausal modellierte Allmacht Gottes ist auf die Idee des Absoluten als gemeinsamen Grund von Natur und sittlicher Welt angewiesen. Für die Konstruktion einer einheitlichen Weltanschauung muss sich also die Zusammenbestehbarkeit beider Konzepte durch wechselseitige Kritik entwickeln lassen.236 Nach Lipsius versteigen sich Herrmann und Ritschl aufgrund berechtigter Motive, wie die Unabhängigkeit religiöser Gewissheit von metaphysischer Beweisführung oder der bleibenden Differenz zwischen religiöser Gottesvorstellung und dem Absoluten, zu einer zu weitreichenden Trennung zwischen der naturkausal beschreibbaren Wirklichkeit und einer religiös-sittlichen Wirklichkeit. Gerade Herrmann verfechte „zwischen der rein theoretischen und der sittlichreligiösen Weltanschauung eine unübersteigliche Kluft.“237 Für ihn wäre demnach ein theoretischer Erweis der Unmöglichkeit religiöser Überzeugung unerheblich. Lipsius hingegen käme ein solcher Erweis der Unvereinbarkeit von Glauben und Wissen einer Auflösung der Religion gleich.238 Sofern alle Werthurtheile ein Seinsurtheil einschliessen, führen sie aus der ,Welt der Werthe‘ immer wieder auf die Welt des Seienden zurück, für deren Auffassung uns keine anderen Mittel zu Gebote stehen, als die Formen des theoretischen Erkennens.239

Werthe sind, so kann darum doch das Objekt, auf welches beiderlei Aussagen sich beziehen, beidemale dasselbe sein.“ A. a. O., 140. 233 A. a. O., 156. 234 Vgl. a. a. O., 157. 235 Vgl. a. a. O., 161. Lipsius bezieht sich auf folgende Stellen: Vgl. H, Die Religion, 331, und vgl. R, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung III 1883, 201. 236 Als vermeintliches Gegenbeispiel aus der Ritschl-Schule geht Lipsius noch auf Die Lehre von der Gottheit Christi von Hermann Schultz ein, welche versucht, eine Lehre von den göttlichen Eigenschaften ganz aus der im Gottesreich offenbaren Liebe heraus zu entwickeln. Vgl. L, Philosophie und Religion, 162. Gerade hierbei werde jedoch die Unverzichtbarkeit metaphysischer Konzepte in der religiösen Gotteslehre deutlich. 237 A. a. O., 165. 238 „Meinem Glauben wäre dagegen die Erkenntniss, dass sein ganzer Inhalt auf leerer Einbildung beruhte absolut tödtlich.“ A. a. O., 166. 239 A. a. O., 195–196.

258

IV. Die Spättheologie 1880–1892

Daher ist es für Lipsius entscheidend, die ontologischen Implikationen religiöser Vorstellung mit dem menschlichen Wissen auch der Naturwissenschaften zu vereinbaren; „auf lauter Werthurtheile lässt sich keine Weltanschauung begründen.“240 Auch eine religiöse Rede, die aus praktischen Nötigungen hervorgeht, trifft Seinsurteile.241 So lässt sich sein Hauptvorwurf urteilstheoretisch reformulieren. Der Fehler der Ritschl-Schule ist demnach eine schroffe Abgrenzung von Werturteilen und Seinsurteilen.242 Lipsius versucht dagegen deutlich zu machen, dass die für die Religion entscheidenden Werturteile Seinsurteile implizieren.243 In Werturteilen ist demnach immer auch ein Wirklichkeitsanspruch mitgesetzt.244 Werturteile haben eine ontologische Dimension, die es bei der Bildung einer einheitlichen Weltanschauung einzubeziehen gilt.245 Da diese ontologische Di240 A. a. O., 170. Als vermeintlichen Bundesgenossen in dieser Ritschl-Kritik aus der Ritschl-Schule geht Lipsius auf Julius Kaftan ein. Denn Kaftan weist darauf hin, dass die Geltung von Werturteilen auf ihrer objektiven Wahrheit basiert. Vgl. a. a. O., 173. Allerdings zeigt Lipsius, dass Kaftan unter einem Erweis der objektiven Wahrheit von Werturteilen wiederum nur ihre „praktische Zweckmässigkeit“ (Vgl. a. a. O., 181) versteht. 241 „Ein solches Seinsurtheil ist, auch wenn es auf praktische Nöthigungen des Subjektes hin gefällt wird, ein ,theoretisches‘ Urtheil, welches auf seine logische Richtigkeit hin geprüft werden muss.“ A. a. O., 168. 242 So votiert auch der Lipsius-Schüler Max Scheibe: Vgl. M S: Die Bedeutung der Werturteile für das religiöse Erkennen, Halle 1893, 87–89. Eine spätere systematische Aufarbeitung der Werturteilsdebatte hat Lüdemann vorgelegt, die einen eigenständigen Standpunkt entfaltet, der jedoch auch Seinsurteil-Implikationen der Werturteile das Wort redet. Vgl. L, Das Erkennen und die Werturteile. 243 Dass auch Ritschl von Seinsurteilimplikationen der Werturteile ausgeht, führt Max Reischle gegenüber der Kritik von Lipsius an. Nach Reischle sind sich Lipsius und Ritschl in diesem Punkt letztlich einig. Vgl. R, Lipsius und seine dogmatische Arbeit, 197. Der entscheidende Differenzpunkt ist jedoch, dass Lipsius eine Vermittlung aller Seinsurteile mit dem empirischen Wirklichkeitswissen fordert. Zumindest in den Folgerungen aus dem Seinsurteilstatus der Werturteile scheiden sich die theologischen Grundlegungen bei Ritschl und Lipsius also. 244 Friedrich Traub führt Lipsius’ Kritik der Werturteilstheorie Ritschls auf ein Missverständnis zurück. Lipsius übersehe einen Doppelsinn des Werturteilsbegriffs. Einerseits könne ein Werturteil ein auf der Basis einer Wertempfindung gefälltes Seinsurteil meinen, das eine separate theoretische Reflexion und Begründung erfordert. Andererseits könne Werturteil ein Urteil über den Tatbestand eines Wertempfindens meinen, das als Sein im Werturteil immer schon vorhanden ist. So ist zum einen ein Sein adressiert, das unabhängig vom Wertempfinden nicht vorhanden ist, und zum anderen keiner anschließenden theoretischen Reflexion bedarf oder zugänglich ist. Lipsius unterstelle Ritschl und Herrmann ersteres, während beide zweiteres vertreten. Vgl. T, Grundlegung und Methode der Lipsiusschen Dogmatik, 489–490. Traub trifft Lipsius’ Kritikpunkt jedoch nicht, da es Lipsius um die Vermittlung des in Werturteilen behaupteten Seins mit der empirischen Erfahrungswirklichkeit zur Weltanschauung einer Wirklichkeit zu tun ist. Für Lipsius’ Forderung ist die von Traub eingeforderte Unterscheidung nicht relevant. 245 Nach dem Urteil Lüdemanns ist Lipsius’ Abgrenzung gegenüber moralisierenden Tendenzen bei Ritschl von höchster Bedeutung. Lüdemann betont, dass Lipsius’ Religionsverständnis eine Freiheit des Menschen fokussiert, die immer auch ontologische Implikationen hat. „Trotz der Aehnlichkeit zwischen beiden Begriffsbestimmungen erhellt aber auf den

2. Eine praktische Wende? – Philosophie und Religion

259

mension nach Lipsius auf die gleiche Wirklichkeit Bezug nimmt, wie auch das empirische Welterkennen, müssen die Seinsurteil-Implikationen der religiösen Werturteile mit den Erkenntnissen naturwissenschaftlicher Wirklichkeitserschließung vereinbar gedacht werden.246 Anhand des Begriffspaars Erleben und Erklären zeigen sich also deutliche Nähen und Differenzen zwischen Lipsius und Herrmann, die Lipsius immer zugleich als Differenzen zu Ritschl versteht. Während für Lipsius die Plausibilität erlebter Wirklichkeit von seiner Vermittelbarkeit mit Wirklichkeitserklärungen abhängt, bleibe Erklären und Erleben – so der Hauptvorwurf gegenüber der Ritschl-Schule – unvermittelt. Diese Differenz verfolgt Lipsius in Philosophie und Religion zurück auf ein unterschiedliches Verständnis von Persönlichkeit. Während Herrmann sie aus einer Selbstwertzuschreibung hervorgehen lässt, bestimmt Lipsius sie als eine allem Werten und Erklären vorausgehende erlebte Selbsterschlossenheit freier Subjektivität. Diese Differenz zwischen Herrmann und Lipsius lässt sich in Philosophie und Religion weiter auf eine unterschiedliche Auslegung kantischer Freiheitsphilosophie zurückverfolgen.

e. Metaphysik der Freiheit – Herrmanns und Lipsius’ Freiheitsverständnis Mit Herrmann und Lipsius stehen sich zwei Theologien gegenüber, die beide mit guten Gründen dem theologischen Neukantianismus zugeordnet werden können. In Philosophie und Religion wird dies deutlich, wenn Lipsius Herrmanns und seine Aneignung des kantischen Freiheitsbegriffs gegenüberstellt. Es zeigt sich, dass beide sich stark auf die kantische Freiheitsantinomie und ihre kritische Auflösung aus der Kritik der reinen Vernunft beziehen.247 Die daraus resultierende ersten Blick, daß für Lipsius die ethische Qualität und Bestimmung des Menschen nicht in der Isolirung wie für Ritschl inbetracht kommt, welcher sie losgerissen von jedem erkennbaren Zusammenhang mit der sonstigen Wesenheit des Menschen als creatürlichen Geistes wie einen förmlichen Rechtstitel des Menschen auf Hülfe von Gott in seinem Religionsbegriff wirken läßt. Selbstverständlich ist auch für Lipsius die Erreichung der ,Freiheit zum Guten‘, der materiellen Freiheit das höchste Ziel, aber der Mensch erreicht es auf dem Wege einer Entwicklung seines geistigen Seins überhaupt aus dem Zustande der Naturbestimmtheit heraus, und erkennt in dieser seiner Entwicklung eine Befreiungstat Gottes, auf dessen Gnade er sich in seiner von ihm demütig erkannten absoluten Abhängigkeit angewiesen weiß. nach dieser Fassung des Religionsbegriffs liegt dem religiösen Verhältnis nicht blos eine geistigethische Beziehung, sondern zugleich als ihre Basis eine ontologische, eine metaphysische Beziehung zwischen dem Menschen und Gott zugrunde.“ L, Richard Adelbert Lipsius, 855. Lüdemann weist hier bereits darauf hin, dass Lipsius’ kritisches Festhalten an der Metaphysik gegenüber Herrmann und Ritschl auf seinem Verständnis religiöser Freiheit beruht. 246 Für Herrmann ist diese Forderung einer Vermittlung religiöser Weltanschauung mit den Ergebnissen moderner Wissenschaften bei Lipsius ein Rückfall in eine scholastischapologetische Methode, die auf eine unzureichende Auseinandersetzung mit Kant zurückzuführen sei. Religiöse Erkenntnis erscheine so nur als menschliche Konstruktion und verdanke sich kirchlicher Weltbeherrschungsinteressen. Vgl. H, Die Religion, 8–13. 247 Die Bezeichnung Freiheitsantinomie bezieht sich auf Der Antinomie der reinen Vernunft

260

IV. Die Spättheologie 1880–1892

Trennung von Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit bestimmt ihr Denken und lässt Plausibilisierungen religiöser Gewissheit auf der Basis praktischer Vernunft in den Vordergrund treten.248 Zugleich schlägt sich die bereits herausgestellte unterschiedliche Verhältnisbestimmung von Erklären und Erleben in gegensätzlichen Auslegungen der kantischen Freiheitsantinomie und letztlich unterschiedlichen Freiheitskonzepten nieder. Diese Abgrenzung ist für das Verständnis von Lipsius’ freiheitszentrierter Theologie von immenser Bedeutung, da er hier Aufschluss über seine bisweilen eigenwillige Kantlesart gibt, die sein dynamisches Verständnis der menschlichen Erhebung über die Natur unterstreicht. Der Ausgangspunkt der unterschiedlichen Kantlesarten bei Lipsius und Herrmann ist die geteilte Einsicht in die theoretische Unerklärlichkeit der Freiheit. „Für blos theoretisches Erkennen existirt keine Freiheit.“249 Dabei steht zunächst das kantische Konzept transzendentaler Freiheit im Hintergrund, welches „eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen“250, meint. Transzendentale Freiheit bezeichnet ursprünglich bei Kant die Annahme nicht selbst naturkausal determinierter Anstöße für naturkausale Ereignisreihen. Sie ist auch nötig, um freien Persönlichkeiten das Vermögen zuzuschreiben, autonom in der Welt zu wirken. Eine solche Kausalität aus Freiheit kann allerdings unmöglich Teil menschlicher Erfahrungswirklichkeit sein, da für sie keine Wahrnehmungsmöglichkeit besteht.251 Die Erscheinungswelt des Menschen ist nach Kant durch die geschlossene naturkausale Struktur gekennzeichnet, sodass in ihr keine undeterminierten Anfänge von Ereignisreihen denkbar sind. In der Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft hat Kant vor diesem Hintergrund auf eine Antinomie des transzendentalen Freiheitsbegriffs hingewiesen, die zeigt, dass eine naturkausale Erklärung transzendentaler Freiheit die Freiheit unmöglich machen würde. Vielmehr muss für die Denkbarkeit der Freiheit eine nicht naturkausal erfassbare Wirklichkeitsebene angenommen werden. Diese kann Kant mit seiner Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich einführen. Wenngleich die Erfahrungswirklichkeit durchgehend als Natur im Sinne eines geschlossenen naturkausalen Nexus beschrieben werden muss, bleibt eine andere Perspektive auf die Wirklichkeit dadurch offen, dass von den menschlichen Anschauungs- und Denkformen abstrahiert wird. Neben den Phaenomena der Erfahrungswelt können die Noumena adressiert werden. Wird diese Unterscheidung auf den Men-

dritter Widerstreit der transzendentalen Ideen aus der Transzendentalen Dialektik. Vgl. K, Kritik der reinen Vernunft, A 444–451/B 472–479. 248 Dies kann als eine breitere Tendenz neukantischer Theologie im späten 19. Jahrhunderts angesehen werden. Vgl. F W: Aspekte der Rezeption Kantischer Metaphysik – Kritik in der evangelischen Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie (1985) 27, 25–41, hier 26. 249 L, Philosophie und Religion, 145. 250 K, Kritik der reinen Vernunft, A 446/B 474. 251 Vgl. a. a. O., A 451/B 479.

2. Eine praktische Wende? – Philosophie und Religion

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schen angewendet, kann ein empirischer und ein intelligibler Charakter des Menschen unterschieden werden.252 In seinem intelligiblen Charakter als Noumenon kann dem Menschen die Möglichkeit transzendentaler Freiheit zugeschrieben werden, wenngleich sein empirischer Charakter keinen Beweis für sie erlaubt. Lipsius erkennt in der Unterscheidung von dem Noumenon und Phaenomenon „eine Art von metaphysischer Lösung“253 der Freiheitsantinomie. Herrmann hingegen lehnt es grundsätzlich ab, Freiheit als spekulatives Problem aufzufassen. Diese strengere Ablehnung einer metaphysischen Reflexion der Freiheit bei Herrmann geht auf das Bemühen zurück, die Freiheit des Menschen auf einer anderen kategorialen Ebene zu halten als naturwissenschaftliche Reflexion. Dabei steht erneut die Unterscheidung und Trennung von erklärbarer und erlebbarer Wirklichkeit im Hintergrund. Metaphysische Reflexion versuche – nach Herrmanns Begriffsverständnis – die kategoriale Trennung beider Wirklichkeiten einzureißen, indem sie die gesamte Wirklichkeit über die Grenzen der Erfahrung und damit über die Grenzen der Berechtigung naturwissenschaftlicher Kategorien hinaus als erklärbare Wirklichkeit erschließt.254 Mustergültig werde dies in der Suche nach einem gemeinsamen Grund von Natur und Freiheit. Herrmann lehnt also die metaphysische Behandlung des Freiheitsbegriffs ab, da sie die menschliche Freiheit mit unangemessenen kategorialen Mitteln adressiert und so gefährdet. Freiheit ist als nur erlebbare Wirklichkeit dem Naturerkennen und den Beziehungsbegriffen des Verstandes unzugänglich. „Die eigentliche Grenze des Naturerkennens ist die lebendige Person selbst, welche auf Grund eines Gefühls ihre Realität behauptet und das Erkennen als Mittel für ihre Zwecke verbraucht.“255 Auch Lipsius geht – gegen die kantische Vorlage – von einem unmittelbaren Bewusstsein transzendentaler Freiheit beim Menschen aus.256 Entsprechend seinem von Herrmann abweichenden Erlebensbegriff ist dieses jedoch anders mit erklärbarer Wirklichkeit zu vermitteln. Herrmann schreibt dem Selbsterleben eine Wertstruktur zu.257 Nach Lipsius liegt das Selbsterleben dem Werten voraus.

252

Vgl. a. a. O., A 539/B 567. L, Philosophie und Religion, 146. 254 Vgl. C H: Freiheit aus Glauben (Theologische Bibliothek Töpelmann 157), Berlin/Boston 2012, 63–64. 255 H, Die Religion, 47. 256 Vgl. L, Philosophie und Religion, 147. 257 „Im Gegentheil entsteht uns der Gedanke des sittlichen Sollens erst mit dem Bewusstsein unserer transcendentalen Freiheit und hat ohne das letztere gar keinen praktischen Werth. Das Sittengesetz ist ja selbst der Freiheit eigenes Gesetz.“ Ebd. Herbst hat die Wertstruktur des Selbstgefühls als erstes Merkmal der erlebten Selbstgewissheit des Menschen herausgearbeitet. Vgl. H, Freiheit aus Glauben, 46. Das Erleben ist demnach eine vorreflexive Gewissheit eines unendlichen Werts der eigenen Existenz. Als zweites Merkmal nennt Herbst die Ausrichtung allen menschlichen Wollens auf Selbsterhaltung und schließlich drittens ein Totalitätsmoment der erlebten Selbstgewissheit. Im Erleben ist sich der Mensch demnach als ein holistisches Selbst gewiss. 253

262

IV. Die Spättheologie 1880–1892

Herrmann trennt die erlebte Freiheit kategorial vom Naturgeschehen ab und lehnt Übergangsmomente beider Beschreibungsebenen programmatisch ab. Lipsius fragt demgegenüber nach Übergangsmomenten von Natur und Freiheit. Für Lipsius ist es eine sinnvolle Frage, wie der Mensch aus seinem natürlichen Leben heraus in den Stand der Freiheit versetzt werden kann. Seine Rede von der menschlichen Freiheit als Erhebung über die Natur drückt gerade dieses dynamische Moment aus, das einen Übergangsprozess vom natürlichen Zustand hin zu einem erhobenen Zustand der Freiheit insinuiert. Einen solchen Übergang findet Lipsius durch das kantische Konzept praktischer Freiheit vorbereitet. Kant hat bereits in der Kritik der reinen Vernunft dem transzendentalen Freiheitsbegriff einen Begriff praktischer Freiheit zur Seite gestellt, der eine vernünftige Willensbestimmung unabhängig von sinnlichen Antrieben meint.258 Diese „praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden“259, schreibt Kant selbst. Lipsius erkennt darin in sehr eigenwilliger Rezeption einen Übergangsbegriff für die empirisch mitbestimmte Genese menschlicher Unabhängigkeit des Willens. Die empirische oder wie Kant auch sagt, praktische Freiheit ist eine werdende Unabhängigkeit des Willens, eine allmähliche Entwickelung aus der Naturbestimmtheit zur Selbstmacht, welche in jedem einzelnen Akt und in der gesammten Kette des empirischen Verlaufes causal bestimmt ist.260

Lipsius kann demnach von einer natürlich beschreibbaren Entwicklung der menschlichen Gewissheit des Sittengesetzes „aus der Naturgestalt des Willens“261 ausgehen. Ein Prozess des menschlichen Freiheitsgewinns lässt sich hinsichtlich des empirischen Charakters eines Menschen naturkausal beschreiben, argumentiert Lipsius weiter.262 So verwirklicht sich der intelligible Charakter des Menschen in seinem empirischen, wenn sein empirisches Handeln einem moralischen Sollen entspricht.263 Der empirisch beschreibbare Prozess der Aneignung moralischer Gesetze und deren Umsetzung im konkreten Handeln gleicht nach Lipsius also einem Einbildungsprozess des intelligiblen Charakters eines Menschen in seinen empirischen. Ein solcher Verwirklichungsprozess transzendentaler Freiheit in der empirischen Wirklichkeit widerstrebt nach Lipsius einer gänzlichen Trennung von erlebter und erklärbarer Wirklichkeit. Damit will er deutlich machen: Ein Dualismus der Wirklichkeit kann demnach gerade nicht aus der kantischen Freiheitskonzeption abgeleitet werden. „Die empirische Freiheit trägt in ihrem Werden den Charakter der Nothwendigkeit. Sie erscheint als werdende mit ihrem Gegensatze behaftet.“264 Diese Verwobenheit vom empirischen und intel258

Vgl. K, Kritik der reinen Vernunft, A 802/B 830. Ebd. 260 L, Philosophie und Religion, 150. 261 A. a. O., 148. 262 Vgl. ebd. 263 Vgl. a. a. O., 149–150. 264 A. a. O., 150. 259

2. Eine praktische Wende? – Philosophie und Religion

263

ligiblen Charakter im tatsächlichen sittlichen Freiheitsvollzug ist für Lipsius ein schlagendes Beispiel, wie eine naturkausale und eine teleologischen Betrachtung zusammenbestehen können.265 Lipsius übernimmt von Kant also einen freiheitstheoretischen Kompatibilismus, den er zugleich als Kompatibilität und wechselseitige Angewiesenheit von naturkausalen und teleologischen Erklärungsmustern begreift.266 Wesentlicher Bestandteil dieses Kompatibilismus ist die These, dass die transzendentale Freiheit des Menschen und mit ihr sein intelligibler Charakter nicht Teil der Natur im Sinne eines naturkausalen Nexus ist.267 Vielmehr kann sie als erfahrungstranszendenter Gegenstand als ein „metaphysisches Objekt“268 gelten. Der intelligible Charakter des Menschen, sein Pflicht- und Schuldbewusstsein, sein Streben nach sittlichen Idealen sind freilich keine ,empirischen Facta‘, aber darum doch Realitäten, Thatsachen des menschlichen Geisteslebens, welche darum nicht minder wirklich sind, weil sie vom causalen Erkennen nur in ihrer empirischen Erscheinung im geschichtlichen Leben der Menschheit und im subjektiven Selbstbewusstsein des Individuums aufgewiesen, aber niemals empirisch abgeleitet werden können.269

Für den intelligiblen Charakter des Menschen bleibt die Erklärungsgrenze naturkausaler Beschreibungsmuster bestehen, der nichts anderes als der über die eigene Natur erhabene persönliche Wille ist.270 Der empirische und intelligible Charakter des Menschen bildet nach Lipsius jedoch keinen Dualismus. Beides ist aufeinander bezogen. Beides kann Ausdruck der Erhebung des Menschen über seine Natur werden. Eine Weltanschauung, die mit der transzendentalen Freiheit des Menschen rechnet, kann daher nicht gänzlich auf eine metaphysische Reflexion der Verwirklichung transzendentaler Freiheit in der empirischen Wirklichkeit verzichten. Denn im Handeln kann sich der intelligible Charakter nur in und durch das natürliche Geschehen realisieren, das immer naturkausalen Gesetzen folgt. Ueber seine Naturbestimmtheit in diesem Sinne kann und soll sich der persönliche Geist im praktischen Handeln erheben; über das ,naturgesetzliche Geschehen‘ kann er sich niemals praktisch, sondern nur theoretisch erheben, wenn er den Gedanken der intelligiblen Freiheit vollzieht.271

Weil freies Handeln und mit ihm die Verwirklichung von Moral nur in der natürlichen Welt vollzogen werden kann, ist die Forderung einer einheitlichen Weltanschauung auch für ein sittliches Selbstverständnis entscheidend. Daher kann keiner gänzlichen Unabhängigkeit von Sittlichkeit, Religion und Welterkennen

265

Vgl. ebd. Vgl. ebd. 267 Vgl. a. a. O., 152. 268 A. a. O., 154. 269 Ebd. 270 Vgl. a. a. O., 149. 271 A. a. O., 153. 266

264

IV. Die Spättheologie 1880–1892

das Wort geredet werden. Vielmehr ist die Naturerkenntnis eine wichtige Voraussetzung dafür, frei in der Natur zu handeln. Mit diesen Überlegungen bietet Lipsius weniger eine ausgefeilte Argumentation für eine Natur und Freiheit vereinende Metaphysik, sondern versucht erläuternd, seinen Standpunkt gegenüber Herrmann zu konturieren. Sittlich verstehbares Handeln in Zeit und Raum ist ihm ein schlagendes Beispiel für die Wirklichkeit einer Freiheit, die in ihrem Kern naturkausaler Beschreibungen entzogen bleibt und sich doch nur durch die Natur hindurch realisiert. Die kantische Philosophie fungiert dabei für Lipsius zum Teil als Fundament seines Denkens, wie sein grundlegend-kompatibilistischer Zugriff auf das Freiheitsproblem zeigt. Zum Teil ist sie jedoch lediglich Stichwortgeber für eigenständige Überlegungen, wie die Rekonstruktion praktischer Freiheit als Übergangsbegriff von transzendentaler Freiheit in die Wirklichkeit deutlich macht. Um die Plausibilität dieser Fortbildung kantischer Freiheitstheorie zu ermessen, verbleiben die Ausführungen in Philosophie und Religion zu sehr auf der Ebene von Andeutungen. Zudem muss auch das von Herrmanns Freiheitstheorie gezeichnete Bild bei Lipsius, wenngleich es sich auf Spitzensätze aus Herrmanns Werk beziehen kann, fraglich bleiben. Auch bei Herrmann ist klar, dass der Mensch im Interesse seiner Handlungsmacht ein Naturerkennen braucht. Deutlich geworden ist jedoch, dass Herrmann die Unableitbarkeit der Freiheit aus der Natur in den Vordergrund stellt. Wenngleich Lipsius dieser beistimmt, ist er jedoch stärker darum bemüht, die Freiheit als einen dynamischen Prozess der Befreiung zu denken. Dabei ist ein immer wieder neu zu gewinnender Übergang von Natur und Freiheit zu denken, der keiner Ableitung der Freiheit aus der Natur gleicht, allerdings die Ebenen von Natur und Freiheit gleichsam näher zusammenrückt. Für seine Religionstheorie insgesamt ist dieses Freiheitsverständnis zentral, da die religiöse Erhebung zur intelligiblen Freiheit ebenfalls als ein immer wieder neu zu vollziehender Prozess der Befreiung zu fassen ist. Das religiöse Erleben, Vorstellen und Denken der intelligiblen Freiheit in schlechthinniger Abhängigkeit zu Gott ist demnach ein Prozess innerer Erhebung über die Naturkausalität eines an die Naturkausalität gebunden bleibenden endlichen Menschen. Sie ist Voraussetzung eines freien Verhaltens gegenüber der Natur, das allerdings immer in die Grundvoraussetzungen natürlicher Situiertheit und Bedingtheit eingebunden bleibt. Vor diesem Hintergrund motiviert Lipsius erneut gegenüber der Ritschl-Schule, dass die religiösen Vorstellungen und Gewissheiten mit dem menschlichen Naturerkennen vermittelt werden müssen, da die Religion ein Freiheitsgeschehen des ganzen Menschen ist, dessen Erkennen und Erleben zu einer umfassenden einheitlichen Weltanschauung synthetisiert werden müssen. Neben dieser erneuten Betonung einer Hauptdifferenz zeigt die erneute Auseinandersetzung mit der Ritschl-Schule in Philosophie und Religion auch, wie weitreichend sich durch Lipsius’ Betonung einer empirisch-praktischen Wende Konvergenzen seines Denkens mit einer ritschlianischen Stoßrichtung ergeben. Beide Theologietypen stellen ein – auch bei Lipsius inzwischen explizit – kantisch orientiertes Freiheitsverständnis ins Zentrum der Theologie. Beide setzen den

3. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893

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Persönlichkeitsgedanken ins Zentrum der Religionstheorie. Religion soll sich praktisch bewähren und Sittlichkeit ist der zentrale systematische Ort der Plausibilisierung religiöser Gewissheit. Die sich auf diesem gemeinsamen Boden ergebende Alternative theologischen Neukantianismus’ lässt sich ausgehend von Philosophie und Religion auf eine stärker realistische Stoßrichtung, auf eine nachhaltigere Prägung durch Grundmotive klassischer deutscher Philosophie und schließlich auf eine deutlich schwächere Opposition gegenüber metaphysischer Reflexion in der Theologie bei Lipsius zurückführen. Der Realismusanspruch zeigt sich in dem Festhalten starker Korrelationen zwischen menschlichen Erkenntnisformen und Wirklichkeitsstrukturen. Entsprechend schreibt Lipsius auch religiösen Weltdeutungen einen starken Wirklichkeitsanspruch zu, der immer eine Zusammenbestehbarkeit religiöser Vorstellungen mit dem gesicherten Erfahrungswissen erfordert. Von dieser Stoßrichtung her kann auch das Drängen auf eine stärkere Vermittlung von Natur und Freiheit verstanden werden. Die stärkere Prägung durch klassische deutsche Philosophie zeigt sich vor allem in der subjektivitätstheoretischen Fassung des Persönlichkeitsbegriffs, der bei Lipsius eine Selbsterschlossenheit freier Subjektivität meint, welche allem Werten und Erkennen vorausliegt. Dies schlägt sich zugleich in dem Festhalten an einer Metaphysik der Freiheit und der Weltanschauung nieder. Mit den Mitteln der Metaphysik lässt sich nach Lipsius zwar niemals die Wirklichkeit religiöser Vorstellung beweisen, aber ihre Möglichkeit vor dem Hintergrund allen gesicherten Weltwissens lässt sich metaphysisch verteidigen. In seiner erneuten Auseinandersetzung mit Biedermann stärkt Lipsius diesen Anspruch sogar gegenüber seiner früheren Position, indem er in einer Metaphysik der Grenzbegriffe, die formelle Notwendigkeit der Ergänzung unseres Erfahrungswissens durch Konzepte des Unbedingten herzuleiten, beansprucht. Der von Lipsius diagnostizierte Mangel an vergleichbarer metaphysischer Rahmenreflexion bei der Ritschl-Schule lasse sie gerade in moralistische und damit letztlich rationalistische Fahrwasser abgleiten. „Der Ritschlsche Standpunkt ist also formaler Positivismus, materieller Rationalismus.“272 Denn über die sittliche Wirksamkeit hinausgehende Wirklichkeitsansprüche bleiben aus oder unvermittelt mit menschlichem Weltwissen. In diesem Festhalten an einer ontologischen Wirklichkeitsdimension der religiösen Gewissheit besteht die Grenze von Lipsius’ praktischer Wende.

3. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893 Mit der dritten Auflage vom Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik von 1893 hat Lipsius ein letztes umfassendes Zeugnis seines theologischen Denkens gegeben. Das von Ernst Troeltsch als „standard work“273 gewürdigte Werk

272 273

D., Die Rischlsche Theologie, 347. T, Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 52.

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IV. Die Spättheologie 1880–1892

ist die reifste Gestalt seiner Dogmatik und zugleich auch eine Summe der Einzelarbeiten von Lipsius’ später Theologie ab 1880.274 Trotzdem lässt sich die neueste Redaktion seines Hauptwerkes weniger als Abschluss, sondern vielmehr als Etappe einer Denkbewegung bestimmen, die Fragment geblieben ist. Aufgrund des plötzlichen Todes von Lipsius im August 1892 konnte er die Arbeiten an der dritten Auflage nicht abschließen. Die weit fortgeschrittenen Vorarbeiten hat Otto Baumgarten – zu diesem Zeitpunkt Professor für Praktische Theologie in Jena – als enger Vertrauter der letzten Lebensjahre von Lipsius durch die Herausgabe der dritten Auflage zu einem Abschluss gebracht. Baumgarten berichtet darin von dem drängenden Arbeitseifer, den Lipsius in die Überarbeitung investiert hat. Er ist ihm klarer Ausdruck einer Distanz, die Lipsius zu der früheren Gestalt seiner Dogmatik eingenommen hat. Ein Eindruck, den er durch Verweis auf das Testament Lipsius’ erhärten kann, das darüber verfügt, keine früheren Schriften als Philosophie und Religion von 1885 für eine postume Redaktion und Herausgabe seiner Dogmatik zu berücksichtigen.275 So bilden sich in der dritten Auflage all die Tendenzen der theologischen Neuakzentuierung ab, die sich in Aufsätzen und Studien der späten Theologie bereits andeuten. Baumgarten spricht von einer Annäherung an frühe Herrnhuterische Jugendimpressionen und das theologisch-positive Umfeld des Evangelischen Bundes bei gleichzeitiger Treue zur liberalen Grundhaltung.276 Das daraus erwachsene und spannungsreiche Amalgam positiver und neukantisch fundierter liberaler Theologie – berei274 Anders urteilt Arno Neumann, der für Innovationen in der Christologie und Bibliologie der dritten Lehrbuch-Auflage Ansatzpunkte in vorausliegenden Publikationen bestreitet. Vgl. N, Grundlagen und Grundzüge der Weltanschauung von R. A. Lipsius, 79. Unten wird exemplarisch anhand der Christologie gezeigt werden, wie weitreichend hier Lipsius zum Beispiel seine Überlegungen aus Die Bedeutung des Historischen im Christentume von 1881 umsetzt. 275 Vgl. R A L: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik, Braunschweig 31893, 11. 276 Vgl. a. a. O., 9. In seiner Autobiografie Meine Lebensgeschichte unterstreicht Baumgarten diese Wahrnehmung Lipsius’ später Theologie durch persönliche Erinnerungen: „Lipsius, der seine gelehrte Überlegenheit als führender Forscher in altchristlicher Religionsgeschichte, als religionsphilosophischer Systematiker von umfassender Orientierung auf den Grenzgebieten der Philosophie, der Naturwissenschaft, der Psychologie mir gegenüber nie drückend wirken ließ, begegnete sich mit mir in dem positiv-christlichen Interesse. Das spürbar alterndem doch ungemein rege und besonders religiös empfängliche Haupt der Jenaer Schule kehrte zu der Liebe seiner Kindheit zurück, zu der alles um die Person Christi konzentrierenden Christlichkeit der weitherzigen Herrnhuter. Für meinen verehrten Lehrer Biedermann hatte der strenge, konsequente Kantianer mit seinem Verzicht auf eine reine Metaphysik unpersönlicher Prinzipien nichts übrig, noch weniger freilich für die Ritschlsche Theologie der religiösen Werturteile; im Übrigen bemühte er sich mit der Milde des Alters Brücken zu schlagen nach rechts und nach links. […] Und so entwickelte sich ein schönes Vertrauensverhältnis, das seinen vollen Ausdruck nach Lipsius’ allzufrühem Tode 1892 in der Übertragung der Fürsorge für seinen literarischen Nachlaß an mich fand. Meine Einleitung zur 3. erheblich umgearbeiteten Auflage der Dogmatik Lipsius’ ist ein Denkmal unserer Freundschaft geworden.“ O B: Meine Lebensgeschichte, Tübingen 1929, 93.

3. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893

267

chert aus den Diskursen vorwiegend mit Biedermann und der Ritschl-Schule – versucht, weite Teile der theologiegeschichtlichen Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts in einen originellen Gesamtentwurf zu überführen. Das Ausbleiben einer Lipsius-Schulbildung mag prima facie nahelegen, dass dieser Versuch nicht nur äußerlich Fragment geblieben ist. Auch zeitgenössische Stimmen erkennen in der dritten Auflage größtenteils Lipsius’ alten liberalen Standpunkt, der lediglich in einem neuen Ton präsentiert wird.277 Die eingehendste Studie zur letzten Auflage von Lipsius’ Dogmatik stammt aus der Feder von Troeltsch.278 Er erkennt in der Dogmatik gegenüber ihren früheren Auflagen vor allem substantielle Fortbildungen im Bereich der Religionsphilosophie und Christologie.279 Unter den zahlreichen geringfügigen Redaktionen und Anreicherungen mit weiterer Literatur zeigen sich in diesen Bereichen auch tatsächlich die weitreichendsten Eingriffe in die Textbasis früherer Auflagen.280. Die Neufassung der theologischen Grundlegung setzt vorrangig die in Philosophie und Religion herausgearbeiteten Präzisierungen innerhalb des Hauptwerks um und bietet damit die reifste Gestalt der freiheitstheologisch ausgerichteten Religionstheorie von Lipsius. In der Christologie hingegen schlägt sich besonders die positive Neuakzentuierung seiner Theologie nieder, die nun die stärkere Betonung der Bedeutung des Historischen im Christentum umsetzt. Hier grenzt sich Lipsius explizit von einer als liberal bezeichneten Richtung christologischer Lehrbildung ab. Neufassung der Religionstheorie und der Christologie können so paradigmatisch für die beiden Stoßrichtungen der Spättheologie von Lipsius stehen. Im Folgenden sollen daher die neuen Akzente beider Teile von Lipsius’ Hauptwerk herausgestellt werden. 277

Heinrich Holtzmann erblickt in der dritten Auflage von Lipsius ein „Unionswerk“ (H, Die neue Auflage der Lipsius’schen Dogmatik, 486), das zwischen zerstrittenen theologischen Schulen eine Vermittlung sucht. Zwar sieht er dafür einen kirchlicheren Ton in das Werk von Lipsius einziehen, aber keinen wirklichen ,Frontwechsel‘. Auch Max Reischle zeigt sich skeptisch gegenüber der Annahme, dass sich ein deutlicher theologischer Wandel in der dritten Auflage niederschlage. „Man wird in der That zugeben müssen, dass wir in dem erneuerten Werk kaum einen leitenden Gedanken finden, der nicht auch in den früheren Auflagen irgendwo in das Gedankengewebe eingewoben wäre.“ M R: Rez. Lipsius, † Geh. Kirchenr. Prof. D. Rich. Adb., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik. 3. bedeutend umgearb. Aufl., in: Theologische Literaturzeitung (1896) 2, 41–47, hier 41. Georg Runze beurteilt die dritte Auflage als monumentales Lehrgebäude, aus dem hervorgehe, „dass Lipsius im Grossen und Ganzen seinem früheren Standpunkte vollkommen treu geblieben ist.“ G R: Rez. Richard Adelbert Lipsius, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik. Dritte, bedeutend umgearbeitete Auflage, in: Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie (1894) 37, 473–477, hier 474. 278 Dazu siehe Kap. V. 3. 279 Vgl. T, Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 39. 280 Ein ausformuliertes Verzeichnis der Abwandlungen zwischen Auflage zwei und drei hat Otto Baumgarten der dritten Auflage vorausgeschickt. Vgl. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, XIII–XXXIV. Daher wird hier auf eine vergleichbar umfassende Feststellung individueller Überarbeitungen zugunsten eines exemplarischen Blicks auf übergreifende Tendenzen der erneuten Redaktion verzichtet.

268

IV. Die Spättheologie 1880–1892

a. Transzendentale Erlebenstheologie – Die Überarbeitung der Religionstheorie Die aufwendigsten Überarbeitungen und Neustrukturierungen von Lipsius’ Hauptwerk zeigt die dritte Auflage in den Prolegomena. Sie arbeitet großteils die Erträge der Spättheologie in sein Hauptwerk ein. Dabei gehen hohe Kontinuität der grundlegenden Systematik Hand in Hand mit den spättheologischen Neuakzentuierungen, die größere Nähe zur positiven Theologie, zu Biedermann und zur Ritschl-Schule offenlegen. Grundlegend ist zunächst eine Reformulierung der systemarchitektonisch prägenden Doppelperspektivität von Lipsius’ Theologie. Sie versucht, empirisch fundierbare Aussagen über Religion und die christlichen Glaubensinhalte einerseits von spekulativen Aussagen frommer Glaubenserfahrung andererseits klar zu trennen und doch in ein dialogisches Verhältnis wechselseitiger Kritik und Ergänzung zu setzen. Dies korrespondiert der seit der Formierungsphase für Lipsius zentralen epistemischen Unterscheidung von Glauben und Wissen, welche von einem kritischen Standpunkt aus zu treffen ist. Insbesondere in der Religionstheorie äußert sich diese Perspektivendifferenz in dem Nebeneinander von psychologischen Erklärungen und metaphysischen Deutungen der Religion. Religion wird so einerseits als nahezu eudämonistisches Bedürfnis des Menschen beschrieben, die Kontrasterfahrung von ideeller Freiheit und natürlicher Abhängigkeit gegenüber der Welt aufzuheben, und andererseits im Rahmen einer Religionsdogmatik als Wirken des göttlichen Geistes im Menschengeist ausgelegt. Das spannungsreiche Verhältnis beider Perspektiven hat erhebliche Kritik auf sich gezogen.281 Gegenüber diesen Kritiken hat Lipsius insbesondere in den Aufsätzen von 1880/81 versucht, die Doppelperspektivität seines theologischen Denkens und den damit repräsentierten kritischen Standpunkt begrifflich präziser zu fassen.282 In der dritten Auflage seiner Dogmatik hat Lipsius nach entscheidender Vorarbeit in Die Hauptpunkte der christlichen Glaubenslehre von 1889 seinen kritischen Standpunkt in die Unterscheidung einer empirisch-kausalen und einer praktisch-teleologischen Perspektive überführt. Die Dogmatik hat demnach die „Aufgabe, die wissenschaftliche oder empirisch-causale und die religiöse oder transcendental-teleologische Weltbetrachtung ebensowol reinlich auseinander zu halten, als auch wiederum als die beiden Seiten derselben Sache aufeinander zu beziehn.“283 Neu ist daran nicht die Doppelperspektivität, sondern die neue Ak-

281 Troeltsch spricht vor dem Hintergrund der Kritiken bei Biedermann, Dorner, Herrmann u.a. bezüglich dem Nebeneinander einer Erklärung aus menschlichen Bedürfnissen und einer Rückführung auf göttliches Wirken der Religion von Widersprüchen zwischen ,wissenschaftlicher Phänomenologie‘ und ,unwissenschaftlichem Mysterium‘. Vgl. T, Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 41. 282 Siehe Kap. III.1. 283 L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 18.

3. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893

269

zentuierung ihres nicht-empirischen Teils. Die empirische Perspektive steht nach wie vor für das wissenschaftliche Sagbare im Sinne einer kausalen Beschreibung raum-zeitlicher Prozesse innerhalb des Bereichs möglicher Erfahrung inklusive der auf zeitlich strukturierte intramentale Kausalitäten ausgerichteten Religionspsychologie. Die davon abgegrenzte Ebene spekulativer Aussagen wird nun in größerer Nähe zur Ritschl-Schule als praktisch-teleologische Beschreibungsebene bestimmt.284 Sie ist damit ganz auf die Adressierung einer praktischen Sinndimension zugespitzt, welche die Wirklichkeit als Mittel zur Verwirklichung von Zwecken begreift, und liegt damit auf der Linie Lipsius’ praktischen Religionsverständnisses. Sie thematisiert die gleiche vorher empirisch adressierte Wirklichkeit, indem sie durchgehend in Beziehung zur freien menschlichen Persönlichkeit gesetzt wird.285 Diese relationale Fassung der nicht-empirischen Beschreibungsebene unterstreicht, dass es in ihr nicht um eine andere Wirklichkeit geht, sondern um eine andere Perspektive auf die eine Wirklichkeit. Beide Perspektiven sind nach Lipsius nicht aufeinander reduzierbar. Die kausale Wirklichkeitssphäre der Natur und die teleologische Wirklichkeitssphäre der Freiheit laufen allerdings in menschlichen Subjekten zusammen. Weil sich beide Perspektiven ihren Ausgang beim Subjekt nehmen und „für uns auf die Einheit des persönlichen Ich“286 gründen, ist die Vermittlung beider Perspektiven in einer einheitlichen Weltanschauung nötig und möglich. Die Beantwortung der Frage, wie jedoch beide Perspektiven zu vermitteln sind, versucht Lipsius in der Überarbeitung seiner Religionstheorie klarer herauszustellen. Die Neufassung der Religionstheorie zeigt sich zunächst in einer feineren Gliederung.287 Bemerkenswert ist dabei die Aufspaltung der Religionspsychologie in die beiden Abschnitte Die empirische Erscheinung der Religion und Der psychologische Vorgang in der Religion sowie die Aufspaltung der dogmatischen Religionstheorie in Das metaphysische Wesen der Religion und eine nun eigenständige

284 Dass Lipsius die praktisch-spekulativen Momente seines theologischen Systems als teleologische zuspitzt, kann als eine zumindest terminologische Annäherung an die Theologie der Ritschl-Schule bewertet werden. Früher war Lipsius hier in der Abgrenzung zur RitschlSchule deutlich stärker bemüht, teleologische Beschreibungen der Dogmatik als ethische Reduktionen christlicher Glaubensinhalte zu bewerten. Siehe Kap. III.2.b. Seine Kritik an einer Reduktion christlicher Glaubensgehalte auf teleologische Momente bleibt jedoch bestehen. Die teleologischen Aussagen gilt es immer auch auf ihre Vereinbarkeit mit den „gesicherten Ergebnissen der theoretischen Wissenschaft“ (., Die Hauptpunkte der Glaubenslehre, 8) zu prüfen und sie können ihnen gegenüber nicht für unabhängig erklärt werden. 285 Vgl. a. a. O., 7. 286 A. a. O., 6. 287 Die vier Abschnitte Ursprung und Wesen der Religion, Der dogmatische Religionsbegriff: Religion und Offenbarung, Das religiöse Erkennen und Die Geschichte der Religion aus der zweiten Auflage werden nun in sieben Abschnitte aufgeteilt: 1. Die empirische Erscheinung der Religion, 2. Das metaphysische Wesen der Religion, 3. Der psychologische Vorgang in der Religion, 4. Das religiöse Erkennen, 5. Die religiöse Gemeinschaft, 6. Die Offenbarung und 7. Die Geschichte der Religion.

270

IV. Die Spättheologie 1880–1892

Behandlung der Offenbarung. Außerdem ist ein Abschnitt zu Die religiöse Gemeinschaft ergänzt. Die neue Gliederung der Religionspsychologie hebt die Frage nach den menschlichen Motiven zur Ausbildung der Religion von der Untersuchung des Auftretens der Religion im menschlichen Bewusstsein ab. Hinsichtlich des Ursprungs der Religion arbeitet Lipsius nun schärfer heraus, dass er Religion als Antwort auf eine menschliche Grundsituation von anthropologischer Reichweite versteht, nicht jedoch als eine anthropologische Konstante. „Hiermit ist nicht behauptet, dass die Religion mit physischer oder metaphysischer Notwendigkeit überall aus dem menschlichen Geistesleben hervorgehe, wohl aber dass die Zumuthung zur religiösen Erhebung irgendwie bei allen Menschen sich geltend mache.“288 Die Grundmotivation – oder ,Zumuthung‘ – zur Religion erkennt Lipsius weiterhin in der Grundspannung menschlichen Lebens zwischen endlicher Naturbestimmtheit, den Momenten relativer Abhängigkeit, und seinem Streben nach freier Selbstbehauptung, den Momenten relativer Freiheit.289 Aus dieser Spannung erwächst die praktische Nötigung, die Spannung durch eine Erhebung zur unendlichen Freiheit mittels einer transzendenten Macht über dieses Wechselspiel endlicher Abhängigkeit und endlicher Freiheit aufzuheben. Religion setzt ein, wenn sich auf dieser Basis das religiöse Verhältnis von Gott und Mensch im deutenden Erleben des Menschen bildet.290 „Die Religion ist in erster Linie ein persönliches Verhältnis, in welchem der Fromme sich zu seinem Gott weiss“291. Während sich die menschlichen Motive zur Ausbildung eines religiösen Verhältnisses empirisch durch die Analyse der menschlichen Grundsituation und daraus hervorgehenden Selbstbehauptungsinteressen greifen lassen, entzieht sich nach Lipsius der Vollzug des religiösen Verhältnisses der empirischen Beschreibungsebene. Weder die zentrale Rede von einer transzendenten Macht noch das Erleben einer unendlichen Freiheit lassen sich mit empirisch-kausalen Formen erfassen. Den Übergang der Beschreibungsebenen initiieren die beiden Konzepte des Bewusstseins schlechthinniger Abhängigkeit und des Bewusstseins freier persönlicher Selbstbeziehung auf diese persönliche Macht.292 Entsprechend schließt ein Abschnitt über Das metaphysische Wesen der Religion an, der eine metaphysische Dimension der Religion herausstellt. Unter dem metaphysischen Wesen der Religion gibt Lipsius nun seine formelhafte Bestimmung der Religion als Freiheitsgeschehen wieder, wie er sie in der ersten Auflage seiner Dogmatik noch als psychologischen Gehalt der Religion gefasst hat. „Ihrem metaphysischen Wesen nach ist daher die Religion die Erhebung über die empirische Abhängigkeit in der Welt zur intelligibeln Freiheit

288

D., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 25. Vgl. ., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1879, 30. 290 Vgl. ., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 33. 291 Ebd. 292 Vgl. a. a. O., 34. 289

3. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893

271

über sie in der transcendentalen Abhängigkeit von Gott.“293 In der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott erfährt und erlangt der Mensch zugleich eine Freiheit über die Welt. Beide, diese spezifische Abhängigkeit und die Freiheit, haben einen überempirischen, intelligiblen und transzendenten Charakter.294 Diese Eigenschaften machen sie zu metaphysischen Gegenständen gerade in dem Sinne, dass sie sich naturkausaler Beschreibungsformen entziehen. „Diese unsre intelligible Freiheit ist also eine metaphysische Realität.“295 Durch diese herausgestellte Klassifizierung unterstreicht Lipsius nun stärker die Notwendigkeit metaphysischer Reflexion des religiösen Freiheitsgeschehens. „Der letzte Schlüssel zur Erklärung des religiösen Phänomens kann also nur ein metaphysischer sein.“296 Sie überschreiten den Bereich möglicher Erfahrung, aber sind in dem Selbsterleben menschlicher Subjektivität präsent.297 So können sie nur Gegenstand subjektiver und nicht objektiver Erkenntnis sein. Diese Begrenzung ist immer vor dem Hintergrund des für Lipsius entscheidenden Doppelsinns subjektiver Erkenntnis zu verstehen: Hiermit [sc. subjektiver Erkenntnis] ist nicht blos die subjective Bedingtheit der religiösen Erkenntnis gemeint, denn dies gilt von der wissenschaftlichen irgendwie auch […], sondern dieses, dass das religiöse Erkennen seinem Wesen nach ein Selbsterkennen, ein Wissen um uns selbst in einer bestimmten Relation des Objectes auf das menschliche Selbstbewustsein ist.298

Im Gegenzug zu einer Auffassung von subjektiver Erkenntnis als bloßer Privation valider objektiver Erkenntnis gewinnt Lipsius ihr einen positiven Eigensinn als Selbsterkennen ab, das in Bezug auf das Subjektive privilegiert gegenüber objektivierenden Erkenntnisformen ist. Darüber hinaus schreibt Lipsius menschlicher Selbsterkenntnis eine relationale Struktur zu. Sie ist Erkenntnis einer Relation zwischen einem Gegenstand und freier Persönlichkeit. Die teleologische Beschreibungsebene fasst diese Relationen als Wert- und Zweckrelationen. So ist beispielsweise mit der Rückführung menschlicher Freiheit auf einen göttlichen Grund zugleich eine Aussage über die Bestimmtheit menschlichen Lebens hin zu diesem freien Persönlichkeitsleben mitgesetzt. Auf diese Weise wird das menschliche Selbst- und Weltverhältnis im Lichte eines Gottesverhältnisses bestimmt und bewertet. Religion als subjektive Erkenntnis hat demnach zwar einen göttlichen Horizont, aber handelt vom Menschen:

293

A. a. O., 43. Vgl. a. a. O., 42. 295 A. a. O., 40. 296 A. a. O., 43. 297 Für die für Lipsius’ Theologie entscheidende Unterscheidung von Erfahrung und Erleben vgl. die Auseinandersetzung mit Herrmann: Siehe Kap. IV. 2.d. 298 A. a. O., 57. Diese deutlichere Herausstellung des Doppelsinns subjektiver Erkenntnis stellt eine der wenigen Eingriffe in die sonst nur geringfügig überarbeitete religiösen Erkenntnistheorie in der dritten Auflage von Lipsius’ Dogmatik dar. Für die doppelte Bedeutung von subjektiver Erkenntnis bei Lipsius siehe auch Kap. II.4. 294

272

IV. Die Spättheologie 1880–1892

In erster Linie handelt es sich in der Religion um den Menschen selbst; an den religiösen Aussagen ist er selbst mit seinem Wohl und Wehe persönlich betheiligt und dieser seiner persönlichen Betheiligung unmittelbar gewis. Das religiöse Wissen des Menschen um Gott ist ein Sich-Wissen um seine Beziehung auf Gott, kurz subjective oder persönliche Gewisheit.299

Die religiösen Aussagen sind demnach subjektive Aussagen über das freie Persönlichkeitsleben, insofern es sich als ein Gottesverhältnis versteht. Vor diesem Hintergrund konkretisiert sich das ,Metaphysische‘ der Religion. Sie ist als ein Freiheitsgeschehen nicht naturkausal determiniert. Freiheit ist eine metaphysische Realität im Selbsterleben des Menschen. Religion legt dieses Freiheitsgeschehen als Gottesverhältnis aus und erkennt dadurch in Gott den Grund menschlicher intelligibler Freiheit. Wenngleich Lipsius im Kern der Religion ein nur dem Selbsterleben zugängliches Freiheitsgeschehen ausmacht, lassen sich die daraus erwachsenden Bewusstseinsprozesse der Religion religionspsychologisch beschreiben. In Der psychologische Vorgang in der Religion werden daher religiöse Vorstellungen, Gefühle und Willensantriebe auf erkennbare Strukturmomente befragt.300 Religion wird in dieser Hinsicht als Verbindung einer zuständlichen Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins als Gefühl und einer Vorstellung als Akt bildender Fantasie bestimmt.301 Diese vermögenstheoretischen Überlegungen betonen die wechselseitige Angewiesenheit von Gefühl und Fantasie. Gefühl ist nie ohne ein aktivisches Bilden der produktiven Anschauungskraft des Menschen im Bewusstsein präsent. Im Gegenzug ist auch alles aktivische Werk der Fantasie in der Religion nicht willkürliches Spiel, sondern Darstellung einer „unwillkürliche[n] Erregung des religiösen Triebes“302. Die religiöse Vorstellungsbildung verbindet aktivische und passivische Momente. In dieser Konzeption sieht Lipsius eine Möglichkeit, zwischen den Positionen Schleiermachers und Hegels zu vermitteln.303 Damit ist jedoch die vorreflexive Unmittelbarkeit von Schleiermachers Gefühlsbegriff preisgegeben.304 Schleiermacher lässt den Denkact erst auf die Gefühlsbestimmtheit folgen, Hegel die Gefühlsbestimmtheit den Denkact nur begleiten. In Wirklichkeit kann man das Eine wie das Andere sagen. Jede religiöse Anschauung kann schon ein unwillkürlicher Denkact heissen305.

Dass die Eingrenzung von Religion auf subjektive Erkenntnis keineswegs als ein religiöser Individualismus zu verstehen ist, hebt Lipsius in der dritten Auflage mit 299

A. a. O., 58. A. a. O., 46. 301 Vgl. a. a. O., 53. 302 A. a. O., 54. 303 Vgl. I, Religiöser Trieb und frommes Gefühl, 733. 304 Dies hat Korsch in Bezug auf Pfleiderers vergleichbarer Gefühlskonzeption herausgestellt. Vgl. K, Religionsbegriff und Gottesglaube, 109. 305 L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 54. 300

3. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893

273

dem neuen Abschnitt Die religiöse Gemeinschaft deutlicher hervor. Es zeigt, wie sich Religion immer auch als „objektive Religion“306 ausprägt. Wenngleich seine Religionstheorie auf das Geistesleben freier Persönlichkeit konzentriert ist und er Religion sowohl in religionspsychologischer Perspektive als auch in seiner metaphysischen Theorie des religiösen Verhältnisses am Ort menschlicher Subjektivität zur Darstellung bringt, hat Religion immer Anteil am menschlichen Gemeinschaftsleben und ist durch es bedingt. Den Offenbarungsbegriff reformuliert Lipsius in der dritten Auflage eigenständiger. Mit ihm bezeichnet Lipsius weiterhin primär das Handeln des göttlichen Geistes, durch welches er sich dem Menschen als wirksam zeigt. Gott ist also nicht nur Subjekt, sondern zugleich auch Objekt aller Offenbarung; sie ist Selbstoffenbarung Gottes.307 Dieses selbstoffenbarende Handeln Gottes im Menschen setzt Lipsius mit dem menschlichen Religionsvollzug numerisch identisch. Religion selbst wird so aus der Perspektive der Frömmigkeit als Wirken Gottes ausgelegt.308 Für die Auslegung der Religion als Wirken des göttlichen Geistes im Menschengeist werden die beiden Grundmomente religiösen Lebens, das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit und die freie persönliche Bezugnahme auf Gott, selbst auf Gottes Wirken zurückgeführt. In nach wie vor eigenwilliger Anlehnung an die Unterscheidung Rothes teilt Lipsius Offenbarung entsprechend in das Moment der Erregung des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls – der Manifestation – und die Erregung religiöser Aktivität – die Inspiration – auf. Er wendet diese Unterscheidung nun jedoch entschiedener gegen supranaturalistischen Wunderglauben.309 Offenbarungsglaube ist nicht die religiöse Aufladung einzelner naturkausaler Erscheinungen, sondern die Auslegung einer metaphysischen Dimension persönlicher Freiheit. Entsprechend will Lipsius den Wunderbegriff in einem Doppelschritt auf das Mysterium der Religion als das Mysterium menschlichen Erlebens intelligibler Freiheit engführen. Zunächst grenzt er dazu den christlichen Wunderglauben auf Jesus Christus ein:

306

A. a. O., 80. Vgl. a. a. O., 90. 308 Vgl. a. a. O., 92. 309 Siehe Kap. II.3. Diese bereits aus der ersten Auflage bekannte aber eigenwillige RotheRezeption wird von Lipsius in der dritten Auflage näher erläutert. Bereits in der ersten Auflage hat Lipsius eine supranaturalistische Wendung der Unterscheidung von Inspiration und Manifestation bei Rothe kritisiert. Vgl. ., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1876, 49. Daher transformiert er diese Unterscheidung in seine eigene Unterscheidung von Frömmigkeit und Glauben, indem er die wirksame Präsenz Gottes in Natur und Geschichte – kurz die Manifestation – ganz als Erregung des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit bestimmt. Vgl. ., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 98. Die innere Selbstbekundung des göttlichen Geistes im menschlichen Geist – kurz die Inspiration – wird hingegen ganz auf die Anregung religiöser Aktivität des Menschen zugespitzt. Davon verspricht sich Lipsius eine bessere Abgrenzung der rotheschen Unterscheidung vom supranaturalistischen Wunderglauben. 307

274

IV. Die Spättheologie 1880–1892

Für den christlichen Glauben ist das Wunder schlechthin die geschichtliche Persönlichkeit Jesu Christi, weil diese Persönlichkeit als solche in ihrem geschichtlichen Auftreten für die christliche Gemeinde die Bedeutung der vollkommenen göttlichen Offenbarung hat.310

Kurz darauf kann Lipsius jedoch das religiöse Freiheitsgeschehen der Erhebung über die Natur im religiösen Verhältnis als das eigentliche im umfassenden Sinne religiöse Wunder ausweisen. Die innerliche Erhebung des menschlichen Geisteslebens über seine endlich-natürliche Bestimmtheit hinaus zu einem dieser gegenüber wesentlich übernatürlichen Bewustseinsgehalte durch den dem Gläubigen unmittelbar, Geist in Geist, sich beurkundenden Gott ist daher das religiöse Wunder im strengsten Sinne, dessen Zustandekommen im Menschengemüth allen anderweiten wirklich religiösen Wunderglauben überhaupt erst ermöglicht, dessen eigne Möglichkeit aber unmittelbar mit der Realität des religiösen Verhältnisses steht und fällt.311

Das Wunder der Erhebung des Menschen über die Natur in seiner schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott zu einer unendlichen Freiheit kommt daher als das eigentliche religiöse Mysterium in Lipsius’ Theologie zum Stehen. Von ihr hängt die Plausibilität des Glaubens ab. Der allgemeine Offenbarungsbegriff bleibt also bei Lipsius der zentrale Begriff für die geheimnisvolle Wirklichkeit des religiösen Verhältnisses, wie sie aus der Perspektive der Frömmigkeit in der menschlichen Freiheit erlebt werden kann. Auch hier zeigt sich noch trotz aller positiven Neuakzentuierung der Spättheologie bei Lipsius, dass er in einem allgemeinen religionstheoretischen Offenbarungsbegriff die Grundlage für die christliche Rede von einer historischen Offenbarung in Jesus Christus erkennt, was insbesondere für die Beurteilung der neuen Christologie unten relevant ist. Zentral für religiöse Gewissheit ist eine allgemeine Struktur des religiösen Verhältnisses, die als Ineinander von Freiheitserleben und seiner Auslegung als göttliches Wirken im Menschen zu fassen ist. Gerade in diesem Ineinander gewinnt Lipsius’ religionstheoretische Grundlegung seiner Dogmatik ihr eigentümliches Profil als Verschränkung von einer Phänomenologie religiösen Erlebens und einer transzendentalphilosophischen Reflexion der Möglichkeitsbedingungen menschlicher Freiheit. Diese methodische Verschränkung bringt Lipsius in der dritten Auflage klarer zum Ausdruck: Die Frage nach der Objectivität des religiösen Verhältnisses […] ist […] nur dadurch zu beantworten, dass sie in dem empirischen Geistesleben des Menschen ein überempirisches Element aufweist, welches auf einem transcendentalen (d. h. über die Erscheinungswelt hinausführenden) Verhältnisse beruht. Aber auch dieses überempirische Element beurkundet sich immer erst in gewissen praktischen, religiösen und sittlichen Nöthigungen, welche nur erlebt, nicht wissenschaftlich erklärt werden können.312

310

A. a. O., 102. A. a. O., 106. 312 A. a. O., 9. Werner Elert hat in seiner theologiegeschichtlichen Würdigung von Lipsius darauf hingewiesen, dass Lipsius trotz seines Kantianismus nicht ein kantisches Konzept des 311

3. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893

275

Demnach soll die psychologische Beschreibung als Phänomenologie menschlichen Bewusstseins auf diejenigen Momente hinweisen, die über eine empirische Beschreibungsebene hinausweisen und die Lipsius als das Metaphysische adressiert. Von diesen Momenten her wird die Annahme eines transzendenten Grunds menschlichen Bewusstseinslebens denknotwendig, auf den auch die religiösen Vorstellungen rekurrieren. Entscheidend ist, dass die metaphysischen Momente Teil einer Phänomenologie des religiösen Erlebens sind und nicht einem Deduktionsverfahren entspringen. Dabei rechnet Lipsius tatsächlich mit einem unerklärlichen Kern im menschlichen Freiheitsvollzug, der in der Religion als Mysterium und Wunder angesprochen wird und die Anwendung eines allgemeinen religionstheoretischen Offenbarungskonzeptes auf das menschliche Geistesleben erlaubt. Es wird religiöses Freiheitserleben einerseits als ein Faktum menschlichen Geisteslebens adressiert und andererseits religiöse Zentralgehalte, wie beispielsweise der Gottesgedanken, als Möglichkeitsbedingung des erlebten Faktums motiviert. Lipsius verbindet also eine Theologie des religiösen Erlebens mit demjenigen, was Troeltsch Postulaten- und Bedürfnistheologie nennt.313 Lipsius hält daran fest, dass die Geltung religiöser Gehalte nicht bewiesen werden kann, jedoch können sie verteidigt und motiviert werden, indem sie als Grund der in der Religion als wirklich erlebten Freiheit modelliert werden. Die Neufassung der Religionstheorie in der dritten Auflage von Lipsius’ Dogmatik zeigt demnach weitestgehend den früheren Standpunkt von Lipsius, der jedoch in größerer Klarheit herausgearbeitet ist und dabei die zentralen Pointen aus Philosophie und Religion integriert. Es kann als eine Annäherung an Biedermann gesehen werden, dass Lipsius den metaphysischen Charakter des religiösen Freiheitsgeschehens auch begrifflich stärker als solchen herausstellt. Terminologisch liegt die teleologische Akzentuierung der nicht-empirischen Perspektive auf Religion der Ritschl-Schule näher. Einschübe unterstreichen zudem die christologische Fundierung des religiösen Wunders der Erhebung über die Natur. Entscheidend für den folgenden Blick auf die Neufassung der Christologie ist jedoch das Festhalten an der geltungslogischen Priorisierung eines allgemeinen Offenbarungsbegriffs, der als Voraussetzung des spezifisch christlichen Offenbarungsbegriffs eingeführt wird. Von hier aus stellt sich erneut die Frage, wie Lipsius diese freiheitstheologisch fokussierte Religionstheorie mit seiner stärkeren Betonung des christlichen Glaubens an eine historische Offenbarung in Jesus Christus vermitteln kann.

Transzendentalen verwenden kann. Vgl. E, Der Kampf um das Christentum, 269. Die knappe Erläuterung in Klammern im Zitat oben zeigt deutlich, dass Lipsius einen vergleichbar unspezifischen Gebrauch von „transzendental“ macht, der lediglich etwas bezeichnet, das über die Erscheinungswelt hinausführt und sich kaum wesentlich von „transzendent“ unterscheidet. Entscheidend ist auch, dass für Lipsius das Transzendentale zwar nicht erfahren, aber erlebt werden kann. Es ist also subjektiver Erkenntnis zugänglich. 313 Vgl. T, Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 45. Dazu siehe Kap. V. 3.

276

IV. Die Spättheologie 1880–1892

b. Urbild und Heilsoffenbarung – Die Überarbeitung der Christologie Die positive Neuakzentuierung seines theologischen Denkens seit dem werkgeschichtlich bedeutsamen Text Die Bedeutung des Historischen im Christentume schlägt sich auch in einem neuen christologischen Fokus Lipsius’ Dogmatik nieder.314 In den Überarbeitungen hat er mehrfach auch jenseits der materialen Christologie Ergänzungen vorgenommen, die eine Bindung des christlichen Prinzips an eine historische Offenbarung in Jesus Christus herausstellt. Paradigmatisch zeigt sich dies bereits in der einleitenden Bestimmung des Kerns christlicher Dogmatik: Der einheitliche Kern des christlichen Dogma ist also das auf der Grundthatsache der Offenbarung in Christus beruhende religiöse Grundverhältnis und die dadurch bestimmte Grundanschauung des Christenthums, mit andern Worten sein religiöses Princip.315

Die hier kursiv gesetzte Ergänzung führt den früher allgemeiner gefassten Begriff des religiösen Verhältnisses im Christentum sogleich auf die Offenbarung in Christus eng. Lipsius ist es also darum zu tun, die Gebundenheit des christlichen Prinzips an die geschichtliche Person Jesu von Nazareth herauszustellen und sich damit auch von seiner früher stärker prinzipienchristologischen Position zu lösen, ohne dabei jedoch in einen christozentrischen Dogmatikentwurf umzuschlagen.316 Dabei hält Lipsius jedoch grundlegend an seiner Fassung von Christus als Urbild religiöser Freiheit fest. So kann er in idealistischer Tradition nach wie vor den Christusglauben als Ausdruck einer religiösen Adelung freier menschlicher Persönlichkeit werten, die an die Stelle äußerlichen Mirakelglaubens tritt. Die Verehrung wundersamer Geschichtsereignisse tritt dabei zurück „hinter die geistige Geschichte, welche sich im Leben und Wirken schöpferischer religiöser Persönlichkeiten“317 zeigt. Damit ist das Christentum Ausdruck einer allgemeinen Entwicklung menschlicher Religiosität von „überwiegender Natur-

314

Siehe Kap. IV. 1.b. L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 6–7. Hervorhebungen von M. B. 316 Trotz dieser neuen Betonung der Bedeutung der geschichtlichen Offenbarung in Jesus Christus ist es Lipsius nach wie vor nicht um eine christozentrische Dogmatik zu tun. In einer ergänzten Kritik an christozentrischen Gliederungen der Dogmatik spricht sich Lipsius entschieden gegen eine Ableitung aller christlichen Glaubensgehalte aus der Christusoffenbarung aus: „In wirklichem Gegensatze steht obige aus dem christlichen Principe hergeleiteten Eintheilung nur zu der sogenannten ,christocentrischen‘ Behandlung der Dogmatik, welche, sei es von dem kirchlichen Dogma von Christus sei es von der geschichtlichen Thatsache der Offenbarung in Christus, ihren Ausgangspunkt nimmt und hieraus den ganzen dogmatischen Stoff abzuleiten sucht. Aber diese höchstens für eine populäre religiöse Darstellung brauchbare Anordnung setzt die völlige Absperrung der Dogmatik gegen die Philosophie, die Ausmerzung alles allgemein-Religiösen aus der christlichen Lehre, die Geringschätzung der Apologetik und eine rein empiristische Auffassung der Grundthatsache des Christenthums, unter völliger Zurückstellung des christlichen Grundverhältnisses voraus.“ A. a. O., 22. 317 A. a. O., 102. 315

3. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893

277

bestimmtheit zu geistiger Freiheit“318. Christus kommt so als Paradigma eines göttlich geordneten geistigen Prozesses im menschlichen Bewusstsein in den Blick, dessen soteriologischer Richtungssinn an der Geschichte Jesu nachvollzogen werden kann.319 Der psychologische Vorgang der Religion wird dabei aus der teleologischen Perspektive der Frömmigkeit als göttlich geordnet und auf das Heil des Menschen ausgerichtet interpretiert.320 Das religiöse Verhältnis wird so in seiner Vollkommenheit in Jesus Christus urbildlich verwirklicht. Dass Christus jedoch nicht auf ein Urbild eines vollkommenen religiösen Verhältnisses reduziert werden kann, macht Lipsius nun gleich im Rahmen seiner Christentumstheorie deutlich. Freilich hat Lipsius das Christentum schon immer über den Christusglauben bestimmt. „Das Christenthum als geschichtliche Religion ist der Glaube an die geschichtliche Offenbarung in Jesus dem Sohne Gottes und Erlöser der Menschen.“321 In größerer Klarheit als in den früheren Auflagen betont Lipsius nun allerdings, dass mit der Rede von einer historischen Offenbarung mehr als die Exemplifizierung eines Prinzips ausgesagt sein muss. Die Fassung von Christus als vollkommene Gottesoffenbarung wird daher nun neben die urbildliche Verwirklichung des vollkommenen religiösen Verhältnisses gestellt und nicht mit ihr gleichgesetzt: „Beides, die vollkommene Offenbarung Gottes in Jesu Christo und das in ihm urbildlich verwirklichte vollkommene religiöse Verhältnis ist geschichtlich ausgedrückt in den Aussagen über Christi Person und Werk“322. Lipsius ist es also mit der Rede von einer vollkommenen Offenbarung in Christus um einen eigenen dezidiert nicht prinzipienchristologisch bestimmbaren Aspekt zu tun. Dieser soll vor allem die soteriologische Bedeutsamkeit Christi im christlichen Glauben angemessener erfassen und damit seiner historischen Wirklichkeit ein größeres theoretisches Gewicht in der Rekonstruktion der christlichen Weltanschauung beimessen. Inwieweit gelingt es Lipsius jedoch, dies in seiner materialen Christologie umzusetzen? Ein erster Blick auf die materiale Christologie in der dritten DogmatikAuflage zeigt zunächst große Kontinuität zum früheren Standpunkt. Von der grundlegenden Anlage her entfaltet Lipsius eine Urbild-Christologie, die Christus als Lebensbild des vollkommenen religiösen Verhältnisses fasst. Diese UrbildChristologie ist zudem durch prinzipienchristologische Aspekte angereichert, insofern Lipsius zwischen kontingenten zeitgebundenen Aspekten der Lebenszeugnisse Christi und dem Prinzipiellen des vollkommenen religiösen Verhältnisses unterscheidet. Schon in der ersten Auflage hat sich nach Lipsius mit der Fassung

318

Ebd. Mit dem Konzept einer inneren Geschichte, die anhand Leben und Werk Christi deutlich werde, greift Lipsius auf Überlegungen aus Die Bedeutung des Historischen im Christentume zurück. Siehe Kap. IV. 1.b. 320 Vgl. ., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 49. 321 D., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1879, 107. D., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 124. 322 A. a. O., 126. 319

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IV. Die Spättheologie 1880–1892

von Christus als Urbild des vollkommenen religiösen Verhältnisses eine soteriologische Dimension verbunden, welche die historische Offenbarung in Christus als die Offenbarung des göttlichen Liebeswillens gefasst hat. Allerdings blieb hierbei die Dimension der prinzipiellen Urbildlichkeit im Vordergrund. In der dritten Auflage stärkt Lipsius demgegenüber die soteriologische Bedeutsamkeit der Offenbarung des göttlichen Heilswillens durch Christus und ordnet sie in der Paragraphenabfolge der Verkörperung des religiösen Prinzips vor.323 Ergänzungen zeigen sich zudem in der ausgebauten Auseinandersetzung mit der Christologie Schleiermachers und vor allem in der kritischen Würdigung der Christologien Biedermanns und der Ritschl-Schule, die ohne Vorlage in den früheren Auflagen sind. Hier versucht Lipsius, eine neue Verhältnisbestimmung von Prinzip und Person in der Christologie zu erreichen, die sich von den Christologien Schleiermachers, der liberalen Theologie und der Ritschl-Schule differenziert und die Person Jesu als zentralen Bezugspunkt religiöser Verehrung im Christentum theologisch unterstreicht. An der Christologie Schleiermachers und ihrer Epigonen kritisiert Lipsius nach wie vor eine nur abstrakte Verbindung von christlichem Prinzip und geschichtlicher Person. Mit seiner berühmten Grundformel – der stetigen Kräftigkeit von Jesu Gottesbewusstsein als eigentliches Sein Gottes in ihm – bindet Schleiermacher zwar das christliche Prinzip vollkommener Frömmigkeit nicht nur paradigmatisch, sondern urbildlich an eine historische Einzelerscheinung.324 Allerdings trägt das historisch gesättigte Lebensbild von Jesus Christus aus den biblischen Zeugnissen zu wenig zu dieser Urbildlichkeit Christi bei: Auch wenn die geschichtliche Erinnerung an das in den Evangelien gezeichnete äussere Bild Jesu völlig verloren ginge, könne das gläubige Bewusstsein lediglich durch Analyse seines eigenen Gehaltes das Christusbild in allen wesentlichen Zügen wiedererzeugen.325

Die prinzipienchristologische Bestimmung Jesu als Urbild der Frömmigkeit überzeichnet das Historische. Dieser Aspekt gewinnt zudem an Relevanz vor dem Hintergrund, dass in Schleiermachers Christologie die Offenbarung des vollkommenen Gottesbewusstseins zugleich als das die Erlösung bewirkende Prinzip gedacht ist.326 Diese Verknüpfung von Urbildlichkeit vollkommenen re-

323

So wird die persönliche Offenbarung des göttlichen Heilswillens explizit im § 568 als Reformulierung des ursprünglichen § 551 aus der zweiten Auflage der Verkörperung des religiösen Prinzips vorgeordnet. Vgl. a. a. O., 457. 324 Vgl. ., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1879, 494–495. 325 A. a. O., 496. 326 Diesen Punkt macht Lipsius besonders mit Blick auf die an Schleiermacher anknüpfenden Christologien deutlich. Vgl. a. a. O., 498. Namentlich nennt er dafür Rothe, Schenkel, Beyschlag, Dorner u.a. In früheren Auflagen hat er sie noch unter dem Begriff der Vermittlungstheologie zusammengefasst. Den Ausdruck Vermittlungstheologie vermeidet Lipsius in der dritten Auflage seiner Dogmatik auffällig und spricht stattdessen von der „neuere[n], von Schleiermacher ausgegangene[n] Theologie“. D., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 499.

3. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893

279

ligiösen Lebens und dem Erlösungsprinzip kritisiert Lipsius nicht per se. Er problematisiert allerdings ein vorwiegend ethisch akzentuiertes Verständnis der Heilsoffenbarung, das er insbesondere bei den an Schleiermacher anknüpfenden Christologien erblickt.327 Dem gegenüber gilt es, die Heilsoffenbarung in Jesus Christus als genuin religiös zu fassende Gnadenoffenbarung zu begreifen. An Schleiermachers Christologie kritisiert Lipsius insgesamt also ein problematisches In-Eins-Fallen von Prinzip und Person in der Christologie, das gerade die angemessene religiöse Würdigung der geschichtlichen Person gefährdet, indem ein Prinzip vollkommener Frömmigkeit das Historische zu überblenden droht. Die Christologien der ,modernen liberalen Theologie‘ stehen in Lipsius’ Darstellung paradigmatisch für die zu scharfe Trennung von Prinzip und Person. Dass sich Lipsius mit seiner Kritik dieser Richtung explizit-terminologisch die ,liberale‘ Theologie gegenüberstellt, verweist auf einen Wandel im theologischen Selbstverständnis. Namentlich benannt wird hierbei jedoch nur Biedermann, dessen Christologie er in der ersten Auflage seines Hauptwerks sehr nahesteht. Ihre Unterscheidung von Prinzip und Person beurteilt Lipsius auch nach wie vor als sinnvoll. Alle Versuche, mit dieser Unterscheidung das Historische des Jesuszeugnisses als bloß kontingente Exemplifizierung eines Prinzips gotteinigen Lebens zu fassen, verurteilt er jedoch schärfer als zuvor. Sie beurteilt er als Intellektualismus, im Sinne einer Reduktion des Christusgeschehens auf die Kundgabe ewiger Vernunftwahrheiten, und als Individualismus, der das Heil als ewiges Gut frei von aller geschichtlichen Bedingtheit zu erlangen glaubt.328 Eigentlicher Glaubensgegenstand ist so nicht die konkrete historische Persönlichkeit Jesu, sondern lediglich das bei ihm anschauliche vollkommene religiöse Verhältnis.329 So bleibt die Bedeutung von Jesus Christus als konkrete historische Wirklichkeit nicht angemessen gewürdigt. Im Rahmen einer religionsphilosophischen Betrachtung kann Lipsius der abgesonderten Betrachtung eines christlichen Prinzips volle Berechtigung zusprechen, aber für eine christliche Glaubenslehre gilt es, die Urbildlichkeit Christi durch das Historische zur Geltung zu bringen.330 Die Christologien der Ritschl-Schule scheinen für Lipsius auf den ersten Blick einen Weg zwischen beiden Extremen eines problematischen In-Eins-Fallenlassens von Prinzip und Person oder dessen Zerreißen zu weisen. Sie stehen für den Versuch, die religiöse Bedeutung der historischen Person Jesu in der Offenbarung

327 „Das Eigenthümliche dieser Betrachtungsweise ist, dass sie, ähnlich wie bei Schleiermacher, die religiöse Bedeutung Christi auf seine ethisch-geschichtliche, die Versöhnung der Menschheit mit Gott auf die Thatsache ihrer principiellen ethischen Erneuerung in Christus gründet.“ A. a. O., 503. 328 Vgl. a. a. O., 552. 329 Vgl. a. a. O., 504. 330 Vgl. a. a. O., 505.

280

IV. Die Spättheologie 1880–1892

des göttlichen Liebeswillens fest und diese durch eine ethische Beurteilung von Jesu Leben deutlich zu machen. Doch auch die Theologien der Ritschl-Schule scheitern daran, die eigentlich religiöse Bedeutung Jesu zu erfassen. Sie reduzieren sie nämlich inhaltlich auf die Kundgabe des Reiches Gottes als Zweck der Welt, formell auf die ethischen Eigenschaften von Jesu Berufstreue und begreifen Jesus selbst letztlich als ein Urbild für sittliche Weltbeherrschung.331 Die religiöse Bedeutung Jesu wird hier auf seiner ethischen aufgebaut.332 Darin erkennt Lipsius einen Rückfall in die Bahnen Schleiermachers, insofern Prinzip und Person in eins fallen, jedoch in dem Gesamtbild Züge eines Ideals individueller Sittlichkeit das historische Material überfrachten. Dadurch werde die versöhnende Kraft der Offenbarung in Jesus Christus von einer ethischen Erneuerung der Menschen abhängig gemacht.333 Die Begründungsmuster bei Ritschl tragen nach Lipsius also rationalistische Züge. Die neuen christologischen Beurteilungen durch Lipsius’ dritte Lehrbuchauflage zeigen das Anliegen, das geschichtliche Lebensbild Jesu in seiner genuin religiösen Bedeutsamkeit zu erfassen. Die religiöse Verehrung soll der Person, nicht einem Prinzip gelten. Zugleich hält Lipsius an der prinzipiellen Urbildlichkeit Jesu für das vollkommene religiöse Verhältnis fest. Die darin anschauliche Erhebung zur Freiheit über die Natur hat urbildlichen Rang und kann nach Lipsius zur nachträglichen Begründung auch der religiösen Würdigung Jesu beitragen. Für die Dogmatik entsteht demnach die Notwendigkeit, die religiöse Bedeutung Jesu Christi als der Vermittlers der vollkommenen göttlichen Offenbarung von seiner ethischen Bedeutung als geschichtlichen Stifters der Gemeinde des Gottesreichs und als persönlichen Trägers und Quellpunkts des diese Gemeinde beseelenden religiösen Princips zu unterscheiden, zugleich aber das Recht des religiösen Glaubens an die Gottesoffenbarung in seiner Person durch die ethische Würdigung dieser Person als grundlegender Verkörperung gotteinigen Lebens oder des vollkommenen religiösen Verhältnisses zu begründen.334

Lipsius fordert hier zunächst grundlegend, die Heilsdimension von dem Bereich des Ethischen abzuheben. Das Christusgeschehen als eine Heilstatsache zu würdigen, bedeutet mehr als eine Bestimmung Christi als Religionsstifter oder eines neuen geschichtlich-wirksamen ethischen Ideals. Die teleologische Perspektive erkennt in Christus eine Wirksamkeit, die nicht nur Zwecke offenlegt, sondern selbst als zweckdurchsetzende Kraft gewirkt hat. Vor diesem Hintergrund fordert auch Lipsius, zwischen Prinzip und Person bei Jesus zu unterscheiden, wenngleich die religiöse Verehrung Christus und nicht dem in ihm verwirklichten Prinzip gelten kann.335 Lipsius fordert also beides zu verbinden: Christus soll als

331

Vgl. ebd. Vgl. a. a. O., 506. 333 Vgl. a. a. O., 508. 334 A. a. O., 546. 335 Vgl. a. a. O., 547. 332

3. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893

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Urbild des vollkommenen religiösen Verhältnisses gewürdigt und somit als Verkörperung des religiösen Prinzips bestimmt werden. Allerdings erst in zweiter Linie. Eben daher kommt auch die Person Christi für den Glauben in erster Linie als Träger der göttlichen Offenbarung oder als Vertreter Gottes den Menschen gegenüber in Betracht und erst in zweiter Linie als Vorbild des vollkommenen religiösen Verhältnisses oder als Vertreter der Menschen Gott gegenüber.336

In erster Linie offenbart sich Gott vollkommen in Christus im Sinne einer eigenen Wirksamkeit und Wirklichkeit. Erst von dieser Wirklichkeit her erschließt sich die ethische Bedeutsamkeit Christi als Urbild sittlich-religiösen Lebens.337 Aus der teleologischen Perspektive des Glaubens ist mit Christus eine neue Wirklichkeit in die Geschichte eingetreten, die ein vollkommenes religiöses Verhältnis erst ermöglicht und so die religiöse Befreiung des Menschen von seiner Natur in seiner soteriologischen Valenz möglich macht. Mit diesen Überlegungen bettet Lipsius die positive Stoßrichtung seiner Spättheologie in seine materiale Christologie ein. Die Betonung einer eigenen Wirklichkeit Christi als vollkommene Gottesoffenbarung gegenüber allen prinzipienchristologischen Ansätzen setzt einen neuen Akzent. Eine präzise begriffliche Fassung dieser neu herausgestellten Eigenheit liefert Lipsius jedoch kaum. Diese Zurückhaltung kann als programmatischer Verzicht, die historische Wirklichkeit zu idealisieren, interpretiert werden. Allerdings überrascht dabei, dass Lipsius an seinen früheren prinzipienchristologischen Überlegungen weitestgehend unverändert festhalten kann. Ihnen wird lediglich ein unersetzlicher Grund in der historischen Offenbarung vorausgesetzt. Die Plausibilität des Glaubens an diese historische Offenbarung stützt Lipsius wiederum auf die Möglichkeit, das historische Christusbild als Urbild vollkommener Religiosität ausweisen zu können, durch das, was Lipsius die ethische Beurteilung nennt. So bleibt jedoch unerkennbar, inwiefern die neue positive Akzentuierung der eigenen Wirklichkeit Christi zu einer substanziell neuen Christologie führt. Vielmehr verbleibt die Zirkularität zwischen der in der Geltungslogik des Glaubens behaupteten Ermöglichung des religiösen Verhältnisses durch die historische Heilsoffenbarung in Christus und der religionstheoretischen Geltungslogik herausgestellten Priorität des aktualen religiösen Erlebens als Voraussetzung des Glaubens an eine historische Offenbarung in Christus. Die in der religionstheoretischen Grundlegung entfaltete Konzeption des religiösen Verhältnisses motiviert jedoch nicht aus sich heraus, ihre christliche Erweiterung um eine starke Bedingtheit durch historische Offenbarung. Sie bleibt ein in der Perspektive des christlichen Glaubens eingelassenes offenbarungspositivistisches Moment, das sich aus der historischen Bewährung

336

A. a. O., 504. Vgl. a. a. O., 548. Mit dieser Überzeugung von der unmittelbaren religiösen Bedeutsamkeit der eigenen historischen Wirklichkeit Jesu Christi hat Lipsius nach Baumgarten die „letzten Spuren der speculativ-idealistischen Christologie“ (a. a. O., XXV) überwunden. 337

282

IV. Die Spättheologie 1880–1892

des christologischen Bildes vollkommenen religiösen Geisteslebens motivieren lässt. Dass Lipsius dieses in seiner Spättheologie stark unterstreicht, lässt sich aus dem erklärten Anliegen, die Positivität seiner liberalen Theologie herauszustellen, erklären. Lipsius setzt hier also die irenische Tendenz fort, die er 1889 in Unser gemeinsamer Glaubensgrund im Kampf gegen Rom explizit gemacht hat.338 Auch Troeltsch beurteilt diese Überarbeitung als Schritt zu einer sich „um den positiven Glauben an die Offenbarung und Erlösung in Christo schaarende Consensustheologie“339, der im Rahmen von Lipsius’ theologischer Systematik überrascht. Diese Einschätzung weist darauf hin, dass Lipsius die offenbarungspositivistischen Momente seiner Theologie wenig mit ihrer religionstheoretischen Konzeption innerer Offenbarung vermittelt hat. Es kann im Rahmen der theologischen Systematik nur als ein historisches Faktum angesehen werden, dass der christliche Glaube die Erhebung über die Natur zur Freiheit in Gott nach dem Vorbild der biblisch überlieferten inneren Geschichte erlebbar macht und es Christinnen und Christen gibt, weil sich das durch den christlichen Vorstellungshorizont geformte religiöse Erleben in seiner befreienden Wirkung bewährt hat. Systematisch bleibt dies bei Lipsius unableitbar. Mit diesem Blick auf die postume dritte Auflage von Lipsius’ Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik schließt die werkbiographische Analyse. Dieser Abschlusspunkt einer umfassenden Denkbewegung muss einerseits als ein Höhepunkt von Lipsius’ theologischer Systematik gelten. Mit dieser Fassung der Dogmatik liegt die reifste Gestalt von Lipsius’ theologischer Systematik vor, der einen langen, vielseitigen und hochgradig diskursiv entfalteten Selbstklärungsprozess durchlaufen hat. Dies kann insbesondere für die grundlegende Religionstheorie gelten, deren Strukturen sich bereits früh in der Formierungsphase seiner Theologie abgezeichnet haben, die er jedoch durch die Diskurse mit der Ritschl-Schule und Biedermann zunehmend konturiert und geschärft hat. Andererseits erscheint die dritte Dogmatik-Auflage teilweise als Aufbruch einer Fragment-gebliebenen neuen Entwicklung hin zu einer positiveren Theologie. Die ab 1881 einsetzende positive Neuakzentuierung seines liberaltheologischen Standpunkts ist zwar weitgehend durch eine Kontinuität der zentralen Lehrstücke und der zugrundeliegenden Systematik geprägt. Die Neufassung der Christologie deutet allerdings auf Ansätze für substanzielle Wandlungen im theologischen Selbstverständnis hin, die über eine bloße irenische Selbstdarstellung hinausweisen. Äußerlich sprechen dafür beispielsweise die Hinweise Baumgartens auf den Arbeitseifer von Lipsius und die explizite Abgrenzung von einer liberalen Christologietradition. Inhaltlich sprechen dafür all jene vorrangig christologischen Texteingriffe, welche die Heilsoffenbarung in Jesus Christus auch geltungslogisch seinen allgemeinen religionstheoretischen Argumentationen bei- oder überordnen. Wenngleich diese Tendenzen in der dritten Dogmatik-Auflage noch

338 339

Siehe Kap. IV. 1.c. T, Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 50.

3. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893

283

weitestgehend in Kontinuität zur liberaltheologischen Grundsystematik gehalten werden und einer christlichen Glaubensperspektive zugeschrieben werden, ist es auffällig, dass sie sich nicht organisch aus seiner religionstheoretischen Grundlegung ergeben.

Zweiter Teil

Freiheit und Offenbarung Blinder Instinkt, gedankenlose Gewöhnung, todter Gehorsam, alles Träge und Paßive, alle diese traurigen Symptome der Asphyxie der Freiheit und Menschheit sollen vernichtet werden. Dahin deutet das Geschäft des Augenbliks und der Jahrhunderte, das ist das große, immer fortgehende Erlösungswerk der ewigen Liebe.1

Richard Adelbert Lipsius steht für eine freiheitstheologisch fokussierte, kantisch-kritisch reflektierte liberale Theologie, die sich selbst in die Tradition Schleiermachers einstellt. Sie versucht, mit den Mitteln wissenschaftlicher Theologie christlichen Glauben mit moderner Kultur zu vermitteln, Fideismus und Materialismus gleichermaßen zu überwinden und eine religiöse Tiefendimension des freien Persönlichkeitslebens zu erschließen. Theologiegeschichtlich verortet sie sich als Mittelposition zwischen klassisch-liberaler Theologie bei Alois Emanuel Biedermann und Otto Pfleiderer einerseits und der ritschlianischen Theologie bei Albrecht Ritschl und Wilhelm Herrmann andererseits. Mit metaphysikkritischem Gestus stemmt sie sich gegen jeglichen Anspruch, die Wahrheit des christlichen Glaubens allgemeinverbindlich erweisen zu wollen. Mit moralismuskritischem Gestus fordert sie jedoch, an Wahrheitsansprüchen des religiösen Lebens, die die gesamte Wirklichkeit betreffen, festzuhalten und diese mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu vermitteln. Die Sprache und Vorstellungen der Religion begreift sie als bildlich-symbolische Ausdrucksformen einer existentiellen Grunderfahrung der inneren Erhabenheit menschlichen Lebens über seine Natur und der Abhängigkeit dieser Erhabenheit von einem absoluten Grund. Im religiösen Leben wird diese Grunderfahrung als ein lebendiges Beziehungsgeschehen zwischen dem persönlichen Gott und dem Menschen erlebt und so die menschliche Freiheit über die Natur als göttliche Selbstoffenbarung verstanden. Dieses Ineinander von Freiheit und Offenbarung kommt ihrer Bestimmung des christlichen Glaubens zufolge urbildlich in Jesus Christus als historische Offenbarung zum Ausdruck. Das Zeugnis von seiner Persönlichkeit bringt eine innere Geschichte freien Persönlichkeitslebens in Gott zu unüberbietbarem Ausdruck, gibt dem christlichen Glauben eine konkrete Gestalt und verleiht ei1

S, Über die Religion, 234.

286

Zweiter Teil Freiheit und Offenbarung

nem Leben aus Freiheit einen soteriologischen Richtungssinn. Die Versuche, dies verstärkt zur Geltung zu bringen, zeugen zudem in seiner späten Theologie von zunehmend positiv-theologischen und offenbarungspositivistischen Zügen. Nachdem diese Grundmotive von Lipsius’ Theologie in dem werkbiographischen Gang durch seine systematisch-theologischen Veröffentlichungen herausgestellt, ihre werkimmanente Entwicklung nachvollzogen und die konkreten Kontexte ihrer Genese untersucht wurden, sollen sie nun zum Abschluss der Studie systematisiert werden. Dazu gilt es zunächst, die kennzeichnenden Charakteristika von Lipsius’ Theologie pointiert zusammenzustellen. Dabei soll eine Lesart seines Werks entfaltet werden, die in einer begrifflichen Engführung von Freiheit und Offenbarung das tragende Grundelement und den inneren Zusammenhang seines theologischen Programms erkennt. Davon ausgehend sind jedoch auch Spannungsmomente in der Durchführung seines Programms zu benennen, die einerseits Hinweise darauf geben, warum Lipsius nicht schulbildend wirken konnte und andererseits auf eine vermittlungstheologische Grundhaltung seines Werks zurückverweisen.

V. Zum Verhältnis von Religionstheorie und Dogmatik Um das Profil von Lipsius’ Theologie zu ermessen, sind zunächst die sachlichen Motive seiner Selbstverortung zwischen den klassischen liberalen Theologien Biedermanns und Pfleiderers einerseits und dem theologischen Neukantianismus der Ritschl-Schule andererseits in den Vordergrund zu stellen. Es ist vorrangig der Diskurs um die Bedeutung der Metaphysik für die Religion, in dem er seine erkenntnis- und religionstheoretischen Differenzen festmachen kann. Mit seiner Transformation von spekulativer Metaphysik in perspektivisch gebrochene Weltanschauungsbildung distanziert sich Lipsius vom spekulativen Erbe klassisch-liberaler Theologie. Zugleich handelt Religion ihm zufolge von metaphysischen Realitäten im Freiheitserleben, die mit allem gesicherten Erfahrungswissen zusammenbestehbar gedacht werden müssen, sodass er die radikalere Kritik der Metaphysik in der Theologie bei Herrmann und Ritschl als Bildung religiöser Gegenwirklichkeit ablehnen muss. Von diesen sachlichen Gründen der theologiegeschichtlichen Selbstpositionierung kann weiter zur Kernprogrammatik von Lipsius’ Dogmatik vorgedrungen werden, indem die Darstellung einer Fährte folgt, die der junge Ernst Troeltsch gelegt hat. Er hat Lipsius’ Theologie hohes problemdiagnostisches Potential attestiert und erkennt in der Verhältnisbestimmung von Religionstheorie und Dogmatik ihr systematisches Zentrum einer Verzahnung von Erlebens- und Postulatentheologie.1 Darin sieht er zugleich eine Aporie. Das Urteil Troeltschs geht jedoch von der Annahme aus, dass es Lipsius um einen Wahrheitserweis religiöser Gehalte zu tun sei. Dagegen muss eingewendet werden, dass die Religions1

Zentrale Grundlage für Troeltschs Lipsius-Interpretation ist neben seiner ausführlichen Rezension von Lipsius’ Hauptwerk auch seine monumentale Studie Die Selbstständigkeit der Religion von 1895/96, die er selbst als Fortsetzung seiner Lipsius-Rezension versteht. Vgl. T, Die Selbstständigkeit der Religion, 467. Hier reflektiert Troeltsch zudem seine Stellung zur Ritschl-Schule, die ihm trotz klarer Differenzen in Teilen eine Position verleiht, die näher an klassisch-liberale Theologie heranreicht. So hat Friedrich Traub in seinem RGG2-Artikel zur ,Liberalen Theologie‘ zwischen altliberaler Theologie (Karl Schwarz, Alois Emanuel Biedermann, Otto Pfleiderer, Lipsius, Alexander Schweizer, August Dorner, Hermann Lüdemann) und jungliberaler Theologie (Religionsgeschichtliche Schule, vorrangig Ernst Troeltsch) unterschieden. Ritschl ist dabei allerdings ausdrücklich ausgenommen, sodass Traub liberale Strukturparallelen über die frühe Ritschl-Schule hinweg vermutet. Vgl. F T: Art. „Liberale Theologie“, in: Hermann Gunkel (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Tübingen 1929, 1612–1613, hier 1612–1613.

288

V. Zum Verhältnis von Religionstheorie und Dogmatik

theorie vielmehr Teil eines Diskurses um den Sinn christlich-dogmatischer Rede ist. Ausgehend von dieser Interpretation kann die programmatische Stoßrichtung von Lipsius’ Religionstheorie als eine freiheitsphänomenologische konturiert werden. Sie wird als Versuch rekonstruiert, Religion als ein Freiheitsgeschehen zu entschlüsseln und so einen Wirklichkeitsbezug christlich-dogmatischer Rede im menschlichen Freiheitserleben freizulegen. Die Dogmatik wird im Gegenzug als intuitive offenbarungstheologische Auslegung des Freiheitserlebens bestimmt, die menschliche Freiheit als mystische Gotteserfahrung erleben lässt und es so in einen heil- und sinngebenden Horizont einstellt. Diese Programmatik lässt sich abschließend als ein Versuch einordnen, die begriffliche Engführung von Freiheit und Offenbarung aus den Systemen nachkantischer Philosophie unter den anderen konzeptionellen Rahmenbedingungen einer empirischen Religionspsychologie und einer deutungstheoretischen Religionsdogmatik zur Geltung zu bringen. Durch ihn steht Lipsius in der Tradition einer mit Friedrich Heinrich Jacobi durchbrechenden nachaufklärerischen Transformation des Offenbarungsbegriffs.

1. Liberale Theologie – Zur Funktion der Metaphysikkritik Im Durchgang durch die Werkbiografie von Lipsius hat sich gezeigt, wie weitreichend er seine Theologie als eine liberale Theologie ausrichtet. Er bezeichnet sich selbst explizit als liberalen Theologen und verteidigt liberale Theologie bis hinein in seine stärker positiv-theologisch akzentuierte Spättheologie. In der liberalen Theologietradition Jenas hat er seine theologische Heimstätte gefunden und ist dort zu ihrem systematisch-theologischen Schulhaupt aufgestiegen.2 Doch bereits seit den Auseinandersetzungen seiner Kieler Jahre engagiert er sich konkret kirchenpolitisch für eine Atmosphäre der Freiheit kirchlicher Lebenswelt und kämpft für eine Ausrichtung des theologischen Geschäfts am Ideal freier und kritischer wissenschaftlicher Forschung ohne Bekenntnis- und Lehrvorgaben. Theologie und Kirchenpolitik sind dabei eng aufeinander bezogen und darüber hinaus auf eine gesamtkulturelle Verantwortung christlichen Glaubens ausgerichtet. Theologie soll so einem wahrgenommenen Auseinanderfallen von moderner Kultur und Christentum aktiv entgegentreten, indem sie ihre eigene Tradition vorbehaltlos kritischer Forschung aussetzt und die Zusammenbestehbarkeit von christlichem Glauben und den Resultaten moderner Wissenschaft herausarbeitet. Der mit den Mitteln wissenschaftlicher Theologie reflektierten Religion wird schließlich eine gesamtgesellschaftliche Integrationsfunktion zugeschrieben, die Natur und Freiheit, Individuum und Gesellschaft sowie Glau-

2

Für eine eingehende Analyse des spezifischen Profils der liberalen Theologie Jenas im 19. Jahrhundert vgl. I, Liberale Theologie in Jena, 313–358.

1. Liberale Theologie – Zur Funktion der Metaphysikkritik

289

ben und Wissen vermittelt und eine einheitliche Weltanschauung eröffnet, welche freies Persönlichkeitsleben auf der Höhe modernen Wahrheitsbewusstseins ermöglichen soll.3 Diese Grundhaltung verbindet Lipsius eng mit Pfleiderer und Biedermann, denen er unter den Titeln Freie oder Spekulative Theologie zugeordnet wird. Die werkbiographische Untersuchung hat die biographische Verwobenheit der drei Theologen und die weitreichenden Konvergenzen und wechselseitigen Bezugnahmen ihrer Theologien gezeigt. Trotzdem distanziert sich Lipsius im Verlauf seines Werks von der spekulativ-metaphysischen Ausrichtung ihrer klassischliberalen Theologien und prägt einen theologischen Neukantianismus aus, der sich nicht mehr reibungslos Pfleiderer und Biedermann beiordnen lässt. Die Diskurse zwischen Biedermann und Lipsius legen diese Bruchlinie offen. Der Kernpunkt ihrer Differenzen besteht in der Beurteilung der Leistungsfähigkeit und Bedeutung der Metaphysik für die Religion. Während Biedermann in der wissenschaftlichen Metaphysik den zentralen Evidenzgaranten religiöser Überzeugung ausmacht, bezweifelt Lipsius einerseits die Möglichkeit, religiöse Überzeugung durch wissenschaftsförmige Erkenntnis zu erweisen, und andererseits die Relevanz solcher Beweisverfahren für die Struktur religiöser Gewissheit. Dies hat er mit seiner an Kant orientierten erkenntnistheoretischen Grundunterscheidung von Glauben und Wissen einzuschärfen versucht. Das Wissen als allgemeinverbindliche und demonstrierbare objektive Gewissheit wird dabei von Lipsius stark eingegrenzt. Einem neukantischen Paradigma folgend ist es ganz auf die erfahrungswissenschaftliche Erschließung der Natur im Sinne einer „Welt der Kausalitäten“4 enggeführt.5 Es ist gemäß menschlichen Anschauungs- und Denkformen nur in Bezug auf Gegenstände in Zeit und Raum möglich und besteht im Wesentlichen im Erklären durch kausales Ableiten. Ihm stehen sämtliche weltanschauliche Synthesen menschlicher Wissensbestände, moralischethische Überzeugungen und ästhetische Urteile als Glaubensurteile gegenüber. Diese beziehen sich nicht direkt auf die Welt der Kausalitäten, sondern legen die Erfahrungswelt für freie Subjektivität aus. Sie bewegen sich auf einer kategorial anderen Ebene und lassen sich daher weder aus Wissen ableiten noch durch Wissen ersetzen. Mit dieser Unterscheidung grenzt Lipsius zugleich religiöse Erkenntnisansprüche über das menschliche Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis

3

Auf diese gesellschaftliche Überzeugung klassischer liberaler Theologie hat Dietrich Korsch anhand einer Analyse der Theologie Otto Pfleiderers hingewiesen. Gleiches stellt er auch für Lipsius heraus. Durch sie wird ihre liberale Theologie von ihm als „Erbin der klassischen bürgerlichen Periode“ ausgewiesen. Vgl. K, Religionsbegriff und Gottesglaube, 112. 4 I, Religiöser Trieb und frommes Gefühl, 723. 5 Troeltsch spricht diesbezüglich von einer „einseitig-kausalen und mechanistischen Auffassung des wissenschaftlichen Denkens, die Lipsius mit Kant und den modernen Kantianern auch auf das geistige Leben oder die Geisteswissenschaften anwendet.“ T, Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 42.

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V. Zum Verhältnis von Religionstheorie und Dogmatik

grundsätzlich von wissenschaftlichen ab und versucht, mit den Mitteln seiner Erkenntnistheorie die Selbstständigkeit der Religion in moderner Kultur sicherzustellen. Sie muss sich nicht auf besseres Wissen berufen, um plausibel in der Moderne gedacht und gelebt zu werden. Die erkenntnistheoretische Arbeit soll also einerseits die moderne empirische Wissensbildung endgültig von Glaubensvorgaben oder religiösen Einhegungsbestrebungen entkoppeln und andererseits ein Feld kulturellen Lebens freilegen, das nicht allein aufgrund von gesicherten Wissensbeständen gestaltet werden kann. Gerade die Lebensführung freier Persönlichkeit muss sich bei aller notwendigen Berufung auf Wissen auf der Basis subjektiver Gewissheiten orientieren, die Lipsius nicht nur mit Blick auf Religion mit dem Begriff des Glaubens belegt. Damit verfolgt er eine apologetische Stoßrichtung gegenüber radikaler Religionskritik und materialistischen Strömungen seiner Zeit, die Lipsius als erkenntnistheoretisch unterreflektierte weltanschauliche Überschüsse wissenschaftlicher Erkenntnisbildung beurteilt. Immer damit verbunden ist jedoch eine selbstkritische Stoßrichtung, die Geltungsansprüche christlich-dogmatischer Rede abrüstet und sich vorrangig gegen an G. W. F. Hegel orientierte metaphysische Überführungsversuche des Glaubens in Wissen richtet. Das spannungsreiche Verhältnis von Lipsius zur Metaphysik ist dadurch bestimmt, dass er metaphysische Reflexion als notwendigen Teil der menschlichen Reflexion auf sein Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis ansieht. Allerdings bestreitet er zugleich, dass wissenschaftliche Metaphysik möglich ist.6 Sie wird als theoretische Arbeit an einem „einheitlichen Abschluss unseres Welterkennens“7 bestimmt. Sie synthetisiert aus den menschlichen Wissensbeständen und aller seiner inneren und äußeren Erfahrung eine Vorstellung vom Weltganzen. Das Bedürfnis dazu führt Lipsius auf einen menschlichen Einheitstrieb zurück, dem er in seiner frühen Theologie einen religiösen Ursprung zuschreibt. Später korrigiert er dies in Auseinandersetzung mit dem Materialismus, hebt damit Philosophie und Religion stärker voneinander ab und sieht ihn als ein allgemeines Bedürfnis des Menschen nach einer einheitlichen Weltanschauung an, die ein Gesamtbild der Wirklichkeit vermittelt, eine Antwort auf das Rätsel des Daseins gibt und freie Lebensführung orientiert. Vor diesem Hintergrund fordert er die Transformation wissenschaftlicher Metaphysik in eine Metaphysik der Weltanschauung in der epistemischen Einstellung des Glaubens und betraut die theologische Dogmatik mit der Konstruktion einer einheitlichen Weltanschauung, die es erlaubt, ein religiöses Selbstverständnis, Lebensführung aus Freiheit und alles gesicherte Erfahrungswissen zusammenzudenken. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Metaphysik kann eine solche Weltanschauungsbildung keine allgemeine Verbindlichkeit für sich beanspruchen.

6 7

Vgl. H, Erkenntnistheorie und Dogmatik, 159. L, Philosophie und Religion, 113.

1. Liberale Theologie – Zur Funktion der Metaphysikkritik

291

Lipsius’ Metaphysikkritik weist weit über die konkreten methodischen Grundlegungsfragen der Theologie hinaus auf die Wahrnehmung eines Differenzierungsprozesses moderner Kultur, der keine übergreifende allgemeinverbindliche Wirklichkeitskonstruktion mehr gestattet. Der Weltanschauungsbegriff vereint in sich das Wissen um die Unmöglichkeit einer nicht perspektivisch gebrochenen und damit positionellen Auffassung vom Weltganzen einerseits mit dem Festhalten an dem hohen Wert einer systematischen Einheitskonstruktion andererseits. Nach Lipsius lässt sich die notwendige Pluralität von Weltanschauungen nicht mehr mit der Gewissheit wissenschaftlicher Arbeit einhegen. Wenngleich das frühe Werk bisweilen noch von einem Optimismus zeugt, mit einer wissenschaftlichen Form der Theologie einen Anschlussverlust christlichen Glaubens an die Resultate moderner Naturwissenschaft zu überwinden und die christliche als die Beste aller möglichen Weltanschauungen auszuweisen, stellt er in seinem Spätwerk konsequent auf pragmatische Bewährungsmodelle religiöser Gewissheit um. Die Überzeugungskraft christlicher Weltanschauung bemisst sich demnach daran, ob es ihr gelingt, ein plausibles Gesamtbild der Wirklichkeit zu zeichnen, das ein menschliches Selbstverständnis als freie Persönlichkeit Platz haben lässt in einer sonst als Welt der Kausalitäten erschlossenen Wirklichkeit. Auch diese Überlegungen zeugen bei Lipsius noch von einem kulturellen Überlegenheitsanspruch christlichen Glaubens, verorten diesen selbst aber immer zugleich in einer nicht allgemeinverbindlich ausweisbaren Glaubensperspektive und brechen ihn damit reflexiv. Der Sinn christlich-dogmatischer Rede kann demnach Geltung nur für Anhängerinnen und Anhänger des christlichen Glaubens behaupten und nicht metaphysisch oder anderweitig religionsphilosophisch bewiesen werden. Dogmatik kann nach Lipsius also nur als wissenschaftliches Selbstbewusstsein der Kirche konzipiert werden und nicht als Wissenschaft von der Wahrheit des Dogmas. Die wissenschaftliche Theologie und insbesondere die Dogmatik muss die Wirklichkeit ihres Gegenstandes voraussetzen und nicht selbst erzeugen. Sie kann ihren Gegenstand nur angemessen auf der Basis einer je eigenen Vertrautheit mit genuin religiösem Erleben und in der Vollzugsperspektive christlichen Glaubens adressieren. Damit distanziert sich Lipsius von einer zentralen Stoßrichtung klassisch liberaler Theologie bei Biedermann und Pfleiderer trotz ihrer erheblichen konzeptionellen Überschneidungen. Die Vermittlung von christlicher Religion und modernem Wahrheitsbewusstsein kann demnach nicht durch die religionsphilosophische Arbeit gewährleistet werden. Die wissenschaftliche Theologie kann nur dem Phänomen der Religion unangemessene Auffassungen kritisieren und die Selbstständigkeit der Religion herausstellen, um eine sich selbst bewährende Kraft des religiösen Lebens freizulegen.

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V. Zum Verhältnis von Religionstheorie und Dogmatik

2. Theologischer Neukantianismus – Zur Funktion der Weltanschauung Lipsius verortet die Grundlegung seiner Theologie explizit als erkenntnistheoretischen Neukantianismus. Seine Argumentationsmuster für die Selbstständigkeit der Religion in der Kultur weisen ihn auch als Anhänger eines solchen aus und rücken seine Theologie ab von klassisch-liberaler Theologie und prima facie in große Nähe zur Ritschl-Schule. Beide Theologietypen verbindet die starke Anknüpfung an Kant und Schleiermacher, die Zentralstellung des Persönlichkeitsgedankens in der Theologie, praktische Argumentationsmuster für die Plausibilität religiöser Wirklichkeitsdeutung, Kritik metaphysischer Beweisverfahren in der Theologie, die Betonung der Bedeutung des Historischen für den Glauben und viele materialdogmatische Bestimmungen. Die heftigen Kontroversen zwischen Lipsius einerseits und Ritschl und Herrmann andererseits zeigen neben persönlichen Motiven einer Freundschafts- und Entfremdungsgeschichte allerdings auch, dass sie unterschiedliche teils gegensätzliche Ausprägungen neukantischer Theologie repräsentieren.8 Erneut ist es der Streit um die Bedeutung der Metaphysik für die Religion, um den sich auch der Abgrenzungsdiskurs zwischen Lipsius und der Ritschl-Schule gruppieren lässt. Hier ist es jedoch Lipsius, welcher der Ritschl-Schule eine zu weitreichende Metaphysikkritik vorwirft und damit stärker an Grundintentionen klassisch-liberaler Theologie festhält. Die Konzeption einer Metaphysik als Weltanschauung bei Lipsius begrenzt die Geltungsansprüche christlich-dogmatischer Rede, insofern er die Beweisbar8

So urteilt auch der junge Troeltsch, der in Lipsius und der Ritschl-Schule zwei durch den gemeinsamen Anschluss an Kant und Schleiermacher verbundene, aber in der Ausgestaltung charakteristische verschiedene Richtungen erkennt. Die Ritschlianer sind durch „geniale historische Conzeptionen wie durch Originalität und Energie ihres positiven Aufbaues und […] durch ihre eifrige Wendung auf praktisch kirchliche Lehrzwecke mit Fernhaltung aller philosophischer Ingredienzien [gekennzeichnet. Demgegenüber] ragt die Position von Lipsius hervor durch umsichtige und eingehende Berücksichtigung der philosophischen Gesamtarbeit und der außertheologischen Wissenschaft sowie durch feine Durcharbeitung der erkenntnistheoretischen und religionsphilosophischen Grundfragen, ist aber eben deshalb freilich auch von geringerer Originalität und unmittelbar praktischer Brauchbarkeit, weshalb sie auch keine so weit gehende litterarische und kirchenpolitische Wirkung hervorzubringen vermochte.“ T, Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 33. Vor diesem Hintergrund kritisiert Troeltsch, dass die Leistungen von Lipsius zu Unrecht von der Popularität der Ritschl-Schule überblendet werden. Gerade in Die Selbstständigkeit der Religion stellt er immer wieder große Verdienste von Lipsius heraus und teilt weite Teile seiner Kritik an den Theologien Biedermanns oder der Ritschl-Schule. Vgl. ., Die Selbstständigkeit der Religion: Beispielsweise würdigt er Lipsius’ Betonung der Bedeutung von Fantasie für die Religion (vgl. a. a. O., 424), sowie seine Betonung des sozialen Charakters der Religion (vgl. a. a. O., 428), er verweist darauf, dass Lipsius die problematischen Konsequenzen ritschlianischer Postulatentheologie klar erkannt habe (vgl. a. a. O., 467) und stimmt Lipsius’ Kritik an Biedermanns Metaphysik als intellektualistischer Selbsttäuschung zu. Vgl. a. a. O., 471.

2. Theologischer Neukantianismus – Zur Funktion der Weltanschauung

293

keit ihrer Allgemeinverbindlichkeit bestreitet. Nichtsdestoweniger behält sie nach Lipsius den Anspruch, universale Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen. Daher wird seine Dogmatik mit der Aufgabe betraut, den Universalitätsanspruch religiöser Wirklichkeitsdeutung in die Konstruktion einer einheitlichen Weltanschauung zu überführen. Das gesicherte Erfahrungswissen und die Glaubensüberzeugungen sollen dabei in einen umfassenden Zusammenhang gebracht werden. Gelingt dies, kann die christlich-dogmatische Rede eine zwar perspektivisch gebrochene, aber universale Wirklichkeitsdeutung liefern, die Mensch und Welt in einen umfassenden Sinnhorizont einstellt und eine integrierende Funktion in der funktional differenzierten modernen Kultur einnimmt. In seiner Auseinandersetzung mit der Ritschl-Schule hat Lipsius dieser gerade zum Vorwurf gemacht, diese integrierende Funktion der Religion preisgegeben zu haben und so der Konstruktion einer moralistisch-religiösen Gegenwirklichkeit das Wort zu reden. Die Ritschl-Schule steigere also die Unterscheidung von Glauben und Wissen in eine problematische Trennung beider epistemischen Einstellungen. Sie hebe eine religiöse Wirklichkeit von einer wissenschaftlichen Wirklichkeit ab, lasse beide Wirklichkeiten unvermittelt nebeneinanderstehen und nötige dem modernen Subjekt so ein Doppelleben zwischen zwei entgegengesetzten Weltanschauungen ab. Es sind anders gelagerte Realitätsansprüche religiöser Rede bei Lipsius, die ihn von der Ritschl-Schule trennen. Beide Seiten richten Religion in hohem Maß auf freies Persönlichkeitsleben aus, das sich durch eine Selbstunterscheidung von der Natur konstituiert. Beide Seiten folgen zudem weitgehend einem deutungstheoretischen Paradigma, das Religion als eine Wirklichkeitsauslegung versteht, die ein menschliches Selbstverständnis als freie Persönlichkeit gewährleisten soll. Nach Ritschl und Herrmann vollzieht sich diese Deutungsfunktion der Religion im Modus des Werturteils und einer Selbstwertunterscheidung des Menschen von der Natur, die ein sittliches Selbstverständnis des Menschen erst eröffnet. Lipsius hingegen sieht die Erhabenheit des Menschen gegenüber der Natur in einer allem Vorstellen, Werten und Fühlen vorausliegenden Selbsterschlossenheit spontaner Subjektivität begründet. In dieser Selbsterschlossenheit weiß sich der Mensch durch Religion zugleich schlechthin frei gegenüber der Natur und schlechthin abhängig von einem absoluten transzendenten Grund. Mit Rekurs auf einen solchen absoluten Grund kann sich Religion nach Lipsius jedoch nicht allein in Werturteilen vollziehen, sondern impliziert Seinsurteile über erfahrungstranszendente Aspekte der Wirklichkeit. Diese können zwar nicht bewiesen werden, aber nach Lipsius müssen sie mit dem gesicherten Erfahrungswissen vereinbar gedacht werden können, damit religiöse Wirklichkeitsdeutung nicht als illusionär beurteilt werden muss. Den argumentativen Grund für dieses Festhalten an der Forderung einer einheitlichen Weltanschauung bildet die Einheit des persönlichen Ich. Da sich der Mensch einerseits in die Natur als Welt der Kausalitäten verwoben und zugleich in dem Erleben seiner eigenen Spontaneität in einem innerlich freien Verhältnis zu dieser Verwobenheit weiß, erkennt er seine Freiheit und Abhängigkeit als Teil

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V. Zum Verhältnis von Religionstheorie und Dogmatik

einer gemeinsamen Wirklichkeit. Wenngleich hier Freiheit und Abhängigkeit auf verschiedenen kategorialen Ebenen gedacht werden, laufen beide Ebenen nach Lipsius im Selbstbewusstsein freier Persönlichkeit zusammen. Trotz aller Unterschiedenheit sind Glauben und Wissen bei Lipsius also aufeinander angewiesen und sollen in ein Verhältnis wechselseitiger Kritik und Begrenzung gesetzt werden. Es ist für ihn ein maßgebendes Prüfkriterium der Plausibilität religiöser Weltanschauung, dass sie das gesicherte Wissen voll anerkennen und nachvollziehbar in die eigene Weltsicht integrieren kann. So ist es bei aller Betonung der perspektivischen Gebrochenheit der Weltanschauungsbildung erforderlich, die funktional differenzierte Kultur in eine umfassende Vorstellung von der Einheit kulturellen Lebens zu synthetisieren. Dazu hat er im Verlauf seines Werks anspruchsvolle Konzepte der Vermittlung von Glauben und Wissen entwickelt. Mit seiner Metaphysik der Grenzbegriffe sucht er Konzepte, die einerseits Grenzen erfahrungswissenschaftlicher Welterschließung und andererseits die Notwendigkeit der Erweiterung menschlicher Weltanschauung über die Grenzen des Wissbaren hinaus markieren. Durch sie soll der Übergang von den empirischen Feststellungen von Bedingungsverhältnissen auf eine Unbedingtheitsdimension formell als notwendig ausgewiesen werden, wenngleich die Beschaffenheit des Unbedingten selbst dadurch nicht näher bestimmt werden kann. Die Glaubensperspektive eröffnet ein Bild des Unbedingten, ohne für es wissenschaftliche Evidenz in Anspruch nehmen zu können. Sie reflektiert das Endliche im Horizont des Unendlichen und führt damit die Welt der Kausalitäten und die Welt der Freiheit auf einen gemeinsamen absoluten Grund zurück, der die Zusammenbestehbarkeit von Glauben und Wissen denkbar macht. Eine solche Unbedingtheitsreflexion verteidigt Lipsius vehement gegen die fundamentalere Metaphysikkritik bei Ritschl und Herrmann und weist sie als integralen Bestandteil religiösen Lebens aus. Vor diesem Hintergrund erhellen sich auch weitere Polemiken, die Lipsius wiederholt gegen die Ritschl-Schule wendet und die sich Vorwurf des Moralismus bündeln. Herrmann und Ritschl würden demnach gelingende Moralität zum einzigen Beurteilungsmaßstab religiöser Wahrheit machen, indem sie Religion auf Werturteile reduzierten, ohne deren Relation zur Wirklichkeit zu reflektieren. Sie würden damit programmatisch versuchen, die Theologie vollständig gegenüber wissenschaftlicher Welterschließung zu immunisieren. Auf dieser Linie beurteilt er auch ihre stärkere ekklesiologische Rückbindung christlicher Soteriologie als Preisgabe des christlichen Universalitätsanspruchs und Konstruktion einer sittlich-religiösen Gegenwirklichkeit, die sich gänzlich von der Infragestellung religiöser Vorstellungen durch die Resultate moderner Wissenschaft freispricht. In all diesen Punkten zeigen sich nach Lipsius problematische Folgen einer Glaubensperspektive, die ihre Vereinbarkeit mit gesichertem Wissen nicht explizit reflektiert. Darüber hinaus klagt Lipsius mystische Elemente der Religion gegenüber Ritschl und Herrmann ein, die eine Wirklichkeitsdimension religiösen Lebens herausstellen sollen, die sich nicht in Kalkülen praktischer Vernunft erfassen lässt.

3. Bedürfnis und Erfahrung – Troeltschs Lipsius-Deutung

295

Es lässt sich also anhand Lipsius’ Auseinandersetzung mit der Ritschl-Schule festhalten, dass seine Metaphysikkritik eine andere Stoßrichtung verfolgt. Er bestreitet, dass metaphysische Spekulation mit der Evidenz der Wissenschaft aufwarten kann, oder dass religiöse Gewissheit auf eine solche Evidenz angewiesen wäre. Die Religion hat jedoch selbst metaphysische Momente, insofern sie um ein im Absoluten fundiertes Freiheitsgeschehen kreist. Entsprechend setzt auch die christlich-dogmatische Rede metaphysische Realitäten. Sie verfolgt damit das Interesse an einer kulturellen Integrationsfunktion, die für die klassische liberale Theologie kennzeichnend ist. Es zeigt sich, dass Lipsius eine Bestimmung von Religion als funktionale Deutungsleistung mit einem weiterführenden Realitätsanspruch religiöser Rede verzahnt, die er als das mystische Moment der Religion betont. Um das spezifische Profil seiner Theologie zu erschließen, muss beides näher beleuchtet werden.

3. Bedürfnis und Erfahrung – Troeltschs Lipsius-Deutung Um einen genaueren Blick auf die Verschränkung von funktionaler Deutungsleistung und Realitätsansprüchen innerhalb Lipsius’ Religionstheorie zu gewinnen, hilft die scharfsichtige Lipsius-Interpretation von Ernst Troeltsch. Er lenkt den Blick auf das Zentrum von Lipsius’ theologischer Systematik, verkennt jedoch letztlich ihre programmatische Einbindung in seine Dogmatik, wenn er in ihr einen gescheiterten Wahrheitsbeweis christlichen Glaubens erkennt. Die Verbindung von funktionaler Deutungsleistung und Realitätsanspruch in Lipsius’ Religionstheorie bestimmt er als Verschmelzungsversuch einer weitgehend kantischen „Postulaten- und Bedürfnistheologie“9 mit einer Theologie mystischer Erfahrung. Entscheidend dafür ist die Verhältnisbestimmung von Religionstheorie und Dogmatik, die eine Beschreibung der Phänomenalität von Religion in Bewusstsein und Geschichte in Verbindung zu den Wirklichkeitsansprüchen der Vollzugsperspektive christlichen Glaubens und ihrer dogmatischen Ausdrucksformen bringen soll. Diese Vermittlungsversuche scheitern nach Troeltsch jedoch grundlegend und stellen „den wundesten Punkt der Lipsiusschen Dogmatik“10 dar: „Religion selbst schwankt zwischen dem Charakter einer kausal-immanent zu erklärenden Illusion und einem unkontrollierbaren, auf ein Wirken Gottes zurückgehenden Mysterium.“11 Dieser Interpretation soll im Folgenden nachgegangen werden, um im Anschluss die Grundcharakteristik des dogmatischen Entwurfs von Lipsius zu konturieren. Mit der Einordnung von Lipsius’ Dogmatik als ,Postulaten- und Bedürfnistheologie‘ überträgt Troeltsch seine grundsätzlichen Kritikpunkte am theologi-

9

D., Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 45. A. a. O., 42. 11 A. a. O., 43. 10

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V. Zum Verhältnis von Religionstheorie und Dogmatik

schen Neukantianismus auch auf ihn. Dabei geht es um all jene Argumentationsmuster, die religiöse Gehalte dadurch entwickeln oder begründen wollen, dass sie sie als notwendiges Mittel zur Befriedigung eines allgemein menschlichen Bedürfnisses ausweisen. Kant selbst hat einen solchen Ansatz mit seiner Rede vom „Recht des Bedürfnisses der Vernunft“12 verfochten. Ein Vernunftbedürfnis erlaube, einen moralischen Glauben an Gott zu rechtfertigen, indem gezeigt wird, dass der Mensch sich nicht konsistent als moralisches Wesen denken kann, ohne zugleich einen Schöpfergott zu postulieren, welcher die Vereinbarkeit von Natur und moralischem Gesetz garantiert. Die werkbiographische Rekonstruktion hat gezeigt, dass auch Lipsius seine psychologische Religionstheorie explizit auf dem allgemeinen menschlichen Bedürfnis, die Erfahrung eigener Freiheit mit der bleibenden Naturverwobenheit zu vermitteln, aufbaut. Im Verlauf seines Werkes hat er dieses der Religion zugrundeliegende Bedürfnis als ein Freiheitsbedürfnis konkretisiert, das das menschliche Interesse an der Behauptung freien Persönlichkeitslebens gegenüber seiner natürlichen Bedingtheit auf den Begriff bringt und religiöse Grundbegriffe wie Gott als Möglichkeitsbedingung freien Persönlichkeitslebens motiviert. Gegenüber solchen Versuchen, religiöse Gehalte zu verteidigen, wendet Troeltsch ein, dass sie dem Selbstverständnis religiöser Individuen widerstreben, dass sie den Gottesgedanken aus dem Bereich berechtigter theoretischer Spekulation verbannen und die religiösen Gehalte so ganz auf ein Moment von Sittlichkeit engführen:13 „Auf dem Wege der Postulate kommt man eben immer nur zur Gottesidee als einer von Menschen gezogenen Folgerung, aber nicht zu Gott als dem Urheber der Religion.“14 Bei solchen Überlegungen liegt nach Troeltsch immer ein Illusionismus nahe, der Gott nur als eine mehr oder weniger bewusste Selbsttäuschung versteht: „Die reine Postulatentheorie ist tötlich für die Religion, man mag sie drehen und winden wie man will.“15 Lipsius’ Dogmatik ist für Troeltsch interessant, weil sie trotz ihrer postulatentheoretischen Momente keine reine Postulatentheologie ist.16 In seiner religionspsychologischen Grundlegung bestimmt er Religion zwar als Reaktion auf das Bedürfnis, eine Spannung zwischen dem menschlichen Anspruch auf Freiheit und seiner unüberwindbaren Abhängigkeit von der umgebenden und eigenen Natur zu lösen. Durch ein inneres Verhältnis zu einer transzendenten Macht sucht der Mensch demnach eine Lösung dieser existentiellen Spannung. Allerdings ergänzt Lipsius diese Überlegungen durch eine Theorie religiösen Erlebens,

12

K, Was heißt: sich im Denken orientieren, AA 8,137. Dies hat Maren Bienert vorrangig anhand der ausführlichen Lipsius-Rezension von Troeltsch herausgestellt. Vgl. M B: Protestantische Selbstverortung. Die Rezensionen Ernst Troeltschs (Troeltsch-Studien 5), Berlin 2014, 22–24. 14 T, Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 46. 15 D., Die Selbstständigkeit der Religion, 460. 16 „Unter den älteren Neukantianern hat Lipsius die Konsequenzen der reinen Postulatentheorie, die illusionistische Vermenschlichung der Religion, wohl erkannt.“ A. a. O., 467. 13

3. Bedürfnis und Erfahrung – Troeltschs Lipsius-Deutung

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die ein – idealer Wahrnehmung zugängliches – objektives Moment in die religiöse Erkenntnisbildung einfließen lässt, das verspricht, der Unwillkürlichkeit religiöser Vorstellungsbildung gerecht zu werden. So fragt Troeltsch gegenüber Rückführungen religiöser Vorstellungen auf menschliche Bedürfnisse: Sind sie nicht Bedürfnisse nach etwas, das man erst erfahren haben muß, um es zu bedürfen, sind sie nicht etwa begründet in einer irgendwie gearteten Erfahrung von dem Objekte, das den Gedanken an einen letzten idealen und unendlichen Sinn des Daseins erst erweckt und im Kampfe mit den widerstrebenden Trieben der Selbstsucht, der Sinnlichkeit und des Eigenwillens den besseren Teil des menschlichen Willens mit immer neuen Kräften an sich zieht?17

Problematisch an einer Postulatentheologie ist also vor allem, dass sie religiöse Vorstellungsbilder ganz auf eine Aktivität des Menschen zurückführt, ohne passivischen Momenten den Raum einzuräumen, die sie zumindest dem Selbsterleben religiöser Individuen nach haben müssten. Gerade solche Momente der Passivität erlauben die Annahme eines objektiven Gegenübers religiöser Vorstellungen. Innerhalb der Religionstheorie von Lipsius scheint der Forderung eines solchen objektiven Moments nach Troeltsch dadurch Rechnung getragen zu sein, dass er einerseits eine psychologische Untersuchung der Religion als eines menschlichen Bewusstseinsprozesses vorlegt, andererseits dieses religiöse Leben im Rahmen einer dogmatischen Auslegung als eine Wirkung des göttlichen Geistes auf den menschlichen Geist fasst. Aus der Perspektive der Frömmigkeit wird Religion nicht als Aktivität des Menschen, sondern als passivisches, von Gott induziertes Geschehen aufgefasst. Nach Lipsius kann eine solche fromme Auslegung an die religionspsychologische Beschreibung der Religion anknüpfen, da die psychologische Perspektive Strukturmomente religiösen Lebens aufweist, die über eine empirisch-naturkausale Beschreibung hinausweisen. Von zentraler Bedeutung ist hier sein religionsphänomenologisches Konzept praktischer Nötigung, das ein in das Selbsterleben freier Persönlichkeit eingelassenes Bedürfnis ist, die eigene Freiheit auf einen absoluten Grund zurückzuführen, und das unten noch näher zu beleuchten ist. Die Möglichkeit des Menschen wiederum, sich in der Religion auf diesen absoluten Grund zu beziehen, wird als Wirklichkeit einer im Absoluten gründenden unendlichen Freiheit gewertet, die sich also im religiösen Vollzug selbst zur Darstellung bringt. So hat die menschliche Freiheitserfahrung selbst ein transzendentales Moment, insofern der religiöse Prozess eine paradigmatische Erhebung des Menschen über seine Einbindung in den naturkausalen Zusammenhang der Welt aufdeckt, durch die sich der Mensch frei zur Welt verhalten kann. Daran knüpft die fromme Perspektive an und begreift die Möglichkeit dieser Freiheit als Ausdruck eines Verhältnisses des Menschen zu Gott und Gottes selbstoffenbarender Wirksamkeit im menschlichen Geistesleben.

17

A. a. O., 405.

298

V. Zum Verhältnis von Religionstheorie und Dogmatik

Indem Lipsius ein solches Freiheitserleben religiös als Wirken Gottes im menschlichen Geist deutet, versucht er nach Troeltsch den psychischen Phänomenen des religiösen Lebens einen ideellen Grund zu geben. Das postulatentheoretische Moment ist dabei die Annahme eines göttlichen Grundes, die als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit eingeführt wird. Das erfahrungstheoretische – oder präziser erlebenstheoretische – Moment ist dabei, dass die Wirklichkeit der Freiheit als etwas bestimmt wird, das nicht erklärt werden kann, aber dem menschlichen Erleben paradigmatisch in gelebter Religion zugänglich ist. Dieses Ineinander von Erleben und Bedürfnis eines absoluten Grundes menschlicher Freiheit wertet Troeltsch als Lipsius’ Wahrheitsbeweis religiöser Gehalte: Das in der Phänomenologie hervortretende intelligible oder transcendentale Moment, die Freiheit, und das ihr korrelate Sittengesetz übertragen ihren Wahrheitscharakter auf das mit wissenschaftlicher Notwendigkeit hiermit sich ergebende Postulat der Gottesidee, welche dem Bewußtsein seinen sittlichen Persönlichkeitswert sichert, aber freilich auch nur den jene praktischen sittlichen Nötigungen Empfindenden sich aufzwingt18.

Lipsius’ Theologie kombiniert demnach zwei unterschiedliche Perspektiven: Eine wissenschaftliche Analyse religiöser Bewusstseinsprozesse in der Religionspsychologie, die Religion als eine funktionale Deutungsleistung des Menschen zur Bewältigung eines Freiheitsbedürfnisses wahrnimmt und eine fromme Auslegung dieser Prozesse in einer Religionsdogmatik als Wirken Gottes im Menschen. Ein transzendentales Moment menschlicher Freiheitserfahrung soll einen Übergang zwischen beiden Perspektiven ermöglichen, sodass die fromme Interpretation an die wissenschaftliche Wirklichkeits- und Religionsbeschreibung anknüpfen kann, ohne ihr zu widersprechen. Dabei ist es eine prinzipielle Erklärungsgrenze des menschlichen Persönlichkeitserlebens, die zu einer Weitung der Wirklichkeit über materialistische Erklärungsmuster führt und damit gleichsam Platz schafft für die Möglichkeit einer Glaubensperspektive, wenngleich ihre Geltung dadurch freilich nicht selbst erwiesen ist. Nach Troeltsch gelingt es Lipsius jedoch nicht, diese Doppelperspektivität seiner Dogmatik in einen überzeugenden Zusammenhang zu bringen: In ersterer Hinsicht erschien die Religion als rein kausal verständliches Erzeugnis menschlicher Bedürfnisse, in letzterer als eine mystische Wirkung Gottes. Der Widerspruch zwischen diesen beiderlei Betrachtungsweisen und der zwischen dieser offiziellen Bestimmung der religionsphilosophischen Grundlage und ihrer tatsächlichen Funktion liegt auf der Hand19.

Auf der einen Seite stehe eine fast schon eudämonistische Erklärung der Religion aus dem menschlichen Bedürfnis, die eigene Freiheit gegenüber natürlichen Abhängigkeiten zu behaupten; auf der anderen Seite stehe eine unergründliche Spe18

D., Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 46. A. a. O., 41. Diese Einschätzung bezieht Troeltsch auf frühere Auflagen von Lipsius’ Dogmatik als die von ihm rezensierte dritte Auflage, überträgt sie aber im Wesentlichen unverändert auch auf sie. 19

3. Bedürfnis und Erfahrung – Troeltschs Lipsius-Deutung

299

kulation über göttliches Wirken als unerklärliches Mysterium, „wobei die Begründung der Wahrheit dieses Mysteriums auf seine Verknüpfung mit dem intelligibeln ethischen Factor nur den Schein der Willkür etwas mildert.“20 Troeltsch wertet die Überlegungen von Lipsius als gescheiterten Versuch, die Wahrheit christlich-dogmatischer Aussagen zu begründen und führt die Schwächen von Lipsius’ Theologie vor allem auf die Versuche, mit den Mitteln der kantischen Philosophie das menschliche Bewusstsein zu begreifen, zurück.21 Er zeigt sich jedoch grundsätzlich skeptisch gegenüber allen Versuchen, Religion auf den Begriff eines allgemeinen Wesens zu bringen. So bedürfen wir keines irgendwie konstruierten ,Wesens‘ der Religion, weder des absoluten Abhängigkeitsgefühls (in dem Sinne psychologischer Metaphysik, den Schleiermacher damit verbindet), noch der monistischen und panlogistischen Erhebung des endlichen zum unendlichen Geiste, noch der ethischen Selbstbehauptung oder irgend etwas derartigen. Wir achten die unendliche, keiner Definition sich fügende Mannigfaltigkeit des Lebens22.

Dass Lipsius daran scheitert, die Geltung christlicher Glaubensaussagen durch eine Wesenskonstruktion der Religion zu verteidigen, ist Troeltschs zentraler Kritikpunkt. Die Geltung christlicher Glaubensgehalte lasse sich überhaupt nicht durch eine zeitenthobene Wesensbestimmung des religiösen Lebens sichern. Der Maßstab für Geltungsbehauptungen muss hingegen immer wieder neu aus den konkreten historischen Konstellationen einer Gegenwart selbst erhoben werden. Daher kann nur eine historisch-relative Geltung behauptet werden, die sich immer wieder erweisen muss.23 In der Moderne stellt sich die Geltungsfrage gegenüber dem Christentum zudem in neuer Virulenz als Frage nach seiner Zukunftsfähigkeit und ihrer Zusammenbestehbarkeit mit moderner Wissenschaft: Es ist eben die Frage, ob die religiöse Krisis der letzten Jahrhunderte nicht der Anfang vom Ende sei, ob die vom Christentum vorausgesetzten metaphysischen und anthropologischen Grundbegriffe sich nicht in Widersprüche zersetzt und mit der fortschreitenden Erkenntnis von Natur und Geschichte unheilbar entzweit haben. Das ist mit der Dogmatik der bestehenden Kirchen zweifellos der Fall. Eine andere Frage aber ist, ob in der That die Grundbegriffe des christlichen Glaubens, der theistische Gottesbegriff eines durch und durch geistigen, von der Welt innerlich sich unterscheidenden, aber doch in ihr sich offenbarenden Gottes, der entsprechende Seelenbegriff einer im göttlichen Wesensgrunde wurzelnden und für ihn bestimmtem, aus der Sinnenwelt für ein höheres Jenseits reifenden Persönlichkeit, schließlich der Begriff einer eigenständigen Kraft des Willens, den Motiven des Guten oder Bösen durch innere Wesensaufbietung zu gehorchen oder zu widerstreben, ob diese Begriffe gegenüber der modernen Wissenschaft, ihren neuen stofflichen Einsichten und ihren neuen prinzipiellen Grundlagen unmöglich geworden sind oder ob sie mit ihr verschmolzen werden können.24

20

A. a. O., 42. Vgl. ebd. 22 D., Die Selbstständigkeit der Religion, 425. 23 Vgl. a. a. O., 520–535. 24 A. a. O., 525. 21

300

V. Zum Verhältnis von Religionstheorie und Dogmatik

Lipsius’ Theologie verficht durchaus den Anspruch, sich mit einer Wesensbestimmung religiösen Lebens dieser Frage gestellt zu haben und Troeltsch weist mit seiner Kritik an einer Spannung zwischen eudämonistischer Religionsphänomenologie und ihrer spekulativen Auslegung als mystische Gotteswirkung, einem problematischen Übergang von einem transzendentalen Moment menschlicher Freiheit zu Grundsätzen christlicher Dogmatik und einer dem Verständnis religiöser Individuen widerstrebenden Postulatentheorie auf Spannungspunkte in Lipsius’ theologischer Systematik hin. Allerdings unterstellt er der mehrstufigen Religionstheorie von Lipsius zu Unrecht, dass sie auf einen Wahrheitsbeweis religiöser Gehalte ausgerichtet sei.25 Daher misst Troeltsch Lipsius’ Theologie an einem ihr fremden Maßstab und schätzt so seinen Beitrag zu der von Troeltsch emphatisch herausgestellten Grundfrage moderner Dogmatik nach der Zukunftsfähigkeit christlichen Glaubens falsch ein. Troeltsch übersieht, wie weitreichend Lipsius die Dogmatik von dem Anspruch, die Wahrheit der Religion und christlich-dogmatischer Rede zu beweisen, abhebt. Es geht ihm nicht darum, aus empirischer Religionsforschung die begrifflichen Gehalte des Christentums her- oder abzuleiten. Die argumentative Bewegung seiner Dogmatik ist gleichsam umgekehrt. Die begrifflichen Gehalte christlicher Dogmatik sind seiner Konzeption zu Folge der dogmatischen Arbeit vielmehr durch Schrift, Tradition, kirchliche Praxis und allgemeine christlichfrommen Rede vorgegeben. Auf dieser Ebene hat sich ein traditionalistisches Element in Lipsius’ Werk gezeigt. Es ist ihm nicht um eine Begründung dieser Gehalte zu tun, sondern um ihre moderne Auslegung. Die leitende Frage ist, wie den dogmatischen Gehalten des Christentums Sinn und Bedeutung abzuringen ist. Ihre Geltung ist der positionellen und perspektivischen christlichen Dogmatik bereits vorausgesetzt. Wie ist sie jedoch zu bestimmen, sodass die Gehalte einen sinnvollen Zusammenhang unter sich bilden, mit dem allgemeinen Wahrheitsbewusstsein der jeweiligen Gegenwart zusammenbestehen und sinnvoll auf die Phänomenalität religiösen Lebens bezogen werden können? Die Religionsphilosophie von Lipsius ist nicht losgelöst von dieser Frage zu betrachten, sondern als Teil dieses Diskurses um den Sinn der dogmatischen Gehalte. Gegenüber Troeltschs Lesart ist also die argumentative Stoßrichtung von Lipsius’ theologischer Systematik umzukehren. Die psychologische Religionstheorie soll Religion gerade vorbehaltlich aller Geltungsfragen in den Blick nehmen. Sie legt die Bezugswirklichkeit christlich-dogmatischer Rede offen. Troeltsch legt allerdings zu Recht den Fokus auf den Freiheitsbegriff, der nach Lipsius ein transzendentales – über das kausale Geschehen hinausweisendes – Moment in der Phänomenalität religiösen Lebens aufdeckt. Die dogmatische Religionstheorie eröffnet ein deutendes Erleben dieser Freiheit als selbstoffenbarendes Wirken

25 „Hier ist denn auch die Stelle, an welcher sich die verschärfte unmittelbare Begründung der Wahrheit der Religion, insbesondere der christlichen, auf ,praktische Nötigungen‘ ergibt.“ D., Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 46.

4. Religion als Freiheitsgeschehen – Zur Funktion der Religionstheorie

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Gottes und bezieht so die christlich-dogmatische Rede auf das menschliche Freiheitserleben. Durch das menschliche Freiheitserleben erhält die christlich-dogmatische Rede ein ,objektives Moment‘ und durch die Dogmatik wird das Freiheitserleben in einem umfassenden Sinnhorizont ausgelegt. Im Folgenden soll diese Lesart im Rückblick auf den werkbiographischen Nachvollzug von Lipsius’ Religionstheorie und Dogmatik entfaltet werden.

4. Religion als Freiheitsgeschehen – Zur Funktion der Religionstheorie Nach der hier zu entfaltenden Lesart übernimmt Lipsius’ Religionstheorie – neben dem Ausweis einer gesamtkulturellen Bedeutsamkeit religiösen Lebens für das menschliche Selbstverständnis als freie Persönlichkeit – die Funktion, Religion als ein Freiheitsgeschehen zu entschlüsseln und damit die Bezugswirklichkeit christlich-dogmatischer Rede für die dogmatische Reflexion freizulegen. Durch sie gewinnt die gesamte Dogmatik bei Lipsius ein freiheitstheologisches Gepräge, in dem sich menschliches Freiheitserleben und die Rede von göttlicher Offenbarung wechselseitig auslegen. Um diese Interpretation zu plausibilisieren, werden im Folgenden die wesentlichen Grundcharakteristika seiner mehrstufigen Religionstheorie auf der Basis ihrer werkbiographischen Erschließung rekapituliert. Die Religionstheorie bei Lipsius folgt einem dreistufigen Aufbau: Die psychologische Theorie der Religion bestimmt sie als menschlichen Versuch, in der Bezugnahme auf eine transzendente Macht die als praktische Nötigung erlebte Spannung zwischen eigenem Streben, seine eigene Freiheit zu behaupten, und Naturverwobenheit aufzuheben. Dabei ist vorerst offen, ob die adressierte transzendente Macht erdacht ist oder nicht. Diese psychologische Beschreibungsebene stößt jedoch auf eine Grenze, wenn der Mensch durch die religiöse Bezugnahme auf Gott tatsächlich eine innere Freiheit über die Natur erlebt. Mit dem Erleben einer Erhabenheit innerer intelligibler Freiheit tut sich nämlich eine metaphysische Realität auf, die sich mit der empirisch-kausalen Beschreibungsebene der Psychologie nicht erfassen oder erklären lässt. Die erlebte Freiheit selbst ist – wie Troeltsch es treffend analysiert hat – ein transzendentales Moment in der Phänomenalität religiösen Lebens. Die erfahrbaren Erscheinungsformen religiösen Lebens in Geschichte und aktuellen religiösem Vollzug lassen sich demnach nicht verstehen, ohne sie auf eine über die Welt der Kausalitäten hinausweisende Spontaneität menschlichen Geisteslebens zurückzuführen. Anders lässt es sich nach Lipsius nicht erklären, dass Menschen sich überhaupt auf eine erfahrungstranszendente Macht beziehen. Für ihn ist intelligible Freiheit also ein Grenzbegriff, der eine Erweiterung der Wirklichkeitsbeschreibung über die Grenzen der Erfahrungswelt hinaus nötig macht. Aufgrund der in der menschlichen Naturverwobenheit begründeten Begrenztheitserfahrung kann der

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V. Zum Verhältnis von Religionstheorie und Dogmatik

Mensch diese neugewonnene Freiheit nicht aus sich oder der Welt der Kausalitäten ableiten, sondern weiß sie von einem transzendenten ,Woher‘ der Freiheit abhängig. Die religiöse Freiheitserfahrung ist nach dieser auf Freiheit zugespitzten Fortbildung von Schleiermachers Religionstheorie mit dem Erleben einer schlechthinnigen Abhängigkeit der Freiheit untrennbar verwoben. Beides, die erlebte intelligible Freiheit und die erlebte schlechthinnige Abhängigkeit, sind für Lipsius überempirische, transzendente Momente, die den empirischen Erscheinungsformen religiösen Lebens zugrunde liegen. Entsprechend lässt sich die Phänomenalität der Religion für den Menschen erst in einer metaphysischen Bestimmung eines Übergangs endlicher menschlicher Freiheit und Abhängigkeit zur kategorial über die Erscheinungswelt erhobenen intelligiblen Freiheit in Gott voll erfassen: „Ihrem metaphysischen Wesen nach ist daher die Religion die Erhebung über die empirische Abhängigkeit in der Welt zur intelligibeln Freiheit über sie in der transcendentalen Abhängigkeit von Gott.“26 An diese metaphysische Theorie der Religion schließt schließlich die dritte Stufe an: die dogmatische Religionstheorie. Sie legt das religiöse Freiheitsgeschehen der Erhebung über die Natur als selbstoffenbarendes Wirken des persönlichen Gottes im menschlichen Geist aus. In ihr erst wird die transzendente Macht in der Perspektive des Glaubens als eine wirksame Wirklichkeit gesetzt, die freies Persönlichkeitsleben eröffnet, und in einem Akt intuitiven Deutens als persönlicher Gott erlebt. Diese dreistufige Religionstheorie bestimmt Religion in dreifacher Hinsicht als ein Freiheitsgeschehen. Erstens wird ein menschliches Bedürfnis, die eigene Freiheit gegenüber der Natur zu behaupten, als psychologischer Ursprung der Religion – ein menschliches Freiheitsbedürfnis – bestimmt. Zweitens wird Religion metaphysisch selbst als ein Prozess tatsächlicher Erhebung zu einer intelligiblen, über die Welt der Kausalität erhabenen Freiheit aufgefasst und drittens wird Religion als eine Selbstdurchsichtigkeit menschlichen Freiheitserlebens auf einen absoluten Grund hin konzipiert. Troeltsch sieht in seiner Rekonstruktion von Lipsius’ Religionstheorie treffend, dass sie von einem Konzept praktischer Nötigung getragen ist. Es soll gleichermaßen Ausdruck eines Bedürfnisses und eines Selbsterlebens sein. Mit ,praktischer Nötigung‘ bezeichnet Lipsius ganz grundlegend das in der psycho26

L, Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 43. Kennzeichnend für Lipsius’ Verknüpfung von Religion und Freiheitsgeschehen ist, dass er – wie Biedermann – das dynamische Moment des Freiwerdens des Menschen in der Erhebung über die Natur ins Zentrum stellt. Dies kann ausgehend von der instruktiven Hegel-Analyse Christoph Menkes als eine freiheitstheoretische Nähe zu Hegel interpretiert werden, die gerade das Moment der Befreiung zum wesentlichen Kern des Autonomieverständnisses Hegels erklärt. „Autonomie heißt Autonomisierung: Befreiung zur Autonomie.“ C M: Autonomie und Befreiung. Studien zu Hegel, Berlin 2018, 36. Lipsius’ Konzept der schlechthinnigen Abhängigkeit menschlicher Erhebung über die Natur deckt sich zudem mit dem rezeptiven Widerfahrnischarakter der Befreiung, den Menke einer aus jüdischer Tradition erwachsender Freiheitserfahrung zuschreibt. Vgl. D.: Theorie der Befreiung. Berlin 2022, 106.139.

4. Religion als Freiheitsgeschehen – Zur Funktion der Religionstheorie

303

logischen Religionstheorie herausgestellte erlebte Bedürfnis, die existentielle Spannung zwischen dem menschlichen Freiheitsstreben und seiner Verwobenheit in die Natur durch Bezug auf eine transzendente Macht zu lösen. Einerseits beschreibt das Konzept praktischer Nötigung eine Qualität des Freiheitserlebens, die menschliches Leben auszeichnet. Sie besteht in der Möglichkeit, sich von der als lebenshemmend wahrgenommene Naturverwobenheit innerlich freizumachen und sich auf erfahrungstranszendente Gegenstände zu beziehen, um von ihnen Hilfe in der Selbstbehauptung zu erhoffen. Sie kann nicht erklärt oder erfahrungswissenschaftlich erfasst werden, sondern muss selbst erlebt werden. Andererseits ist praktische Nötigung Ausdruck eines menschlichen Bedürfnisses, die eigene Lebensführung gegenüber natürlichen Hemmnissen zu behaupten und so ein über tierisches Leben hinausweisendes Freiheitsvermögen zu kultivieren. Das Bedürfnis ist mitunter ganz konkret als Erleben leiblicher Not gefasst, das bewusst zu verspüren bereits die Regsamkeit einer Freiheit ist, die über ein ReizReaktions-Schema erhaben ist. Das Bewusstsein hat jedoch immer auch sittliche Momente. Durch sie bekommt sein Konzept praktischer Nötigung Züge eines postulatentheoretischen Kalküls praktischer Vernunft. Die Nötigung, sich auf eine transzendente Macht zu beziehen, gründet sich nach Lipsius nämlich auch darin, dass eine wirkliche Behauptung persönlicher Freiheit gegenüber der Natur nur dann denkbar ist, wenn die Natur trotz aller Widrigkeiten und amoralischen Strukturen der Welt der Kausalitäten mit einer immanenten Teleologie hin zur Ausbildung und Vollendung freien Persönlichkeitslebens zusammen gedacht werden kann. Dies ist nur möglich, wenn ein absoluter Grund von Natur und Freiheit als wirklich gesetzt werden kann. Auch daher ist es nach Lipsius eine praktische Nötigung, einen absoluten Möglichkeitsgrund des Freiheitsvollzugs anzunehmen, der ein moralisches Selbstverständnis freier, aber in die Welt der Kausalitäten verwobener Persönlichkeit gewährleistet. In dem Konzept praktischer Nötigung laufen also die postulatentheoretischen und erlebenstheologischen Momente bei Lipsius zusammen, die Troeltsch herausgestellt hat. Beide sind ebenfalls eng auf Freiheit ausgerichtet. Einerseits ist die praktische Nötigung eine Erlebensqualität menschlicher Freiheit. Andererseits bekommt dieses Erleben einen rationalen Grund in der praktischen Reflexion der Möglichkeitsbedingungen der Freiheit endlicher Vernunftwesen. Welche Freiheit rückt Lipsius hier jedoch ins Zentrum seiner Religionstheorie? Auf diese zentrale Frage lässt sich keine eindeutige Antwort finden. Dem Freiheitsbegriff nähert sich Lipsius vorrangig transzendental-, bewusstseins- und moralphilosophisch an. Soziologische oder politische Implikationen der Freiheit bleiben weitestgehend unreflektiert. Seine Ausführungen schillern zudem zwischen einer allgemein menschlichen Freiheit, die in jedem Aspekt menschlichen Geisteslebens wie Denken, Wollen und Fühlen in Anspruch genommen wird, und einer spezifisch religiösen Freiheit, die sich nur im Bezug des Menschen auf eine Unbedingtheitsdimension einstellt. Allgemein versteht Lipsius intelligible Freiheit als eine über den naturkausalen Nexus erhabene Spontaneität, die sich in allen Formen menschlichen Geisteslebens äußert und ihnen konstituierend vor-

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V. Zum Verhältnis von Religionstheorie und Dogmatik

ausliegt. Sie meint die Möglichkeit einer Autonomie des persönlichen Geisteslebens trotz durchgehender naturkausaler Geschlossenheit der phänomenalen Wirklichkeit. Sie ist dem Menschen im Selbsterleben vorreflexiv bewusst und eröffnet dem Menschen, sich innerlich frei auf die Welt der Kausalitäten zu beziehen und sich zu ihr zu verhalten, ohne ihr Ursache-Wirkungs-Geflecht aufzuheben. Ursprünglich ist sie nach Lipsius keine genuin sittliche Freiheit. Sie ist der Grund jeglicher freien Lebensführung. In der kulturgeschichtlichen Entwicklung reichert sie sich jedoch mit sittlichen Motiven an, da sie erst unter der moralischen Selbstgesetzgebung hinreichend gegenüber heteronomen Ausprägungen gewahrt ist. Insgesamt fungiert der Freiheitsbegriff bei Lipsius so geradezu als Synonym für Geistesleben und Kultur überhaupt. In seinen religionsdogmatischen Ausführungen werden bereits diese Momente einer allgemeinen Geistesfreiheit des Menschen als göttliches Wirken ausgelegt. Wenngleich Lipsius die menschliche Erhebung über die Natur in sämtlichen Akten seiner Spontaneität ausweist, befriedet sich die praktische Nötigung seiner Konzeption nach allerdings erst im Horizont eines konkret religiösen Erlebens der eigenen Freiheit als Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch. Erst in einem religiösen Freiheitserleben erfährt der Mensch nach Lipsius die Hilfe, die er sich auf der Basis praktischer Nötigung erhofft.27 In diesem Erleben tritt dem Menschen das Absolute als tatsächlich wirkliche und persönliche Kraft gegenüber und wird als tragender Grund eigenen Freiheitsvollzugs erschlossen. Hier ist die Selbsterfahrung eigener intelligibler Freiheit und schlechthinniger Abhängigkeit immer zugleich mit einer gegenständlichen Anschauung verbunden. Das eigene Erleben von Freiheit wird in der Religion transformiert in die Erfahrung transzendenter Wirklichkeit mit objektivem Gepräge. Darin findet das Bedürfnis der praktischen Nötigung Ruhe. Erst auf dieser Ebene des dogmatischen Religionsverständnisses wird sich der Mensch der Unbedingtheitsdimension seiner Freiheit im deutenden Erleben voll gewahr und kommt so in der Bezugnahme zu der absoluten Persönlichkeit Gottes ganz zu sich selbst als freier Persönlichkeit. In der bildlich vermittelten Bezugnahme auf das Absolute findet das menschliche Leben eine Heimat des Geistes. Im dogmatischen Religionsverständnis versucht Lipsius also, die konkrete Glaubensperspektive eines historisch, kulturell und biographisch gefärbten religiösen Selbstverständnisses auf das in seiner Religionstheorie formell beschriebene religiöse Freiheitsgeschehen zu beziehen und zugleich als eine Form der unwillkürlichen Deutung des eigenen freien Persönlichkeitslebens zu bestimmen, die den Menschen die von der transzendenten

27 Auf dieses zweistufige Modell religiöser Gewissheitsbildung von Bedürfnis- und Erfüllungserfahrung hat Iff hingewiesen. „Doch die praktische Nötigung allein kann die religiöse Gewissheit nicht erzeugen, weil das Bedürfnis und Streben nach übernatürlicher Hilfe nicht die Erfahrung der Hilfe ist. Damit eine religiöse Erfahrung und Gewissheit entsteht und sich der religiöse Trieb nicht unbefriedigt im Unbestimmten verliert, muss er durch von ihm verschiedene Erfahrungen sozusagen aufgehalten, zur Ruhe gebracht und bestimmt werden.“ I, Religiöser Trieb und frommes Gefühl, 728.

4. Religion als Freiheitsgeschehen – Zur Funktion der Religionstheorie

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Macht erhoffte Behauptung der Freiheit gegenüber der Natur tatsächlich erleben lässt. Religion wird so aus der Perspektive des Glaubens als Erfüllung eines allgemein menschlichen Freiheitsbedürfnisses bestimmt. Ihr Wahrheitsanspruch muss sich an dieser Funktion bewähren. Dem religiösen Vollzug des Menschen schreibt Lipsius keine spezifische Provinz im Gemüt zu, sondern betont gegen Schleiermacher, dass alle Formen menschlichen Geisteslebens Anteil an ihm haben. Damit stellt Lipsius heraus, dass im religiösen Vollzug passivisches Gewahrsein von schlechthinniger Abhängigkeit im Fühlen immer eng mit aktivischen spontanen Akten der Erhebung über die Natur im Denken, Wollen und Fantasietätigkeit verzahnt sind. Selbst das religiöse Erleben eines religiösen Verhältnisses zu Gott wird von Lipsius als Akt der produzierenden Anschauungskraft ausgewiesen, der passivisches Erleben und aktivisches Deuten als Teil eines verschmolzenen unwillkürlichen Syllogismus’ fasst. Das Erleben eines Gottesverhältnisses geht in seiner konkreten Bestimmtheit also auch auf die Fantasietätigkeit des Menschen zurück. Sie überträgt die transzendentalen Momente des eigenen Freiheitserlebens unwillkürlich auf eine Beziehung zu einer persönlichen transzendenten Macht und überführt so die über Erscheinungswelt hinausweisende Wirklichkeit menschlicher Freiheit und das Erleben ihres absoluten Grunds in eine für den Menschen denk- und erfahrbare Form. In all diesen Formen soll die Religion selbst als eine Form des aktivischen Freiheitsvollzugs ausgewiesen werden, der sich selbst reflexiv als Freiheit zur Darstellung bringt, die auf ihren absoluten Grund hin durchsichtig ist. Dieser Vollzug selbst ist es, der aus der religionsdogmatischen Perspektive als Wirken Gottes ausgelegt wird. Das Wirken Gottes soll also nicht als ein Gegenstand eines psychischen Prozesses im menschlichen Geist gedacht werden, sondern als eine mit diesem Prozess numerisch identische Kraft. Sie kann Lipsius als Gottes Erwirken menschlichen Geisteslebens fassen. Gott begründet in der religiösen Glaubensperspektive das menschliche Geistesleben und ist so in aller menschlicher Spontaneität präsent gedacht. In der Religion erfasst sich diese Spontaneität selbst als Realität des Absoluten. Im Durchgang durch diese Grundcharakteristika der Religionstheorie zeigt sich: Lipsius’ gesamte Religionstheorie ist auf den Begriff der Freiheit gestimmt. Religion ist als ein Freiheitsgeschehen aus einem Freiheitsbedürfnis motiviert, das die Möglichkeitsbedingungen der Freiheit selbst intuitiv und reflexiv in sich erfasst. In dem religiösen Leben und seiner Bezugnahmen auf transzendente Wirklichkeit erkennt er einen paradigmatischen Ausdruck menschlicher Spontaneität, die menschliches Leben von einem Ursache-Wirkungs-Geflecht der Natur abhebt. Die Fähigkeit dazu und das Bedürfnis danach ist ein aus dem eigenen Erleben bewusstes Moment, das nicht naturkausal erklärt werden kann. Mit seinem Konzept einer praktischen Nötigung versucht Lipsius, einen letzten Grund religiöser Gewissheit namhaft zu machen, der seinem Religionsverständnis eine „objektive Dignität“28 verleihen soll. Durch das Freiheitserleben gewinnt 28

A. a. O., 731.

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V. Zum Verhältnis von Religionstheorie und Dogmatik

die religiöse Rede und ihre Wirklichkeitsdeutung einen konkreten Wirklichkeitsbezug. Christlich-dogmatische Rede handelt demnach von Freiheit und ihrem Sinn. Es wäre jedoch ein Missverständnis, diesem Versuch, einen Wirklichkeitsbezug christlich-dogmatischer Rede aufzudecken, als religionstheoretischen oder theologischen Erweis religiöser Wahrheitsansprüche auszulegen. Vielmehr setzt Lipsius hier das um, was er in Auseinandersetzung mit Biedermann und Ritschl gefordert hat. Lipsius führt mit seiner Religionstheorie keinen Beweis religiöser Gewissheit, sondern versucht nur, die selbstständige Gewissheitsstruktur der Religion aufzudecken. Sie bekommt in den erfahrungstranszendenten, aber erlebbaren Momenten menschlicher Freiheit zwar gleichsam einen ,objektive‘ Haftpunkt, seine religiöse Auslegung als Gotteswirken lässt sich dadurch aber nicht erweisen. Die Religion ruht einer subjektiven Gewissheit auf, die sich direkt nur intuitiv im nicht allgemein ausweisbaren religiösen Vollzug einstellt. Die theologische Reflexion der Religion kann nur indirekte Plausibilisierungsverfahren dieser subjektiven Gewissheit bieten: Die religionspsychologische Rückführung der Religion auf ein existentielles Bedürfnis anthropologischer Reichweite, Freiheitsstreben und Abhängigkeitserfahrung miteinander zu vermitteln, sichert der Religion eine gesamtkulturelle Bedeutsamkeit. Religion wird als eine eigenständige Form deutenden Erlebens persönlicher Freiheit ausgewiesen, die einen unableitbaren Grund allen kulturellen Lebens erfasst. Dies verbindet Lipsius’ Theologie mit weiten Teilen evangelischer Theologie um die Jahrhundertwende: Die Kulturbedeutung der Religion sehen die protestantischen Theologen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert also darin, daß sie eine prinzipielle Transzendenz der Persönlichkeit gegenüber der empirischen Welt, eine durch keine innerweltliche Instanz garantierte Selbstständigkeit und Unverfügbarkeit des Individuums erschließe.29

Indem Lipsius Religion als ein Freiheitsgeschehen entschlüsselt und auf ein als praktische Nötigung erlebtes Bedürfnis zurückführt, trägt er damit auch einen praktisch-funktionalen Anspruch an die Religion heran, an dem sich ihre Wirklichkeit in ihrer befreienden Wirksamkeit messen lassen soll. Die theologische Weltanschauungskonstruktion kann zudem die Zusammenbestehbarkeit der religiösen Vorstellungen mit gesichertem Erfahrungswissen prüfen. Diese indirekten Plausibilisierungsverfahren sollen auch eine kritische Beurteilung bestimmter Ausprägungen von Religion ermöglichen. Im Wesentlichen bleibt Religion allerdings ein genuin eigenes kulturelles Phänomen, das sich vollständig nur aus sich selbst heraus verstehen lässt. Entsprechend macht Lipsius die persönliche Vertrautheit mit religiösem Erleben zur Voraussetzung der theologischen Arbeit. Lipsius versteht Religionstheorie als Grundlegung eines dogmatischen Selbstklärungsprozesses christlichen Glaubens aus der Perspektive christlichen Glaubens für seine Anhängerinnen und Anhänger. Mit den angeführten Plausibilisie-

29

G, Rettung der Persönlichkeit, 126.

5. Freiheitserleben als Offenbarung – Zur Funktion der Dogmatik

307

rungsverfahren hat die Religionstheorie zwar auch apologetische Funktionen, aber primär leitet sie in eine Selbstverständigung über den Sinn christlich-dogmatischer Rede ein. Dabei muss sie nach Lipsius ein Angebot machen, wie zwischen Kerngehalten christlichen Glaubens und bloß zeitbedingten Ausdrucksformen unterschieden werden kann. Dazu schaltet er der dogmatischen Arbeit eine Wesensbestimmung des Religiösen voraus. Mit seiner Bestimmung der Religion als deutendes Erleben menschlicher Freiheit bereitet Lipsius eine freiheitstheologische Auslegung christlich-dogmatischer Rede vor. Die Religionstheorie bestimmt Religion als ein Freiheitsgeschehen und erschließt damit eine auf ihren absoluten Grund hin durchsichtige Freiheit als die Bezugswirklichkeit christlichdogmatischer Rede. Sie handelt von einer wissenschaftlich unableitbaren Form menschlichen Freiheitserlebens, die Freiheit in einen umfassenden Sinnhorizont eingestellt sieht. Christlich-dogmatische Rede wird als Rede von freiem Persönlichkeitsleben im Verhältnis zu Gott und dem davon abgeleiteten Selbst- und Weltverhältnissen erschlossen. Damit erhält die christlich-dogmatische Rede eine phänomenologische Sättigung und muss nicht als Rede von einer metaphysischen Hinterwelt verstanden werden. Das entscheidende Scharnierstück dieser Verhältnisbestimmung von Religionstheorie und Dogmatik ist der Offenbarungsbegriff. In der Rekapitulation von Lipsius’ Offenbarungstheologie lässt sich das freiheitstheologische Profil seiner Dogmatik weiter konturieren.

5. Freiheitserleben als Offenbarung – Zur Funktion der Dogmatik Lipsius’ mehrstufige Religionstheorie bezieht eine empirische Bestimmung der Phänomenalität religiösen Lebens als Freiheitsgeschehen mittels einer metaphysischen Bestimmung einer intelligiblen Freiheit und Abhängigkeit auf eine dogmatische Auslegung des Freiheitsgeschehens als göttliche Offenbarung. Sie führt also die Begriffe Freiheit und Offenbarung eng zusammen und lässt sie sich gegenseitig auslegen. Der Offenbarungsbegriff repräsentiert dabei eine Glaubensperspektive deutenden Erlebens auf die freie Geistestätigkeit des Menschen, die menschliche Spontaneität als ein göttliches Wirken adressiert. Religion als Aktivität des Menschen und Offenbarung als göttliche Aktivität im Menschen werden dabei als Wechselbegriffe gefasst. Sie bezeichnen zwei unterscheidbare Aspekte eines numerisch-identischen Prozesses im menschlichen Bewusstsein. Beides gibt es aus der religiösen Glaubensperspektive nur in ihrer Verwobenheit, ohne dabei dem menschlichen Handeln die Selbstwirksamkeit abzusprechen oder Gott auf menschliche Freiheit zu reduzieren. Die Spontaneität freien menschlichen Bewusstseinslebens wird also als ein Berührungspunkt von Gott und Mensch inszeniert. Mit dieser wechselseitigen Verzahnung von religiösem Freiheitsgeschehen und religiösem Beziehungsgeschehen von Gott und Mensch bezieht Lipsius also die

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V. Zum Verhältnis von Religionstheorie und Dogmatik

christlich-dogmatische Rede auf das Freiheitserleben. Sie erhält dadurch eine Erdung und phänomenologische Sättigung, indem sie keine mysteriöse Wirklichkeit ,hinter‘ der Erscheinungswelt adressiert, sondern die religiös erlebte Freiheit als eine erlebbare Dimension der einen Wirklichkeit. Das religiöse Freiheitserleben erhält im Gegenzug durch die christlich-dogmatische Rede eine konkrete Bestimmtheit, bewegt sich in einem greifbareren bildlich-symbolischen Vorstellungsraum und wird in einen umfassenden Sinnhorizont eingestellt. Durch diese Anlage der Dogmatik werden die materialdogmatischen Gehalte des Christentums von Lipsius auf das religiöse Freiheitsgeschehen hin ausgelegt. In der werkbiographischen Studie konnte dies exemplarisch an der speziellen Theologie, Christologie und Pneumatologie nachvollzogen werden. Gott wird als Quell der Freiheit bestimmt, Christus als historische Offenbarung und Urbild freien Persönlichkeitslebens in Gott und der Heilige Geist als göttlich gestiftete subjektive Aneignung der Freiheit. Die konkreten religiösen Vorstellungen dieser materialdogmatischen Bestimmungen führen die theologische Reflexion jedoch in eine Antinomie symbolisch-bildlicher Konzeptualisierungen des Ineinanders von menschlicher Spontaneität und göttlichem Wirken, von göttlicher Immanenz und Transzendenz. Christlich-dogmatische Rede kann so nur als uneigentliche Rede vom Unendlichen im Endlichen bestimmt werden. Sie versucht etwas gegenüber der Erfahrungswelt Transzendentes mit den Mitteln der auf die Erfahrungswelt zugeschnittenen menschlichen Denk- und Anschauungsformen zur Darstellung zu bringen. Ihre Zusammenbestehbarkeit mit dem menschlichen Erfahrungswissen erfordert allerdings, die Absolutheit Gottes als kategoriale Unterschiedenheit von aller Endlichkeit der raum-zeitlich strukturierten Welt der Kausalitäten zu denken. Das göttliche Wirken beispielsweise soll gerade nicht als eine naturkausale Kraft gedacht werden, die als Ursache menschlichen Geisteslebens angegeben wird, denn dann wären menschliche spontane Akte heteronom statt autonom. Religiös bildliche Rede gerät durch ihre versinnlichenden Ausdrucksformen des Unbedingten in Spannung zur erfahrungswissenschaftlichen Welterschließung. Daher muss zwischen bildlicher Form und religiösem Gehalt christlich-dogmatischer Rede unterschieden werden. Die dogmatische Arbeit soll vor diesem Hintergrund aktiv an einem kulturgeschichtlichen Entwicklungsprozess religiöser Ausdrucksmittel partizipieren, den Lipsius Vergeistigung nennt. Er zeugt von einer zunehmenden Selbstdurchsichtigkeit religiöser Sprachspiele, die ihre bildliche Uneigentlichkeit bewusst halten und so vor versinnlichenden Fehlinterpretationen religiöser Gehalte bewahren. Trotzdem bestreitet Lipsius, dass sich die Gehaltfülle christlich-dogmatischer Rede verlustlos in eine philosophisch geläuterte Reflexion menschlicher Freiheitserfahrung im Horizont des Absoluten auflösen lässt. Gerade in den spannungsreichen symbolischen Ausdrucksformen der Religion sieht Lipsius vielmehr einen religiösen Gehalt, der sich nicht außerhalb bildlich-symbolischer Rede explizieren lässt. Es ist ein mystischer Erfahrungskern religiösen Freiheitserleben, der menschliche Erhabenheit über die Natur als ein unerschöpfliches Mysterium erleben lässt, das dem Menschen unableitbare Würde und Sinn verliehen hat. So kann hier von einer

5. Freiheitserleben als Offenbarung – Zur Funktion der Dogmatik

309

dogmatischen Sakralisierung freien Persönlichkeitslebens bei Lipsius gesprochen werden. Harnack womöglich vorweggreifend spricht er vom „unendlichen Werth jeder einzelnen Menschenseele“30. Durch die Engführung von Freiheit und Offenbarung wird bei Lipsius also auch die Freiheit in ein neues Licht gestellt. Zunächst wird die innere Freiheit als verdankte Freiheit erschlossen, die der Mensch nicht aus sich selbst heraus herstellen oder aus der Welt der Kausalitäten ableiten kann. Sie wird dynamisch und prozesshaft als Erhebung über die Natur erlebt und ihr so ein sich immer wieder neu ereignendes innerlich-emanzipatives Moment zugesprochen.31 Sie wird zudem in eine teleologische Perspektive gesetzt, welche die Ausbildung freier Persönlichkeit als Bestimmung des Menschen auffasst und ihr so eine sinnstiftende Funktion einschreibt. Davon abgeleitet wird in die Welt der Kausalitäten eine immanente Teleologie eingezeichnet, die die Natur auf Verwirklichung von Freiheit angelegt erscheinen lässt und sie so der Ausbildung einer – als Reich Gottes konzeptualisierten – sittlichen Gemeinschaft freier Persönlichkeiten unterordnet. Dem Erleben der Freiheit selbst wird zudem eine eigene Heilsdimension verliehen, indem sie als Lebensgemeinschaft mit Gott, als Gotteskindschaft, gefasst wird. Religiöse Freiheit ist Seligkeit. In ihr findet der Mensch nach Lipsius friedvolle Erfüllung seiner Sehnsucht nach dem Unbedingten und eine Lösung der existentiellen Spannung von Freiheitstrieb und Abhängigkeitserfahrung. Durch die religiöse Auslegung des Freiheitserlebens wird dem freien Persönlichkeitslebens also insgesamt ein soteriologischer Richtungssinn zugeschrieben. Auch diese Sinn- und Heilsdimension religiösen Freiheitserlebens kann nach Lipsius nicht bewiesen werden. Sie muss sich im religiösen Erleben selbst ereignen. Für Christinnen und Christen hat sich die historisch bedingte Bestimmtheit christlich-religiöser Konzeptualisierungen des Freiheitserlebens jedoch bewährt und tut es noch. Diese ihre Bestimmtheit reflektiert sich in der Rede von einer 30

L, Die Hauptpunkte der Glaubenslehre, 25. Vgl. auch ., Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 343. Claus-Dieter Osthövener weist in seinem Anmerkungsapparat darauf hin, dass Adolf von Harnack seine berühmte Rede vom unendlichen Wert der Menschenseele in Das Wesen des Christentums dem Werk von Lipsius entnommen haben könnte. Vgl. A  H: Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten von Adolf v. Harnack, Tübingen 32012, 43.219. 31 Für Lipsius’ Freiheitstheologie kann so eine weitgehend harmonische Auffassung vom Gegenüber einer religiösen Vorstellung verdankter Freiheit und einer spezifisch neuzeitlichen emanzipativen Freiheit festgestellt werden, insofern sich ihr zufolge in Religion vorrangig die schlechthinnige Abhängigkeit einer autonomen Spontaneität menschlichen Geisteslebens reflektiert. Gegenüber einer solchen Wahlverwandtschaft von christlicher Religion und neuzeitlichem Autonomieanspruch hat insbesondere die hermeneutische Theologie Differenzen zwischen beiden Seiten herausgestellt, die eine gegenwärtige liberale Freiheitstheologie nicht übergehen sollte. Vgl. M L: „Zur Freiheit befreit“. Zum christlichen Freiheitsverständnis in liberaler Perspektive, in: Jörg Lauster/Ulrich Schmiedel/Peter Schüz (Hg.): Liberale Theologie heute – Liberal Theology Today (Dogmatik in der Moderne 27), Tübingen 2019, 327–340, hier 333.

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V. Zum Verhältnis von Religionstheorie und Dogmatik

historischen Offenbarung in Jesus Christus. Von ihr her erlangt der Vorstellungshorizont christlichen Freiheitserlebens erst seine Konkretion und Heilsdimension. Daher wird Jesus von Nazareth in der Christologie als Urbild gelingender Freiheit in Gott bestimmt und damit als unüberbietbare Verwirklichung freien Persönlichkeitslebens adressiert. Die biblischen Zeugnisse von Leben und Werk Christi liefern nach Lipsius eine innere Geschichte menschlicher Erhebung über die Natur zur Freiheit in Gott, die für jedes christliche Freiheitserleben von paradigmatischem Rang ist. Aus der Perspektive des christlichen Glaubens wird Christus selbst als Stifter des christlichen Gott-Mensch-Verhältnisses verehrt. Durch Kreuzestod und Auferstehung wird dem religiösen Freiheitsleben zudem eine über das endliche Leben hinausweisende Heilsdimension zugesprochen. Im Rahmen seiner Spättheologie versucht Lipsius, diese historische Offenbarung in Christus stärker in den Vordergrund seiner Theologie zu rücken und erblickt dabei in Christus eine neue Heilswirklichkeit in die Geschichte treten, die religiöses Freiheitserleben erst denkbar macht. Auch diese Aussagen schreibt er jedoch einer Glaubensperspektive zu, die sich im gegenwärtigen religiösen Freiheitserleben immer wieder neu bewähren muss. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Lipsius mit dem Offenbarungsbegriff die Verbindung von dogmatischer Rede und menschlichem Freiheitserleben herstellt. Ein allgemeiner Begriff der Offenbarung fasst Gott als wirksamen Grund menschlichen Geisteslebens. Dabei werden Freiheit und Offenbarung eng zusammengeführt und legen sich wechselseitig aus. Die christlich-dogmatische Rede erhält einen freiheitsphänomenologisch erschlossenen Wirklichkeitsbezug und das Freiheitserleben wird in einen bildlich-symbolisch aufgespannten Sinnhorizont eingestellt. Ein spezieller Begriff der historischen Offenbarung verleiht der christlich-dogmatischen Rede zudem eine konkrete Bestimmtheit und gibt dem christlichen Erleben religiöser Freiheit eine bestimmte Form, die aus den biblischen Erzählungen einer inneren Geschichte Jesu geschöpft ist. Durch die Engführung von Freiheit und Offenbarung erlangt die Dogmatik von Lipsius ihre freiheitstheologische Stoßrichtung, die eine Sakralisierung freien Persönlichkeitslebens ins Zentrum christlichen Glaubens stellt.

6. Freiheit und Offenbarung – Das idealistische Erbe Mit seinem religionstheoretischen Begriff allgemeiner Offenbarung und seiner Verschränkung mit Freiheit zeigt Lipsius eine bleibende Verbundenheit mit dem Deutschen Idealismus, die vor dem Hintergrund seiner polemischen Abgrenzungen insbesondere gegenüber Hegel und dem empirischen Selbstverständnis seiner Religionspsychologie aus dem Blick geraten kann. Ganz grundlegend teilt er ihr Freiheitspathos. Kant hatte die Freiheit bereits zum Schlußstein seiner gesamten Philosophie erhoben.32 Johann Gottlieb Fichte schreibt: „Mein System ist vom 32

Vgl. K, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5,4.

6. Freiheit und Offenbarung – Das idealistische Erbe

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Anfang bis zu Ende nur eine Analyse des Begriffs der Freiheit.“33 Hegel sieht in ihr die zentrale „Aufgabe der Philosophie, welche so lange nicht wahrhaft und immanent gelöst ist, als der Begriff und die Freiheit nicht ihr Gegenstand und ihre Seele ist.“34 Und auch nach F. W. J. Schelling gilt: „Das A und O aller Philosophie ist Freiheit.“35 Und: „Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes.“36 Entscheidend ist jedoch eine damit einhergehende Transformation des Offenbarungsbegriffs. Während die kantische Philosophie und Fichtes früher Versuch einer Kritik aller Offenbarung von 1792 noch stark von einer aufklärungsphilosophischen Gegenüberstellung von Vernunft und Offenbarung gekennzeichnet sind, gewinnt der Offenbarungsbegriff bei Jacobi, dem späten Fichte, Hegel und Schelling eine umfassendere spekulative Bedeutung.37 In Kants Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft wird der Offenbarungsbegriff noch überwiegend problematisiert. Die Berufung auf eine historische Offenbarung im Sinne einer Erfahrung muss immer strittig bleiben, kann nur partikulare Gültigkeit für sich beanspruchen und bestenfalls auf einen reinen Religionsglauben hinweisen, der sich hingegen ganz auf Vernunft gründet. Jeglicher Versuch, eine Heilsrelevanz des Glaubens an eine historische Offenbarung zu behaupten, wird von Kant hingegen als „gefährlicher Religionswahn“38 bezeichnet. Offenbarung wird so zwar nicht per se abgelehnt, jedoch wird sie streng an die Richtschnur einer moralisch geformten Vernunftreligion gebunden und jeglicher über das Vernünftige hinausgehende Gehalt kritisiert. Dennoch kann Kant in der Philosophischen Religionslehre nach Pölitz von einer inneren Offenbarung Gottes durch die menschliche Vernunft sprechen, die zum Kanon aller anderen Rede von Offenbarung werden soll.39 Demgegenüber wertet Jacobi den Offenbarungsbegriff auf, macht ihn zu einem Grundbegriff spekulativer Philosophie und wendet ihn gegen eine diagnostizierte Schwäche kantischer Transzendentalphilosophie. Ihr Bestreiten einer di-

33 J G F: Gesamtausgabe. Briefe 1799–1800, Stuttgart – Bad Cannstatt 1973, 182. 34 G W F H: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. (1830), Hamburg 81991, 314, § 384. 35 Schelling an Hegel, 4. 2. 1795, in: Ders.: Briefe von und an Hegel. 1785 bis 1812, Hamburg 2017, 22. 36 F W J  S: Urfassung der Philosophie der Offenbarung, Hamburg 1992, 79. 37 G S: Art. Offenbarung. IV. Von Kant bis zur Gegenwart, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel u.a. 1992 ff., Bd. 6, 1105. Vgl. auch D H: Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus; Tübingen – Jena (1790 – 1794), Frankfurt a. M. 2004, 847–849. 38 I K: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Hamburg 2003, B 261. 39 Vgl. .: Philosophische Religionslehre nach Pölitz, in: Ders.: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der königlich preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff., 989–1126, hier AA 28,1117.

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V. Zum Verhältnis von Religionstheorie und Dogmatik

rekten Erkenntnis der Dinge an sich führe in einen Nihilismus und mache den Menschen – um ein Bild Jacobis aufzugreifen – zu einer Auster: Ich bin alles, und ausser mir ist im eigentlichen Verstande Nichts. Und Ich, mein Alles, bin denn am Ende doch auch nur ein leeres Blendwerk von etwas; die Form einer Form; gerade so ein Gespenst, wie die andern Erscheinungen die ich Dinge nenne, wie die ganze Natur, ihre Ordnung und ihre Gesetz.40

Mit dem Offenbarungsbegriff adressiert Jacobi demgegenüber ein Sich-ZuErkennen-Geben der Wirklichkeit, dem der Mensch nur jenseits seiner willentlichen und verständigen Erkenntnistätigkeit intuitiv gewahr sein kann. Dieses Gewahrsein beschreibt Jacobi auch als Fühlen der Seele oder Glaube, welcher die Wirklichkeit bejaht.41 Im durch Offenbarung induzierten Glauben zeigt sich nach Jacobi, dass die Wirklichkeit nicht auf Natur im Sinne eines geschlossenen Kausalzusammenhangs oder eines autopoietischen Systems reduziert werden kann. Zentral ist dabei die menschliche Freiheit: Das unmittelbare Bewusstsein des Menschen, von der ihn umgebenden und eigenen Natur als ein freies Selbst unterschieden zu sein, widerstreitet einer Gleichsetzung von Wirklichkeit und Natur.42 Dieses intuitive Bewusstsein ist nach Jacobi zugleich ein Gottesbewusstsein. So avanciert das menschliche Freiheitsbewusstsein zum Bewusstsein um eine Offenbarung Gottes im Menschen: Der Grad unseres Vermögens, uns von den Dingen ausser uns intensiv und extensiv zu unterscheiden, ist der Grad unserer Personalität, das ist, unserer Geisteshöhe. Mit dieser köstlichen Eigenschaft der Vernunft erhielten wir Gottesahndung; Ahndung dessen, DER DA IST: eines Wesens, das sein Leben in ihm selbst hat. – Von da her weht Freyheit die Seele an, und die Gefilde der Unsterblichkeit thun sich auf.43

Hierbei spricht sich die Intuition aus, dass die Freiheit des Menschen selbst nicht zum Prinzip der Philosophie erhoben werden kann, sondern einen Grund hat. Dieser Grund kann nach Jacobi jedoch nur theistisch verstanden werden. Die menschliche Freiheit muss einen persönlichen Gott zur Quelle haben, damit sie sich in ihrer Transzendierung naturkausaler Determination behaupten kann. Der Begriff der Offenbarung tritt hier als ein Selbsterschließungsgeschehen Gottes im Menschen auf, das nicht eine Vermittlung supranaturaler Wissensbestände meint, sondern ein Geschehen, das allem menschlichen Handeln und Denken konstituierend vorausliegt.44 Dem theologischen Standpunkt von Lipsius wurde 40

F H J: David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch (1787), Hamburg 2019, 61. 41 Vgl. a. a. O., 30–31. 42 Vgl. G E: Der Theismusstreit (1811/12). Die Kontroverse zwischen Jacobi und Schelling über die ,Göttlichen Dinge‘, in: Christian Danz/Georg Essen (Hg.): Philosophischtheologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit, Darmstadt 2012, 215–257, hier 236–237. 43 J, David Hume über den Glauben, 99. 44 Vgl. G W: Offenbarung. Problemhorizonte moderner evangelischer Theologie (Studium Systematische Theologie 2), Göttingen 2005, 31.

6. Freiheit und Offenbarung – Das idealistische Erbe

313

von Isaak August Dorner große Nähe zu Jacobi nachgesagt.45 Bis auf die Forderung in Lipsius’ frühester Theologie, auch Jacobis Denken in die theologische Arbeit mitaufzunehmen, gibt es jedoch keinen Anhaltspunkt dafür in Lipsius’ Selbsteinschätzung. Nichtsdestoweniger lässt sich eine Verwandtschaft durch das Grundmotiv, Freiheit und Offenbarung eng zusammenzuführen, feststellen. Diese Verwandtschaft ist auch durch Lipsius’ große Nähe zu Schleiermacher vermittelt. In offenbarungstheologischer Hinsicht hat Jacobi stark auf Schleiermacher gewirkt.46 So versteht auch Schleiermacher das unmittelbare Selbstbewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit des Selbst, welches sich als Gottesbewusstsein gestaltet, als eine „ursprünglich[e] Offenbarung Gottes an den Menschen“47. Das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl ist bei Schleiermacher das Bewusstsein, „daß unsere ganze Selbstthätigkeit eben so von anderwärtsher ist, wie dasjenige ganz von uns her sein müßte“48. Lipsius versteht seine Religionstheorie als eine Fortbildung dieser Konzeption, die er allerdings mit einer Theorie schlechthinniger Freiheit verbindet. Dadurch bezieht er im Gegensatz zu Schleiermacher das ,Von-Anderwärtsher‘ direkt auf ein ideelles Fundiert-Sein menschlicher Spontaneität im Absoluten.49 Zudem ergibt sich die Zentralstellung des Offenbarungsbegriffs in Lipsius’ Konzeption nicht aus seinem Rückgriff auf Schleiermacher, der ,Offenbarung‘ eher in den Hintergrund hat treten lassen.50 Sie ergibt sich vielmehr aus einer frühen Begeisterung für klassische deutsche Philosophie, durch die frühe Prägungen durch Christian Herrmann Weisses Schelling-Rezeption und seine religionstheoretischen Anleihen bei den von Hegel geprägten Theologen Karl Schwarz, Pfleiderer und Biedermann. Aus diesen Quellen übernimmt Lipsius das Grundmotiv der engen Verwobenheit von Freiheit und Offenbarung, ohne sich die philosophischen Rahmensysteme von Fichte, Hegel oder Schelling zu eigen zu machen. Seine Ablehnung ihrer spekulativen Ausrichtung hat er immer wieder polemisch herausgestellt. Dennoch lässt sich das Grundmotiv enger Verzahnung von Freiheit und Offenbarung in kurzen Schlaglichtern auch auf sie zurückverfolgen.51 Seine jeweilige Einbettung in ihre

45

Vgl. D, Ueber die psychologische Methode, 204. Vgl. W, Offenbarung, 31. 47 S, Der christliche Glaube, Bd. I, 30, § 4.4. 48 A. a. O., Bd. I, 28 (22), § 4.3. 49 Ulrich Barth hat im Diskurs mit Konrad Cramer gezeigt, dass sich eine solche Auffassung nicht mit Schleiermachers Konzeption deckt. Vgl. U B: Die subjektivitätstheoretischen Prämissen der ‹Glaubenslehre›. Eine Replik auf K. Cramers SchleiermacherStudie, in: Ders.: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 329–351, hier 340. 50 Vgl. H-J B: „Offenbarung“ in Schleiermachers Glaubenslehre. [1956], in: Ders.: Schleiermacher-Studien (Schleiermacher-Archiv 16), Berlin 1996, 81–98, hier 82. 51 Dass Fichte und Schelling trotz ihres Bruches nach 1802 durch ein vergleichbares philosophisches Projekt in Fichtes Anweisungen zum seligen Leben und Schellings Freiheitsschrift verbunden sind, hat Christian Klotz gezeigt. Beiden geht es auf je eigene Weise darum, den Offenbarungsbegriff einzuführen, um das menschliche Dasein vom Absoluten her zu erschließen. Vgl. C K: Freiheit und Offenbarung. Über einen Aspekt des Verhält46

314

V. Zum Verhältnis von Religionstheorie und Dogmatik

philosophischen Systematiken kann und muss dabei jedoch unbeleuchtet bleiben, da Lipsius sie verworfen hat. In Die Anweisung zum seligen Leben stellt Fichte die Verbindung von Freiheit und Offenbarung über das Wissen her. Wissen des Menschen als Offenbarung des Seins ist ihm zufolge zugleich die Offenbarung Gottes „in unserer tiefsten Wurzel“52. „Das reale Leben des Wissens ist daher, in seiner Wurzel, das innere Sein und Wesen des Absoluten selbst, und nichts anderes; und es ist zwischen dem Absoluten, oder Gott, und dem Wissen, in seiner tiefsten Lebenswurzel, gar keine Trennung, sondern beide gehen völlig ineinander auf.“53 In dem Wissen offenbart sich Gott und tut dies durch die Freiheit des menschlichen Geisteslebens als dessen Grund er sich erweist. „Der Grund der Selbstständigkeit und Freiheit des Bewußtseins liegt freilich in Gott; aber ebendarum und deswegen, weil er in Gott liegt, ist die Selbstständigkeit und Freiheit wahrhaftig da, und keineswegs ein leerer Schein.“54. Das menschliche Freiheitsbewusstsein wird hier zur Präsenzform Gottes im menschlichen Geistesleben und die Präsenz Gottes im Freiheitsvollzug des Bewusstseins wird zugleich als dessen Wirklichkeitsgarantie eingeführt. Bei Hegel begegnet das Motiv, die Freiheit als Offenbarung des Absoluten zu begreifen, im Herzen seiner Philosophie des Geistes. Geist, Offenbarung, Freiheit und das Absolute werden dafür denkbar eng zusammengeführt.55 In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion entfaltet er, dass das Christentum als offenbare und geoffenbarte Religion zugleich als „Die Religion der Wahrheit und Freiheit“56 zu bestimmen ist. Sie ist „die Religion der Freiheit, des Selbstbewußtseins, das aber zugleich Bewußtsein der umfassenden Realität [ist], die die Bestimmtheit der ewigen Idee Gottes selbst bildet und in dieser Gegenständlichkeit bei sich selbst ist.“57 Hier instanziiert sich Geist in selbstbewusster und damit freier Form.58 Vor diesem Hintergrund drückt sich in der Religion ein absolutes nisses zwischen Fichte und Schelling, in: Fred Rush/Karl Ameriks (Hg.): Freiheit/Freedom (Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus 9.2011), Berlin/Boston 2013, 130–149, hier 131. 52 J G F: Die Anweisung zum seligen Leben oder auch die Religionslehre, Hamburg 2012, 48. Wissen ist „das göttliche Dasein selber, schlechthin und unmittelbar, und inwiefern Wir das Wissen sind, sind wir selber in unserer tiefsten Wurzel das göttliche Dasein.“ Ebd. Mit dem Begriff des Daseins bezeichnet Fichte eine „Offenbarung des Seins“ (a. a. O., 42), die mit einer Offenbarung des Absoluten oder auch Gottes gleichzusetzen ist. So fungiert der Begriff des Wissens als entscheidendes Scharnierstück, um Gott und seine Präsenz im menschlichen Geistesleben zu denken. 53 A. a. O., 43. 54 A. a. O., 54. 55 Vgl. H, Enzyklopädie, 314, § 384. 56 D.: Vorlesungen über die Philosophie der Religion; 2. Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes, Frankfurt a. M. 92014, 203. 57 A. a. O., 204–205. 58 Vgl. J D: Religion zwischen Reflexion und Spekulation. Erwägungen zur Religionstheorie des frühen Hegel, in: Ulrich Barth/Wilhelm Gräb (Hg.): Gott im Selbstbe-

6. Freiheit und Offenbarung – Das idealistische Erbe

315

Freiheitsbewusstsein des Menschen aus, das diese Freiheit als Selbst-Manifestation Gottes fasst. In der für Weisse entscheidenden späten Philosophie Schellings und besonders seiner Freiheitsschrift findet der Begriff der Offenbarung Gottes als selbstoffenbarendes Erschließungsgeschehen in menschlicher Freiheit seinen deutlichsten Ausdruck.59 Offenbarung hat hier den Charakter übernatürlicher ,Belehrung‘ vollends verloren. Offenbarung ist vielmehr „der Prozeß, in dem sich Gottes eigentliches Wesen entfaltet und dahin gelangt, daß es für die Menschen kenntlich wird.“60 Schellings Freiheitsschrift nimmt ihren Ausgang bei einer „Tatsache der Freiheit“61, die jedem Menschen im Gefühl eingeprägt ist. Im Kontrast zu Jacobi fordert Schelling jedoch, das menschliche Freiheitsbewusstsein systematisch in eine philosophisch-wissenschaftliche Erklärung einzubetten, die nicht bei einem glaubenden Gefühl stehenbleibt.62 Bestimmend bleibt dabei das Motiv, die menschliche Freiheit als ein Leben in Gott zu charakterisieren: „Ja die Schrift selbst findet eben in dem Bewußtsein der Freiheit das Siegel und Unterpfand des Glaubens, daß wir in Gott leben und sind.“63 Freiheit avanciert so zu der wesentlichen Erscheinungsform der Beziehung zwischen Gott und Mensch und somit auch zur zentralen Erscheinungsform der Selbstoffenbarung Gottes. „So wenig widerspricht sich Immanenz in Gott und Freiheit, daß gerade nur das Freie, und soweit es frei ist, in Gott ist, das Unfreie, und soweit es unfrei ist, notwendig außer Gott.“64 Religion wird dabei insgesamt als ein reales Gott-Mensch-Verhältnis aufgefasst und das menschliche Geistesleben durch dieses Verhältnis grundiert. Aus diesem Verhältnis gewinnt das menschliche Bewusstsein seine Substanz, die mit Freiheit identifiziert wird.65 In diesen kurzen Schlaglichtern wird deutlich, dass menschliche Freiheit einerseits als Präsenzform Gottes aufgewertet wird, andererseits aber die Notwendigkeit herausgestellt ist, menschliche Freiheit in einem weiteren Horizont des Absoluten auszulegen. Freiheit und Offenbarung werden dabei eng zusammengebunden und legen sich wechselseitig aus. Möglich ist dies durch eine Neuerschließung des Offenbarungsbegriffs, der sich von einer aufklärerischen Gegenüberstellung von Vernunfterkenntnis und Offenbarungserkenntnis abhebt. Offenbarung ist hier nicht das Andere zur menschlichen Vernunft oder menschli-

wußtsein der Moderne. Zum neuzeitlichen Begriff der Religion, Gütersloh 1993, 62–78, hier 75. 59 Vgl. W, Offenbarung, 37. 60 H, Grundlegung aus dem Ich, 848. 61 S, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, 9. 62 Vgl. ebd. 63 A. a. O., 12. 64 A. a. O., 20. 65 Vgl. C D: Gott und die menschliche Freiheit. Studien zum Gottesbegriff in der Neuzeit, Neukirchen-Vluyn 2005, 60.

316

V. Zum Verhältnis von Religionstheorie und Dogmatik

cher Freiheit, sondern vollzieht sich in, an und durch menschliche Freiheit.66 Dabei sind Ereignis, Gehalt und Ursprung der Offenbarung eng aufeinander bezogen.67 Gott offenbart sich selbst durch sich selbst in menschlicher Freiheit. Dieses Grundmotiv setzt Lipsius in seiner Freiheitstheologie in einer eigenständigen Weise um. Er gibt ihm dabei jedoch eine gänzlich andere Fundierung als es in den sich auch untereinander freilich stark unterscheidenden nachkantischen Systemen des Deutschen Idealismus der Fall ist. Die Engführung von Freiheit und Offenbarung ist ihm vielmehr ein deutungstheoretischer Schlüssel für eine freiheitstheologische Auslegung christlich-dogmatischer Rede. Ihr zentraler Kunstgriff, das religiöse Freiheitsgeschehen und göttliche Selbstoffenbarung als numerisch identische Wechselbegriffe zu verstehen, bleibt allerdings ein idealistisches Erbe in seiner metaphysikkritischen Theologie. An die Stelle einer spekulativen Subjektivitätstheorie tritt bei ihm eine sich als empirisch-arbeitend verstehende Religionspsychologie, die idealistische Motive auf der Basis introspektiver Bewusstseinsphänomenologie reformuliert.

66

Saskia Wendel bezeichnet eine vergleichbare Position als libertarisches Verständnis von Offenbarung und verteidigt sie in: S W: In Freiheit glauben. Grundzüge eines libertarischen Verständnisses von Glauben und Offenbarung, Regensburg 2020. Entscheidend dafür ist es auch für sie, den Begriff der Offenbarung nicht als Begründungsinstanz, sondern als Deutungskategorie zu verstehen. Gottes Selbstoffenbarung in der Freiheit des Menschen ist dann weniger revelatio als apparitio: Ein Zur-Erscheinung-kommen Gottes als Bild. Vgl. S W: Göttliche Offenbarung und menschliche Freiheit – (wie) geht das zusammen? In: Klaus von Stosch u.a. (Hg.): Streit um die Freiheit. Philosophische und theologische Perspektiven, Paderborn 2019, 225–251, hier 249. 67 Vgl. H, Grundlegung aus dem Ich, 873.

VI. Spannungen und Bruchlinien der theologischen Systematik Wie ist nun Lipsius’ Durchführung seines freiheitstheologischen Programms und ihr Beitrag zur Frage nach der Zukunftsfähigkeit des christlichen Glaubens zu beurteilen? Die weitere theologiegeschichtliche Entwicklung nach seinem Tod 1892 scheint hier ein klares Urteil gesprochen zu haben. Die freiheitstheologische Dogmatik von Lipsius ist ohne große – zumindest explizit greifbare – Wirkung geblieben. Gleiches gilt für Schüler wie Max Scheibe, Bernhard Pünjer und Hermann Lüdemann. Dazu mögen äußerliche Umstände, wie eine oftmals unzugängliche Darstellungsweise oder die vehementen Polemiken der außerordentlich erfolgreichen frühen Ritschl-Schule gegen klassisch-liberale Theologien beigetragen haben. Letztlich kann jedoch konstatiert werden, dass es ihm nicht gelungen ist, die vielfältigen Vermittlungsaufgaben zwischen liberaler und positiver Theologie, zwischen neukantischer und spekulativer Theologie, zwischen Moral- und mystischer Erfahrungstheologie, zwischen weltanschaulicher Pluralität und christlichem Integrationsanspruch und zwischen Religionskritik und Offenbarungspositivismus vollends überzeugend zu lösen. Seine Theologie ist von Spannungen geprägt, die sich auch in einer wohlwollenden Rekonstruktion nicht restlos aufheben lassen. Diesen Spannungen soll in den folgenden Abschnitten nachgegangen werden, um zu zeigen, dass sie sich auf Vermittlungsanliegen zurückführen lassen, die das theologische Profil von Lipsius prägen. Sie sind Ausdruck einer integrativen Haltung, die abschließend zu würdigen ist. Zuvor sind allerdings ausgehend von wiederkehrenden Kritikmotiven gegenüber Lipsius einander widerstrebende Tendenzen seiner Überlegungen herauszustellen. Dabei lassen sich exemplarisch drei Grundspannungen bestimmen, die trotz wandelnder Argumentationsmuster und wechselnden Lösungsansätzen wiederholt auftreten: eine erkenntnistheoretische Grundspannung zwischen selbstkritischer Einschränkung religiöser Geltungsansprüche und kulturellem Überlegenheitsanspruch christlicher Weltanschauung, eine religionstheoretische Grundspannung zwischen Funktionalisierungen des Religiösen im Aufbau freier Subjektivität und einer substanzialistischen Theorie mystischen Erlebens sowie eine religionsdogmatische Grundspannung zwischen aktualer Gottesoffenbarung in menschlicher Freiheit und der Berufung auf eine historische Offenbarung in Jesus Christus.

318

VI. Spannungen und Bruchlinien der theologischen Systematik

1. Subjektivismus und Kritik – Die erkenntnistheoretische Spannung Die erkenntnistheoretische Reflexion der Religion bei Lipsius verbindet zwei prima facie gegenläufige Tendenzen. Auf der einen Seite verfolgt sie eine antifideistische Kritik religiöser Erkenntnisansprüche, die religiöse Aussagen von Wissensansprüchen abgrenzt und so eine reflexive Selbstdistanz in die religiöse Vollzugsperspektive einträgt. Auf der anderen Seite beruft sie sich auf ein mystisches Erleben, dessen unmittelbare subjektive Evidenz der epistemischen Einstellung des Glaubens eine selbstbewahrheitende Kraft zuschreibt. Der Philosoph Eduard von Hartmann erkennt darin eine Antinomie: Der theoretische Skepticismus zielt dahin ab, diesen Dogmatismus des Herzens zu zerstören; der religiöse Dogmatismus drängt dahin, die Zweifel des Kopfes überhaupt für unwesentlich zu erklären. So entsteht ein permanenter Zwiespalt zwischen Kopf und Herz, eine Antinomie der Vernunft und des Gemüths1.

Insbesondere der Verzicht auf direkte Beweisverfahren religiöser Gewissheit in Lipsius’ Theologie wurde wiederholt gegen sie gewandt. Bereits Biedermann hat sie in einen unkritischen Skeptizismus umschlagen sehen. Einerseits mache sie Dogmatik subjektivistisch und relativistisch, was religiöse Überzeugungen als bloße Meinungen dastehen lasse. Andererseits öffne sie supranaturalem Offenbarungspositivismus Tür und Tor und lasse so das kritische Skalpell der Theologie gegenüber allen möglichen frommen Behauptungen stumpf werden. Das „Zu-skeptisch zieht immer ein Zuwenig-kritisch nach sich.“2 Karl Rub sieht Lipsius’ Theologie vor diesem Hintergrund direkt in das Messer Feuerbachs laufen, da seine Religionstheorie geradezu provoziere, Religion als eine Selbsttäuschung anzusehen.3 Ihm zufolge fehle Lipsius jegliches theoretische Repertoire, um religiöses Erleben von einer Illusion zu unterscheiden. Nach Wolfhart Pannenberg steht die Theologie von Lipsius sogar sinnbildlich für den Subjektivismus des liberalen Religionsbegriffs nach einer mit einer Abkehr von Hegels Dialektik Hand in Hand gehenden Erneuerung des Kantianismus.4 Indem Lipsius Religion vorrangig als ein menschliches Verhalten bestimme, delegiere er die Plausibilisierung ihrer Gegenstände an die subjektive Gewissheit des Einzelnen und nähere sich damit strukturell Pietismus und Erweckung.

1 H, Die Krisis des Christenthums, 70. Eine kritische Auseinandersetzung mit Lipsius’ Erkenntnistheorie hat er ebenfalls vorgelegt: D.: Die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Dogmatik von Lipsius, in: Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie (1880) 3, 257–274. Zum wiederkehrenden Vorwurf einer Trennung von Kopf und Herz bei Lipsius vgl. N, Grundlagen und Grundzüge der Weltanschauung von R. A. Lipsius, 76. 2 B, Die Dogmatik von Lipsius, 31. 3 Vgl. R, Die Erkenntnistheorie von R. A. Lipsius, 31–32. 4 Vgl. P, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie, 312–314.

1. Subjektivismus und Kritik – Die erkenntnistheoretische Spannung

319

Lipsius vertritt die Subjektivität religiöser Gewissheit programmatisch. Religiöse Erkenntnis ist ihm eine Form der relationalen Selbsterkenntnis, die auf menschliches Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis ausgerichtet ist. Den Versuch, eine davon unabhängige Objektivität religiöser Gewissheit herzuleiten, lehnt er als unzulässige Hypostasierung religiöser Gehalte ab. In seiner Auseinandersetzung mit Feuerbach hat er der radikalen Religionskritik vorgeworfen, religiöse Erkenntnisse wie empirische Wirklichkeitsbeschreibungen zu traktieren, die sich als Sinnestäuschungen herausstellen könnten. Religiöser Gewissheit eignet demgegenüber eine intuitive Gewissheit, die gerade eine Freiheit zum Gegenstand hat, die sich im religiösen Vollzug selbst ereignet und zeigt. Nach Lipsius ist sie also von einer Beschaffenheit, die sich nicht als Täuschung herausstellen kann und die religiöser Freiheitserfahrung eine selbsterweisende Evidenz zuschreibt. So plausibel diese Überlegungen für einen Glauben an eine allgemeine Geistesfreiheit sein mögen, so fraglich muss bleiben, ob sich so das spezifisch-religiöse Freiheitserleben als Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch plausibilisieren lässt. In seiner Auseinandersetzung mit Friedrich Albert Langes Bestimmung der Religion als befreiende und erhebende Dichtung hat Lipsius unterstrichen, dass es für religiöse Gewissheit essenziell ist, dass sie sich nicht nur als ein Freiheitsgeschehen erweist, sondern tatsächlich als Offenbarung einer göttlichen Wirklichkeit angesehen werden kann. Hier zeigt sich eine realistische Tendenz in Lipsius’ erkenntnistheoretischen Überlegungen, die allgemein mit einem nicht durchweg überzeugenden Versuch einer realistischen Kantlesart fundiert sein soll. Auch hinsichtlich des religiösen Erkennens versucht er, propositionale Gehalte bildlicher religiöser Ausdrucksformen herauszustellen. Diese objektive Dignität deutenden Erlebens der Freiheit als Gottes Selbstoffenbarung kann Lipsius allerdings nur als unableitbaren mystischen Erfahrungskern eines religiösen Selbstverständnisses voraussetzen. Für daraus erwachsende Behauptungen bleiben nur die indirekten Plausibilisierungsverfahren, die religiöse Überzeugungen auf ein existentielles Bedürfnis von anthropologischer Reichweite zurückführen, die ihre Vereinbarkeit mit den Resultaten empirischer Wissenschaften als denkbar ausweisen und sie an ihrer Freiheit kultivierenden Kraft messen. Gemessen an dem auf eine wissenschaftliche Selbstdurchsichtigkeit christlichen Glaubens begrenzten Anspruch der Dogmatik bei Lipsius ist diese Einschränkung auf subjektive Gewissheit nicht problematisch. Ihr eignet so ein selbstkritischer und selbstrelativierender Gestus, der sich beispielsweise im programmatischen Zugriff auf den Weltanschauungsbegriff zeigt. Eine wissenschaftliche Theologie kann sich so gleichermaßen kritisch gegenüber den Extremen fideistischer Verfechtung spezifischer religiöser Wahrheitsansprüche und religionskritischer Verfechtung der gänzlichen Falschheit aller Religion positionieren und an ihre Stelle einen Prozess der Selbstaufklärung einer christlich-religiösen Perspektive setzen. Die theologische Reflexion bei Lipsius drängt immer wieder darauf hin, mit erkenntniskritischen Mitteln eine produktive Selbstdistanz in den religiösen Vollzug selbst einzulassen. In seiner dogmatischen Reflexion lässt sich dies primär in dem Hinweis auf die Bildlichkeit aller religiösen Ausdrucksformen

320

VI. Spannungen und Bruchlinien der theologischen Systematik

festmachen. Die dogmengeschichtliche Entwicklung christlicher Ausdrucksformen zeugt ihm zufolge von einer zunehmenden Selbstdurchsichtigkeit christlichdogmatischer Rede, die ihre Uneigentlichkeit in den eigenen Ausdrucksformen aus eigenen religiösen Motiven heraus mitreflektiert. Allerdings erscheint im Verlauf seines Werks immer wieder ein mit dem Christentum verbundener Absolutheitsanspruch, eine mit der Religion verbundene gesamtkulturelle Integrationsfunktion und eine mit der religiösen Freiheit verbundene Grundierungsfunktion allgemeiner geistiger Freiheit des Menschen, die sich mit den erkenntnistheoretisch begrenzten Mitteln von Lipsius’ Theologie kaum begründen lassen. Ohne Gottesglaube ist ein Selbstverständnis des Menschen als freie Person in Lipsius’ Theologie undenkbar und religionslose Lebensführung defizitär. Insbesondere in seiner Spättheologie arbeitet Lipsius zudem auf eine konsensuale Positionalität der gesamten protestantischen und wissenschaftlichen Theologie hin und lässt theologische Wissenschaft selbst Bekenntnisform annehmen. Mit dieser stärkeren Positionalität konterkariert Lipsius den selbstkritischen Gestus seiner sonstigen Theologie und es bleibt fraglich, wie er sie auf der Basis subjektiver Gewissheit der Religion verteidigen kann. Hier stellt Lipsius umso entschiedener die Bekenntnistreue seiner Theologie in den Vordergrund, je stärker er die wissenschaftlichen Erkenntnisansprüche gegenüber dem Religiösen eingrenzt. Die erkenntniskritische Schärfe gibt einer religiösen Unmittelbarkeit Raum, für die Lipsius’ Theologie jenseits der Prüfung ihrer praktischen Wirksamkeit und theoretischen Denkbarkeit wenig Differenzierungspotentiale bietet. Sowohl Biedermanns Einschätzung, dass Lipsius mit seiner erkenntniskritischen Selbstbegrenzung kritisches Potential einbüßt, als auch Hartmanns Beobachtung einer Spannung von wissenschaftlicher Selbstdistanz und religiöser Unmittelbarkeit sind daher nicht von der Hand zu weisen.

2. Mystik und Funktion – Die religionstheoretische Spannung Die religionstheoretischen Überlegungen von Lipsius sind um den Ausweis einer kulturellen Selbstständigkeit der Religion bemüht. Auch dabei lassen sich zwei in Spannung stehende Tendenzen feststellen: Auf der einen Seite bestimmt er Religion – in großer positioneller Nähe zur frühen Ritschl-Schule – funktional über ihre Rolle im Aufbau personaler Selbstunterscheidung von der Natur, die ein freies und sittliches Selbstverständnis menschlichen Geisteslebens erst ermöglichen soll. Auf der anderen Seite ist es ihm – in vehementer Abgrenzung von der frühen Ritschl-Schule – um einen gänzlich unableitbaren mystischen Kern religiösen Lebens zu tun, der Religion substanziell zu einem kulturellen Phänomen sui generis macht. Ein solches Phänomen lässt sich nur als Faktum behaupten, entzieht sich jedoch funktionaler Ableitung. Troeltsch hat diese Kombination mit ihrer Einordnung als Verschmelzung von Postulaten- und Erfahrungstheologie treffend beschrieben und seine Kritik erkennt darin die Aporie, welche Lipsius’ Theologie zum Scheitern bringt. Lipsius ist es nicht gelungen, beide Ten-

2. Mystik und Funktion – Die religionstheoretische Spannung

321

denzen in einen durchweg überzeugenden Zusammenhang zu bringen. Das Problematische an Lipsius’ Verbindungsversuch lässt sich auf ihr tragendes Konzept der praktischen Nötigung zurückverfolgen. Die praktische Nötigung verbindet selbst in sich die gegenläufigen Tendenzen von Lipsius’ Religionstheorie: Zum einen bezeichnet sie ein in empirischer Perspektive herausstellbares Faktum menschlicher Selbst- und Welterfahrung. Sie ist ein erlebtes Bedürfnis, das nur aus der eigenen existentiellen Vertrautheit mit ihr verständlich sein soll. Es wird von ihm jedoch auch funktional auf einen ursprünglich eudämonistischen Selbstbehauptungstrieb menschlichen Lebens zurückgeführt. Der leidende Mensch sucht in der Vorstellung einer transzendenten Macht Hilfe bei der Erfüllung eudämonistischer Selbsterhaltungsinteressen. Hier integriert Lipsius Muster genetischer Religionskritik in die Beschreibung der Religion, ohne sie als Anfechtung religiöser Geltungsansprüche zu werten. Daran knüpft Lipsius schließlich seine postulatentheoretische Plausibilisierung des Gottesgedankens an, indem er mit den Mitteln kantischer Moraltheologie den Gottesgedanken als notwendige Annahme für eine Selbstbehauptung freien Lebens unter den Bedingungen der Natur motiviert. Im Gegenzug zur kantischen Grundlage sind diese Überlegungen bei Lipsius durch ihre religionspsychologische Basis gänzlich anders gerahmt. Während Kant sie durch genuine Vernunftbedürfnisse systematisch entwickelt und motiviert, tritt bei Lipsius die empirischanthropologische Feststellung der praktischen Nötigung an ihre Stelle. Die Postulatenlehre wird so positiviert und es kann von einer Naturalisierung der Vernunft gesprochen werden, insofern Religion als durch eine menschliche Triebstruktur fundiert gedacht wird.5 Herrmann hat darin eine für einen Kantianer unwürdige Verschränkung von Faktizitäts- und Geltungsfragen gesehen.6 Dagegen muss eingewendet werden, dass Herrmann dieses Urteil gegenüber einer Lipsius zu Unrecht unterstellten religionstheoretischen Beweisführung fällt. Trotzdem versucht Lipsius mit den Mitteln der empirischen Perspektive, seiner Religionspsychologie der subjektiven Gewissheit religiösen Glaubens ein religionsphänomenologisches Fundament zu geben, das einerseits außerordentlich voraussetzungsreich ist. Andererseits versucht er diesen Voraussetzungsreichtum durch ein Kalkül praktischer Vernunft zu decken, das sich nicht überzeugend in eine religionsphänomenologische Perspektive einweben lässt. Hierbei treten empirischer Anspruch und theoretisch-funktionale Begründung in eine kaum lösbare Spannung. Herrmanns Kritik an der religionspsychologischen Methodik bei Lipsius erhält dadurch Wahrheitsmomente. Auch Troeltschs Beobachtung einer willkürlich erscheinenden Verknüpfung von ethischer Ontologie und eudämonistischer Religi5 Der Begriff der Naturalisierung der Vernunft entstammt in diesem Zusammenhang der Analyse der Religionstheorie von Pfleiderer bei Korsch. Vgl. K, Religionsbegriff und Gottesglaube, 109. Iff greift dies auf und bezieht es explizit auf Lipsius. Vgl. I, Religiöser Trieb und frommes Gefühl, 721. 6 Vgl. H, Die Religion, 88.

322

VI. Spannungen und Bruchlinien der theologischen Systematik

onstheorie erklärt sich vor dem Hintergrund des spannungsreichen Amalgams einer empirisch verstandenen Forschung nach dem Ursprung der Religion und normativen Funktionen des Religiösen im Aufbau sittlicher Kultur. Letztlich zeigt sich, dass Lipsius versucht, Motive bewusstseinstheoretischer und transzendentaler Philosophie empirisch zu fundieren. Diese eingeforderte anthropologisch-psychologische Grundlegung der Theologie stellt sich jedoch weitgehend als eine Reformulierung idealistischer Grundmotive heraus, die ihre empirische Valenz als zweifelhaft erscheinen lässt. Die religionspsychologische Reflexion bei Lipsius ist als ein komplexer Versuch zu würdigen, eine Natur und Geist sowie Empirie und Spekulation vermittelnde Grundlegung der Dogmatik zu bieten.7 Sie zeigt sich erkennbar durch genetische Religionskritik, den rasanten Erfolg erfahrungswissenschaftlicher Naturwissenschaft und materialistischer Perspektiven herausgefordert. Lipsius reagiert auf diese Herausforderung, indem er sie als Außenperspektiven auf das Religiöse zunächst ernst nimmt und versucht, sie in die Selbsterschließung einer religiösen Vollzugsperspektive zu integrieren. Seine mehrstufige Religionstheorie erweist gerade in diesem Versuch, prima facie widersprüchliche Beschreibungen religiösen Lebens miteinander zu vermitteln, ihre prinzipielle Stärke. Religionskritische Perspektiven und religionsgeschichtliche Relativierungen religiöser Ansprüche sollen aus religiöser Perspektive nicht allein apologetisch abgewehrt, sondern produktiv aufgegriffen, sowie ihr das Selbstverständnis transformierende Potential genutzt werden. Seine Versuche, diese Integration von Außenperspektiven auf das Religiöse in die Theologie mit einer positiv-theologischen Positionierung zu vermitteln, bleiben jedoch von Spannungen belastet, die sich aus den Positivierungen von subjektivitätstheoretischen Strukturen und Vernunftbedürfnissen ergeben. Lipsius’ Theologie nimmt daher eine Zwischenposition zwischen spekulativer Religionstheorie und empirischer Religionspsychologie ein. Seine Umsetzung der Vermittlung von Empirie und Spekulation im Anschluss an Schwarz und Pfleiderer überzeugt jedoch weder als Subjektivitätstheorie noch als empirische Religionspsychologie.

3. Erleben und Geschichte – Die dogmatische Spannung Eine dritte erkennbare Grundspannung der Theologie von Lipsius lässt sich in der Verhältnisbestimmung von der Bedeutung des unmittelbaren religiösen Erlebens und der Bedeutung des Historischen für den Glauben feststellen. Sie zeigt sich konzentriert in dem Nebeneinander der allgemeinen religionsdogmatischen Fassung des Offenbarungsbegriffs und dem Begriff historischer Offenbarung. Der materialdogmatische Ort, an dem dies deutlich zutage tritt, ist die Christologie. Insbesondere in seiner Spättheologie versucht Lipsius zu unterstreichen,

7

Vgl. I, Religiöser Trieb und frommes Gefühl, 730.

3. Erleben und Geschichte – Die dogmatische Spannung

323

dass das spezifisch christliche Freiheitserleben nur auf der Basis einer neuen Wirklichkeit möglich ist, die mit Christus in die Welt getreten ist. Auch die innere Offenbarung Gottes in der Erhebung des Menschen über die Natur hat nach christlichem Glauben einen exklusiv an die historische Offenbarung in Christus gebundenen Grund. Dass diese starke Betonung der Bedeutung des Historischen im christlichen Glauben vor dem Hintergrund Lipsius’ Religionstheorie überrascht, hat Troeltsch herausgestellt.8 Werner Elert hat betont, dass die Konzeption allgemeiner Offenbarung bei Lipsius keine eigene qualitative Selbstständigkeit christlichen Glaubens gegenüber anderen Glaubenstraditionen mehr sicherstellen könne.9 Die starke christologische Rückbindung des religiösen Freiheitsgeschehens im christlichen Glauben lasse sich demnach nicht aus der Religionstheorie von Lipsius plausibilisieren. Hartmann stellt weit darüberhinausgehend grundlegend infrage, ob sich die Theologie von Lipsius noch sinnvoll mit dem historischen Christentum in Kontinuität setzen lässt. Nach seiner in Teilen abenteuerlichen Lipsius-Interpretation sieht er in den spekulativen Theologien von Biedermann, Pfleiderer und Lipsius vielmehr eine Krisis des Christenthums von historischem Rang. Hier komme das Christentum an ein Ende und eine neue allgemein-menschliche Zukunftsreligion werde geboren. In ihm [sc. dem spekulativen Protestantismus] vollzieht sich die geschichtliche Krisis des Christenthums, d. h. in ihm gelangt dasselbe an den Wendepunkt, wo ein neues, dem christlichen entgegengesetztes religiöses Princip in scheinbar noch christlichen Formen in’s Leben tritt, wo die letzte Stufe der Selbstzersetzung des Christenthums sich zugleich als die Geburtsstätte einer neuen Zukunftsreligion erweist10.

Es sind gerade ihre freiheitstheologischen Religionstheorien, die nach Hartmann über den christlichen Glauben hinausweisen. Sie enthalten eine vom menschlichen Geistesleben her entworfene Heilsvorstellung, die von den drei Theologen nur aus Gründen mangelnder Konsequenz und beruflichen Standesbewusstsein noch auf das Christentum und ihre Historizität bezogen werde. Der entscheidende Schritt, über dieses Festhalten an dem Christentum hinauszugehen, wäre der Verzicht auf die Berufung auf einen historischen Rückbezug christlicher Heilsvorstellung auf eine historische Offenbarung und der daraus resultierenden Vorstellung, dass der Mensch nicht aus sich selbst heraus zur Erlösung gelange.

8

Vgl. T, Rez. Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik 1893, 50. Vgl. E, Der Kampf um das Christentum, 268. 10 H, Die Krisis des Christenthums, XI–XII. Diese Schrift Hartmanns steht in einer Reihe von Betrachtungen, die eine Verfallsgeschichte des Christentums zeigen sollen und dabei vor allem liberaltheologische Strömungen als Zeichen einer Selbstzersetzung des Christentums deuten. Vgl. .: Briefe über die christliche Religion von F. A. Müller, Stuttgart 1870; .: Die Selbstzersetzung des Christenthums und die Religion der Zukunft, Berlin 1874. Sein eigenes Konzept einer von christlicher Tradition befreiten Zukunftsreligion entfaltet er in erkennbarer Anlehnung an Biedermann und Lipsius in: Ders.: Die Religion des Geistes, Berlin 1882. Vgl. dazu insgesamt A D: Eduard von Hartmanns philosophisches System im Grundriss, Heidelberg 21906, 443–460. 9

324

VI. Spannungen und Bruchlinien der theologischen Systematik

Das heterosoterische Christentum solle also mit den Mitteln der spekulativen Theologien von Lipsius, Biedermann und Pfleiderer in eine autosoterische Menschheitsreligion transformiert werden. Abstrahiert man hingegen von dieser widersinnigen Zuthat [sc. der heterosoterische Erlösungsbegriff des Christentums], so liefern die Werke von Lipsius, Biedermann und Pfleiderer die schätzbarsten Vorarbeiten für die Darstellung einer von allen objectiven geschichtlichen Heilsthatsachen unabhängigen ewigen Heilsordnung und dadurch zum Aufbau einer autosoterischen Erlösungsreligion, welche den Anspruch erheben darf, allgemein menschliche Religion zu sein, weil sie auf keinen anderen Voraussetzungen fusst als auf den Grundthatsachen des religiösen Bewusstseins und doch besser und vollständiger als irgend eine der früheren Religionen die tiefsten Bedürfnisse des religiösen Gemüths befriedigt.11

Wenngleich diese fortbildende Interpretation keinesfalls mit den Ausführungen von Lipsius zu Deckung gebracht werden kann und seinem theologischen Selbstverständnis klar widerstrebt, weist sie doch auf einen wunden Punkt der theologischen Systematik von Lipsius hin. Seine Plausibilisierung der Rede vom Wirken Gottes im Menschen aus dem menschlichen Freiheitserleben heraus und die behauptete Abhängigkeit dieser Freiheit von einem historischen Offenbarungsgeschehen in Jesus Christus ergeben eine Spannung in Lipsius’ theologischem Denken, die er nicht recht lösen konnte. Wie stark Lipsius selbst mit dieser Spannung gerungen hat, zeigt sich verstärkt in den Jahren 1880/81, die in der werkbiographischen Rekonstruktion als Einsatzpunkt seiner Spättheologie bestimmt wurden. Hier stellt er die Frage nach dem letzten Grund religiöser Gewissheit und verweist als Antwort auf ein aktuales Erleben der über die Natur erhebenden Freiheit. Erst davon abgeleitet kommt die Berufung auf eine historisch-greifbare Offenbarung in den Blick, da sie sich nicht ohne eine Beglaubigung im Erleben plausibilisieren lässt. Aus der ratio cognoscendi heraus ist es also ein religiöses Freiheitserleben, das den letzten Grund religiöser Gewissheit bietet. Die christliche Gewissheit, dass sich Gott in Jesus Christus selbst durch sich selbst unüberbietbar offenbart hat, kann sich in dieser Perspektive nur als eine historisch-kontingente Setzung ausweisen lassen, die sich bestenfalls darin bewährt, dass sie tatsächlich zur befreienden Wirkung einer religiösen Tradition beiträgt. Für den christlichen Glauben gilt nach Lipsius jedoch, dass sich aus einer ratio essendi Christus vermittels des heiligen Geistes als exklusiver Möglichkeitsgrund des religiösen Freiheitserlebens auffassen lassen muss. Die daraus erwachsende zirkuläre Struktur christlicher Glaubensgewissheit hat er selbst betont und ihre christologische Rückbindung als bloß gesetzte Grundtatsache einer christlichen Glaubensperspektive eingeführt. Vor dem Hintergrund dieses Problembewusstseins überrascht jedoch, dass Lipsius im Verlauf seiner Spättheologie die historische Offenbarung zunehmend als Voraussetzung der gesamten theologischen Arbeit in Anschlag bringt und als

11

H, Die Krisis des Christenthums, 114.

3. Erleben und Geschichte – Die dogmatische Spannung

325

ihr Grundbekenntnis akzentuiert. Dieses Vorschalten der historischen Offenbarung als unmittelbares Faktum ist ein offenbarungspositivistisches Moment in Lipsius’ Theologie. Er kann es zwar einerseits zu den vorausgesetzten Grundkoordinaten der – der dogmatischen Arbeit zugrunde liegenden – Perspektivität christlichen Glaubens zählen, andererseits kann er diese Voraussetzung kaum reflexiv mit seiner religionsdogmatischen Auslegung eines religiösen Freiheitsgeschehens einholen. Grund dafür ist eine relative Selbstständigkeit der freiheitstheologischen Grundlegung der Dogmatik, die sich weitgehend ohne christologisches Fundament nachvollziehen lässt, und die für ihre letztlich verzeichnende Interpretation von Hartmann Ansatzpunkte geliefert hat. Lipsius’ Spättheologie zeugt demgegenüber von dem Versuch, die christologisch fundierte christliche Religionsauffassung und seine allgemein-religionstheoretische enger zu verzahnen und zeigt dabei deutlich ein Vermittlungsinteresse zwischen liberaler Theologie und traditionelleren Frömmigkeitsausprägungen, um ihre Bindung an das gelebte Christentum zu stärken. Doch gerade dieses Ringen indiziert, dass es fraglich erschien, ob das Christentum für einen Großteil der Christinnen und Christen tatsächlich überzeugend als die Freiheitsreligion gelten kann, die Lipsius in ihr sieht. Ein Grund für diese Spannungen in Lipsius’ Integrationsversuchen der Bedeutung des Historischen in die dogmatische Rekonstruktion christlicher Glaubensperspektive ist die nur sehr schematisch integrierte religionsgeschichtliche Reflexion. Hier zeigt sich eine Spannung zwischen dem historischen Problembewusstsein in Lipsius’ Theologie und der Durchführung ihrer religionsgeschichtlichen Verortung des Christentums. Im Verlauf seines Werks hat er sich wiederholt kritisch mit Idealisierungen des Historischen befasst, spekulative Geschichtsrekonstruktionen beklagt und auf die historische Relativität konkreter religiöser Ausdrucksformen verwiesen. Nichtsdestoweniger bleibt die religionsgeschichtliche Reflexion seiner Dogmatik einem grob typologisierenden Entwicklungsschema verpflichtet, das von Naturreligionen, über mythologischen und ethischen Religionstypen schließlich zum Typ der Erlösungsreligion führt, der im Christentum als Religion der Religionen kulminiert. Hier zeigt sich Lipsius neben einer von Schleiermacher ausgehenden Grundprägung einem von Ferdinand Christian Baur vorbereiteten Fortschrittsparadigma bei Pfleiderer verbunden.12 Indem Lipsius zudem die historische Gebundenheit christlichen Glaubens mit der Ewigkeit christlicher Heilsvorstellung kontrastiert, insinuiert er ein überzeitliches Wesensprinzip christlichen Glaubens. Dieses soll zwar weniger ein bloßes ideales Vorbild als ein durch die konkreten geschichtlichen Konstellationen hindurchwirkende Kraft gedacht sein, zeugt jedoch selbst von Idealisierungen des Historischen, die er selbst an anderer Stelle beklagt. Hier wird insbeson-

12 Für Pfleiderer, auf den sich Lipsius in seinen religionsgeschichtlichen Reflexionen explizit bezieht, hat dies Laube herausgearbeitet. Vgl. L, Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage, 751.

326

VI. Spannungen und Bruchlinien der theologischen Systematik

dere die Religionsgeschichtliche Schule ein größeres Problembewusstsein entwickeln. Indem Lipsius das religiöse Erleben weitgehend ohne Rekurs auf seine geschichtlich-kontingente Konkretion religionspsychologisch rekonstruiert und erst bei der Betrachtung ihrer spezifischen christlichen Ausprägung eine bleibende Abhängigkeit dieses Erlebens von einer auf Christus zurückgehenden Traditionslinie behauptet, fällt beides zunächst auseinander und muss nachträglich von Lipsius miteinander vermittelt werden. Diese Vermittlungsleistung gelingt Lipsius nur unter bleibenden Spannungen. Vielmehr gleicht die Wesensbestimmung der Religion einer allzu normativ an die historischen Phänomene der Religion herangetragene Heuristik, was gegen Lipsius’ erklärtes Ziel, in der Sperrigkeit der christlichen Ausdrucksformen selbst den religiösen Gehalt zu sehen, opponiert.

4. Liberale Vermittlungstheologie – Die theologische Grundhaltung Die bisher beleuchteten Spannungsmomente von Lipsius’ theologischer Systematik haben zu der verbreiteten Wahrnehmung von Mängeln der Konsistenz und Kohärenz in seinem Werk beigetragen, die ihm schon zu Lebzeiten entgegengestellt wurden. Besonders polemisch wurde dies von ritschlianischer Seite formuliert: „Kurz, hier herrscht eine völlig unauflösliche Verwirrung, und ein Schwanken, das alles eher als Einheit der philosophischen Principien bezeugt.“13 Johannes Gottschick schießt hier weit über eine angemessene Beurteilung hinaus, wie andere Stimmen zeigen. Der Philosoph Rudolf Eucken fand vielmehr „Lipsius war bewunderungswert durch die kritische Schärfe seines Denkens und sein staunenswertes historisches Wissen“14. Nichtsdestoweniger hat sich auch bei der werkbiographischen Analyse feststellen lassen müssen: Nicht immer ist es möglich, zentrale Konzepte und die argumentative Basis von zentralen Thesen anhand von direkten Ausführungen von Lipsius voll auszuleuchten. Viele Unklarheiten liegen auch in den Gattungen seiner zentralen systematisch-theologischen Schriften begründet. Sein Hauptwerk ist als Lehrbuch konzipiert, das zwar einerseits die am meisten gebündelte systematische Einführung seiner Theologie bietet, diese jedoch stets mit Kompendien-artiger Einführungen theologischen Grundwissens für die Bedürfnisse der Studierenden der Theologie verbindet. Insbesondere die materialdogmatische Durchführung seiner theologischen Systematik lässt die eigenen Auslegungen christlich-dogmatischer Rede hinter exegetischen und dogmengeschichtlichen Überblicken zurücktreten, die nicht immer auf eine eigene Positionierung schließen lassen. In seinen Dogmatischen Beiträgen und Neuen Beiträge zur wissenschaftlichen Grundlegung der Dogmatik hat

13 14

G, Rez. Philosophie und Religion, 229. R E: Lebenserinnerungen. Ein Stück deutschen Lebens, Leipzig 21922, 63.

4. Liberale Vermittlungstheologie – Die theologische Grundhaltung

327

Lipsius über weite Strecken Missverständnisse seiner Theologie beklagt und selbst betont, seine Positionierungen nicht immer hinreichend klar ausgedrückt zu haben.15 Doch auch diese polemischen und reaktiv aufgebauten Gelegenheitsschriften können eine systematisch entfaltete Grundlegung seiner Theologie nicht vollständig ersetzen. Es besteht in seinen Werken ein eigentümlicher Kontrast zwischen der scharfsinnigen gedanklichen Durchdringung rezipierter Referenzpositionen, dem akribischen Durchdenken der erkenntnistheoretischen Grundlegungsfragen und der äußerlich nur geringfügigen Systematizität seiner eigenen Theorieentfaltung. Hierin zeigt sich der in frühen Kritiken vielfach beklagte rezeptive Geist von Lipsius’ Theologie. Sie arbeitet sich sehr kleinteilig an philosophischen und theologischen Diskursen seiner Zeit ab und lässt die eigene Originalität dahinter zurücktreten. Zudem inszeniert Lipsius sich selbst als bloßen Epigonen, der auf den Schultern Kants in den Werkstätten Schleiermachers arbeitet. Diese Haltung ist für das gesamte Werk von Lipsius bestimmend. Er integriert in seine religionstheoretischen und dogmatischen Arbeiten eine Vielzahl von teils gegensätzlichen Referenzpositionen und versucht, sie im Rahmen einer Schleiermacher verpflichteten Theologie miteinander zu vermitteln. Dies zeigt sich besonders an seiner Mittelposition zwischen Ritschl-Schule und dem idealistischen Erbe klassischliberaler Theologie. Er ist erkennbar darum bemüht, die positionellen Frontlinien seiner Zeit in einer integrativen Theologie aufzuheben, die auch in ihren klaren Feindbildern Materialismus und Konfessionalismus noch bewahrenswerte Wahrheitsmomente erkennt. Diese Haltung tritt besonders in seiner Spättheologie nicht nur in seinen Annäherungen an die positive Theologie, sondern einer insgesamt irenischen Tendenz hervor, die versucht, positionelle Differenzen theologischer Zeitgenossen einzuebnen und die Einheit wissenschaftlicher Theologie zu beschwören. Die Entwicklung seines Werks ist insgesamt von zahlreichen Akkommodationen an neue Diskurszusammenhänge gekennzeichnet, die zu Neuakzentuierungen und Neufundierungen zentraler Motive und Pointen führen. Die große Stärke von Lipsius’ Theologie ist es vor diesem Hintergrund nicht, programmatisch eine neue und originelle Theologie zu entfalten, sondern ihr Versuch, das Problembewusstsein und die Plausibilitäten verschiedener theologischer Richtungen seiner Zeit miteinander zu verbinden. Diese Grundhaltung verweist zurück auf Lipsius’ vermittlungstheologische Anfänge. Nach seiner vermittlungstheologischen Studienzeit und der affirmativ auf führende Vermittlungstheologen bezogenen Dissertation verschreibt er sich zwar einem liberal-theologischen Selbstverständnis, in dessen Umfeld der Begriff Vermittlungstheologie wie auch bei Lipsius selbst zur polemischen Abgrenzung Verwendung findet. Dennoch ist Lipsius auch durch Denker wie Alexander 15

„Ich fühle recht gut, dass manche Darlegungen meiner Dogmatik einer Ueberarbeitung bedürfen, um die Gesichtspunkte, welche von Anfang an für sie maassgebend gewesen sind, klarer und durchsichtiger, als es mir bisher möglich war, durchzuführen.“ L, Philosophie und Religion, 318.

328

VI. Spannungen und Bruchlinien der theologischen Systematik

Schweizer, Karl Schwarz, Christian Herrmann Weisse, Richard Rothe und W. M. L. de Wette geprägt, auf die er sich durch sein gesamtes Werk hindurch explizit und affirmativ bezieht und die der Vermittlungstheologie im Sinne einer historischen programmatischen Richtung im 19. Jahrhundert zugeordnet werden können. Sachlich verbunden ist Lipsius mit ihr durch die enge Anknüpfung an Schleiermacher, die grundlegende Orientierung am Vorbild Melanchthons, seinen Einsatz für eine protestantische Union, seine Ablehnung von Supranaturalismus, Rationalismus und Konfessionalismus und seine antihegelianische Tendenz.16 Insbesondere die Auffassung der Theologie als prozesshafte Arbeit an einer immer wieder neu zu gestaltenden Vermittlung von Glauben und Wissen ist eng verwandt mit dem Anliegen wahrer Vermittlung, das – von Friedrich Lücke formuliert – einen Grundstein der Vermittlungstheologie gelegt hat.17 Aus dieser Verwandtschaft ergibt sich ein Theologietypus, der weniger um seine eigene programmatische Positionalität als die kritische Wahrnehmung der theologischen, philosophischen und gesamtkulturellen Entwicklungen seiner Zeit bemüht ist. So bietet Lipsius eine über weite Strecken dynamische, selbstdistanziert-kritische und integrative Theologie, die vielfältige Perspektiven auf christliche Religion in eine Vollzugsperspektive christlichen Glaubens mitaufnimmt.18 Sie ringt um eine christliche Weltanschauung, die sich nicht allein gegen kulturelle Entwicklungen positioniert oder sich aus solchen herausgehoben wähnt, sondern diese aus ihrer eigenen Verwobenheit in sie kritisch begleitet. In dieser Haltung liegt der große Wert von Lipsius’ Werk für die Erschließung der theologiegeschichtlichen Konstellationen des späten 19. Jahrhunderts begründet. Es sind weniger seine Resultate als die in seinen Denkbewegungen greifbare kritische Zeitgenossenschaft, die für eine Problemgeschichte moderner Theologien unausgeschöpftes Potential bietet. „Die ganze Fülle der Entwicklungen, welche aus der von Kant anhebenden Bewegung hervorgegangen sind, steht hier in fruchtbarer Gegenwart“19. Die bleibenden Spannungen innerhalb der Theologie von Lipsius zeugen von einem Vermittlungsanliegen, das er nicht im-

16 Zum Begriff Vermittlungstheologie vgl. A C: Art. Vermittlungstheologie. I. Kirchengeschichtlich, in: Hans Dieter Betz u.a. (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart, vierte, völlig neu bearbeitete Auflage, Tübingen 1998–2005, 1032. Vgl. auch F W G: Art. Vermittlungstheologie, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel u.a. 1992 ff., 726. 17 Vgl. A C: Friedrich Lücke (1791–1855). Neutestamentliche Hermeneutik und Exegese im Zusammenhang mit seinem Leben und Werk (Theologische Bibliothek Töpelmann 94), Berlin 1999, 189. 18 Auch für Lipsius’ Theologie kann konstatiert werden, dass sie strukturell als eine am Ideal des modernen Bildungsbegriffs orientierte Theologie gefasst werden sollte. Für die Verschränkungen von Vermittlungstheologie und modernem Bildungsbegriff vgl. C A/F V: Vermittlungstheologie als Christentumstheorie. Zur Einleitung, in: C A (Hg.): Vermittlungstheologie als Christentumstheorie, Hannover 2001, 8–17, hier 10. 19 E, Lipsius’ Dogmatik, 317.

4. Liberale Vermittlungstheologie – Die theologische Grundhaltung

329

mer durchweg überzeugend umgesetzt hat, das explizit und umfassend anzugehen jedoch das bleibende Verdienst seiner Theologie ist. Keiner hat dies deutlicher gesehen als Troeltsch, der gerade in Lipsius’ Scheitern die Gebrechen der Theologie überhaupt erkannte, die zu überwinden eine unendliche Aufgabe ist, die kontinuierliche Weiterarbeit erfordert. Sein spezifisches theologiegeschichtliches Profil gewinnt Lipsius’ Theologie dadurch, dass er seine vermittlungstheologische Grundhaltung unter den Vorzeichen einer liberalen Freiheitstheologie umsetzt. In der Verschränkung von Freiheitserleben und Offenbarungsglauben findet er die theologische Gedankenfigur, die wechselseitig-affirmative Bezugnahmen zwischen christlicher Tradition und modernem Wahrheitsbewusstsein eröffnen soll.20 Das menschliche Freiheitserleben stellt in seiner Theologie das fundamentale Vermittlungsmedium von Geschichte und Gegenwart, von Frömmigkeit und wissenschaftlicher Selbstdistanz, von Mensch, Welt und Gott, von Glaube und Wirklichkeit dar. Die Bruchlinien seiner theologischen Systematik haben jedoch gezeigt, dass eine Anknüpfung an diesen theologischen Ansatz selbst eine kontinuierliche Weiterarbeit erforderlich macht, für die Lipsius selbst reiche Anregungen bereithält.

20

Mit Hans Joas gesprochen, gilt also auch bei Lipsius, dass die Religion – als eine der intensivsten Freiheitserfahrungen gefasst – im Bannkreis der Freiheit verhandelt wird. Vgl. H J: Im Bannkreis der Freiheit. Religionstheorie nach Hegel und Nietzsche, Berlin 2020, 20. So bestätigt sich bei Lipsius, dass die Theologie sich im Medium des Freiheitsbegriffs über ihre Identität als protestantisches Christentum und ihre Situiertheit in der Moderne verständigt, wie es Laube herausgestellt hat. Vgl. M L: Die Dialektik der Freiheit. Systematisch-theologische Perspektiven, in: Ders. (Hg.): Freiheit, Tübingen 2014, 119–191, hier 120.

VII. Richard Adelbert Lipsius Lipsius hat eine theologische Systematik entfaltet, deren Grundkoordinaten sich durch die Begriffspaare Glauben und Wissen sowie Freiheit und Offenbarung bestimmen lassen. Auf den Schultern Kants und in den religionstheoretischen Werkstätten Schleiermachers hat Lipsius an einer erkenntniskritisch reflektierten liberalen Theologie gearbeitet, die durch ein freiheitstheologisches Profil der Religion eine Eigenständigkeit und eine nur aus ihr selbst heraus verstehbare Plausibilität in einer ausdifferenzierten modernen Kultur sichern will. Zugleich wird ihr eine gesamtkulturelle Integrationsfunktion zugeschrieben, indem sie ein existentielles Freiheitsbedürfnis befriedet und eine Weltanschauung eröffnet, welche die Resultate moderner Naturwissenschaft, autonome Lebensführung und religiöses Erleben miteinander vermittelt. Herausgefordert durch materialistische Weltanschauungen, einen modernen Plausibilitätsverlust spekulativen Idealismus‘ nach Hegels Tod, antimoderne Ausprägungen des Christentums und die kritische Herausstellung historischer Relativität erkennt er in einem religiösen Freiheitserleben eine innerweltliche Transzendenz, die traditionellen christlichen Ausdrucksformen eine Wirklichkeit und kulturelle Bedeutsamkeit abgewinnen lässt. Religion soll sich daran messen lassen, ob sie wirklich die Freiheit eröffnet, die sie verspricht. Der Persönlichkeitsbegriff wird dabei nicht nur bei Lipsius zum zentralen Schlüsselbegriff für eine Versöhnung von Moderne und Christentum. Die christliche Glaubensperspektive erschließt nach Lipsius das freie Persönlichkeitsleben als ein wissenschaftlich unergründliches Mysterium. Sie sieht in ihm die Wirksamkeit eines absoluten Wirklichkeitsgrundes und einen Sinnhorizont allen Lebens aufblitzen. Der zentrale systematische Kunstgriff dieser Theologie ist die enge Verschmelzung von einem religiösen Freiheitsgeschehen und der Rede von göttlicher Offenbarung. Das spannungsreiche Begriffspaar Freiheit und Offenbarung wird dabei nicht als ein Gegensatz, sondern als innig verwobenes Geschehen der Erhebung des Menschen über die Natur verstanden. In der Tradition der klassischen deutschen Philosophie wird dabei Gottes Offenbarung nicht als das Andere gegenüber der Vernunft verstanden, sondern als ihr in aller menschlichen Spontaneität präsenter tragender Grund. Von dieser zentralen Gedankenfigur aus lässt sich eine – die gesamte dogmatische Arbeit von Lipsius durchziehende – freiheitstheologische Stoßrichtung nachverfolgen. Durch sie wird der christlichdogmatischen Rede eine phänomenologisch gesättigte Referenzwirklichkeit im Freiheitserleben zugeschrieben. Das Freiheitserleben hingegen wird durch die

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VII. Richard Adelbert Lipsius

christlich-dogmatische Rede sakralisiert, mit Heilsbedeutung aufgeladen und teleologisch in eine Gesamtdeutung der Wirklichkeit eingewoben. Dies macht Lipsius’ Theologie zu einem prägnanten Versuch, die Freiheitsdimension christlichen Glaubens ins Zentrum zu stellen und zum umfassenden Organisationsprinzip dogmatischer Reflexion zu machen. Prägendes Merkmal von Lipsius’ Werk ist die erkenntnistheoretische Reflexion jeglicher religiöser Erkenntnisansprüche. Mit seiner Unterscheidung von Glauben und Wissen profiliert er seine Theologie als Position zwischen der spekulativ-metaphysischen Ausprägung klassisch-liberaler Theologie, die versucht Glauben in Wissen zu überführen, zur einen und der neukantischen Theologie der Ritschl-Schule, die Glauben vom Wissen unabhängig machen will, zur anderen Seite. Gegenüber ersteren stellt Lipsius auf praktische und pragmatische Argumentationen für religiöse Gewissheit um, gegenüber zweiteren fordert er umfassende Realitätsansprüche eines mystischen Elements allen religiösen Lebens. Durch diese Zwischenposition werfen die Diskurse ausgehend von Lipsius’ Dogmatik aufschlussreiche Schlaglichter auf die theologiegeschichtlichen Umbruchslinien zwischen liberaler und ritschlianischer Theologie, die sich auch in dem persönlichen Verhältnis von Lipsius und Ritschl widerspiegeln. Enigmatische Argumentationszusammenhänge und Spannungen in der Theorieentfaltung zwischen dem programmatisch vertretenen Subjektivismus religiöser Erkenntnis und der behaupteten Kulturbedeutung der Religion, der Verbindung von einer behaupteten mystischen Unmittelbarkeit religiöser Evidenz und ihrer funktionalen Einbindung in den Aufbau freier Persönlichkeit und zwischen einer Theologie des Freiheitserlebens und ihrer historischen Rückbindung in der Christologie geben Hinweise darauf, warum Lipsius’ Dogmatikentwurf nicht schulbildend wirken konnte. Trotz dieser Bruchlinien in der Durchführung seines theologischen Programms ist es zu Unrecht neben einer vermeintlich monolithischen Stellung Ritschls in der evangelischen Theologie des späten 19. Jahrhunderts in Vergessenheit geraten. Lipsius’ Theologie bietet eine scharfsinnige problemdiagnostische Begleitung des frühen Aufstiegs der Ritschl-Schule und differenzierte Einblicke in die diversen liberaltheologischen Konstellationen des späten 19. Jahrhunderts, die in der evangelischen Theologiegeschichtsschreibung noch immer nicht selten im Stile Bultmanns zusammengeschmolzen werden. Sie deckt Herausforderungen theologischer Reflexion durch die modernen Resultate empirischer Naturwissenschaften und mit ihr einhergehenden materialistischen Auslegungen auf und zeigt im Umgang damit ein erkenntnistheoretisches Niveau, das in vielen der heutigen Diskurse um das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion, Materialismus und Gottesglaube, nicht überboten wird. Sie wirft ein Licht auf frühe Formen und Motive religionspsychologischer Theoriebildung und weist damit voraus auf disziplinäre Differenzierungen der Religionsforschung. Sie zeigt, dass ein deutungstheoretisches Paradigma und eine Theorie der Bildlichkeit religiöser Rede die Bedeutung von Fantasie und Wahrheitsansprüchen in der Religion zu verbinden vermag. Schließlich sind es freiheitstheologische Motive, wie die Forde-

VII. Richard Adelbert Lipsius

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rung einer freiheitsphänomenologischen Fundierung christlich-dogmatischer Rede, wie die Auslegung der Freiheit als göttliches Beziehungsgeschehen und wie die Herausstellung eines unendlichen Werts der Person, die über Schwächen in der konkreten Durchführung bei Lipsius hinausweisen. Ihre vermeintliche Schwäche eines rezeptiven, reaktiven und kombinatorischen Stils ist Ausdruck einer vermittlungstheologischen Grundhaltung, die Theologie als eine dynamische, selbstkritische und integrativ verfasste Glaubenswissenschaft konzipiert und damit auf eine Selbstdurchsichtigkeit christlichen Glaubens und kritische Zeitgenossenschaft gesamtkultureller Entwicklungen abzielt. Aus dieser Haltung gewinnt sein systematisch-theologisches Werk ein enormes Problembewusstsein und einen Gedankenreichtum, der sich im Durchgang durch seine Werkbiografie besser erschließen lässt als durch eine Begutachtung ihrer Resultate. Dabei schließlich wird deutlich, wie weitreichend Lipsius liberale Theologie als Versuch umsetzt, im Medium der Freiheit Glauben und Wissen, Christentum und Moderne sowie christlich-dogmatische Rede und aktuales religiöses Erleben zu vermitteln. So repräsentiert sein reichhaltiges Werk eine Theologie, die einen Sinn für die Unverfügbarkeit religiösen Erlebens mit strenger, vorbehaltloser und kritischer Erforschung der eigenen Glaubenstradition verbindet. Sie steht für eine Ausrichtung kirchlichen Lebens, theologischen Forschens und individuellen Glaubens am Ideal der Freiheit. Denn sie ahnt: Der Freiheit wohnt ein Geheimnis inne, das ihr unendlichen Wert verleiht.

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Personenregister Anger, Rudolf 21 Barth, Karl 1, 4 Barth, Ulrich 31, 58, 313 Baumgarten, Otto 266f, 281f Baur, Ferdinand Christian 3, 15, 17, 23f, 38–42, 71, 94, 142f, 147, 169, 325 Beyschlag, Willibald 278 Biedermann, Alois Emanuel 2–4, 8, 10, 15, 47, 53, 85, 90, 97, 100f, 105f, 108, 112, 115f, 121, 143f, 155f, 161, 167f, 174, 179, 187, 190–194, 196, 201, 203, 205, 207f, 211, 216, 225, 229, 231–237, 239, 265–268, 275, 278f, 282, 285, 287, 289, 291f, 302, 306, 313, 318, 320, 323f Bienert, Maren 296 Bois-Reymond, Emil Heinrich Du 199 Bultmann, Rudolf 1, 2, 11, 174, 332 Cohen, Hermann 231 Diestel, Ludwig 69, 169f Dilthey, Wilhelm 53f Dorner, August Johannes 239 Dorner, Isaak August 4, 22, 174, 210, 238f, 268, 278, 287, 313 Elert, Werner 5, 274, 323 Eucken, Rudolf 326 Feuerbach, Ludwig 6, 79, 81, 86, 210, 239, 318f Fichte, Immanuel Hermann 25f, 34, 102 Fichte, Johann Gottlieb 20, 22, 26, 34, 77, 101, 146, 165f, 226, 310–312, 314 Fleisch, Urban 6, 207, 228 Frank, Hermann Reinhold 4, 256 Fricke, Gustav Adolf 21

Garve, Karl Bernhard 19 Gottschick, Johannes 174, 207, 226, 326 Grimm, Carl Ludwig Wilibald 89 Haase, Theodor 38 Haeckel, Ernst 156f Hamann, Johann Georg 30 Harnack, Adolf von 2, 174, 249, 309 Hartmann, Eduard von 127, 163, 216, 228, 233f, 318, 320, 323, 325 Hase, Karl von 24, 41, 69f, 72f, 88 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 7, 10, 14, 17, 25–30, 34–36, 38–40, 42, 53, 72–75, 77–82, 86f, 100f, 103, 127, 146, 168, 172, 191f, 196, 203, 205, 211, 223, 226, 229, 234–236, 238, 240, 246, 249, 272, 290, 302, 310f, 313f, 318, 331 Helmholtz, Herrmann von 198 Herder, Johann Gottfried 30 Herrmann, Wilhelm 2, 8, 68, 90, 139, 155f, 161, 167f, 171–190, 204, 207, 211, 225f, 233, 238f, 248–262, 264, 268, 285, 287, 292–294, 321 Hilgenfeld, Adolf 24, 69 Hofmann, Johann von 49, 169f Holtzmann, Heinrich 6, 72, 155, 207, 221, 267 Hüttenhoff, Michael 5, 8, 9, 89, 161, 207, 226, 230, 236 Iff, Markus 2, 9, 93, 100, 304, 321 Jacobi, Friedrich Heinrich 22, 29f, 51, 77f, 146, 288, 311–313, 315 Jesus Christus 34, 41, 43f, 49, 124, 126, 129–132, 140–149, 153f, 162, 169, 188f, 208, 214–217, 219–222, 224,

350

Personenregister

245f, 273–282, 285, 308, 310, 317, 323f, 326 Kaftan, Julius 226, 238, 252, 258 Kähler, Martin 249 Kant, Immanuel 5f, 10f, 15, 20, 22f, 26, 28, 30, 36, 47, 55, 71, 73–78, 82, 86, 92f, 108f, 120, 122, 140, 142, 146, 164, 197–199, 201, 208, 212, 225– 231, 233f, 239f, 242, 244, 246–248, 253, 259–264, 274, 289, 292, 295f, 299, 310f, 321, 327f, 331 Kirmß, Paul 22, 90 Koopmann, Wilhelm Heinrich 46–48, 52, 125 Korsch, Dietrich 10, 68, 101, 272, 289, 321 Krause, Albrecht 225, 229 Lagarde, Paul de 24 Lange, Friedrich Albert 4, 15, 155f, 168, 177, 193, 197–202, 205, 225, 227f, 231, 319 Laube, Martin 325, 329 Leese, Kurt 25f Liebner, Carl Theodor Albert 21f Lipsius, Friedrich Reinhard 5 Lipsius, Karl Heinrich Adelbert 19 Loofs, Friedrich 249 Lotze, Hermann 172, 233f, 252 Löwith, Karl 86f Lücke, Friedrich 22, 328 Lüdemann, Hermann 3, 21, 24, 207, 246, 248, 258, 287, 317 Martensen, Hans Lassen 22 Melanchthon, Philipp 18–21, 328 Menke, Christoph 302 Neander, August 22, 71 Neumann, Arno 5, 230, 266 Niedner, Christian Wilhelm 21 Nippold, Friedrich Wilhelm Franz 24, 250 Nitzsch, Karl Immanuel 22 Pannenberg, Wolfhart 6, 318 Pfleiderer, Otto 2–4, 10, 69, 72f, 100– 103, 108, 112, 172, 211, 216, 233,

238f, 248, 272, 285, 287, 289, 291, 313, 321–325 Pünjer, Bernhard 4, 171, 200, 225, 317 Reischle, Max 7, 8, 221, 258, 267 Reu, Wolfgang 8, 10, 157, 161, 205 Ritschl, Albrecht 2–4, 6–8, 10, 24, 38, 42, 45, 54, 155f, 161, 167–174, 176, 180–183, 187f, 204, 207f, 210f, 225f, 233, 238, 245, 248–252, 255–259, 280, 285, 287, 292–294, 306, 332 Rothe, Richard 34, 44, 70, 91, 94, 117, 220, 273, 278, 328 Rub, Karl 5f, 210, 318 Rückert, Leopold Immanuel 61, 70 Scheibe, Max 61, 258, 317 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 20, 26–28, 30, 35f, 38, 55, 101, 103, 126, 146, 205, 311, 313, 315 Schenkel, Daniel 278 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 6f, 10f, 14f, 17, 19, 22f, 31–35, 38, 47, 49, 51, 53–69, 71–75, 77, 81–83, 85f, 88, 95–97, 100f, 103, 106–108, 111–113, 119, 121, 126, 142f, 146f, 149, 156, 169, 172, 174, 182, 186, 203, 219, 223, 231, 239f, 246, 272, 278–280, 285, 292, 299, 302, 305, 313, 325, 327, 328, 331 Schopenhauer, Arthur 163 Schultz, Herrmann 257 Schwarz, Karl 40, 94, 100, 108, 239, 249, 287, 313, 322, 328 Schweizer, Alexander 4, 43, 94, 118, 156, 168, 198, 201–204, 287, 328 Seeberg, Reinhold 6 Semler, Johann Salomo 1 Seydel, Rudolf 5, 26, 235 Strauß, David Friedrich 79, 86, 127, 142f, 146, 158 Theile, Karl Gottfried Wilhelm 21 Theremin, Franz 249 Thomasius, Gottfried 169 Tillich, Paul 27 Traub, Friedrich 6, 9, 180, 207, 258, 287

Personenregister Troeltsch, Ernst 2, 3, 6–8, 12, 172–174, 207, 212, 265, 267f, 275, 282, 287, 289, 292, 295–303, 320f, 323, 329 Tuch, Johann Christian Friedrich 21 Twesten, August 22 Ullmann, Carl Christian 22 Weiß, Johannes 2 Weisse, Christian Herrmann 7, 15, 17, 25f, 28–36, 39, 41, 43, 45, 47, 61, 64,

351

75, 85f, 98, 126, 191, 235, 249, 313, 315, 328 Wendel, Saskia 316 Wendt, Hans Hinrich 5 Wette, Wilhelm Martin Leberecht de 71, 100, 203, 328 Winer, Georg Benedikt 21, 216 Zeller, Eduard 24, 108, 239

Sachregister Abhängigkeit – Abhängigkeitsbewusstsein 106f, 246 – Abhängigkeitserfahrung 110f, 306, 309 – Abhängigkeitsgefühl 101f, 105, 107f, 117, 273, 299, 313 – endliche Abhängigkeit 62, 105–107, 127, 133–136, 152, 160, 166, 178f, 270 – intelligible Abhängigkeit 244, 307 – natürliche/empirische Abhängigkeit 32, 104, 106, 110, 128, 268, 270, 298, 302 – religiöse Abhängigkeit 85, 106, 152 – schlechthinnige Abhängigkeit 31, 54, 60–65, 68f, 103, 106–108, 111, 117, 127, 132–134, 242–244, 273f, 302, 313 – transzendentale Abhängigkeit 119, 245, 271, 302 – unbedingte Abhängigkeit 107, 222, 243, 259 – unendliche Abhängigkeit 103, 106, 152, 244, 299 Absolute 28, 56–63, 77f, 123, 133, 136– 139, 158, 205, 233f, 237, 256f, 295, 297, 304f, 308, 313–315 Anschauung 66f, 119–122, 127, 193, 195f, 199, 227–231, 235, 237f, 289, 304f – intellektuelle Anschauung 237 Anthropologie 72, 84f, 110f, 152, 160, 178, 198, 270, 319, 321f Anthropomorphismus 59, 162, 183, 195, 199, 234 Apologetik 96, 117, 246f, 259, 276, 290, 307, 322 Ästhetik 32, 35, 93, 133, 148, 185 Atheismus 20, 26, 29, 47, 158

Auferstehung 219, 221, 310 Bedürfnis – praktisches Bedürfnis 95, 162, 196, 248, 304, 306 – Bedürfnistheologie 275, 295 – Einheitsbedürfnis 95, 137, 160, 204 – Freiheitsbedürfnis 156, 158, 160f, 296, 298, 302, 305 – Recht des Bedürfnisses 76, 296 – Unendlichkeitsbedürfnis 62, 69 – Vernunftbedürfnis 233, 296, 321f Befreiung 111, 129, 166, 185f, 217, 259, 264, 281, 302 Bekenntnis 46, 52, 71, 209f, 214, 216, 220f, 288, 320, 325 Bewusstsein – Endlichkeitsbewusstsein 62, 101– 104, 178f – Freiheitsbewusstsein 101, 105, 203, 243, 312, 314f – Selbstbewusstsein 56, 63, 101, 103, 105, 131f, 147f, 178f, 183, 212, 254, 294, 314 – unmittelbares Selbstbewusstsein 56, 60–63, 108, 120, 133, 213, 254, 272, 313 Bild – Bildlichkeit 59, 123f, 133, 141, 153, 162, 175, 183f, 186, 210, 319 – Gottesbild 158 – Jesusbild 145–147, 149, 219, 277f, 280 – Sprachbilder 90f, 184–186, 202, 234, 237 – Urbildlichkeit siehe Urbild – Vorstellungsbilder 80f, 138, 297 Buße 249

354

Sachregister

Christentum – Christentumstheorie 98, 129, 277 – positives Christentum 22f, 130 – Urchristentum 23, 168 Christologie 141–149, 171, 188f, 219, 222, 224, 266f, 274–282, 310, 322– 325 – Prinzipienchristologie 276–278, 281 – Urbildchristologie siehe Urbild Darwinismus 127, 156 Deismus 126, 153 Determinismus/Determination 29, 33f, 39–41, 54, 60f, 65, 85, 127, 151, 181, 260 Deutung 215, 251, 304 Dichtung 156, 197, 199f, 319 Ding an sich 28, 195, 201f, 229–231, 260, 312 Dogma 35, 40, 67, 81, 90f, 95f, 121, 140, 146, 202, 276 – Dogmengeschichte 91, 124, 146, 320, 326 Doketismus 124, 126, 145, 147 Dualismus 36, 55, 78, 201, 225, 228, 230, 237, 262f Einbildungskraft 31 Ekklesiologie 171, 175, 187–189, 205, 248, 294 Empirismus 27f, 77, 79f Erfahrung – Abhängigkeitserfahrung 110f, 301, 306, 309 – Erfahrungskern 19, 49, 308, 319 – Erfahrungstheologie 52, 169, 171, 183, 187, 190, 196, 212, 317, 320 – Erfahrungswissen 5, 81, 87, 159, 265, 287, 293, 308 – Erfahrungswissenschaft 72, 80, 82f, 86–88, 92, 120, 177, 289, 294, 308, 322 – Freiheitserfahrung 11, 116, 118f, 133f, 195–197, 205, 212f, 243, 296– 298, 302, 319, 329 – mögliche Erfahrung 77, 87, 92, 116, 123, 162, 193, 197–199, 230, 237, 269

– religiöse Erfahrung 31–33, 49–52, 59f, 67, 96, 98, 110f, 117, 119f, 122f, 125, 127, 135, 139f, 170f, 175, 183, 185f, 189, 201, 211, 214, 219, 221f, 245, 255, 268, 288 – Selbsterfahrung 87, 94, 105, 128, 159, 183, 185, 211, 304 – sittliche Erfahrung 32 – Welterfahrung 62, 87, 94, 98f, 117, 141, 176, 185, 321 Erhebung 32, 48, 54, 84f, 87f, 102–108, 113–118, 129, 132–134, 136f, 145, 147–154, 160, 165f, 179, 195, 200– 203, 243–245, 260, 262–264, 270, 274f, 280, 302, 304f, 309f Erkenntnistheorie 4f, 9, 50, 55, 61, 63, 71–73, 81–83, 93f, 115, 119–128, 153, 175, 183, 191f, 197f, 201, 203, 208–210, 225–235, 290, 292, 317– 320 Erleben 51–53, 112–117, 134, 185f, 194–196, 201f, 212–215, 236–240, 243–246, 250, 253–256, 259–261, 270–275, 296–298, 300–310, 317– 319, 322–324 – Freiheitserleben 116, 141, 195f, 213, 243, 274f, 287f, 301–305, 307–310, 323f, 329 Ethik 22, 32, 37, 53, 175, 177, 179–183, 185f, 205, 241–243, 248, 253, 279– 281, 321, 325 – Sozialethik 42, 44f Eudämonismus 163, 239, 241–244, 268, 298, 300, 321 Evangelischer Bund 222, 266 Evangelium 70, 144, 218f, 249 Evidenz 50, 84, 112f, 190, 195f, 205, 212, 214f, 289, 294f, 318f Evolutionstheorie 156 Fantasie 33, 41, 47, 61, 63f, 94, 195, 210, 237, 256, 272, 292, 305 Fideismus 79, 86, 285, 318f Freiheit – Atmosphäre der Freiheit 50, 53, 288 – endliche Freiheit 62, 105, 110f, 133f, 152, 270 – Freiheitsantinomie 259–261 – Freiheitsbedürfnis siehe Bedürfnis

Sachregister – Freiheitsbewusstsein siehe Bewusstsein – Freiheitserfahrung siehe Erfahrung – Freiheitserleben siehe Erleben – Freiheitsgefühl 106 – Freiheitstheologie 10–12, 115, 143, 147, 240, 301, 309, 323–325 – Freiheitstrieb 105, 166, 178, 195, 309 – geistige Freiheit 97, 110–113, 129, 133f, 138, 149, 152, 160, 277, 304, 319f – Grund der Freiheit 105, 111, 195, 243 – innere Freiheit 160, 165f, 301, 309 – intelligible Freiheit 217, 240–244, 246, 263f, 270–273, 301–304, 307 – Kausalität aus Freiheit 164, 260 – Metaphysik der Freiheit 265 – praktische Freiheit 262, 264 – Quell der Freiheit 134, 141, 308 – religiöse Freiheit 115, 117, 148f, 153, 166, 217, 243, 271, 274–276, 302– 304, 307–310, 319f – schlechthinnige Freiheit 88, 106, 111, 313 – sittliche Freiheit 134, 241, 243, 263, 304 – transzendentale Freiheit 36, 243, 260–264 – unendliche Freiheit 132, 152, 270, 274, 297 – verdankte Freiheit 111, 309 Freundschaft 24f, 47, 156, 167–171, 190, 266, 292 Frömmigkeit 19–21, 42, 48, 50, 63f, 80, 108f, 117, 143, 209f, 215f, 218, 222f, 273, 277–279, 325 Gefühl 31, 58, 60–68, 96, 101f, 108f, 119–122, 150, 187, 272f, 315 – Abhängigkeitsgefühl siehe Abhängigkeit – Ichgefühl 213 – schlechthinniges Freiheitsgefühl siehe Freiheit – Selbstgefühl 153, 253, 261 – Wertgefühl 253 – Würdegefühl 246

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Geheimnis 19, 51, 105, 115f, 197, 244, 274 Geist, Heiliger 129, 132, 136, 140, 150– 152, 220, 324 Geistesleben 32f, 48f, 62f, 65, 83–87, 99–101, 103, 105, 107f, 112–120, 132–135, 149f, 152f, 178, 180, 236, 251, 254, 273–275, 303–305, 308– 310, 314f Geltung 6, 68, 75f, 81–87, 96–99, 112, 159, 175, 214, 232, 238f, 244f, 252, 254–256, 281f, 299, 321 Gemeinschaft 32f, 43–45, 97, 105, 110, 131, 143f, 147–149, 175, 187f, 214– 218, 245, 309 Geschichte – Befreiungsgeschichte 129, 186 – frühchristliche Literaturgeschichte 23f – Geschichtswissenschaft 38f, 41f, 72 – innere Geschichte 13, 217–220, 277, 282, 285, 310 – Kirchengeschichte 23f, 39, 41 – Religionsgeschichte 119, 129, 214, 241, 243, 248, 266 – Theologiegeschichte 2–5, 8, 10, 12, 23, 167, 174, 285, 287, 317, 328f Gesetz, moralisches 180, 243, 253, 262, 296 Gethsemane-Perikope 147f, 165 Gewissen 72, 91f, 118, 134, 218 Gewissheit 75–77, 82, 92, 108, 140, 168, 187f, 190, 195, 209, 211–215, 218– 220, 223, 233, 254–257, 264f, 289– 291, 304–306, 318–321, 324 Glauben 5, 30, 48–52, 73–88, 90–99, 108f, 112–119, 125, 128–130, 144, 152–154, 156–160, 175, 194, 209– 224, 233, 245f, 255f, 268, 273–283, 285, 288–300, 304–307, 310–312, 321–325, 328f – Glaubenswissenschaft 30, 33, 35, 84f, 92, 97, 121, 128 – moralischer Glaube 76f, 242, 296 – Vorsehungsglaube 165 Gnade 22, 43, 85, 123, 150–152, 217– 219, 223, 279 Gott – Geistigkeit Gottes 129, 137, 183

356

Sachregister

– Gottes Wirken 13, 58, 64, 68f, 106, 113, 118, 215, 273, 295, 298, 305, 324 – Gottesbeweis 140, 180 – Gottesgemeinschaft 148, 182, 217, 248 – Gottesidee/Gottesgedanke 27, 31, 57, 59, 64, 129, 132–141, 156–162, 199, 242f, 275, 296, 298, 321 – Gotteskindschaft 43, 131, 136, 143– 145, 148f, 189, 217f, 309 Grenzbegriff 231f, 265, 294, 301 Grundtatsache 130f, 141, 276, 324 Gut, höchstes 32–34, 45, 76, 165, 242 Häresiologie 126f Herrnhut 19, 21, 266 Idealismus 6, 34, 49, 72, 74, 79f, 86, 157, 163f, 181, 192, 204, 240, 310, 316, 322 – Spätidealismus 10, 15, 17, 25–30, 36, 86, 102 – Transzendentaler Idealismus 28, 225 Identität, numerische 107–109, 114, 116, 145, 151, 230f, 273, 305, 307, 316 Illusionismus 114, 194, 198, 209–211, 232, 245, 293, 295f, 318 Inspiration 117, 119f, 273 Irenik 222, 224, 226, 238, 247, 282, 327 Katholizismus 222f, 245 Kausalität – absolute Kausalität 54, 58f, 104, 118, 123, 127, 133–135, 137, 257 – Naturkausalität 36, 40, 59, 79, 85, 87, 104–107, 115f, 123, 137, 164, 181, 253, 260–264, 293–295, 297f, 300– 305, 308f Kirche 37f, 45–50, 52f, 90f, 96–99, 187, 209, 222, 288 Kommunikation 33, 49f, 110, 124f, 186, 214 Kompatibilismus 40, 42, 164, 263 Konfessionalismus 15, 47, 70, 79, 86, 125, 204, 209, 221, 327f Kreuz 41, 170, 216, 219, 221, 234, 310

Kultur 38, 42, 44f, 54, 68, 81–84, 86f, 109, 123f, 128–130, 185f, 201, 290– 295, 304, 306, 317, 320 Kulturkampf 222 Lehre 32, 43, 46–49, 52, 70, 78, 125, 139, 148, 150, 191, 222f Liebe 43, 66, 118, 135f, 143f, 148–150, 219f, 248, 257, 278, 280, 285 Manifestation 117, 119–221, 273, 315 Materialismus 47, 79–82, 86f, 155–163, 176, 201, 204f Metaphysik 56, 68, 77, 138, 168, 171f, 181, 185, 190–194, 199, 202–205, 225f, 231–239, 251–254, 256f, 261, 263–266, 270–273, 275, 287–292, 294f, 302 Moderne 44f, 54, 70–72, 78, 80–83, 90, 288–291, 299f Monismus 34, 55f, 156f, 163, 234f, 299 Moral 43, 76, 180, 241–244, 253–255, 296, 303f, 311 – moralischer Glaube siehe Glaube – Moralismus 19–21, 109, 167, 182f, 190, 248f, 251, 258, 265, 285, 293f – Moraltheologie 5, 183, 208, 239, 244, 247f, 317, 321 Mysterium 32, 52, 115, 131, 153, 187, 195, 244, 273–275, 299, 308 Mystik 19, 65, 67, 175, 182, 190, 248 Naturalismus 116, 151, 201 Naturkausalität siehe Kausalität Neukantianismus 3–7, 28, 155, 168, 191, 197f, 205, 225, 259, 265, 287, 289, 292, 296 Nihilismus 29, 57, 78, 312 Nötigung 62f, 68f, 103f, 137, 178, 212f, 246f, 254f, 258, 270, 297f, 300–306, 321 Noumenon 231, 260f Objektivität 114, 194–196, 219f, 222, 230, 319 Offenbarung – allgemeiner Offenbarungsbegriff 32, 188f, 274f, 310, 323

Sachregister – äußere Offenbarung 117f, 220 – göttliche Offenbarung 47, 64f, 152, 245, 307 – Heilsoffenbarung 48, 188, 208, 214, 279, 281f – historische Offenbarung 129f, 143f, 147–149, 153, 182, 188f, 208, 214– 222, 274–278, 281, 310f, 322–325 – innere Offenbarung 117–119, 214f, 220f, 246, 311, 323 – Offenbarungsdreiheit 129, 131f, 136, 140 – Offenbarungspositivismus 6, 191, 209, 281f, 286, 317f, 325 – Offenbarungstheologie 11, 90, 155, 247, 288, 307, 313 – religionstheoretischer Offenbarungsbegriff 132, 136, 153, 187, 274f. – Selbstoffenbarung 11, 64f, 153, 185, 244, 273, 285, 315f, 319 Ontologie 27f, 234, 258f, 265, 321 Orthodoxie 10, 17f, 46f, 50, 53, 70f, 74, 79f, 91, 125, 146, 221, 248 Panlogismus 191–193, 235f, 299 Pantheismus 20, 29, 34, 127, 151, 153, 158, 223, 236 Pelagianismus 126f, 153 Persönlichkeit 13, 27, 43f, 49, 110f, 133–135, 138f, 147–149, 162, 211– 213, 215, 219, 223, 244–248, 254– 256, 265, 271–274, 289–299, 301– 310 Perspektive – Perspektivendualität 35, 40, 60, 85– 88, 139, 150f, 164, 268f, 298, 322 – Glaubensperspektive 41, 78, 85–88, 98f, 116, 136, 141, 150, 153, 186f, 189, 194–196, 213, 215, 246, 273f, 277, 294, 297f, 304–307, 318f, 322, 328 Phänomenologie – Freiheitsphänomenologie 288, 310 – Religionsphänomenologie 12, 68, 83, 87, 101, 119, 180, 194f, 239, 246, 274f, 297, 300, 321 – Subjektivitätsphänomenologie 83, 101, 236, 240, 275, 316 Philosophie

357

– klassische-deutsche Philosophie 11f, 25, 72, 101 – negative/positive Philosophie 26–28 – Religionsphilosophie 53, 83, 96, 100, 177, 246, 267, 291f, 298 – Subjektivitätsphilosophie 240 – Transzendentalphilosophie 99, 111, 153, 274, 311, 322 Pneumatologie 132, 149–153, 308 Positivismus 30, 40, 94, 188, 265 Prinzip – christliches Prinzip 97, 132, 143f, 147f, 150, 176, 219, 276, 278f – religiöses Prinzip 92, 95, 98, 130, 144, 147f, 153, 276, 278, 281, 323 Protestantismus 3, 35, 37, 70, 73, 98, 130, 204, 216, 222f, 306, 320, 328 Psychologie – empirische Psychologie 99, 177, 253 – exakte Psychologie 239 – rationale Psychologie 177 – Religionspsychologie 72, 83, 90, 99– 118, 133, 140, 159–161, 174, 177f, 187–189, 239–243, 269–273, 296– 302, 321f Rationalismus 5, 26–28, 39, 78, 126, 211, 265 Raumzeit 117, 122f, 126f, 137f, 193, 195, 229, 234, 269, 308 Realismus 29, 55, 68, 168, 226–231, 235, 265, 319 – Begriffsrealismus 29 Realität 26f, 51, 75, 80f, 94, 113f, 200, 202f, 230f, 252, 254–256, 271f, 293, 295 Rechtfertigungslehre 22, 47, 171, 218, 222f Reich-Gottes 32, 38, 42–45, 131, 169, 171, 249, 257, 280, 309 Relativismus 93, 176, 191, 230, 318 Religion – Erlösungsreligion 129, 324f – Naturreligion 129, 241, 243, 325 – objective Religion 110, 273 – positive Religion 128, 131, 136, 254 – Religionsdogmatik 112–119, 128f, 153, 304f, 325

358

Sachregister

– Religionsgeschichte siehe Geschichte – Religionskritik 6, 78, 125, 128, 210f, 290, 317, 319, 321f – Religionsphänomenologie siehe Phänomenologie – Religionsphilosophie siehe Philosophie – Religionspsychologie siehe Psychologie – Religionswissenschaft 49, 53, 100 – religiöses Verhältnis 96, 111, 143, 196, 243, 281 – Selbstständigkeit der Religion 110, 166, 182, 189, 290–292, 320 Religionsgeschichtliche Schule 2, 326 Ritschl-Schule 2–5, 167, 172–174, 189f, 207f, 247–252, 257–259, 264–269, 278–280, 287, 292–295 Selbsttranszendierung 49, 52, 84, 113 Seligkeit 165f, 248, 309 Sinn 122f, 141, 145, 163, 196, 288, 291, 297, 306–309 – Sinnhorizont 11, 116, 119, 133, 152, 164, 215, 293, 307–310 – Richtungssinn 133, 135, 141, 149, 186, 277, 286 Sittlichkeit 19f, 22, 32, 43–45, 76, 109f, 133–135, 180, 182, 241–245, 250, 253–257, 263–265 Skeptizismus 6, 191, 194, 203, 210, 230, 318 Soteriologie 41, 43f., 46–50, 131, 135f, 149–152, 163–166, 169, 187–189, 216–221, 277–282, 294, 309, 323– 325 Spätidealismus siehe Idealismus Spontaneität 102f, 260, 293, 301, 303– 305, 307–309, 313 Standpunkt, kritischer 5, 159, 162–166, 268 Subjektivismus 6, 67, 187, 210, 230, 245, 318, 322 Subjektivität 68, 76–78, 101–105, 120f, 127f, 148, 236f, 240, 254, 271–273, 319 Sünde 47, 148, 217f, 221, 223, 249 Supranaturalismus 78–80, 126f, 211, 273, 328

Systemarchitektonik 11, 69, 88, 268 Teleologie 32, 40–42, 59, 134, 137, 140, 164f, 177, 180f, 204, 211–213, 244, 248, 263, 268f, 309 Testimonium Spiritus Sancti internum 117, 170, 182, 214, 220 Theismus 26, 31f, 128, 299, 312 – Monotheismus 130 – spekulativer Theismus 25–30, 35f Theologie – Bedürfnistheologie siehe Bedürfnis – Erfahrungstheologie siehe Erfahrung – freie Theologie 3f, 10, 46, 289 – Freiheitstheologie siehe Freiheit – konfessionelle Theologie 18, 47f – Konsenstheologie 207, 282 – Kontroverstheologie 222f – Liberale Theologie 1–12, 23, 36–38, 47, 69–72, 174, 205, 209f, 218, 223f, 279, 287–289, 327 – Moraltheologie siehe Moral – Offenbarungstheologie siehe Offenbarung – positive Theologie 10, 15, 207–210, 221–224, 266, 268, 282, 286, 288, 317, 322 – Postulatentheologie 275, 287, 292, 295–297 – spekulative Theologie 25, 151, 289, 323f – spezielle Theologie 15, 132, 308 – Theologiegeschichte 2–5, 8, 10, 12, 167, 174, 221, 267, 275, 285, 287, 317, 328 – Vermittlungstheologie 6f, 12, 15, 17f, 21f, 126, 278, 286, 327–329 Traditionalismus 90f, 169, 208, 224, 300 Trieb 67–69, 101–103, 105, 160, 178, 185, 240, 248, 297, 321 – Einheitstrieb 95, 159–161, 166, 176, 195, 204f, 233, 256, 290 – Freiheitstrieb siehe Freiheit – religiöser Trieb 66, 240, 242, 272 – Selbstheitstrieb 102, 321 – Unendlichkeitstrieb 66, 68, 80 Trinität 90, 131f, 140, 150, 152f, 163 Tübinger Schule 17, 23f, 38, 41

Sachregister Unbedingtsheitsdimension 104, 109, 111, 294, 303f Unendlichkeit 34, 44, 62–69, 77f, 80f, 84, 102–106, 115, 136–140, 308 – Unendlichkeitsbedürfnis siehe Bedürfnis – Unendlichkeitstrieb siehe Trieb Union 46, 73, 267, 328 Universalismus 20, 42–44, 78, 129, 171, 175, 188f, 293f Unsterblichkeit der Seele 76f, 204, 312 Urbild 34, 43, 131, 134, 142–149, 189, 219f, 243, 276–281, 308 Vergeistigung 124, 129, 183f, 186, 308 Verhältnis, religiöses siehe Religion Vermittlungstheologie siehe Theologie Vernunft 26–28, 34, 56, 59, 75–79, 135, 163, 180, 211, 253, 296, 311, 315, 321f Verstand 26, 28, 35, 52, 55, 90, 125f, 162, 183, 199, 203, 216, 261, 312 Vorstellung 31–33, 49, 60f, 65, 81, 93, 99, 121–125, 133–141, 177f, 198, 210f, 213, 256, 272, 297 Wahrheit 50, 81, 123, 140, 189, 195, 197–203, 213f, 244–246, 298–300 Wahrnehmung 81, 91, 93, 121, 229, 260, 297 Weltanschauung 72, 93–95, 161–164, 176, 194f, 204, 233, 238, 290–294 – einheitliche Weltanschauung 95, 104, 137, 161f, 176, 204, 250 – materialistische/monistische Weltanschauung 127, 137, 156–159, 166, 176 – religiöse/christliche Weltanschauung 91–99, 124f, 128, 156, 162, 175– 178, 251f, 291

359

– teleologische/idealistische Weltanschauung 163f, 212, 248 Weltregierung 43, 163–166 Wende 157, 161, 208f, 220, 224, 226, 238, 240, 264f Wert 171, 179f, 194, 211f, 238, 251– 259, 298 – Werturteil 180, 196, 237, 250, 252, 255, 257–259, 266, 293f – unendlicher Wert der Menschenseele 309 Wirklichkeit 26–36, 55–60, 79f, 137, 158, 164, 191–203, 227–238, 250– 265, 269, 281, 290–307, 312 Wissen 50f, 54–56, 73–87, 92, 97f, 108, 116, 159, 175f, 194–199, 211, 227, 230, 232f, 237, 272, 289–294, 314 Wissenschaft – Bibelwissenschaft 23f – Erfahrungswissenschaft siehe Erfahrung – Geschichtswissenschaft siehe Geschichte – Glaubenswissenschaft siehe Glaube – Naturwissenschaft 120, 157, 159, 162f, 176f, 200, 205, 239, 256 – Religionswissenschaft siehe Religion – Wissenschaftlichkeit 20f, 60, 71f, 90–92, 97–99, 137, 175–177, 190f, 221, 232f, 288–291 Wunder 39, 52, 115, 118, 146, 218, 273– 275 Würde 160f, 165, 194, 202, 246, 308 Zwei-Naturen-Lehre 124, 145f, 220 Zwei-Stämme-Lehre 55, 199, 228