Der andersartige Anfang: Grund und Freiheit bei Schelling und Pareyson 9783495999349, 9783495999332


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Einleitung
Erstes Kapitel. Die Verwandlung des Grundes: Der unbegründete Grund bei Schelling
1.1. Vorgeschichte: Philosophie und Religion (1804)
1.2. Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809)
1.2.1. Die derivierte Absolutheit
1.2.2. Die anfängliche Dualität: Grund und Existenz
1.2.3. Der Ungrund
1.2.4. Der Abgrund der Freiheit
1.3. Stuttgarter Privatvorlesungen, ›ein besonderer Beobachtungsposten‹
1.3.1. Das vorausgesetzte Absolute
1.3.2. Die Trennung
1.3.3. Die freiwillige Herablassung Gottes: Anmerkungen zur ontologischen Freiheit
1.3.4. Sein, Seiendes, Nichtseiendes: das Verhältnis zwischen Gott, Natur und Mensch
1.4. Die Weltalter (1811–1815/1817)
1.4.1. ›Das Gewußte wird erzählt‹ : Geschichte und Dialektik
1.4.2. Die Vergangenheit Gottes: das unvordenkliche ›Spiel der Zweyheit‹ als Urpotentialität des Urwesens
1.4.3. Entscheidung und Freiheit
1.4.4. Die Positivität des Negativen und die Möglichkeit des Bösen
1.5. Schelling: Gründer des Abgrundes
Zweites Kapitel. ›Vor und über dem Sein‹ : Die Potenz als Befreiung des Absoluten
2.1. Erlanger Vorlesungen (1821)
2.1.1. Das Prinzip der Philosophie: Ewige Freiheit
2.1.2. Die ontologische Differenz der ewigen Freiheit: Das Seinkönnen
2.1.3. Die Ek-stasis der Vernunft: Die Verlegung des Denkens
2.1.4. Potentia ultima
2.1.5. Ab actu ad potentiam: das Gesetz der ewigen Freiheit
2.2. Darstellung des philosophischen Empirismus (1836)
2.2.1. Aus der ›großen Tatsache der Welt‹ heraus: Die drei Prinzipien des Werdens
2.2.2. Die freie Ursache
2.2.3. Gott und das Sein: Das ›Spiel der göttlichen Freiheit‹
2.2.4. Creatio ex potentia
2.3. Philosophie der Offenbarung (1841/42): Die Befreiung Gottes
2.3.1. Die umgekehrte Idee: Das Primat der Existenz
2.3.2. Die Endlichkeit des Absoluten
2.3.3. Der lebendige Geist
2.3.4. Vom Potenzlosen zum wahren Gott: Die Macht der Freiheit
2.4. Übergang
2.4.1. Der unnötige Gott oder: vom anderen Anfang
2.4.2. Tragödie oder Dramatik der Philosophie?
Drittes Kapitel. Ontologie der Freiheit: Holzwege zwischen Schelling und Pareyson
3.1. Einführung in das Denken Luigi Pareysons (1918–1991)
3.1.1. Existenz und Philosophie
a) Die Person als ›ontologisches Verhältnis‹
b) Ästhetik und Gestalt
3.1.2. Verità e interpretazione (Wahrheit und Interpretation, 1971)
a) Prämisse: Situazione e libertà (Situation und Freiheit, 1962)
b) Die Theorie der Interpretation
3.1.3. Ontologia della libertà (Ontologie der Freiheit, 1991)
3.2. Holzwege: Ein ›post-heideggerianisches‹ Denken
3.2.1. Das Erstaunen
3.2.2. Das Böse
3.2.3. Die Freiheit
3.2.4. Das Prinzip Freiheit
Anhang. Versuch einer Übersetzung
Philosophie der Freiheit
I. Der Abgrund der Freiheit und die Grundfrage. Heidegger und Schelling
II. Dostojewski. Die ursprüngliche Bindung zwischen Freiheit und Nichts
III. Die Freiheit als Anfang und Entscheidung
IV. Möglichkeit und Wirklichkeit des Bösen
V. Erlösender und enthüllender Wert des Leidens
Ausblick
Literatur
1. Primärliteratur
2. Forschungsliteratur
Namensregister
Sachregister
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Der andersartige Anfang: Grund und Freiheit bei Schelling und Pareyson
 9783495999349, 9783495999332

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Beiträge zur Schelling-Forschung 12

Silvia Pogliano

Der andersartige Anfang Grund und Freiheit bei Schelling und Pareyson Mit der deutschen Übersetzung eines Aufsatzes aus Pareysons „Ontologia della libertà“ (1991)

https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Darf die Freiheit als ontologischer Begriff betrachtet werden, nämlich als jener metaphysischer »Grund«, die eine lange Tradition hinter sich hat? Es fehlt in der Forschung nicht an Versuchen, die Philosophie Schellings auf verschiedene Weise zu aktualisieren. Ziel des Bandes besteht aber darin: Zu zeigen, wie Schelling selbst die Begriffe »Grund« und »Freiheit« ab 1804 entwickelt und unauflösbar verbunden hat, so dass dem metaphysischen Denken neue Potentialitäten erschlossen werden. Dazu erweist die Interpretation des italienischen Philosophen Luigi Pareyson (1918–1991) sich als entscheidend, um diese fundamentale Dimension des Denkens Schellings zu verstehen. Außerdem wird den Leser:innen ein Aufsatz Pareysons in deutscher Übersetzung angeboten.

Die Autorin: Silvia Pogliano (Varese, 1989) hat Philosophie in Mailand studiert und promovierte 2020 bei der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Ihre Untersuchungen betreffen die Philosophie des XIX. und des XX. Jahrhundert, besonders Schelling und Heidegger. Sie lehrt Philosophie an der Theologischen Fakultät Mailand.

https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Silvia Pogliano Der andersartige Anfang

https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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BEITRÄGE ZUR SCHELLING-FORSCHUNG

Herausgegeben von Lore Hühn (Freiburg) Philipp Höfele (Berlin/Penn State) Philipp Schwab (Freiburg) Paul Ziche (Utrecht)

https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Silvia Pogliano

Der andersartige Anfang Grund und Freiheit bei Schelling und Pareyson Mit der deutschen Übersetzung eines Aufsatzes aus Pareysons Ontologia della libertà (1991)

Verlag Karl Alber Baden-Baden https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Università Cattolica del Sacro Cuore contributed to the funding of this research project and its publication.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© VERLAG KARL ALBER – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022 Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper www.verlag-alber.de

ISBN 978-3-495-99933-2 (Print) ISBN 978-3-495-99934-9 (ePDF)

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ἀρχὴ γὰρ καὶ θεὸς ἐν ἀνθρώποις ἱδρυμένη σῴζει πάντα Platon, Leges VI, 775e Denn der Anfang erhält und bewahrt im Menschenleben mit der Götter Hilfe alles fernere Platon, Leges VI, 775e Anche l’inizio è una divinità, e finché è fra gli uomini salva ogni cosa Platone, Leggi VI, 775e

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Vorwort

Mein besonderer Dank gilt vor allem Frau Prof. Dr. Lore Hühn: Ohne ihr Vertrauen, ihre wertvolle Begleitung, zahlreichen Hinweise und besonders ohne ihre ununterbrochene Unterstützung wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Ich bedanke mich herzlich bei Herrn Prof. Dr. Marassi, der mich seit dem Anfang meines Universitätsstudiums in Mailand mit großer Geduld und Sorge begleitet und der mich auf dem Weg nach Freiburg und zu Schelling mit echter Überzeugung unterstützt hat. Herrn Prof. Dr. Striet und Herrn Prof. Dr. D’Anna danke ich aufrichtig für das ehrliche Interesse an dieser Arbeit. Es war für mich eine große Ehre, Stipendiatin der Bischöflichen Studienförderung Cusanuswerk (Bonn) und des Centro Universitario Cattolico (Rom) gewesen zu sein: Für die finanzielle und die ideelle Unterstützung möchte ich beiden Stiftungen meine Dankbarkeit aussprechen. Ich muss mich ferner bei Frau Gerda Wagner aus tiefstem Herzen bedanken: Dank ihrer geduldigen und warmherzigen Arbeit und Sorge ist ›the awful german language‹ (M. Twain) wie ein zweites Zuhause für mich geworden. Diese Arbeit ist meiner Familie gewidmet: Ort des Ursprungs und des Anfangs.

IX https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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Inhalt

Einleitung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Erstes Kapitel Die Verwandlung des Grundes: Der unbegründete Grund bei Schelling . . . . . . . . . . 1.1. Vorgeschichte: Philosophie und Religion (1804) . . . 1.2. Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809) . . . . . . . . . . . 1.2.1. Die derivierte Absolutheit . . . . . . . . . . 1.2.2. Die anfängliche Dualität: Grund und Existenz 1.2.3. Der Ungrund . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4. Der Abgrund der Freiheit . . . . . . . . . . . 1.3. Stuttgarter Privatvorlesungen, ›ein besonderer Beobachtungsposten‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1. Das vorausgesetzte Absolute . . . . . . . . . 1.3.2. Die Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3. Die freiwillige Herablassung Gottes: Anmerkungen zur ontologischen Freiheit . . . 1.3.4. Sein, Seiendes, Nichtseiendes: das Verhältnis zwischen Gott, Natur und Mensch . . . . . . 1.4. Die Weltalter (1811–1815/1817) . . . . . . . . . . . 1.4.1. ›Das Gewußte wird erzählt‹ : Geschichte und Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2. Die Vergangenheit Gottes: das unvordenkliche ›Spiel der Zweyheit‹ als Urpotentialität des Urwesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3. Entscheidung und Freiheit . . . . . . . . . . 1.4.4. Die Positivität des Negativen und die Möglichkeit des Bösen . . . . . . . . . . . 1.5. Schelling: Gründer des Abgrundes . . . . . . . . . .

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Inhalt

Zweites Kapitel ›Vor und über dem Sein‹ : Die Potenz als Befreiung des Absoluten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Erlanger Vorlesungen (1821) . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Das Prinzip der Philosophie: Ewige Freiheit . . 2.1.2. Die ontologische Differenz der ewigen Freiheit: Das Seinkönnen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3. Die Ek-stasis der Vernunft: Die Verlegung des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4. Potentia ultima . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5. Ab actu ad potentiam: das Gesetz der ewigen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Darstellung des philosophischen Empirismus (1836) . 2.2.1. Aus der ›großen Tatsache der Welt‹ heraus: Die drei Prinzipien des Werdens . . . . . . . 2.2.2. Die freie Ursache . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3. Gott und das Sein: Das ›Spiel der göttlichen Freiheit‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4. Creatio ex potentia . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Philosophie der Offenbarung (1841/42): Die Befreiung Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1. Die umgekehrte Idee: Das Primat der Existenz 2.3.2. Die Endlichkeit des Absoluten . . . . . . . . 2.3.3. Der lebendige Geist . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4. Vom Potenzlosen zum wahren Gott: Die Macht der Freiheit . . . . . . . . . . . . 2.4. Übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1. Der unnötige Gott oder: vom anderen Anfang 2.4.2. Tragödie oder Dramatik der Philosophie? . . .

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Drittes Kapitel Ontologie der Freiheit: Holzwege zwischen Schelling und Pareyson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Einführung in das Denken Luigi Pareysons (1918–1991) 3.1.1. Existenz und Philosophie . . . . . . . . . . . . a) Die Person als ›ontologisches Verhältnis‹ . . b) Ästhetik und Gestalt . . . . . . . . . . . . .

XII https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

. 143 144

. 147 . 149 . 151

Inhalt

3.1.2. Verità e interpretazione (Wahrheit und Interpretation, 1971) . . . . . . . . . . . . . . a) Prämisse: Situazione e libertà (Situation und Freiheit, 1962) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Theorie der Interpretation . . . . . . . . 3.1.3. Ontologia della libertà (Ontologie der Freiheit, 1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Holzwege: Ein ›post-heideggerianisches‹ Denken . . . . 3.2.1. Das Erstaunen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Das Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. Die Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4. Das Prinzip Freiheit . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang Versuch einer Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . Philosophie der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Abgrund der Freiheit und die Grundfrage. Heidegger und Schelling. . . . . . . . . . . . . . II. Dostojewski. Die ursprüngliche Bindung zwischen Freiheit und Nichts. . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Freiheit als Anfang und Entscheidung . . . . IV. Möglichkeit und Wirklichkeit des Bösen . . . . . V. Erlösender und enthüllender Wert des Leidens . .

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Ausblick

. 154 . 154 . 156 160 165 166 172 178 187

. . 191 . . 192 . . 192 . . . .

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachregister

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XIII https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Einleitung Pourquoi Dieu ne serait-il pas libre comme toi ? Ta liberté est l’image de la sienne. Paul Claudel, Cinq grandes Odes

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Denken Schellings und mit einem seiner wichtigsten Interpreten, dem italienischen Philosophen Luigi Pareyson. Die Absicht unserer Untersuchungen liegt aber nicht darin, eine Interpretation Schellings zu liefern: Die sich kritisch mit Schelling auseinandersetzende Literatur ist so umfangreich und ausführlich geworden, dass diese Arbeit dazu kaum einen Beitrag leisten könnte. Unser Ziel ist von theoretischer Natur und könnte so ausgedrückt werden: Nicht über, sondern mit Schelling denken. Heidegger stellte am Anfang seines Schelling-Seminars fest, dass »selten ein Denker so leidenschaftlich seit seiner frühesten Zeit um seinen eigenen und einzigen Standort kämpfte«: 1 Der eigene und einzige ›Standort‹ Schellings war das Denken des Grundes, des Prinzips, des Anfangs. Mit Schelling zu denken, bedeutet deshalb: Den Anfang zu denken. Damit ein derartiger Versuch sich nicht als bloß anachronistisch erweist, ist es notwendig, daran zu erinnern, dass die Frage nach dem Anfang, nach dem Prinzip, die Frage selbst der Philosophie ist, d. h. jene Frage, die allen anderen Fragen und möglichen Antworten immer und notwendigerweise vorausgesetzt ist. 2 Jedes Denken, jede Philosophie setzt immer eine bestimmte Konzeption des Prinzips voraus, deren Gestaltung die gesamte Struktur einer Philosophie, eines Systems bestimmt. Die Einfachheit dieser Frage hallt seit den vorsokratischen Anfängen des Denkens wider und die Tatsache, dass es darauf noch keine endgültige Antwort gibt (und dies überhaupt nicht möglich ist), gilt als Beweis ihres primären Charakters, der zwar ignoriert, aber nicht bestritten werden kann. Überdies scheint die Bruchstückhaftigkeit der heutigen Philosophien eine ernsthafte ReGA 42, 10. Über die Tendenzen der Metaphysik des XX. Jahrhunderts und die unvermeidbare Frage nach dem Grund vgl. Marassi 2015b.

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1 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Einleitung

flexion über das, was man unter ›Prinzip‹ oder ›Anfang‹ versteht, einzufordern. ›Grund‹ bedeutet bekanntlich: Fundament, Boden, Festland – aber auch Motiv, Anlass, Grund für. Jedes Denken, wenn es sich nicht in einer leeren Übung erschöpfen möchte, muss deshalb einen Grund haben oder zumindest eine Art von ›Grundfrage‹ in Angriff nehmen. Die Frage nach dem Grund ist ferner eine der metaphysischen Fragen par excellence, eine Frage, mit der die ganze Tradition sich beschäftigt hat, und durch die diese Tradition zu ihrem Ende kam: Heidegger hat ein für allemal die ontotheologische Natur der Metaphysik demaskiert wie einen Endpunkt, hinter den man nicht mehr gehen kann. Eine metaphysisch geprägte Frage oder Reflexion über den Anfang oder den Grund des Seins noch einmal vorzuschlagen, wäre infolgedessen ein ergebnisloser Versuch. Heidegger selbst hatte die Möglichkeit eines anderen Anfangs gesehen, ohne aber eine positive Formulierung einer solchen Alternative zu geben. Der ›andere Anfang‹ bleibt uns fern und im Grunde unerreichbar für unser noch metaphysisch-gestaltetes und vor-stellendes Denken. Keine Gegenbewegung; denn alle Gegenbewegungen und Gegen-kräfte sind zu ihrem wesentlichen Teile mitbestimmt durch ihr Wo-gegen, wenngleich in der Gestalt einer Umkehrung desselben. Und deshalb genügt eine Gegen-bewegung niemals für eine wesentliche Wandlung der Geschichte. Gegen-bewegungen verfangen sich in ihrem Sieg, und das sagt, sie verklammern sich in das Besiegte. Ein schaffender Grund wird durch sie nicht frei, sondern eher als unnötig geleugnet. […] Der andere Anfang ist nicht die Gegenrichtung zum ersten, sondern steht als anderes außerhalb des Gegen und der unmittelbaren Vergleichbarkeit. 3

Das Ende des Denkens des ersten Anfangs, der sich auf die ›Wahrheit des Seienden‹ bezieht, und die darauf folgende Notwendigkeit, den anderen Anfang als anderes zu denken, weil er nur als anderes die ›Wahrheit des Seins‹ ans Licht bringen kann: Vor diesem heideggerianischen Hintergrund bildet sich die Hypothese dieser Arbeit, 4 die auch folgendermaßen ausgedrückt werden kann: Schelling versuchte, das metaphysische Modell des Grundes umzudenken und die Metaphysik selbst zu überwinden, ohne aber auf den Anspruch auf die Fundamentalfrage der Philosophie zu verzichten. Ob dieser Versuch GA 65, 186 f. Vgl. z. B. Coriando 1998; Schüßler 2007; Barbaric 2016. Die »innere Verwandtschaft Schellings und Heideggers« ist jetzt völlig anerkannt und wurde von L. Hühn ausführlich dargelegt: vgl. Hühn 2010, bes. 13 f.

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2 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Einleitung

Schellings erfolgreich war oder nicht, bleibt eine offene Frage. Vielleicht geht es hier nicht um Erfolg oder Misserfolg: for us there is only the trying, the rest is not our business (T. S. Eliot, East Coker). Denn gerade das Bestreben ist der Grundton des Denkens Schellings: Sein Denken gestaltet sich, wie Xaviér Tilliette schon vor langer Zeit uns vor Augen geführt hat, als ein devenir, ein kontinuierliches Werden der Gedanken über das einzige und eigene Objekt: das Absolute, das Prinzip, den Grund. Schelling gehört – unter dem Gesichtspunkt der Geschichte der Philosophie betrachtet – zum deutschen Idealismus. Dieser repräsentiert die letzte, glänzende Parabel der abendländischen Philosophie, die einen Anspruch auf das hatte, was die Idealisten selbst als ›Absolutes‹ bezeichneten, d. h. jenes absolute, unbestreitbare Prinzip, von dem das ganze System abhängt. Hegel versuchte durch seine titanische Philosophie, dieses absolut Andere des Denkens durch die ›Anstrengung des Begriffes‹ und die sich darauf stützende Logik zu begreifen; auf diese Weise wurde aber die Philosophie notwendigerweise eine negative (im schellingschen Sinne) Selbstbetrachtung des Denkens selbst. Schelling kritisierte seinerseits diese Methode, da er eine Philosophie, deren Objekt das Denken selbst war, immer zurückgewiesen hat. Er selbst hatte deren Erfolglosigkeit erfahren und von dieser Erfahrung hängt auch seine quasi eingeborene Konzeption des Absoluten ab: Das Absolute stellt sich als eine wirkliche, von sich selbst zeigende Tatsache dar, d. h., es muss wegen seiner Natur positiv gedacht werden. Diese Haltung Schellings stellt der Philosophie zwei entgegensetzte Möglichkeiten gegenüber, die eine radikale Entscheidung erfordern: Entweder auf das Absolute zu verzichten, weil es unmöglich und unlogisch ist, es positiv zu bestimmen, oder das Absolute auf andere Weise zu suchen; Philosophien zu wagen, die einen Grund entbehren können, oder diesen Grund zum einzigen Objekt des Denkens selbst zu machen. Schelling entschied sich für den zweiten Weg. Im Gegensatz zu Heidegger hat aber Schelling sich weder als ›Vollender‹ noch als ›Zukünftiger‹ der Metaphysik betrachtet, sondern vielmehr eine Philosophie entwickelt, die den ›Text‹ der metaphysischen Tradition und eine andere, weniger ›orthodoxe‹ Denkmethode zusammenhalten kann, um über die Komplexität des Realen Zeugnis abzulegen. Die Aufteilung der Philosophie in eine negative und in eine positive Philosophie dient eben dazu; Schelling hat keinesfalls je behauptet, dass die negative Philosophie zugunsten der positiven Philosophie negiert oder aufgehoben werden sollte: 3 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Einleitung

Hingegen können nur die zwei Philosophien die wirkliche und lebendige Einheit der einzigen Philosophie bilden. 5 Luigi Pareyson war derjenige, der Schelling eben als ›post-heideggerianischen‹ Denker definierte: Pareyson hat sich mit dem Denken des deutschen Philosophen intensiv und lebenslänglich beschäftigt, ebenso wie mit dem Existenzialismus und Heidegger. Sein angeborener Sinn für das Thema der Freiheit versetzte ihn in die Lage, Schelling sehr nah zu kommen: Das Thema der ontologisch erfassten Freiheit wurde für ihn das philosophische Thema schlechthin, d. h. jenes Thema, dank dessen die Philosophie sich noch befähigen könnte, zu ihren wesentlichen Fragen zurückzukommen. Pareyson nahm sehr ernsthaft auch die ›neue‹ Philosophie Heideggers und besonders dessen ontotheologische Kritik an der abendländischen Metaphysik wahr: Aus diesem Grund schien ihm der positive Anspruch Schellings auf das Absolute und dessen darauf folgende Bestimmung dieses Absoluten als ontologische Freiheit der einzig gangbare Weg, damit die Philosophie nach Heidegger die wesentliche Frage nach dem Anfang und dem Fundament noch in Angriff nehmen konnte. Schelling hatte Pareyson zufolge eine Konzeption des Absoluten entwickelt, die diesen Schritt nach Heidegger ermöglichen konnte, eben weil das schellingsche Absolute trotz seiner idealistischen Wurzeln nur auf den Namen ›Freiheit‹ hört. Aus diesem Grund erachtet Pareyson Schelling als den Autor, der ein anderes Modell für die Ontologie des Fundaments erbringen konnte. Die schellingsche Auffassung der Freiheit bietet nach Pareyson ein Modell des Grundes und des Anfangs, das sich nicht als Gegen-modell, sondern vielmehr als eigentliche Alternative im Sinne Heideggers präsentiert. Die Freiheit als Gestalt des Grundes entzieht sich nicht nur der Ontotheologie, sondern auch der Ontologie selbst, weswegen sie auf irreversible Weise sowohl die Fundamentalontologie als auch den Begriff Gottes selbst modifiziert. Pareyson selbst versuchte eine ›Ontologie der Freiheit‹ zu entwickeln, die er als unvollendetes Werk hinterlassen hat; trotz seines unvollständigen Charakters enthält aber das Buch wichtige Hinweise, um Schelling als post-heideggerianischem Denker zu betrachten. Das Undenkbare auf der einen Seite und das Denken auf der anderen Seite: Die schellingsche Philosophie ereignet sich in diesem Kampf, besteht aus diesem Kampf, und erfährt während dieses Kamp5

Vgl. Strummiello 2004, 3 f.

4 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Einleitung

fes den Übergang zum anderen Anfang. Die Einfachheit der ›Entdeckung‹ Schellings ist Beweis für ihre grundlegende Wichtigkeit: Das Absolute kann nur als solches gedacht werden, d. h. es muss als Absolutes gelassen werden. Das Absolute zu lassen bedeutet, es als solches im Denken stehen zu lassen, selbst wenn es im Schweigen enden würde. Alle Mühe Schellings ist darauf gerichtet, das Denken diesem unverzichtbaren Objekt anzupassen, denn nur dort findet das Denken einen Grund, der sich der herrschenden Subjektivität der Moderne entzieht und den tätigen, anderen Anfang des Denkens ans Licht bringt. Die Untersuchung der geeigneten Gestalt des Absoluten ›als solches‹ wird Schelling zu einem bestimmten ›Begriff‹ führen, der sich von allen anderen Begriffen unterscheidet, eben weil er kaum denkbar und vorstellbar ist: Die Freiheit. Der Weg, der Schelling zum Denken der Freiheit führt, ist alles andere als linear, sein Verlauf ist im Gegenteil gewunden und verworren: Die Freiheit erscheint Schelling als die einzig denkbare Form des unvorstellbaren Ursprungs der Dinge, insbesondere der unleugbaren Zweideutigkeit des wirklichen, positiven Seins. Die anfängliche Frage Schellings bezieht sich in der Tat nicht unmittelbar auf die Freiheit und ihre Natur, auf ihr ›Wassein‹, sondern auf ein noch idealistisches Problem, d. h. die Erklärung des Verhältnisses zwischen dem Absoluten und der endlichen Wirklichkeit. Die unleugbare und unauslöschliche Kluft zwischen der Vollkommenheit des Begriffes und einer von der Endlichkeit und ihren schlimmsten Hervorbringungen (das Böse, die Krankheit) charakterisierten Welt stellt sich als das Problem jedes idealistischen Systems schlechthin. Die Negativität des Realen kann nach Schelling nicht aufgehoben werden, sondern bleibt als Zeichen jenes Bruchs, dank dessen seine Philosophie eine andere Richtung im Vergleich zu den anderen Idealisten nehmen wird. Um diese Themen mit Schelling in Angriff zu nehmen, teilt sich die Arbeit in drei Kapitel: Die ersten zwei Kapitel untersuchen die Entwicklung des Begriffs des Grundes (der anfänglich oft mit dem idealistischen Begriff des Absoluten gleich gesetzt ist) bei Schelling ab dem Jahr 1804, d. h. ab der Schrift Philosophie und Religion: In dieser Schrift versucht Schelling eine erste Erklärung des Bruchs zwischen Absolutem und Endlichkeit zu geben, oder zumindest eine Charakterisierung, indem er ihn als ›Abfall‹ kennzeichnet. Die endliche Welt ist durch einen nicht begründeten Abfall aus dem Absoluten entstanden, der seinerseits von einer Selbstobjektivierung des 5 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Einleitung

Absoluten verursacht wird. Dank dieses Abfalls und in diesem Abfall entsteht die Freiheit, die sich sofort als positive und unbegründbare Macht zeigt, die fähig ist, sich der Natur des Systems zu entziehen. Das Problem des Antagonismus von Freiheit und Notwendigkeit ist in den berühmten Philosophische Untersuchungen und auch in dem quälerischen Schaffen, das die Weltalter kennzeichnet, noch dominierend. Figuren wie der Ungrund, die Lauterkeit und das Urwesen gestalten eine Theodramatik oder besser eine Theogonie, d. h. eine echte philosophia prima, die das Absolute positiv erfassen möchte, jenseits der Schemen der Subjektivität. Schelling bezieht sich auf eine primäre, unabhängige, metaphysische Sphäre, in der das Absolute sich vor jener Form der Subjektivität zeigt. Das Bestreben seines Denkens besteht eben darin, in dieser Dimension zu bleiben, ohne das Wort zu verlieren: Zwangsläufig muss das Denken eine ›methodologische‹ Umwandlung durchlaufen, die Schelling als ›intellektuelle Anschauung‹ und später als ›Ekstase‹ bezeichnet, um sich an das Absolute ›an sich‹ anzupassen. Alle subjektivistischen Voraussetzungen des Absoluten müssen aufgegeben werden (›sogar Gott‹, wie er in den Erlanger Vorlesungen vorzüglich formuliert), das Denken muss sich in einen gleichsam anfänglichen Status zurücksetzen, um wieder und anders anzufangen. Das Absolute an sich heißt für Schelling Freiheit, ab-solutus: Die Freiheit ist jene Gestalt, die keine Gestalt hat, die sich nur in ihrer ›Lauterkeit‹ zeigt und gedacht werden muss. Das Undenkbare, oder auch das ›Unvordenkliche‹, muss für Schelling dennoch positiv erfasst werden: Die Bestimmung der Freiheit ›an sich‹, d. h. ihrer Ontologie, wird auf diese Weise die Aufgabe des Denkens Schellings und beginnt sich bereits in dem theogonischen Prozess abzuzeichnen, der vom geschichtlichen Narrativ der Weltalter erzählt wird. Die unvordenkliche ›Lauterkeit‹ der Freiheit findet den ihr angemessenen Begriff einige Jahre später in den Erlanger Vorlesungen: Die Freiheit wird dort als Potenz bestimmt, weil genau die Potenz den Mangel und zugleich die Fülle eines anfänglichen Könnens ausdrücken kann. Die Ontologie der Freiheit stützt sich durch einen kategorialen Ersatz von fundamentaler Bedeutung nicht auf die Grammatik des Seins, sondern des Könnens: Die Freiheit gehört dem Sein nicht, sie ›ist‹ vor dem Sein, so dass sie tatsächlich nicht ist, stattdessen kann. Die sich auf die Freiheit beziehende Negativität des ›Nicht-sein‹ wird von Schelling in den positiven Ausdruck des Könnens verwandelt: Das Verb der Freiheit ist folglich können, nicht sein, weil sie vor dem Sein ›ist‹. Deswegen 6 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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ist sie die einzige, mögliche Gestalt des Anfangs, aus dem auch das Sein entstehen kann. In der Grammatik der Freiheit liegen Sein und Nichts auf derselben Ebene, weil die Freiheit alle Möglichkeiten in sich enthält, sie drückt die reine Kategorie des Möglichen aus: Der Grund verwandelt sich auf diese Weise in einen Un-grund. Der Grund kann nicht die anfängliche Figur sein, weil der Grund schon als Grund für etwas bestimmt ist, schon für etwas entschieden ist: Der Anfang an sich bietet hingegen keinen Grund an, sondern nur die unvordenkliche Potenz der absoluten Freiheit, die als solche und per definitionem keinen Grund, kein Kriterium haben kann. Der weitere Schritt Schellings besteht in dem Setzen einer derartigen Freiheit in Gott selbst, d. h. als die Gestalt seiner schöpferischen Macht, seiner innersten Natur. Der Gott Schellings kann deswegen keine ontotheologische Figur sein, weil sein Wesen nicht mit dem Sein sondern mit der absoluten, dem Sein vorangehenden Freiheit gleich ist. Er trägt in sich ihre unauslöschliche Zweideutigkeit, aus der sowohl das Sein als auch das Nichts entstehen können: Eine dunkle Spur wird infolgedessen in Gott gesetzt, die ihn dem biblischen Gott annähert und von dem metaphysischen Gott entfernt. Die absolute Freiheit wird die schöpferische Macht der Erzeugung Gottes selbst, so dass seine Existenz (die nicht mit ihrem Grund gleich ist) schließlich über einem Abgrund schwebt, weil die Freiheit nicht unmittelbar mit dem Sein verbunden ist. Ein solcher Gedanke ist schwer erträglich sowohl für Philosophen als auch für Theologen: Luigi Pareyson ging das Risiko ein und versuchte, in die Fußstapfen Schellings zu treten, besonders in Bezug auf die Figur eines aus Freiheit bestimmten Gottes, der sich von dem ›Gott der Philosophen‹ deutlich entfernt und sich den unergründlichen, biblischen Gott zum Vorbild nimmt. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dem Denken des italienischen Philosophen, dem deutschen Publikum wegen mangelnder Übersetzungen leider weitgehend unbekannt: Wie schon erwähnt, war Pareyson einer der wichtigsten Interpreten des Denkens Schellings, der der Bezugsautor seiner eigenen Philosophie wurde. 6 Pareyson war der Initiator und die Bezugsfigur der sogenannten ›Turiner Schule‹, aus der einige der wichtigsten Protagonisten der italienischen Philosophie und Kultur Über die Stellung Pareysons in der italienischen Philosophie des 20. Jahrhundert vgl. Bongiovanni 2008. Zur dank Pareyson entstandenen Turiner Schule vgl. außerdem Gubatz 2009.

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7 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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des XX. Jahrhunderts hervorgegangen sind: Gianni Vattimo und Umberto Eco zählen zu seinen Schülern. Als mustergültiges Beispiel seiner unermüdlichen Arbeit ist die Sammlung Schellingiana rariora ihm zu verdanken: Die Präzision des Interpreten und die Tollkühnheit des Theoretikers ergänzten sich in seiner komplexen Personalität ebenbürtig. 7 Seine Reflexionen begannen in den fünfziger bis siebziger Jahren mit der Ästhetik und der Hermeneutik und endeten mit der in den achtziger Jahren verfassten und posthum veröffentlichten Ontologie der Freiheit (1995), die sich mit den Problemen der Freiheit, des Bösen und des Leidens beschäftigt, und die von vielen Kritikern als ›tragisches Denken‹ gekennzeichnet wurde: Es gibt sicherlich ein Verhältnis zwischen dem Anfang und dem Ende der Philosophie Pareysons, das die Fundamentalhaltung seines Denkens genau beschreibt, und das als die Aufmerksamkeit gegenüber der unerschöpflichen Fülle des Seins bezeichnet werden kann. Letztere hatte für Pareyson nicht nur eine positive Bedeutung, sondern auch eine negative: Zu dem Sein gehört nicht nur die Unerschöpflichkeit seiner Gestalten, sondern auch ein dunkler, ›tätiger‹ Aspekt, der sich als Böses, Krankheit, Leiden zeigt 8 – Tatsachen, die für Pareyson nicht nur existenzialistisch erklärbar sind, weil sie feste Wurzeln in der Ontologie des Seins haben: Es muss deshalb eine Ontologie entwickelt werden, die all diese Aspekte einbeziehen kann, und die nicht nur von der Positivität des Seins, sondern auch von seinem Mangel, seiner tragischen Endlichkeit Zeugnis ablegt. Die Negativität hatte für Pareyson, wie auch für Schelling, eine eigene Form von Positivität, die von dem Denken nicht ignoriert oder dialektisch aufgehoben werden kann. Der geeignete Ursprung für diese Erfassung des Seins konnte nur auf den Namen ›Freiheit‹ hören: Aus diesem Grund widmete sich Pareyson Schelling und insbesondere dessen ›höheren Empirismus‹. Dank der Untersuchungen Schellings verstand Pareyson die Freiheit als die gemeinsame Qualität Gottes, des Menschen und der Schöpfung, des Seins selbst: Die als absolut gedachte Freiheit und ihr Abgrund werden auf diese Weise zum Kern der Wirklichkeit gemacht. Dieser Abgrund ist die Extremfigur seiner Philosophie der Freiheit und findet nur in Gott und in seinem unbegrenzten Wesen einen Vgl. Tilliette 1992a. Die dramatische Wahrnehmung dieses »tätigen« Aspektes hat auch schellingianische Wurzeln: Die entscheidende Rolle des Begriffs der Krankheit in Bezug auf das Böse wurde z. B. von O. Müller deutlich hervorgehoben (vgl. Müller 2012 u. 2014).

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geeigneten Ort: Nur dort, bei Gott, kann die Freiheit zugleich als Anfang und Entscheidung bestimmt werden, oder besser, nur dort zeigt die Freiheit sich als Anfang und Entscheidung. Diese zwei Bestimmungen sind nach Pareyson in Bezug auf die Freiheit untrennbar: Indem sie anfängt, entscheidet sie sich für die Existenz Gottes und infolgedessen der Welt. Sie könnte sich aber auch, wegen ihrer abgründigen Potenz, nicht entscheiden: Diese auf ewig verworfene Möglichkeit bleibt in Gott als seine dunkle Seite, die von der Freiheit des Menschen wiedererweckt werden kann – obwohl sie sich der Schöpfung nie bemächtigen kann. Dieser Begriff stellt den problematischsten Teil der Philosophie Pareysons dar, weil die Möglichkeit des Bösen als auf ewig verworfene in Gott selbst liegt, hingegen bleibt der Mensch imstande – wegen der Qualität seiner Freiheit, die mit der Freiheit Gottes gleich ist –, diese Möglichkeit in eine wirkliche und wirkende Realität zu verwandeln. Die Versuche Schellings und Pareysons sind beide mangelhaft, unsystematisch, oft auch unklar. Beide vertrauen auf eine Form, auf einen denkerischen Stil, der oft kaum ›philosophisch‹ ist, sondern vielmehr literarisch und weniger argumentativ. Obwohl diese Attribute auf der einen Seite zunächst als bloß negativ hervortreten, können sie auf der anderen Seite als Manifestation einer anderen Denkform interpretiert werden, deren Anderssein von dem Objekt des Denkens selbst gefordert wird. Nicht zufällig ist das Objekt der Philosophie Schellings und Pareysons die Freiheit, oder besser die ›Ontologie‹ der Freiheit: Schon der Ausdruck ›Ontologie der Freiheit‹ klingt aber wie ein Oxymoron, weil die Onto-logie per definitionem das Sein betrifft; und doch denken sowohl Schelling als auch Pareyson die Freiheit als das Andere des Seins schlechthin. Für Schelling ist sie die einzige, geeignete Form des Absoluten, für Pareyson der einzige Weg, den Grund jenseits des ontotheologischen Paradigmas zu denken: Die Absicht beider Autoren ist klar und stützt sich auf ein deutliches Bewusstsein der anderen Natur der Freiheit im Vergleich mit dem Sein, besonders wenn sie als die Gestalt des Grundes gedacht wird. Die Freiheit als Grund zu denken, bedeutet, einen Abgrund im Kern des Seins, der Ontologie und auch der Theologie zu setzen: Die Freiheit zeigt sich unmittelbar als Un-grund, der nicht nur dem Sein, sondern auch Gott selbst vorangeht. Ein anderes Modell des Fundaments zeichnet sich ab, das aber kein Gegenmodell ist, weil es ein komplett anderes Objekt, eben die Freiheit, betrifft: Der Versuch dieser Arbeit besteht ausschließlich darin, dieses von Schelling und 9 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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Pareyson gedachte andere Modell des Fundaments als Thema der heutigen Philosophie vorzuschlagen und das Risiko des Anachronismus dieses Versuches einzugehen.

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Erstes Kapitel Die Verwandlung des Grundes: Der unbegründete Grund bei Schelling

Diese Untersuchung fängt mit einer 1804 Schrift Schellings an. Der Grund dafür besteht nicht darin, dass die Frage nach dem Grund plötzlich im Jahr 1804 auftaucht. Sie war im Denken Schellings immer stark präsent, sowohl in der Philosophie der Natur als auch in der Phase der Identitätsphilosophie. Nach dem Absoluten und seiner sich im Denken darstellenden Form zu suchen, heißt in der Tat, nach dem Grund zu fragen. Das Absolute ist das Nichtgesetzte des Denkens, das es bis zu seinen Grenzen treibt. Ab diesem Jahr nimmt aber die Frage nach dem Grund eine andere, dramatischere Form an: Schelling stellt sich nochmals dem Problem des Übergangs von der perfekten Unendlichkeit des Absoluten zur Endlichkeit der realen Welt und denkt diesen Übergang als Abfall. Das Verhältnis zwischen Absolutem und Endlichkeit zeigt sich daher nicht als ein abstrakter, von Notwendigkeit getriebener Prozess, sondern als ein dramatischer und irreversibler Akt, der in einem wirklichen Abfall von dem ursprünglichen Zustand des Absoluten besteht. Einen solchen Abfall tatsächlich zu denken, scheint keine einfache Aufgabe für einen Denker, der aus dem Idealismus stammt: Die Frage führt zu einer noch ursprünglicheren Problematik, nämlich zu dem Gegensatz zwischen Notwendigkeit und Freiheit, Hauptthema der berühmteren Philosophischen Untersuchungen von 1809. Hier stößt Schelling auf den Kern, der erforscht werden muss, um zum Absoluten zu gelangen. Die Verbindung zwischen der Problematik des Grundes und der Opposition Freiheit-Notwendigkeit ist jedenfalls schon erahnbar: Der Grund ist in der metaphysischen Tradition des Abendlandes von der Notwendigkeit bestimmt; die Existenz der wirklichen Freiheit hat die fortwährende Notwendigkeit des Fundaments (implizit oder explizit) immer in Frage gestellt. Deswegen ist diese Opposition das Grundproblem, d. h., das Problem, das das Wesen des Begriffes ›Grund‹ betrifft. Von der Bestimmung des Wesens des Grundes hängt das Geschick der ganzen Philosophie ab. Die 11 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

1 · Die Verwandlung des Grundes: Der unbegründete Grund bei Schelling

Grund- oder Leitfrage seines Denkens bleibt in der Tat immer dieselbe, nämlich wie das Absolute begriffen werden kann: Von der Konzeption des Absoluten hängt das ganze System ab und dieses Absolute hebt sich nur gegen die weltliche Endlichkeit ab. Letztere ist der einzige und notwendige Hintergrund, auf dem irgendeine Form des Absoluten sich gestalten kann: Deswegen ist das Problem des Verhältnisses zwischen Endlichkeit und Absolutem für Schelling von wesentlicher Tragweite und muss als primäre Fragestellung in Angriff genommen werden. 1 Das Absolute ist nur das idealistische Gesicht des eher traditionsgemäßen Grundes: Nicht zufällig erregten die Philosophische Untersuchungen im Laufe des 20. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit eines auf der Problematik des Grundes bestehenden und zugleich der Tradition gegenüber stark kritischen Autors wie Heidegger, dessen Interpretation auf jeden Fall fragwürdig ist. 2 In der Erforschung des Absoluten findet Schelling außerdem einen noch tieferen, höheren Begriff, der die Natur des Absoluten ausmacht: die Freiheit. 3 Wegen ihrer Hauptrolle in dem schellingschen Denken nimmt die Freiheit eine neue, bisher fast unbekannte Bedeutung an, eine metaphysische Bedeutung. Die Freiheit wird von Schelling in ihrer Reinheit betrachtet, d. h. nicht mehr in Bezug auf eine Ethik oder Moral, sondern an sich, als einzige mögliche Form des Fundaments oder des Absoluten. In den Jahren von 1804 bis 1817 vollzieht sich die Eingrenzung des Begriffes in diesem Sinne, d. h. in seiner metaphysischen Signifikanz. Die folgende Analyse setzt sich deshalb mit den vier relevantesten Schriften aus diesen Jahren auseinander, um dem Weg der Bezeichnung der Freiheit als Grund und ihrer Umwandlung in einen Abgrund zu folgen.

1.1. Vorgeschichte: Philosophie und Religion (1804) Um den Kernbegriff des Absoluten, der auch in der Freiheitsschrift verwendet werden wird, besser zu verstehen, scheint der kurze Text Philosophie und Religion besonders geeignet zu sein. 4 Der Text wurVgl. Loer 1974, 145 f. Vgl. Sommer 2015. 3 Iber 1994, 182. 4 Für eine kritische Analyse über das Verhältnis zwischen den zwei Schriften vgl. Brown 1996. 1 2

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Vorgeschichte: Philosophie und Religion (1804)

de als Antwort auf Eschenmayers Die Philosophie im Übergang zur Nichtphilosophie (im vorigen Jahr erschienen) verfasst. Der Zweikampf geschieht noch einmal zwischen Kant (mit Eschenmayer) auf der einen Seite und Spinoza (mit Schelling) auf der anderen Seite. Laut Schelling hat »eine falsche Übereinstimmung der Philosophie mit der Religion« (SW VI, 2), die später von der kantischen Philosophie auf eine Weise legitimiert wurde, die eigensten Objekte der Philosophie in den Bereich des Glaubens verlegt, so dass die Philosophie »bloß auf Erfahrungsgegenstände und endliche Dinge anwendbar sey, dagegen über Dinge der Vernunft und der übersinnlichen Welt das bloße Zusehen habe oder vielmehr völlig blind sey« und darüber hinaus »alles, was in der Philosophie eigentlich philosophisch ist, zuletzt diesem [dem Glauben, S. P.] ganz überantwortet wurde« (SW VI, 3). Schelling kann die kantische These nicht annehmen, laut derer nur die Phänomene dem menschlichen Wissen zukommen dürfen: Auf diese Weise verfehlt die Philosophie ihr höchstes Ziel, d. h. das Absolute. Nicht zufällig verweist Schelling auf die ›Mysterien‹ der antiken Philosophie und besonders auf Plato, der »gern von ihnen ihre göttlichen Lehren leitete ab« (SW VI, 1), da der Inhalt der Mysterien eben darin bestand, das Absolute zu erkennen und ergreifen. Das Ziel Schellings ist klar, die Mittel dazu scheinen jedoch verworren: Zunächst behauptet er, dass das vollkommenste Verhältnis zum Absoluten sich »im Erkennen durch Vernunft« (SW VI, 6) ereignet, aber kurz danach beschreibt er das Treten des Absoluten vor die Seele als eine augenblickliche Offenbarung, unerwartete Harmonie von Subjekt und Objekt, die gegenüber jeder vernünftigen Reflexion verschwindet (hier beruft er sich auf Fichte). In dieser Hinsicht wird eben die Reflexion als das störende Element bezeichnet: »Aber kaum ist jene Harmonie gestiftet, so kann die Reflexion eintreten, und die Erscheinung flieht« (SW VI, 6). Wie kann man denn zum Absoluten gelangen, wenn das eigenste Objekt der Philosophie dem Denken entflieht? Die Konzeption des Absoluten, die Schelling ausarbeiten wird, dreht sich um diese Fragestellung: Er will die Philosophie zu dem höchsten Ziel, das die kantischen Kritiken vorsichtig verboten hatten, 5 zurückführen. Dazu fordert Schelling die geeignetste Erkenntnisform, die er nach der Natur des Objekts selbst Obwohl Kant selbst mehrmals auf dieselbe Problematik Schellings stieß (besonders in Bezug auf die Freiheit), bis zu dem Punkt, dass seine ganze Philosophie von dem Unbegreifbaren eingeschlossen wird. Über die für das kantische Denken kennzeich-

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1 · Die Verwandlung des Grundes: Der unbegründete Grund bei Schelling

(d. h. des Absoluten) und nicht des Subjekts (der Fehler Hegels) entfalten möchte. Eben dies scheint die von Schelling ausgewählte Methode zu sein, die den Weg für den zukünftigen Anspruch der positiven Philosophie bereitet. Wenige Zeilen später kritisiert Schelling das gewöhnliche, philosophische ›Begreifen‹ des Absoluten, das nur negativerweise geschieht, weil »eine bedingte Erkenntnis [aber] von keinem Unbedingten möglich ist« (SW VI, 9). Die Philosophen sind überzeugt, zu einer Beschreibung des Absoluten durch die Aufzählung dessen, was es nicht ist, zu gelangen. Diese Beschreibung verfehlt aber ihr Ziel, weil das Absolute selbst ›in seiner wahren Wesenheit‹ nie erreicht wird. Das Absolute muss dagegen seiner Natur nach irgendwie begriffen werden, d. h. nicht ›von außen‹ durch Kategorien, die nicht zu ihm gehören. Worauf die Philosophie Schellings abzielt, liegt vor jenem Gegensatz von Subjekt und Objekt, von Phänomen und Noumenon, es geht tatsächlich um »etwas ganz anders« (SW VI, 11). 6 Der Ausdruck ›ganz anders‹ muss betrachtet werden: Schelling weist immer wieder auf das völlige Anderssein des Absoluten nicht nur im Vergleich mit den üblichen philosophischen Vorstellungen desselben, sondern auch in einem ontologischem Sinn. Das Absolute – wie Schelling behauptet – ist kein Produkt der menschlichen Reflexion, sondern es erweist sich und manifestiert seine Anwesenheit aus sich selbst. Dem Menschen kommt nur die Anerkennung desselben zu, gerade weil die Philosophie schon immer bei jenem Absoluten ist, »ohne Gefahr, dass es ihr entflieht« (SW VI, 7). Die Worte Hegels am Anfang der Einleitung der noch zu erscheinenden Phänomenologie des Geistes werden nicht zu fern klingen: »Sollte das Absolute durch das Werkzeug uns nur überhaupt näher gebracht werden, ohne etwas an ihm zu verändern, wie etwa durch die Leimruthe der Vogel, so würde es wohl, wenn es nicht an und für sich schon bey uns wäre und seyn wollte, dieser List spotten; denn eine List wäre in diesem Falle das Erkennen« (Phän., GW 9, 53). Das Absolute bildet eine völlig andere Wirklichkeit im Vergleich zur Erscheinungswelt und laut Schelling steht (offensichtlich gegen Kant) der Philosophie nur diese Art von Wirklichkeit zu. Die von Kant dargelegte Gefahr kann jedoch nicht ignoriert werden: Auf welche Weise könnte die Philosophie nende und fundamentale »Grenzbestimmung« vgl. die ausführlichen Analysen G. Lorinis in Lorini 2010. 6 Vgl. Heidegger GA 10, 20.

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Vorgeschichte: Philosophie und Religion (1804)

über eine so andere Wirklichkeit sprechen, ohne bloße Erdichtung 7 zu werden? Wenn man aber die schellingsche Perspektive einnimmt, entfällt diese Frage von selbst: Schelling richtet sich gegen eine Dimension, die über und jenseits jener Art von Dualismus liegt. Das Anderssein des Absoluten hat eben eine qualitative Bedeutung, es besteht in einer unmittelbaren Identität von Realem und Idealem, aber – fügt Schelling entscheidenderweise an – an sich selbst »ohne mit dem Realen integriert zu werden« (SW VI, 14): D. h., dass die so beschriebene Identität gar nichts mit der Erscheinungswelt zu tun hat, sie ist keine Zusammensetzung von Gegensätzen (Subjekt und Objekt, Ideales und Reales), vielmehr hat sie einen ganz anderen ontologischen Zustand, der eine völlig andere Erkenntnisform einfordert. ›Schellings‹ Absolutes ist das Anwesendste für die Seele, zu der es in einem unmittelbaren Verhältnis steht: Auf dieses unmittelbare Verhältnis gründet sich die Möglichkeit der intellektuellen Anschauung, die Schelling als schon im Besitz seiende Fähigkeit des menschlichen Geistes darstellt: »Sie [die intellektuelle Anschauung, S. P.] ist vielmehr eine Erkenntnis, die das An-sich der Seele selbst ausmacht, und die nur darum Anschauung heißt, weil das Wesen der Seele, welches mit dem Absoluten Eins und es selbst ist, zu diesem kein andres, als unmittelbares Verhältnis haben kann« (SW VI, 11). Das Absolute erweist sich durch verschiedene Formen der Reflexion (Schelling statuiert die kategorische, die hypothetische und die disjunktive); Schelling behauptet jedoch, dass sie nur Formen sind: »Das Wesen dessen selbst aber, das als ideal unmittelbar real ist, kann nicht durch Erklärungen, sondern nur durch Anschauung erkannt werden, denn nur das Zusammengesetzte ist durch Beschreibung erkennbar, das Einfache aber will angeschaut sein« (SW VI, 15). Das Absolute wird damit als etwas, das völlig einfach ist, gesehen, d. h. nicht aus verschiedenen Elementen bestehend, sondern als bloßes (sich) Setzen, reine Position, Positivität: Aus diesem Grund wird dieses Absolute auch als der unbedingte Anfang jedes Philosophierens bestimmt. Dank der unvordenklichen Anwesenheit des Absoluten wird das Denken selbst be-fähigt: »[A]lles Philosophieren beginnt und [hat, S. P.] begonnen […], erst mit der lebendig gewordenen Idee des Absoluten« (SW VI, 17). Das Denken wird denkend, nur weil es schon etwas zu-Denkendes gibt: Das Vorausgehen des Absoluten ist in der Tat einer der raren, roten Fäden im Denken Schellings. Das Un7

Vgl. Cacciari 1990, 26 f.

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1 · Die Verwandlung des Grundes: Der unbegründete Grund bei Schelling

bedingte kann seiner Natur zufolge auf keinen Fall von der menschlichen Vernunft (die eine bedingte ist) gesetzt werden: Es ergibt sich aus sich selbst und eben auf Grund seiner unleugbaren Anwesenheit ›bei der Seele‹, die die Vernunft ahnt; die Philosophie muss nur dorthin streben. Dieses besondere Ziel (kantisch) zu verbieten, würde für Schelling bedeuten, den Charakter der Philosophie zu opfern. 8 Die Unbedingtheit des Absoluten bedeutet für Schelling nicht seine Unerreichbarkeit: Die intellektuelle Anschauung gilt als das geeignete Werkzeug dafür. Sie ist die Voraussetzung für den gesamten Diskurs Schellings, »das Eine, ohne welches alles Folgende unbegriffen bleiben muss« (SW VI, 21). Der lange Paragraph über die Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten und ihr Verhältnis zu ihm besteht noch auf der (schwierigen) Erklärung des Andersseins des Absoluten in idealistischer Sprache. Der Kern der Argumentation Schellings liegt in der Behauptung der Identität (in dem Absoluten) von Idealem und Realem, die aber als un-mittelbare verstanden werden muss: Der ›reale Teil‹ des Absoluten hat einen ganz anderen Zustand im Vergleich mit dem Realen der endlichen Dinge. Die einzige, geeignete Form des Absoluten ist die ideale, die ewig ist; aber »Diese Form ist, dass das schlechthin-Ideale, unmittelbar als solches, ohne also aus seiner Identität herauszugehen, auch als ein Reales sey« (SW VI, 22). Die Identität des Absoluten impliziert daher keinen Übergang, keine Kausaloder Grundverbindung oder Vermittlung zwischen den Beiden, Reales und Ideales, sondern nur eine ideale Folge: »Die Grundwahrheit ist dies: dass kein Reales an sich, sondern nur ein durch Ideales bestimmtes Reales, das Ideale also das schlechthin Erste sey« (SW VI, 22). Die entscheidende Differenz zu den Bedingten ist diese: Das Reale des Absoluten ist durch das Ideale bestimmt, daher verlässt es nie seinen idealen (d. h. ewigen, anderen) Zustand. Die Einfachheit des Absoluten äußert sich in einer totalen Nicht-Beteiligung an Kausalverhältnissen; dagegen behauptet Schelling eine »Selbstrepräsentation des Absoluten« als »ewige Umwandlung der reinen Idealität in Realität« (SW VI, 28). Vgl. Challiol-Gillet 1998, S. 1: »L’ambition de ce courant philosophique post-kantien qu’il est convenu de nommer l’idealisme allemand n’est pas mince: il s’agit de reintroduire dans la philosphie l’Absolu sur la connaisance duquel Kant avait jeté l’interdit, de dépasser la philosophie critique sans pour autant l’ignorer«. Über den entscheidenden Einfluss Kants auf die schellingianische (und die idealistische) Anforderungen vgl. auch Lorini 2015, 92 f.

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Vorgeschichte: Philosophie und Religion (1804)

Wenn das Absolute so anders ist als das ›weltliche‹ Sein, welches Verhältnis besteht zwischen den Beiden? Woher kann das bedingte Sein kommen? Hier leitet Schelling eine bedeutsame Theorie ein, die eine entscheidende Rolle in der Freiheitsschrift spielen wird: Mit einem Wort, vom Absoluten zum Wirklichen giebt es keinen stetigen Übergang, der Ursprung der Sinnenwelt ist nur als ein vollkommenes Abbrechen von der Absolutheit, durch einen Sprung denkbar. […] Das Absolute ist das einzige Reale, die endlichen Dinge dagegen sind nicht real; ihr Grund kann daher nicht in einer Mittheilung von Realität an sie oder an ihr Substrat, welche Mittheilung vom Absoluten ausgegangen wäre, er kann nur in einer Entfernung, in einem Abfall von dem Absoluten liegen. (SW VI, 34 f.)

Da kein Übergang vom Unendlichen zum Endlichen erlaubt ist auf Grund des völligen Andersseins des Ersteren, muss Schelling den problematischen Begriff des Abfalls einfügen, um einen Grund für die Existenz der wirklichen Welt zu schaffen. Der Abfall selbst bleibt aber in der Tat unbegründet: Der Hinweis auf die wahrhaft platonische Lehre der abgesunkenen Seele hilft wenig. Man kann trotzdem annehmen, dass auf Grund des Abfalls eine Kopie des Absoluten produziert wird, die der phänomenischen Welt ein fundamentales und qualitatives Element verleiht: genau die Freiheit, »die letzte Spur und gleichsam das Siegel der in die abgefallene Welt hineingeschauten Göttlichkeit« (SW VI, 37). Die Freiheit scheint die einzig mögliche und gleichzeitig notwendige Verbindung zwischen dem Absoluten und der abgesunkenen Welt zu sein. Die Freiheit wird der Kopie, laut Schelling, zusammen mit der Selbstständigkeit des Absoluten selbst ›verliehen‹. Dadurch entsteht eine ›Selbst-Objektivierung‹ des Absoluten ›in der Form‹, in der die wahrhafte Freiheit existieren kann. Die Selbstobjektivierung ist aber notwendig, da in dem Absoluten Freiheit und Notwendigkeit gleich sind. Aus diesem Grund ist das Verhältnis der Freiheit zu dem Absoluten ein notwendiges. In der Selbstobjektivierung des Absoluten in Form der Absolutheit ›belebt sich‹ die Freiheit, die Kopie des anderen Absoluten, die sich (dank ihres Frei-seins) von dem Absoluten selbst und seiner Notwendigkeit löst: Gerade in diesem Moment (das aber ›außer aller Zeit‹ ist) des Sich-Lösens der Freiheit vom Absoluten ereignet sich der Abfall und das Nichts der endlichen Dinge wird erzeugt. Jetzt kann vielleicht besser verstanden werden, warum der Abfall nicht erklärbar ist: Wie Schelling selbst schreibt, »er ist absolut und kommt aus der Absolut-

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1 · Die Verwandlung des Grundes: Der unbegründete Grund bei Schelling

heit« (SW VI, 40), d. h. er ist frei, kommt aus Freiheit (Kopie des Absoluten!) und daher ist er un-begründbar (die Freiheit gründet sich nur aus sich selbst). In dem Für-sich-sein der Freiheit besteht das Nichts (›in Ansehung des Absoluten‹) des endlichen Seins: »Klarer hat wohl auf dieses Verhältnis von allen neueren Philosophen keiner gedeutet als Fichte, wenn er das Princip des endlichen Bewusstseyn nicht in einer That-Sache sondern in einer That-Handlung gesetzt will« (SW VI, 41). Das gefallene Für-sich-Sein »drückt sich…in seiner höchsten Potenz als Ichheit aus«, »so ist sie zugleich der Punct, wo in der gefallenen Welt selbst wieder die urbildliche sich erstellt« (SW VI, 42). Der so beschriebene Abfall wird mit dem Sündenfall verbunden, aber hier muss seine theoretische Bedeutung hervorgehoben werden: Das Entstehen der Freiheit als Kopie des ursprünglichen Absoluten gilt als der einzige Übergangspunkt zwischen Unendlichem und Endlichem, zwischen denen jedoch kein Übergang möglich ist. Die Kopie des Absoluten unterscheidet »durch eine scheidende Gränze« (SW VI, 42) zwischen dem Negativen, dem Reich des Nichts, und dem ›Reiche der Realität‹ und nur durch diese Scheidung kann das Absolute wieder ›hervorstrahlen‹, »denn, wie im Gedicht des Dante, geht auch in der Philosophie nur durch den Abgrund der Weg zum Himmel« (SW VI, 43); Dieser letzte Hinweis Schellings ist entscheidend: Der von der Freiheit verursachte Abfall ist zwar ein ewiger Verlust des Absoluten, aber zugleich der einzige Weg, wodurch das Absolute wieder erkennbar werden könnte. Das Paradox der Freiheit besteht in ihrer ontologischen Ambivalenz: Quelle des Verderbens und zugleich der Erlösung. Durch ihre Macht wird die endliche Welt (die Schelling hier als das Nichts bezeichnet) erzeugt. Die ›Vorgeschichte‹ von Philosophie und Religion kann also in vier Punkten zusammengefasst werden: 1. Der Text stellt das totale Anders-Sein des Absoluten klar dar: Dieses kann mit den üblichen philosophischen Kategorien nicht erfasst werden, es bleibt außerhalb; 2. Der Status des Absoluten hängt von der Identität des Realen und des Idealen ab. Die Art dieser Identität ist aber auch eine andere im Vergleich mit dem üblichen idealistischen Gebrauch dieser Begriffe. Der reale Teil hat mit der endlichen Welt nichts zu tun, hingegen handelt es sich um ein immer schon durch das Ideale vermitteltes Reales und eben daraus stammt die besondere Qualität des von der schellingschen Reflexion geforderten Absoluten. 18 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit

3. Die Unerfassbarkeit des Absoluten impliziert nicht das Schweigen der Vernunft: Es gibt ein Mittel, eine menschliche Fähigkeit, die vom Absoluten selbst beansprucht wird und die es erreichen kann: die intellektuelle Anschauung. Ihre Natur ist problematisch: Es scheint, dass die intellektuelle Anschauung von der Anwesenheit des Absoluten ›bei der Seele‹ auf eine Weise legitimiert wird als einziges, geeignetes Werkzeug, um diese Anwesenheit zu fassen. Auf jeden Fall bleibt sie eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Diskurs Schellings. 4. Die Lehre vom Abfall spielt hier vielleicht die wichtigste Rolle: Damit die Existenz der endlichen Welt erklärt werden kann, muss Schelling eine nicht-begründete Trennung in die Einfachheit des Absoluten einführen. Mit dieser Scheidung wird jedoch die Freiheit (einziger unbegründeter Grund) erzeugt: Sie gilt als die Selbstobjektivierung des ursprünglichen Absoluten, das auf diese Weise eine Kopie von sich selbst (eben die Freiheit) produziert, die sich von ihrem Ursprung löst und somit den Abfall verursacht. Alle diese vier Elemente werden als wichtige Voraussetzungen (oder Vorgeschichten) in der Freiheitsschrift zu finden sein.

1.2. Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809) Über die berühmteste Schrift Schellings wurde viel geschrieben und diskutiert. 9 Eine endgültige Interpretation derselben ist wahrscheinlich nicht möglich, wie im Fall von allen großen Werken der Philosophie. Die Absicht der vorliegenden Analyse besteht in der Tat in keiner Ausdeutung des Textes, sondern in dem Versuch, mit dem Text Schellings zu denken. Die hier entwickelten Begriffe sind von großer Tragweite im Hinblick auf die Geschichte der Metaphysik: Es geht um das Denken vom Grund, dessen unberührbarer Status von der Tatsache der menschlichen Freiheit und des Bösen radikal in Frage gestellt wird. Schelling wagt es, den Begriff des Grundes selbst zu modifizieren, um die (menschliche) Freiheit nicht zu opfern. Nur einige Beispiele: Ferrer u. Pedro 2011; Roux 2010; Simon 2014, 135–185; Jürgensen 1997, 40–152. Hennigfeld 2001; Sommer 2015, 85–177; Brouwer 2011; Wenz 2010; Baumgartner-Jacobs 1996; Augusto 2010.

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1 · Die Verwandlung des Grundes: Der unbegründete Grund bei Schelling

Diese Schrift Schellings wurde mehrmals als ein ›Wendepunkt‹ in seinem Denken bezeichnet und mit Recht: Es muss aber auch daran erinnert werden, dass trotz der unleugbaren Wende, die die Untersuchungen repräsentieren, sich die Freiheitsschrift in das ›devenir‹ des schellingschen Denkens einfügt; diese Untersuchungen erschienen nicht wie ein Blitz, sondern haben ihre Wurzeln schon in der ersten Phase der Philosophie Schellings, wie Thomas Buchheim 2001 in der Einleitung zur Edition der Freiheitsschrift ausführlich hervorgehoben hat 10. Die Idee eines ›lebendigen‹ Absoluten war immer präsent im Denken Schellings: Die Lebendigkeit der Natur wurde als Zeichnen einer höheren Lebendigkeit interpretiert, die sich in der Philosophie der Identität als ein interner Dualismus des Absoluten erweist; zu dieser inneren Spaltung des Absoluten gehört das Bedürfnis, die Freiheit ›an sich‹ zu denken als die eigentliche Natur Gottes. Mit dieser Schrift bereitet Schelling diesem Versuch den Weg: Die Freiheit als höchste Qualität des Absoluten zu denken bedeutet, das Absolute selbst umzudenken. Deswegen behauptet Schelling im Vorbericht seines Werkes, dass »der höhere, oder vielmehr der eigentliche Gegensatz« der »von Freyheit und Nothwendigkeit, mit welchem erst der innerste Mittelpunkt der Philosophie zur Betrachtung kommt« (AA I,17, 26) ist. Es geht hier um die Zentralfrage der ganzen Philosophie: Indem man die menschliche Freiheit betrachtet, gelangt man zum ›Mittelpunkt‹ der Philosophie, d. h. zum Denken des Absoluten (mit anderen Worten: des Anfangs) und seiner Natur. Wie Schelling selbst mehrmals erklärte, besteht »der höchste Punkt der ganzen Untersuchung« (AA I,17, 170) in der Tat nicht in einer vollendeten Freiheitstheorie, wie man erwarten könnte, sondern in jener Unterscheidung zwischen Grund und Existenz, die das Denken des Anfangs (hier als Ungrund bestimmt) betrifft. Eben dank dieser Unterscheidung kann Schelling die Freiheitsfrage ontologisch und nicht moralisch oder ethisch erfassen. Die Ontologisierung des Freiheitsbegriffes ist nämlich stark verbunden mit, besser noch abhängig von einer tieferen Problematik, bzw. einer der Fundamentalfragen der Philosophie: Das Denken des Anfangs und seines geVgl. AA I,17, IX–XXV. S. auch die von L. Hühn unternommene Analyse der Frühschriften Schellings in Hühn 1994, 143–182: Es ist deutlich, dass die Freiheitsschrift kein Blitz in der schellingianischen Produktion war, sondern auf Fragen antwortet, die seit den Frühzeiten Schellings präsent waren, z. B.: das Absolute als einziger möglicher Anfangspunkt der Philosophie, die Koexistenz des Absoluten selbst mit der endlichen Freiheit, die begriffliche Form der Letzteren.

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Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit

eigneten Begriffes (wenn es überhaupt möglich ist, über einen ›Begriff‹ des Anfangs zu reden). Der Anfang (jedenfalls wie der Begriff hier verstanden werden muss) ist in dieser Schrift gleich mit dem Absoluten ›schlechthin betrachtet‹ : Deshalb wird hier auch eine Veränderung des für den Idealismus zentralen Begriffes des Absoluten vollzogen, eine Verwandlung von der leblosen Idee zur lebens- und anfangsfähigen Macht, aus der die ›anfängliche Dualität‹ unmittelbar hervorquillt. Die Freiheitstheorie Schellings ist in dieser Hinsicht eine Folge dieses fundamentalen und ursprünglicheren Denkens, dessen Weg von Philosophie und Religion vorbereitet wurde. Wir möchten daher darstellen, wie Schelling zum Denken des ›lebendigen Absoluten‹, das unseres Erachtens der echte Mittelpunkt und das Ziel der gesamten positiven Philosophie ist, erstmals durch die Freiheitsschrift gekommen ist. Das Zentralthema der folgenden Erörterungen wird also die schellingsche Bestimmung des Ungrundes und der Unterscheidung zwischen Grund und Existenz sein; davon hängt eine Theorie des Bösen und der Freiheit ab, die wir aus fundamentaler Sicht betrachten wollen (aus diesem Grund wird hier die naturphilosophische Deduktion der menschlichen Freiheitshandlung nicht erstrangig diskutiert).

1.2.1. Die derivierte Absolutheit Der Begriff der Freiheit (›wenn er Realität hat‹) gilt für Schelling als ›einer der herrschenden Mittelpunkte des Systems‹ : Die Anforderung, die die Untersuchungen antreibt, gehört noch zum System und macht deutlich, dass, wenn die Freiheit vom System auf irgendeine Weise ausgeschlossen wird oder als untergeordnetes Element gilt, überhaupt kein System möglich ist. Das System, um ein solches zu sein, muss alles enthalten – die Freiheit inbegriffen. Die Opposition zwischen Freiheit und System (d. h.: Notwendigkeit) entscheidet das Schicksal der ganzen Philosophie: »der Zusammenhang des Begriffs der Freiheit mit dem Ganzen der Weltansicht wohl immer Gegenstand einer nothwendigen Aufgabe bleiben werde, ohne deren Auflösung der Begriff der Freiheit selber wankend, die Philosophie aber völlig ohne Werth seyn würde« (AA I,17, 112). Aus diesen Gründen fängt die Abhandlung nicht direkt mit der Thematisierung der menschlichen Freiheit an, sondern mit einer Einleitung, in der Schelling eine auffallende Interpretation des Wesens 21 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

1 · Die Verwandlung des Grundes: Der unbegründete Grund bei Schelling

der Kopula und damit des Gesetzes der Identität liefert. Diese Interpretation spielt eine wichtige, theoretische Rolle in Hinblick auf den Fortgang der ganzen Schrift: Darin übt Schelling harte Kritik am Pantheismus, der für »das einzig mögliche System der Vernunft« (AA I,17, 113) gehalten wurde. Der Pantheismus lässt keinen Raum für menschliche Freiheit, da der darin verwandte Begriff des Absoluten verhindert, eine reale Freiheit (d. h. eine eigentliche frei handelnde Freiheit) außerhalb seiner zu denken: »Wie die Sonne am Firmament alle Himmelslichter auslöscht, so und noch viel mehr die unendliche Macht jede endliche. Absolute Kausalität in Einem Wesen lässt alle andere nur unbedingte Passivität übrig« (AA I,17, 113). Der Kern jener pantheistischen Theorie kann in dem Satz: ›Gott ist alles‹ zusammengefasst werden und eben aus diesem Grund leitet Schelling seine Abhandlung mit der Erklärung des Sinnes dieses ›ist‹ (der Kopula) zwischen ›Gott‹ und der Welt (Chiffre jener pantheistischen Theorie) ein. Schelling konstatiert, dass der eigentliche Sinn der vermuteten Identität in keiner Einerleiheit des Subjekts und des Prädikats besteht: Das Verhältnis, das durch das Gesetz ausgedrückt wird, ist dagegen »das des Grundes zur Folge« (AA I,17, 119), d. h., dass ein antecedens und ein consequens durch die Kopula verbunden werden, wie ›die alte tiefsinnige Logik‹ schon feststellte. Es geht also um einen Grund, der etwas als Folge mit sich führt, etwas, das aus ihm kommt und somit abhängig von ihm ist. Die so gewonnene Einheit wird von Schelling ›eine unmittelbar schöpferische‹ genannt. 11 Hierzu macht Schelling eine wesentliche Bemerkung: Die Tatsache, dass etwas ›Folge‹ von einem Grund ist, sagt nichts darüber ›was‹ diese Folge eigentlich ist. Die Abhängigkeit bestimmt für Schelling nicht das Wesen, das Wassein eines Dinges, sondern erklärt nur den Modus, die Modalität eines Verhältnisses. Gott ist nicht die Welt, sondern die Welt ist eine Folge Gottes: »Jedes organische Individuum ist als ein Gewordenes nur durch ein anderes, und insofern abhängig dem Werden, aber keineswegs dem Sein nach« (AA I,17, 119). Wenn dieses erste Ergebnis in Hinblick auf das Verhältnis zwischen einem Gott und den Geschöpfen (besonders dem Menschen) betrachtet wird, scheint dies keineswegs von nebensächlicher Bedeutung. Auf den Seiten davor wurde nämlich schon von Schelling ausgeführt, dass der bis dahin angenommene gegenseitige Ausschluss von Freiheit und Not11

Vgl. GA 11, 34 f.

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wendigkeit (d. h. auch von Freiheit und System) die Philosophie gehindert hat, zu ihrem höchsten Ziel zu gelangen. Durch diese Erläuterung des Sinnes der Kopula wird dagegen gesagt, dass Abhängigkeit und Freiheit koexistieren können. 12 Die Geschöpfe, vor allem der Mensch, indem sie geschöpft, ›gesetzt‹ sind, sind ohne Zweifel abhängig von Gott, aber ihr Wesen wird von dieser Abhängigkeit nicht bestimmt, sie verweist nur auf das Verhältnis zwischen ihnen und Gott: »Abhängigkeit hebt Selbstständigkeit, hebt sogar Freiheit nicht auf« (AA I,17, 119). Schelling unterstreicht hier, dass das Sein eines Wesens von Gott selbst als selbstständig erschaffen wird: So wird der »Mittelbegriff der ganzen Philosophie« dargestellt eben als der einer »derivierten Absolutheit oder Göttlichkeit« (AA I,17, 120), d. h. als der einer Freiheit, die einer anderen Freiheit gegenüberstehen kann. Mit dieser Erklärung des Wesens der Kopula hat Schelling einen ersten, wichtigen Schritt gemacht: Die Ausdeutung, oder der Ersatz, des Gesetzes der Identität mit dem ›schöpferischen‹ Gesetz des Grundes ist von eminenter Bedeutung in Hinblick auf den Begriff eines Absoluten oder Gottes und ebenso auf sein Verhältnis zur (menschlichen) Freiheit, deren Selbstständigkeit von der allumfassenden Absolutheit Gottes nicht mehr verschlungen wird. Die Abhängigkeit eines (von Gott erschaffenen) Seienden von Gott impliziert auf keinen Fall die Aufhebung oder die Vernichtung seiner Freiheit, weil das Wesen der Geschöpfe nicht in ihrer Abhängigkeit besteht, sondern in jener Selbstständigkeit, die aus dem (Grund-)Verhältnis zu Gott stammt und die von der Qualität der Freiheit bestimmt wird. Gott wird auf diese Weise Grund jedes erschaffenen Wesens, eine Bestimmung, die eine entscheidende Rolle in der Schrift spielen wird. Ein solches Ergebnis beeinflusst zugleich die Konzeption selbst des Absoluten, die überdacht und schließlich verändert werden muss: Ein Absolutes, mit dem die Freiheit koexistieren kann, ist an dieser Stelle vonnöten. 13 Schelling hatte schon in seiner Naturphilosophie diese ›derivierte Absolutheit‹ entdeckt, eben als Kern der Natur, deren

Vgl. Vetö 1977, 33: ›Le sens de la proposition: Dieu est les choses n’est pas l’identification de Dieu avec les choses mais simplement l’affirmation que ce qui est positif en elles est Dieu‹. 13 Die Ergebnisse von Philosophie und Religion stehen natürlich im Hintergrund: die Geburt der Freiheit wurde hier als die Selbstobjektivierung des Absoluten beschrieben, in der eine Kopie (d. h. ein zweites Absolutes) erzeugt wurde. 12

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1 · Die Verwandlung des Grundes: Der unbegründete Grund bei Schelling

›letzte potenzierende Akt‹ die Freiheit ist. 14 Von da an war für Schelling offenbar, dass eine reale (d. h. unabhängige) Freiheit sich in der dynamischen Wirklichkeit der Natur manifestiert, eine Freiheit, die er für eine vollkommene hält, die auf keinen Fall von irgendwelchem Absoluten ausgeschlossen werden kann, weil sie selbst eine Art von Absolutheit ausdrückt. Aus diesem Grund muss Schelling zeigen, dass die Abhängigkeit nicht das Wassein eines Dinges bestimmt, sondern nur die Modalität eines Verhältnisses erklärt, besonders das Verhältnis Gott-Welt. Schelling möchte einen Begriff der Absolutheit fassen, der der Fülle der Wirklichkeit entsprechen und sie nicht töten sollte. Kurz darauf drückt Schelling seine Absicht durch folgende Worte aus: »zu zeigen, dass alles Wirkliche (die Natur, die Welt der Dinge) Tätigkeit, Leben und Freiheit zum Grund habe, oder im fichteschen Ausdruck, dass nicht allein die Ichheit alles, sondern auch umgekehrt alles Ichheit sei« (AA I,17, 124). Es geht hier um eine fundamentale gnoseologische und ontologische Umkehrung: Das Wirkliche selbst gibt den Zugang zu seinem Grund, d. h. der Grund der Wirklichkeit (des Seins) soll nicht ›von außen‹ (vom Denken) bestimmt werden, sondern umgekehrt sollte das Denken die schon in der Wirklichkeit enthaltenen Bestimmungen des Grundes erkennen. Die Methode der philosophischen Untersuchungen ist infolgedessen nicht sekundär, sondern bestimmt den Inhalt selbst der Philosophie. Auf diese Weise wird sich das Wesen des Grundes völlig anders zeigen, als es gedacht wurde: Nicht von Notwendigkeit sondern von absoluter Freiheit bestimmt. Die Erklärung des Sinnes der Kopula war also durchaus nicht belanglos: Durch sie wurde eine erste Veränderung des Begriffes des Absoluten vorgenommen, die unentbehrlich für den folgenden Diskurs Schellings wird. Damit er die menschliche Freiheit in der Gerechtigkeit ihres Soseins behandeln kann, muss er zuerst den für sie angemessenen Begriff des Absoluten gestalten eben durch die Befreiung desselben von dem pantheistischen Gottesbegriff: »Durch die Freiheit wird eine dem Princip nach unbedingte Macht außer und neben der göttlichen behauptet, welche jenen Begriffen [die zum Pantheismus führen, S. P.] zufolge undenkbar ist« (AA I,17, 113). Auch die wenigen aber bedeutenden Zeilen über Spinoza gehen eben in diese Richtung: Schelling möchte hervorheben, dass auch das Der Begriff des Grundes wurde von der Naturphilosophie vorbereitet: vgl. Vetö 1977, 147 f.

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Verhältnis zwischen der absoluten Substanz Spinozas und ihren Modifikationen gar nichts erklärt, »was sie [die Modifikationen, d. h. die Seienden, S. P.] für sich betrachtet seyn mögen« (AA I,17, 118; Herv. v. Verf.). Natürlich sind die Modifikationen Folgen der absoluten Substanz, aber trotzdem sind sie ›eigne besondere‹ Substanzen, d. h., wie bereits anders formuliert, dass sie eine Art von Unabhängigkeit (Freiheit) in und vielleicht durch ihre Abhängigkeit von dem Absoluten besitzen: Wie schon gezeigt war der Text Philosophie und Religion in diesem Zusammenhang viel klarer. Die Absicht dieser Einleitung Schellings könnte so formuliert werden: Zu zeigen, dass das eigentliche Absolute, das seinem ab-soluten Wesen wirklich entspricht, eine derivierte Absolutheit neben sich wirken lässt, besonders wenn dieses Absolute ›Gott‹ bedeutet, und sogar »nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen« (AA I,17, 120). 15 Somit wird der Raum für den lebendigen Begriff der Freiheit vorbereitet, ohne das Absolute zu zerstören oder zu verlieren. Ferner ist es wichtig, diesen Punkt festzuhalten: Die Logik, der Schelling hier folgt, ist nicht eine der Entgegensetzung von menschlicher Freiheit und System oder Absolutheit; beide können, sollten sogar für Schelling koexistieren, da er die Freiheit für den »herrschenden Mittelpunkt des Systems« (AA I,17, 111) hält, und auch: Der Begriff einer derivierten Absolutheit oder Göttlichkeit ist so wenig wiedersprechend, dass er vielmehr der Mittelbegriff der ganzen Philosophie ist. Eine solche Göttlichkeit kommt der Natur zu. So wenig widerspricht sich Immanenz in Gott und Freiheit, dass gerade nur das Freie, und soweit es frei ist, in Gott ist, das Unfreie, und soweit es unfrei ist, notwendig außer Gott. (AA I,17, 120)

Deswegen nennt Schelling das Verhältnis Gott-Kreaturen eine Selbstoffenbarung Gottes, der, als das freieste Wesen, sich nur in dem, was Ihm ähnlich ist, offenbaren kann. Diese Gedanken Schellings sind keine plötzliche, unbegründete Theorie: Sie gehen aus seiner Naturphilosophie hervor. Die tiefe Lebendigkeit der Natur wurde von Schelling als Zeichen der Freiheit interpretiert, eben als wirkliche, d. h. unabhängige Freiheit, »der letzte potenzierende Akt, wodurch die ganze Natur in Empfindung, in Intelligenz, endlich in Willen verkläre – Es gibt in der letzen und Über den Sinn der zweideutigen Stellung einer solchen »derivierten Absolutheit« kann man auf die entgegengesetzten Perspektiven M. Theunissens und L. Hühns hinweisen: vgl. Theunissen 1965, 187 und Hühn 1998, 63.

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höchsten Instanz gar kein anderes Sein als Wollen. Wollen ist Ursein […]. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden« (AA I,17, 123). 16 Es scheint, dass Schelling durch diese Einleitung eine Änderung, oder besser eine Erweiterung des Begriffes des Absoluten vollführen wollte, als unumgängliche Prämisse der ganzen Abhandlung. Wenn der Freiheit der ihr zustehende, zentrale Platz in dem ›System‹ zukommen soll, muss vorher klargestellt werden, dass der eigentliche Begriff des Absoluten eine derivierte Absolutheit (die Freiheit) gar nicht ausschließt, sie ist vielmehr nötig, um wirklich Ab-solutus zu sein. In Konsequenz formuliert Schelling seine Interpretation des Wesens jener pantheistischen und gefährlichen Kopula, die nur eine modale und nicht eine ontologische Funktion hat. Es ist eben der auf diese Weise gelungene Begriff einer ›derivierten‹ Absolutheit, der den Schritt über Kant hinaus ermöglicht, um den realen Begriff der Freiheit zu erreichen: Freiheit sollte nicht nur ›überhaupt‹ oder formal gedacht werden, sondern als wirkliche Tatsache der Welt, bzw. als Vermögen des Guten und des Bösen. Das Denken der ›wirklichen‹ Freiheit stellt den Zustand des Absoluten, des Grundes selbst zur Diskussion: Das klassische Modell des Grundes zeigt auf diese Weise seine Unangemessenheit und führt Schelling bis zu dem Punkt, den Begriff des Grundes in Hinblick auf die Freiheit zu überdenken. Es gibt in der Tat ein weiteres Element dieser Einleitung, bei dem man kurz verweilen sollte: Der Begriff der Freiheit, den Schelling erreichen will, ist nicht ein total unbekannter Begriff, sondern die Ergänzung der schon vom Idealismus entdeckten Konzeption der Freiheit. Der allgemeinste und bloß formelle idealistische Begriff der Freiheit wurde von Kant bestimmt, 17 zuerst durch seine wesentliche Unterscheidung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen (vgl. KrV, B 560–585) und dann besonders in seiner Critik der practischen Vernunft 18. Schelling übt zwei fundamentale und sich gegenseitig implizierende Kritiken an Kant: erstens, die Unterscheidung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen geschieht ›nur negativ‹ ; 19 zweiVgl. auch z. B. Lawrence 1989. Vgl. Simon 2014, 21–131. 18 Bes. KpV, A 169–185. Kant rettet die Freiheit dank des Noumenon. Im Gegensatz dazu kann Schelling die Spaltung des Menschen (aber auch der Natur) in Phänomen und Noumenon nicht akzeptieren. Die Wiedervereinigung des Idealismus und Realismus ist ein gar nicht neues Leitmotiv für ihn. 19 Vgl. Cacciari 1990, 25 f. 16 17

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tens, er hat den »einzig möglichen positiven Begriff des ›An-sich‹ (d. h. der Freiheit) nicht ›auf die Dinge‹ (AA I,17, 124) übertragen. Auf diese Weise blieb Kant laut Schelling in der Negativität der Bestimmung der Freiheit, was ein wesentliches Merkmal seiner theoretischen Philosophie ist. Besonders diese zweite Kritik gibt uns wichtige Hinweise auf die Denkweise Schellings. Schelling möchte gegen Kant behaupten, dass Freiheit nicht nur das Intelligible sondern vielmehr die wirklichen Dinge (besonders den Menschen) angeht. Freiheit kann nicht nur ›überhaupt‹ gedacht oder bezeichnet werden, wenn auch durch ihren positiven Begriff (An-sich-sein), sondern wirklich. Weil Freiheit wirklich und nicht ›überhaupt‹ existiert. Es gibt ein reales und lebendiges, d. h. kantisch gesagt ›erscheinendes‹ Korrelat der intelligiblen Freiheit, die auf keinen Fall vernachlässigt werden darf, und die Schelling so ausdrückt: das Vermögen des Guten und des Bösen. Das ist eben ›das Bestimmte‹ der menschlichen Freiheit, das der bloße Idealismus aufgrund der Unterscheidung zwischen Phänomen und Noumenon nicht erreichen konnte. Das Vermögen impliziert das Wollen, jenes Wollen, das für Schelling ›Urseyn‹ ist, und dessen Prädikate »Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung« (AA I,17, 123) sind. Diese Punkte stellen jedoch Schelling »der tiefsten Schwierigkeit in der ganzen Lehre von der Freiheit« (AA I,17, 125) gegenüber: der Existenz eines wirklichen Bösen und in Konsequenz der Koexistenz desselben mit einem Gott. Nicht nur steht eine ›derivierte Absolutheit‹ Gott gegenüber, sondern diese derivierte Absolutheit hat eine wirkliche, wirksame Form, die das Vermögen des Guten und des Bösen besitzt; sie ist eine abhängige; aber selbstständige Freiheit, die sich gegen Gott entscheiden kann und das Absolute selbst aufs Spiel setzt. Diesbezüglich kritisiert Schelling den idealistischen Begriff eines leblosen Gottes, »weit von aller Natur« entfernt, der »auch den Blick für den Ursprung des Bösen blind« (AA I,17, 128) macht. Es liegt auf der Hand, hier eine Parallele dieser Kritik zu der Erörterung des Wesens der Kopula zu sehen: Es geht hier immer darum, einen anderen Begriff des Absoluten zu erfassen, der »mit der Lebenskraft und Fülle der Wirklichkeit« nicht mehr »in den schneidendsten Kontrast stehen« (AA I,17, 128) 20 soll. Dies wäre nur möglich, wenn der Idealismus ›einen lebendigen Realismus zur Basis‹ hätte: Es bietet sich an zu vermuten, dass dieses lebendige Fundament mit der Naturphilo20

Vgl. Vetö 1977, 148.

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sophie und ihren Grundsätzen gleichgesetzt ist, d. h. mit der Quelle der Positivität. Außerdem macht Schelling eine entscheidende Feststellung: Wenn die Freiheit nach ihrem realen Begriff das »Vermögen zum Bösen« besitzt, »so muss sie eine von Gott unabhängige Wurzel haben« (AA I,17, 126), weil aus Gott selbst sowohl das Böse als auch das Vermögen zum Bösen nicht stammen können. Es ist jetzt klarer geworden, was diesen Untersuchungen zugrunde liegt: Die Tatsache der wirklichen, d. h. menschlichen Freiheit, ihrer Existenz, betrifft den ontologischen Zustand des Absoluten selbst. 21 Die menschliche Freiheit ist kein Zufall, kein unbedeutendes Element in der Ökonomie des Systems, sondern der Angelpunkt eines jeden möglichen Systems: Das Absolute wird von der Existenz dieser wirklichen Freiheit radikal in Frage gestellt, weil Letztere sich als das Vermögen zum Guten und Bösen erweist. Eben in diesem Vermögen zeigt die menschliche, endliche Freiheit ihre Selbstständigkeit oder ›derivierte Absolutheit‹ trotz – oder besser – dank der Abhängigkeit von Gott: Schelling hat durch die Erläuterung des Wesens der Kopula gezeigt, dass die Selbstständigkeit und die Freiheit jedes Geschöpfs nicht von der Abhängigkeit von Gott ausgeschlossen wird, hingegen wird sie gerade dadurch erzeugt. Aus diesem Grund zeichnet sich eine entscheidende Alternative ab: Entweder gelingt es der wirklichen Freiheit mit einem Absoluten, das die Freiheit als solche wirken lässt, zu koexistieren oder diese Freiheit wird im Namen eines falschen Absoluten negiert – falsch deshalb, weil es etwas aus sich selbst ausschließen, leugnen muss, um seine Absolutheit zu behalten, so dass beide (Freiheit und Absolutes) verloren gehen. Schelling hat sich schon für diese erste Möglichkeit entschieden, indem er das Verhältnis zwischen Gott und den Geschöpfen nicht mehr als ein Verhältnis der Identität sondern des Grundes bezeichnet hat, und besonders indem er sich eine ›von Gott unabhängige Wurzel‹ für die Freiheit selbst vorstellt. Eben diese unabhängige Wurzel, woraus die Freiheit selbst stammt, wird von Schelling grundlegend gedacht und dadurch wird der Begriff des Absoluten und Gottes selbst radikal verändert.

Obwohl der Gedanke einer »absoluten Freiheit« nur ab den Weltaltern von Schelling explizit entwickelt wird. Vgl. dazu Halfwassen 2010.

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1.2.2. Die anfängliche Dualität: Grund und Existenz Direkt nach der Einleitung richtet Schelling sein Augenmerk auf die fundamentale Unterscheidung von Grund und Existenz als unentbehrliche Prämisse seines Freiheitsdiskurses. Diese Unterscheidung repräsentiert einen weiteren Schritt, der zur Betrachtung des Begriffes des Absoluten und seiner Veränderung führt: Letztere wird später die Koexistenz von Gott und menschlicher Freiheit ermöglichen, da die Freiheit ›an sich‹ in einem von Gott unabhängigen Grund gefunden und gedacht wird, eben als abgründige Freiheit, die das Wesen Gottes ausmacht. »Die Naturphilosophie unsrer Zeit hat zuerst in der Wissenschaft die Unterscheidung aufgestellt zwischen dem Wesen, sofern es existiert, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist« (AA I,17, 129). In einem existierenden Wesen sollte man zwischen der bloßen Existenz, d. h. was in der Wirklichkeit tatsächlich existiert, und etwas anderem, das sich nicht in der Wirklichkeit manifestiert, sondern Grund von dem existierenden Seienden ist, unterscheiden. Der Grund gilt als das, »was in dem Ek-sistieren die Existenz selbst nicht ist, was immer dem progressiven Entbergen, Enthüllen, Offenbaren widersteht« 22 und das sich eben durch diesen Widerstand manifestiert. Wofür sollte jedes Seiende einen Grund seiner Existenz haben? Was offenbart diese Unterscheidung? Zuvorderst können wir annehmen, dass die Existenz nicht eine Art platonischer Ebene der Wahrheit ist, wo jedes Seiende komplett offenbart und enthüllt wird: Es gibt dagegen etwas, das der Enthüllung immer wieder Widerstand leistet. Dieser Widerstand hat aber auch eine positive Funktion, da er die geoffenbarte Existenz der Seienden 23 ermöglicht. Die Erläuterung der Dynamik zwischen dem Grund und der Existenz betrifft auch Gott selbst: Wie schon erwähnt, besteht das Dilemma, vor dem Schelling steht, in der wirklichen Existenz der Freiheit (d. h. einer derivierten Absolutheit) und folglich des Bösen, das von ihr gewählt werden kann, gegenüber Gott selbst. Schelling muss daher einen Gott denken, der die Freiheit nicht vernichtet und der für

Vgl. Cacciari 1990, 117; Vetö 1977: »le fondement, adversaire de toute forme et de toute actualité«, 154; Lawrence 1986, 328: »The resistance of the ground of history to complete determination means the collapse of the priority of reason, the principle of unity in being«. 23 Vetö 2002, 19. 22

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das Vermögen zum Bösen, das die wirkliche Freiheit besitzt, nicht verantwortlich ist: Der Gott, zu dem Schelling kommt, trägt die Freiheit in sich als eigenen Grund, eben als seinen Ab-grund. 24 Diese schwierige, radikale Dynamik wird durch die Unterscheidung von Grund und Existenz in einem Wesen gedacht und erklärt und ferner: »Die Fundamentalunterscheidung im Ansatz der Freiheitsphilosophie beweist ihre exzeptionelle Stellung dadurch, dass die den Grund der einzelnen Dinge mit dem Grund in Gott zu identifizieren in der Lage ist und also de Anspruch erhebt, die Selbständigkeit einzelnen Seins aus Gott begreiflich zu machen«. 25 Bevor Schelling auf einen der schwierigsten Punkte der ganzen Abhandlung eingeht, präzisiert er, dass kein Gott über dem Absoluten denkbar ist: Gott ist das Absolute und das Absolute ist Gott, weil das Absolute »jede Begränzung ausschließe« (SW VI, 8 f.). 26 Die Dynamik Grund – Existenz wird also beschrieben als etwas, das jedes Wesen (Gott inbegriffen) betrifft, sie beschreibt die ontologische Modalität jedes Existierenden. »Gott hat in sich einen innern Grund seiner Existenz, der insofern ihm als Existierendem vorangeht; aber ebenso ist Gott wieder das Prius des Grundes, indem der Grund, auch als solcher, nicht seyn könnte, wenn Gott nicht actu existierte« (AA I,17, 130): Gott lebt aus einer »gegenseitige Voraussetzung« von seinem Grund und seiner Existenz in actu, da kein Pol ohne den Anderen existieren und ›wirken‹ könnte. Eine erste Anmerkung ist an dieser Stelle vonnöten: Wie ist das Verhältnis zwischen der Unterscheidung und Gott selbst erklärbar? Da die Unterscheidung auch (und besonders) Gott als Wesen betrifft, muss gefolgert werden, dass sie entweder etwas Ursprünglicheres in Gott ans Licht bringt oder die grundlegende Eigenheit Gottes selbst ist. Die Setzung der Unterscheidung in Gott eröffnet eben die Problematik des ab-soluten Anfangs und seiner Denkbarkeit. Wenn ein Grund Gottes gesetzt werden muss, um die Existenz und die Unabhängigkeit der Freiheit zu sichern, wie ist dieser Grund überhaupt denkbar?

Vgl. Forlin 2006, 112 f. Korsch 1980, 133. 26 Die Identifikation des Absoluten mit dem lebendigen Gott könnte der Grund dafür sein, dass Schelling eine Veränderung des Begriffes selbst des Absoluten ausarbeiten möchte. Die Begriffe von Gott, Absolutes, Anfang scheinen auf dasselbe zu verweisen. 24 25

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Der Grund Gottes, der nicht Gott selbst ist, wird zuerst als »die Sehnsucht, die das ewige Eine empfindet, sich selbst zu gebären« (AA I,17, 130), 27 also auch als »Wille, in dem kein Verstand ist…ahnender Wille, dessen Ahndung der Verstand ist« (AA I,17, 131) beschrieben: Gott enthält in sich eine erzeugende Macht oder Potenz, die zur Einheit des Einen strebt. ›Verstand‹ hat hier die Bedeutung von allem, was »Regel, Ordnung und Form« hat, in Gott (seine Einheit) und außer Gott (die Schöpfung). Schelling möchte auf diese Weise eine ursprüngliche Dunkelheit Gottes durch den Begriff des Wollens ausdrücken, wodurch sein Licht selbst auch geboren wird. Die Funktion dieses wagemutigen Gedankens erklärt sich wenige Zeilen später: »Aber entsprechend der Sehnsucht, welche als der noch dunkle Grund die erste Regung göttlichen Daseins ist, erzeugt sich in Gott selbst eine innere reflexive Vorstellung, durch welche […] Gott sich selbst in einem Ebenbilde erblickt« (AA I,17, 132) 28 – das Wort, der Sohn. Die Gedanken Schellings über den Anfang nehmen sehr oft die Gestalt einer trinitarischen Spekulation an: Der trinitarisch vermittelte Gott gilt für ihn natürlicherweise als das Modell eines Gottes, der die Freiheit in sich tragen und ertragen könnte. Diese Freiheit nimmt die Figur eines Anfangs an, wodurch Gott selbst geboren wird, wie später erläutert wird. Ferner ist das Modell einer ›Selbstabbildung‹ des Absoluten nicht neu im Denken Schellings, da es schon in seiner Identitätsphilosophie verwendet wurde, um einen internen Dualismus des Absoluten selbst zu kennzeichnen. Die Unterscheidung zwischen dem Grund und der Existenz vollzieht sich in und bei Gott, als innere Dynamik, als erzeugende Macht eines lebendigen Wesens (wie ein dreieiniger Gott verstanden werden muss). Eine Dynamik bringt immer (besonders im Denken Schellings) einen Streit mit sich: Die Lebendigkeit Gottes entspringt hier aus dem Konflikt zwischen einem egoistischen Willen, der sich jener Offenbarung (im Fall Gottes der Aussprache des Wortes, des Verbum) widersetzt, und einem Willen zur Offenbarung, der »Wille der Liebe« genannt wird. Die Liebe bekommt in der Abhandlung keine sentimentale Bedeutung, sie hat dagegen eine entscheidende, theoretische Funktion, damit man den ganzen Diskurs Schellings und seine RichVgl. AA I,17, X: Der erste Anfang zur Schöpfung ist die Sehnsucht des Einen, sich selbst zu gebären, oder der Wille des Grundes. Aber: Anfang zur Schöpfung … : Die ursprüngliche Freiheit ist eine gerichtete Freiheit. 28 Vgl. Dörendahl 2011, 179–195. 27

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tung in vollem Umfang begreifen kann. Der Streit zwischen den zwei Willen bewegt ihn zum Aussprechen von »etwas Begreifliches und Einzelnes…durch wahre Ein-bildung« (AA I,17, 132 f.): Der Grund »von der Liebe bewogen« (AA I,17, 132) ermöglicht die Offenbarung der Existenz, folglich der Schöpfung, eben durch seinen progressiven Widerstand dagegen. Schelling versucht, einen noch tieferen Blick auf den Grund Gottes und dessen eigenes Wirken zu werfen: Er unterscheidet nämlich zwischen zwei Willen, die den Grund bewegen und ihm eine aktive Rolle in der Schöpfung zuschreiben: »Der erste Anfang zur Schöpfung ist die Sehnsucht des Einen, sich selbst zu gebären, oder der Wille des Grundes. Der zweite ist der Wille der Liebe, wodurch das Wort in die Natur ausgesprochen wird, und durch den Gott sich erst persönlich macht« (AA I,17, 161). Die höhere Freiheit des Willens der Liebe besiegt die Tendenz des anderen Willens zur Verschließung und bewirkt die Vermittlung Gottes selbst zusammen mit der Schöpfung der Welt (Natur). Gott erschafft die Welt, weil Er in sich selbst durch sich selbst vermittelt und somit ›geoffenbart‹ wird (›durch den Sohn wurden alle Dinge erschaffen‹). »Der Grund wirkt also in seiner Freiheit die Scheidung und das Gericht (κρίσις); und eben damit die vollkommene Aktualisierung Gottes« (AA I,17, 169): 29 Scheidung und Gericht sind Begriffe, die dem Denken des Grundes seit den Fragmenten von Parmenides zugehören, und die ihn inkompatibel mit einem abstrakten und leeren Begriff machen. Der Versuch Schellings greift hier in eine alte Traditio ein. Die Unterscheidung wird in Gott gesetzt, ereignet bei Ihm als Zeichen seiner Lebendigkeit. Die Mühen Schellings sind alle darauf gerichtet, einen lebendigen Gott oder ein Fundament aussprechen und begreiflich machen zu können: ›Lebendig‹ bedeutet aber für Schelling frei. Das Ziel Schellings bleibt es, die Koexistenz von Freiheit und Absolutheit zu denken. Der Weg dazu besteht in der Setzung eines Grundes in Gott selbst, »der nicht Er Selbst ist«, so dass die Freiheit aus einer von Gott unabhängigen Quelle entspringen kann. In der Tat wird die Existenz Gottes von einer freien Tathandlung (nämlich vom Willen der Liebe bewogen) erzeugt, denn »die Essenz und Existenz verbindet durch ein Band, das gar keine Notwendigkeit besitzt, da es

Vgl. auch OL, 130: »Gott ist zugleich vor und nach Ihm selbst. Gott gibt es schon vor Er existiert, damit Er seine eigene Existenz will, und, als dann Er existiert, erweist es sich, dass sein Wesen genau die Freiheit war, durch die er existierten wollte«.

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die Urfreiheit selbst ist«. 30 Dank einer Art von Heterogonie der Zwecke zeigt die Untersuchung der Koexistenz der wirklichen Freiheit mit der Absolutheit Gottes die Notwendigkeit, ein anderes Fundament jenseits der Substanz-Ontologie und der Seinsgrammatik zu denken, einen Gott, der sowohl dem biblischen Gott als auch der Wirklichkeit entsprechen kann, und der den Bereich des ›Gott vor Gott‹ in seiner ganzen Abgründlichkeit öffnet. Der von Schelling gedachte Grund bei Gott hat zuerst die Funktion, eine göttliche Lebendigkeit begreifbar zu machen; außerdem nimmt er die Gestalt einer von Gott unabhängigen Wurzel an, die für die Bestimmung der Freiheit und der Quelle des Bösen entscheidend ist: »Dieses [das Regellose im Grunde] ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen lässt, sondern ewig im Grunde bleibt« (AA I,17, 131). Die Quelle des Bösen liegt eben in diesem unauslöschlichen positiven Element, das in jedem erschaffenen Wesen die Basis ist, und das sich in zwei entgegensetzte Willen teilt: Wenn in einem Geschöpf der Eigenwille des Grundes herrscht, entsteht das Böse in der Welt. Es geht um eine »positive[n] Verkehrtheit oder Umkehrung der Prinzipien« (AA I,17, 137), 31 die unabhängig von Gott ist, da der Grund nicht ›Er Selbst‹ ist. 32 Die Anwesenheit eines solchen Grundes in Gott verändert seine metaphysische Konzeption auf eine radikale Weise: Gott bleibt ›der Allmächtige‹ und seine Absolutheit wird nicht gefährdet, weil er über den Willen des Grundes durch den Willen der Liebe herrscht; aber der Grund wird dadurch nicht vernichtet, sondern bleibt der Grund, dessen Widerstand und egoistischer Willen immerwährend tätig bleiben. Gott trägt in sich diese dunkle, unvorhersehbare Basis, die es ihm ermöglicht, sich selbst zu erzeugen: Die Opposition gegen den Willen der Liebe ist nötig, damit dieser Wille sich manifestieren kann: »Da es unleugbar, wenigstens als allgemeiner Gegensatz, wirklich ist, so OL, 134. Die »Verkehrung« der Prinzipien spielte schon in der Naturphilosophie Schellings eine wichtige Rolle, besonders in Hinblick auf die darauffolgende Konzeption der Freiheit; aus diesen Gründen scheint das Verhältnis zwischen den Begriffen der »Krankheit« und des »Bösen« nicht von nebensachlicher Bedeutung in der Ökonomie der Freiheitsschrift, wie O. Müller vorgeschlagen hat: s. Müller 2012, bes. 253, 261, 267–273. 32 Über den breiten Einfluss dieser Themen auf die Philosophie des XX. Jahrhunderts s. Schwab 2015. 30 31

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kann zwar zum voraus kein Zweifel seyn, dass es zur Offenbarung Gottes nothwendig gewesen« (AA I,17, 143). Die wahre Natur Gottes offenbart sich dank dieses inneren Streits, der Gott lebendig macht.

1.2.3. Der Ungrund Wie immer bei Schelling muss eine Dualität auf eine höhere Einheit zurückgeführt werden: 33 Das geschieht auch im Fall der Unterscheidung Grund – Existenz, die aus einer gemeinsamen Quelle entspringen müssen. Um einen absoluten Dualismus oder ebenso absolute (d. h. leere) Identität zu vermeiden, erreicht Schelling den »höchsten Punkt der ganzen Untersuchung«: den Begriff des Ungrundes, der »vor allem Grund und vor allem Existierenden, also überhaupt vor aller Dualität« (AA I,17, 170) steht. Der Ungrund wird als Indifferenz bezeichnet und der Begriff der Indifferenz als »der einzige vom Absoluten mögliche« (AA I,17, 175) 34: Er geht aller Dualität (vor allem des Grundes und der Existenz) voran, gilt als keine Identität von Gegensätzen »weil er sich gegen beide als totale Indifferenz verhält« (AA I,17, 171). Nur aus einer solchen Indifferenz der Prinzipien kann die Dualität unmittelbar ausbrechen (wie Schelling sich ausdrückt): »ohne einen Ungrund gäbe es keine Zweyheit der Prinzipien« (AA I,17, 171). Die behauptete Indifferenz gleicht nämlich in keiner Weise jene Art von Synthese oder Identität, die die Dualität aufheben würde: Da der in-differente Ungrund sich den beiden Prinzipien gegenüber gleichgültig verhält, kann tatsächlich ihre Dualität unmittelbar ausbrechen und weiterhin bleiben, weil keine Synthese (am Anfang oder am Ende) erfüllt werden muss. 35 Die Indifferenz des Ungrundes lässt den Raum für die Freiheit geöffnet, die Schelling mit dem Adverb ›unmittelbar‹ (vgl. AA I,17, 171) ausdrückt: Die Dialektik Schellings ist hier eine der Freiheit, nicht der Notwendigkeit. In dem UnIm Gegensatz zu Hegel, bei dem die Einheit (Synthese) immer am Ende dialektisch (notwendig) abgeleitet wird; bei Schelling jedoch ist die Einheit ist ursprünglich, der undeduzierbare aus seiner Freiheit wirkende Prius, wozu man nur zurückgeführt werden kann. 34 Vgl. Korsch 1980, 140: »Es ist deutlich zu sehen, dass in der Struktur der Entsprechung zwischen dem absoluten Indifferenzpunkt und der Freiheit des Menschen als einem relativen Indifferenzpunkt die Struktur der intellektuellen Anschauung in ihrem absoluten und objektiven Aspekt aufgenommen ist«. 35 Vgl. Forlin 2006, 116. 33

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grund findet die Freiheit ihren ontologischen Raum: Die Dualität der Prinzipien, die Gott kennzeichnet, entspringt aus der Quelle aller Möglichkeiten. Der Ungrund ist der Abgrund der Freiheit, aus der Gott selbst kommt. In diesem Sinne kann also Schelling die ausbrechende Unterscheidung als ›eine sehr reelle‹ bezeichnen: Sie ist nicht notgedrungen, sondern entspringt frei aus dem positiven (weil indifferenten) ›Nichts‹ des ›schlechthin betrachtet Absoluten‹, des Ungrundes. Die zwei Prinzipien werden ›zwei ewige Anfänge, nur damit die zwei, die in ihm, als Ungrund, nicht zugleich oder Eines sein konnten [wegen der Indifferenz], durch Liebe Eins werden‹. Sie werden Eins durch die Dynamik der zwei Willen, des Grundes und der Liebe, wie schon gesehen, und eben in dieser Dynamik begründen sich die Persönlichkeit und Lebendigkeit Gottes, oder, wenn man den Ausdruck wagen darf, hier geschieht die Geburt Gottes. Die Spekulation Schellings führt auf diese Weise zur Grenzlinie des menschlichen Denkens und erinnert an die Worte Plotins: »Τί γὰρ ἄν τις καὶ ζητήσειεν εἰς οὐδὲν ἔτι ἔχων προελθεῖν πάσης ζητήσεως εἰς ἀρχὴν ἰούσης καὶ ἐν τῶι τοιούτωι ἱσταμένης« (Enn. VI 8, 11, 1–5): Wir müssen schweigend davon gehen und dürfen unsere Meinung ungewiss lassend nicht weiter forschen. Denn wozu sollte man auch forschen, da man nicht weiter vorzudringen vermag, weil jede Untersuchung auf ein Princip geht und hierbei stehen bleibt 36). Trotzdem lässt er keinen Zweifel daran: »Wir im Gegenteil sind der Meynung, dass eben von den höchsten Begriffen eine klare Vernunfteinsicht möglich sein muss, indem sie nur dadurch uns wirklich eigen, in uns selbst aufgenommen und ewig gegründet werden können« (AA I,17, 175). Der Ungrund geht sowohl dem Grund als auch der Existenz voran und scheint die tiefste Wurzel des Seins (Gottes): Seine Qualität ist eine ewige Indifferenz, die Schelling als Zeichen der höchsten Absolutheit interpretiert. Letztere nimmt oft die Gestalt der höchsten Freiheit an: Der Ungrund könnte deswegen als der einzige wirkliche und legitime Ursprung dieser Macht sein, die sogar von Gott unabhängig ist. Was hier Schelling zu denken versucht, kann als ›Gott vor Gott‹ genannt werden. 37 Die Temporalität dieses ›Vor‹ Gott sollte aber nicht zeitlich gedacht werden, sondern das Vor muss immanent in Gott 36 37

Übersetzt von R. Harder (vgl. Plotin 1956–1971). Die Worte Luigi Pareysons sollten hier erinnert werden: »Aber die Idee des »Gottes

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selbst gedacht werden, es gehört zu einer anderen Art von Zeitlichkeit 38 und befähigt Gott, sich als ein freier, persönlicher Gott zu offenbaren. Wir befinden uns hier in einem anderen Bereich, eben dem Bereich des unvordenklichen Anfangs. ›Normalerweise hält man die Schöpfung der Welt für das höchste Zeichen göttlicher Freiheit; die Freiheit Gottes zeigt sich aber schon an einem vorhergehenden und tieferen Niveau: an der Wurzel selbst Seines Seins. Die Schöpfung der Welt setzt einen schon angefangenen Anfang, einen absoluten und allerersten Anfang, der das Sich-Erzeugen Gottes selbst ist, fort‹ : 39 Der von Pareyson genannte allererste Anfang scheint eben den Gedanken von Schellings Freiheitsschrift zu folgen. Gott muss sich selbst wollen, sein eigenes Wesen wollen, bevor er die Welt erschafft. Vor diesem Hintergrund wird es möglich, den Ausdruck ›Urseyn ist Wollen‹ endlich betrachten zu können.

1.2.4. Der Abgrund der Freiheit Der von Schelling schließlich verwendete Begriff des Ungrundes ist ohne Zweifel von großer Tragweite, besonders wenn man ihn von einer metaphysischen Warte aus betrachtet. Folgt man dem Diskurs Schellings, verliert vor allem die Äquivalenz Gott = Sein an Gültigkeit: Gott ist hier nicht mehr das schlechthin Seiende, oder das Wesen, das mehr als jedes einzelne Wesen und alle zusammen ist. Gott ist hier nicht das Sein, er bleibt vielmehr innerhalb eines werdenden Prozesses, er ist eben ein werdender Gott. Das Werden Gottes, wie jedes Werden, verlangt aber einen Anfangspunkt: Gerade an diesem Punkt öffnet sich der Raum für den abgrundtiefen Gedanken des Grundes des Grundes, des Un- oder Urgrundes mit dem Risiko, dass der Urgrund ein Abgrund sein könnte. Schelling begibt sich auf ein Gebiet, das jeder ontologischen Verankerung vorangeht: Der Urgrund enthält in der Tat alle Möglichkeiten in sich, des Seins wie des Nichtseins, des Guten wie des Bösen, weil er die reine Indifferenz ist. vor Gott« ist alles andere als einfach und eindeutig; Im Gegenteil verbirgt sich eben in ihrem dunklen und geheimnisumwitterten Charakter das Mysterium Gottes«, OL, 132. 38 Die Intuition von M. Cacciari scheint dem absolut zu entsprechen: Cacciari unterscheidet nämlich zwischen Chronos und Aion. Aion gilt als geeignete Zeitart für den Anfang, im Gegensatz zur chrono-logischen Zeit. Vgl. Cacciari 1990, 235–305. 39 OL, 129.

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Auf diese Weise scheint Gott, oder besser die Möglichkeit eines existierenden Gottes, ursprünglich über dem Nichts zu schweben. Ein Nichts aber, das nur im Hinblick auf die zeitgleiche Existenz Gottes gedacht werden kann: Dadurch nimmt dieses Nichts die Funktion der Möglichkeitsbedingung eines wirklichen Gottes an, ohne aber seinen Zustand als wirkliches Nichts, d. h. als ›fleißige und wirkende Antithese‹ 40 zu verlieren: »Alle Existenz fordert eine Bedingung, damit sie wirkliche, nämlich persönliche Existenz werde. Auch Gottes Existenz könnte ohne eine solche nicht persönlich sein, nur dass er diese Bedingung in sich, nicht außer sich hat« (AA I,17, 164). Zum schellingschen Begriff Gottes muss daher ein Nichts 41 gehören, damit ein werdender, lebendiger Gott und folglich ein allererster Anfang gedacht werden kann: »Nur in der Persönlichkeit ist Leben; und alle Persönlichkeit ruht auf einem dunklen Grunde, der also allerdings auch Grund der Erkenntnis sein muss« (AA I,17, 177). Es wäre ein Fehler, den »unabhängige[n] Grund von Realität« (AA I,17, 161) bloß formal oder hegelianisch zu denken, als notwendigen Schritt eines dialektischen Prozesses: Der Grund, von dem Schelling spricht, könnte Grund sowohl der Existenz, aber auch der Nichtexistenz Gottes sein. Dieser Grund bleibt unabhängig von Gott selbst, d. h. er wird nie von der Entstehung der Existenz Gottes und folglich der Schöpfung aufgehoben. Er bleibt in Gott als unauslöschliche Spur eines positiven Widerstands gegen Gott und gegen die Existenz selbst: Dank der immerwährenden Präsenz dieser vernichtenden Macht kann die menschliche Freiheit das Böse erwecken, aber nie wieder als radikales und absolutes Böse: Gott hat ab aeterno die unvermeidliche Bedingung jeder persönlichen Existenz zu seiner eigenen gemacht, »sich mit ihr als eins und zur absoluten Persönlichkeit« (AA I,17, 164) verbunden. Das abgründige Nichts, das das Leben und die Persönlichkeit Gottes selbst bedingt, ist ohne Zweifel das problematischste Element der Abhandlung: Schelling verwendet niemals das Wort Nichts, um den Grund der Existenz zu bestimmen, aber er könnte eine solche Bezeichnung ohne große Verdrehungen übernehmen. Die Abgründigkeit scheint darüber hinaus die einzige Quelle nicht nur des Bösen, sondern der Freiheit (woraus das Böse kommt) selbst: Dahingehend könnten auch die verwirrenden Sätze, die das Böse mit dem Guten OL, 258. Pareyson hat keine Angst davor, den deutschen Ausdruck »das Nichtige« zu verwenden, damit die vernichtende Macht des Nichts ausgesprochen werden kann.

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›dialektisch‹ gleichstellen 42, verstanden werden, da beide potentiell aus dem Abgrund des Ungrundes entstehen können. 43 Es scheint, dass alles von einer Freiheit (zunächst der göttlichen) und von ihrer zum Anfang fähigen Macht abhängt, die aber gerade diese abgründige, dunkle Bedingung erfordert, damit sie als wirkliche und göttliche (unendliche) Freiheit wirken kann. Der Ungrund scheint tatsächlich jene absolute Indifferenz zu sein, die das einzige Korrelat einer absoluten Freiheit sein kann. Indem Schelling den Ungrund als die tiefste Natur Gottes bezeichnet, sogar als die Quelle seiner Natur, schafft er den Raum für jene freie Entstehung der Dualität zwischen Grund und Existenz, durch die Gott selbst ›erzeugt‹ wird. Es ist offenbar, dass die Freiheit hier – auch wenn nicht explizit genannt – eine entscheidende Rolle spielt: Sie gilt als jener Funke, von dem die Existenz Gottes selbst und die Offenbarung abhängen. Diese Dynamik vollzieht sich vollständig in und bei Gott, da es nichts vor Gott gibt außer Gott selbst: Dies heißt nur, dass das Bestimmte dieser Dynamik genau die freie Entstehung einer Dualität ist, d. h. die Freiheit, durch die die innere Lebendigkeit Gottes hervorbricht. Die Grundfesten der abendländischen Metaphysik werden von Schelling hier erschüttert, indem er die Freiheit und nicht mehr das Sein als die eigenste Qualität Gottes (oder des Fundaments) denkt. Vor allem darin besteht die revolutionäre Tragweite der Freiheitsschrift: Aus diesem Gedanken oder diesem Verschieben des Denkens entspringen der Ungrund, das Unvordenkliche, die Vergangenheit Gottes und alle weiteren Begriffe, die die Spätphilosophie Schellings auszeichnen und sie von Zeit zu Zeit schwer verständlich erscheinen lassen, da auch die Sprache der Verschiebung des Denkens irgendwie folgen muss. Auf diese einzige Weise könnte die ganze Wirklichkeit im Zeichen der Freiheit und des Freiseins gelesen werden, da die Welt durch jenen »Willen der Liebe«, die den dunklen Grund bewältigt hat, erschaffen und offenbart wurde. Auf diesem Hintergrund kann der Kernsatz »Wollen ist Urseyn« besser verstanden werden: Nur ein Urwollen, ein ursprünglicher und Vgl. AA I,17, 165:»Daher dialektisch ganz richtig gesagt wird: Gut und Bös sei’n dasselbe, nur von verschiedenen Seiten geseh’n«. 43 Vgl. Lauer 2010, 148 f.: »If we are to have any hope of avoiding the contradictions and trivialities of privation theories of evil, we need to frame both evil’s negativity and its positivity in terms of an organic whole. Positivity must be viewed as wholeness or unity and negativity as the division that always threatens it«. 42

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unabhängiger Impuls, kann das Schweben über dem abgründigen Nichts durch eine freie Ent-scheidung beenden. Gott muss sich selbst wollen und eben durch diese allererste freie Tathandlung, die das Nichts, indem es verworfen wird, ein für alle Mal besiegt, wird er lebendig und sein Begriff fassbar, nur durch die Macht der Freiheit. 44 Schelling spricht hier nie direkt oder ausführlich über eine ideelle »Freiheit Gottes«, aber von der Freiheit des Willens der Liebe: »Schlechthin freier und bewusster Wille aber ist der Wille der Liebe, eben weil er dies ist; die aus ihm folgende Offenbarung ist Handlung und That« (AA I,17, 161). Die eigentliche Freiheit Gottes enthüllt sich in jenem Willen der Liebe, der sich gegen den egoistischen Willen des Grundes erhebt und die lebendige Existenz Gottes selbst ermöglicht. Genau in diesem Sinne ist Gott Liebe und Freiheit, d. h., dass sein Wesen zunächst und in besonderem Maße in der Freiheit denn in dem Sein besteht: Sein ist bei Gott Frei-sein. Dank dieser fundamentalen theoretischen Gedanken nimmt ferner die Freiheit eine mächtige, ontologische Bedeutung an: Sie ist nicht mehr eine Eigenart Gottes, hingegen ist sie das Wesen Gottes selbst, das Ihm ermöglicht, der Herr des Seins (nämlich Besieger des Nichts) zu sein, nicht wie eine höhere Potenz, sondern als eine besondere Qualität. Die Freiheit kann und muss jedoch noch aus zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden: Als die Freiheit an sich und die Freiheit Gottes, die sich als Liebe offenbart. Es ist nicht selbstverständlich, dass die Freiheit sich als Liebe manifestieren muss. Ihre Macht ist reine Potenz, ursprünglich auf nichts gerichtet. An sich enthält die Freiheit die Möglichkeit des Seins sowie des Nichtseins: Deshalb spricht Schelling in diesem entscheidenden Punkt von Liebe und nicht bloß von Freiheit. Die Freiheit Gottes, durch die er den Abgrund des Nichts überwindet und sich zunächst für sich selbst und darüber hinaus für die Offenbarung entscheidet, ist deshalb eine gerichtete Freiheit, die sich für das Sein entschieden hat: Diese gerichtete oder entschiedene Freiheit hört auf den Namen ›Liebe‹. Die Interpretation Pareysons setzt genau an diesem Punkt an: ›In derselben Unmittelbarkeit des Anfangs ist die Alternative umrissen und enthalten: Die Freiheit kann sich von ihrem Nichts entfernen oder darin bleiben, kann sich selbst behaupten oder in ihr Nichts zurückfallen. Die Freiheit ist für sich selbst die Freiheit der Entscheidung und die EntscheiDiesbezüglich begriff Pareyson die Freiheit als gleichzeitige Entfaltung von Anfang und Entscheidung (Vgl. OL, 254 f.).

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dung zur Freiheit: zugleich Anfang und Entscheidung‹ und er führt weiter aus ›ihrer Selbstbehauptung wohnt vielmehr ein Vorzug des Sich-setzens und Sich-bewahrens inne, als des Nichtanfangens und Aufhörens‹. 45 Das Verhältnis zwischen dem Ungrund und der Dualität Grund – Existenz wird von Schelling auf folgende Weise geklärt: »Der Ungrund teilt sich aber in zwei ewige Anfänge, nur damit die zwei, die in ihm, als Ungrund, nicht zugleich oder Eines sein konnten, durch Liebe Eins werden, d. h. er teilt sich nur, damit Leben und Liebe sei und persönliche Existenz« (AA I,17, 172): Was bewegt aber den Ungrund zur Teilung? Dieser Übergang bleibt in der Freiheitsschrift teilweise unklar: Es scheint nur, dass die Liebe als Ziel die Bewegung des Ungrundes verursachen kann. Die Interpretation des Ungrundes als abgründige Potenz der Freiheit ist in Bezug auf die Freiheitsschrift vielleicht übereilt: Schelling hat damit aber ein neues Modell des Grundes gestaltet, das er nie verlassen wird und das in den folgenden Schriften immer wieder überdacht wird. Die Originalität dieses Modells besteht darin, dass der Grund viel mehr mit einer ontologisch begriffenen Freiheit (die sich quasi direkt hier als Liebe zeigt) als mit dem Sein zu tun hat. Die Existenz Gottes beruht auf einem Abgrund, der die unendliche, indifferente Potenz seiner Freiheit repräsentiert, die sich sowohl als Wille des Grundes als auch als Wille der Liebe manifestiert. Diese zwei entgegensetzten Willen werden eins durch das ›Geheimnis der Liebe‹, das die Existenz Gottes und die Offenbarung ermöglicht. Die Freiheit Gottes benötigt diesen dunklen Abgrund, um eine wirklich absolute Freiheit zu sein, d. h. eine Freiheit, die sich zwei entgegensetzten Möglichkeiten der Existenz gegenübersieht und eine Entscheidung treffen muss. Die Liebe spielt hier die Rolle der Richtung dieser Entscheidung, die von grundlegender Bedeutung ist, da davon die Modalität der Existenz Gottes selbst abhängt. In der Geschichte der Metaphysik wurde der Grund immer mit dem Sein verbunden, außerdem wurde das Verhältnis Grund – Sein fast immer als ein logisch-metaphysisches Prinzip bestimmt. Die Kritik Heideggers an dieser Perspektive ist bekannt und unangreifbar. Das von Schelling gedachte Modell des Grundes könnte sich aber von dieser Tradition befreien: Seine Abhandlung richtet sich auf ein

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OL, 256.

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Stuttgarter Privatvorlesungen, »ein besonderer Beobachtungsposten«

tieferes Niveau, jenseits des Seins selbst, und stellt die Zugehörigkeit des Grundes und des Seins in Frage, d. h. sie fragt nach ihrer Herkunft. Die erste, entscheidende Umwandlung des metaphysischen Grundes geschieht denn nicht durch die Betrachtung der menschlichen Freiheit, sondern vielmehr durch die der ›damit zusammenhängenden Gegenstände‹ : Eben dank der in Gott gedachten und gesetzten Unterscheindung zwischen Grund und Existenz kann Schelling die ursprüngliche Natur und Form des Grundes entdecken, d. h. den Ungrund, aus dem jene fundamentale Unterscheidung stammt. Um das plötzliche Entspringen der Unterscheidung aus der reinen Indifferenz zu erklären, lässt sich weder das Sein noch Gott selbst (da es um seinen eigenen Grund geht) auf den Plan rufen, sondern allein die Freiheit, so dass Letztere sich als die eigentlichste Qualität des Absoluten oder Gottes erweist.

1.3. Stuttgarter Privatvorlesungen, »ein besonderer Beobachtungsposten« 46 Die 1810 im Stuttgarter Privatkreis des Juristen Eberhard Friedrich von Georgii gehaltenen Vorlesungen nehmen eine besondere Stellung ein im Hinblick auf die Wandlung des Begriffs des Grundes und des ganzen ›Systems‹ der schellingschen Philosophie. Die Vorlesungen zeigen auf der einen Seite einen vor allem sprachlichen und strukturellen Zusammenhang mit der bisherigen Philosophie der Identität, auf der anderen Seite ist aber die inhaltliche Wandlung der Begriffe, besonders des Absoluten, evident, was sich vermutlich dem Einfluss der kurz vorher geschriebenen Freiheitsschrift 47 verdankt. Einer der Kernpunkte der Vorlesungen besteht in der Denkbarkeit des Absoluten und der Prinzipien (Ideal-Real), die zu seiner Einheit gehören: Die Triade, ein offensichtlich idealistisches Erbe, bezeichnet jetzt aber keine Art von abstraktem Begriff, sondern strebt nach einer Beschreibung der Lebendigkeit Gottes (die ab diesem Zeitpunkt ein immerwährendes Motiv im Denken Schellings bleiben wird), die hier Tilliette 1992a, Bd. I, 546. Für einen umfassenden Überblick in den Vorlesungen s. Augusto 2010a; MüllerLüneschloß 2012; Hühn [Hrsg.] 2014.

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noch durch den mathematischen Schematismus der Potenzen 48 ausgedrückt wird, die aber nur ein Jahr später, in den Weltaltern, die Form einer quasi mythischen Erzählung einnehmen wird. Der heikle Punkt besteht in der philosophischen Gestaltung des im Absoluten sich vollziehenden Übergangs von Identität zur Differenz: Dazu schlägt Schelling eine dramatische (aber nicht neue) Figur des Absoluten vor, dessen wesentlichste Tat nicht ein Aufheben, sondern eine ›Steigerung‹, eine ›Doublierung‹ der Einheit ist, d. h. ein Sich-Trennen des Absoluten selbst. Dies bringt ihn zum kabbalistisch-theosophischen Begriff der ›Contraction‹ Gottes 49, der die Anwesenden ziemlich bestürzte. Von nun an wird die Freiheit sich auf diese ›Herablassung‹ Gottes beziehen: Ihr Abgrund bleibt im Kern des Absoluten.

1.3.1. Das vorausgesetzte Absolute Schelling beginnt die Vorlesungen mit einer methodischen Erklärung: Er wird kein System erfinden, sondern es lediglich finden. Das ›System der Welt‹ ist schon gegeben, der Philosoph soll es nur darstellen. Diese Aussage klingt wie eine starke Stellungnahme gegen alle bisher ›erfundenen‹ Systeme, deren Prinzip von ihrem Autor selbst ersonnen wurde: Indessen ist das Prinzip des schellingschen Systems das Absolute, »das sich selbst trägt, das in sich und durch sich selbst besteht, das sich selbst in jedem Teil des Ganzen reproduziert« (AA II,8, 68) das insbesondere schon gegeben ist. Vor seiner eigenen Darstellung des Absoluten hebt Schelling die unabhängige Gegebenheit, quasi das Vorhandensein dieses Urwesens hervor: Das Absolute, Prinzip aller Philosophie, geht der menschlichen Vernunft und ihren Konstrukten als Voraussetzung nicht nur des Denkens, sondern auch der Wirklichkeit voraus: Das Universum ist für Schelling »Manifestation des Absoluten« und die Philosophie »geistige Darstellung des Universums, […] Manifestation, d. h. fortgehende Erweisung Gottes« (AA II,8, 74). Diese Aussage Schellings stellt ferner eine teilweise polemische Unterscheidung zwischen seiner Philosophie und der Theologie fest, die Gott »als ein besonderes Objekt« betrachtet: Schelling ist dagegen überzeugt, dass Gott am Anfang und 48 49

Vgl. Trytten 2012, 91–152. Vgl. Dörendahl 2011, 199–218 und auch Dörendahl 2012, 218–245; Brown 1977.

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Stuttgarter Privatvorlesungen, »ein besonderer Beobachtungsposten«

nicht am Ende des Erkenntnisprozesses steht, eben als ›Erklärungsgrund aller Dinge‹. Er bringt keinen Beweis dieses vorangehenden Begriffes Gottes vor: Das völlige Anders-Sein des Absoluten bleibt eine unbestrittene Eigenschaft des Prinzips in dieser Phase seines Denkens und wird zum Eigensten seines Systems. Das Absolute ist nicht das Ergebnis, sondern die Möglichkeitsbedingung der Philosophie sowie der Welt: Es kann begriffen werden – danach strebt Schelling – aber es entzieht sich jeder Art von Beweisführung, da es kein ›Objekt‹ wie die anderen Dinge ist. Wie ist dann unter diesen Voraussetzungen die Erkenntnis des Absoluten selbst möglich? Schelling gibt keine bestimmte Antwort darauf, die Vorlesungen scheinen aber diese Bedingungen zu erfüllen: Schelling unternimmt in der Tat den Versuch, eine Darstellung des schon gegebenen Absoluten zu liefern, ohne aber seine Existenz zu beweisen. Ist dies nicht ein Widerspruch? Wenn man aber die Existenz des Absoluten beweisen wollte, würde das bedeuten, dass das Absolute selbst von der menschlichen Erkenntniskraft abhängig wäre: Schelling dagegen behauptet, dass das Absolute gewissermaßen die Bedingung jeder Erkenntnisart, sowie der wirklichen Welt ist, weil es Prinzip, Anfang ist. Der ontologische Zustand des Absoluten ist eben absolut, d. h. durch nichts bedingt, und nur auf diese einzige Weise kann die menschliche Erkenntnis erfassen, als notwendige Voraussetzung jedweder Systemdarstellung. Der Versuch Schellings muss daher aus dieser Perspektive und im Ganzen betrachtet werden: In den Stuttgarter Privatvorlesungen liefert er eine Darstellung, eine quasi phänomenologische Beschreibung des Absoluten selbst. Das Absolute zu beschreiben bedeutet: Den Anfang, das Prinzip und seine ontologische Dynamik darzustellen. Dies wird nur möglich, weil das Absolute sich schon aus sich selbst ergibt und nicht dank der menschlichen Vernunft. Schelling hat schon im Incipit der Vorlesungen klargestellt: Sein System ist kein ›Schulsystem‹, dessen Prinzip vom Urheber selbst erfunden wird, dagegen setzt er sich in das ›zu-findende‹ System selbst und nicht ihm gegenüber. Das Subjekt-Objekt Verhältnis ändert sich, insofern das Subjekt das Objekt (in diesem Fall: das Absolute) nicht konstruiert, sondern seiner Natur nach darstellt. In dieser Perspektive nennt Schelling drei Weisen, auf die das Prinzip ausgedrückt werden kann: a) Prinzip der absoluten Einheit schlechthin, d. h. eine organische Einheit aller Dinge; b) absolute Identität des Realen und Idealen; c) das Absolute oder Gott. Auch diese drei ›Definitionen‹ des Prinzips betonen mehrfach immer die43 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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selbe Tatsache, die schon durch die methodische Erklärung hervorgehoben wurde: Das Absolute gilt für Schelling als allumfassender Begriff, der die ganze Wirklichkeit (in seiner realen und idealen Form) einschließt, und es repräsentiert den einzigen möglichen Anfangspunkt des Systems. Nach diesen ersten Bestimmungen führt Schelling den wirklich problematischen Punkt der Vorlesungen ein: ›Wir gehen nun von dem Satz aus: das Urwesen ist notwendig und seiner Natur nach absolute Identität des Realen und des Idealen. Mit diesem Satz ist aber noch nichts gesagt: wir haben bloß den Begriff des Urwesens, aber wir haben es noch nicht als ein aktuelles, wirkliches Wesen‹. Schelling möchte, dass das Absolute ›objektiv‹ begriffen wird: »[E]s muss als solche sich offenbaren, sich aktualisieren« (AA II,8, 76): Ein Übergang von Begrifflichkeit zur Realität des Absoluten wird von Schelling gefordert und dieser könne nur geschehen, wenn das Absolute selbst sich wirklich manifestiere. Die hier angegebene Modalität des Übergangs ist dem Schelling-Leser bekannt: »Nun kann aber alles nur in seinem Gegenteil offenbar werden«.

1.3.2. Die Trennung Einer der Leitbegriffe des mittleren und späten Schelling ist der im Absoluten sich vollziehende Kontrast oder Streit. Diese Dynamik wird hier in einer noch sehr idealistischen Sprache entfaltet, so dass man Gefahr laufen könnte, die ontologische Struktur, die hier dem Absoluten verliehen wird, aus den Augen zu verlieren. Das Absolute ist mit Gott gleichgesetzt: Es sollte nicht vergessen werden, dass der Versuch Schellings darin besteht, eine lebendige Gestalt Gottes zu begreifen und darzustellen. Die ›Wirklichkeit‹ des Absoluten (ein wiederkehrender Ausdruck), die diese Vorlesungen begreifbar machen möchten, ist das Ziel der komplizierten und nicht immer linearen Bewegungen des Denkens Schellings und darf eben als Ziel nicht aus den Augen verloren werden. Schelling behauptet, dass die Bedingung dafür, dass das Absolute sich manifestieren kann, in einer Trennung besteht, einer Differenz, die im Absoluten selbst gesetzt werden muss – nach dem oben zitierten Gesetz ›Alles wird nur in seinem Gegenteil offenbar‹. Das Absolute muss deshalb diesem Gesetz nach seine Einheit ›doublieren‹ oder ›steigern‹, um die Wirklichkeit zu erreichen. Schelling schließt eine 44 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Stuttgarter Privatvorlesungen, »ein besonderer Beobachtungsposten«

Aufhebung der ursprünglichen Identität explizit aus: Die beiden aus der Trennung sich ergebenden Prinzipien müssen im Absoluten verbleiben, indem die Differenz gesetzt wird, »gleichwohl die Einheit des Wesens besteht«, also »an sich ist das Urwesen immer Einheit – Einheit des Gegensatzes und der Entzweiung« (AA II,8, 80). Schelling ist sich der Widersprüchlichkeit einer solchen Theorie bewusst und versucht daher, den Widerspruch einer ›getrennten Einheit‹ durch das folgende Prinzip zu erklären: Das Urwesen bleibt in jedem der ›Geschiedenen‹ das Ganze, d. h. es setzt sich in ihnen als es selbst, als Ganzes, damit wird das Band zwischen beiden Prinzipien nicht aufgehoben. Mit dieser Theorie ist aber das Niveau der ›reellen Unterschiedenheit‹ noch nicht erreicht, wir befinden uns noch im Rahmen der bloßen Begrifflichkeit. Das relativ neue Ziel Schellings scheint es jedoch (wie ein Jahr zuvor), die lebendige Form, die wirkliche Manifestation des Absoluten zu erreichen: Die Mühen dieses Textes streben alle danach, die Grenzen der reinen Begrifflichkeit zu überwinden; in den Stuttgarter Privatvorlesungen ist das Mittel dazu die Theorie der Potenzen, um die Lebendigkeit des Absoluten herauszuarbeiten. Der im Urwesen gesetzten Trennung entstammen zwei Denk-Figuren, die Schelling ›das Sein‹ und die ›Position des Seins‹ nennt. Damit wird die Idee einer ursprünglichen Positivität des Urwesens ausgedrückt, da das Sein schon ein positus ist, ist folglich die Position des Seins eine Position der Position. Die Position ist immer Position von etwas, so dass die zwei Potenzen ›kraft des unauflöslichen Bandes‹ immer zusammengesetzt wurden: Diese absolute Einheit wird durch die dritte Potenz dargestellt. Das Sein ist das Reale, während die Position des Seins das Ideale ist: Die Priorität der ersten gegenüber der zweiten Potenz wurde bis dahin nur ideal oder begrifflich gesetzt in dem Sinne, dass das Reale dem Idealen ›der Idee nach‹ 50 vorangeht. Hingegen fragt sich nun Schelling, »wie gelangen wir zur Wirklichkeit derselben [der Differenzierung]?«: Bisher wurde nur die Möglichkeit einer solchen Trennung in Gott dargestellt; Schelling möchte aber eine realere Beschreibung dieser Dynamik herausarbeiten: Aus diesem Grund versucht er die Urgeschichte Gottes mit der mathematischen Sprache der Potenzen wiederzugeben, was im Folgejahr in den mythischen Erzählungen in Die Weltalter auf völlig neue Weise umgesetzt wird. 50

Schelling 2016, 11.

45 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

1 · Die Verwandlung des Grundes: Der unbegründete Grund bei Schelling

Der Übergang von der Theorie zur realen Dynamik des Urwesens wird abermals auf den Willen (Gottes) zurückgeführt; wie in der Freiheitsschrift ereignet sich der Prozess der Potenzen mittels des (göttlichen) Willens, der sich als Anfangspunkt der gesamten Wirklichkeit (die Wirklichkeit Gottes inbegriffen) zeigt: »Will also das Urwesen die Entzweiung der Potenzen, […] es muss sich selbst freiwillig auf die erste einschränken, die Simultaneitat der Prinzipien, so wie ursprünglich in ihm ist, aufheben« (AA II,8, 84). Die Verbindung zwischen den Potenzen wird aufgehoben, damit die erste Potenz wirklich gesetzt werden und die ursprüngliche Indifferenz in Gott in eine Verkettung der Potenzen verwandelt werden kann. In derselben Bewegung ereignet sich auch die Entstehung der Zeit, die vorher nur ›implicite‹ in Gott lag: Die Entstehung der Zeit ist direkt mit der Dynamik der Potenzen und besonders mit der ›Einschränkung‹ Gottes auf die erste Potenz verbunden. Da die Natur Gottes allen Potenzen entspricht, verursacht die Beschränkung auf nur eine Potenz (die Erste) »ein Fortschreiten von der ersten zur zweiten, und damit eine Zeit. Die Potenzen sind nun zugleich als Perioden der Selbstoffenbarung Gottes gesetzt« (AA II,8, 84). Die Wirklichkeit des Urwesens besteht vor allem in einer Selbstoffenbarung, nicht aber einer erzwungenen, sondern einer freien: Schelling hält die Fähigkeit, sich einzuschränken für »die höchste Kraft und Vollkommenheit […] die eigentliche Originalität, die Wurzelkraft« eines Wesens, weil »Kontraktion ist der Anfang aller Realität« (AA II,8, 86). Die Umrisse einer ›lebendigen‹ Konzeption des Absoluten sind auf diese Weise festgelegt, Schelling wird die folgenden Vorlesungen nutzen, um diese Dynamik immer grundlegender zu gestalten und erklären. Vor allem scheint der kabbalistische Begriff der Kontraktion Gottes besonders wichtig für die Charakterisierung des Absoluten.

1.3.3. Die freiwillige Herablassung Gottes: Anmerkungen zur ontologischen Freiheit Schelling widmet der Erklärung des befremdenden Ausdrucks der ›Kontraktion Gottes‹ viel Raum, deshalb kann man vermuten, dass seine Theorie eines sich einschränkenden Gottes seine Zuhörer ziemlich desorientiert zurückließ. Was Schelling zuerst klarstellt, ist die nicht zu füllende Distanz zwischen seiner Konzeption des Absoluten und derjenigen »der sogenannten Vernunftreligion und aller abstrak46 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Stuttgarter Privatvorlesungen, »ein besonderer Beobachtungsposten«

ten Systeme« (AA II,8, 94): Wer eine statische, unveränderliche Idee Gottes hat, kann den von Schelling dargestellten Begriff des Urwesens nicht verstehen. Die von Schelling geforderte Denkbewegung geht in eine der klassischen Metaphysik entgegensetzte Richtung, weil »je mehr wir diesen Begriff von Gott hinaufschrauben, desto mehr verliert Gott für uns an Lebendigkeit, desto weniger ist er als ein wirkliches, persönliches, […] lebendes Wesen zu begreifen« (AA II,8, 94). Schelling denkt Gott aus der »größten Analogie« mit dem menschlichen Leben, nämlich als ein sich vollziehendes, »ewiges Werden« (AA II,8, 94), das sich völlig dem Begriff einer auf ewig determinierten, verschlossenen Substanz entgegensetzt. Nach dieser wichtigen Klarstellung nimmt Schelling die Charakterisierung der zwei Prinzipien des Absoluten durch verschiedene Metaphern wieder auf: Auf diese Weise erklärt er den Begriff der Kontraktion indirekt durch die Beschreibung der Folgen jener erwähnten Herablassung, d. h. durch die Bestimmung der zwei aus der Kontraktion stammenden Prinzipien. Vor deren Erörterung muss aber ein entscheidendes Element der schellingschen Konzeption des Urwesens hervorgehoben werden, nämlich der freie Charakter der Herablassung Gottes auf die erste Potenz. Die Dynamik der Prinzipien und ihrer Differenzierung hängt vom Willen Gottes ab, wie Schelling ausführt: »Dieser Akt der Einschränkung oder Herablassung Gottes ist freiwillig. Es gibt also keinen Erklärungsgrund der Welt als die Freiheit Gottes« (AA II,8, 86). Auf diese Weise bleiben die Freiheit und ihr Abgrund im Kern des Absoluten als seine prägendste ontologische Bestimmung, die Freiheit gilt tatsächlich als absoluter Anfang nicht nur der Weltschöpfung sondern des Werdens Gottes selbst. Die Absolutheit der ursprünglichen Freiheit ist so unbedingt, dass sie einer absoluten Notwendigkeit entspricht, »denn von einer Handlung der absoluten Freiheit lässt sich kein weiterer Grund angeben, sie ist so, weil sie so ist, d. h. sie ist schlechthin und insofern notwendig« (AA II,8, 86 f.). Wenn die Freiheit Gottes einen Grund oder ein Ziel außer sich hätte, wäre sie keine ab-solute Freiheit: Die Freiheit Gottes ist demnach keine Wahlfreiheit (zwischen Gut und Böse zum Beispiel) sondern eine viel ursprünglichere Freiheit, deren Ent-scheidung zugleich ontologischer Anfang ist. Aus dieser Perspektive könnte vielleicht der von Schelling geforderte Übergang zur Wirklichkeit besser erfasst werden: Die Wirklichkeit, zu der Gott gelangen soll, soll in einem bestimmten Sinn verstanden werden, d. h. als Wirklichkeit Gottes selbst. Wenn 47 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

1 · Die Verwandlung des Grundes: Der unbegründete Grund bei Schelling

Gott sich freiwillig auf die erste Potenz einschränkt, wird die Dynamik der Potenzen oder des Absoluten selbst ausgelöst: 51 Dadurch wird auch die Offenbarung herbeigeführt, aber die erste und wichtigste Wirkung der Freiheit Gottes besteht darin, dass Er selbst gewissermaßen ›lebendig‹ wird. Dies könnte jene ›wirkliche‹ Darstellung des Absoluten sein, auf die die Versuche Schellings gerichtet sind, andernfalls wäre die Aussage schwer verständlich. Die Wirklichkeit des Absoluten bedeutet seine Lebendigkeit, die der freiwilligen ›Kontraktion‹ Gottes entstammt. Das Band zwischen Lebendigkeit und Freiheit scheint für Schelling besonders wichtig und zeigt die Besonderheit seines Systems, die es von den anderen ›Schulsystemen‹ unterscheidet, weil eben dieses Band dem Absoluten eine völlig andere (›wirkliche‹) Natur verleiht. Das Anderssein des Absoluten, immer wieder seit Philosophie und Religion betont, findet hier eine positive Bestimmung auf noch deutlichere Weise vielleicht als in der Freiheitsschrift: Die allererste Handlung Gottes ist tatsächlich – positiv ausgedrückt – ein Sich-selbst-machen, Anfang, Personalisierung Gottes, deren Form eine Herablassung ist. Die Göttlichkeit des Gottes Schellings ereignet sich durch eine von der Freiheit entfesselte Bewegung von oben herab, von der Indifferenz der Dualität in Ihm zu der Trennung der Prinzipien (»ohne Gegensatz kein Leben« (AA II,8, 98): »Die wahre Realität Gottes besteht eben in der Tätigkeit und der Wechselwirkung dieser beiden Prinzipien« (AA II,8, 108). Die Scheidung der Prinzipien zielt hier auf dieselbe schon in der Freiheitsschrift gezeigte Grundstruktur ab, d. h. auf die Setzung eines Grundes in Gott, weil Gott selbst existieren muss: »[E]r muss als Wesen aller Wesen einen Halt, ein Fundament für sich haben. […] dieses allgemeine Wesen schwebt nicht in der Luft, sondern ist begründet« (AA II,8, 106). Die ›Begründung‹ Gottes kann nur durch die Macht seiner abgründigen Freiheit geschehen: Auf diese Weise scheint das von Schelling gedachte Urwesen die Ähnlichkeit mit jeder anderen idealistischen (und ›klassischen‹) Darstellung des Absoluten aufzugeben. Gott begründet sich gewiss durch sich selbst, nicht aber durch die abstrakte, leere Logik eines motor immotus oder primus movens; Schelling wagt es, die Wirklichkeit, die Lebendigkeit des Absoluten zu denken und konzipiert zu diesem Zweck die ›Systematik‹ eines werdenden Gottes, der sich durch Freiheit trennt, um selbst wirklich 51

Vgl. Augusto 2010a, 177 f.

48 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Stuttgarter Privatvorlesungen, »ein besonderer Beobachtungsposten«

zu werden. Die ontologische Macht der Freiheit wird hier ausdrücklich gedacht und verändert die Konzeption des Absoluten auf eine irreversible Weise. Das Absolute wird nicht mehr als eine unerschütterliche Monade betrachtet, sondern als ein lebendiges Urwesen, dessen Absolutheit in dem Abgrund der Freiheit gründet. Dank der Freiheit wird Gott ›der Allmächtige‹ schlechthin, im Sinne von Derjenige, der alles absolut kann, die absolute Potenz zu sein, zu werden – oder nicht zu sein. Statt des Seins macht die Freiheit das ureigenste Wesen Gottes aus, weil sie dem Werden und dem wirklichen Sein Gottes ontologisch vorangeht und diese tatsächlich ermöglicht: Gott ist das einzige Wesen, das sich entscheidet, zum Sein zu kommen.

1.3.4. Sein, Seiendes, Nichtseiendes: das Verhältnis zwischen Gott, Natur und Mensch Nach der Klärung bezüglich des Ursprungs der Dualität kann nun die Charakterisierung der zwei Prinzipien in Betracht gezogen werden: Schelling denkt den Grund-Unterschied zwischen den zwei Elementen, die die Natur des Urwesens ausmachen, als die Auseinandersetzung zwischen einem positiven und einem negativen Element. Um diese Polarität zu beschreiben, verwendet Schelling verschiedene Ausdrücke und Metaphern die folgendermaßen schematisch erfasst werden können: Reales Dunkelheit Bewusstloses Sein Nichtseiendes Negativ Selbstheit, Egoismus Erste Potenz Potentieller Gott

Ideales Licht Bewusstes Seiendes Seiendes Positiv Liebe Zweite Potenz Aktueller Gott

Eine besondere Aufmerksamkeit soll der Triade Sein-NichtseiendesSeiendes gewidmet werden, weil sie besser als die anderen Polarisierungen den fundamentalen Charakter der von Schelling bestimmten Dualität darstellt: Sein und Nichtseiendes sind in der Tat Synonyme für das negative Element und stellen sich gegen das positive Element, 49 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

1 · Die Verwandlung des Grundes: Der unbegründete Grund bei Schelling

d. h. das Seiende. Schelling warnt aber gleichzeitig davor: »Eben das Wesen des Nichtseienden zu erforschen, darin liegt eigentlich das Schwere, das Kreuz aller Philosophie. Wir greifen ewig danach und vermögen nicht es fest zu halten« (AA II,8, 100). Schelling ist überzeugt, dass aus einem Missverständnis dieses Begriffes die Vorstellung einer aus dem Nichts entstandenen Schöpfung erwachsen ist: Um eben dieses Missverständnis zu vermeiden, unterscheidet Schelling zwischen Nichts und Nichtseiendem. In den Begriff des Nichtseienden fallen auch die griechischen Bestimmungen des οὐκ ὄν sowie des neutestamentlichen μὴ φαινόμενα, die auf jeden Fall etwas Seiendes ausdrücken. Das bloße Nichts existiert nicht, und wenn es existiert, muss es sich durch ein Seiendes manifestieren: »Alles Nichtseiende ist nur relativ […], aber es hat in sich selbst doch auch wieder ein Seiendes« (AA II,8, 102). Das schellingsche Gesetz »Alles kann nur in seinem Gegenteil offenbar werden« bleibt immer im Hintergrund bestehen. Was aber ist die Rolle eines in Gott gesetzten und wirkenden Nichtseienden? Nur wenn man auf die von Schelling geforderte ›Begründung Gottes‹ zurückgreift, kann die Position dieses gewagten Elements verstanden werden: »[N]ämlich es verhält sich zu ihm [zu Gott] ursprünglich bloß als Unterlage, als das, was nicht selber Ist, was bloß ist, um dem wahren Seienden als Basis zu dienen« (AA II,8, 102). Gott, wie schon erwähnt, benötigt eine Basis, um sich selbst zu begründen, so dass das Nichtseiende, das ebenso Sein genannt werden kann, die Position des Grundes der Existenz Gottes bekleidet. ›Sein‹ soll hier in seiner Unterschiedlichkeit zu dem Ausdruck ›Seiendes‹ begriffen werden, ansonsten könnte der Leser einem Irrtum erliegen: Sein bedeutet für Schelling etwas, das nur als Grund, Materie, Basis dient, damit ein Anderes wirklich existiert; das Sein, in diesem Sinn, drückt einen Mangel im Vergleich zum Seienden aus – eben ein Sein, das nicht seiend werden kann. Das Verhältnis zwischen Sein und Seiendem (im Sinne Schellings) muss immer als Entgegensetzung von zwei Gegenteilen gelesen werden: Aus diesem Grund erhält hier das negative Element – eben dank seiner negativen Funktion (Basis, Grund für etwas anderes) – eine grundsätzliche, positive Konnotation, weil es gesetzt (positum) werden muss, damit das seiende Positive existiert. Das Negative (Sein) fungiert hier als Bedingung für die reale Existenz des Positiven (Seiendes): Seine Negativität betrifft nur seine Funktion als Grund, als Bedingung, nicht sein Wesen – in dieser Hinsicht kann Schelling die ›Existenz‹ des Nichtseienden oder die ne50 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Stuttgarter Privatvorlesungen, »ein besonderer Beobachtungsposten«

gative Funktion des Seins behaupten. Wenn alles positiv bestimmt wäre, würde das Positive auf keinen Fall gesehen und erkannt werden können: Das Licht offenbart sich nur vor dem Hintergrund der Dunkelheit, um eine der Metaphern Schellings zu gebrauchen. Auf diese Weise wird die problematische Positivität des Negativen von Schelling gedacht und eben als unentbehrliches Element der Dynamik des Absoluten oder Gottes: Gott ist das lebendige Band der zwei Pole, so dass beide als solche (negativ und positiv) in der Dynamik bleiben müssen und keiner von ihnen aufgehoben werden kann: Sehen wir auf das Band zwischen beiden, so ist dieses nicht bloß göttlich, sondern ist Gott; aber es ist nicht Gott schlechthin betrachtet, sondern es ist der in dem Nichtseiendem erzeugte Gott, dessen Erzeuger eben der schlechthin betrachtete oder der seiende Gott ist. […] es ist Gott als Erzeugtes von sich selbst, Gott als Sohn […]. Dieses Band heißt sehr expressiv das Wort (AA II,8, 112)

Der trinitarische Hintergrund ist hier wie in der Freiheitsschrift noch deutlich zu erkennen und man kann mit Recht (wenn nicht mit Sicherheit) vermuten, dass der biblische dreieinige Gott als Vorbild für die hier verlangte Darstellung einer Lebendigkeit Gottes oder eines lebendigen Gottes dient, wie im Übrigen die oben zitierten Wörter (der Sohn, das Wort) deutlich machen. 52 In dieser inneren Polarisierung des Urwesens wird der Natur ein besonderer Platz zugeschrieben: »Sie [die Natur] ist das göttliche Wesen…im Nichtseienden dargestellt« (AA II,8, 110). Wenn die Einschränkung oder die Scheidung Gottes sich ereignet, wird ein Prinzip über das andere erhoben, so dass die Schöpfung beginnen kann: In diesem Sinn sind die sichtbare Natur und die erste Potenz dasselbe, bzw. die Natur ist die äußere Form der ersten Potenz, d. h. der Einschränkung Gottes. In der Natur und in ihren Prozessen spiegelt sich die Grundstruktur der drei Potenzen ab durch ein kontinuierliches Emporheben vom Niederen zum Höheren: »In allen diesen Prozessen wird also aus der Tiefe der Materie selbst das Geistige entwickelt, was eben Absicht aller Schöpfung« (AA II,8, 126). Die diversen Prozesse der Natur werden in dieser Hinsicht von Schelling erläutert und erreichen im Menschen den Gipfel: Das Bewusstlose wird im Menschen bewusst, das natura sua Seiende wird schließlich erreicht als der aus Vgl. WA I, 70: »Ich bekenne nicht ungern, dass kein menschliches Buch noch irgend ein anderes Mittel meine Ansichten so gefordert, als die stille Anregung jener Schriften.«.

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51 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

1 · Die Verwandlung des Grundes: Der unbegründete Grund bei Schelling

dem Nichtseienden erhobene Geist (»aber unter der Potenz des B [des Nichtseienden]« (AA II,8, 142)), der sich zur Natur wie das Subjektive zum Objektiven verhält. Mit seinem besonderen und einzigartigen Zustand erlangt der Mensch »eine ganz eigentümliche Freiheit« (AA II,8, 138): Er ist nämlich aus dem Nichtseienden emporgehoben, aus jenem Nichtseienden, das ursprünglich als Grund des Werdens Gottes fungiert; deshalb »hat er [der Mensch] eine von dem Seienden als solchem [d. h. von Gott] unabhängige Wurzel« (AA II,8, 138), eben im Nichtseienden, aber er ist auch von der Natur selbst frei, weil in ihm ›das Göttliche‹ entstanden ist. Auf diese Weise erhält der Mensch den einzigen, möglichen Platz zwischen Gott und Natur zusammen mit der Möglichkeit, die Verklärung des Natürlichen durch das Göttliche zu unterbrechen, indem er »in sich das zur relativen Untätigkeit bestimmte (das natürliche, eigne) Prinzip aktivierte« (AA II,8, 140): Das zur Tätigkeit erweckte Nichtseiende manifestiert sich in der Welt als das Böse. Der Mensch ist nicht fähig sich einzuschränken: Dagegen erhebt er sein relativ Nichtseiendes zum Seienden und verdrängt damit die Entstehung des wahren Seienden. Eine Bemerkung Schellings zwischen diesen nicht immer problemlosen Überlegungen führt aber zu einem der wichtigsten Punkte für unsere Betrachtung: Sie sehen, wie sich und der Grundsatz, dass in Gott selbst etwas sein muss, das nicht Er selber ist, hier auf diese Stufe der Betrachtung wiederum als ein ganz notwendiger aufdrängt. Es ist anstößig auf den ersten Blick, besonders bei den herrschenden abstrakten Begriffen der sogenannten Vernunftreligion, aber er ist unvermeidlich, wenn Freiheit behauptet werden soll. (AA II,8, 140)

Diese an die Zuhörer gewandte Bemerkung hebt zwei wichtige Punkte hervor, zum Einen: Wenn über reale Freiheit gesprochen werden soll, muss der befremdende Begriff des Grundes Gottes gesetzt werden, sonst wird es auf keinen Fall möglich, ein lebendiges Absolutes oder Urwesen oder einen lebendigen Gott zu denken; zum anderen, die Freiheit wird erneut begriffen als etwas, das die Lebendigkeit des Absoluten ausmacht, d. h., als seine prägendste ontologische Bestimmung. Die von der Freiheitsschrift hinterlassene Spur ist hier zweifelsfrei deutlich. Die Stuttgarter Privatvorlesungen repräsentieren einen weiteren und wichtigen Schritt im Prozess der Veränderung des Begriffes des absoluten Anfangs: Verglichen mit der Freiheitsschrift ändern sich 52 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Stuttgarter Privatvorlesungen, »ein besonderer Beobachtungsposten«

die Form und der Stil: Die dunklen Töne der 1809 erschienenen Abhandlung scheinen vergessen zu sein wie auch die prägenden theosophischen Einflüsse; 53 hier wird offensichtlich noch ein System oder zumindest eine Systematik gesucht (die letzten Teile über Staat und Religion, die hier nicht in Betracht gezogen wurden, sind ein weiterer Beleg dafür), aber eben aus diesem Grund wird die Veränderung des Absoluten noch deutlicher in den Vordergrund geschoben, weil vom Absoluten und von seiner Form das ganze System abhängt. Das Absolute wird von der Freiheit ontologisch bestimmt und geprägt: Die Unterscheidung zwischen Grund und Existenz offenbart sich hier durch ihre direkten Folgen, nämlich erstens die Forderung einer eher systematischeren ›Begründung‹ Gottes selbst, um seiner Lebendigkeit eine Gestalt zu geben; zweitens, diese Begründung ereignet sich nur durch die ontologische Macht der Freiheit, die als solche gesetzt und gedacht werden muss; drittens, die Positivität des Negativen, das sich als wirkendes und unentbehrliches Element der von der Freiheit entfesselten Dynamik manifestiert. Um einen lebendigen Gott zu denken, versucht Schelling, Gott oder den Anfang durch seine eigene Freiheit zu begründen: Was aber den Gedanken Schellings von den klassischen metaphysischen Begriffen Gottes wesentlich unterscheidet, besteht darin, dass die Freiheit Gottes in ihrer ontologischen, ab-gründlichen Macht gedacht ist. Gott hat sich entschieden, sich einzuschränken (um die Sprache der Stuttgarter Privatvorlesungen zu benutzen), aber potentiell könnte er sich auch entscheiden, in seinem vollendeten, absoluten, verschlossenen Urzustand zu bleiben und sich nicht zu offenbaren. Die Versicherung der Existenz Gottes kann allein von Ihm selbst abhängen: Damit dieses Denken nicht auf den Abweg eines auf ewig determinierten, durch Notwendigkeit gezwungenen und im Grunde toten Gottes gerät, denkt Schelling die Freiheit als jene einzige Eigenheit Gottes, die aufgrund ihrer ontologischen Abgründlichkeit und Unabhängigkeit Ihm Lebendigkeit verleihen kann, weil sie etwas ist, das von Gott selbst nicht völlig aufgenommen wird; ein nie aufgehender Rest bleibt zwischen Gott und der Freiheit, da diese Letzte potentiell ihr Gegenteil immer mit sich bringt. Die Schwierigkeit, diese Gedanken zu systematisieren und genauer zu bestimmen, wird Schelling schon im folgenden Jahr zu einer Vgl. Dörendahl 2011, 46–60; s. auch Brown 1977; Vieillard-Baron 1999 und 2010; Vetö 1999; Marquet 2010.

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radikalen Veränderung seines philosophischen Stils führen. Er konzipiert den Urzustand Gottes nicht mehr als das Absolute, Prinzip eines Systems, sondern als eine Urgeschichte, die infolgedessen erzählt werden soll.

1.4. Die Weltalter (1811–1815/1817) 54 Die Welt ist nicht ein Räthsel, dessen Auflösung mit Einem Wort gegeben werden könnte, Ihre Geschichte zu umständlich, um auf ein paar kurze abgebrochene Sätze, gleichsam, wie einige zu wünschen scheinen, auf ein Blatt Papier gebracht zu Werden. (SW VIII, 208)

Die Geschichte der Entstehung der Weltalter ist in jeder Hinsicht bewegt: Die ›Unvollendete‹ oder ›la haute ruine‹ 55 der schellingschen Philosophie, besteht aus drei Versionen oder besser drei Fragmenten, deren unterschiedliche Fassungen fast ein Jahrzehnt beanspruchten. Schelling versprach seinem Verleger Cotta vieles 56 bezüglich dieses Werkes, konnte aber sehr wenig davon einhalten. Dank der ausführlichen Analysen Horst Fuhrmans’ 57 und Xavier Tilliettes 58 kann man die schwierige Entstehungsgeschichte dieses Werkes durch alle ihren geistigen und konkreten Widrigkeiten verfolgen. 59 Der Methode dieser Arbeit gemäß wird hier lediglich der Versuch unternommen, die Entwicklung der Begriffe dieses unvollendeten Werkes hervorzuheben: Die im Laufe der Jahre 1804–1810 veränderte Konzeption des Absoluten wird erstmals in Die Weltalter auf eine mythische Erzählung der Urgeschichte Gottes 60 (d. h. des göttlichen Werdens) ge-

Diese Datierung des dritten WA-Fragments bezieht sich auf die generelle Annahme von Forschern, dass dieses Fragment 1815 entstanden ist, und besonders auf die von X. Tilliette angestellte Vermutung, dass das dritte WA-Fragment gegen 1816/17 verfasst wurde (vgl. Tilliette 1999, 219–235). Vincenzo Cicero, der italienische Übersetzter des Werks, weist auch auf diese Datierung hin. 55 Tilliette 1992a, Bd. I, 581. 56 Vgl. Schelling-Cotta, Briefwechsel 1803–1849. Hrsg. von H. Fuhrmans. Stuttgart 1965. 57 Vgl. Fuhrmans 1954. 58 Vgl. Tilliette 1992a, Bd. I, 581–614. 59 Bezüglich der Entstehung- sowie der Rezeptionsgeschichte vgl. auch Lanfranconi 1992, 59–114. 60 Über die verschiedenen Gründe, die Schelling zum literarischen Stil der Weltalter 54

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Die Weltalter (1811–1815/1817)

wissermaßen ›übertragen‹, so dass die Begriffe der Ontologie Schellings in der neuen, nicht systematischen Form seiner Reflexion teilweise im Verborgenen bleiben. Diesbezüglich schrieb Harald Holz: ›Es sollte sich in der Form – und zwar sowohl der Sprache wie auch der eigentlich begrifflichen Darstellung nach – erklärtermaßen um eine Popularphilosophie handeln, die aber dem eigentlichen Gehalt nach gleichwohl die zentralsten und tiefsten Ideen behandeln sollte, die er in diesem Zeitraum sich zum Thema gewählt hatte‹. 61 Wenn man aber sich die Entwicklung seiner Philosophie schon seit 1804 vor Augen hält, wird es möglich, eine Vertiefung einiger Aspekte jener Wandlung des Begriffes des absoluten Anfangs auch in diesem problematischen, bruchstückhaften Werk zu entdecken.

1.4.1. ›Das Gewußte wird erzählt‹ : Geschichte und Dialektik Trotz der zwanzig Versuche, 62 die Einleitung des Werkes in einer definitiven Version zu verfassen, bleiben die ersten zwei Sätze in allen Fassungen der Weltalter unverändert: ›Das Vergangene wird gewusst, das Gegenwärtige wird erkannt, das Zukünftige wird geahndet. Das Gewusste wird erzählt, das Erkannte wird dargestellt, das Geahndete wird geweissagt‹. Ein Parallelismus wird zwischen Wissen und Erzählung, Erkennen und Darstellung, Ahnen und Weissagung erzeugt als eine Art von Methode für die Entwicklung des Werkes. Der Inhalt dieser programmatischen Einleitung stand für Schelling vermutlich fest, da die drei Einleitungen wenig unterschiedlich sind und auf jeden Fall nur in Bezug auf die formale Komposition des Textes: Die oben zitierten Parallelismen lassen verstehen, dass der Ton der philosophischen Darstellung sich ändern muss, um zur Wahrheit zu gelangen. ›Die bisher geltende Vorstellung von der Wissenschaft war, dass sie eine bloße Folge eigener Begriffe und Gedanken sey. Die wahre Vorstellung ist, dass es die Entwicklung eines lebendigen, wirklichen Wesens ist, die in ihr sich darstellt‹ (SW VIII, 199): Der Punkt, auf dem Schelling beharrt, besteht immer darin, dass die Philosophie keiführten, berichtete ausführlich Oesterreich 1996, 89–104. S. auch Oesterreich 1984, 131–163 und Maesschalck 1990. 61 Vgl. Holz 1975, 108. 62 Vgl. Tilliette 1985, 161.

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1 · Die Verwandlung des Grundes: Der unbegründete Grund bei Schelling

ne reine Folge von abstrakten Begriffen sein darf, sondern die Darstellung eines lebendigen Urwesens sein muss. Der in den Stuttgarter Privatvorlesungen unternommene Versuch, diese Darstellung durch eine immer noch systematisch-idealistische Sprache zu vermitteln, hatte Schelling wahrscheinlich nicht überzeugt. Der Gedanke, der sich im Gebäude der Weltalter versteckt, könnte hingegen so formuliert werden: Das Werden eines Lebendigen kann nicht durch leere Begriffe beschrieben werden, sondern es kann nur erzählt werden, so dass es sich als Geschichte manifestieren kann. Da die Grenzen zwischen Philosophie, Theosophie und Poesie aus diesem Grund im Text verschwinden, erweist sich dem Leser das Verstehen als ausgesprochen schwer; aber die verschiedenen spätromantischen Einflüsse sollten nicht vergessen werden, wie Horst Fuhrmans in aller Ausführlichkeit schon vor langer Zeit hervorgehoben hat. 63 Außerdem war Schelling das Gespenst der hegelianischen Philosophie (das Meisterwerk Hegels, die Wissenschaft der Logik, erschien gerade während der mühsamen Jahre der Verfassung der Weltalter) immer im Rücken. Es ist nicht auszuschließen, dass im Laufe jener Jahre das Projekt der Weltalter auch direkt im Gegensatz zur hegelianischen Logik entworfen wurde: Vor sich sah Schelling den Sieg der von ihm stark kritisierten abstrakten Dialektik, der er wahrscheinlich mit dem Vorhaben eines philosophischen Mythos oder einer Erzählung entgegentreten wollte. Aber das lange Schweigen Schellings, das mit den Weltalter-Jahren begann, machte den Raum für die mächtige Stimme Hegels frei, wie übrigens das scheinbare Schweigen Hegels (das sich nur als eine lange Vorbereitungszeit erwies) während des vorangegangenen Jahrzehnts der unglaublich hohen Produktivität des jüngeren Kommilitonen ungestört den Vorrang ließ. 64 Das Ziel Schellings ist tatsächlich dem Hegels nicht verwandt und besteht in der ›wahren‹ Gestaltung des Begriffes des Anfangs. Schelling entscheidet sich, den Idealismus eben in dem Moment seiner hegelianischen Glanzzeit zu verlassen: Die sich schon seit einigen Jahren abzeichnende innere Wandlung seines Denkens führte ihn weg von der reinen Begrifflichkeit. 65 Das ›Absolute‹ ist für ihn das Vgl. Fuhrmans 1954, 73–176. Über die Entfremdung zwischen Hegel und Schelling s. den breiten Beitrag von H. Fuhrmans in Fuhrmans, Briefe I, 451–553. 65 A. Denker fasst wirkungsvoll zusammen: »According to Schelling, Hegel’s philosophy could explain neither freedom nor the factic reality of life. Life is not always reasonable. There is too much pain and there are too many tears. Hegel denied the 63 64

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Die Weltalter (1811–1815/1817)

›Urlebendige‹ geworden, weshalb seine ganze Mühe darauf gerichtet ist, das geeignete Mittel zu finden, um jenes lebendige Absolute, Anfang aller Realität, erfassbar zu machen: »Nachdem die Wissenschaft dem Gegenstand nach zur Objektivität gelangt ist, so scheint es natürliche Folge, dass sie dieselbe auch der Form suche« (SW VIII, 200). Damit wird eine Spannung zwischen Schauen und Reflexion erzeugt, welche aber Schelling bewusst gewesen zu sein scheint, wie die folgenden Passagen erläutern: »nicht der Dichter allein, auch der Philosoph hat seine Entzückungen. Er bedarf ihrer, um durch das Gefühl der unbeschreiblichen Realität jener höheren Vorstellungen gegen die erzwungenen Begriffe einer leeren und begeisterungslosen Dialektik verwahrt zu werden«, aber »Wir leben nicht im Schauen; unser Wissen ist Stückwerk, d. h. es muss stückweis, nach Abtheilungen und Abstufungen erzeugt werden, welches nicht ohne alle Reflexion, geschehen kann. […] Denn im Schauen an und für sich ist kein Verstand« (WA, 7). Dieser letzte, deutliche Satz ist in allen drei Versionen anwesend (SW VIII, 203). Das Schauen an und für sich hat keine gnoseologische Fähigkeit: Wenn der Satz von Kant gilt »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriff sind blind« (KrV, B 75), gilt für Schelling: Das Schauen ist »an und für sich stumm« (SW VIII, 204). Er behauptet, dass ohne die Vermittlung der menschlichen Reflexion der im Schauen erfasste Inhalt nicht verschwinde, sondern nicht ausgesprochen werden könne und deshalb unverständlich bleiben werde. Die Faszination Schellings für die theosophischen Texte ist allerdings leicht erkennbar, insofern als er die »Tiefe, Fülle und Lebendigkeit« der Theosophie mit den Formen und Begriffen einer ›toten‹ Philosophie vergleicht; trotzdem bleibt er der für einen philosophischen Diskurs notwendigen Methode treu und fordert die unumgängliche Notwendigkeit der Dialektik unter der Bedingung, dass ihr Prozesscharakter zurück zur Einfachheit der Geschichte (d. h. der Erzählung) gelangt. Das Verhältnis zwischen Dialektik und Geschichte ist aber in einer tieferen Ebene vewurzelt, es betrifft nicht nur die äußere Form der Philosophie, sondern gerade deren Inhalt: »Aus der Quelle der Dinge geschöpft und ihr gleich, hat die menschliche Seele eine Mitwissenreality of evil and reduced it to a necessary ruse of reason. He wanted us to believe in the reality of reason. Scheling moved between Fichte and Hegel beyond idealism. He stepped into the true abyss of human reason: the essence of freedom« (Denker 2000, 401).

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schaft der Schöpfung. […] Es ruht in diesem [in dem überweltliche Prinzip] die Erinnerung aller Dinge« (SW VIII, 200). 66 Dank des – ohne Zweifel problematischen – Elements einer »Mitwissenschaft der Schöpfung« 67 wird ein Prinzip der unmittelbaren Erkenntnis im Menschen angenommen, dank dessen »er allein bis zum Anfang der Zeiten« aufsteigen kann, d. h., dass er den absoluten Anfang zum Inhalt seines Denkens machen kann. 68 Dieses Prinzip ist aber mit einem anderen ›geringeren‹ und ›dunklen‹ Prinzip verbunden, das die unmittelbare Erkenntnis des Anfangs verhindert und folglich die Notwendigkeit der philosophischen Dialektik impliziert, um den Anfang im Denken wieder zu erreichen. Die Dialektik fügt sich in das Verhältnis oder in den ›Dialog‹ dieser zwei Prinzipien ein, »eines, das wieder zur Erinnerung gebracht werden muss, und ein anderes, das es zur Erinnerung bringt« (SW VIII, 201). Diese Passagen verweisen ziemlich deutlich auf die Freiheitsschrift und auch auf die frühere Schrift Philosophie und Religion, und vor allem auf die dort erläuterte Theorie des Abfalles des Menschen. Die kraft der Mitwissenschaft ermöglichte Erinnerung an die ›Ur-bilder‹ der Dinge macht die Verbindung zwischen einer ursprünglichen Geschichtlichkeit, die aber nicht mehr unmittelbar erzählt werden kann, und der demzufolge notwendigen Dialektik aus: »Also erzählt wird seiner Natur nach alles Gewusste, aber das Gewusste ist hier kein von Anbeginn fertig daliegendes und vorhandenes, sondern ein aus dem Innern durch einen ganz eigenthümlichen Prozess immer erst entstehendes«, weil »alles, schlechthin alles, auch das von Natur Äußerliche, muss uns zuvor innerlich geworden seyn, ehe wir es äußerlich oder objektiv darstellen können« (SW VIII, 201). Abgesehen von allen insbesondere gnoseologischen Problemen, die die Theorie der Mitwissenschaft hervorruft, muss ein wichtiger Punkt hier ausgesprochen werden: Schelling setzt die Geschichtlichkeit direkt in Verbindung mit der eigentlichen Realität des Urwesens, Diesbezüglich spricht J. Norman mit Recht von »metaphysics as epic« und von »epistemological optimism«, vgl. Norman 2000. 67 Vgl. Mine 1983, 16: »Schelling will also die sich von allen Geschöpfen unterscheidende Besonderheit des Menschen dadurch begründen, dass nur bei ihm die Frage nach dem Anfang der Welt, d. h. nach dem Prinzip der natürlichen und geschichtlichen Entwicklungen des Seienden auftaucht«. 68 Tilliette 1985, S. 161: »La mémoire est capable de retraverser le temps infini, aboli. Co-naissance de la création : si le passé est un ›abime de pensées‹, c’est que la pensée est un ›abime du passé‹«. 66

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das er denkerisch zu gestalten versucht. Wenn der Mensch an das ›geringere‹ und ›dunkle‹ (Erkenntnis-)Prinzip in ihm nicht gebunden wäre, würde er das Urwesen durch die Darstellung oder sogar die ›Erzählung‹ seiner Geschichte erfassen und nicht durch eine Folge von Begriffen und Reflexionen. 69 Auf jeden Fall gehört zur Natur des Urwesens die Geschichtlichkeit, so dass Schelling sagen kann, »dass die Wissenschaft […] der Sache nach und der Wortbedeutung nach Historie ist« (SW VIII, 205). Das Urwesen offenbart sich als Geschichte, aber wir sind gezwungen, es durch Dialektik zu denken und zu gestalten, da wir nicht in einem beständigen »anschauenden Zustand« (SW VIII, 203) leben. Zweck der wahren Dialektik wäre demnach nicht eine leblose Reihe von Begriffen und ihren abstrakten Verhältnissen zueinander, sondern die Rückkehr »zur Einfalt der Geschichte«, d. h. zur ursprünglichen Geschichtlichkeit des Urwesens, die dank des ›Hindurchgehens‹ durch Dialektik am Ende im Denken erreicht werden solle. Schelling bezeichnet den Übergangspunkt zwischen Dialektik und Geschichte als einen »Verklärungspunkt« (SW VIII, 205), der ihm zufolge nur von »dem göttlichen Plato« erreicht wurde. Der besondere ›Charakter‹ der Weltalter zeigt sich schon offen mit der Einleitung des Werkes: Er zeichnet sich darin aus, dass der Anfang aller Realität (das Urlebendige, oder Gott) im Grunde als geschichtlich erfasst wird. Der Begriff der Geschichte wird von Schelling ontologisch mit dem Absoluten verbunden: 70 Zweck der Weltalter ist es, die Geschichte des Absoluten durch ihre Epochen (oder Äonen) darzustellen, aber diese Darstellung konnte nicht mehr lediglich abstrakt unternommen werden – eben aufgrund der bestimmten geschichtlichen Natur des Absoluten selbst. Die Form der Darstellung hängt direkt von der Natur des darzustellenden Inhalts ab, der sich nicht mehr als ›höchste‹ Idee erweist, sondern vor allem als absolute Geschichte. Schelling sucht nach einer unvordenklichen Vergangenheit Gottes, nach dem »Gott vor Gott« oder genauer nach dem Gott, der vor seiner Idee existiert. Die Idee einer Mitwissenschaft, in der sich die Zusammengehörigkeit von Menschen und Absolutem begründet, G. Bénsussan spricht mit Recht von einer »structure prophétique de la philosophie«, vgl. Bénsussan 2015, 27–32. 70 Besonders wenn man daran erinnert, dass die Freiheit die prägendste ontologische Bestimmung des Absoluten ist, so dass »die Geschichte zum Explikationsfeld der Freiheit« wird. Vgl. Knatz 1996, 48. Schon im System des transzendentalen Idealismus wurde der historische Prozess als ein »Spiel der Freiheit« begriffen (SW III, 587). 69

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ermöglicht den Zugang zu jener Urgeschichte, zur Vergangenheit Gottes; der Zugang ist aber wegen des geringeren im Menschen anwesenden Prinzips nicht unmittelbar, sondern erfordert die langsame Arbeit der Dialektik, »die Anstrengung des Begriffs« (Phän., GW 9, 141, wie Hegel sich wenige Jahren zuvor ausgedrückt hatte), um zurück zur Fülle, Lebendigkeit und Kraft der Geschichte zu gelangen. Absolute Geschichte und Dialektik müssen sich demnach gegenseitig voraussetzen, als Materie und Form desselben Wesens: Der Weltalter-Versuch Schellings, dieses schwierige, problematische Gleichgewicht zu halten, scheiterte vielleicht aufgrund der zu breiten theosophischen Einflüsse, die in außerordentlicher Weise anwesend sind; trotzdem ist das Band zwischen Geschichtlichkeit und Absolutheit des Urwesens im Denken Schellings geknüpft und wird von da an nicht mehr durchschnitten. 71

1.4.2. Die Vergangenheit Gottes: das unvordenkliche ›Spiel der Zweyheit‹ als Urpotentialität des Urwesens Auch in den Weltalter-Fragmenten ist der Anfangspunkt Schellings die Charakterisierung der im Absoluten anwesenden Dualität oder ›Zweyheit‹ : Lebendigkeit bedeutet für Schelling Gegensätzlichkeit, die infolgedessen im Absoluten in ihrer höchsten Form zu finden ist. Der Text fängt unmittelbar mit der »Geschichte der Entwicklungen des Urwesens« an, d. h. mit der Erkundung der ›Vergangenheit‹ Gottes, aus der alles (das eigentliche Wesen Gottes inbegriffen) entstammt: »auch in dem Urwesen selbst etwas als Vergangenheit gesetzt werden musste, […] dass eben dieses Vergangenes es ist, was die gegenwärtige Schöpfung trägt und noch immer im Grunde verborgen ist« (WA, 121). Schelling denkt hier den Grund (der Existenz ›überhaupt‹) als die vergangene Zeit des Urwesens, als Anfangspunkt der Erzählung der Weltalter. Die Setzung eines unumgänglichen Grundes der Geschichte wird hier von Schelling nicht weiter begründet; die Voraussetzung dafür ist aber leicht zu entdecken, wenn man Die Rede vom »Scheitern« der Weltalter muss aber nicht dramatisiert werden, weil, wie Tilliette schon bemerkte: »On a beaucoup épilogué sur l’interruption ou même l’échec des Weltalter. Mais peut-être faut-il dédramatiser l’impuissance inattendue de Schelling ; le projet n’a pas été vraiment abandonné, il a mué avec les saisons de l’âge et il s’est réalisé, plus ou moins méconnaissable, dans l’imposant édifice des cours de Munich et de Berlin«, Tilliette 1992a, Bd. I, 241.

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auf die ›Vergangenheit‹ des Denkens Schellings selbst zurückgreift: Das in der Freiheitsschrift entworfene Modell ist hier noch deutlich anwesend und tätig, eben in der Form jener Unterscheidung in einem Wesen zwischen seiner Existenz und dem Grund seiner Existenz. Wenn etwas existiert, muss es einen Grund für diese Existenz geben. Aus diesem Grund wird ein Widerstreit zwischen zwei Prinzipien in dem Ur-grund gedacht. Schelling drückt ihn sowohl in dem Beispiel der Zeit 72 als auch in einer direkteren Form aus: Gott als »das älteste der Wesen« (SW VIII, 209) enthält in sich, in seiner Natur, zwei entgegensetzte Prinzipien, die als Gegensatzpaar unterschiedlich bezeichnet werden. Sowohl im Fragment von 1811 als auch in dem von 1815/17 geht die Erläuterung des scheinbar widersprüchlichen Verhältnisses von Notwendigkeit und Freiheit bei Gott der Bezeichnung der zwei Prinzipien voraus: »Die Nothwendigkeit ist insofern, natürlich zu reden, in Gott vor der Freiheit, weil ein Wesen erst daseyn muss, damit es frei wirken können« (SW VIII, 209): Gott ist ein notwendiges Wesen, das zugleich frei ist. Seine Notwendigkeit liegt seiner Freiheit, der Entstehung seiner Freiheit zu Grunde: Er existiert notwendigerweise, er wird aber nicht notgedrungen, sondern völlig aus Freiheit der Schöpfer-Gott. Mit dieser Unterscheidung möchte Schelling hervorheben, dass Gott auch vor dem Akt der Schöpfung existiert, und es ist eben diese notwendige Natur Gottes, die vor der Schöpfung schon da war, die Schelling als ›Vergangenheit‹ Gottes bestimmt und zu beschreiben versucht. Diese anfängliche Natur Gottes ist alles andere als ein Nichts, sie ist hingegen »die höchste Lebendigkeit« oder, wie ein berühmtes Zitat lautet: »Ja wohl ist es ein Nichts, aber wie die lautre Freyheit ein Nichts ist..:« (WA, 15). Aber worin besteht die Lebendigkeit einer solchen Natur, die jenseits aller denkbaren Realität scheint? Schelling führt sie auf eine Form von ›Gleichgültigkeit‹ der zwei widersprüchlichen Prinzipien zurück: Er denkt die ursprüngliche Natur Gottes als eine Einheit, die eine Dualität in sich enthält (im Übrigen ist dieses Schema nicht neu, sondern typisch für das schellingsche Denken), eine Dualität von Willen oder Prinzipien, die sich entgegen- und voraussetzen. Die poetische Beschreibung einer mystisch gefärbten ›Ueber-Gottheit‹ von 1811 wird in den folgenden Versionen philosophisch übersetzt, aber die Struktur »Wer die Zeit auch nur nimmt, wie sie sich darstellt, fühlt in ihr einem Widerstreit zweyer Principien; eines das vorwärts strebt, zur Entwicklung treibt und eins anhaltenden, hemmenden, der Entwicklung widerstrebenden« WA II, 29.

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bleibt auf jeden Fall in den drei Texten die gleiche: Das erste Element der Dualität ist in sich einschränkend, verschlossen, es wird auch als ›Nichtseyendes‹, oder als ein ›Seyn‹ bezeichnet 73 (Sein, das noch nicht seiend ist und das deswegen dem Nichtseyenden vergleichbar ist), ein ruhender, nichts wollender Wille; Gelassenheit, Lauterkeit, die an sich auf ewig verschlossen bleiben würde. Das zweite Element wird hingegen als Wille oder Drang zur Existenz, zum Bewusstsein bezeichnet, als die Liebe oder das wahre Seiende, das sich selbst – als »stilles Sich-selber-suchen« (WA, 137) – erzeugt hat. Die zwei Elemente setzen sich als verneinendes und bejahendes voraus, als Grund und Existenz, so dass »die beiden Entgegensetzten, die ewig verneinende und die ewig bejahende Potenz und die Einheit beider machen das Eine unzertrennliche Urwesen aus« (SW VIII, 217). Beide ›Potenzen‹ sind dem Urwesen gleichgültig: Gott könnte potentiell sowohl ein ewiges Nein, ›das höchste in-sich-Seyn…in der keine Creatur zu leben vermöchte‹, als auch ein ewiges Ja, ›ein ewiges Ausbreiten, Geben‹ sein. Der wichtigste Punkt der Erläuterungen Schellings besteht vielleicht weniger in der Bestimmung der zwei Prinzipien (welche von dem Modell der Freiheitsschrift oder der Stuttgarter Privatvorlesungen nicht weit entfernt ist) als vielmehr in dem betonten potentiellen Charakter der Natur oder Vergangenheit Gottes: Gott wird eine fundamentale Potentialität zugeschrieben, die sein Wesen ontologisch ausmacht. Der Abgrund der Freiheit Gottes scheint hier in Die Weltalter die Gestalt einer ursprünglichen Potentialität Gottes – Ja oder Nein, Bejahendes oder Verneinendes zu sein – anzunehmen: »Je höher wir in die Vergangenheit zurückgehen, desto mehr finden wir unbewegliche Ruhe, Ungeschiedenheit und gleichgültiges Zusammenseyn« (WA, 24) und nur »hier stellt sich erst die rechte Hoheit des Gegensatzes dar und seine der Einheit gleiche Unbedingtheit« (W). Schelling denkt auf diese Weise den ›Urzustand‹, der der freien Entscheidung Gottes zur Existenz vorausgeht, die eigentliche ›Vergangenheit‹ Gottes als Gleichgültigkeit zweier gegensätzlicher Elemente, die sich aber zugleich als der höchste Widerspruch für das Denken erweist: »Denn Gott ist gleich wesentlich beides; er muss also auch schlechterdings als beides wirkend seyn« (SW VIII, 301). Die Identität der Gegensätze, die Schelling hier anzunehmen scheint, Auch in der Stuttgarter Privatvorlesungen waren »Sein« und »Nichtseiendes« Synonyme.

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muss aber auf genaue Weise verstanden werden: Schelling ist tatsächlich nicht der Meinung, dass die zwei Prinzipien dasselbe sind (A = B), sondern »dass Ein und dasselbe Existierende nach seiner einen Eigenschaft Zorn nach der andern Liebe sey« oder vielleicht deutlicher »dasselbe, was in dem einen Betracht Leib ist, sey in dem anderen Seele« (WA, 28). Der Grundsatz des Widerspruchs wird Schelling zufolge gänzlich aufrecht erhalten, weil »richtig verstanden sagt dieser Grundsatz nichts anderes, als dass entgegensetzte Subjekte nicht als Subjekte Eins seyn können, was aber nicht verhindert, dass sie als Prädikate Eins seyen« (WA, 27). 74 Die zwei für Gott gleichgültigen Prinzipien machen Gott selbst auf keinen Fall widersprüchlich: Er könnte in seiner ab-soluten Freiheit sowohl das Eine als auch das Andere sein, sowohl schaffende Kraft als auch in sich verschlossene Vollkommenheit. Der Doppelcharakter dieser ohnehin zu Gott gehörenden Natur, in der Sein und Nichtsein sich vermischen, bleibt jedenfalls von höchster Ambiguität. Die hier von Schelling entworfene Gestalt des Urstandes Gottes (der auch »unbedingtes Ich der Ewigkeit« (WA, 178) genannt wird) bringt erneut das Denken an seine eigenen Grenzen; es liegt ihm daran, der Freiheit Gottes (der ontologisch-bestimmten Freiheit) nicht einen Grund sondern ein ›Explikationsfeld‹ zu geben. Es geht natürlich nicht um eine Wahl-Freiheit, weil die zwei Elemente der ursprünglich gleichgültigen Dualität immer in Verbindung bleiben – vor und nach der Entscheidung Gottes, als das Eine oder als das Andere zu existieren. Nur die Art ihres Verhältnisses wird von dem Ereignis der Freiheit verändert: »Allgemein ausgesprochen löst sich das Verhältnis des Widerspruchs durch das des Grundes« (SW VIII, 301). Dieses Explikationsfeld der Freiheit hat aber auch einen Zustand an sich, der sich als die ambigue Ur-potentialität Gottes 75 erweist in dem schon erläuterten Sinne: Wenn man sich nur auf die Figur des Grundes, unabhängig von ihrer Bestimmung als Gott, konzentriert, zeigt sich an dieser Stelle eine wichtige Veränderung des abendländischen Begriffes des Grundes. Die von der Gleichgültigkeit der zwei Prinzipien repräsentierte Potentialität ist das eigentliche Wesen Gottes, seine Gottheit und Herrlichkeit: »Aber wer ist denn der Herr? Unstreitig jener in dem Seyn und dem Seyenden selbst ruhende Vgl. SW VIII, 214 und Soph. 256d. Präludium zum zukünftigen »Seinkönnende« oder »reines Können«, vgl. SW XIII, 210.

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Wille, der Wille durch den allein das Seyn wircklich Seyn, das Seyende wirklich Seyendes seyn kann, der zuvor nichts wollende Wille. […] Er ist das Seyn und das Seyende und ist untrennbar von beyden« (WA, 167). Die Gottheit Gottes besteht in seiner Potenz, absolut das Eine oder absolut das Andere zu sein, absolut in der Verborgenheit zu bleiben oder absolut die Verborgenheit aufzugeben. In diesem Schweben Gottes über den zwei absoluten Möglichkeiten seiner Existenz selbst besteht vielleicht das höchste Risiko, das Schelling eingeht, um den Begriff des absoluten Anfangs radikal zu denken, d. h. als jene Potenz (im Sinne von Potentialität), die dem Sein selbst ontologisch vorausgeht, die infolgedessen auch jenseits der Kategorie selbst von Sein ist oder, wie Schelling einige Jahre später schreiben wird, »was vor dem Seyn ist« (SW XIII, 210). Der urpotenzielle Stand 76 des Grundes geht tatsächlich der ›Offenbarung‹ als unbedingtem Akt der Freiheit voraus und gilt als Denkgestalt dieser Unbedingtheit, die die Freiheit ontologisch bestimmen muss. Dass die Potenz dem Akt vorausgeht, ist keine neue Entdeckung im abendländischen Denken; das Verhältnis zwischen potentiellem und aktivem Zustand in dem schellingschen Modell des Grundes drückt aber etwas anderes aus, denn es wird nicht auf Notwendigkeit, sondern auf reinster Freiheit gegründet.

1.4.3. Entscheidung und Freiheit Schelling bezeichnet ›die erste Natur‹ als die unzertrennliche Verbindung der zwei entgegensetzten Prinzipien und des ihnen gegenüber gleichgültigen Willens. Dass in dieser potentiellen, ursprünglichen Natur ein Anfang sei, muss aus einer Entscheidung erfolgen. Wozu eine Entscheidung? »Unbedingte Freyheit ist nicht für die einzelne Handlung; sie ist das Vermögen, von Widersprechenden das eine oder das andre ganz zu seyn« (WA, 173): Die Entscheidung tritt ein gegenüber den zwei widersprüchlichen in Gott anwesenden Kräften und wird dank der Freiheit entfesselt und vollzogen. Die Freiheit ist die Ursache jener Entscheidung, die die widerstreitende Ambiguität der Vgl. Thomas von Aquin, De potentia, q. 7 a. 2 ad 9: […] Nihil autem potest addi ad esse quod sit extraneum ab ipso, cum ab eo nihil sit extraneum nisi non-ens, quod non potest esse nec forma nec materia. Unde non sic determinatur esse per aliud sicut potentia per actum, sed magis sicut actus per potentiam […].

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Vergangenheit Gottes auflöst und der Dynamik des Grundes einen Anfang gibt. 77 Nun kann besser begriffen werden, warum Schelling einen potentiellen Urzustand Gottes gedacht hat: Die Freiheit kann nämlich nur absolut sein, wenn sie ursprünglich den beiden Existenz-Möglichkeiten gegenüber gleichgültig war, was auch die Entscheidung in der Tat verhinderte: »Der Grund, der die Entscheidung hindert, ist die vollkommene Gleichwichtigkeit (Aequipollenz) der beyden Willen, oder dass keiner mehr Anspruch hat, wirkend zu seyn, als der andere« (WA, 174). Wie schon erläutert ist der ursprüngliche Zustand des Grundes in sich widersprüchlich und wird in dieser Widersprüchlichkeit von dem nichts wollenden Willen beibehalten; nun behauptet Schelling sowohl in der Version von 1813 als auch in der letzten: »also löst sich das Verhältnis des Widerspruchs durch das des Grundes, wornach Gott als das Nein und als das Ja seyend ist, aber das eine ist als Vorausgehendes, als Grund, das andere als Folgendes, Begründetes« (SW VIII, 301). Die von der Freiheit verursachte Entscheidung erfolgt derart, dass der Wille zur Verschlossenheit die Priorität 78 vor dem Willen zur Existenz hat, eben damit diese Letztere sein kann. Die absolute Freiheit Gottes offenbart sich zuerst als plötzliche Entscheidung, »wie ein Blitz geschehen« (WA, 177), »eine Freyheit, die sich selbst Schicksal, sich selbst Nothwendigkeit ist« und wovon »kein Grund ist« (WA, 177). Die Entscheidung zwischen zwei gleichgültigen Möglichkeiten wäre an sich unmöglich: Deswegen ist die Freiheit nötig als jene unbedingte Macht, die die unbewegliche Potentialität des Grundes überwinden kann. Man kann hier eine Parallele zu der in der Freiheitsschrift unternommenen Interpretation der Kopula sehen: Die von der Kopula ausgedrückte Identität wurde schon als Gesetz »des Grundes zur Folge« von Schelling interpretiert, so dass das Verhältnis zwischen Gott und den Dingen als ein ›schöpferisches‹ bezeichnet werden konnte. Hier geht es um dasselbe Gesetz, indem ein Element der Dualität in Gott Grund des Anderen wird, so dass die Dualität Grund – Existenz nochmals bestätigt wird als die innerste Form der Lebendigkeit Gottes.

Vgl. Norman 2010, 152: »The originary act of divine freedom is inscrutable due not to the privacy of God’s conscious intention, but to the incomprehensible spontaneity of a drive which is always already repressed, and functions as God’s transcendental unconscious«. 78 Vgl. WA I, 46: »Die Priorität steht im umgekehrten Verhältnis mit der Superiorität«. 77

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Diese Interpretation der Identität ermöglicht die ontologische Bestimmung der Freiheit und ihres Ereignens. Die Überlegungen Schellings bezüglich der hier erläuterten Themen sind erkennbar nicht systematisch unternommen und vor allem formuliert, so dass der theoretische Werdegang schwer nachzuvollziehen und nachzuzeichnen ist; folgende Punkte können aber schon festgestellt werden: Der Anfangspunkt der Gedanken Schellings ist der potentielle, zweideutige Urzustand Gottes, der in zwei entgegensetzten Willen (der Eine zur Offenbarung, der Andere zur Verschlossenheit, Sein und Nichtsein) und in dem diesen gegenüber gleichgültigen Willen (die »ewige Lauterkeit«, die »höchste Freiheit«) besteht; dieser anfängliche und schon lebendige (kraft seiner inneren Widersprüchlichkeit) Urzustand wird unmittelbar durch die absolute Freiheit bewegt, so dass das Urwesen sich zur Existenz bestimmt, Gott wirklich lebendig wird und sich als der absolut freie Gott offenbart, der »frei war sich zu offenbaren und sich nicht zu offenbaren, als die ewige Freiheit selbst« (SW VIII, 300). Die Freiheit verursacht die Unterordnung des Willens zur Verschlossenheit unter den Willen zur Existenz, die »durch die Liebe« geschehen »sollte« (SW VIII, 303): Die Liebe erweist sich auch hier wie in der Freiheitsschrift als das Gesicht der göttlichen Freiheit, als ihre einzige, mögliche Richtung, die nur a posteriori durch ihre Folgen erkannt werden kann. In dieser von Schelling dargestellten Gedankenfolge müssen einige Punkte hervorgehoben werden: Die anfängliche Widersprüchlichkeit hat zwei Funktionen, auf der einen Seite belegt sie die im vorhergehenden Paragraphen diskutierte Urpotentialität Gottes, auf der anderen Seite fungiert der ihr gegenüber gleichgültig sich verhaltende Wille als die Unbedingtheit, die eine absolute (d. h. durch nichts bedingte oder angezogene) Freiheit als Voraussetzung für ihre Offenbarung haben muss. Außerdem manifestiert sich diese absolute Freiheit als Entscheidung, d. h. als etwas, das eine Scheidung in dem Urwesen verursacht, so dass ein ›wirklicher‹ Anfang möglich wird. Die von der Freiheit verursachte Scheidung wird von Schelling mit der ›Lösung‹ des ursprünglichen Verhältnisses des Widerspruchs durch das Verhältnis des Grundes dargestellt: Das widersprüchliche Gleichgewicht der zwei Willen in Gott wird verändert, so dass der Eine (der Verneinende) Grund des Anderen (des Bejahenden) wird. 79 Schelling Nach der schellingianischen Logik oder dem schellingianischen Gesetz: das Positive manifestiert sich nur auf dem Hintergrund des Negativen.

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beharrt ziemlich deutlich, besonders im Fragment von 1813, auf der Unaussprechlichkeit des Ereignisses der Freiheit, des Augenblicks 80 dieses Ereignisses: »und dies alles [das ganze beschriebene Prozess, S. P.] war enthalten in einer und derselben untheilbaren That, zugleich der freywilligsten und der nothwendigsten, durch eine Art von Wunder, wie bisweilen Handlungen geschehen, die, nach dem sie gethan, kein Verstand zu begreifen vermag« (WA, 178). Solche Behauptungen könnten den Gedanken aufkommen lassen, dass der unaussprechliche Charakter der Freiheit etwas Undenkbares bedeutet: Nach Schelling sind aber Unaussprechlichkeit und Undenkbarkeit zwei sehr verschiedene Begriffe. Die Unaussprechlichkeit des Ereignisses der ewigen Freiheit, Anfang aller Realität, ist ein weiterer Beweis ihrer Unbedingtheit und Absolutheit: Wir begreifen sie durch ihre Folgen, die in sich ihre Spur tragen, aber wir erfassen sie an und für sich nicht, ansonsten wäre sie nicht wirklich absolut. Eine dramatische Spannung zwischen Unbedingtheit und menschlichem Denken müsse bleiben, da nach Schelling etwas Unbedingtes nicht wie ein Bedingtes gedacht werden kann. Natürlich verweist diese Charakterisierung auf die Bestimmung par excellence der von Schelling gedachten Freiheit, d. h. auf ihre Abgründigkeit. Sie kann nicht weiter begründet werden, da sie der ewige Anfang ist. Die absolute Freiheit ist ohne Grund, aber nicht unbegründet: Ihrer Natur nach muss die reinste Freiheit ohne Grund sein, d. h. durch nichts bedingt, aber nicht vernunftlos oder zufällig sein. 81

1.4.4. Die Positivität des Negativen und die Möglichkeit des Bösen Wie schon erläutert wird der potentielle Urzustand von der absoluten, freien Entscheidung Gottes überwunden, so dass seine ursprüngliche Widersprüchlichkeit durch das ›Verhältnis des Grundes‹ gelöst wird. Schelling lehnt hier wie an anderen Stellen jede Form von Aufhebung ab: »Dies alles musste seyn, damit nie ein nothwendiger Grund der Welt gefunden werde, und offenbar hervorleuchte, dass alles, was ist, nur durch den allerfreiesten göttlichen Willen sey« Vgl. Parmenides 156d. »Il est donc clair que l’impuissance de la pensée ne signifie ni sa capitulation ni son abdication. Bien au contraire, éprouvée par l’imprépensable, la pensée comprend que c’est lui qui constitue son affaire et sa tache propres«, Gourdain 2017, 104.

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(SW VIII, 300). Die zwei entgegensetzten Elemente bleiben als solche auch im zur Existenz entschiedenen Gott, so dass »die Existenz des einen Grund der Existenz des andern ist« (SW VIII, 301). 82 Diese Art von Verhältnis ist dem Schelling-Leser nicht neu: Es geht tatsächlich um dieselbe in der Freiheitsschrift erläuterte Dynamik, die hier in Bezug auf das Wirken der absoluten Freiheit erneut verwendet wird. Das Verhältnis, das dank der Entscheidung der Freiheit zwischen dem positiven und dem negativen Element entsteht, ermöglicht die Koexistenz von beiden Gegensätzen, weil das Negative Grund des Positiven wird, so dass das Positive als Begründetes existieren kann. Diese Folge (negativ – positiv) ist nicht zufällig gesetzt, sondern entspringt der Natur des Grundes selbst, der Logik seines Willens zur Offenbarung: Denn es ist hier die Rede von der Geburt Gottes auch dem höchsten Selbst nach, oder inwiefern er die ewige Freiheit ist. […] Aber nicht das Nothwendige, das Freie von Gott (d. h. von der ewigen Freiheit) ist das, was eigentlich geboren werden soll. Also kann sich das Nothwendige nur als Grund dieser Geburt und demnach als Vorausgehendes in derselben verhalten (SW VIII, 303).

Gott muss sich als der unbedingt Freie offenbaren, deswegen muss die Notwendigkeit in ihm der Freiheit vorausgehen; die Freiheit muss dann die Notwendigkeit durch ihre unbedingte Potenz überwinden, das Fortschreiten entwickelt sich von »Finsternis ins Licht, von Tod in Leben«. Gott birgt in sich das negative Element als (Erscheinungs-) Grund des Positiven, d. h. seiner Freiheit zur Offenbarung und zur Schöpfung. Schelling denkt das Negative als unentbehrlichen Gegensatz des Positiven und eben aus diesem Grund muss im Auge behalten werden: Dieses Schema ist sowohl in den Seienden als auch in dem Grund, in Gott anwesend und tätig. Die Benennung der entgegensetzen Elemente ähnelt jener in den Stuttgarter Privatvorlesungen: Sein und Nichtseiendes sind Synonyme und beide sind Gegensätze des Seienden. Die Natur des Nichtseienden ist aber im Grunde positiv in dem Sinne, dass es als Nichtseiendes aktiv, also tätig sein muss: Seine Tätigkeit besteht in einer dauerhaften Opposition zum Seienden, so dass dieses Letztere sich gegen das Negative behaupten und offenbaren kann. Nicht ohne Grund beruft sich Schelling an dieser Stelle auf den ›göttlichen Plato‹ und auf seine Lehre der 82

Vgl. auch WA II, 121 f.

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Notwendigkeit des Nichtseienden im Hinblick auf das Seiende. 83 Das Nichtseiende als »aktive Verschlossenheit, thätiges Zurückstreben in die Tiefe und Verborgenheit, also als wirkende Kraft« (WA, 142) gedacht, bekommt seine eigene Positivität und ist in sich kein Widerspruch: »Denn nicht Seyendes ist es nicht wegen gänzlichen Mangels an Licht und Wesen, sondern wegen thätiger Verschließung des Wesens, also durch wirkende Kraft« (SW VIII, 223). Die Existenz des Negativen manifestiert sich als jenes ›Widerstrebende‹, wogegen das Positive sich durchsetzt – insofern kann Schelling auch sagen, dass das Negative »die Kraft, die Stärke« des Positiven ist. Indem Gott sich entscheidet und sich selbst zum Anfang macht, wird das Verhältnis der zwei widersprechenden Willen derart, dass der verneinende Wille Grund des bejahenden Willens wird: »Der Anfang ist nur Anfang, inwiefern er nicht das ist, das eigentlich seyn soll […]. Wenn also Entscheidung ist, so kann nur das zum Anfang gesetzt werden, das durch seine besondere Art sich am meisten zur Natur des nicht Seyenden neigt« (SW VIII, 220 f.). Das erste positum ist das Negative, so dass der Anfang in einer ursprünglichen Verneinung besteht (die als Nichtseiendes erscheint), oder ihm ist die Verneinung absolut nötig, damit etwas Anderes (das Seiende) bejaht werden kann. Am Anfang wird also nicht das Positive bejaht, sondern zuerst oder besser zugleich (da es hier nicht um eine wirkliche zeitliche Abfolge geht) das Negative gesetzt und verneint: »Es ist nur die erste Spannung des Bogens, nicht sowohl selbst seyend als der Grund, dass etwas sey« (SW VIII, 224). Damit der verneinende Wille, die einschränkende Kraft Gottes Grund des Willens zur Offenbarung werden kann, muss sie selbst wirkend und seiend sein: Der Anfang Gottes ist deshalb die Setzung seiner eigenen, in sich verschlossenen Egoität, so dass er »sein Wesen von außen abzieht und in sich zurücknimmt« (SW VIII, 225). In dieser Phase des göttlichen Werdens bleibt der bejahende Wille (das eigentliche Wesen Gottes) verborgen, hingegen offenbart sich vorwiegend der einschränkende Wille: »Aber verneint zu seyn widerstrebt seiner Natur« (SW VIII, 227). Aus diesem Grund überwindet der Wille zur Offenbarung die ursprüngliche Verneinung, die Freiheit überwindet die ursprüngliche Notwendigkeit. Im Übrigen ist jegliche Entscheidung zweischneidig: Indem sie etwas wählt, schließt sie zugleich etwas anderes aus.

83

Vgl. Sophist, 256e – 258d.

69 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

1 · Die Verwandlung des Grundes: Der unbegründete Grund bei Schelling

Der von Schelling gedachte Anfang gestaltet sich zweideutig: Seine Potenz, seine Macht zu sein, kann nur kraft des Durchgehens durch seinen Gegensatz möglich und wirksam sein. Der Anfang trägt in sich auf ewig eine dunkle, aber notwendige Seite, die die Stärke seiner bejahenden, anfänglichen Potenz ausmacht. Die Verneinung repräsentiert die andere und untrennbare Seite, eben den Grund für die Bejahung, die etwas verneinen muss, um eben bejahend zu sein. Das Nichts, das Schelling in Gott zu denken scheint, hat tatsächlich eine enorm wichtige, positive und unersetzbare Funktion: Es ist die notwendige Dunkelheit, in der das Licht als wirkliches und wirkendes Licht (jenes, das die Dunkelheit besiegt) erscheinen kann. Im Übrigen scheint Schelling, den kühnen Gedanken eines in Gott anwesenden und tätigen ›Nichts‹ begründet zu haben, was zu seiner Logik gehört, zu der ›lebendigen‹ Weise, in der er den Anfang und den Grund selbst denkt. Aus einem derartigen Grund entwickelt sich die ganze Geschichte Gottes, der geschöpften Welt und ihrer Weltalter: Das Schema der drei Potenzen spiegelt sich sowohl in den Prozessen der Natur als auch in der Geschichte, damit alles als lebendig begriffen werden kann. Die Suche nach einem Grund weniger für die ›ganze Welt‹ als für ihre offenbare, widersprüchliche Lebendigkeit, die Schelling seit seinen philosophischen Anfängen in allen Aspekten der Wirklichkeit wahrnahm und zu erforschen suchte, führte ihn so weit, dass er sogar einen Gegensatz in Gott denken und setzten musste. Der höchste Widerspruch löst sich aber in dem Moment auf, in dem Gott als der »lautre Wille, der nichts will«, 84 d. h. als die reinste Freiheit sich manifestiert: Der Urbeginn der Weltalter findet hier erneut seine Grenz-Gestalt in dem Ab-grund der Freiheit, die »wie ein Blitz« die verschlossene Egoität Gottes befreit und ihn zur Offenbarung befähigt. Die Entscheidung Gottes zum Anfang bleibt in der Tat ohne Grund, weil, wenn sie einen weiteren Grund außer sich selbst hätte, sie nicht absolut frei, sondern nur relativ frei wäre. Das existierende Sein schwebt über diesem Abgrund, der aber eine ontologisch gedachte Freiheit bedingt: Wenn die Freiheit Gottes nur die Wahl zum Sein und zur Offenbarung hätte, wäre sie keine absolute Freiheit – sie wäre tatsächlich gezwungen zum Sein. Die Natur Gottes folgt, wie Schelling selbst schreibt, einer inneren, »ewigen Notwendigkeit« (SW VIII, 225 f.), die sie auf Bejahung richtet; aber indem sie

84

Vgl. die Ausdeutung L. Hühns in Hühn 2006.

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Die Weltalter (1811–1815/1817)

das Sein bejaht, muss sie das Nichts zugleich verneinen: Nur dadurch wird die Bejahung eigentlich frei, weil sie das Nichts oder das NichtSeiende als Möglichkeit hatte, die sie nicht gewählt hat. Der Grund dieser Entscheidung ist die höchste Freiheit, die deswegen als der den zwei Möglichkeiten (Verschlossenheit und Offenbarung) gegenüber indifferente, gleichgültige Wille beschrieben wurde – sie ist durch nichts bedingt oder beeinflusst, sondern sie entscheidet absolut, d. h. nur aus sich selbst. Die auf ewig verworfene Möglichkeit zum Nichtseienden wird aber nicht aufgehoben oder vernichtet: Sie bleibt als solche, weil »alles, was eine Freyheit gegen Gott hat, muss es aus einem von ihm unabhängigen Gründe kommen […]. Also setzt die Existenz einer Geisterwelt etwas voraus, das von Ewigkeit in oder bey Gott ist, ohne doch selbst Gott zu sein« (WA, 157). Der Ursprung des Bösen muss selbst positiv sein, weil das Böse sich nicht als Mangel, sondern als wirkend und existierend offenbart: Die positive Funktion des Negativen oder des Nichts findet an dieser Stelle ihre theoretische Begründung: Der von Gott unabhängige Grund kann der Ursprung des Bösen sein, eben weil er auch die reinste Freiheit in sich birgt. Die Freiheit an sich zu denken, bringt diesen immerwährenden Nachteil mit sich: Die Freiheit impliziert, wenn sie wirkliche Freiheit ist, sowohl das Positive als auch das Negative – beide gehören zu ihrer höchsten Natur. * Unter dem Titel Das Erste der Weltalter, d. h. die Vergangenheit, hat Schelling im Grunde den Versuch unternommen, einen Anfang in Gott zu beschreiben und zu gestalten. Den Anfang in Gott zu denken, bedeutet, das Denk-Feld des »Gott vor Gott« (nämlich der Vergangenheit Gottes) als Möglichkeit des metaphysischen Denkens zu öffnen. Das einzige, mögliche Objekt dieses Feldes ist die Freiheit, weil das Absolute, Gott, nur aus der Freiheit bestimmt werden kann. Gott hat im Grunde keine weitere Bestimmung als seine absolute Freiheit, die keinen Grund außer sich selbst hat. Freiheit wozu? In der Verschlossenheit seines Wesens zu verharren oder diese Verschlossenheit aufzugeben und sich zu offenbaren. Die Vergangenheit Gottes besteht in diesem potentiellen Urzustand – vor dem Gott und vor dem Sein: Nur die reine Potentialität, die vor dem Sein ist, könnte das geeignete Wirkungsfeld einer absoluten Freiheit, der Freiheit 71 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

1 · Die Verwandlung des Grundes: Der unbegründete Grund bei Schelling

Gottes, sein. Die Freiheit erweist sich als die prägendste ontologische Bestimmung Gottes, als die einzige Macht, die anfangsfähig ist. Die Wandlung des Grundes wird damit auf eine neue Stufe gehoben und eröffnet dem Denken neue Sichtweisen: Der Grund erweist sich als der Ohne-Grund. Letzterer ist aber kein nihilistisches Nichts, er begründet sich im Gegenteil aus Freiheit. Diese besondere Art von Ausdeutung beinhaltet sowohl den Anfang des Seins als auch den Ausschluss des Nicht-Seienden. Ausschluss bedeutet aber nicht Vernichtung: Das Nicht-Seiende bleibt im Sein in der Form einer wirkenden Opposition, eines tätigen, überall wahrnehmbaren Gegensatzes, nämlich als das Böse, als das Leiden in der Welt; nur dadurch gibt es Lebendigkeit: »Ohne Gegensatz kein Leben«. Potentialität, Entscheidung, wirkendes Nichts sind die ›neuen‹ Begriffe, die Schelling hinzufügt, um dem Anfang eine andere Gestalt zu verleihen.

1.5. Schelling: Gründer des Abgrundes ›Zu Zeiten müssen jene Gründer des Abgrundes im Feuer des Verwahrten verzehrt werden, damit dem Menschen das Da-sein möglich und so die Beständigkeit inmitten des Seienden gerettet werde, damit das Seiende selbst im Offenen des Streites zwischen Erde und Welt die Wiederbringung erfahre‹ : 85 Zur Betrachtung der Entwicklung des Denkens Schellings zwischen den Jahren 1804 und 1817 scheint dieses Zitat aus Heideggers Beiträge besonders geeignet zu sein. Es ist schwerlich zu leugnen, dass Schelling die Konzeption und den Begriff des Grundes entscheidend verändert hat, eben in Richtung eines AbGrundes. Der anfängliche Schritt in diese Richtung wird in der Freiheitsschrift vollzogen, indem Schelling einen Grund in und für den Grund selbst, d. h. Gott, denkt. Die Dualität in Gott zwischen Grund und Existenz wird von Schelling zur ursprünglichen, indifferenten Einheit des Ungrundes zurückgeführt, dessen Abgrund Raum für die Handlung der Freiheit lässt. Die Figuren des Ungrundes und des Abgrunds repräsentieren jene Verwandlung des Grundes, die eine ausschlaggebende Spur in der Geschichte der Metaphysik hinterlässt. Der Übergang von einem notwendigen, d. h. auf ewig determinierten 85

GA 65, 7.

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Schelling: Gründer des Abgrundes

Grund oder Gott zu einem Abgrund, aus dem Gott selbst kommt, hat seinen Ursprung in dem revolutionären Gedanken Schellings, dass nämlich Gott selbst nur aus Freiheit – und nicht aus Notwendigkeit – determiniert sein kann, sonst wäre er ein Seiendes unter den anderen. Die Existenz Gottes muss einen Grund haben und dieser Grund Gottes kann nur die Freiheit sein. Auf diese Weise schwebt die Existenz Gottes über einem Abgrund, dem die Möglichkeit innewohnt, dass der geoffenbarte Gott potentiell auch nicht sein könnte: Die Natur der Freiheit ist in der Tat zweideutig, sie enthält alle Möglichkeiten – die Nichtexistenz inbegriffen. Die Gott bestimmende Freiheit wird als ›indifferenter Ungrund‹ definiert, weil nach Schelling die vollkommene Freiheit in der Gleichgültigkeit gegenüber allen Möglichkeiten besteht; aus eben einer solchen Freiheit kommt der Anfang Gottes selbst, der Anfang eines werdenden Gottes. Der Ungrund ist kein Grund: Er begründet das Sein, indem er Ab-grund ist. Zu diesem Abgrund gehört nicht nur die Möglichkeit des Seins, sondern auch des Nichts: Gott muss sich selbst, seine eigene Existenz und die darauffolgende Offenbarung wollen, jedoch wird infolge dieser allerersten freien Handlung die Möglichkeit des Nichts zwar verworfen, aber nicht zerstört oder aufgehoben: Die Kategorie der Möglichkeit geht der Wirklichkeit voraus, deswegen kann sie nicht völlig negiert, sondern nur verworfen, ausgeschlossen werden. Die ›Natur‹ des Absoluten macht eine entscheidende Wandlung durch: Das Absolute ist absolut, weil es auf keinem Grund – wie alle anderen Seienden – beruht, sondern auf einem Ungrund: Dies unterscheidet es ontologisch und macht es wirklich zum Ab-soluten. Der Begriff selbst von Grund, Fundament erfährt eine Änderung: Grund zu sein bedeutet, Grundwerden oder sich-Grund-machen. Gerade diese Bewegung impliziert die Freiheit als die geeignetste ontologische Qualität des Fundaments: Die Freiheit zeigt sich als jene Potenz, die fähig ist, diese Bewegung des Grundes zu auszulösen. Wenn die Ursache dieser Bewegung eine Äußere wäre, wäre das Absolute nicht wirklich absolut, sondern vom Außen determiniert. Die Eigenheit des Absoluten besteht hingegen darin, dass es nur durch sich selbst determiniert ist und dies bedeutet für Schelling: aus Freiheit. Ausgehend von diesem riskanten Gedanken versucht Schelling eine wirkliche Dynamik der Freiheit zu denken: Eine Dynamik muss aber mindestens von zwei Elementen bewegt werden. Der Gott oder das Absolute Schellings ist in der Tat immer in sich ›gezweyt‹ oder getrennt, damit ein ursprünglicheres Prinzip wirken kann. Diese im 73 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

1 · Die Verwandlung des Grundes: Der unbegründete Grund bei Schelling

Absoluten anwesende Trennung ist in den Stuttgarter Privatvorlesungen besonders deutlich: Nachdem die Dualität der Prinzipien in Gott gedacht wurde, musste Schelling das Problem des Übergangs von der Einheit des Absoluten zur Differenz seiner inneren Dualität in Angriff nehmen. Der Auftraggeber dieses Übergangs ist immer die Freiheit, indem Gott sich frei entscheidet, durch eine ›Entzweiung‹ seines Wesens zu gehen und lebendig zu werden. Schelling denkt die so entstandene Dualität in Gott als ein Verhältnis der Potenzen, die sich gegenseitig bedingen. Reales und Ideales, Dunkelheit und Licht, Nichtseiendes und Seiendes sind in Gott anwesend und tätig: Das Wesen Gottes, sein inneres Leben wird als ein Widerstreit dieser Pole ausgemacht. In dieser Dynamik nimmt aber das negative Element eine positive Funktion ein: Es fungiert nämlich als Grund des Positiven, so dass Letzteres sich wirklich als positiv (d. h. im Gegensatz zu seinem negativen Gegenteil) manifestieren kann. Die Negativität, die zur Handlung der Freiheit notwendig gehört, wird auf diese Weise im Absoluten völlig integriert – eben als Bedingung der Existenz des Positiven. Die dunklen und schwierigen Jahre der Weltalter erweisen sich als weniger fruchtlos als sie erscheinen: Das Anderssein des Absoluten, seine bewegliche, streitende Lebendigkeit überschreitet die Grenzen der reinen Begrifflichkeit, es manifestiert sich nicht mehr als Begriff sondern als Geschichte, die nur begriffen werden kann, sofern sie erzählt wird. Mit dem philosophischen Stil der Weltalter unternimmt Schelling den Versuch, eine ›erzählende‹ Darstellung des Absoluten zu liefern. Die Ontologie des Absoluten bleibt dieselbe: Vor dem ›Spiel der Zweyheit‹ ist der ›Urstand‹ oder die ›Vergangenheit‹ Gottes in der Form einer Lauterkeit oder wieder einer Gleichgültigkeit, die die indifferente Einheit der beiden gegensätzlichen Elemente repräsentiert. Die Freiheit Gottes wurzelt hier: Sie ist das Vermögen, Licht oder Dunkelheit, Seiendes oder Nichtseiendes, Offenbarung oder Verschlossenheit zu werden. In der Tat wird diese ›blockierte‹ Urpotentialität Gottes von dem ›Blitz‹ der Freiheit freigegeben, die sich hier offenbar als Entscheidung erweist: Sie scheidet, oder ›löst‹ das widersprüchliche Verhältnis der zwei Willen Gottes, so dass der eine der Grund des anderen wird. Aus welchem Grund wirkt aber die Freiheit selbst? Ihre Unbedingtheit zwingt den menschlichen Verstand, nur die Folgen ihrer Tat zu begreifen, während ihr Grund undenkbar bleibt, sonst wäre sie keine wirklich absolute Freiheit.

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Schelling: Gründer des Abgrundes

Das wichtigste Ergebnis der denkerischen Tollkühnheit Schellings besteht darin: Der Abgrund der Freiheit, ihr ohne-Grund-Sein verweist dank der Reflexionen Schellings nicht mehr auf eine unendliche Leere, auf das Nichts, sondern nimmt die Gestalt einer reinen, unbedingten Potentialität an. Aus dieser ursprünglichen Potenz des Wesens Gottes entspringt der allererste freie Anfang, von dem die ganze Offenbarung abhängt. Das Anderssein des Absoluten findet eine denkerische Gestalt und bleibt zwar inhaltlich undenkbar, aber nicht unvorstellbar. Auch wenn das Modell dieser Theorien Schellings der biblische, trinitarische Gott ist, entwickelt er einen mächtigen philosophischen Begriff des (Ab)Grundes, der unabhängig von seiner theologischen Kehrseite betrachtet werden kann. Der Grund gestaltet sich als absoluter Anfang, dessen Absolutheit in der Freiheit besteht. Die Freiheit macht seine ontologische Differenz gegenüber dem Sein aus: Die Freiheit ist Anfang und Grund, nur insofern sie zugleich Abgrund ist. Sie ist die reine Potentialität, die dem Sein und sogar Gott vorausgeht. Schelling bringt die zwei Figuren Gottes und der Freiheit zusammen, indem er die Unterscheidung in Gott von Grund und Existenz denkt, und verbindet diese Dualität mit der Potenz der selbstdeterminierenden Freiheit, die ohne Grund sein muss. Nichts kann vor der abgründigen Potenz der Freiheit gedacht werden: Das ganze Sein schwebt auf diesem Abgrund, und nur dadurch, durch die daraus stammende Vereinigung von Sein und Nichts, Licht und Dunkelheit, leuchtet seine Herrlichkeit. Eben der Begriff der Potenz oder der Urpotentialität Gottes wird in den folgenden Jahren von Schelling wieder aufgenommen und fast obsessiv entwickelt: Dadurch wird das Absolute wirklich ›befreit‹ von der von der Tradition aufgebauten Struktur der Notwendigkeit und folglich nur als unvordenklich und unbestimmbar denkbar und sagbar: In diesem Paradox besteht die Herausforderung des Denkens Schellings, die von unterschiedlichen Seiten als reiner Irrationalismus oder als die Kapitulation der Vernunft gelesen wurde. Schelling gibt aber die Vernunft und ihr Vermögen nie auf: Eben dank der menschlichen Vernunft (und ihres ›Scheiterns‹ durch eine Ekstase) kann diese neue Konzeption des Grundes erreicht werden. Die Überschreitung des ontologischen Modells des aus Notwendigkeit bestimmten Grundes bringt die Überschreitung oder die Umkehrung des gnoseologischen Modells der herrschenden Subjektivität mit sich: Das Subjekt muss völlig aus sich heraus gehen, seine Egoität ver75 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

1 · Die Verwandlung des Grundes: Der unbegründete Grund bei Schelling

gessen, um zum Absoluten fähig zu werden. Schelling zeigt mit seiner letzten Philosophie, dass es möglich ist, auf das Absolute – der höchste Anspruch des abendländischen Denkens – nicht zu verzichten, indem man die Schwelle des subjektivistischen Paradigmas überschreitet und wagt, eine von sich unabhängige Darstellung des Grundes zu denken. Gewiss geht es immer um eine (subjektive) Darstellung von etwas, das an sich nicht vorstellbar ist: Aber genau in diesem Grenzgedanken erfüllt sich das Aus-sich-heraustreten der menschlichen Vernunft, die jetzt befähigt wird, jenen unvordenklichen Anfang seiner aus reiner Freiheit bestimmten Natur nach zu betrachten.

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Zweites Kapitel »Vor und über dem Sein«: Die Potenz als Befreiung des Absoluten

Dieses Kapitel nimmt einige während des Zeitabschnitts 1821–1854 verfasste Werke in Augenschein. Nach der Gestaltung eines alternativen Begriffes des Grundes, dessen Kern die absolute Freiheit ist, konzentriert sich Schelling auf die schwierige Aufgabe, einen solchen Grund in Gott definitiv zu denken. Obwohl die Entwicklung des Begriffes der absoluten Freiheit von Anfang an mit der Figur des christlichen Gottes notwendigerweise in Verbindung steht, zieht Schelling nur in dieser späteren Phase die eigentlichen Schlüsse, die aus der Koexistenz des Ungrundes mit Gott folgen. Der Wendepunkt zeigt sich in einer bestimmten ontologischen Charakterisierung der Freiheit, die in dem Begriff des ›reinen Könnens‹ besteht. ›Können‹ wird das Verb der Freiheit und bestätigt ihre ontologische Differenz, indem es das Sein ersetzt: Die Freiheit ›ist‹ nämlich vor dem Sein, deswegen ›ist‹ sie tatsächlich nicht, sondern sie kann – sie ist das ›Seynkönnen‹. Das Können bringt eine offensichtliche Ambivalenz mit sich, die Schelling ohne Zögern Gott zuschreibt: Gott wird auf diese Weise derjenige, der die Potenz des Abgrunds seiner Freiheit in sich ertragen kann und dessen Existenz genau aus diesem unbestimmbaren Abgrund erzeugt wird. Die Dynamik des Grundes, wie schon die Stuttgarter Privatvorlesungen andeuteten, ereignet sich durch eine freie ›Potentialisierung‹ des Absoluten, das auf diese Weise anfangsfähig wird oder, mit anderen Worten, das sich zum Anfang macht. Gott wird infolgedessen nicht unmittelbar der Anfang, sondern der Anfangende. In diesem Paradigma ist der Anfang nicht gegeben und ist mit dem Absoluten nicht gleich, er entspringt jedoch aus der ab-gründigen Bestimmung, oder Entscheidung, einer ›lauteren‹ Freiheit. Von diesem fundamentalen Denkwechsel hängen andere Probleme ab, wie zum Beispiel das gnoseologische Thema: Schelling muss die Charakterisierung der ›intellektuellen Anschauung‹, die ›Ekstase der Ver-

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2 · »Vor und über dem Sein«: Die Potenz als Befreiung des Absoluten

nunft‹ wird, vertiefen, als ob die ontologische Differenz der Freiheit eine ›gnoseologische‹ Differenz als notwendiges Korrelat hätte. Schelling wir zu keinem endgültigen Ergebnis oder System kommen: Seine Philosophie lässt eine wirkliche Dramatik des Denkens erkennen, das zu seinem unvordenklichen Anfang erneut angetrieben wird und entlang dieses schwierigen Wegs fähig wird, ›sich ganz bloß und arm fühlen, alles dahingeben, um alles zu gewinnen‹ (vgl. SW IX, 218).

2.1. Erlanger Vorlesungen (1821) Bis heute ist nur ein geringer Teil der Erlanger Vorlesungen veröffentlicht: Dieser Text wurde unter dem Titel Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft im fünften Band der Sämmtlichen Werke veröffentlicht, aber es handelt sich um keinen authentischen Text Schellings, da er selbst in der Übersicht seines handschriftlichen Nachlasses schrieb: Eine dritte Hs. [Handschrift] enthaltend die ersten Erlanger Vorlesungen, dem bloßen Stoff nach, denn sie wurden frei vorgetragen (zwei Nachschriften, die eine gebunden, die andere ungebunden in einzelnen Heften, liegen bei). Höchstens Einzelnes brauchbar; zu vernichten, wenn ich nicht noch Zeit gefunden, es selbst zu thun […]. 1

1969 gab Horst Fuhrmans den Band Initia Philosophiae Universae heraus, in dem der Text der Sämmtlichen Werke parallel mit den detaillierten Notizen Friedrich Leonhard Enderleins, der alle sechsunddreißig Vorlesungen Schellings mitgeschrieben hatte, gelesen werden kann. Dank dieser Arbeit kann man annehmen, dass der Text der Sämmtlichen Werke nur die Vorlesungen 3 bis 11 enthält. In Kürze wird das handschriftliche, alle sechsunddreißig Vorlesungen beinhaltende Manuskript Schellings 2 endlich zugänglich: Dieser authentische Text ist in dem zehnten Band der historisch-kritischen Ausgabe im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Fuhrmans 1959, 15. Fuhrmans vermutete, dass der in den Sämmtlichen Werken publizierte Text aus einer Kombination der schellingschen Notizen mit dem Text der Nachschriften, die mit dem Münchner Nachlass untergegangen sind, entstanden sein könnte. 2 Es befand sich im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Zur Manuskriptbeschreibung s. AA II,10,1, 19–23. 1

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Erlanger Vorlesungen (1821)

Wissenschaften (Reihe II, Nachlass) publiziert 3 und »nur dieser Text bietet eine zuverlässige Grundlage für eine Bestandsaufnahme von Schellings Denken zu Beginn der 1820er Jahre«. 4 Dieser Text ist nicht leicht lesbar: Es handelt sich jeweils um einen Haupttext der Vorlesung, der von Stichworten, neuen Fassungen und manchmal ›Konzepten‹ ergänzt wurde. Wahrscheinlich hatte Schelling diese Blätter als Gedächtnisstütze vor Augen, als er die Vorlesungen freihielt. Der Methode dieser Arbeit entsprechend wird hier der Versuch unternommen, die von Schelling in Erlangen entfalteten Thesen aus diesem authentischen Text hervorzuheben. Diese Vorlesungen zeigen eine große Kontinuität im schellingschen Denken und bringen wesentliche Thesen bezüglich des Themas des absoluten Anfangs vor. Vor allem vertieft hier Schelling den Potenz-Charakter des absoluten Anfangs, indem er das Schema der drei Potenzen für die Erläuterung des Begriffs der ›ewigen Freiheit‹ noch einmal einsetzt.

2.1.1. Das Prinzip der Philosophie: Ewige Freiheit Das Hauptthema der Erlanger Vorlesungen besteht ohne Zweifel in der Frage nach dem Prinzip oder dem Anfang. Schon auf den von dem Sohn Schellings publizierten Seiten wurde klar, dass Schelling sich in den 1820er Jahren intensiv mit dem Thema des Anfangs (Initia) beschäftigte. Die Herausforderung Schellings in diesen Vorlesungen besteht vielleicht darin, dass er einen wirklich neuen Begriff des Anfangs entwickeln wollte. Schelling schlägt eine dynamische Figur des Prinzips vor, die nichts mit einem statischen, einmaligen, anfänglichen Ausgangspunkt zu tun hat: »Nämlich das Princip der Philosophie ist das, was nicht etwa nur im Anfang Princip ist und dann aufhört es zu seyn, sondern es überall und immer, was im Anfang, Mittel und End’ gleicherweise Princip ist« (SW IX, 215). Das Prinzip, von dem Schelling spricht, ist kein Grundsatz einer fortschreitenden Kette von Deduktionen, sondern eine andauernde Entwicklung und Bewegung – ein Mein besonderer Dank gilt der Präsidentin der Schelling-Gesellschaft, Frau Prof. Lore Hühn, da Sie mir diesen Band zur Verfügung stellte, als er noch in Vorbereitung war. 4 Ed. Bericht: Allgemeiner Teil in AA II,10,1, 11. 3

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2 · »Vor und über dem Sein«: Die Potenz als Befreiung des Absoluten

Subjekt, »das durch alles geht, und in nichts bleibt«. Ein Subjekt ist aber normalerweise definierbar, Schelling hingegen sucht »etwas ganz anderes…schlechthin indefinibel« (SW IX, 216). Das Anderssein des Prinzips, des »absoluten Subjekts« kehrt zurück und erweist sich wieder als eine der prägendsten Bestimmungen, die Schelling dem Begriff des Anfangs zuschreibt. Die Grenzen der Sprache und des Denkens werden keineswegs überschritten dank der paradoxalen und trotzdem logischen Denkweise Schellings, die ihn in die Lage versetzt, den Begriff des Anfangs, des »wahrhaft Unendlichen« tatsächlich anders zu gestalten; Diesbezüglich schrieb er: »hier muss das Endliche, alles, was noch ein Seyendes ist, verlassen werden«. Die traditionellen Kategorien der Metaphysik können den Anfang, das Prinzip, nicht erfassen, weil sie nach ihm und aus ihm kommen: Um das Prinzip zu begreifen, fordert Schelling das Verlassen jeglicher Kategorie, die in diesem Fall nur als Hindernis fungieren würde. Sein Diskurs ist so radikal, dass die Grenzfigur des Denkens selbst abgelehnt wird: »hier gilt es alles zu lassen […], selbst Gott, denn auch Gott ist auf diesem Standpunkt nur ein Seyendes« (SW IX, 217). Mit dieser Terminologie verweist Schelling auf eine ontologische Differenz, die das gesuchte Prinzip oder Subjekt bestimmt: Jedes seiende ›Etwas‹ ist ungeeignet, das Absolute zu beschreiben. Das »absolute Subjekt« wird von Schelling »über Gott hinaus« gedacht, als eine mystisch klingende Übergottheit. Die einzige Voraussetzung im Diskurs Schellings besteht darin, dass die Suche nach dem Prinzip keine gnoseologische und ontologische Voraussetzung haben darf. Wenn das Prinzip wirklich absolut gedacht werden soll, muss es ab-solutus, d. h. un-bedingt von allen aus den Seienden stammenden Bestimmungen und Gestalten sein: Es muss frei sein, »sich in eine Gestalt einzuschließen und nicht einzuschließen« (SW IX, 219). Seine einzige mögliche Gestalt ist die Freiheit, die aber an sich ohne Gestalt ist: Sie »ist das, was frei ist, Gestalt anzunehmen«. Die Freiheit wird schon am Anfang der Vorlesungen als der einzige positive Begriff des Absoluten genannt, weil sie die reine Unabhängigkeit ausdrückt: Der radikale Versuch Schellings geht quasi in die Richtung einer ›Phänomenologie‹ des Anfangs, er vollzieht eine Art von Epoché, damit der Anfang sich als er selbst im Denken zeigen kann. Die Erlanger Vorlesungen werden diesen ursprünglichen und hier schon dargestellten Begriff der positiven Freiheit weiter bestimmen und entwickeln: Schelling versucht eben die absolute Freiheit begreifbar und denkbar zu machen und betrachtet sie in ihrer Reinheit. Diese 80 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Erlanger Vorlesungen (1821)

quasi phänomenologische Betrachtung führt ihn zu dem anderen tragenden Begriff der Vorlesungen, nämlich das »lautere Können«. Das Können ist an sich etwas Unbestimmtes, das sich potentiell durch alle Möglichkeiten bestimmen könnte, aber tatsächlich nicht so unbestimmt ist, dass man überhaupt kein Konzept von ihm haben kann. Das reine Können drückt zugleich, eben als »das absicht- und gegenstandlose Können«, einen »lauteren Wille« aus, »der Wille, sofern er weder will noch nicht will« (SW IX, 220). Die Verbindung der Begriffe von Freiheit, Können und Wille ergibt sich für Schelling ohne weitere Erklärung, als ob sie quasi Synonyme für dasselbe Urphänomen wären. Das Wollen entspringt aus dem Können, »wenn das Können zur Wirkung übergeht« (AA II,10,1, 50); aber das, was Schelling hier betrachtet, bleibt vor dieser Wirkung und heißt »das ruhende Wollen«, die perfekte Gleichgültigkeit oder Indifferenz gegenüber allen Möglichkeiten, die schon in den Weltaltern eine große Rolle gespielt hatte. Schelling präzisiert, dass die Begriffe von Können und Wollen sich »in dem Wort Mögen« vereinen, und wieder nicht mögen von etwas, sondern das reine, indifferente Mögen. Der Anfangspunkt (und die Methode) Schellings besteht hier erneut in der Darstellung eines echten Grenzbegriffs, den er unmittelbar präsentiert: Im Laufe der Vorlesungen wird er sich darum bemühen, diesen Begriff zu vertiefen und zu analysieren immer mit der Absicht, sein ontologisches Anders-sein hervorzuheben. Diesbezüglich könnte man auch von einer wirklich ontologischen Differenz sprechen: Das von Schelling gedachte Absolute ist über Sein und Gott. Seine unauslöschliche Differenz impliziert aber nicht das Schweigen des Denkens, sondern treibt es zu seiner größten Herausforderung und zu seinem eigensten Ziel. Die ›narrative‹ Philosophie der Weltalter nimmt hier in den Erlanger Vorlesungen wieder eine eher argumentative Form an: Das Schweben des Denkens Schellings zwischen Narration und Argumentation ist im Übrigen typisch für diese Jahre und wird von nun an immer bleiben: Es ist Zeichen der beständigen Suche Schellings nach dem geeigneten ›Wort‹ des Anfangs, des Prinzips der Philosophie, das er in seinem totalen Anderssein zu begreifen suchte.

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2 · »Vor und über dem Sein«: Die Potenz als Befreiung des Absoluten

2.1.2. Die ontologische Differenz der ewigen Freiheit: Das Seinkönnen An verschiedenen Stellen beharrt Schelling auf dem Verbot, über die Freiheit als ein Seiendes zu sprechen. Natürlich, die Freiheit ist: Die Sprache nötigt uns, ihre Absolutheit nur so artikulieren zu können. Dennoch drückt das sich auf die Freiheit beziehende ›Ist‹ kein gegenständliches Sein aus, sondern es bezieht sich auf eine einzigartige Modalität von Existenz, die nur der ewigen Freiheit, dem Prinzip, angehört. Die Freiheit könnte eventuell ein Seiendes werden (sie wurde von Schelling als reines, indifferentes Können oder Mögen bezeichnet), aber sie selbst ist kein seiendes ›Etwas‹. Wie könnte man denn das Wesen der Freiheit in Sprache umsetzen? Aufgrund der Radikalität seines Denkens formuliert Schelling seine eigene Version der ontologischen Differenz: »Aber wenn sie nicht Etwas ist, was ist sie denn sonst? Auf diese Frage können wir nicht wieder antworten, Sie ist Nichts. Denn alsdann wirklich das vollkommene Nichts« (AA II,10,1, 116). Die Freiheit ist kein Seiendes, folglich ist sie das Nichts: Ihr Sein zeigt sich nicht in einem Seienden, sondern in dem Nichts: Das Nichts bedeutet aber hier für Schelling nichts völlig negatives, sondern »wir verlangen einen positiven Begriff«. Inwiefern ist aber der Begriff des Nichts positiv? Eben indem er keine aktive Negation in sich birgt (wie bei den Sätzen: Sie ist nicht seiend / Sie ist kein Seiendes), sondern die Bejahung von Etwas, wenn auch des Nichts. Außerdem verweist das von Schelling gemeinte Nichts nicht auf das Nihil, auf das »(ver)nichtende Nichts«, sondern bringt nur eine bestimmte Art von Sein zum Ausdruck, eben die Modalität der Existenz der ewigen Freiheit. Schelling stellt in der Tat klar, dass er nicht jede Form des Seins von der Freiheit ausschließt, sondern nur »das gegenständliche Seyn«: Das Nichts der Freiheit stellt auf eine paradoxale Weise das reine Sein dar durch seine radikale ontologische Differenz mit jedem Seienden. Nichts und Sein bedeuten hier dasselbe: »die ewige Freiheit ist eben das Seyn selbst, das Seyn an sich – und es gibt kein andres Seyn an sich als die ewige Freyheit selbst. Die beyden sind nicht bloß Eins…sondern einerley« (AA II,10,1, 119). Aufs Neue verbindet Schelling die ontologische Differenz, die die Freiheit kennzeichnet, mit dem Begriff eines nichts wollenden, nichts begehrenden Willens: Dieser Begriff fungiert als eine Art denkerische Gestalt der Freiheit, eben die einzige, die sie in ihrer grundsätzlichen Differenz mit den Seienden darstellen kann. Der Wille, über den 82 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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Schelling spricht, ist wiederum von besonderer Art: Es geht nicht um einen Willen von etwas, das sich folglich zum Gegenstand macht, sondern um den indifferenten, gegenstandlosen Willen an sich. Das Verhältnis zwischen Wille und Sein vollzieht sich gerade in der Gleichgültigkeit, die den Willen nochmals auf eine paradoxale Weise charakterisiert. Der Wille ist dem Sein gegenüber indifferent; er will es, nur indem er es nicht will, d. h. indem er das Sein sein lässt: »dass die ewige Freiheit das Seyn selbst ist beruht wieder darauf, dass sie dieses Seyn ursprünglich nicht von sich wegbringt, dass sie es an sich hat«, und weiter »dass sie das Seyn selbst ist wieder darauf beruht, dass sie dieses Seyn lässt, es sich nicht gegenständlich macht und in Folge dessen anzieht« (AA II,10,1, 121 f.). Die Gleichgültigkeit des Willens entspricht der Lauterkeit der Freiheit: Die »Tätigkeit« der ewigen Freiheit besteht in dem Sein-lassen oder die Freiheit »ist«, indem sie das Sein nicht anzieht und es folglich sein lässt. Schelling interpretiert das »nicht«, das zur Tätigkeit der Freiheit gehört (das Sein nicht anziehen oder nicht gegenständlich machen), als einen »Rückfall in das Negative«, der aber ermöglicht, »uns zum Positiven zu erheben« (AA II,10,1, 126). Dieses Schema ist wiederum für Schelling nicht neu: Die Negativität ist immer das unvermeidliche Mittel zur Positivität, die andere, notwendige Seite jedes Positiven. Schelling schlägt eine präzise, ontologische Struktur des Prinzips vor: Das Wesen der ewigen Freiheit besteht in der Gleichgültigkeit gegenüber dem Sein, d. h. in einem reinen (ohne Objekt) Wollen oder besser: Mögen. Er stellt diesen Zustand oder »Urstand« des Prinzips auf die gleiche Ebene auch mit dem reinen Sein, das er völlig von jeder Form der Seiendheit unterscheidet. Diese Unterscheidung beruht darauf, dass die Freiheit das Sein nicht anzieht, sondern sein lässt. Schelling spricht in diesem Sinne von der »Lauterkeit« der Freiheit, d. h. von der Gelassenheit des lassenden Willens und des gelassenen Seins; das dem Prinzip zugeschriebene Können verweist auf die innewohnende Potentialität des Absoluten, jede mögliche Form anzunehmen, da es in seinem »Urstand« nur in dem reinen Sein besteht. Die ursprüngliche Einheit des Prinzips wird von Schelling auch »Nichtgezwytheit« genannt: »die Nichtgezweytheit ist das Seyn der ewigen Freiheit…die Nichtgezweytheit ist die ewige Freyheit selbst als Seyn und zwar als bloßes Seyn gesetzt« (AA II,10,1, 127). Die Nichtgezweyheit ist als Voraussetzung des »sich-zweyen Könnens« gedacht, wie jede Einheit Voraussetzung einer Doppelheit ist. Schelling 83 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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beharrt – auf diese ziemlich gewundene Weise – auf der in dem Prinzip enthaltenen Potentialität und zwar einer absoluten Potentialität, das Sein anzunehmen oder nicht anzunehmen, »sich in eine Gestalt einzuschließen und nicht einzuschließen«. Das von Schelling gedachte Prinzip schwebt ohne Zweifel über dem Nichts, aber dieses Nichts gehört notwendigerweise zu der reinen Potenz, es ist das Mögliche par excellence, das alle Möglichkeiten in sich einschließt. Es ist Nichts insofern es Alles ist. Immer wieder kehrt Schelling zur dynamischen Struktur des Prinzips zurück und versucht sie auch durch das vielseitige Schema der drei Potenzen zu beschreiben: Das »reine Können« wird als erste Potenz gesetzt (–A); das »lautere Sein« als zweite (+A) und das »eigentliche Seinkönnen« (AA II,10,1, 220) als dritte Potenz (+–A). »Wir können sagen, die beyden ersten seyen die Zweiheit, das dritte die Einheit« (AA II,10,1, 223): Das Subjekt der Potenzen ist immer das Absolute (A0), aber in drei verschiedenen »Zuständen«, deren Abfolge nicht chronologisch begriffen werden darf, sondern als innere bewegliche, dynamische Einheit des Absoluten selbst. Schelling geht noch weiter: »Diese Einheit ist also auch nicht gesetzt um zu bleiben, sondern eben nur als Anfang, um sogleich aufgehoben und als ewige Vergangenheit gesetzt zu werden« (AA II,10,1, 238). Die ursprüngliche Einheit, in der das Absolute vorgestellt werden muss, ist gewiss eine dynamische, aber auch eine »unbewusste« Einheit, in der die ewige Freiheit nicht bleiben kann. ›Unbewusstheit‹ bedeutet für Schelling ›Unfreiheit‹ oder ›Zufälligkeit‹, die nicht zur ewigen Freiheit gehören kann. Der Potenzzustand des Absoluten wurde schon als die reine Indifferenz bezeichnet, damit der schwierige Begriff der Potenz besser gedacht werden konnte: Die Freiheit kann aber nicht in diesem starren Zustand bleiben, hingegen muss sie Anfang werden und die ursprüngliche Indifferenz durchbrechen. 5 Die ewige Freiheit – wird Schelling später sagen – muss Leben werden, kann nicht in einem toten, wenn auch ewigen, Zustand bleiben (durch den Begriff der Gleichgültigkeit dargestellt). Die ontologische Differenz wird ein unentbehrliches Element im Denkens Schellings, um die Absolutheit des Prinzips durch die Unterscheidung von jedem Seienden nochmals hervorzuheben und herauszuarbeiten. Das ›Nichts‹, das ›Seinkönnen‹, die Gleichgültigkeit, die Vgl. die Thematisierung der Differenz zwischen Anfang und Anfangendem bei Cacciari 2001, 230–277.

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›Nichtgezweytheit‹ sind alles Synonyme und Versuche, einen eigentlichen Grenzbegriff zu denken: Es geht um den Urstand des Absoluten, was in Die Weltalter als die ›Vergangenheit Gottes‹ bezeichnet wurde; Schelling denkt das Absolute als etwas, das über dem Sein ist, das deswegen undenkbar und unvorstellbar wie die anderen Seienden ist, aber nicht unsinnig. Es muss jenseits aller Vorstellungen von Absolutheit sein, sogar von Gott: Die Undenkbarkeit und die Unvorstellbarkeit sind aber für Schelling keine Synonyme von Unsinnigkeit: Hingegen treiben sie die Kraft des menschlichen Denkens bis zu seinem höchsten Anspruch. Die einzige Form, die Schelling für diesen undenkbaren Zustand zu finden scheint, ist die Potenz an sich. Die bloße Potentialität drückt in der Tat ein Nichts aus, eben das Nichts des noch nicht: Das Absolute ist an sich völlig frei, zu existieren oder nicht, es ist noch nicht lebendig geworden. Die Freiheit selbst wird von Schelling viel profunder als die Wahlfreiheit begriffen und zwar als absolute Freiheit: Vor jeder ›Wahl‹ oder ›Verwirklichung‹ verharrt sie in einem über allen Möglichkeiten schwebenden Zustand, der sie ontologisch einbezieht und sie wirklich ab-solut, frei von allem macht. Auf diesem ›Moment‹ der Dynamik des Prinzips beharrt (nicht ohne Unklarheiten und Schwierigkeiten) Schelling, um die Freiheit ontologisch zu kennzeichnen und zugleich von jedem anderen Begriff zu unterscheiden. Die ontologische Differenz impliziert aber auch eine gnoseologische Differenz, die Schelling als ›intellektuelle Anschauung‹ oder ›Ekstasis der Vernunft‹ bezeichnen wird.

2.1.3. Die Ek-stasis der Vernunft: Die Verlegung des Denkens Die Differenz der Freiheit zeigt sich nicht nur ontologisch, sondern auch gnoseologisch (ansonsten wäre sie keine absolute, totale Differenz): »Wie können wir jenes absolutes Subjekt, die ewige Freiheit wissen?« (AA II,10,1, 58). Das Wissen gehört aber dem Menschen und dem menschlichen Verhältnis Subjekt-Objekt, nicht dem absoluten Subjekt, das Schelling sucht. Dieses Subjekt besitzt kein Wissen sondern nur die Weisheit: Die Weisheit unterscheidet sich vom Wissen, da sie unmittelbar erkennt, sie braucht nicht das Verhältnis des Subjekts und zum Gegenstand, um ›wissend‹ zu werden. Sie beherrscht das Objekt, wie die von Schelling erwähnte hebräische Wurzel des Wortes auch zeigt: Herrschaft, Macht, Stärke. 85 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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Aus diesem Grund scheint das Prinzip von aller menschlichen Erkenntnis ausgeschlossen zu sein: Schelling bleibt aber der Logik seines Diskurses treu und versucht, eine Form der Erkenntnis, die der Natur des Absoluten entspricht und sie nicht auf ihre eigenen Kriterien reduziert 6, zu rechtfertigen. Zuvorderst behauptet Schelling, dass die Philosophie keine demonstrative Wissenschaft ist, wie z. B. die Naturwissenschaften: Er versteht die Philosophie vor allem als eine »freye Geistesthat«, deren »erster Schritt ist nicht ein Wissen, sondern vielmehr ausdrücklich ein Nichtwissen, ein Aufgeben alles Wissens für den Menschen« (AA II,10,1, 62). Schelling lädt abermals zu einer Art von Epoché ein: Der erste Schritt zur Erkenntnis des Absoluten besteht in der Anerkennung der eigenen Unfähigkeit, das Absolute zu ›wissen‹. Nur im ›Nichtwissen‹ erweist sich das Absolute oder die ewige Freiheit: »Jenes absolute Subjekt ist nur da, sofern ich es nicht zum Gegenstande mache, […] denn es kann nicht Objekt sein«. Die Gegenständlichkeit, durch die die Seienden normalerweise erkannt werden, lässt hier Raum für die bloße Anwesenheit des Absoluten bei dem erkennenden Subjekt. Schelling beschreibt dieses seltsame Verhältnis mit der Formulierung ›intellektuelle Anschauung‹, um sie von der sinnlichen Anschauung zu unterscheiden: Die intellektuelle Anschauung ›verliert‹ sich nicht in einem bestimmten Objekt, sondern in dem, was nicht Objekt sein kann. 7 Sie vollzieht sich durch das Aufgeben jeder Erkenntniskraft, was Raum für das reine Schauen lässt. Schelling nennt diese Erfahrung auch ›Ekstasis‹ und will damit das Außer-sich-sein, das das Subjekt erfährt, hervorheben. Letzteres setzt sich nicht mehr als Ego cogito, sondern »muss den Ort [seiner Egoität] verlassen«, weil »nur in dieser Selbstaufgegebenheit kann ihm das absolute Subjekt aufgehen« (AA II,10,1, 64). Es geht um eine Verlegung 8 des Denkens in Form einer Dezentralisierung: Das Denken erkennt, dass nicht alles unter seinen Bedingungen ausgeführt und beurteilt werden kann. Schelling nennt mit Recht dieses Geschehen auch Krisis und greift auf den griechischen (und kantischen) Sinn zurück: Die ›Geburtsstunde‹ der Philosophie ereignet sich in dem Moment, in dem sie sich vor Gericht stellt und

Eine Polemik gegen Kant steht auch im Hintergrund, wie Schelling selbst später erklären wird. 7 Vgl. Ewertowski 1999, 84–133. 8 Zu einem Vergleich Hegel-Schelling über dieses Thema s. Lauer 2010. 6

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die Grenzen ihrer Methode abwägt. In diesem Moment erkennt sie, dass es Etwas gibt, das diese Grenzen überschreitet und einen anderen Weg erfordert. Das Verhältnis zwischen absolutem Subjekt und menschlichem Wissen wird von Schelling in einem grundsätzlicheren Sinn erfasst: Auf der einen Seite steht in der Tat das Absolute, auf der anderen das Nichtwissen des Subjekts. Wie geht aber das Erste in das Zweite ein? Ist es überhaupt möglich? Schelling beschreibt dieses Verhältnis wie einen Prozess der ›Selbsterkennung‹ oder des ›Zusichkommens‹ des Absoluten selbst; die Gedanken Schellings darüber sind weitgehend unklar und schwierig zu verfolgen, weil er im Grunde versucht, neue Begriffe durch alte (in diesem Fall idealistische) Schemata zu erläutern. Die davon handelnden Vorlesungen umreißen einen triadischen Prozess: Die ewige Freiheit darf nicht in sich selbst bleiben, sie muss außer sich treten; in diesem Moment wird sie Objekt für das erkennende Subjekt, d. h. sie wird Nichtfreiheit (die einzige Weise, in der sie Objekt werden kann). Das Subjekt sucht sie aber als eigentliche Freiheit und dies wird nur möglich, wenn das Subjekt sein Wissen aufgibt und sie als absolute, ewige Freiheit schließlich erfasst. Die ewige Freiheit selbst wird dank dieses Durchgehens durch den menschlichen Erkenntnisprozess bewusst: Somit wird der Zirkel geschlossen. Aus dieser Sicht spricht Schelling auch von Erinnerung: »Darum – obwohl nur im letzten Moment Erinnerung ist, kann man doch sagen: die ganze Philosophie bestehe in Erinnerung – nämlich in werdender, sich allmählich erzeugender Erinnerung« (AA II,10,1, 93). Dank des Aufgebens allen Wissens erinnert sich der Mensch an die verlorene, ewige Freiheit, die bis zu diesem Moment nur als Nichtfreiheit sich zeigen konnte, weil sie zum Gegenstand gemacht wurde. Die intellektuelle Anschauung besteht in dieser Erinnerung, in dieser Ahnung des Ursprungs und vollzieht sich, indem sie das Absolute seiner Natur nach sein lässt. Das Ergebnis dieses Prozesses ist kein bestimmtes, gegenständliches Wissen: Schelling nennt es »die ewige Magie, die Weisheit, die aller Kunst Meister ist« (AA II,10,1, 108). Diese ›Magie‹ scheint keine gnoseologische Bedeutung zu haben, sondern verwandelt sich in eine praktische Form um: »Der Mensch sollte das stille der zu sich selbst gekommenen ewigen Freyheit seyn, die eben durch dieses zu sich selbst Kommen die verwirklichte Weisheit war« (AA II,10,1, 109). Das Ergebnis der intellektuellen Anschauung ist kein Wissen, sondern ein Sein, besser noch ein Werden: Der Mensch wird – er selbst – die lebendige Gestalt der ewi87 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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gen Freiheit, des Absoluten, wenn er die Formen der ›demonstrativen‹ Erkenntnis aufgibt. Die intellektuelle Anschauung hat viele gemeinsame Elemente mit der ›Mitwissenschaft‹ der Weltalter: Die Möglichkeit der ›Erkenntnis‹ oder der ›Anschauung‹ des Absoluten ist für Schelling unabdingbar, sie gehört zur Existenz selbst, zum Dasein selbst des Absoluten. Wenn das Absolute da ist, muss es erkennbar sein: Das Absolute ist aber jenseits des Seins und kann nicht wie alles Seiende erkannt werden; diese Tatsache bedeutet aber nicht für Schelling die totale Unfähigkeit des menschlichen Verstandes gegenüber dem Absoluten, sondern enthüllt ein anderes, davon sich unterscheidendes Vermögen, das das Absolute in seiner Absolutheit anerkennt und konsequenterweise so sein lässt. Diesbezüglich kommt die Polemik Schellings gegenüber Kant offen zum Ausdruck: Allein er [Kant, S. P.] setzt dabey immer voraus, dass es [das Absolute, S. P.] mit diesen Formen [unseres endlichen Verstandes, S. P.] erkannt werden müsste, wenn es erkennbar wäre. Allein auf die Weise wie Kant es versteht will niemand, der blos davon versteht, das Transcendente erkennen und umgekehrt was man auf diese Art zu erkennen sucht ist eigentlich gar nicht das Überschwengliche…sondern nur ein dogmatischer Begriff. (AA II,10,1, 107) 9

Die ›Dogmen‹, die Kant nach Schelling verwendet, gehören der ›Leibnitzsch-Wolffschen Schule – gleich als waere diese die einzig mögliche‹. Hingegen verlangt Schelling ein ›freies Denken‹, das fähig ist, seine Grenzen zu überschreiten: Der erste Schritt in diese Richtung besteht in diesem Aufgeben der ›endlichen Formen‹ unseres Verstandes, was Schelling auch mit dem Wort Krisis bezeichnet. Um einen neuen Anfang des Denkens zu erreichen, muss der Denker dieses Risiko eingehen und das Absolute als Absolutes erkennen, nämlich nicht als Gegenstand, sondern als ›Terminus a quo des Denkens‹.

Vgl. Hühn 2007, 208: »Schellings einschneidender Schritt einer radikalisierenden Überbietung Kants liegt in der Umdeutung der intelligiblen Tat von einem autosuffizienten Akt voraussetzungsloser Selbstanfänglichkeit zu einem von vornherein sich selbst entfremdeten Freiheitsgeschehen«.

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2.1.4. Potentia ultima Die Vorlesungen über die intellektuelle Anschauung, die als die einzige und eigenste Erkenntnisform des Absoluten präsentiert wurde, scheinen als eine Art von Prämisse zu dem folgenden Diskurs Schellings zu dienen. Die verbleibenden Vorlesungen handeln in der Tat von der Charakterisierung der ›ewigen Freiheit‹, die Schelling als Begriff des Anfangs denkt. Die Argumentation Schellings verläuft nicht auf eine demonstrative Weise, sondern – wie schon bemerkt – als eine Art von phänomenologischer Beschreibung oder Kennzeichnung des Anfangs, der dank der vorher erläuterten Anschauung oder Ekstase in seiner Absolutheit erkannt wurde. Schelling verwendet bestimmte, wenn auch ungewöhnliche Begriffe, um die ›ewige Freiheit‹ zu gestalten, besonders mit dem Ziel, ihren anfangsfähigen Charakter hervorzuheben. Der eigentliche Anfang liegt dort, wo ein Anfang möglich ist: Deswegen beharrt Schelling auf Begriffen wie Potenz, reines Können und Grundlosigkeit, die alles andere als typisch für die Bestimmung eines metaphysischen Grundes sind. Das Absolute wurde schon als reines Können bezeichnet, das gleichgültig gegenüber dem Sein ist, so dass »das Können ignorirt das Sein« – oder es sein lässt – »das Können als das Lassende, das Seyn als das Gelassene« (AA II,10,1, 142). Schelling bestimmt durch das Wort ›Können‹ einen besonderen ontologischen Zustand, der auf die bloße Möglichkeit verweist. Dieser Zustand befindet sich vor jeder Form des Seins, deswegen »bedarf es keines Grundes. Wir setzen es so ohne Grund – Grundlos«. Vor der reinen Möglichkeit ist tatsächlich nichts denkbar: Das Mögliche ist der erste denkbare Begriff, der nicht nicht sein kann. Aus diesem Grund schreibt Schelling der ewigen Freiheit folgende Wesenhaftigkeit zu: Die Freiheit ist, ohne aber das Sein »anzuziehen«, sondern ist in dem Zustand der bloßen Möglichkeit. Er spricht von einer »Natura duplex, anceps« der Freiheit, die in das Sein treten kann oder nicht, »es ist also was das Seyn sich anziehen kann« (AA II,10,1, 144). Die Ontologie des von Schelling gedachten Grundes beruht gänzlich auf diesem Können: Er muss eine Ontologie ohne Sein oder vor dem Sein umreißen, damit der Anfang sich tatsächlich absolut (d. h. anders) im Denken manifestieren kann. Das »Sein« der ewigen Freiheit besteht in dem Können, »als potentia pura, als die nicht seyende«: Die Freiheit ist unmittelbar nicht, sondern sie kann sein: Das »nicht« wird hier nur verwendet, um die ontologische Differenz der Freiheit zu kennzeich89 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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nen, weil »die ewige Freyheit selbst, um seyend gesetzt zu werden, muss erst im Potenz-Zustand, als nicht seyend gesetzt zu werden« (AA II,10,1, 152). Um über einen vollkommen differenten ontologischen Zustand zu sprechen, hat Schelling keine andere Wahl, als den Gegen-Begriff des Seins, eben das Nichtsein, für die Freiheit zu verwenden. Die erste Gestalt der Freiheit zeigt sich in diesem potentiellen, nichtseienden Zustand des bloßen Könnens, potentia ultima, »die Wurzel an die alles geheftet ist«. Schelling behauptet hier ausdrücklich, dass »das ist der Grund, das ist der Anfang, den wir bis jetzt suchten, und den wir erst jetzt gefunden«. Nichts kann tiefer als die reine Möglichkeit (zu sein oder nicht) gedacht werden: »Alles Seyn ist ursprünglich Können« (AA II,10,1, 155). Schelling setzt eine Äquivalenz zwischen Sein und Können: Das Sein an sich kann nur gedacht werden, insofern es noch nicht »angezogen« ist, d. h. insofern es sich noch nicht in Form eines Seienden zeigt. Diese ursprüngliche Form des Seins ist der ewigen Freiheit gleich, deswegen wird in der Ontologie des Grundes das Sein durch das Können ersetzt, weil das Können nicht einen statischen Zustand ausdrückt, sondern etwas Bewegliches, das ein Werden in sich enthält. Dank dieses fundamentalen Ersetzens (Sein – Können) modifiziert Schelling auf eine irreversible Weise die Ontologie des metaphysisch gedachten Grundes: Der Hauptbegriff der Ontologie wird nicht mehr das Sein, sondern das Können, die Potentia pura. Letztere ist das Wesen der ewigen Freiheit, weil sie vor allen Seinsmöglichkeiten ›ist‹ und sie enthält aus diesem Grund die fundamentale Duplizität, die vor dem Sein steht und diesem eine unüberwindbare Zweideutigkeit zuschreibt. Jedes Seiende ist in der Tat zweideutig, weil es ist, aber auch nicht sein könnte. In einem Wort: Jedes Seiende ist endlich. Die ›Natura duplex‹ der Freiheit, von der Schelling spricht, zeigt sich in dieser grundsätzlichen Ambiguität des Seins: Das Sein kann sein, kann aber ursprünglich auch nicht sein. 10 Schelling versucht, die als Potenz interpretierte Freiheit noch grundlegender zu bestimmen und zieht erneut das polysemantische Schema der Potenzen heran. Er bestimmt das Absolute durch drei Begriffe, die drei Formen des Möglichen darstellen: Die Triade besteht Vgl. die entscheidende Bemerkung Schellings in der Münchener Vorlesung über Spinoza SW X, 34: »In der Möglichkeit ist noch immer eine Freiheit vom Sein, also auch gegen das Sein«.

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in den Begriffen von Seinkönnendes, Seinmüssendes und Seinsollendes. Können, Müssen und Sollen sind drei Formen desselben Begriffes, d. h. der Potenz: Wie immer im triadischen Schema Schellings fungiert das zweite Element als Scharnier zwischen dem Ersten und dem Dritten; das reine Können (–A) verweist auf die bloße anziehende Kraft des Möglichen, das »ohne Sein« begriffen wird, sondern nur als »bloßer Mangel, als Leere, die der Erfüllung bedürftig ist« (AA II,10,1, 224); hingegen verweist das Müssen (+A) auf das ›lautre Seyn‹, oder auf die zweite Möglichkeit des Seinkönnens, wenn Letzteres das Sein ›anzieht‹ ; das Seinsollende (+–A) setzt beide zusammen und stellt die Ambivalenz des Begriffes ›Potenz‹ dar. Es kann sein, aber auch nicht. Diese Erläuterung Schellings, die sich über mehrere Vorlesungen erstreckt, hebt ein weiteres und wichtiges Element hervor: Schelling setzt immer einer Bejahung eine Verneinung voraus. Die Bejahung ereignet sich nach Schelling nie unmittelbar, sondern sie bedarf einer Verneinung als Bedingung ihrer Existenz: »Denn alle Anziehung ist an sich Verneinung – das Nein kommt von Hinein« (AA II,10,1, 224). Vor der Bejahung des Seins muss seine ›Verneinung‹ da sein: Aus diesem Grund kommt Schelling zum Begriff der Potentia, der reinen Möglichkeit, als die einzige, mögliche, denkbare Figur ›ohne Sein‹. Diesbezüglich spricht Schelling auch von ›Nichtwirklichkeit‹ und Nichtsein als ursprünglicher Figur der Freiheit: Das Seinkönnen wird eben »nicht als Seyend gesetzt«, deswegen liegt dieser Zustand in der Negativität, besser in der Verneinung. Das Sein der ewigen Freiheit beruht »auf der bloßen Nichtwirklichkeit – Potentialität« (AA II,10,1, 261), d. h., dass ein ›Nicht‹ der Freiheit zu Grunde liegt und ihre Ontologie prägt: Der anfängliche Zustand der Freiheit drückt eine absolute Leere aus, die aber von Schelling positiv begriffen wird als höchste ontologische Macht, weil die lautere, leere Freiheit nicht von dem Sein bestimmt ist, sondern sie bestimmt umgekehrt das Sein. Schelling drückt dieses fundamentale Verhältnis mit Emphase aus: »heilig ist sie, weil sie auf ewig abgesondert von dem Seyn selbst nie in das Seyn hereintritt, das nie und auf keine Weise sich selbst Verwirklichende ist – das aber ebendarum das Bestimmende alles Seyns ist« (AA II,10,1, 264). Die Freiheit ist »das Bestimmende«, weil sie selbst nicht ist, in dem Sinne, dass sie potentiell jede Form des Seins enthält; insofern kann Schelling am Ende behaupten: »Aber eben dieses Verneinende muss zuerst und vor allem begriffen werden – denn überall nur in der Verneinung liegt der Anfang« (AA II,10,1, 308). Die in der Freiheit enthaltene Ver91 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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neinung repräsentiert ihre anziehende, attraktive Kraft, die gegenüber dem Sein wirkt: Die erste ›Wirkung‹ der ewigen Freiheit ist aus diesem Grund eine ›Contraktion‹, eine Potentia pura, die unmittelbar als Actus purus wirkt. Die Potentia wirkt in der von Schelling umrissenen Ontologie als Actus, ist eine aktive Potenz, 11 die einzige, die das Sein anziehen (d. h. zur Existenz erheben) kann. Vor jeder Bestimmung des Seins liegt »das nicht Vorhergesehene, dessen man sich nicht versehen, an das niemand gedacht hat – nur dieses macht einen wahren Anfang« (AA II,10,1, 311): Der Anfang liegt deswegen nicht in der Behauptung, in der Setzung von etwas, sondern in einer ursprünglichen Verneinung oder Kontraktion, die den Raum für das Sein oder für das Nichts frei lässt. Der besondere ontologische Zustand der ewigen Freiheit, die die Figur des schellingschen Absoluten ist, öffnet der Metaphysik neue Horizonte: Die Freiheit wird von Schelling als reine Potenz begriffen, die an sich schon Actus ist. Sie ist ohne Sein, Nichtseyendes, ein paradoxaler Zustand, den Schelling als reines Können bezeichnet: Dem Grund des Seins wird auf diese Weise eine besondere Ontologie zugeschrieben, die das betrifft, was vor dem Sein ist. Die Freiheit geht in der Tat dem Sein voraus, weil sie das Sein mit dem Können ersetzt: Wer frei ist, der kann. Bevor er etwas ist, kann er (etwas) sein. Von diesem fundamentalen Ersetzen hängt die ›Ontologie der Freiheit‹ ab, die Schelling in diesen Vorlesungen (nicht ohne große Schwierigkeiten) skizziert. Aus diesem Grund ist die Freiheit die einzige geeignete Figur des Anfangs, weil sie dank ihrer ontologischen Macht vor dem Sein ist und deswegen das Sein zur Existenz erheben kann – oder nicht. Die Freiheit ist die einzige anfangsfähige Macht, weil sie gleichgültig gegenüber allen Möglichkeiten (des Seins, sowie des Nichts) herrscht. Der ontologische Zustand, auf den Schelling sich bezieht, besteht tatsächlich in einer Leere, weil es kein Sein gibt: Es gibt nur die Freiheit, die eventuell ins Sein übergehen kann. Darin besteht die abgründige Potentia ultima der Freiheit, ihres ›Nichts‹, das aber potentiell Alles ist.

Schelling schreibt, dass die Freiheit a potentia ad actum nicht übergehen kann, »da es schon Actus ist«. Vgl. AA II,10,1, 195.

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2.1.5. Ab actu ad potentiam: das Gesetz der ewigen Freiheit Der dunkelste Punkt dieser Vorlesungen betrifft den Übergang von dem gleichgültigen Können zum effektiven Wirken seiner Potenz. Schelling hat bisher nur den anfänglichen Zustand der Freiheit oder des Absoluten behandelt; dieser ›Urstand‹ ist aber nicht der einzige, sondern nur der anfängliche, in dem der Anfang möglich wird und sich ereignet. Anfang ist immer Anfang von etwas, er ist der erste Schritt zu etwas Anderem, Neuem, zu einem Werden. Deswegen kann sich der Diskurs Schellings nicht nur an dem nichts-wirkenden, nichts-wollenden, lauteren Willen aufhalten, sondern er versucht, den dem Anfang nachfolgenden Prozess zu beschreiben. Die letzten zehn Vorlesungen sind fast alle dieser schwierigen Aufgabe gewidmet, das Verhältnis zwischen dem Ereignis des Anfangs bei Gott und der darauffolgenden Schöpfung der Welt zu bestimmen. Die zwei Momente fallen in der Tat nicht zusammen: Das erste Ereignis der ewigen Freiheit besteht eben in der Entscheidung Gottes zur Schöpfung; nur darauf folgt die Schöpfung, die Schelling nicht zufällig als »ein zweyter Anfang« (AA II,10,1, 368) bezeichnet. Die prägendste Bestimmung des Anfangs, des Grundes oder Gottes ist nach Schelling die ontologisch erfasste Freiheit. Die Freiheit nimmt für ihn die Gestalt der ontologischen Differenz des Grundes gegenüber den Seienden ein: Der Grund ist kein Seiendes mehr, er ist nicht mehr, sondern existiert nur, indem er frei, Freiheit ist. Der Grund ist nicht das Sein sondern die Freiheit, die dem Sein vorausgeht, weil sie das reine Können, die reine Potenz zu sein oder nicht zu sein, ist. Das Können gilt für Schelling als vorhergehenderer und mächtigerer Begriff im Vergleich zu dem Sein, ein echter alter-Begriff, der geeignet ist, das Wesen des Grundes auf eine völlig andere Weise zu bezeichnen. An dieser Stelle vertieft Schelling die Dynamik der Potenz, die die Freiheit mitbeinhaltet und ihr Verhältnis zum Sein. Wie schon bemerkt, unterscheidet Schelling drei Potenzen des Absoluten: Die erste ist die anziehende Kraft des reinen Seinkönnens, das ›ohne Sein‹ begriffen werden muss; die zweite Potenz verweist hingegen auf das lautere Sein; die Dritte, das Seinsollende, drückt das Verhältnis der ersten zwei Potenzen aus. Der Übergang von der Leere der ersten Potenz zur Fülle der dritten wurde aber noch nicht erläutert: Schelling konzentriert sich unablässig auf diese heikle Passage während der letzten Vorlesungen, in denen er zugleich die 93 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

2 · »Vor und über dem Sein«: Die Potenz als Befreiung des Absoluten

Inhalte der vorhergehenden Vorlesungen zu systematisieren und zusammenzufassen versucht. Der »Urstand« der Freiheit enthält eine unleugbare Ambiguität: Sie hat alle Möglichkeiten vor sich, das Nicht-sein inbegriffen. Sie wird zuerst »in bloßen Potenzzustand« begriffen, aber diese unentschiedene, »völlig unbewusste« Einheit des Willens kann so nicht bleiben, »weil ihr Seyn doch im Grunde ein Zufälliges ist« (AA II,10,1, 246). Die Zufälligkeit, die Schelling der ewigen Freiheit in diesem ursprünglichen Zustand zuschreibt, entstammt ihrer Unentschiedenheit oder Gleichgültigkeit gegenüber dem Sein, die schon betrachtet wurde. Die als unbewegliche, eingewickelte Potenz betrachtete Freiheit muss werden, muss ›Leben‹ werden: Jede Entwicklung setzt aber eine Einwicklung voraus, deswegen spielt der ursprüngliche Zustand der Freiheit eine fundamentale und unersetzbare Rolle. Die Entwicklung der Freiheit wird von einem ›Gesetz‹ zur Bestimmung angetrieben: »Wo nur ein Gleichgültiges, Unentschiednes ist […] wo ein solches ist, da ist auch das Gesetz – es lässt sich keine Freyheit denken ohne Gesetz« (AA II,10,1, 248). Das Verhältnis zwischen Freiheit und Gesetz übernimmt eine Hauptrolle in der Argumentation Schellings: Die bloße Freiheit ›an sich‹ wäre statisch, da sie die totale Unentschiedenheit (oder Indifferenz) ist. Sie kann sich nicht bewegen in eine Richtung, sonst wäre sie schon entschiedene, eben gerichtete Freiheit und nicht mehr freie Freiheit: Das ist das Paradox der Freiheit, das Schelling durch das Verhältnis von Gesetz und Freiheit zu lösen versucht. Die ›unbewusste‹ Freiheit soll »Leben seyn«: An diesem Punkt setzt das Gesetz der Freiheit ein, das Schelling auch als »das Bestimmende der Freyheit, der eben so ewige Imperativ« bezeichnet, noch bedeutsamer als »das Gesetz der freye Notwendigkeit – nicht das blinde, sondern das sittliche Schicksal, das über allem waltet« (AA II,10,1, 248). Diese freie Notwendigkeit erfordert, »dass nichts in der Zweydeutigkeit, Ungewissheit, Unentschiedenheit bleiben darf, dass alles sich bestimmen, sich entscheiden, sich aussprechen und zeigen muss als das was es wirklich ist« (AA II,10,1, 259). Ein Gesetz ist deswegen für die Freiheit notwendig, damit sie sich als wirkliche, d. h. als entschiedene, gerichtete Freiheit offenbart: Woher aber das Gesetz, das nichts anderes als der sich-selbst-bestimmende Gott ist? Die Aktion des Gesetzes ist für Schelling kein ableitbarer Begriff, sondern »ist freye That. Hier hörte also alle Deduktion auf…hier hört das Reich des todten Begriffs auf, das Reich der That fängt an« (AA II,10,1, 275). Die Entscheidung, die die Freiheit wirk94 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Erlanger Vorlesungen (1821)

lich und folglich tätig macht, kann nicht durch Begriffe erfasst werden: Sie ist eine Tat, die ohne weiteren Grund ist. Die Abgründigkeit der Freiheit ist unvermeidlich, die Freiheit bleibt Ab-grund: Sie muss ontologisch, ihrer Natur nach, ohne Grund sein: Wenn sie einen Grund hätte, wäre sie nicht mehr frei. Das Frei-sein bedarf keines Grundes: Schelling denkt dieses Paradox eben in dem Verhältnis Freiheit – Notwendigkeit, oder Freiheit – Gesetz. Von dieser abgründigen Entscheidung hängt die Existenz oder die Nicht-Existenz des Seins selbst sowie der Offenbarung Gottes ab. Die erste Wirkung der entschiedenen Freiheit besteht in dem ›ewigen Geschehen‹ der Potenzen, die nun auf eine genauere Weise betrachtet werden können: Gott vollzieht durch die erste Potenz seines absoluten Wesens eine »Entäußerung seiner selbst«, weil er »sich zum Mangel – zur Leere« (AA II,10,1, 274) macht. Das ursprüngliche, notwendige und vollkommene Sein Gottes ›entleert‹ sich und wird Grund der Existenz eines Anderen. Diese Entleerung geschieht dank der ›freien Notwendigkeit‹ des Gesetzes, das das reine, unentschiedene Können zur Wirkung bringt. Das Heraustreten Gottes aus sich selbst muss diesen entscheidenden Schritt gehen: Eben in diesem Schritt erweist sich Gott nicht als ein Seiendes, sondern als das, was »über allem Seyn eine lautre Freyheit« (AA II,10,1, 341) ist. Gott ist jene bloße potentia, die zugleich actus purus ist. Aber »eben um als dieser wirklich zu seyn, muss ein Widerstand seyn – ein dieses lautre Wollen Negierendes. – Nicht durch Übergang a potentia ad actum in ihm selbst sondern nur durch Übergang ab actu a potentia außer ihm […] verwirklicht sich Gott« (AA II,10,1, 345). Die Verwirklichung Gottes ereignet sich nach Schelling nicht durch den Übergang von der Potenz zu dem Akt, sondern umgekehrt von dem actus purus, der er schon ist, zur potentia, weil Gott sich zum Mangel macht, damit etwas Anderes entsteht. Diese Umkehrung ab actu ad potentiam ist von fundamentaler Bedeutung: Sie drückt in einer expliziten Form die ontologische Differenz Gottes aus. Die Ontologie des Grundes begründet sich nicht durch das Verhältnis Potenz-Akt, sondern durch den Übergang von dem Akt zur Potenz: Der Grund ist schon an sich selbst actus purissimus und wird Grund der Existenz eines Anderen nur durch die freie Entscheidung (oder das Gesetz der ›freien Notwendigkeit‹), sich selbst zu entleeren und folglich Potenz zu werden. Durch diesen abgründigen Akt der Freiheit wird das Anderssein des Absoluten oder Gottes bestätigt: Gott hat sich dank der absoluten Potenz seiner Freiheit für das Sein, für die Offenbarung ent95 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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schieden; seine unaussprechliche Innerlichkeit wird »als ein bloß Äußerliches« (AA II,10,1, 338) gesetzt und zeigt sich in der Offenbarung als »das erste Äußere und Sichtbare von Gott – gleichsam als jene Glorie oder Herrlichkeit« (AA II,10,1, 339). Diese heikle Passage in dem Diskurs Schellings enthält einige wichtige Elemente, die erneut näher betrachtet werden müssen, weil sie die Ontologie der Freiheit und des Grundes Schellings prägen und sie von den klassischen, metaphysischen Vorstellungen des Grundes irreversibel unterscheiden: Das erste Element wurde schon betrachtet, es besteht in dem umgekehrten ontologischen Verhältnis actuspotentia; die Potenz nimmt infolgedessen die wichtigste Rolle ein, da sie nicht mehr eine bloße Bedingung für den Akt ist. Hingegen ist sie die Bedingung dafür, dass das ganze Sein aus Gott entstehen kann. Sie drückt die Entleerung Gottes aus, aus der die Schöpfung ihren Anfang nehmen kann. Zu dem ursprünglichen Potenz-Zustand gehört aber auch das Nichts: Die Ontologie der Freiheit, in die Schelling Gott selbst hineinnimmt, begreift sogar das Nichts mit ein. Das Nichts gehört notwendigerweise zur Dynamik der Freiheit, weil sie alle Möglichkeiten enthalten muss, nämlich des Seins sowie des Nichtseins. Die Freiheit wird tatsächlich als potentia begriffen: In dem Moment, in dem das Gesetz in Kraft tritt und die ewige Freiheit zur Entscheidung bewegt, hat die Freiheit die tatsächliche Möglichkeit, das Nichts, die ewige Eingeschlossenheit zu wählen. Das Gesetz »zur Aussprechlichkeit« bringt die Freiheit jenseits dieser grundsätzlichen Ambiguität, die aber nicht aufgehoben oder gelöscht wird, sondern nur überwunden. Außerdem wird Gott selbst, indem er sich zur Potenz, zum Mangel macht, als Nichtseiendes bezeichnet: Der Grund der Existenz des Anderen hat kein Sein an sich und für sich, sonst könnte er kein eigentlicher Grund sein. Er wäre ein Seiendes unter anderen Seienden. Er ist ontologisch different, eine Differenz, die Schelling durch die schon betrachtete ›positive‹ Funktion des Nichts zeigt. Er ist in der Tat nicht das Sein, sondern die ewige Freiheit, die sich entschieden hat, sich zu bestimmen und als Potenz auszudrücken, damit das Sein entstehen kann. Die Freiheit geht dem Sein voraus. Das Ergebnis dieser Vorlesungen Schellings besteht in einer ohne Zweifel untypischen Vorstellung von dem Grund oder Gott: Der Gott Schellings verneint sich tatsächlich als Gott, eben weil er die höchste Unbedingtheit ist: Er ist so frei, dass er auch von seinem Sein (GottSein) frei ist. Er ist durch sein Gott-Sein nicht bedingt, deswegen hat 96 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Erlanger Vorlesungen (1821)

er die Macht, »sich selbst in potentiellen, in leidenden Zustand« (AA II,10,1, 369) zu setzen. Seine Gottheit besteht in der ewigen Freiheit seines Wesens, die ihn sogar von sich selbst frei macht. Das Gesetz seiner Freiheit, oder die ›freie Notwendigkeit‹, die sein Wesen prägt, ermöglicht das Paradox. Gott ist der Anfangende, aber nicht der Anfang selbst: Die Figur des Anfangs ist die Freiheit, die das Wesen Gottes ausmacht. In diesem Unterschied, den Schelling in Gott denkt, besteht die revolutionäre Tragweite seines Denkens, die sich seit der Freiheitschrift manifestiert hat und durch verschiedene, schwierige Etappen gegangen ist. Schelling wird der Begriff eines differenten Grundes, d. h. eines absolut freien Gottes, von nun an nie mehr verlassen. * * * Die Erlanger Vorlesungen unternehmen tatsächlich eine echte ›Phänomenologie‹ des Anfangs: Die Freiheit wird ausdrücklich als reines Können, als potentia ultima bezeichnet. Die Freiheit ist nicht, sondern noch ursprünglicher kann: Sie kann sein, oder nicht sein. Ihre ontologische Differenz zeigt sich deutlich an diesem Punkt, weil sie vor dem Sein ist, sie ist die Vergangenheit des Seins, wie die Weltalter aufzeigten. Sie ist der Abgrund, aus dem das Sein kommt, aber auch nicht kommen könnte. Gott ist diese Freiheit, die ihn von allen anderen Seienden ontologisch unterscheidet: Er ist der Allmächtige, der sich zum Grund der Existenz eines Anderen machen kann. Der vollkommene actus purussimus, der Gott ist, besteht tatsächlich in der Macht oder in der abgründigen Potenz, sich zum Grund zu machen: Die ›Verwirklichung‹ Gottes geschieht deshalb ab actu ad potentiam, so dass die Potenz nicht mehr die Bedingung für den Akt ist, sondern Akt ist, sie drückt in der Tat den mächtigsten Akt Gottes aus, d. h. seine Entleerung, die Kenosis Gottes. Das Sein wird auf diese Weise von Gott weggebracht und durch die ontologisch gedachte Freiheit ersetzt: Das ›Bestimmende‹ Gottes ist die Freiheit, nicht das Sein. Die ontologische Differenz des Grundes wird damit vehement bejaht, ein Jahrhundert vor der Mahnung Heideggers.

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2.2. Darstellung des philosophischen Empirismus (1836) Der philosophische Empirismus wurde von Schelling als eine Einführung in die wahre Philosophie konzipiert, d. h. als Weg zur Begründung der Idee Gottes. Der »höhere« Empirismus sollte Letztere vor rationalistischen Ableitungen und vor den »allgemeinen Begriffen« der »ehemaligen Metaphysik« (SW X, 227) schützen, außerdem ist es Schelling schon seit langem daran gelegen, den Begriff des Absoluten beleben. Diese Etappe könnte tatsächlich als vereinigendes Ziel seines Denkens gesehen werden, weil sie die Philosophie der Natur, den Idealismus und das spätere Thema der ontologischen Freiheit zusammenbringt. Besonders deutlich scheint die inhaltliche Kontinuität mit dem verlassenen Projekt der Weltalter, wie X. Tilliette schon hervorgehoben hatte: Schelling bemüht sich jedoch hier um mehr Deutlichkeit, indem er sich für eine konsequente und systematische Ausdrucksform entscheidet, im Gegensatz zu der Weltalter-Narration. Die Passagen und die Artikulation seines philosophischen Diskurses sind klar erkennbar; die Schwierigkeiten liegen nicht in der Form sondern in dem Inhalt selbst, weil der Versuch Schellings alles andere als einfach zu verstehen und begrifflich auszudrücken ist: Er kommt zur Darstellung einer lebendigen Idee Gottes aus einer Analyse des empirischen Werdens, aus der ›reinen Tatsache‹ der Erfahrung, aber zugleich muss er die absolute und unerfüllbare Distanz dieser Idee zu der empirischen Welt bejahen. Um dieses schwierige Verhältnis zu gestalten, muss Schelling neue Bedeutungen und Nuancen einiger wichtiger Begriffe aufdecken oder zum Paradox greifen: Der von Schelling gedachte Grund, der hier ohne Zögern Gott genannt wird, folgt nur der innewohnenden Logik seiner absoluten Freiheit und lässt sich mit den gewöhnlichen Schemata des metaphysischen Denkens nicht begreifen; dies führt aber nicht zum Schweigen des Denkens oder zu einer Art von ›Mystik‹ der Vernunft, sondern erlaubt eine Erweiterung derselben, indem das Denken an sein unendliches, unerschöpfliches Objekt angepasst wird und nicht umgekehrt.

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Darstellung des philosophischen Empirismus (1836)

2.2.1. Aus der »großen Tatsache der Welt« heraus: Die drei Prinzipien des Werdens Die Abhandlung Schellings fängt mit einem methodologischen Hinweis an, der erklärt, was der Autor mit ›philosophischer Empirismus‹ meint: Die Philosophie soll sich der ›großen Tatsache der Welt‹ widmen. Die Untersuchung dieser Tatsache sei »das Erste und Wichtigste, aber auch zugleich das Schwerste« (SW X, 228) für den Philosophen: Das Objekt seiner Wissenschaft besteht in der reinen Tatsache, dass die Welt da ist. Diese Tatsache macht die ganze Sphäre der Objektivität aus, die aber nie an und für sich bleibt, sondern immer durch die Subjektivität eines erkennenden Subjekts wahrgenommen und vermittelt wird. Objektivität und Subjektivität (in) der Welt sind zwar unterscheidbar, aber auch untrennbar: »alles, was in die Sphäre der Erkennbarkeit fällt, ist schon nur ein durch Subjektivität afficirtes Objektives« (SW X, 231), so dass Schelling die reine Tatsache der Welt nicht auf eine bloße objektive Weise definiert, sondern als jenen »gemeine Weltprocess«, der »auf einem fortschreitenden, wenn auch (vielleicht selbst in der Natur) immerfort bestrittenen, Sieg des Subjektiven über das Objektive« (SW X, 231) beruht. Das Resultat dieser untrennbaren Verbindung des Objektiven und des Subjektiven besteht in keinem Gleichgewicht derselben, sondern in einem »Übergewicht« des Subjektiven, indem »alles, was über die reine Thatsache hinzugesetzt worden, ist bloß Erzeugnis eines Schlusses« (SW X, 232). Das Objektive wird auf jeden Fall von unserer Subjektivität vermittelt, hingegen »müssen wir also auf die Thatsache zurückgehen«. Das Ziel des schellingschen Empirismus ist eben, die reine Tatsache der Welt ›wissenschaftlich‹ darzustellen, d. h. ohne sich auf vorige Vernunft-Systeme zu berufen: Schelling will dagegen den Anfangspunkt des Philosophierens erlangen. »Man kann also die Philosophie – aufrichtiger Weise – nicht anders als mit dem Vorsatz anfangen, auch dem nicht erkennenden Theil der Welt ein Seyn zuzugestehn« (SW X, 235): Schelling unterscheidet in der Tat zwei Teile in der Welt, die sich als eine eigentliche Polarität gestalten. Er führt sie ein, indem er von dem erkennenden und dem nicht erkennenden Teil der Welt spricht, oder von Erkennendem und Erkennbarem (Subjekt und Objekt). Wir denken und philosophieren immer aus dem Teil des Erkennenden, müssen aber auf jeden Fall die Existenz eines nicht-erkennenden Teils der Welt zugeben. Um diese zwei Teile deutlich zu unterscheiden, ver99 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

2 · »Vor und über dem Sein«: Die Potenz als Befreiung des Absoluten

wendet Schelling einige Definitionen und Benennungen, die vom Schelling-Leser nicht unbeachtet bleiben sollten, z. B. ›Seyende‹ (Subjekt) und ›nicht Seyende‹. Er appelliert an die griechischen Philosophen und besonders an Platon, die »von dem nicht Seyenden doch als von einem irgend wie Seyenden reden« (SW X, 235): Trotz jenes ›Übergewichts‹ unserer Subjektivität in der Wahrnehmung der Welt bleibt immer der unüberwindliche Rest des Objektiven, das gegen uns (wie das Wort ›Gegen-stand‹ erläutert) steht und das Schelling als ›das nicht-Seiende‹ definiert, im Sinne von dem, was das Seiende nicht ist, das aber trotzdem ist (d. h. ein relatives nicht-Seiend). 12 »Das aber, dass es ein Seyendes ist [wenn auch ein ›geringeres‹ Seiendes, S. P.], ist ohne Bestimmung und Grenze, mit der das Seyn in ihm gesetzt ist, nicht denkbar« (SW X, 236): Wenn dieses nicht-Seiende irgendwie existiert, muss es definiert, begrenzt sein, sonst wäre es überhaupt im Denken nicht vorstellbar. Auf dem Hintergrund dieser empirischen Ableitungen an definiert Schelling eine bestimmte Struktur der Welt, die zugleich gnoseologisch und ontologisch ist: Es gibt ein ›Erstes‹, ein unbegrenztes und ›bestimmungsloses‹ Sein der Welt, ein ›Substrat‹, das immer dasselbe bleibt; Schelling bezeichnet es mit B. B bleibt aber nie an sich (im Gegensatz zu dem kantischen ›Ding an sich‹ 13), es wird »immer mehr subjektiv = A, aber auch das letzte A, das höchste Subjektive oder das, was wir vorzugsweise das Erkennende nennen, ist noch immer B, nur als A gesetztes, in A verwandeltes B« (SW X, 241). Diese Passage ist von höchster Wichtigkeit: Sie bestätigt, dass Schelling keineswegs eine Art von Dualismus beschreibt, weil er eben dagegen seit seinen philosophischen Anfängen kämpft; das Sein, die Substanz (id quod substat) bleibt ein- und dieselbe, sowohl für das erkennende Subjekt als auch für das nicht-erkennende Objekt; dieses Sein wird aber immerwährend von einem ihm entgegensetzten Prinzip ›bestimmt‹, so dass »es ist immer nur ein Werdendes, nie Seyendes […]; es ist immer zwischen Seyn und Nichtseyn, Position und Negation Schwankendes; […] im A=Seyn geht das B unter oder, wie die deutsche Sprache trefflich sich ausdrückt, zu Grunde« (SW X,

Der Verweis, wie Schelling selbst bestätigt, ist auf den Sophist Platons gerichtet. Vgl. SW X, 240: »[…] aber es gibt kein Ding an sich; alles, was Objekt für uns ist, ist schon ein in sich selbst durch Subjektivität Afficiertes, d. h. ein in sich schon zum Theil subjektiv Gesetztes«. An diesem genauen Punkt setzt sich der Zweikampf mit dem Idealismus aufs Spiel.

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Darstellung des philosophischen Empirismus (1836)

241). A und B, Subjekt und Objekt, Erkennendes und Erkennbares sind immer zwei Seiten derselben Medaille, die sich entgegensetzen. Der nächste Schritt Schellings besteht in der Frage nach dem Grund des »Prinzips der Subjektivität«, des A, oder anders gesagt, warum wird das grenzlose, unbestimmte Sein (B) stufenweise in A oder in das Subjektive verwandelt. Schelling fragt nach der eventuellen Ursache der Existenz der zwei Prinzipien, d. h. »ob und wie diese zwei entgegensetzte Principien durch eine höhere Einheit wider vermittelt seyen, oder gar nicht vermittelt seyen« (SW X, 242). Es wird hier deutlich, wie die Methode und Denkweise Schellings durch die Jahre unverändert bleiben: Er begreift das Sein nie wie einen statischen Gegenstand, sondern als bewegliches Werden, das eine streitende Polarität oder Duplizität enthält; diese Polarität kann aber nie an sich bleiben, sondern wird zu einer höheren Einheit oder in diesem Fall einer Ursache zurückgeführt, die als Grund fungiert. Die zwei Prinzipien, die Schelling in der reinen Tatsache der Welt entschlüsselt hat, werden von ihm weiterhin bestimmt durch verschiedene Bezeichnungen: Er kennzeichnet B auch als der griechische ἄπειρον, das Unbegrenzte, oder als Duas, das weibliche, empfängliche Prinzip der Pythagoräer; auf der anderen Seite ist A das Begrenzende, τὸ περαῖνον, das, was das Unbegrenzte begrenzt und es begreiflich und definierbar macht. Der Prozess des Werdens besteht ohne Zweifel in diesen zwei Kräften, aber es bleibt noch unerklärt, warum diese zwei Prinzipien sich gegenseitig so verhalten. Warum entsteht und wirkt die Potenz der Begrenzung? A verhält sich nämlich als Mittel, nicht als Ziel oder Ende des Prozesses; A verursacht die Begrenzung des B, aber zu welchem Zweck? Es muss ein drittes Prinzip geben, das als Ziel des ganzen Prozesses des Werdens gilt, das durch das A auf das B strebt: »Die beiden ersten verhalten sich demnach überhaupt wie Substanz und Ursache, das erste nämlich ist bloss Substanz, das zweite bloß Ursache. Was kann nun das dritte seyn? Antwort: Es kann nur das seyn, was ebensowohl Substanz (Selbstseyendes) als Ursache ist« (SW X, 248 f.). Mit anderen Worten: Das Prinzip des A reicht nicht, weil es zwar als Ursache wirkt, aber bloß als Ursache – ohne zu wissen, wozu oder wofür es Ursache, Mittel ist. Ohne diesen Grund bliebe das Werden ein mechanischer, sich auf ewig wiederholender Prozess: aber »wo ein es Aufhebendes als Mittel, da ist nothwendig auch ein Ende, das Zweck ist« (SW X, 247). Aus diesem Grund bestimmt Schelling dieses dritte Prinzip als das »Seynsollende«, »weil es das um

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seiner selbst willen Seyende ist« (SW X, 249), und auch als ›Geist‹, den A vermittelt und B empfängt. Die drei Prinzipien des Werdens sind nun endlich bestimmt: 1) B oder die Substanz, das grenzlose und unbestimmte Sein, das als Substrat fungiert; 2) A oder das bestimmende, grenzgebende Prinzip, die bloße Ursache; 3) der im Prozess begriffene Geist, der als Zweck des ganzen Werdens wirkt. Das Verhältnis zwischen den drei Prinzipien ist nicht gleichgewichtig, sonst gäbe es kein Bewegen, kein Werden: Wie schon gesagt, ist es empirisch offenbar für Schelling, dass es ein Übergewicht des ideellen Teils gibt, da B nie an und für sich bleibt, sondern immer durch A verwandelt wird. Trotzdem ist es auch wichtig in den Blick zu nehmen, dass A ohne das Substrat von B nicht existieren könnte. »Aber das wesentliche ist, eben das bloß Faktische dieses Übergewichts zu erkennen« (SW X, 250): Schelling möchte kein Werturteil abgeben, sondern insistiert auf der Faktizität des Übergewichts des subjektiven Teils, der aber nicht ›besser‹ als der andere ist. In diesem Fall ist das Nichtseiende nicht mit ›böse‹ oder mit ›schlimmer‹ gleichbedeutend: »aber eben hier gilt wieder, und zwar im höchsten Sinne, die Lehre der Alten und Platons insbesondere, dass das nicht Seyende dem Seyn nach um nichts schlechter oder geringer, nämlich um nichts weniger seyend sey als das von uns so genannte Seyende« (SW X, 251 f.). Das Nichtseiende des B ist nur ein relatives Nichtsein, das deswegen keine Bewertung des Werts zwischen den zwei Elementen erlaubt. Man darf hier nur Tatsachen erkennen, ohne ihnen einen Wert (irgendeiner Art) zuzuschreiben. Schelling steht fest auf dem empirischen Boden seines Diskurses; sein Anfangspunkt war die bloße Tatsache der Welt, die sich als ein dreistufiges, sich bewegendes Werden erwiesen hat. Diese Tatsache wird nun als empirische Basis dienen, um zur Idee Gottes empirisch zu gelangen.

2.2.2. Die freie Ursache Schelling hat bis dahin einen empirischen Prozess analysiert und dargestellt, oder besser gesagt, die empirische Erfahrung des Werdens philosophisch ausgedeutet. Das Werden besteht aus drei Prinzipien, die als Substanz, Mittel und Ziel fungieren; nach dieser wichtigen Prämisse kann Schelling die leitende Idee der Abhandlung einführen, eben die Idee einer Ursache κατ᾽ ἐξοχήν, »d. h. der Ursache, die selbst 102 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Darstellung des philosophischen Empirismus (1836)

nicht mehr als Princip angesehen werden kann, d. h. nicht mehr als Natur oder bloß nach innerer Nothwendigkeit handelnde« (SW X, 253). Das Werden hat zwar ein Ziel, aber es muss jetzt nach der Ursache des Prozesses selbst gefragt werden: Schelling formuliert die Frage nicht ausdrücklich, aber er stellt fest, dass diese freie Ursache (deren Begriff sich wieder auf Plato beruft) »kann nicht unbekannt sein, denn sie ist augenscheinlich die wahre Ursache alles wirklichen Seyns« (SW X, 252). Die Ursache des Werdens selbst ist in dem Prozess nicht eingeschlossen, sondern steht außer ihm und eben dadurch ist sie wirklich frei. Sie unterscheidet sich von einem Prinzip, indem sie Ursache des nicht-Notwendigen ist, während das Prinzip Ursache eines notwendigen Seienden ist. Der ›Geist‹, der als Ziel des Prozesses des Werdens fungiert, ist in der Tat als eines der Prinzipien in diesem Prozess enthalten: Er wird nämlich nicht als äußere Ursache, sondern als notwendiges, zu dem Prozess gehörendes Ziel dargestellt. Die Ursache, von der Schelling jetzt spricht, ist dagegen jene Ursache, die der Prozess selbst – sein Ziel inbegriffen – auslöst: Während das Ziel aber aus innerer Notwendigkeit im Prozess enthalten und wirksam ist, agiert diese äußere Ursache nur aus Freiheit. Der Prozess des Werdens ist in der Tat an sich nicht notwendig: Es zeigt sich deutlich, dass Schelling mit seiner Argumentation genau diese Eigenheit des werdenden Seins hervorheben möchte, damit die zu dieser äußeren Ursache gehörende Freiheit aus dem empirischen Prozess des Werdens deduziert werden kann, im Sinne eines ›philosophischen Empirismus‹. Eine derartige Ursache kann nach Schelling nur das sein, was ›Gott‹ genannt wird: »Wir führen also mit dem Begriff Gott keinen neuen, noch nicht bewiesenen Begriff ein, wir nennen nur Gott, was wir schon in nothwendiger Folge erkannt haben, die Ursache, die allgemein und im ganzen Weltprocess zunächst dem Subjektiven über das Objektive, entfernter also dem Idealen über das Reale den Sieg verleiht« (SW X, 255). Diese Passage zeigt das Resultat der empirischen Methodologie Schellings: Nichts weniger als der Begriff Gottes, d. h. einer freien Ursache, wurde aus der »reinen Tatsache der Welt« abgeleitet. Dieser Begriff und seine Charakterisierung gehen aus einem empirischen Prozess hervor, sie werden nicht a priori dargestellt, sondern a posteriori: Schelling ist es besonders wichtig, dass eben dieser Begriff von allen apriorischen, bloß vernünftigen (rationalistischen) Deutungen gereinigt wird; der ›empirische‹ Weg schützt die absolute Freiheit, d. h. das absolute Anderssein Gottes vor den 103 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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Überbauen der Vernunft, im Übrigen ohne ihn für das Denken unerkennbar und unvorstellbar zu machen. Nach der ›Einführung‹ des Begriffes Gott kann Schelling dessen Charakterisierung vornehmen: Weil Gott die Ursache des ganzen Weltprozesses ist, setzt er sowohl das Subjektive als auch das Objektive, er ist deren Einheit. »Im Sinn der Ursache aber wird jene Identität nur gedacht, wenn sie bestimmt wird als die beide setzende – als die sowohl das Unbegrenzte des Seyns als die Begrenzung desselben setzende Ursache« (SW X, 256): 14 Mit dieser theoretischen Passage setzt Schelling die unauflösliche Opposition von Subjekt und Objekt in Gott selbst; es ist ein Charakteristikum für die Denkweise Schellings, dass ein Gegensatz auf eine höhere Einheit zurückgeführt werden muss – dieses Denkmuster bleibt in der Tat über die Jahre unverändert. Diese Einheit geht der Opposition und dem Werden voraus, so dass sie auf keiner Aufhebung der Gegensätze beruht, sondern eine Bewegung von einer vollkommenen Einheit zu einer Entzweiung dieser Einheit zugunsten der Existenz eines Anderen impliziert – in diesem Fall der Welt. Anders gesagt, in diesem wiederkehrenden Denkmuster Schellings zeigt sich seine philosophische Ausdeutung des göttlichen Schöpfungsprozesses: Seine Mühen sind in der Tat immer auf denselben Punkt konzentriert, d. h. auf den Übergang, oder besser: auf den Grund des Übergangs von der vollkommenen Einheit des göttlichen Wesens zu der werdenden Welt, der die ursprüngliche Einheit gewissermaßen entzweit und zerbricht. Um diese Schwierigkeit zu überwinden, zieht Schelling die Freiheit und ihre theoretische Rolle hinzu: Wenn das Unbegrenzte im Process das nicht seyn Sollende und doch seyende ist, wenn es gesetzt ist, nicht damit es gesetzt sey, sondern nur um überwunden zu werden, so ist offenbar, dass das Unbegrenzte nur durch eine Ursache gesetzt seyn kann, welche fähig ist, irgend etwas als bloßes Mittel zu wollen […] kurz die eine freie, nach Absicht handelnde Ursache, und eben darum die positive Einheit der beiden Principen ist. (SW X, 258)

Die Freiheit impliziert das Wollen und umgekehrt: Der Übergang von einer ursprünglichen Einheit zu dem die zwei Prinzipien enthaltenden Werden kann nur in einem vom Willen bewegten Akt vollzogen In diesem Fall verwendet Schelling das Wort nicht, aber es ist einfach zu sehen, dass diese die beiden Prinzipien setzende Einheit dieselbe Rolle wie die »ursprüngliche Indifferenz« in den Weltalter oder in den Erlanger Vorlesungen hat.

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werden, der »ebensowohl das Unbegrenzte als die Begrenzung desselben wollen kann, diese kann nur eine übersubstantielle, eine absolut freie Ursache seyn« (SW X, 259). Das Verhältnis zwischen dem Unbegrenzten und der Begrenzung wird von Schelling folgendermaßen erklärt: Gott setzt zuerst das Unbegrenzte, so dass er nicht der Setzende des Seins überhaupt ist, sondern nur der Setzende »des Seyns zunächst in seiner Unbegrenztheit« (SW X, 259). Dies bedeutet, dass Gott ursprünglich dieses Sein als Unbegrenztes besitzt, d. h. »sie [die Ursache, S. P.] besitzt demnach das Seyn ursprünglich nicht durch eine That, sondern – […] sie besitzt es von Natur«. Aus Schellings Sicht gibt es einen ursprünglichen ontologischen Zustand, in dem das Wesen Gottes mit der Unbegrenztheit des Seins koexistiert: Diese Koexistenz bringt aber mit sich, dass der erste Akt Gottes eben die Setzung des unbegrenzten Seins ist, d. h. die Setzung des ganzen Prozesses selbst. Gott kann insofern als der Anfangende betrachtet werden, während das Sein als tatsächlicher Anfang (oder Anfangspunkt) des Werdens außerhalb von Gott gesehen werden kann: »die Ursache ist nur bestimmt als Ursache des Processes, dessen Anfang eben das unbegrenzte Seyn als solches ist« (SW X, 259). Es ist eben das Sein als Unbegrenztes, das den Anfang zum werdenden Prozess macht: Die Setzung dieses Seins muss aber als ein anderer Akt betrachtet werden, der nur von dem, das dieses Sein beherrscht, unternommen werden kann. Auf diese Weise gestaltet sich Gott nicht als »das Seyn selbst«, sondern als der »Herr des Seyns«, »der das Seyn von Natur begrenzende und also besitzende« (SW X, 260). Diese tiefgründigen Denkschritte sind von großer Bedeutung im gesamten Diskurs Schellings: Sein Ziel besteht letztlich darin, den Begriff Gottes vom Sein zu trennen. Gott muss sich in seiner unauflösbaren, ontologischen Differenz zu allen Seienden und mit dem Sein selbst zeigen, um wirklich Gott zu sein. Deswegen benennt Schelling Gott als ›Herr‹ des Seins: Er muss mehr als das oder über dem Sein sein, auf jeden Fall radikal anders sein – er muss es beherrschen. Die Herrlichkeit Gottes besteht konsequenterweise nicht in dem Sein, sondern in der Freiheit, das Sein zu setzen, indem das Sein als notweniges Korrelat Gottes bezeichnet wird: »Der Begriff Herr schließt nothwendig den Begriff von etwas ein, dessen er Herr ist; dieses, wovon er Herr ist, ist sein nothwendiges Correlatum« (SW X, 260). Daraus schließt Schelling: »Gott ist eben wirklich nichts an sich; er ist nichts als Beziehung und lauter Beziehung, denn er ist nur der Herr; […] Er eben ist die einzige nicht mit sich selbst beschäftigte, ihrer selbst ledige und darum abso105 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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lut freie Natur […], Gott allein hat mit sich selbst nichts zu thun« (SW X, 260). Herrlichkeit und Freiheit sind damit eng verbunden: Die Freiheit Gottes besteht tatsächlich in seiner Herrlichkeit, aufgrund deren er frei sogar von sich selbst, vom eigenen Sein ist. Dank dieser Eigenheit, die nur zu ihm gehört, »hat [er] daher bloß mit anderem zu thun – er ist, kann man sagen – ganz außer sich, also frei vom sich, und dadurch auch das alles andere Befreiende« (SW X, 260 f.). Die Freiheit und die Herrlichkeit Gottes zeichnen Gott dadurch aus, dass er das einzige Wesen ist, das völlig nach außen gerichtet ist: Das Außer-sich-sein bedeutet für Schelling Beziehung. Freiheit, Herrlichkeit, Beziehung: Die ›Dreieinigkeit‹ des Gottes Schellings scheint genau darin zu bestehen; 15 diese drei Eigenschaften sind miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig und gleichzeitig. Es gibt keine Folge in Gott, sondern Gott ist Herr, weil er einfach ist: »Wenn aber Gott ohne Herrlichkeit nur Fatum seyn würde, kann er nicht erst nach der Schöpfung, sondern er muss, sowie er Ist, Herr seyn, d. h. in einem Verhältnis stehen, in welchem er Herr ist« (SW X, 262). Die Schöpfung bestimmt nicht Gott als den Herren, hingegen schöpft Gott, weil er Herr (des Seins) ist: Die Herrlichkeit Gottes ist die Quelle, der Grund seines schöpferischen Aktes und nicht umgekehrt. Ontologisch, d. h. von Natur, ist Gott Herr, frei und beziehungsfähig: Deswegen ist er auch der Schöpfer, weil er nicht in sich selbst eingeschlossen ist, sondern sich nach Außen beziehen kann.

Der Verweis auf den christlichen, dreieinigen Gott der Heiligen Schrift ist offenkundig: Schelling selbst hat nie verborgen, dass die Heilige Schrift eine beständige Quelle seines Denkens ist (besonders seit der mittleren Phase seiner Philosophie). Es ist aber bemerkenswert, dass Schelling die Unabhängigkeit der Philosophie genau durch die Methode eines »philosophischen Empirismus« verteidigen möchte: Der Begriff Gottes wird in der Tat a posteriori, d. h. aus der Analyse der empirischen Erfahrung (des Werdens) deduziert, und nicht a priori, d. h. von »Außen« (von der Theologie zum Beispiel) eingeführt. Die Philosophie wird demzufolge von der Schrift inspiriert, aber von ihr nicht geleitet: Der Begriff, den die Philosophie am Ende ihrer Untersuchungen findet, scheint nach Schelling mit dem biblischen Gott vereinbar zu sein, aber sie sind nicht dasselbe. Mit dieser Methode macht Schelling den biblischen Gott für das philosophische Denken akzeptabel: Er eröffnet die Möglichkeit eines ebenbürtigen Dialogs zwischen Philosophie und Theologie oder besser zwischen dem Denker und dem Gläubigen.

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2.2.3. Gott und das Sein: Das ›Spiel der göttlichen Freiheit‹ Schelling geht davon aus, dass das Sein das ›notwendige Korrelat‹ Gottes ist, weil seine Herrlichkeit sich eben in der Beherrschung des unbegrenzten Seins manifestiert. Dies aber genügt nicht, um das Verhältnis zwischen Gott und diesem Sein zu erklären: Schelling sieht deutlich das Risiko einer dualistischen Interpretation seiner Theorie und nimmt sich die Erklärung dieses schwierigen Punkts vor. Das Sein, von dem Schelling spricht, repräsentiert nicht den gesamten Prozess des Werdens, sondern nur seinen Anfangspunkt: »Da dieses Seyn nicht nichts, sondern eine Wurzel des Seyns ist, so können wir es zweitens bestimmen als lauteres Seynkönnen« (SW X, 263). Es ist das unbegrenzte Sein, das reine Objektive, das aber immer als begrenzt durch das Subjektive gesetzt wird. B verwandelt sich immer durch und in A und eben in dieser kontinuierlichen Verwandlung besteht das Werden. Aus diesem Grund bestimmt Schelling dieses »Seynkönnen« als »zweideutig oder amphibolisch. […] Es liegt in jenem bloßen Wesen die Möglichkeit eines nur noch nicht hervorgetretenen Andersseyns«: Das Sein, dessen Herr Gott ist, ist in der Tat ein Seinkönnen. Letzteres heißt grundsätzlich: Die Möglichkeit zu sein, d. h. im Prozess des Werdens hervorzutreten, oder nicht. Es geht hier um eine wiederkehrende Figur im Denken des mittleren Schellings: Gott bringt die Zweideutigkeit, die Amphibolie eines Seinkönnens mit sich. Sein eigenes Wesen impliziert diese ewige Möglichkeit des Seins, das er beherrscht. Schelling fasst wirkungsvoll zusammen: »so ist das Seyn in seinem bloßen Wesen jenes Seynkönnen, und umgekehrt alles Können ist wesentlicher (nicht aktueller) Natur« (SW X, 265). Das erste und grundsätzliche Verhältnis zwischen Sein und Gott offenbart sich in dem Können: Jenes unbegrenzte Sein repräsentiert für Schelling eben die Potenz Gottes selbst: »In diesem Sinne können wir auch von jenem bloß wesentlichen Seyn sagen: es vermag Gott (potest Deum, est Die potens) – es ist die Potenz, die Macht […] die Magie Gottes« (SW X, 265). Schelling begreift das Seinkönnen im aktiven Sinne: Allein die sprachliche Tatsache, dass das Verb ›können‹ – in mehreren Sprachen – immer den Akkusativ erfordert, gilt für Schelling als eine weitere Bestätigung, dass es auf die bloße Möglichkeit an sich verweist. Dieses Seinkönnen schwebt zwischen Sein und Nichtsein (daraus seine Amphibolie) und gehört zu dem Wesen Gottes: Dieser Widerspruch wird von Schelling

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ohne Zögern in Gott selbst gesetzt, den Gott, der Herr dieses Seins ist, weswegen er auch seine Zweideutigkeit beherrscht. Die Bestimmung dieses Seins als ein relatives Nichtseiendes wurde schon erwähnt; das Können enthält in sich eine unauflösliche Spur des Nichts, die Schelling auf diese Weise beschreibt: »Eine ursprüngliche Begrenzung ist eben, gegen Gott das nicht Seyende, bloß Substanz, bloß Wesen, bloßes Subjekt, nicht das sich selbst Wissende, sondern das nur Gott Wissende, nicht selbst Seyendes, sondern nur Gott seyend zu seyn«. Das Seinkönnen ist in der Tat (noch) nichts an sich, sondern ist nur, insofern es von Gott besessen und beherrscht wird. Gott übt seine Herrschaft in seiner Freiheit auf dieses Sein aus, indem er diesen zweideutigen Zustand auflöst und »dieses Seyn dem Werden preisgibt« (SW X, 266). Die hier beschriebene Dynamik entspricht der der vorigen Schriften: Dank seiner absoluten Freiheit entschärft Gott den blockierten und zweideutigen Zustand des Seinkönnens, so dass Letzteres werden kann. Der Ton Schellings ist aber hier im Bezug auf dieses Geschehen besonders dunkel: Er beschreibt dieses Schicksal des Seins als einen »Schmerzweg«, der von »dem Zug des Schmerzes, der auf dem Antlitz der ganzen Natur […] liegt« erzeugt wird, jenes von D’Alembert beschriebene Gefühl eines ›malheur de l’Existence‹. Dieser Weg ist aber nur ein Weg, der »als Nichtseyn genommen und empfunden wird, indem sich der Mensch in der möglichsten Freiheit davon zu behaupten sucht. Das ist die wahre Freiheit, zu der wahre Philosophie führt«. Die wahre Philosophie führt den Menschen durch den Stufenweg des Sichbewusstwerdens, so dass der gesamte, schmerzhafte Prozess des Werdens kein blindes, göttliches Fatum ist, sondern der Weg, durch den »der große Urheber des Lebens das ihm Entfremdete zu sich zurückbringt« (SW X, 266 f.). An diesem Punkt zeigt sich ein anderer roten Faden im Denken Schellings: Das Denken, auch in seiner höchsten theoretischen Form (Gott denken), bleibt nie eine zwecklose, in sich eingeschlossene Übung, sondern hat immer eine äußere, existentielle (oft ›schmerzlindernde‹) Wirkung. Angesichts des erläuterten Verhältnisses zwischen Gott und dem Sein breitet Schelling den dreistufigen Prozess des Werdens noch einmal aus, d. h. »wie nach jenem Verhältnis sich die drei Principien des Processes begreifen lassen«. Das Sein kann auf drei Weisen bei Gott begriffen werden, nämlich als: 1) »das in Gott Seyende, Enthaltene, von Ihm Begrenzte«, das Schelling als –A kennzeichnet; 2) das Unbegrenzte, oder +A; 3) »das aus der Unbegrenztheit in die Begrenztheit 108 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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Zurückgekommene in Gott«, oder »–A, dem +A zu Grunde liegt« (+/–A). Durch dieses verwickelte aber für Schelling typische Schema zeigt er, wie der Prozess des Werdens sich in Gott und in seinem Verhältnis zu dem Sein spiegeln lässt. Er nennt es ›Trimorphie‹ Gottes, die von dem Sein selbst gewissermaßen verursacht ist, so dass das Sein als »das Setzende von Gott« oder das »Gott-setzende« genannt wird: »ich nenne das Setzende von Gott das, was ihm Subjekt – Unterworfenes – ist. Insofern können wir überhaupt das Seyn das Gott-setzende nennen, denn es ist eine Unterlage, es ist ihm gleichsam Sitz und Thron, sein Erhöhendes, ihm Emportragendes« (SW X, 269). Das Sein gilt als Materie des Handelns Gottes, das sich dreifach gestaltet wie drei Ursachen oder »drei Herrscher« und dadurch den Prozess des Werdens verursacht. In der von Schelling vorgetragenen Vorstellung Gottes und seines Verhältnisses zum Sein ist demnach die »Materie« des Handelns Gottes »ein Mitewiges Gottes« (SW X, 274), das zu seiner Natur wesentlich gehört, wie der Ausdruck »Herr des Seins« bestätigt, ohne weitere Erklärungen zu benötigen. Das Sein gehört zu Gott, der ohne dieses Sein seine Macht nicht ausüben könnte: Das Sein bleibt aber eine von Gott gewissermaßen unabhängige Substanz, weil »es seiner reinen Substanz nach nicht durch einen Akt der göttlichen Causalität gesetzt ist«. Das Sein ist in derselben Ewigkeit gesetzt, wo auch Gott selbst ist: »Das Seyn ist gleichsam das Centrum, um das sich alles bewegt, aber eben darum unabhängig von der göttlichen Causalität, insofern ein wahres Nichts, als es alles, wodurch es Etwas […] ist, nur von der göttlichen Causalität hat« (SW X, 275). Schelling hat mit diesen Sätzen den Zustand dieses flüchtigen Seins genauer erklärt, trotzdem bleibt es im Grunde noch zweideutig: Das Sein repräsentiert jenen fast unabhängigen, dunklen Teil Gottes, der seit der Freiheitsschrift ein unentbehrliches Element des Diskurses Schellings über den Grund und die dazu gehörende Freiheit geworden ist. Dieses Sein ist von der bloßen Fähigkeit gekennzeichnet, alle aus Gott kommenden Bestimmungen anzunehmen, deswegen definiert es Schelling auch als ein ›Spiel der göttlichen Freiheit‹. Seine Unabhängigkeit besteht in seinem ›Nichts‹ oder in seiner ›Nichtigkeit‹, die mit seinem Fähig-sein gleich ist: Es wird von der göttlichen Kausalität nicht gesetzt, weil es ein notwendiger Teil der Göttlichkeit Gottes ist. »Es bleibt uns also nichts übrig als zu denken, dass Gott in jenem Princip – in jenem unbegrenzten Seyn – sich selbst zu B (zum ὑποείμενον) macht. Denn nur auf diese Weise gibt er sich selbst den Stoff seines 109 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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Wirkens« (SW X, 276): Schelling erklärt eben an dieser Stelle der Abhandlung den schwierigen Punkt des Verhältnisses zwischen der Göttlichkeit Gottes und dem zweideutigen Zustand des Seins, der zu seinem Wesen auch gehört; Es wird in der Tat hier klar, dass das Sein Teil des göttlichen Wesens ist, da es direkt aus Gott kommt, indem er sich zu diesem ›Stoff‹ seines freien Handels macht. Gott wird dieses »blinde Seyn«, nicht »um es zu seyn, sondern um es zu überwinden«, wie durch die drei Momente oder Ursachen des Werdens in Gott schon dargestellt wurde. Gott ›setzt‹ sich als unbegrenztes Sein, als Begrenzung dieses Seins und als das, was Schelling ›Geist‹ genannt hat: »Gott ist nur der durch diese drei Formen hindurchgehende Actus, […] die in den drei Formen wirkende als unauflöslich bestehende Einheit« (SW X, 276). Das Sein hat sich als Seinkönnen wirklich erwiesen, das die Macht, die Potenz Gottes selbst repräsentiert. Gott kann tatsächlich das Sein dem Werden preisgeben, aber auch nicht: Das Schweben auf dem Nichts, die grundlegende Zweideutigkeit sind wiederkehrende Elemente des schellingschen Gottes, die nur dessen absolute Freiheit beherrschen und tragen kann. Nur dank dieser alles beherrschenden Freiheit kann Gott die bloße Möglichkeit des Seinkönnens (scheinbar ähnlich einem Nichts) ins wirkliche, werdende Sein holen, dessen drei Prinzipien sich in den drei göttlichen Ursachen spiegeln.

2.2.4. Creatio ex potentia Der entscheidende Punkt des Diskurses Schellings liegt in dem Verhältnis zwischen Gott und dem Seinkönnen. Letzteres wurde als wirklicher Anfang des ganzen Werdens bezeichnet, da es in einer bloßen Fähigkeit oder Potentialität besteht, die von Gott kommenden Bestimmungen anzunehmen. Gott ›besitzt‹ dieses Sein durch seine und dank seiner Freiheit, d. h. er kann sich potentiell als das unbegrenzte Sein setzen und »dazu bedarf er unstreitig nichts als seines Wollens«. Dass Gott sich als Anfang setzen kann, hängt lediglich von seinem Wollen ab: Gott zeigt sich hier als die absolute Ursache, die den Grund ihres eigenen Verursachens in sich trägt. Der Wille, von dem Schelling jetzt spricht, ist in der Tat kein »transitiver« Wille, »sondern er ist ein immanenter, ein nur sich selbst bewegender Wille« (SW X, 277). Die in dem Seinkönnen enthaltene Potentialität ist kein unabhängiges Element an sich, sondern sie kommt unmittelbar 110 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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aus dem Willen Gottes: Anders gesagt, Gott entscheidet sich, Potenz (d. h. Seinkönnen) zu werden, so dass der ganze Prozess des Werdens direkt von seinem Willen verursacht wird. Mit dem Begriff einer absoluten Ursache hätte die Erörterung Schellings ein Ende finden können; Schelling macht aber eine entscheidende Bemerkung, die den Diskurs in eine unerwartete Richtung leitet: Der Begriff einer Ursache, wenn auch einer ›absoluten‹ Ursache, kann nicht an und für sich betrachtet werden. Die Ursache ist nach Schelling kein endgültiger Begriff, weil »in ihm noch immer ein Bezug, eine Relation enthalten ist, zwar nicht eine Relation zu etwas schon Wirklichem oder zu etwas irgendwie Gesetztem […] aber doch zu einem Möglichen«; im Gegensatz dazu sagt er »der höchste Begriff Gottes und dennoch der höchste überhaupt wird derjenige seyn, durch den er als absolut Selbständiges bestimmt wird, d. h. der Substanzbegriff« (SW X, 278 f.). Schelling stößt hier auf den Anspruch der klassischen Metaphysik in Bezug auf den Begriff Gott, oder das, was Schelling die »Forderung des Substanzbegriffes« (SW X, 281) nennt. Gott wurde schon von ihm als ›Herr‹ und Schöpfer des Seins definiert, d. h. mit zwei Bestimmungen, die eine Relation, einen Bezug unbedingt in sich tragen. Die implizite Frage, die Schelling sich durch eine solche Bemerkung stellt, scheint Folgende zu sein: Ist ein derartiger Gottesbegriff (der einen Bezug außerhalb seiner Selbst quasi ›ontologisch‹ impliziert) mit der einem Gott immanenten Unbedingtheit und Selbständigkeit vereinbar? Die letzten Schritte der Abhandlung überprüfen auf eine genauere Weise den Begriff Gottes, den Schelling zuvor durch seine empirische Methode abgeleitet hat. Schelling konzentriert sich auf die Tatsache, dass Gott das unbegrenzte Sein, d. h. B oder der Anfang des Werdens, potentiell sein kann: »Inwiefern er wesentlich der bloß B seyn Könnende ist, ist er also nicht B. Dieses kann er nie wesentlich seyn […] er kann nur actu, also nur wollend B seyn« (SW X, 280). Wesentlich ist Gott nur das BSeinkönnende, oder der, welcher sich als das Seinkönnende setzen kann, wenn er es sein will. Das Wesen Gottes besteht insofern in seinem Willen, durch den er sich als B und Anfang des Prozesses des Werdens setzen kann: Konsequenterweise sind B und die anderen Gestalten des werdenden Seins als Potenzen schon in Gott enthalten, so dass »Gott eben durch diese [Potenzen, S. P.] schon eine Beziehung auf das künftige, vorerst allerdings bloß mögliche, aber doch schon mögliche Seyn« (SW X, 281) hat. Auf diese Weise denkt Schelling 111 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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die Beziehung als eine wesentliche Bestimmung Gottes selbst, die gewissermaßen zu seiner unabhängigen und selbständigen Natur gehört. Gott ist zwar wesentlich Beziehung, aber zu einem künftigen und potentiellen Sein, dessen Aktualisierung nur von seinem Willen abhängig ist: So kann die innere ›Bezüglichkeit‹ Gottes mit seiner absoluten Unabhängigkeit koexistieren, weil der Bezug nur ein potentielles und nicht aktuelles Sein betrifft. Aus einem solchen Begriff ergibt sich »die absolute Freiheit Gottes in Ansehung des Weltschöpfers«: Gott ist absolut frei, eben weil er die Potenzen des künftigen Seins in sich trägt, d. h. nur weil er wesentlich eine Beziehung zu dem potentiellen Sein in sich selbst trägt. »Absolut frei ist er nur dann, wenn er nicht bloß die Principien, d. h. die Potenzen, inwiefern sie schon in Wirkung sind, sondern wenn er die Potenzen auch als Potenzen schon setzt, so dass sie auch nicht – Potenzen (d. h. Möglichkeiten eines künftigen Seyns) wären ohne seinen Willen« (SW X, 282). Gott enthält die Potenzen des Seins, deren Aktualisierung völlig von seinem freien Willen abhängt: Auf diese Weise wird das Problem des ewigen ›Korrelats‹ Gottes und seines Ursprungs gelöst, indem das unbegrenzte Sein (B) in Gott als Potenz enthalten ist. Gott muss eine potentielle Komponente in sich haben, damit seine Freiheit sich wirklich als absolute erweisen kann: Freiheit und Potenz sind untrennbare Begriffe in dieser Phase des Denkens Schellings, so dass die eine undenkbar ohne die andere ist. Die ›Materie‹ der göttlichen Freiheit besteht in den Potenzen des werdenden Seins, die in Gott enthalten sind, und fungiert als Mittel seines freien Willens. Schelling nimmt nun ein letztes Problem in Angriff, das mit den obigen Argumentationen eng verbunden ist: Die Theorie (die auch ein Dogma des christlichen Glaubens ist) der creatio ex nihilo. Wenn man die Theorie Schellings ernst nimmt, kann tatsächlich nichts außer Gott selbst denkbar sein: Die Freiheit Gottes ist unmittelbar auf die in ihm enthaltenen Potenzen des Seins gerichtet, so dass die Definition einer creatio ex nihilo nicht mehr angemessen scheint. Gott schöpft nicht aus dem Nichts, sondern aus sich selbst, aus der in ihm enthaltenen Potentialität: »Die Schöpfung aus nichts (creatio ex nihilo) kann doch nichts anders heißen als creatio absque omni praeexistente potentia – Schöpfung ohn irgend eine voraus schon daseyende und nicht durch den Willen des Schöpfers selbst erst gesetzte Potenz« (SW X, 283). Schelling versucht diesen Paradigmenwechsel sehr vorsichtig zu erläutern, eben durch eine linguistische Präzisierung: Er hebt den Unterschied zwischen den griechischen 112 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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Ausdrücken μὴ ὄν und οὐκ ὄν hervor, die beide ein ›Nichts‹ bestimmen. Das μὴ ὄν »ist das nicht Seyende…bei dem aber noch die Möglichkeit ist seyend zu seyn«, d. h. es könnte das Seiende werden; hingegen ist das οὐκ ὄν das, »von welchem nicht bloß die Wirklichkeit des Seyns, sondern auch das Seyn überhaupt, also auch die Möglichkeit geleugnet ist« (SW X, 283). Das μὴ ὄν ist nicht das absolute Nichts, sondern nur das (noch) nicht Seiende; das absolute Nichts, das auf keinen Fall zur Existenz gelangen kann, wird in der Tat durch das οὐκ ὄν bezeichnet. Das ›nihilo‹, aus dem die Schöpfung kommen soll, wäre insofern das μὴ ὄν, das noch nicht Seiende aber potentiell Seiende, und nicht das absolute Nichts, das konsequenterweise ›neben‹ Gott gedacht werden sollte. »Man könnte also behaupten, die Formel der Schöpfung aus nichts sey bloß aus Mißverstand des griechischen μὴ ὄν entstanden, welches nicht das Nichts, d. h. das eigentlich nicht Seyende, sondern nur das nicht Seyende bedeutet« (SW X, 284). Schelling ist sich aber bewusst, dass es um kein rein philologisches oder linguistisches Problem geht, sondern um den Begriff des Nichts selbst: Wenn Gott eine wirklich absolute Freiheit zugeschrieben werden soll, darf nichts vor oder außerhalb dieser Freiheit gesetzt oder gedacht sein – die Potenzen inbegriffen. Das von dem Begriff des noch-nicht-Seienden hervorgerufene Problem ist von großer, sogar entscheidender Tragweite in der Logik des Diskurses Schellings, weil »der völlig freien Schöpfung gar nichts […] – also keine Potenz, so wenig eine, die in dem Schöpfer, als eine, die außer ihm angenommen würde, vorausgesetzt werden solle« (SW X, 284): Man muss unbedingt eine Materie, eine materia informis denken, aus der Gott die Welt erschaffen hat, aber das Problem liegt darin, wo und wie diese Materie, dieses Nichts, gedacht werden soll, so dass die absolute Freiheit des Schöpfers sich wirklich als absolute, d. h. von nichts vorbestimmte, erweisen kann. Gott hätte die Welt sowohl ›aus nichts‹ als auch ›aus dem nicht Seyenden‹ zeugen können: Beide wären richtige Interpretationen einer creatio ex nihilo. Neben den Begriffen des μὴ ὄν und des οὐκ ὄν findet Schelling einen dritten Begriff des Nichts, den er als Kompromiss in der Verteidigung der Theorie einer Schöpfung aus dem Nichts einführt: Er benennt ›das Unseyende‹ als das Seiende, »aber nicht seyn Sollende, also zu Negierende oder Negierte […] – ein solches Unseyende ist unser B, von dem nur das zweifelhaft ist, ob es als Potenz in Gott angenommen werden kann« (SW X, 285): Das Nichts, aus dem Gott schöpft, ist etwas oder seiend nur, insofern seine ontologische Inkonsistenz durch seine Begren113 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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zung oder Setzung kontinuierlich überwunden wird. An sich ist dieses Nichts kein wirkliches und wahrhaftes Seiendes, sondern bloß die Voraussetzung, das ὑποκείμενον (das, was darunter liegt) des schöpferischen Aktes, d. h. der Freiheit Gottes. Wenn ein solches Unseiendes sich in Gott befindet, kann nur er die Potenzen des künftigen Seins zu wirklichen und wirkenden Potenzen machen: Sie existieren nicht aus sich, weil es nichts, oder nur das Unseiende, vor Gott geben kann. Dadurch »entsteht nun auch die Forderung sie [die Potenzen] von Ihm aus zu begreifen, d. h. ihn als ihr Prius und demnach überhaupt als das absolute Prius zu begreifen. So treibt uns als der Empirismus in seinen letzten Folgerungen selbst ins Überempirische« (SW X, 286): Das Ergebnis des philosophischen Empirismus Schellings ist also der Verweis auf das, was über der Empirie steht. Der Begriff Gottes als ›absolute Ursache‹, die am Ende der empirischen Methodologie von Schelling gefunden wurde, reichte nicht, um Gott als selbständiges, freies Wesen zu definieren. Die Ursache ist immer Ursache von etwas, d. h., sie impliziert eine Beziehung zu etwas, das neben Gott gesetzt ist, aus dem Gott eventuell schöpfen kann. Dieses ›Etwas‹, auf das der Begriff einer absoluten Ursache sich bezieht, kann nur ein Nichts sein, da absolut nichts neben Gott gedacht oder gesetzt werden kann. Seine absolute Freiheit duldet nichts neben sich, eben weil sie absolut ist: Sie wird von nichts vorbestimmt, weil sie das Bestimmende selbst ist. Nur ein ›Unseiendes‹ könnte die Materie des Handelns der Freiheit Gottes sein, d. h. etwas, das an sich nichts ist, sondern einen ontologischen Zustand nur insofern hat, als es als Sub-stanz (ὑποκείμενον) des göttlichen Wollens fungiert. Die Freiheit wird erneut mit dem Nichts stark, sogar untrennbar verbunden: Es scheint, dass nur ein Nichts der geeignete Raum für ihre Entfaltung sein kann, so dass ihre zweideutige, amphibolische Natur erneut bestätigt wird. Eine derartige Freiheit gehört zu Gott, macht sein Wesen aus: Gott kann sich durch seine Freiheit entscheiden, dieses in ihm anwesende 16 Unseiende zu Potenz zu machen und dadurch das Werden des Seins zu beginnen. Er erweist sich wieder als der Anfangende, dank dessen Freiheit der Anfang möglich wird. Freiheit, Nichts und Potenz sind die drei untrennbaren Begriffe, die die schellingsche Auffassung des Anfangs und des Grundes Wie das Unseiende in Gott anwesend sein soll, bleibt für Schelling eine offene Frage.

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grundlegend charakterisieren: Um Gott als freien Herrn des Seins zu denken, muss man das Risiko eingehen, seine Freiheit gründlich zu erfassen. Schelling hat diese Aufgabe ernst genommen und macht sich auf den Weg, einen völlig anderen Begriff des Grundes zu gestalten.

2.3. Philosophie der Offenbarung (1841/42): Die Befreiung Gottes Die Entstehung der Philosophie der Offenbarung wurde fast ein Jahrhundert lang ausführlich dokumentiert und ausgeleuchtet: 17 Die Berliner Vorlesungen wurden von dem Sohn Schellings schon in der Cotta-Ausgabe veröffentlicht, so dass der Text wenige Jahre nach dem Tod Schellings einfach zugänglich war und verbreitet wurde. Adriano Bausola schrieb mit Recht in seiner umfassenden Einleitung zu der italienischen Übersetzung, dass die Philosophie der Offenbarung als eine summa des späten schellingschen Denkens betrachtet werden kann: Alle Themen, die Schelling von seiner mittleren Phase bis zu den Berliner Jahren in Angriff nahm, sind tatsächlich sowohl in dem ersten als auch in dem zweiten Buch der Philosophie der Offenbarung vorhanden und geben den fundamentalen Gedanken Schellings die definitive Tonart. Unserer Methode gemäß werden wir uns nur auf bestimmte Vorlesungen konzentrieren, die das Thema des Grundes und des Anfangs behandeln, nämlich die Vorlesungen 8. bis 15. Diese Vorlesungen stellen auf eine deutliche Weise den letzten Versuch des Philosophen dar, in Richtung eines Übergangs von der Negativität der Begrifflichkeit zur Positivität der Existenz und der Wirklichkeit, besonders im Bezug auf die ›höchste Idee‹ der Philosophie – die Idee des Prinzips, zu denken.

Vgl. Bausola 1965; Kasper 1965; Frank 1985; Brito 1987; Tilliette 1992a, Bd. II; Tomatis 1994; Brito 2000. Außerdem s. auch die Einleitung M. Franks zu Schelling 1841/42.

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2.3.1. Die umgekehrte Idee: Das Primat der Existenz Eines der wichtigsten Themen der Philosophie der Offenbarung ist die Aufteilung der Philosophie in eine negative und eine positive Philosophie. Die negative Philosophie gibt sich selbst ihr Objekt, während die positive Philosophie es außerhalb des Denkens selbst findet, dort, wo die Begrifflichkeit den Raum zur Wirklichkeit öffnen muss. Der Ausgangspunkt des Diskurses Schellings besteht eben in dem »Letzten« der negativen Philosophie, d. h. jenem Begriff, der »über dem Seyn« steht und nicht mehr in das Sein übergeht. Die Philosophie findet am Ende ihres Durchgehens durch alle möglichen Gegenstände ein Objekt, das als »das ganz Seyende« bezeichnet werden muss: Seine Differenz zu den anderen Seienden besteht darin, dass es »ganz Actus, reine Wirklichkeit ist, während alles andere (a potentia ad actum Übergehende) eben darum nur aus Nichtseyn und Seyn (Potenz und Actus) gemischt« (SW XIII, 149) sind. Die Vernunft kommt zu einem Objekt, das einen anderen ontologischen Zustand im Vergleich mit den anderen Seienden hat und eben aus diesem Grund sich auch als das maxime cognoscendum für die Vernunft zeigt. Seine ontologische Fülle macht es zu »dem ganz zu Erkennenden«, dem geeignetsten Objekt für die Philosophie, die aus diesem Grund zu einer positiven, wirklichen Erkenntnis eines derartigen Objektes gelangen muss, »was nun freilich, wie unmittelbar einzusehen, nicht mehr in derselben Linie, sondern nur in einer neuen, ganz von vorn anfangenden Wissenschaft geschehen kann« (SW XIII, 150). In jenem Moment, in dem die Philosophie ihren höchsten Begriff, d. h. den Begriff eines Grundes oder eines Prinzips aller Seienden erreicht, muss eine radikale Wende in der Philosophie selbst geschehen: Schelling stellt fest, dass die rein rationale Philosophie nur den Begriff eines solchen ›ganz Seyenden‹ erreichen kann, aber das Begreifen selbst reicht nicht mehr. Die ontologische Vollkommenheit dieses Seienden überfordert die rationale Fähigkeit der Vernunft: Schelling interpretiert diese scheinbare Grenze als einen ›Umsturz der Vernunft‹, der sie zu einer anderen, neu anfangenden Erkenntnisform treibt. Das schöne Bild, das Schelling prägt, um die zwei ›Wege‹ der Philosophie zu beschreiben, ist besonders eingängig: Die negative Philosophie sei nur eine ›philosophia ascendens (von unten aufsteigende)‹, während die positive Philosophie eine ›philosophia descendens (von oben herabsteigend)‹ sei. Der Grenzpunkt der negativen Philosophie repräsentiert für Schelling keine echte Grenze, sondern 116 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Philosophie der Offenbarung (1841/42): Die Befreiung Gottes

nur einen Wendepunkt, dank dessen »sie [die Vernunft, S. P.] das Positive positiv ausschließt, d. h. zugleich es in einer anderen Erkenntnis setzt, was Kant nicht gethan hat« (SW XIII, 152). Das »Positive positiv ausschließen« bedeutet, dass die Vernunft das Positive (d. h. die Wirklichkeit) auf eine bewusste Weise von ihrer eigenen Erkenntnisfähigkeit ausschließt, weil sie erkennt, dass sie sich radikal anders konzipieren muss, um genau jenes Positive als solches zu erreichen. Anders gesagt, ihrem höchsten Objekt gegenüber erkennt die Vernunft, dass insofern »sie bloß sich selbst zur Quelle und Princip nimmt, keiner wirklichen Erkenntnis fähig ist« (SW XIII, 152): Das seiendste Objekt, das ganz Actus ist, bleibt für die Vernunft unerkennbar, bis sie in sich selbst und nur an sich selbst verankert bleibt. Die Vernunft muss sich von ihrem eigenen Objekt ›befreien‹ und es akzeptieren als das, was völlig außerhalb der Vernunft ist – Zielpunkt und zugleich Anfangspunkt. Der Übergang von der negativen zur positiven Philosophie, von der reinen Begrifflichkeit zur Erfassung der Wirklichkeit, ist von höchster Bedeutung für den Diskurs Schellings und drückt am deutlichsten seinen Versuch aus, in Richtung einer anderen Denkform, die der Fülle des Lebens und der Wirklichkeit (besonders im Bezug auf Gott) wirklich entsprechen kann, zu gehen 18. Schelling unterscheidet zwischen einem ›wirklich Existierenden‹ und einem ›existieren Könnenden‹ : Dieses Letzte sei das letzte Objekt der rationalen Philosophie und seine Benennung verweist deutlich auf die Tatsache, dass die negative Philosophie sich nur mit der Kategorie der Möglichkeit beschäftigen kann. Auch wenn sie den höchsten Begriff, den ›reinen Actus‹ erreicht, erreicht sie ihn nur in der Form der Möglichkeit, das wirkliche Korrelat jenes Begriffes bleibt hingegen außerhalb ihres Vermögens. Deswegen verwendet Schelling bezüglich der letzten Stufe der negativen Philosophie eine Terminologie, die auf das Können und die Potenzialität hinweist; in diesem Sinne fragt er, »auf welche Weise dieses Letzte existieren kann«. Genau an dieser Stelle »stellt sich nun sogleich dar, dass die Potenz, welche nicht Potenz, sondern selbst Actus ist, nicht durch Übergang a potentia ad actum sey« (SW XIII, 155 f.): In dem Moment, in dem die Vernunft sich über die wirkliche Existenz jener ›seyende Potenz‹ befragt, wird deutlich, dass sie eine Wende ihrer Perspektive vollziehen muss, um ›das Seyn zum prius‹ zu machen. Diese Passage ist von höchster Wichtigkeit: 18

Vgl. Vetö 2015.

117 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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Schelling fordert eine radikale Wende der üblichen Denkweise, die die Vernunft (und ihre Fähigkeit) zum Maßstab aller ihrer Repräsentationen macht; im Gegensatz dazu zeigt hier Schelling, wie das Prius nicht die Vernunft, sondern das wirkliche Sein ist, das sich in seinem völligen Anders-sein gegenüber dem Denken manifestiert. »Wir könnten sie deshalb auch das umgekehrte Seynkönnende nennen, nämlich dasjenige Seynkönnende, in welchem die Potenz das posterius, der Actus das prius ist«: Die von Schelling geforderte Kehre betrifft auf diese Weise sowohl die Ontologie als auch die Gnoseologie, weswegen er nicht versucht, nur das notwendig Existierende darzustellen und begreifbar zu machen, sondern auch die Wandlung erläutert, durch die die Vernunft angesichts dieses ›neuen‹ Objekts durchgehen muss. Diese zwei Bewegungen sind untrennbar. Das ontologische Verhältnis wird von Schelling insofern umgekehrt gedacht, als das Sein nicht von der Potenz zum Actus übergeht; die Aktualität hat in diesem Fall keinen Vorgänger, sondern stellt sich unmittelbar als reiner, seiender Actus dar, den die Vernunft als solche, d. h. als das absolute Äußere, erkennen kann, ohne es in irgendwelche Kategorien einzuschließen, weil es »keinen Begriff hat, als eben das Existierende zu seyn (und mit diesem, dem seinem Begriff zuvorkommenden, fängt die positive Philosophie an)« (SW XIII, 156). Das Verhältnis Potenz-Actus ist einer der Dreh- und Angelpunkte der klassischen Metaphysik: Dass der Actus höher als die Potenz war, wurde schon von der antiken Metaphysik begriffen, aber dieses Verhältnis setzt die Potenz als Voraussetzung des Actus, als Bedingung der Realisierung des Actus selbst. Schelling möchte genau gegen diese Auffassung angehen: Wenn der Actus wirklich höher als die Potenz wäre, gäbe es keine Voraussetzung für ihn, er wäre hingegen das echte Prius des Seins, das Existierende überhaupt. Auf diese Weise verleiht Schelling der Kategorie der Existenz das Primat, wie seine Auseinandersetzung mit dem ontologischen Argument klarstellt: Letzteres heißt ›ontologisch‹, weil es von der Definition des Wesens Gottes ausgeht, um seine Existenz zu beweisen, ohne dass man sich auf die Sphäre der empirischen Erfahrung berufen muss. Die Stärke dieses Arguments liegt darin, dass ihm eine Definition des Wesens Gottes zugrunde liegt, aus der seine Existenz notwendig folgen muss: Deus est Ens, ex cuius essentia sequitur existentia, »denn wir könnten uns alsdann ein Wesen vorstellen, das die Existenz vor ihm voraus hatte, und es wäre dann nicht mehr das Höchste« (SW XIII, 157). Schelling widerspricht aber genau dieser Deduktion: Wenn das We118 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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sen Gottes wirklich das Höchste wäre, wäre es das Existierende schlechthin – ohne weiterer Beweise seiner Existenz zu bedürfen. Er möchte dagegen den ›Begriff‹ (obgleich es hier um keinen echten Begriff geht) eines notwendig Existierenden einführen, d. h. eines Wesens, das lediglich aus seiner Existenz besteht, »bei dem man sonst weiter an nichts denkt, als dass es eben das Existierende ist«. Die Einwände Schellings gehen noch weiter: Der zweite Fehler im Argument, den auch Spinoza macht, besteht in der Gleichsetzung des bloß Existierenden mit Gott. Wenn Gott existiert, existiert er zwar als das bloß Existierende, »was also immer noch unentschieden lässt, ob er oder ob er nicht existiert« (SW XIII, 158): Die Existenz bleibt für Schelling völlig außerhalb der Grenzen jeder logischen, vernünftigen Deduktion, umso mehr die Existenz Gottes. Gott ist das bloß Seiende vor Gott oder »vor seiner Gottheit« und konsequenterweise vor jedem Begriff, der gegenüber dem »unzweifelhaft Existierenden« nichts begreifen kann: »das Seyn ist hier prius, das Wesen posterius« (SW XIII, 160). Das Sein, auf das Schelling sich bezieht, steht gewiss außerhalb der Vernunft, bleibt aber nicht undenkbar: Dies erzwingt die Umkehrung der Vernunft, so dass Letztere sich als Zweite und nicht als Erste erweist. Vor jedem hervorgebrachten Begriff gibt es ein schon existierendes Sein, dessen Existenz nicht bewiesen sondern nur als solche akzeptiert werden muss. 19 Die Umkehrung der Idee, von der Schelling spricht, zeichnet sich immer deutlicher ab: Um diesen Anfangspunkt der positiven Philosophie zu begreifen, muss man die üblichen philosophischen Konzepte umdrehen: »was sonst das Prädicat ist, ist hier das Subjekt […]. Die Existenz, die bei allem anderen als accidentel erscheint, ist hier das Wesen. Das quod ist hier an der Stelle des quid« (SW XIII, 162). Das Primat der Existenz gilt hier als absolut und macht das bloß Seiende völlig unabhängig von dem Denken: Die Existenz ist hier kein akzidentelles Attribut eines Wesens, welches nur in einem zweiten Schritt folgt, sondern sie ist die Natur und das innerste Wesen des Seienden. Die von Schelling umrissene Ontologie des notwendig Seienden stellt die Kategorien der klassischen (negativen) Metaphysik um, ohne aber das Denken unmöglich oder irrational zu machen: Sie öffnet den Weg für eine andere Form der Philosophie, die Schelling ›positive‹ Philosophie nennt, weil sie mit dem absolut Äußeren (hinsichtlich des Denkens) anfängt. Dieser Anfangspunkt ist das ›Jenseits‹ 19

Vgl. Vetö 2015, 5.

119 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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der Idee des höchsten Seienden, d. h. seine reine Wirklichkeit: Das notwendig Existierende besteht aus der Notwendigkeit seiner wirklichen Existenz und genau aus diesem Grund benötigt es keinen weiteren Grund seiner Existenz, die das absolute Prius ist; es existiert »a se, d. h. sponte, ultra, ohne vorausgehenden Grund« (SW XIII, 168). In der Gestalt des notwendig Existierenden oder der ›umgekehrten Idee‹ erscheint erneut jener schellingsche Ungrund, der das Wesen Gottes selbst charakterisiert. Wenn Gott existiert, wäre er das Absolute a posteriori der Vernunft: Nur ihm kann die notwendige Existenz, die keinen Grund benötigt, zustehen. Wie kann aber die Vernunft ein derartiges Seiendes setzen, wenn dieses völlig außerhalb ihrer Kategorien steht? Die Vernunft muss der Umkehrung ihrer Idee folgen. Das bloß Seiende hat keine Potenz in sich, d. h. keine Idee, deswegen muss die Vernunft es »als ein absolutes Außer-sich setzen«, so dass sie »in diesem Setzen außer sich gesetzt, absolut ekstatisch« (SW XIII, 163) ist. Die Vernunft kehrt sich zusammen mit ihrer höchsten Idee um: Indem sie das absolut Seiende erkennt, setzt sie sich (in derselben Bewegung) außer sich selbst und wird ekstatisch, frei sogar von sich selbst. Das bloß Seiende besteht nur aus seiner Existenz, die sogar sein Wesen und seinen Begriff repräsentiert: Die radikale Epoché Schellings erreicht an dieser Stelle ihren höchsten Punkt, indem er den Unterschied selbst zwischen Wesen und Existenz in dem bloß Seienden nicht mehr denkt. Was Kant schon als ›Abgrund der Vernunft‹ definiert hatte, erweist sich hier als »das erste eigentliche Objekt des Denkens«, weil seine Wirklichkeit dem Denken selbst zuvorkommt, d. h. sie steht ihm radikal und absolut gegenüber, eben als sein Gegen-stand, der »unmittelbare Vernunftbegriff« (SW XIII, 165) »jenes absolut Vorgestellten« (SW XIII, 173), was an sich ein Widerspruch ist, da alle Begriffe vermittelte Begriffe sind. Hier aber befindet man sich in einem ganz anderen Bereich, den Schelling als ›positive Philosophie‹ bezeichnet hat, in der die Existenz den Vorrang besitzt und die Vernunft insofern eine erfahrende Vernunft wird, die von dem absoluten Primat des reinen Seienden überwältigt wird. Hier wird deutlich, dass Schelling fast ein Jahrhundert vor Heidegger den Punkt der Problematik der Ontotheologie erreicht hatte: 20 Die zwei betroffenen Begriffe sind das (höchste) Seiende und Gott, deren Gleichsetzung für Schelling viel problematischer als für die 20

Vgl. Strummiello 2004.

120 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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klassische Metaphysik ist. Es geht nämlich nicht darum, die Existenz Gottes, sondern »die Gottheit des unzweifelhaft Existierenden« (SW XIII, 159) zu beweisen: Der Widerspruch zu dem ontologischen Argument besteht eben darin, dass der Begriff eines notwendig Existierenden unmittelbar mit Gott gleichgesetzt wurde. Aber das notwendig Existierende ist nicht Gott, sondern »nur das, was Gott seyn kann, insofern das Prius von Gott…das Prius seines Gottseyns, seiner Gottheit« (SW XIII, 160): Das notwendig Seiende wird deswegen auch als die »potentia universalis« definiert, »derselbe, der vor aller Potenz ist« (SW XIII, 174). Dieses Problem greift erneut (aber jetzt explizit) eine Frage auf, an der Schelling schon seit Jahren hart arbeitet, und die seine ganze Philosophie verändern soll: Wie tritt Gott wirklich in die Philosophie ein? Nicht: Wie begreift die Philosophie Gott, sondern wie Er, der Herr des Seins, innerhalb der Philosophie erscheint. Dieser Perspektivwechsel verleiht der ganzen Spätphilosophie Schellings ihre besondere Tonart und führt Schelling zur fortwährenden Entdeckung jenes anderen Grundes des ganzen Seins, der einen anderen Anfang der Philosophie einfordert.

2.3.2. Die Endlichkeit des Absoluten In den Vorlesungen des zweiten Teils seiner Philosophie der Offenbarung sucht Schelling die schon eingeführte ›umgekehrte‹ Ontologie noch tiefer zu bestimmen: Er muss einen Seinsbegriff entwickeln, der dem Vorrang der Existenz gegenüber der essentia entspricht, ohne aber unvernünftig oder unvorstellbar zu werden. Die Sorge um die unverzichtbare Vernünftigkeit des philosophischen Diskurses bleibt für Schelling ein Leitmotiv: Er präzisiert jedoch die Bedeutung von ›vernünftig‹, die nicht nur auf die Vernunft begrenzt sein muss, sondern »in vielen Fällen ist das Vernünftige nur, was aus der gegenwärtigen, einmal eingesetzten Ordnung der Dinge mit Nothwendigkeit folgt« (SW XIII, 200). Schelling verweist auf die Sphäre der Erfahrung als notwendige Ergänzung der bloßen Vernunft, die alleine nie zur Wahrheit gelangen könnte. Das Reale erscheint als Folge einer Freiheit, so dass »das Absehen der Philosophie gehe auf das Sittliche, als es gehe auf das Vernünftige« (SW XIII, 201). Mit dieser besonderen Behauptung führt Schelling seinen ontologischen Diskurs ein, indem er auf den ›sittlichen‹ (d. h. aus Freiheit stammenden) Aspekt des Seins aufmerksam macht: »Die Philosophie setzt ein, nicht wie es 121 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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sich trifft, sondern ein gleich anfangs mit Weisheit, mit Voraussicht, und also mit Freiheit entstehendes Seyn voraus«, deshalb strebt die Philosophie »über dieses Seyn, das wirkliche, das gewordene, das zufällige hinausgesehen können, um es zu begreifen« (SW XIII, 203). In dem Prozess des Verstehens weist das wirkliche Sein dank seiner Freiheit, d. h. dank jener scheinbar unvernünftigen Komponente, über sich selbst hinaus auf das, was vor jenem Sein steht, oder dorthin, wo der eigentliche Anfang der Philosophie ist. ›Das, was vor dem Sein steht‹ gilt als der Hauptbegriff der hier dargelegten schellingschen Ontologie: Mit diesem Begriff öffnet Schelling einen fast unerforschten Grenzbereich, der mit dem Anfang und der Vergangenheit des wirklichen, hier anwesenden Seins zu tun hat. Im Bezug auf das gewordene Sein liegt der Anfang in der Vergangenheit, aber das, was vor dem Sein steht, ist an sich selbst das »absolut Zukünftige«, »das noch nicht Seyende, aber das seyn wird« (SW XIII, 204). Der Anfang reicht vollends in die Zukunft hinein, deswegen bestimmt Schelling ihn auch als »das unmittelbar seyn Könnende […], das um zu seyn, schlechterdings nichts anderes voraussetzt als sich selbst« (SW XIII, 204), oder auch (aber nicht unerwartet) als Wollen, das nichts anderen als seiner selbst bedarf, um zu sein. Dieses Wollen ist die bloße potentia existendi, die ohne Vermittlung von Potenz in Actus übergehen kann: Das Sein selbst manifestiert sich genau als Wollen, indem jedes Seiende sich gegen andere Seiende behauptet, wie das Wort ›Gegenstand‹ an sich erläutert: »Was Etwas ist, muss widerstehen« (SW XIII, 206). Eine Spur der Quelle des Seins bleibt auch in dem gewordenen, existierenden Seienden, aber die Bestimmung des Anfangs erfordert neue, andere ontologische Kategorien, da »alle diejenigen Begriffe, durch welche wir das schon vorhandene Seyn bestimmen, müssen auf die Quelle des Seyns unanwendbar seyn« (SW XIII, 205). Schelling spricht aus diesen Gründen von Wollen, potentia, Seinkönnen in Bezug auf den Hauptbegriff seiner ›positiven‹ Ontologie: Alle diese Begriffe schweben zwischen Sein und Nichts, sie drücken die Ungewissheit und Unvorhersehbarkeit des Anfangs aus zusammen mit seiner unüberwindbaren Notwendigkeit. Jene unmittelbare, anfangsfähige Potenz schwebt tatsächlich zwischen dem Übergang zur wirklichen Existenz und der Notwendigkeit ihrer eigenen Existenz, d. h., dass sie nicht wirklich und völlig frei ist: »Aber die eigentliche Freiheit besteht nicht im Seyn – nicht im sich äußern – sondern im nicht seyn-, im sich nicht äußern-Können […]. Es ist also immer 122 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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nur das auf Kosten seiner selbst, d. h. mit Verlust seiner selbst, Seyende« (SW XIII, 209). Die eigentliche Freiheit steht dem Seinkönnen nicht zu, weil Letzteres nicht nicht sein kann: An sich ist das Seinkönnen notwendig; nicht notwendig (d. h. frei) ist sein Wirklichkeitswerden im existierenden Sein, das aber danach – und nicht unbedingt – geschieht. Deswegen kann die Bestimmung jenes absolut Zukünftigen (Hauptbegriff der positiven Ontologie Schellings, von dem alles abhängt) nicht lediglich auf das Seinkönnen begrenzt sein, weil die eigentliche Freiheit zu diesem nicht gehört. Das absolut Zukünftige »mehr ist als nur dieses [das Seinkönnen]«: Es muss nicht nur bloße Potenz sein, da das Seinkönnen nur in der Modalität der Potenz existiert, welche aber keine ursprüngliche Modalität ist, sondern nur eine gesetzte; die ursprüngliche Modalität des Seins kann nur das Gegenteil sein, d. h. der purus actus, oder das ›rein Seyende‹ : »Eben das oder dasselbe, was seiner ersten Bestimmtheit nach das Seynkönnende ist, ist in einem zweiten Begriff oder in einer zweiten Bestimmung jenes absoluten Begriffs das rein Seyende« (SW XIII, 217). Schelling spricht daher von Bestimmungen, die aber dasselbe betreffen, d. h. ›das, was sein wird‹, oder der Begriff par excellence: Der Anfang kann deswegen aus zwei unterschiedlichen Sichtweisen betrachtet werden, beide unentbehrlich, um ihn zu begreifen. Das bloß Zukünftige zeigt sich in diesen zwei gegensätzlichen Modalitäten, die trotzdem eine ›substantielle Identität‹ (SW XIII, 218) ausdrücken (wie so oft bei Schelling): Auf der einen Seite wird das bloß Zukünftige als Seinkönnen betrachtet, das das absolute Streben repräsentiert und an sich selbst ›ein Nichts‹ ist; das ihm zugrunde liegende Verb ist nämlich das reine Können, nicht das Sein. Diese eigentliche natura anceps muss aber eben als solche festgehalten werden, was ihrer Natur widerspricht, die zum unmittelbaren Übergang in das Sein bestimmt ist. Aus diesem Grund hat Schelling andererseits das Zukünftige als das rein Seiende determiniert, gerade um »das Seynkönnende als Seynkönnende festzuhalten, es vor dem Übertritt in das Seyn zu bewahren« (SW XIII, 210): Der nichts voraussetzende purus actus, der unmittelbar ist, stabilisiert die strebende Natur des Seinkönnens, hält dieses fest in seinem Potenzzustand. Das bloß Zukünftige kann jetzt als wirkliche »potentia pura, als reines Können, als Können ohne Seyn« betrachtet werden, nur weil es in diesem Zustand von dem Element des rein Seienden festgehalten wird, sonst würde es in »unvordenklicher Weise in das Seyn übergehen« (SW XIII, 211). Seine eigene potentielle Natur erfordert, dass es 123 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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zweifach sei – eben um Potenz zu sein. Die absolut zukünftige Potenz kann nur als solche sein, wenn sie von ihrem Gegenteil ›festgehalten‹ wird: Dies wäre das Paradox des unbedingten Anfangs, den Schelling begrifflich zu gestalten versucht. Die Metapher des Wollens kehrt an dieser Stelle auch zurück, um die zwei erläuterten Modalitäten zu charakterisieren: Das bloß Zukünftige ist an sich das rein Wollende, das »von ihm selbst hinweg auf ein anderes« (SW XIII, 214) geht, weil es völlig in die Zukunft hineinreicht. Das bloß Zukünftige hat aber nichts vor sich, da es das absolut Anfängliche ist und »insofern [es] als die Armuth, die Bedürftigkeit selbst« erscheint; aus diesem Grund ist das Zukünftige das Seinkönnen, ein Nichtwollen, reines Können oder noch ein »nicht wollender Wille«, da es nichts, außer sich selbst zu wollen, gibt. Sofern aber dasselbe bloß Zukünftige das rein Seiende ist (oder als dieses betrachtet wird), »hat es allerdings Sich als das bloß Seynkönnende vor sich, es hat also etwas, das es wollen kann, ohne sich als sich zu wollen« (SW XIII, 215), es erscheint insofern als das »willenlos Wollende, als Wollen, dem kein Wille vorhergeht« (SW XIII, 219), als das »bloß wollen Könnende« oder »das zu seyn Unvermögende« (SW XIII, 221), so dass am Ende die Identität mit dem Seinkönnen eintritt. Das rein Seiende, wie das Seinkönnende, streift die ontologische Nichtigkeit, weil jedes nur einen Aspekt des Seins ausdrückt, so dass jedes an sich unselbständig ist. Die zwei Modalitäten des Zukünftigen bedingen sich gegenseitig: Nur weil das Zukünftige sich als Seinkönnen bestimmt, kann es auch als rein Seiendes oder als rein Wollendes erscheinen. Auf diese Weise ist das Zukünftige nicht mehr eine leere Projektion, sondern es hat ein Objekt vor sich. Das bloß Zukünftige besteht aus der substantiellen Identität (›Zweiheit in der Einheit‹) der zwei antithetischen Modalitäten, die es dynamisch und lebendig machen – dieselbe Antithese von Potenz und Actus, Sein und Nichtsein, aus der jedes existierende Seiende besteht. In der inneren Beweglichkeit oder Unruhe des bloß Zukünftigen zeigt sich das Seinkönnen als die Voraussetzung (nicht die zeitliche, sondern die ontologische) des reinen Seienden: »[…] sollte es [das rein Seiende] seyn, nämlich actu sein, so müsste es erst ex actu in non actum, in potentiam, d. h. in sich selbst zurücktreten« (SW XIII, 221). Die Richtung der Bewegung ist das genaue Gegenteil des klassischen Übergangs von der Potenz zum Actus: Das, was vor dem Sein ist, muss sich selbst in potentiam setzen, um actu zu sein; wenn der Anfang schon und auf ewig purus actus ist, muss es 124 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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sich ›erniedrigen‹, um sich selbst zum wirklichen Sein zu erhöhen. In der Ontologie Schellings erfordert der Übergang zum wirklichen Sein, dass die Vollkommenheit des Anfangs, die Schelling auch als das absolute Unvermögen bestimmt hat, Erniedrigung erfährt. Nicht zufällig versucht Schelling in der elften Vorlesung seinen eigenen Begriff des ›Einen‹ in eindeutigem Gegensatz zu dem Einen des Parmenides zu gestalten: Er kritisiert eben an dieser Stelle den »unfruchtbaren Begriff des Parmenides, […] das öde und wüste Seyn, mit dem nichts anzufangen ist« (SW XIII, 224), im Gegensatz zu seinem eigenen Begriff des Anfangs, der aus einer gegensätzlichen, beweglichen Einheit besteht. Schelling hat schon aufgezeigt, dass die erste Art oder Modalität des Seienden das Seinkönnende ist, weil nur aus der absoluten Potenz zu sein, aus der unbedingten potentia existendi heraus etwas anfangen kann. 21 Nur dank dieser unendlichen Potenz oder dieses unendlichen Nichtseins kann das Seiende (das in der vorherigen Vorlesung als ›das Zukünftige‹ definiert wurde) sich von der Unbeweglichkeit des purus actus oder des rein Seienden befreien, indem es sich ex actu in potentiam setzt, um in wirkliches Sein überzugehen: »Damit wird also gleich anfänglich jene, alle Unterscheidung, aber eben darum die Wissenschaft selbst vertilgende Einheit gebrochen. Denn bei dem als das Seynkönnende bestimmten Seyenden ist nun schlechterdings nicht stehen zu bleiben« (SW XIII, 224). Das Eine des Parmenides ist an sich vollkommen und eingeschlossen, aus diesem Grund ist es kein Anfang, sondern nur das reine und ideelle Sein, aus dem nichts entstehen kann, weil es schon vollkommen ist; Schelling will aber einen anfangenden oder anfangsfähigen Anfang denken, der in der Lage ist, die Dynamik der Positivität in sich zu tragen. Deswegen beharrt Schelling lange auf dem Element des Seinkönnens oder der Potenz, weil der entscheidende Unterschied eben darin liegt: »Dieses Eine also – dadurch, dass es das rein Seyende ist – dadurch bekommt es sich als Seynkönnende in seine Gewalt, und befreit sich von dem Können als blindlings und unaufhaltsam in das Seyn Vorstrebendem« (SW XIII, 225). Das Seinkönnen als unendliche Potenz zu sein strebt über sich selbst hinaus und über seine Grenzen: Auf ewig unbestimmt »schweift« es zwiVgl. Hühn 2010, 28: »Allen verflachenden Vorstellungen ursprungslogischer Anfänglichkeit zum Trotz, zielt Schelling dergestalt auf einen Anfang, der zum einen die Potenziale eines zweiten Anfangs in sich birgt und darin in einem emphatischen Sinne sich von einem bloß innerweltlichen Beginnen unterscheidet«.

21

125 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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schen Sein und Nichtsein – Beweis seiner zweideutigen Natur – und erscheint als »das von sich selbst Unbegrenzte«, so dass es durch ein anderes begrenzt sein muss. 22 Dieses »Andere«, das das Seinkönnende begrenzt, kann nicht das rein Seiende sein, da es hier nicht um zwei unterschiedliche Substanzen geht, sondern um zwei Modalitäten derselben Substanz, des Einen. Deswegen kann nur Letzteres, das Eine, das Begrenzende sein: Jenes »Eine und Selbe« lässt sich nicht durch die ›schlechte‹ Unendlichkeit des Seinkönnens überwinden, sondern besitzt sich selbst, wird das, was »sich selbst in seiner Gewalt hat« (SW XIII, 227). Die Begrenzung geschieht eben durch das schon erläuterte Verhältnis zwischen dem Seinkönnen und dem rein Seienden: Das Eine setzt sich als Seinkönnen und zugleich als rein Seiendes, das als sein Gegenteil die unendliche Potenz des Seinkönnens begrenzt und das Eine frei macht. Das Seinkönnen wirkt als »die Magie, die Potenz, die das unendlich Seyende an sich zieht« (SW XIII, 231), als jenes Nichts, das das rein Seiende voraussetzen muss; seinerseits findet das unendliche Wollen, das das rein Seiende bezeichnet, sein Objekt eben in dem Seinkönnen. Die zwei Modalitäten des Einen müssen immer gleichzeitig gedacht werden als eine ewige Opposition, die in einem dritten und höheren Element enthalten ist und von diesem Dritten beherrscht wird. Diese Struktur ist nicht neu im Denken Schellings, sie kehrt immer wieder und scheint seine definitive Charakterisierung des Absoluten. Es liegt nicht in der Absicht Schellings, die Modalitäten des ursprünglichen Seins zu beleuchten, sondern jenes Sein selbst: »[W]ir wollen schon ein Drittes, oder genau gesprochen, das, was seyn wird« (SW XIII, 234). Schelling hat sich bis dahin auf die innere Dynamik jenes ursprünglichen ›Zukünftigen‹ fokussiert, von dem sein Diskurs ausging, so dass jener leere und fast unvorstellbare Begriff genauer bestimmt werden konnte. Das Eine, das sowohl das Seinkönnen als auch das rein Seiende in sich birgt und deren Verhältnis beherrscht, ist von beiden frei: »Das Eine kommt also dadurch in die Mitte zu stehen als das vom einseitigen Seyn und vom einseitigen Können freie; da es aber von den beiden Einseitigkeiten nur frei ist, indem es beide voraussetzt, […] d. h. selbst auch beide ist, so ist es das von beiden freie nur als ein Drittes« (SW XIII, 234). Das Eine erweist sich auf diese Weise als das einzig und wirklich Freie, weil es als ›das, was sein wird‹ tatsächlich frei ist, zu sein und 22

Die Notwendigkeit dieser Begrenzung wird später erläutert.

126 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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nicht zu sein: Darin besteht für Schelling die eigentliche Freiheit, die nur dem Absoluten zukommt. Das ontologische Verhältnis zwischen Seinkönnen und rein Seiendem macht dieses Eine aus, »das als solches gesetzte Seynkönnende«, d. h. die absolute Potenz des wirklichen Seins, die aber keine »leere Ewigkeit« ausdrückt, da »von dem Begriff der leeren Unendlichkeit ist ebenso alle Endlichkeit ausgeschlossen« (SW XIII, 238): Hingegen ist das von Schelling gestaltete Absolute fähig, die Endlichkeit in sich selbst zu enthalten, wie das reziproke Verhältnis seiner zwei entgegensetzten Modalitäten zu zeigen versucht. Ein solches Absolutes ist »gegen sich selbst oder in sich selbst endlich, während es nach außen völlig frei oder unendlich ist« (SW XIII, 238): Die Begrenztheit des von Schelling dargestellten Absoluten macht es gewissermaßen denkbar und lebendig, höchstwahrscheinlich im insgeheimen Gegensatz zu der bloßen Unendlichkeit des hegelianischen Absoluten. Die lebendige Potenz des Absoluten ist zwar unendlich aber nur ›nach außen‹ : In sich ist sie vollkommen und deswegen völlig frei, als Potenz des Seins sowie des Nichtseins zur Existenz zu kommen oder nicht. Darin erweist sich für Schelling »der Charakter der vollendeten Geistigkeit« (SW XIII, 239).

2.3.3. Der lebendige Geist Die Verbindung zwischen Geistigkeit und Endlichkeit ist in dem Diskurs Schellings von höchster Bedeutung: Der Prozess, der die Geistigkeit bestimmt, ist an sich endlich, d. h. er hat Anfang und Ende; seine Unendlichkeit ist nur die äußere Seite seiner eigentlichen Natur, die in einer in sich eingeschlossenen Dynamik besteht. Das Absolute Schellings hatte nie den Charakter einer ›schlechten‹, negativen und unfassbaren Unendlichkeit, sondern es wurde als dynamische, abgeschlossene Einheit bestimmt. Die Endlichkeit des Absoluten ist außerdem mit seiner Wirklichkeit eng verbunden, da alle wirklichen Dinge an sich endlich sind. Der revolutionäre Gedanke Schellings besteht darin, dass er das Endliche (sowie das Wirkliche) dem Absoluten selbst zuschreibt, das eben aus diesem Grund auch ›Geist‹ genannt werden kann. Der Geist oder ›das, was über dem Sein ist‹, wird auf diese Weise nicht mehr Synonym für Undenkbarkeit, sondern erweist sich als jenes Prinzip, das die ganze Wirklichkeit begründet und erfüllt. Das Sein ist die Ursache des Denkens und nie umgekehrt: »In der letzten Instanz ist also die Voraussetzung der Philosophie 127 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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immer nicht irgend ein Abstraktes, sondern ein unzweifelhaft Wirkliches« (SW XIII, 243). Deswegen wird der Geist als die Wirklichkeit überhaupt bestimmt, die vor allen Möglichkeiten steht: Die drei schon erläuterten Gestalten des Geistes (Seinkönnen, rein Seiendes und als solches gesetztes Seiendes) sind in dem Geist wirkliche Elemente, die nur, weil sie an der Wirklichkeit des Geistes teilhaben, als Möglichkeiten eines künftigen und andersartigen Seins fungieren können. Der Geist enthält infolgedessen die ›Unmöglichkeit‹ des wirklichen Seins in der Gestalt des Seinkönnens, das »nicht der allgemeine, auf das Concrete insgesamt anwendbare Begriff der Möglichkeit« ist, »sondern im Gegentheil ein höchst Besonderes; es ist […] die Urmöglichkeit, die der erste Grund alles Werdens, und insofern auch alles gewordenen Seyns« (SW XIII, 244 f.). Die Dynamik der drei Gestalten des Geistes ist »das Nächste am Sein«, weil sie die Möglichkeit des Seins selbst repräsentiert; Schelling erinnert aber kontinuierlich an die Priorität der Wirklichkeit auch und besonders in Bezug auf den Geist selbst: »Wenn ein Seyn entsteht, so kann es nur in jener Folge entstehen. Aber warum entsteht denn ein Seyn?« (SW XIII, 247). Die Wirklichkeit dieses Geistes ist gegeben, sonst könnte man kein Sein überhaupt denken; seine notwendige Existenz wurde von der Vernunft erkannt, aber auf keinen Fall gesetzt oder abgeleitet – hier zeigt sich das Ende der negativen und der Anfang der positiven Philosophie. Die absolute und unvordenkliche Positivität des Geistes rottet das Risiko jedes Rationalismus mit der Wurzel aus, weil der Geist das Prius des Seins und der Vernunft ist. Eine andere, wichtige Konsequenz folgt aus der Priorität des Geistes: Er ist grundlos. Die absolute Positivität kann nur ohne Grund sein, sonst wäre sie nicht das eigentliche Prius oder die allen Möglichkeiten vorhergehende Wirklichkeit. Die Wirklichkeit oder das Da-sein des Fundaments erfordert zugleich die Grundlosigkeit: »Dieser [der Geist] selbst aber ist ohne Grund, schlechthin, weil er Ist. […] Er hat kein Prius, sondern ist selbst das absolute Prius, und also ist von keinem anderen Prius aus zu ihm zu gelangen« (SW XIII, 248). Die Grundlosigkeit eines solchen Fundaments bedeutet nicht, dass es unbeweisbar ist: Die Existenz der (positiven) Philosophie und der Vernunft selbst sind Beweise für seine eigene Existenz, die wegen ihrer Natur nur a posteriori bewiesen werden kann. In diesem Sinne ist die positive Philosophie »die Realisierung ihres Princips«, das immer am Anfang liegt: »Die Stärke einer Philosophie ist auch nicht nach dem Aufwand von Begriff zu beurtheilen, den sie macht, um ihr Princip zu 128 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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begründen; ihre Stärke zeigt sich in dem, was sie mit ihrem Princip zu machen versteht« (SW XIII, 250). Die Umkehrung der Idee des Prinzips spiegelt sich in der philosophischen Methodologie: Die Vernunft nimmt hier nie die Rolle einer Begründerin oder Setzenden von etwas ein, ihre Aufgabe besteht hingegen in dem Verstehen und in der Darstellung ihres schon gegebenen Prinzips. Mit der Beschreibung der drei Gestalten des Geistes wiederholt Schelling die Darstellung der drei schon betrachteten Prinzipien des Seins, aber auf dem Hintergrund der vereinheitlichenden und weniger anonymen Figur des Geistes. Die Vollkommenheit des Geistes wird durch drei Momente erreicht: Erstens das Moment des »an sich seyende Geist«, in dem der Geist sich als Subjekt oder als die »reinste Aseität« verhält; in diesem ersten Moment ist der Geist noch völlig verborgen, unsichtbar. In dem zweiten Moment seiner Entwicklung wird der Geist »für sich selbst seyend«, d. h. Objekt seiner selbst; er wird konsequenterweise das Äußere, das Sichtbare, der der Aseität des ersten Moments gegenübersteht. Die Vollkommenheit wird in dem dritten Moment erreicht, in dem der Geist »unzertrennlicher Weise, und ohne wirklich zwei seyn zu können, Subjekt und Objekt ist« (SW XIII, 254). Der vollkommene Geist ist zugleich an und für sich, an keine einzelne Figur gebunden aber als solche (Subjekt und Objekt) seiend, d. h., dass er als solche nicht nicht sein kann. Aus diesem Grund kann der vollkommene Geist laut Schelling nicht mit dem absoluten Geist gleichgestellt werden kann, »denn der absolute Geist geht über jede Art des Seyns hinaus, er ist das, was er will« (SW XIII, 256): Die eigentliche Freiheit ist, wie schon erwähnt, nicht zum Sein gezwungen, deswegen ist der absolute Geist, dem die Freiheit gehört, auch nicht an sich selbst gebunden, er bleibt immer frei, zu sein oder nicht zu sein. Die Urgestalt des Geistes ist auf diese Weise mit seiner absoluten Freiheit identisch und eben darin besteht seine Transzendenz: »Freiheit ist unser Höchstes, unsere Gottheit, diese wollen wir als letzte Ursache aller Dinge« (SW XIII, 256). Die innere Dynamik eines derartigen Geistes darf – wie immer bei den von Schelling dargestellten triadischen Prozessen – nie zeitlich begriffen werden: Die drei Momente, aus denen der Geist besteht, werden nur als ›Ganze‹ gesetzt; der Geist entsteht nicht am Ende ihrer Entwicklung, sondern ist jene Entwicklung selbst, so dass Anfang und Ende zusammenfallen. Der Geist ist auf diese Weise an sich eine »geendete Vollkommenheit«, die gewissermaßen eine Unendlichkeit enthält, weil jener Anfang an sich ohne Anfang ist, sowie 129 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

2 · »Vor und über dem Sein«: Die Potenz als Befreiung des Absoluten

jenes Ende an sich ohne Ende ist. Der innere Prozess des Geistes kann nur in diesem Sinn als ›unendlich‹ definiert werden, »dass sein Anfang selbst nicht angefangen habe, und sein Ende nicht ende« (SW XIII, 258). Ein solcher Geist zeigt sich als »eine wahre lebendige Allheit«, deren Lebendigkeit eben seiner »geendeten Vollkommenheit« entstammt, da alle lebendigen Dinge endlich sind; ein solcher Geist, eine »ganz in sich beschlossene Wirklichkeit« braucht nichts Anderes, um zu sein, und scheint kein Zukünftiges vor sich zu haben. Schelling hat bereits gezeigt, wie dieser vollkommene Geist die Möglichkeit eines solchen Zukünftigen eben in sich selbst trägt, und wie der Geist sich nur dieser Möglichkeit gegenüber als freier Geist erweist, d. h. als Geist, der frei ist, nicht nur zu sein, sondern auch nicht zu sein: »als dieser Geist begriffen, erscheint er nicht bloß als der vollkommene, sondern als der lebendige Geist, wirklich als der, der seyn wird« (SW XIII, 261).

2.3.4. Vom Potenzlosen zum wahren Gott: Die Macht der Freiheit Das Verständnis des Anfangs letztlich als ›Geist‹ enthüllt deutlich das Ziel des schellingschen Diskures: Die Bestimmung eines derartigen Anfangs als Gott. Schelling ist seiner angegebenen Methodologie treu geblieben und hat zuerst den Begriff des Grundes philosophisch erklärt, um nur danach zur Gottheit dieses Anfangs zu gelangen. Die Philosophie der Offenbarung konnte nicht direkt mit Gott anfangen, sonst wäre sie keine eigentliche Philosophie gewesen: Aus dem letzten Begriff der negativen Philosophie ergibt sich der unvordenkliche Anfang der positiven Philosophie, der nicht abgeleitet oder von der Vernunft gesetzt werden kann, sondern der – wegen seiner absoluten, allen Möglichkeiten zuvorkommenden Wirklichkeit – nur a posteriori erkannt und erläutert werden kann. Schelling hat die innere Dynamik oder den innewohnenden Streit des ›absolut Zukünftigen‹ mit großen Mühen und nicht ohne tiefe Unklarheiten ausgedeutet, so dass es sich als jener vollkommene Geist, der den unendlichen Anfang und das endlose Ende seiner selbst in sich trägt, gezeigt hat. Die Endlichkeit des so gewonnenen Absoluten rechtfertigt die Anstrengung der Vernunft, die, darüber zu reden gewagt hat, ohne dass seine Absolutheit negiert oder missdeutet werden musste. Die Vernunft muss sich umkehren, aber dies bedeutet nicht, dass sie Unvernunft wird: Sie adaptiert sich ihrem eigentlichen Objekt, der radikalen Positivität 130 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Philosophie der Offenbarung (1841/42): Die Befreiung Gottes

desselben, und indem sie den Raum der unvordenklichen Wirklichkeit des Absoluten bestehen lässt, wird sie damit endlich fähig, das Absolute seiner Natur nach darzustellen. Schelling hat auf diese Weise das Absolute als Geist erreicht: Die Geistigkeit ergibt sich aus der inneren Bewegung dieses »als solche gesetzten rein Seyendes«, eine unendliche, aber in sich abgeschlossene Dynamik, die grundsätzlich in einer Potentialisierung des Absoluten besteht. Diese Potentialisierung des Absoluten repräsentiert den letzten Schritt, um zum »wahren Gott« zu gelangen: Sie wird von der Gegebenheit der Möglichkeit eines anderen Seins (»das nicht Auszuschließende«) gegenüber dem Geist verursacht, der nur auf diese Weise sich als wirklich frei entdeckt, weil jenes andere Sein nur dann ›ist‹, wenn der Geist es will. »Wenn diese Möglichkeit aus ihrem Nichts sich erhöbe, würde eine durch das Ganze gehende Spannung gesetzt, und die Potentialität, die in der ersten Gestalt hervorgetreten wäre, wurde sich auf alle fortpflanzen« (SW XIII, 264): Die Entstehung der Möglichkeit eines anderen Seins »aus dem Nichts« bewirkt eine Spannung in der vollkommenen Einheit des Absoluten, die das rein Seiende ontologisch verwandelt, indem es vom »potenzlos Seyende« zum »mittelbar Seynkönnenden« wird. Jenes absolute, anfängliche rein Seiende wird von dem Auftreten der unvorgesehenen Möglichkeit eines anderen Seins in statum potentiae gesetzt, was seiner eigenen Natur völlig widerspricht, da es actus purus ist; aus diesem Grund ringt es in sich kontinuierlich, um seine Natur wieder zu gewinnen. Schelling deutet diesen Ringen erneut durch das triadische Schema der Potenzen aus: Das rein Seiende potentialisiert sich dreifach als das ›Seynkönnende‹, ›Seynmüssende‹ und ›Seynsollende‹, die als ›Urkategorien des Seyns‹ gelten. Das durch die Verben ›müssen‹ und ›sollen‹ ausgedrückte Element zeigt den inneren Kampf des Absoluten, seinen ursprünglichen Zustand (actus purissimus) wieder zu gewinnen: Eben durch diesen Kampf verwandelt sich der Geist, der »sich zu Potenzen eines anderen und künftigen Seyns umwenden kann« (SW XIII, 267). Der entscheidende Übergang vollzieht sich von dem ursprünglichen, potenzlosen (denn es ist actus purus an sich) Zustand des Absoluten zu dem potentiellen Zustand eines Seinkönnenden: Dank dieses fundamentalen Übergangs wird der Geist, wie schon erwähnt, wirklich freier Geist. Die Einführung der Freiheit in dem Absoluten selbst ist die wichtigste Konsequenz der Erscheinung der Möglichkeit eines vom Geist verschiedenen Seins: »Jene Erscheinung gibt ihn also zuerst sich selbst, indem sie ihn von jener 131 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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heiligen zwar und übernatürlichen, aber unverbrüchlichen Ananke befreit« (SW XIII, 268). Die Möglichkeit eines anderen Seins verändert die Natur des Absoluten ontologisch: Die an und für sich seiende Absolutheit des Geistes war zwar vollkommen, aber in dieser Vollkommenheit nicht frei, da er keine Alternative hatte, als genau auf diese Weise zu sein. Das Auftreten der Kategorie der Möglichkeit unterbricht diese ewige Ananke des Absoluten: Die Freiheit ergibt sich nur einer Möglichkeit gegenüber, oder im Fall des Absoluten der Möglichkeit selbst gegenüber. Der Geist erfährt sich als absolut gleichgültig »gegen die zwei Möglichkeiten, in dem ursprünglichen – spannungslosen – Seyn zu bleiben, oder in jenes gespannte und in sich selbst conträre Seyn hervorzutreten« (SW XIII, 269). Ausschließlich an dieser Stelle ist es erlaubt, von Gott zu sprechen, da Gott der einzig Freie ist, außer sich selbst zu treten oder nicht. Er kann sein, was er will (Ex3,14) – er ist einzig seinem Willen verpflichtet: »hier stellt sich der vollkommene Geist als Gott dar«. Die absolute Freiheit ist die besondere Eigenschaft Gottes, jene, die ihn von einem anonymen ›Absoluten‹ oder ›Geist‹ unterscheidet: Gott ist zwar actus purissimus, in den aber eine Spannung eintritt und ihn lebendig macht. 23 Eine bloße, leere Unendlichkeit ist das schellingsche Absolute nicht: Eine rotatorische Bewegung, ohne Anfang und ohne Ende, bedeutet für Schelling ewige ›Unseligkeit‹ ; er wagt es zu sagen, dass aus diesem Grund die Erscheinung der Möglichkeit eines anderen Seins so ›willkommen‹ für den Geist, für Gott ist, weil sie ihm endlich ein äußeres Ziel gibt, ein Ziel für sein eigenes Leben. In diesen Verbindungsvorlesungen zwischen dem rein philosophischen und dem eher theologischen Teil der Philosophie der Offenbarung scheint es für Schelling schwierig, die zwei Ebenen zu trennen. Er verbindet den philosophischen Begriff des Anfangs unmittelbar mit einem persönlichen Gott, indem er gezeigt hat, warum wir jenen ›vollkommenen Geist‹ als Gott bezeichnen sollen. In der Tat braucht eine ›Philosophie der Offenbarung‹ im Sinne Schellings keine Legitimierung, um theologische Fragestellungen in Angriff zu nehmen: Der Übergangspunkt ist jetzt klar geworden, da jener actus purissimus, »in dem das göttVgl. Halfwassen 2010, 79: »Als Freiheit aber manifestiert sich der überseiende Urgrund nicht im Grund und auch nicht im Logos, sondern erst in der freien Selbstbestimmung des Geistes. Der Freiheitsschrift zufolge ist der Geist frei, weil in ihm das dem Grund entsprungene Selbst selber zum Logos aufgeschlossen und dadurch von der blinden Notwendigkeit des Grundes befreit ist; genau dies macht den Geist zur Person«.

23

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liche Urseyn besteht […] durch Widerstand unterbrochen« (SW XIII, 277) und ›potentialisiert‹ wurde, so dass dieses Ursein jetzt nach Außen und eben in Richtung des Schöpfungsprozesses sich entfaltet. Die Potenzen des Seins, die in der Alleinheit Gottes entstehen – ohne aber diese zu zerstören –, äußern sich in der Welt, die »das Erzeugnis dieser Potenzen« ist und konsequenterweise »nicht Wesen, sondern nur Erscheinung, wiewohl eine göttlich gesetzte Erscheinung ist« (SW XIII, 280); der Prozess der Schöpfung ist die andere, untrennbare Seite der Potentialisierung des Absoluten, weil Letztere eben von der Erscheinung eines anderen Seins verursacht wurde, dessen Existenz völlig von dem Wollen Gottes abhängt: »Gott ist nur Gott als der Herr, und er ist nicht Herr ohne etwas, wovon er der Herr ist. […] Der also, der Schöpfer seyn kann, ist freilich erst der wirkliche Gott« (SW XIII, 291). Das Verbindungsglied zwischen dem auf ewig determinierten Ursein Gottes und dem Akt der Schöpfung ist die unvorhergesehene, plötzliche Erscheinung der Möglichkeit eines anderen Seins: Nur dies gibt Gott einen möglichen Grund, außerhalb der ›Endlichkeit‹ seiner Absolutheit zu treten. Darin besteht die eigentliche potentia Dei, die wahre Macht Gottes – verborgene Potenz eben eines Anderen: »In seinem Ausgang von Gott ist dieses Princip allerdings vielmehr das Gott […] Negierende; aber eben das […] wird in seiner Wiederbringung nun vielmehr das Gott Setzende und also auch Wissende« (SW XIII, 296). Der Schöpfungsprozess erweist sich ferner als die Weisheit Gottes selbst, die biblische ›spielende‹ sapientia, die Gott ›im Anfang seines Wegs‹ hatte, und durch die er sich seiner selbst bewusst wird. Das Ziel Schellings scheint auf jeden Fall erreicht: Er hat einen alternativen Begriff des Absoluten geformt, einen Begriff, der deutlich an dem trinitarischen Gott orientiert ist, 24 der aber zuerst als bloßer philosophischer, vernünftiger Begriff betrachtet werden muss. Das hier erfasste Absolute besitzt eine innere Dynamik, die von der Erscheinung der Kategorie der Möglichkeit entfesselt wird. Diese Möglichkeit scheint die notwendige Voraussetzung der eigensten Qualität eines ›wirklichen‹ Absoluten, d. h. der Freiheit. Die Möglichkeit eines anderen Seins löst die Vollkommenheit jenes abstrakten, unbeweglichen Urstands auf, aus dem nichts entspringen kann. Hier liegt die entscheidende Differenz zu dem klassischen Begriff des Absoluten, der auf das Eine des Parmenides zurückgreift: Das Absolute 24

Vgl. Krüger 2008.

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Schellings wird durch diese unerwartete, innere Spannung lebendig und tatsächlich anfangs-fähig. »Also dass in jenem an sich Seyenden der Stoff, die Veranlassung, die Möglichkeit einer Spannung liegt, darin erst liegt das Eigenthümliche und zugleich die wahre Stärke meiner Idee […]; denn erst damit wird jene Einheit eine lebendige, in sich bewegliche« (SW XIII, 316): Die trinitarische Deutung, die Schelling in der 15. Vorlesung ausführt, unternimmt nichts anderes, als genau diese Richtung zu bestätigen. Die auf diese Weise gewonnene Freiheit versetzt das Absolute, actus purissimus, in statum potentiae, d. h. sie verleiht ihm die Potenz, sich zu äußern oder nicht. Die Potentialisierung des Absoluten ist einer der wagemutigsten Gedanken Schellings: Die Potenz ist die anfangsfähige Figur par excellence, aus diesem Grund hat Schelling hart darum gerungen, sie in das Absolute selbst, in seine innere Dynamik zu setzen.

2.4. Übergang Die Untersuchung einiger der letzten Schriften Schellings hat – wie schon erwähnt – nicht die Absicht, eine neue Interpretation dieser Werke zu liefern. Die Ausdeutung des Denkens eines Philosophen wie Schelling stellt ohne Zweifel eine ewige Herausforderung, aber zugleich auch eine immerwährende Gelegenheit für das Denken selbst dar: Schelling hat einige Begriffe entwickelt, die die Geschichte und sogar das Geschick der Metaphysik prägen, indem er die Konzeption des Absoluten, d. h. des Grundes, des Fundaments, radikal verändert hat. Die in dieser Arbeit entwickelte These behauptet, dass eben diese tiefgreifende Veränderung des Begriffs des Grundes Letzteren vor der Ontotheologie schützen kann, weil Schelling eine eigentliche ontologische Alternative erdenkt – eine Ontologie, deren Hauptbegriff die Freiheit ist. Die Philosophie wagt sich an ihre schwierigste Aufgabe und geht das Risiko ein, in den Irrationalismus zu münden, indem sie den letzten Satz Wittgensteins überschreitet: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen«. 25 Aber genau in dieser Spannung zwischen seinem Anspruch und seinem Mittel ereignet sich das Denken und es verwandelt sich die Tragödie einer stummen, ergeb25

Wittgenstein 1969, 83.

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nislosen Philosophie in eine Dramatik, die die Geschichte der Philosophie prägt.

2.4.1. Der unnötige Gott oder: vom anderen Anfang Wenn noch der andere Anfang sich vorbereitet, dann ist dies als eine große Wandlung verborgen, und umso verborgener je größer das Geschehnis. 26

Die Frage ist, ob das philosophische Projekt Schellings als ›erfolgreich‹ bezeichnet werden kann – oder nicht. Sein Erfolg bestünde darin, das ›wirkliche Absolute‹ im Denken erreicht zu haben. Die Antwort darauf scheint ziemlich einfach: Nein, die letzte Philosophie Schellings, die mit der ›ersten‹ stark verbunden ist, scheitert. Die Philosophie der Offenbarung könnte im Grunde als eine Art ›Gnosis‹ definiert werden, der für einen Philosophen schwer zu folgen ist. Das ›wirkliche Absolute‹ ist kaum denkbar und es überwiegt die Negativität gegenüber der Positivität seines Begriffs; außerdem scheint die Praxis der ›Ekstase der Vernunft‹ schwerlich durchführbar: Können die Philosophie und ihr Erkenntnisprozess sich auf eine so unklare Basis stützen? Die letzte Phase des Denkens Schellings bestätigt im Grunde eine lange Tradition in der Geschichte der Philosophie: Das Schweigen der menschlichen Vernunft dem Absoluten gegenüber. Als die Philosophie in die Nähe ihres höchsten Anspruchs gelangt, ist sie zum Schweigen gezwungen: Das Absolute lässt sich nicht wirklich denken und beweist seine Anwesenheit, nur insofern es sich entzieht, besonders wenn die Vernunft begreift, dass die eigentliche Natur des Absoluten von Freiheit und nicht von Notwendigkeit determiniert ist. Das Sich-Entziehen ist die erste Wirkung jener Freiheit, die das Wesen des Absoluten ausmacht: Aus diesem Grund hat Schelling gewagt, die Freiheit ontologisch zu denken und dadurch gezeigt, dass die Freiheit nur als Un-grund, folglich als Abgrund denkbar ist. Die Freiheit hat sich als der Anfang Gottes erwiesen, als der ›Gott vor Gott‹, als jener Augenblick, in dem Gott sich für seine eigene Existenz und Offenbarung entscheidet, ohne einen weiteren Grund für diese Entscheidung zu erbringen. Eine solche Freiheit ist aber nicht denk26

GA 65, 28.

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bar oder a priori bestimmbar, sonst wäre sie keine wirkliche und wirkende Freiheit. Der Abgrund definiert die anfängliche Indifferenz des Grundes, 27 der eben als Grund vor der Möglichkeit par excellence steht: Sein oder Nichtsein. Der Grund ist nicht zur Existenz gezwungen, wie die in der Freiheitsschrift erläuterte Dualität jedes Wesens beweist. Die anfängliche Indifferenz des Grundes, auf der Schelling so vehement und lange besteht, wird von dem einzigen ihr innewohnenden notwendigen Element freigesetzt, d. h. von dem, was man als ›Freiheit‹ bezeichnen darf. Diese paradoxale und unvordenkliche Selbstdeterminierung der anfänglichen Indifferenz des Grundes erzeugt eine Dualität, eine Opposition zwischen zwei gegenwärtigen Möglichkeiten, nämlich zwischen Sein und Nichtsein: Diese Opposition wird offenkundug überwunden – weil das Sein ist –, aber nicht aufgehoben oder vernichtet: Das Sein Schellings ist ein derartiges, nur weil es in Gegensatz zu seinem Gegenteil anfängt. All dies darf außerdem nicht in einer chronologischen Folge gedacht werden, sondern nur gleichzeitig: Es geht um ein Ereignis ohne Zeit, von dem die Zeit selbst abhängt, eben das Ereignen des Anfangs selbst. Das Sein ist, könnte aber auch nicht sein. Die letzte Philosophie Schellings bringt diese einfache Tatsache und ihre innere Zweideutigkeit hervor und fragt nach ihrem Grund, d. h. nach dem Ursprung der höchsten Möglichkeit. Die ›reine Freiheit‹ erweist sich als die einzige Macht, die die Möglichkeit an sich ertragen kann: Die eigentliche Freiheit ist tatsächlich von nichts determiniert, ihr anfänglicher Zustand besteht eben in der Gleichgültigkeit gegenüber allen Möglichkeiten. Nur die Freiheit kann ›vor Gott‹ handeln, weil sie als ursprüngliche oder reine Potenz bestimmbar ist: Die Potenz wird auf diese Weise der Hauptbegriff der Ontologie des Grundes bei Schelling, weil nur aus der ursprünglichen, reinen Potenz einer ab-gründigen Freiheit jeder Akt, d. h. jede Entscheidung (eventuell) folgen kann – Entscheidung für das Sein, oder für das Nichtsein. Der Grund, den Schelling denkt, ist nicht mit Gott gleich zu setzen: Dieser Grund ist in Gott, aber nicht Gott selbst. Der Grund ist nicht Gott: Einer der Angelpunkte der abendländischen Metaphysik wird ausgehebelt. Die Dualität zwischen Grund und Existenz in Gott offenbart eine viel tiefere Dynamik, die ›vor Gott‹ geschieht, die Dynamik seiner Freiheit. Die Dualität muss von einer gemeinsamen Quelle ausgehen, die Schelling als den Ungrund bezeichnet, d. h. als 27

Vgl. GA10, 76: »Der Grund bleibt ab vom Sein«.

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Grund des Grundes. Um den Ungrund baut Schelling seine Fundamentalontologie: Wie kann ein Ungrund gedacht werden oder kann er überhaupt gedacht werden? Den Ungrund zu denken bedeutet, das Wesen Gottes, oder des Absoluten selbst, zu denken: Die Vernunft erfährt ihren Widerstand an diesem Anspruch, auf den aber Schelling nicht verzichtet. Die einzige geeignete Gestalt für die innerste Natur des Absoluten kann für Schelling (für den Idealisten Schelling) nur die Freiheit sein. Die Äquivalenz Absolutheit = Freiheit ist für Schelling evident, sie entspringt seinen idealistischen Wurzeln: Das Problem besteht jetzt darin, die Freiheit ihrer Natur nach zu begreifen. Die Versuche Schellings gehen alle in diese Richtung, die eigentliche Natur des Absoluten objektiv zu begreifen: Deswegen muss sich die Vernunft an ihr Objekt anpassen und ek-statisch werden. Nur auf diese Weise kann die schellingsche ›Phänomenologie des Anfangs‹ vollzogen werden: Die ekstatische (d. h.: nicht ausschließlich an ihre Kategorien gebundene) Vernunft ist jetzt imstande, die Freiheit als ›lauteres Können‹ oder ›Seinkönnen‹ zu begreifen und zu bestimmen. Das Können ersetzt das Sein und wird Hauptbegriff der Fundamentalontologie des Ungrundes und Verb der Freiheit. Die Freiheit ist nicht, sie kann – sie ist, insofern sie kann. Darin besteht der erste, entscheidende Schritt, mit dem Schelling eine enorme Wandlung im Denken des Grundes auslöst: Das Sein wird von der potentia ultima des Könnens verdrängt, d. h. von der Macht einer grundlosen Freiheit, die dem Sein ontologisch vorangeht – so wie die Kategorie der Möglichkeit der Wirklichkeit vorangeht. Potenz, Können, Möglichkeit sind Begriffe, die die Freiheit positiv bestimmen und die einen Anfang denkbar machen, sogar bei Gott: Denn Gott trägt die Freiheit in sich, d. h. die Potenz des Anfangs; Er wird durch seine eigene Freiheit bestimmt, entleert sich und macht sich zu Potenz (ab actu ad potentiam), damit etwas Anderes entstehen kann. Darin besteht die ontologische Differenz des Gottes Schellings: Er ist von der Freiheit determiniert, d. h. von einer grundlosen Potenz – einer ›freien Notwendigkeit‹, schließlich a posteriori bestimmbar. Die unendliche Macht der Freiheit bringt tatsächlich eine ›Amphibolie‹ mit sich, die Schelling in Gott setzt und diesem eine Art Dunkelheit verleiht: Als das Absolute kann Gott nicht völlig begriffen werden, seine grundlose Freiheit ist Zeichen dafür. Das Absolute Schellings besitzt nicht den Glanz des Begriffs, sondern bleibt verborgen, unergründlich für die menschliche Vernunft. 137 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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Wenn Gott als lautere Freiheit gedacht wird, erweist sich Gott als unnötig. Die einzige in Gott anwesende Notwendigkeit ist seine Freiheit – zu sein oder nicht. Gott, als Herr des Seins, ist nicht zum Sein gezwungen: In diesem genauen Sinn ist er un-nötig, und allein aus diesem Grund kann das Absolute ›Gott‹ genannt werden. Er trägt in sich den Abgrund seiner aus Freiheit stammenden Existenz, die Amphibolie eines Seins, das auch nicht sein könnte. ›Gott‹ bedeutet, in den letzten Schriften Schellings, die lebendige Einheit von zwei entgegensetzten Elementen, die er auf verschiedene Weise bezeichnet: Actus und Potenz, reines Seiendes und Seinkönnen – eine in sich unendliche aber zugleich ›begrenzte‹ Dualität, die die zwei ewigen Möglichkeiten des Einen (d. h. Gottes) dynamisch repräsentiert. Gerade weil Gott diese zwei Modalitäten seiner eigenen Existenz in sich trägt und erträgt, ist Gott (als ›der Geist‹) von beiden frei und besteht nur aus seiner grundlosen Freiheit, jenem Ungrund, von dem die Untersuchungen Schellings den Ausgang nahmen. Durch diese in sich abgeschlossene Dynamik stellt Schelling seine eigene Konzeption des Absoluten dar: Das Absolute ist ab-solutus, indem es sich zum Anfang macht, indem es den Anfang in sich trägt. Den Anfang in sich tragen bedeutet, die Möglichkeit eines anderen Seins außer sich vorzusehen. Das Absolute Schellings ist nicht unmittelbar der Anfang, sondern macht sich zum Anfang (die Potentialisierung des Absoluten, wovon Schelling an mehreren Stellen spricht) – und insofern gestaltet es sich als der andere Anfang, d. h. als ein alternatives Modell des Grundes, das nicht reiner Actus ist, oder Actus ist, nur insofern dieser Actus in einer Potentialisierung besteht, damit etwas Anderes entstehen kann. Nach der Ontotheologie könnte ein solches Modell des Grundes der Metaphysik die Möglichkeit eines anderen Anfangs bieten, weil die Freiheit nicht wie ein Seiendes begriffen werden kann – sein Wesen bleibt als Ungrund verborgen und unbegreifbar, trotzdem bleibt sie denkbar. Ihr unerfindlicher Grund erweist sich als der letzte Grenzbegriff des Denkens und seiner Sprache, so dass man sich noch ein weiteres Mal die Frage stellen muss: Ist die Philosophie, als sie zu ihrem höchsten Objekt gelangt, zum Schweigen verurteilt, so dass sie im Grunde negativ und ergebnislos bleibt? Oder kann der von Schelling gedachte andere Anfang der Philosophie einen anderen Stil verleihen?

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2.4.2. Tragödie oder Dramatik der Philosophie? Das große Drama zwischen ihm und uns lärmt viel zu laut, einander zu verstehn, wir sehen nur die Formen seines Munds, aus denen Silben fallen, die vergehn. R. M. Rilke, Das Stundenbuch

Angenommen, dass Schelling ein neues ontologisches Modell des Grundes dargestellt und gedacht hat, so bleibt der Grund – auch bei der ›schellingschen Alternative‹ – denkbar nur als undenkbar: Der Anfang gestaltet sich als Abgrund einer unvordenklichen Freiheit, d. h. als das Gegenteil eines Festpunktes, ›eine glatte und grifflose Wand‹ (Pareyson) für das Denken. Auch der Versuch Schellings in Richtung einer ›positiven‹ Philosophie scheint nicht von Erfolg gekrönt: Die Philosophie weist auf diese Weise einen inneren tragischen Charakter, da sie ihr höchstes Ziel kontinuierlich verfehlt. Die Tragödie der Philosophie bestünde darin, dass sie immer wieder keine Antworten auf diese Fragen finden kann: Kann das Absolute überhaupt dargestellt werden? Und ist die Philosophie überhaupt das geeignete Mittel dazu? Die ›Philosophie des Tragischen‹ verfügt schon über eine lange Tradition, die auch Schelling in seine Überlegungen miteinbezieht. 28 In Anbetracht der schellingschen Philosophie scheint es jedoch ratsam, sich über die tragische Komponente der Philosophie oder über die Tragödie der Philosophie selbst Klarheit zu verschaffen: Abgesehen von der Interpretation dieser tragischen Komponente entsteht das Tragische immer durch eine Spannung zwischen zwei Elementen, nämlich dem der Absolutheit und der (menschlichen) Endlichkeit. Vgl. Szondi 1961. L. Hühn kommentiert in Hühn 2011, 23: »Sein Befund, dass das Tragische, freigesetzt aus seiner poetischen Form, gerade in Gestalt der tragischen Peripetie die Urszene des dialektischen Umschlags bildet, wirft ein bezeichnendes Licht auf die antike Vorgeschichte der idealistischen Philosophie«. Ferner hält L. Hühn fest, dass genau die Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus Schellings als das »vermutlich früheste Dokument einer ›Philosophie des Tragischen‹« bezeichnet werden können, und dass »mit dieser Schrift hat Schelling der ›Philosophie des Tragischen‹ in der Tat zunächst einmal die Plattform eines Strukturmodells verschafft, welches es erlaubt, verharmlosenden Theorien der Pluralität und des Fortschritts mit Rücksicht auf die agonale Struktur des Tragischen zu begegnen und ihnen gezielt eine alternative Darstellungsfolie entgegenzustellen«, 27 f. Aus einem anderen Blickwinkel, s. auch Farrell Krell 2005.

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Das unauslöschliche Band zwischen dem Menschen und Etwas, das als das ›Absolute‹ bezeichnet werden kann, das ihn transzendiert und zugleich konstituiert, verursacht den tragischen Zustand des Menschen, weil es dem Menschen – trotz dieses Bandes – nie gelingt, dieses Absolute zu erreichen, so dass er in einem immerwährend mangelhaften Zustand bleibt. Diese Erfahrung kann sich sowohl auf existenzieller als auch intellektueller Ebene ereignen, aber das Ergebnis bleibt dasselbe; das Denken verfehlt sein höchstes Ziel und muss die absolute Transzendenz seines Objekts erkennen. Die Philosophie Schellings kann tatsächlich als Paradigma dieser Tragödie erscheinen, deren Protagonist das Denken ist, da er den inneren negativen Charakter jeder rationalistischen Philosophie erfahren und hervorgehoben hat. Zugleich widersteht aber Schelling genau diesem unüberwindlichen Ergebnis mit dem Projekt einer ›positiven‹ Philosophie, d. h. einer Philosophie, die fähig wird, das Absolute ›ekstatisch‹ zu denken. Die von ihm geforderte Umkehrung des Denkens wird von der Natur des Absoluten selbst verlangt: absolutus zu sein bedeutet nämlich ›lautere Freiheit‹ zu sein, d. h. eine Freiheit, die auf keinen Fall wie ein Seiendes begriffen werden kann, weil sie kein Seiendes ist, sogar weil sie nicht ist (Erlangen): Die Freiheit kann – sein oder nicht sein. Ob diese ontologische und gnoseologische Wende sich als erfolgreich erweist oder nicht, dies zu beurteilen ist nicht die Absicht dieser Arbeit: Es wird hier nur gefragt, ob der philosophische Versuch Schellings nicht nur ein anderes ontologisches Modell, sondern auch ein anderes Modell für das (Sich-)Verstehen des philosophischen Denkens selbst darstellt. Das Verhältnis zwischen dem Denken und seinem absoluten Objekt stellt sich bei dem letzteren Schelling ohne Zweifel dramatisch dar, aber keinesfalls tragisch: Das Denken wird nicht von seinem Objekt, d. h. von der absoluten Freiheit vernichtet, sondern erkennt, dass die einzige für es mögliche Erfahrung des Absoluten mit der Erfahrung seiner eigenen Grenze oder seiner Endlichkeit gleich zu setzen ist. Auf diese Weise tritt genau auf diesem Tangentialpunkt die Möglichkeit eines anderen Anfangs für das Denken ein, weil die Philosophie ausschließlich in der Spannung zwischen der Unvordenklichkeit des Grundes und dem Denken ihren Antrieb finden kann: Ohne diese Spannung würden die Philosophie und die Mühen des Denkens nicht existieren. Das, was Heidegger das Zudenkende nannte, entzieht sich zwar kontinuierlich und in diesem Sich-Entziehen gibt es der Philosophie ihre unendliche Aufgabe wie140 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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der: Die Suche nach dessen Offenbarungen in der Phänomenalität des Seins. Diese ›ewige Wiederkehr‹ der Philosophie zu der Suche nach dem Anfang in das, was kein Anfang mehr ist (d. h.: in das Sein), gestaltet sich eher als Drama als direkt als Tragödie: Das Drama 29 zeigt ausschließlich das Handeln selbst der Figuren, denn diese nehmen durch ihr Handeln in der Szene Gestalt an; ihre Handlungen sind mit ihrer Vorstellung gleich. Auf dieselbe Weise ereignet sich der Anfang dramatisch: Er enthüllt sich durch seine direkte Handlung in dem und durch das Sein. Das Sein erweist sich als die ursprüngliche Handlung des Anfangs; sein Auftritt auf der Bühne der Phänomenalität: Das Drama der unvordenklichen Freiheit. Dieses Drama kann sich zwar in eine Tragödie verwandeln, denn es trägt sie als eine seiner Möglichkeiten in sich, aber es ist an sich nicht dem tragischen Schicksal ausgeliefert, weil ihm das einfache Handeln der ursprünglichen Freiheit eigen ist. Es ist gewiss unleugbar, dass die von Schelling begriffene und erläuterte Dynamik des Anfangs ein tragisches Element enthält: Das Ereignis der Freiheit geschieht dank des Gegensatzes zwischen Positivität und Negativität, Seiendem und Nichtseiendem, Licht und Dunkelheit, wie Schelling auf unterschiedlichen Weisen formuliert hat, so dass das negative Element in dieser Dynamik immer aktiv und wirksam bleibt und nie aufgehoben wird. Eben genau dank dieser Opposition können sich Freiheit und Anfang ereignen: Der ›Grund‹ ist für die Existenz unerlässlich und beide sind dem Anfang unentbehrlich. Schelling liest die unauslöschliche, in dem Ereignis des Anfangs anwesende Negativität mehr als Gelegenheit denn als Hindernis – oder, besser gesagt: Die von dem ›dunklen, unabhängigen Grund‹ geleistete Opposition ermöglicht den Anfang, eben insofern sie ein Hindernis dafür ist: Auf diese Weise wird das von diesem negativen Element repräsentierte Tragische, als Tragisches, in das ursprüngliche Drama der Freiheit miteinbezogen, ein Drama zwischen dieser Tragik und einer ihr entgegensetzten Kraft. Das Positive bedarf des Negativen, um sich als Positives zu bewähren: Dies ist nach Schelling das Gesetz und die Dramatik des Anfangs, eine Dramatik, die das Tragische in sich als unentbehrliches Element ent»δρᾱω: Wenn man von dem wahrscheinlich neugebildeten δραίων nebst Ableitungen absieht, gehen sämtliche Formen dieses Verbs einschließlich der Nominalbildungen auf eine einsilbige langvokalische Wurzel δρᾱ- (vgl. κρᾱ-, τλᾱ- usw.) zurück, von der seit alters eine zweisilbige Form im Baltischen, lit. darau, darýti, lett. darît ›tun, machen, bilden‹ vermutet wird (vgl. Schwyzer 675 m. A. 7 m. Lit.)«. Vgl. Frisk 1960.

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hält, ohne aber sich mit ihm zu identifizieren, d. h. ohne unmittelbar Tragödie zu sein. Das Denken befindet sich gegenüber diesem ursprünglichen und ununterbrochenen Drama des Anfangs und wird darin verwickelt: So entsteht der endlose Kampf der Philosophie mit ihrem unerreichbaren Geschick. Die nach dem Absoluten strebende Philosophie gestaltet sich als die eigenste Handlung des Denkens, d. h. als jene Handlung, durch die das Denken sein Geschick nicht meidet, sondern es auf sich nimmt. Die dramatische Bestimmung sowohl des Ereignisses des Anfangs als auch der Philosophie kommt daher, dass beide von der Freiheit ontologisch bestimmt und angetrieben sind. Schelling hat gezeigt, wie der Anfang ausschließlich als die Dynamik einer unvordenklichen Freiheit gedacht werden kann: Die Freiheit offenbart sich in erster Linie nicht als Begriff, sondern als Handlung, die nur zu einem späteren Zeitpunkt, d. h. wenn das Denken sich ihr gegenüberstellt, Begriff wird. Auf diese Weise scheinen Handeln und Denken ursprünglich und wesentlich verbunden: Die Philosophie stellt sich nämlich als ursprüngliche und eigenste Handlung des Denkens vor, die ihrerseits von der unvordenklichen Handlung der Freiheit – einzige mögliche Gestalt des Anfangs – ausgelöst wird und deren Schicksal darin besteht, jene ›lautere Freiheit‹, aus der alles entspringt, in und durch das Sein wieder zu erkennen und folglich erkennbar zu machen. In dieser unendlichen Aufgabe erfährt die Philosophie die Grenzen des Denkens und der Sprache; aber genau in dem, was nicht mehr Anfang ist, enthüllt sich auf flüchtige Weise der Anfang wieder: Alles wird nur durch sein Gegenteil offenbar, wie Schelling uns lehrt. Zwar war der dramatische Charakter der Philosophie lange vor Schelling schon bekannt, aber der Grund dafür kommt dank seiner philosophischen, mühevollen Überlegungen deutlicher ans Licht: Indem das Absolute sich als unvordenkliche Freiheit erweist, d. h., dass der Grund, das Prinzip, das eigenste Objekt der Philosophie Freiheit ist, muss das Denken sich wandeln: Es muss auf seinen absoluten Anspruch verzichten, um das Absolute zu erreichen. In diesem Paradox ereignet sich ›das große Drama‹ zwischen der Philosophie und dem Anfang, dessen Hauptfigur unsere endliche Freiheit ist.

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Drittes Kapitel Ontologie der Freiheit: Holzwege zwischen Schelling und Pareyson

Das vorliegende Kapitel zieht das Denken eines der wichtigsten italienischen Philosophen des XX. Jahrhunderts in Betracht: Seine Philosophie steht in deutlichem Zusammenhang mit dem Denken des späten Schelling und so scheint die von ihm gelieferte Interpretation dieses Letzteren von besonderer Bedeutung für die Absicht dieser Untersuchung. Da bisher keine deutschen Übersetzungen seines beträchtlichen Werks vorliegen, ist das Denken des italienischen Philosophen, der auch Initiator der ›Turiner Schule‹ war, in Deutschland kaum bekannt, infolgedessen ergibt sich die Notwendigkeit einer Einführung in sein Denken, damit sein Verhältnis zu Schelling und sein daraus stammender, theoretischer Versuch einer ›Ontologie der Freiheit‹ richtig erfasst werden können. Die scheinbare Inhomogenität von Pareysons philosophischem Werdegang kann durchaus mit der heideggerianischen Metapher eines Holzwegs beschrieben werden: Der Versuch Pareysons besteht nämlich darin, einen Weg dort zu legen, wo kein Weg vorhanden oder sogar möglich ist, d. h. in Richtung einer rein ontologischen Erfassung des Begriffes ›Freiheit‹. Schelling wurde von Pareyson als idealer Vorgänger eines solchen Versuches betrachtet: Sein philosophischer Stil schien Pareyson besonders geeignet, um eine völlig andere Ontologie im Kern des Seins zu denken und zu entwickeln. »Nur wer Freiheit gekostet hat, kann das Verlangen empfinden, ihr alles analog zu machen, sie über das ganze Universum zu verbreiten« (AA I,17, 124): Dieser berühmte Satz aus der Freiheitsschrift könnte eben als Motto des gesamten Werks Pareysons gelten; Pareyson betrachtete die Freiheit als einzigen und eigentlichen Kern oder Grund des Seins und dessen Unerschöpflichkeit und strebte trotz des ontotheologischen Verbots Heideggers nach einer der Freiheit (d. h.: des Grundes) angemessenen philosophischen Darstellung.

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Nach der allgemeinen Einführung werden infolgedessen drei Aufsätze Pareysons analysiert, in denen er die Kernbegriffe seiner Freiheitsphilosophie entwickelt und auslegt; schließlich wird diesem Kapitel eine deutsche, unveröffentlichte Übersetzung seines letzten Vortrags angefügt, die als konkretes Beispiel seines Philosophierens dienen soll.

3.1. Einführung in das Denken Luigi Pareysons (1918–1991) Der Mensch muss sich entscheiden, Geschichte zu sein oder Geschichte zu haben, sich mit seiner Situation zu identifizieren oder sie als Mittlerin zu benutzen, um den Ursprung zu erlangen; auf die Wahrheit zu verzichten oder eine einmalige Enthüllung derselben zu liefern. L. Pareyson, Verità e interpretazione

Das Denken Luigi Pareysons 1 ist keine einfache und tröstende Philosophie: Ständig nach oben strebend und zugleich sich des Leidens und der Negativität der Existenz bewusst findet sie ihren Angelpunkt Der Philosoph wurde am 4. Februar 1918 in Piasco (Cuneo) geboren. Pareyson studierte an der Universität Turin und beendete sein Studium im Jahre 1939 mit einer Arbeit über Karl Jaspers und die Philosophie der Existenz, die eine Pionierarbeit in Italien war. In den Jahren 1936 und 1937 studierte Pareyson für einige Monate auch in Deutschland (Heidelberg, München, Freiburg). An der Universität Heidelberg besuchte er mehrmals Karl Jaspers, von dem er stark beeinflusst wurde, besonders bezüglich der ersten Entwicklung seines Denkens. Außerdem konnte er sich am 21. September 1937 mit Martin Heidegger in dessen Haus in Freiburg unterhalten. Die Verbindung mit dem deutschen kulturellen und akademischen Kreis währte lebenslang: Er wurde Mitglied der Internationalen Hegel-Vereinigung, der Fichte- und Schelling-Kommission sowie korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Während des zweiten Weltkriegs nahm er an der italienischen Widerstandsbewegung teil. Von 1940 bis 1944 war er Lehrer am Gymnasium in Cuneo und organisierte private Unterrichtsstunden mit einigen seiner Schüler, um seine Philosophie der Freiheit zu vertiefen und eine antifaschistische Gruppe auszubilden. Im Jahre 1943 erhielt er mit 25 Jahren die Privatprofessur für theoretische Philosophie. Während der nächsten zwei Jahre (1944–1945) war Pareyson in der italienischen Widerstandsbewegung als Propagandist stark engagiert und wurde zweimal verhaftet und verhört (zusammen mit Pietro Chiodi, dem späteren Übersetzer von Sein und Zeit). Im Jahre 1946 nahm er seine Lehrtätigkeit an der Universität Turin auf: Der Lehrstuhl für Ästhetik wurde extra für ihn eingerichtet. Pareyson lehrte Ästhetik bis 1964, als er den Lehrstuhl für Theoretische Philosophie übernahm (bis 1988). Außerdem lehrte er

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in der Freiheit und in ihrem Ungrund. Wegen der Untrennbarkeit von Sein und einer solchen Freiheit schwingt in den Reflexionen des Turiner Philosophen deutlich ein tragischer Unterton mit: Wenn das Sein mit der Freiheit ontologisch verbunden ist, werden Risiko und Unsicherheit die Merkmale alles Existierenden (Gott inbegriffen). Seine Philosophie hat ihre Wurzeln im Existenzialismus, den Pareyson in die noch vom Idealismus geprägten, italienischen Debatten einführte, in der ›Entdeckung‹ Fichtes und Schellings, in den einzigartigen Reflexionen über Ästhetik und Hermeneutik und nicht zuletzt in einem geplagten, christlichen Glauben, der sich mit einem verborgenen und oft zweideutigen Gott lebenslang auseinandersetzte, und der von dem in der Jugend gelesenen Römerbrief Karl Barths stark beeinflusst wurde. Pareyson hielt sich immer von den intellektuellen Moden seiner Zeit fern und arbeitete unermüdlich: 2 Seine Schüler erinnern sich an ihn als einen sehr anspruchsvollen Lehrer und als eine besonders ›ethische‹ Figur (»il demandait beaucoup pour donner plus encore« 3), der noch heute nachgetrauert wird. Er war einer der tiefsinnigsten Übersetzer und Interpreten der Philosophie Schellings, die sein eigenes Denken wesentlich beeinflusste. M. G. Furnari zufolge ist die Wurzel des Denkens Pareysons eine alte Wurzel: Sie besteht in der Schlichtheit der Grundfrage bezüglich des Seins, in der Grundstimmung dem griechischen thaumazein und offenbart sich an den flüchtigen Grenzen der Sprache. Die Unvollständigkeit seiner Ontologie der Freiheit gilt als Zeichen für diese fundamentale Tonart seiner Philosophie: Ein diszipliniertes Denken, das sich aber den unterschiedlichen und unendlichen Gestalten des Seins anpassen konnte. Das in Argentinien und Chile (1947–1949). Neben seinen akademischen Tätigkeiten verfasste Pareyson eine große Menge von Aufsätzen, Vorträgen, eigenen Werken, Übersetzungen und kritischen Studien. Dank seiner Arbeit wurden Autoren wie Fichte, Schelling und Goethe in Italien tief und kritisch kennengelernt. Valerio Verra, Umberto Eco, Gianni Vattimo, Sergio Givone (die sogenannte »Turiner Schule«) und andere italienische Intellektuelle waren unter seinen Schülern. Er starb nach einer langen Leberkrankheit am 8. September 1991 in Mailand. Weitere detaillierte biographische Hinweise können in Tomatis 2003 gefunden werden. 2 X. Tilliette beschreibt sein Leben als »quasi monastique, d’une frugalité extraordinaire. Maigre, d’aspect sévère, les trais toujours empreints de serieux et de gravité, il repondait à l’idée que se fait le public du philosophe détaché du monde et voué à la pensée«. Vgl. Tilliette 1992b, 287–292. 3 Tilliette 1992b, 291.

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Sein als Existenz, als Absolutes, als ästhetische Gestalt, und schließlich als Freiheit: Das letzte, umfangreiche Unternehmen des Philosophen auf den Spuren Schellings besteht in der hartnäckigen Behauptung der Äquivalenz Sein = Freiheit, die ihrer Natur nach die vorgegebenen Strukturen des systematischen Denkens untergräbt. Die Freiheit, von der Pareyson spricht, ist keine tröstende und befreiende Macht, sondern eine zweideutige, im Kern des Seins liegende und wirkende Potenz, die das Sein in einen ursprünglichen und nicht aufzuhebenden Kontakt mit dem Nichts setzt. Genau an diesem Punkt zeigt sich die tragische Komponente seines Denkens, die ein Fundament für den ›maleur de l’existence‹ erstellen will. Das Erstaunen gegenüber der Anwesenheit des Seins ist immer verbunden mit dem Schrecken gegenüber der Möglichkeit, dass dieses Sein keinen Grund haben könnte und folglich völlig unsinnig wäre: »Warum ist überhaupt das Sein und nicht vielmehr das Nichts?«, eine Frage, die nach Pareyson »voll Verzweiflung« ist. Der von dieser Frage in den dünnen und zu abstrakten Atmosphären des Idealismus verursachte Bruch ist nicht nur von intellektueller Natur, sondern auch existentiell und erzeugt jenen Sinn der Angst vor dem Leben, der Pareyson nie verlassen hat. Der polysemantische Charakter seines Denkens äußert sich besonders in seinem schriftlichen Ausdruck: Der Stil Pareysons ist eher literarisch als systematisch, aber dies entwertet keinesfalls die philosophische Größe seines Diskurses; hingegen verleiht die unleugbare literarische Schönheit seiner Schriften seinem Denken eine besondere Kraft und Eindringlichkeit. Das Denken Pareysons beruht vor allem auf Erfahrung und in der Erfahrung – des Lebens wie des Denkens – findet es seinen unerschöpflichen und wahrhaften Ursprung: Hier erweist sich die Erfahrung als das Antisystem par excellence, weswegen Pareyson sie nicht als ein Hindernis erachtete, sondern als den höchsten Antrieb des Denkens. Aus diesen wenigen Bemerkungen lässt sich schon ableiten, dass Pareyson einer der größten Interpreten Schellings war, und dass Schelling eine der wichtigsten Quellen seines Denkens selbst wurde. Seine ›Ontologie der Freiheit‹ gibt der letzten Philosophie Schellings eine natürliche Fortsetzung im zwanzigsten Jahrhundert dank ihres ›post-heideggerianischen‹ Charakters. Die Absicht dieses Kapitels der vorliegenden Arbeit besteht nicht darin, das gesamte Denken Pareysons vorzustellen, sondern zu zeigen, dass seine Auseinandersetzung mit dem Denken Schellings einige Elemente in den Vordergrund ge146 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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rückt hat, die Schelling zu einem bevorzugten Gesprächspartner für diejenigen machen, die sich einer spekulativen Philosophie nach Heidegger widmen möchten. Um dies nachvollziehen zu können, ist aber eine begrenzte Einführung in sein Denken nötig: Schließlich wäre es unmöglich, den wirklichen Sinn der Ontologie der Freiheit zu verstehen, ohne einen Blick auf den ihr vorangehenden philosophischen Werdegang zu werfen.

3.1.1. Existenz und Philosophie Pareyson zeigte seit seinen philosophischen Anfängen ein primäres Interesse an der klassischen Philosophie und ihren wesentlichen Hauptproblemen. Das Interesse an der Philosophie Jaspers und Heideggers, am Existenzialismus und den Autoren des deutschen Idealismus war von der Intention motiviert, die klassischen Fragen nach der Wahrheit und nach dem Sein im Zeitalter nach der Moderne zu vertiefen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass das Denken Pareysons sich immer aus zwei Kanälen speist: Erstens aus der philosophischen Tradition (durch einige Bezugsautoren) und zweitens aus dem Phänomen des Lebens, welches sich einerseits in der Gestalt des eigenen Leben manifestiert und andererseits in der tiefen Sensibilität für die Wirklichkeit und die Geschichte wurzelt. Es ist durchaus erkennbar, dass die philosophischen Entscheidungen des Philosophen mit den geschichtlichen Ereignissen seines Lebens und seiner Zeit zusammenhängen. Die Philosophie »setzt immer eine existenzielle Entscheidung voraus, sie bringt immer eine persönliche Perspektive auf die Wahrheit mit sich«: Die Philosophie Pareysons ist in diesem Sinne im Grunde hermeneutisch, ein persönliches und verantwortliches Verständnis des Sinnes des Seins, das sich durch das Handeln verwirklichen kann und soll. Aus diesen Gründen ist das Denken Pareysons gleichzeitig hoch spekulativ und existential, d. h. von der konkreten Erfahrung des menschlichen Lebens (die Freiheit, das Böse) sowie von den tiefsten theologischen Fragen sowohl geleitet als auch provoziert. Mit anderen Worten: Die höchsten theoretischen Probleme beinhalten bei ihm immer einen existentialen Bezug. Eben dieser konkrete Bezug legitimiert das metaphysische Denken, sonst wäre es für Pareyson abstrakt und leer. 147 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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Die erste Phase seines Denkens konturiert sich im Gespräch mit den Autoren des Existenzialismus, besonders mit Kierkegaard, Jaspers und – was sein theologisches Interesse dieser Jahre betraf – mit der Theologie des Römerbriefs Karl Barths. Zugleich sah sich der junge Pareyson mit Hegel und den Ergebnissen des deutschen Idealismus konfrontiert, um die geschichtlichen Wurzeln des Existenzialismus zu verstehen. Was Pareyson nach diesem Studium vorschwebt, kann durch seine eigenen Worte erklärt werden: »Hegel ohne Hegel zu antworten«, d. h. eine nicht-hegelianische Antwort auf einige von Hegel selbst gestellte Probleme zu finden. Der Kernpunkt seines Ansatzes bezüglich Hegel liegt in dem problematischen Verhältnis zwischen Geschichte und ›dem Metaphysischen‹ (der Geist, die Wahrheit): Pareyson stimmt mit Hegel überein, dass die Philosophie oder das philosophische Denken immer geschichtlich bedingt ist. Die Kontingenz des menschlichen Denkens kann nicht bestritten werden. Pareyson hält dies für eines der größten Ergebnisse des deutschen Idealismus, besonders des hegelianischen Denkens. Darin ist für Pareyson allerdings nicht impliziert, dass das Geschichtlich-Bedingte (das Endliche) einfach aufgehoben werden soll. Aus diesem Grund unternimmt er den Versuch, ein neues oder anderes Verhältnis zwischen Geschichte und Wahrheit zu denken, damit die zwei Dimensionen als zusammengehörende begriffen werden können. Die Struktur des Realen selbst besteht für Pareyson, wie weiter unten erläutert werden wird, in einer ontologischen Zusammengehörigkeit von Endlichkeit und Transzendenz, so dass keine von beiden auf die andere reduziert werden kann. Beide Aspekte haben einen eigenen Status, zu dem eben die Verbindung mit dem Anderen gehört. Durch die These einer geschichtlichen Bedingtheit der Philosophie, die Pareyson von Hegel übernimmt, stellt sich noch stärker als davor die Frage nach der Wahrheit: Wie ist es möglich, den Anspruch auf die absolute Wahrheit mit der Tatsache der geschichtlichen Bedingtheit des Denkens in Einklang zu bringen? Bei Hegel führt dieses Problem zur Verabsolutierung der Vernunft, so dass das Endliche zur partiellen Offenbarung des Absoluten herabgesetzt wird. Dagegen versucht Pareyson einen Weg zu finden, der das Endliche als unüberwindlich und unvermittelbar bewahrt, ohne aber die Transzendenz zu zerstören. Die Theorie der Interpretation, die Pareyson in den Sechzigerjahren entwickelt, repräsentiert das Anliegen, die Problematik einer Versöhnung der Geschichtlichkeit der Philosophie mit

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dem ihr innewohnenden spekulativen Vermögen auf eine neue Ebene zu heben. In den Fünfzigerjahren wird der Versuch einer Rehabilitierung des Endlichen aber noch auf zwei verschiedenen Bahnen unternommen: Die eine nimmt ihren Ausgangspunkt von der Subjektseite, die andere setzt am objektiven Pol an. Die Erste besteht in einer Wiederaufnahme und Interpretation des Begriffes ›Person‹ sowie in der sich daran anschließenden Entwicklung eines ›personalistischen Existenzialismus‹ (so definieren mehrere Interpreten die erste Phase des Denkens Pareysons); die Zweite in der Darlegung einer Ästhetik, mit einer besonderen Relevanz des Begriffes ›Gestalt‹. a)

Die Person als ›ontologisches Verhältnis‹

Im Jahre 1950 veröffentlichte Pareyson das Werk Esistenza e persona (Existenz und Person), in dem er seine Theorie eines ›personalistischen Existenzialismus‹ darlegte. Die Person wird als dynamische Synthese und Koinzidenz der Relation zu sich selbst und der Relation zum Anderen (bzw. Auto- und Heterorelation) gedacht. Die autorelative Seite bezeichnet die Einmaligkeit der einzelnen Person, während die heterorelative Seite als Relation zum Anderen (Welt, anderen Menschen, Gott) verstanden werden kann. Mit Hilfe dieser Definition verfolgt Pareyson die Absicht, die absolute Positivität und Autonomie des Einzelnen und sein konstitutives Verhältnis zur Transzendenzdimension zusammenzudenken. Dieser Begriff der Person ermöglicht Pareyson, eine ›personalistische‹ Denkweise zu begründen, die zugleich geschichtlich und dennoch von überzeitlicher Wahrheit ist. Die Tatsache, dass der Einzelne, der eine grundlegende Tendenz zur Erfassung der absoluten Wahrheit besitzt, immer in Verbindung mit der geschichtlichen Situation steht, bringt die folgende Konsequenz mit sich: Jeder Formulierung der Wahrheit in der Geschichte entspricht eine bestimmte geschichtliche Situation. Deswegen soll man von ›Wahrheitswert‹ statt von reiner ›Wahrheit‹ sprechen. Für Pareyson ist die Wahrheit nicht etwas, das sich in seiner Reinheit und Absolutheit betrachten lässt; es ist jedoch etwas, das als wahre Lösung von bestimmten geschichtlichen Problemen gelten kann und als Lösung die Geschichte übersteigt, weil sie in sich ewig und absolut ist. Pareyson schließt daraus: »Die verobjektivierte Wahrheit wird durch den Wahrheitswert er149 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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setzt«. 4 Dieser Argumentation entspricht die Überzeugung, dass Singularität und Universalität in der Person koinzidieren: Die Person ist nämlich auch als universal zu betrachten – die Menschheit ist für Pareyson ein zu realisierender Wert, eine Aufgabe jedes Einzelnen. Deswegen ist der Mensch kein ›Seiendes‹ sondern ein ›Zu-Seiendes‹. Die Lösung für das problematische Verhältnis zwischen Wahrheit und Geschichte kann sich für Pareyson nur aus einer bestimmten Konzeption der Endlichkeit ergeben: Damit das Endliche, als Streben nach der Wahrheit bei gleichzeitiger unüberwindbarer geschichtlicher Situation, Zugang zur Wahrheit wird […], muss das Endliche in seiner Gegebenheit interpretiert werden; es darf weder in seiner Endlichkeit verabsolutiert noch in seiner Negativität vermittelt werden – sondern muss als ungenügend aber nicht negativ, positiv aber nicht genügend, d. h. als Person interpretiert werden. 5

Aus dieser Perspektive wird die Philosophie »persönliche Arbeit des Philosophen«, der immer in einer bestimmten Situation lebt und denkt und zugleich nach einem Zugang zur absoluten Wahrheit strebt: »Die Vielfältigkeit der Philosophien personalistisch zu verstehen bedeutet, das Herauskommen der Philosophien der Person zu beobachten, nicht als Gefängnis und Grenze, sondern als Freiheit und Zustand. […] Dann darf man nicht behaupten, dass ich mein persönlicher Gesichtspunkt bin, sondern dass ich meinen persönlichen Gesichtspunkt wähle«. 6 Im Wesentlichen kann das Ergebnis dieser Argumentation wie folgt zusammengefasst werden: Der einzige Weg, durch den der Mensch einen Zugang zur Wahrheit erlangen kann, kann immer nur ein personaler Weg sein, d. h. ein von der Bestimmtheit der geschichtlichen Situation bedingter. Diese Bedingtheit soll aber nicht als relativistische Beschränkung ausgelegt werden: »Die Bejahung des Seins selbst kann nur personal, also in diesem Sinne geschichtlich sein, weil ich selbst als existierende Perspektive auf das Sein Bejahung des Seins bin«. 7 Es folgt daraus, dass das Sein nie objektiviert werden kann (aus menschlicher Sicht). Die versuchte Vermittlung zwischen Wahrheit und Geschichte wird dadurch in der menschlichen Person, 4 5 6 7

Pareyson 1950, 91. Pareyson 1950, 95. Pareyson 1950, 95 f. Pareyson 1950, 96.

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besonders in ihrer heterorelativen Dimension, verankert: Die Person kann also als ontologisches Verhältnis zum Sein gedeutet werden. Die Tatsache, dass der Mensch existierende und geschichtliche Perspektive auf das Sein ist, macht seine (geschichtlich bedingten) Probleme und Fragen universal. Als Treffpunkt von Universalität und Singularität verleiht der Mensch ihnen selbst eine ontologische Konnotation. An dieser Stelle sei der Vorgriff auf einen der Schlüsselbegriffe der Philosophie Pareysons erlaubt, dem Begriff der Interpretation: »Die drei Charaktere der Philosophie sind: Absolutheit, Geschichtlichkeit, Persönlichkeit. Sie sind untrennbar. Das bedeutet, dass die Philosophie immer zugleich reine Spekulation, Ausdruck der Zeit und persönliche Interpretation ist«. 8 Der Begriff der Person wird also zum Mittler für die problematische Dyade Wahrheit-Geschichte. Die Person, eben als gleichzeitige Koinzidenz von Auto- und Heterorelation (Relation mit sich selbst und ontologische Relation mit dem Sein) gedacht, ermöglicht eine philosophische Synthese zwischen der geschichtlichen und der spekulativen Dimension des Denkens. Auf diese Weise wird der Relativismus vermieden. Die unvergleichliche Eigenheit des Subjekts ist seine ontologische Öffnung zum Sein, die durch die unüberwindbare Geschichtlichkeit nicht verhindert wird. b)

Ästhetik und Gestalt 9

Estetica. Teoria della formatività [Ästhetik. Theorie der Gestaltigkeit] wurde erstmals im Jahre 1954 publiziert. Die Reflexion über Ästhetik währte bis in die Siebzigerjahre und wurde in vielen Aufsätzen und Bearbeitungen der ersten Auflage entfaltet, weswegen die Ästhetik unseres Denkers eine beträchtliche Komplexität aufweist und dazu führt, dass eine vollständige Behandlung des Themas an dieser Stelle nicht vorgenommen werden kann. Wir werden uns nur auf einen bestimmten und wichtigen Aspekt seiner Theorie konzentrieren, der unseres Erachtens als in all den Jahren nicht modifizierter Kernpunkt der Ästhetik Pareysons zu benennen ist. Die Absicht Pareysons bestand in der Entwicklung einer neuen Ästhetik, im Gegensatz zur ästhetischen Theorie Benedetto Croces, Pareyson 1950, 98. Ich übersetze das italienische Wort »forma« vorzugsweise mit »Gestalt« und nicht mit »Form«, um die Dynamik des Begriffes Pareysons besser auszudrücken.

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die eine stark hegelianische Prägung erkennen lässt. Die ästhetische Erfahrung gilt Pareyson als zentrales Element der gesamten menschlichen Erfahrung, verstanden als Treffpunkt des empirischen und des metaphysischen Ansatzes, oder auch des Bereiches der Sensibilität und der Vernunft: Daher »ist Ästhetik nicht ein Teil der Philosophie, sondern sie ist die gesamte Philosophie, sofern sie sich auf die Probleme der Kunst und der Schönheit konzentriert«. 10 Hieran lässt sich unschwer noch einmal die anti-hegelianische Tendenz seines Denkens erkennen: Die Entwicklung einer neuen Ästhetik, zusammen mit dem existenzialistischen Personalismus, stellt nämlich einen weiteren Aspekt des Versuches ›Hegel ohne Hegel zu antworten‹ dar. Während Esistenza e persona die Aufmerksamkeit auf das Subjekt gelegt hatte, konzentriert sich die Ästhetik nunmehr auf das Objekt; immer mit der Zielsetzung, eine Synthese zu erreichen. Pareyson ist der Meinung, dass zu der gesamten menschlichen Erfahrung (Sensibilität und Rationalität) eine ästhetische Eigenschaft gehört. Es gibt eine alle Bereiche der Erfahrung umfassende menschliche Tätigkeit, die Pareyson ›formatività‹ – ›Gestaltigkeit‹ nennt: Es geht um ›ein Tun, das, indem es tut, die Art des Tuns erfindet‹. Deswegen enthalten alle menschlichen Tätigkeiten sowohl Herstellung als auch Gestaltung, Intentionalität und Spontaneität. 11 Die Besonderheit der Kunst besteht darin, dass in ihr die Gestaltigkeit selbst Zweck in sich wird, während sie in allen anderen Tätigkeiten nur als Impuls oder Anstoß fungiert. Der Mensch ist ein gestaltendes Wesen: Seine Fähigkeit, eine Gestalt zu verleihen, verwirklicht seine Gedanken und bildet dieselben aus. Die Gestalt wird also nicht als rein formalistischer Gegensatz zur Materie expliziert, sondern als dynamischer Begriff verstanden, der ursprünglich Materie und Form enthält und zusammen herausbildet. 12 Ein Kernpunkt der Ästhetik Pareysons liegt aber in der Idee der gestaltenden und der gestalteten Gestalt. In der Analyse des Kunstwerkes hebt Pareyson hervor, dass der Künstler, indem er schafft, von einer Ahnung der Endgestalt geführt wird; eben dank dieser Ahnung der Gestalt wird das Werk geschaffen, d. h. für Pareyson, dass die Pareyson bezieht sich explizit auf die Philosophie der Kunst Schellings. Diese Begriffe stammen aus der intensiven Lektüre der Critik der Urtheilskraft, die Pareyson schon in den vierziger Jahren vorgenommen hatte (vgl. Pareyson 2005). 12 Die Parallelen zur Theorie Goethes fallen ins Auge (vgl. Pareyson 2003). 10 11

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Gestalt schon als gestaltende im Schaffensprozess operiert, also bevor sie von dem Künstler gestaltete wird. Diese Theorie wird von größter Bedeutung für sein späteres Denken sein, weil sich in ihr das Anliegen bekundet, eine unbestimmbare, unobjektivierbare und trotzdem reale Anwesenheit zu denken, die ihre Aufnahme und Verwirklichung verlangt. Die Formulierung dieser Theorie überschreitet den ästhetischen Bereich, für den sie ursprünglich gedacht war und bereitet eine ontologische Perspektive vor. Außerdem ist es wichtig zu bemerken, in welchem engen Zusammenhang die Begriffe ›Ästhetik‹ und ›Interpretation‹ stehen. Damit der Mensch erkennen kann, muss er Bilder der Dinge produzieren; aber um diese Bilder herzustellen, muss er zugleich die Dinge durch die Schemata, die er besitzt, interpretieren: »Der Erkenntnisprozess ist daher eine Interpretation, in der man versucht, das Bild, das das Ding ausdrückt, hervorzubringen«. Aus diesem Grunde schreibt Pareyson an einer anderen Stelle: »Die Ästhetik soll sich in der Hermeneutik auflösen«. Auch der Begriff der Wahrheit scheint sich in der Gestalt (als eigenes Objekt der Interpretation) aufzulösen, weil die Wahrheit sich nur durch (gestaltete) Gestalten offenbaren kann. Ferner treffen sich im Interpretationsprozess die Person und die Gestalt, beziehungsweise das Subjekt und das Objekt: ›Beide‹, schreibt Pareyson, ›besitzen unerschöpfliche Aspekte und mögliche Entwicklungen […]. Eben die unendliche Unerschöpflichkeit der Gestalt und der Person begründet die quantitative Unendlichkeit der Interpretation; und eben die Tatsache, dass kein Aspekt der Person oder der Gestalt erschöpfend ist, begründet die qualitative Unendlichkeit der Interpretation‹. Aus diesem Grund schien die Ästhetik der richtige Bereich zu sein, um die Frage nach der Versöhnung von endlicher und unendlicher Dimension zu beantworten. Dennoch blieben manche Fragen offen: Lässt sich der ontologische Begriff der Wahrheit wirklich als Gestalt verstehen? Würde auf diese Weise die Wahrheit nicht ontisch werden? In dieser Phase des Denkens Pareysons standen diese Fragen noch im Hintergrund, aber sie werden später an die Oberfläche kommen und tiefer beantwortet werden.

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3.1.2. Verità e interpretazione (Wahrheit und Interpretation, 1971) In den letzten zwanzig Jahren seines Lebens (1970–1990) gelangt unser Denker zu den wichtigsten und tiefsten Gedanken seiner Philosophie. Tatsächlich gibt es sowohl Kontinuität als auch eine Zäsur zwischen der ersten Phase seines Denkens und den Hauptwerken, die während dieser zwanzig Jahre verfasst wurden. Die Kontinuität zeigt sich in dem anhaltenden Streben nach der Versöhnung zwischen der Endlichkeit (besonders in der Person verkörpert) und der unverzichtbaren Instanz der Transzendenz; die Zäsur betrifft vor allem den Grundton der Reflexion Pareysons, die jetzt mehr auf die tragischen Aspekte der Existenz, zum Beispiel auf das Thema des Bösen oder den sogenannten ›wagemutigen Diskurs‹, zielt. a)

Prämisse: Situazione e libertà (Situation und Freiheit, 1962)

Ein Aufsatz aus dem Jahre 1962, Situazione e libertà [Situation und Freiheit], kann als Übergang zwischen den zwei Phasen bezeichnet werden: Der Aufsatz betont noch stärker als zuvor den endlichen Charakter der Philosophie, die von dem Menschen und für den Menschen gemacht ist. Diese Instanz der Endlichkeit, die innerhalb der Person verortet ist, wird von der (geschichtlichen) Situation repräsentiert; die sich für Pareyson als eine Dialektik von Passivität und Aktivität. Passivität darstellt, weil sie gegebene, auferlegte Notwendigkeit ist, der der Mensch ausgesetzt ist. Aber »innerhalb der Handlung, in der die Freiheit darauf [auf die Notwendigkeit] reagiert […], erwirbt sie sich einen aktiven Charakter, entweder im negativen Sinne als Hindernis und Widerstand, oder im positiven Sinne als Gelegenheit und Anstoß«. Die Freiheit selbst hat in sich einen Teil von Passivität, daher kann der Mensch nicht unfrei sein, d. h. mit anderen Worten, dass unsere Freiheitserfahrung immer mit einer verkörperten, bedingten Freiheit zu tun hat: »Es gibt gewiss eine unauslöschliche Notwendigkeit als Basis der menschlichen Initiative«. Aber was ist dann der Grund dieser ›unauslöschlichen Notwendigkeit‹, aus der die Freiheit des Menschen zu stammen scheint? Um diese Frage zu beantworten, muss Pareyson den personalistischen Horizont verlassen und eröffnet somit die ontologische Perspektive seiner Reflexion. Die konstitutive Passivität der menschlichen Situation und Freiheit wird so zu dem Ort, an dem sich das Verhältnis zwischen Mensch

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und Sein verdeutlichen lässt; als ursprüngliche Aktivität, die die menschliche Handlung ermöglicht. Die Situation fungiert somit nicht mehr als Hindernis und belastendes Gewicht, sondern als Öffnung und Ort des Rufes des Seins zur menschlichen Freiheit. Was ursprünglich Negativität und Grenze zu sein schien, wird in der Perspektive Pareysons Ort der Positivität und außerdem der Transzendenz selbst. Das Verhältnis zum Sein übersteigt die Person und verbindet sie mit einer ontologischen Dimension. Diese Transzendenz darf jedoch nicht als eine schöpferische Transzendenz gelesen werden: Pareyson möchte vielmehr die Symbolkraft derselben, d. h. die ontologische Verweisfähigkeit ihrer Struktur, hervorheben. Es wird deutlich, dass sich hierin die symbolische Struktur der Gestalt widerspiegelt: Weil die Situation schon in sich ›transzendent‹ ist, geht es nicht um eine Metaphysik der Schöpfung, vielmehr verweist die geschichtliche Situation symbolisch bereits aus sich selbst auf die Ontologie. Darauf aufbauend zeichnet sich die wichtige und unumgängliche Aufgabe der Hermeneutik ab: Die ganze Philosophie wird als ontologische Hermeneutik bezeichnet. Dies schlummerte schon seit langer Zeit im Hintergrund des Denkens Pareysons. Auch der Begriff der Freiheit wird zusammen mit dem Begriff der Situation (oder vielleicht könnte man sagen: ›der Geschichte‹) modifiziert: Die Passivität, die in den Fundamenten der Freiheitsdynamik ruht, wird jetzt mit einer Definition der Person als ›angefangene Initiative‹ verbunden. Das bedeutet, dass die menschliche Freiheit immer schon gegeben ist: Sie fängt in dem Moment an zu sein, in dem sie empfangen wird – durch die Koinzidenz von Autonomie und Heteronomie. Pareyson untermauert diesen Gedanken durch eine wichtige Erläuterung: »Die Freiheit ist für den Menschen kein Besitz, sondern sein eigenes Wesen«, so dass »in dem Akt, in dem die Freiheit zu sein anfängt, der Mensch sich selbst gegeben wird«; und außerdem »mein Anfang, mein Prinzip, ist eine Gabe von mir für mich«. Die Benutzung des Wortes ›Gabe‹ für die Definition des menschlichen Wesens hat selbstverständlich theoretische Folgen: Die Grundlosigkeit der menschlichen Freiheit wird nämlich Chiffre einer ursprünglichen Relation, die der Mensch frei empfangen oder verweigern kann. Es ist nicht zu übersehen, dass dadurch eine theologische Perspektive eröffnet wird; die Parayson im Übrigen nie verborgen hatte. Aber diese Perspektive hat für unseren Philosophen keine tröstende Wirkung: Sie kann vielmehr Ursprung des Tragi155 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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schen im menschlichen Leben werden. Wenn der Ruf der Situation nicht gehört oder zurückgewiesen wird, verwandelt sie sich in die wortlose Grenze der Existenz, und die Freiheit wird infolgedessen als Plage und Joch (Sartre) wahrgenommen. Der Aufsatz von 1962 deutet also auf die zwei zentralen Themen hin, mit denen sich die späte Philosophie unseres Denkers beschäftigen wird: Einerseits auf die Wichtigkeit einer Theorie der Interpretation, als einzigem möglichen Ansatz zu einem Sein, das sich nur in einer unendlichen Reihe von geschichtlichen, persönlichen Gestalten und Perspektiven wahrnehmen lässt. Dadurch zeigt das Sein selbst eine ontologische, unerschöpfliche Grundlosigkeit, die die Freiheit des Menschen zutiefst herausfordert. Andererseits offenbart sich die Zugehörigkeit der Theorie der Interpretation zu dem Thema der menschlichen Freiheit, welches die andere große Problematik der späten Philosophie Pareysons ist: Die Aufforderung des Seins kann in der Tat gehört oder zurückgewiesen werden, d. h. dass es dem Menschen in der Weise, in der er sich zum Sein verhält, um sein eigenes Wesen 13 geht. Die Freiheit der menschlichen Verweigerung enthüllt die Möglichkeit der Negativität innerhalb des Seins (daraus ergibt sich die tragische Stimmung der späten Reflexion Pareysons) und führt zu dem ›tödlichen Risiko‹, das in dem interpretativen Ansatz zur Wahrheit und zum Grunde impliziert ist. Daraus folgt die schwerwiegende Feststellung Pareysons eines klaren Unterschieds zwischen dem Wahren und dem Falschen und darüber hinaus der konkreten Möglichkeit eines ›trügerischen Denkens‹. b)

Die Theorie der Interpretation

Verità e interpretazione 14 ist kein systematisches Werk: Es wurden mehrere Ausgaben veröffentlicht und bearbeitet. Das Buch besteht aus einer Sammlung von kurzen Aufsätzen, die – wie der Autor in dem Vorwort des Buches schreibt – innerhalb eines Zeitraums von sechs Jahren verfasst wurden. Das Buch gliedert sich in eine Einleitung und drei Teile: ›Wahrheit und Geschichte‹, ›Wahrheit und Ideologie‹, ›Wahrheit und Philosophie‹. Es fällt ins Auge, dass das Hauptthema die Wahrheit ist. Das heideggerianische Echo ist klar erkennbar. Für eine umfassende und tiefe Deutung der Theorie der Interpretation Pareysons vgl. Conti 2000.

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Einführung in das Denken Luigi Pareysons (1918–1991)

Zunächst könnte der Eindruck entstehen, dass die Wahrheit im Denken Pareysons ein Synonym für das Sein ist. In der Tat ist dies nicht so; man könnte sogar das Wagnis eingehen, die Wahrheit, besonders im Bezug auf dieses Buch, als die einzige und geeignete Gestalt des Seins zu deuten. Die Perspektive Pareysons besitzt viele Ähnlichkeiten mit der Heideggerianischen, auf die sie offensichtlich rekurriert: Der Mensch befindet sich im Sein, und eben aufgrund dieser Befindlichkeit kann er es nicht vermeiden, das Sein zu interpretieren. Die Wahrheit ist nämlich für Pareyson immer ›Wahrheit des Seins‹ in dem Sinne, dass sie Ausdruck des Seins ist. Warum besteht er so vehement auf der Verbindung zwischen dem Sein und der Wahrheit? Schon in der Einleitung des Werks nimmt Pareyson dazu eine klare Position ein: Er wendet sich gegen die ›herrschende Mentalität‹ des Historismus (jede Epoche hat ihre eigene Philosophie, so dass die Philosophie der Geschichte total preisgegeben wird). Ferner möchte er die Einigkeit der Wahrheit zusammen mit der Vielfältigkeit ihrer Interpretation erhalten, daher versucht er, die (ontologische) Verbindung von Wahrheit und Sein zu verstärken, und führt im Bezug darauf die Unterscheidung zwischen ›ausdrückendem‹ und ›offenbarendem‹ Denken ein: Das Erste, ›bloßes geschichtliches Produkt‹, drückt die bloße Geschichte oder den bloßen Zeitgeist aus, während das Zweite, ›lebendige Perspektive auf die Wahrheit‹, in der Lage ist, die Wahrheit zu offenbaren: Diese Unterscheidung betrifft nicht nur die Philosophie, sondern stellt ein Dilemma dar, dem der Mensch in jeder seiner Tätigkeiten gegenüber steht: Der Mensch muss sich nämlich entscheiden, Geschichte zu sein oder Geschichte zu haben, sich mit seiner Situation zu identifizieren oder sie als Mittlerin zu benutzen, um den Ursprung zu erlangen; auf die Wahrheit zu verzichten oder eine einmalige Enthüllung derselben zu liefern.

Das bedeutet natürlich nicht, dass die geschichtliche Situation ein Hindernis für die Wahrnehmung der Wahrheit darstellt: Vielmehr ist sie der einzige Weg, durch den sich die Wahrheit ausdrücken kann, »vorausgesetzt, dass man die ursprüngliche, ontologische Offenheit der Situation zurückgewinnen kann: Nun wird die ganze Person, in ihrer Einzigartigkeit, enthüllende Mittlerin«. Die Wahrheit bleibt trotz der (unendlichen) Vielfältigkeit ihrer Perspektiven einzigartig und untemporal: Diese Unendlichkeit der Perspektiven begrenzt die Einzigartigkeit der Wahrheit nicht, sondern nährt sie selbst so, dass »in dem offenbarenden Denken die 157 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

3 · Ontologie der Freiheit: Holzwege zwischen Schelling und Pareyson

Wahrheit eher als Quelle und Ursprung denn als entdecktes Objekt fungiert«. Dies ist eines der wichtigsten Ergebnisse von Verità e interpretazione: Die Wahrheit soll nie als Ergebnis, Produkt, Besitz oder Synthese (offensichtlich gegen Hegel) betrachtet werden. Die Wahrheit gilt, in der Perspektive unseres Denkers, als Quelle des Wortes, sie liegt hinter dem Interpretationsprozess und nicht an seinem Ende. Nur auf diese Weise wird die Interpretation (oder das Denken) offenbarend: Der Mensch wird damit nicht der ›Schöpfer‹ der Wahrheit (waghalsige Möglichkeit für Pareyson) sondern, wie vielleicht Heidegger sagen würde, ihr Hüter. Es ist augenfällig, dass die zwei Denkweisen (ausdrückende und offenbarende) sich nicht als diametral entgegengesetzt erweisen: Der geschichtliche Aspekt stützt das theoretische und offenbarende Denken; da es keine objektive und reine Offenbarung der Wahrheit gibt, kann letzteres nicht auf die Geschichte verzichten. Diese Denkfigur ist typisch für die Philosophie Pareysons: Er zieht es immer vor, zwei Gegensätze aufeinander abzustimmen (ohne den Unterschied zwischen beiden aufzuheben), anstatt eine neue Synthese zu bilden. Aus dem Unvermögen, die genaue Gestalt der Wahrheit zu begreifen, die außerhalb aller Gestalten steht, folgert Pareyson keineswegs die totale und radikale Entfernung der Wahrheit von jeder Art einer formalen Vermittlung. Zur Erläuterung dieses Gedankens ist es angebracht, eine Analogie zu der oben dargestellten Theorie der ›gestaltenden Gestalt‹ zu bilden: Wie die gestaltende Gestalt keine reine Gestaltabwesenheit ist, sondern Ahnung und Streben nach der Endgestalt (aus diesem Grund operiert sie als schöpferische Macht), so ist die Anwesenheit-ohne-Gestalt der Wahrheit innerhalb der Vielfältigkeit ihrer Interpretationen nicht bloßer Gestaltmangel oder die negative Unfähigkeit, eine Gestalt anzunehmen, sondern grundlegende Offenheit für die Unendlichkeit der Formulierungen, die sie selbst evoziert. Das wichtigste Attribut der Wahrheit ist also die Unerschöpflichkeit: Die ontologische Wahrheit, gestalt- und figurlos in sich selbst, steht über jeder Gestalt und Figur, kann sich aber nur in den konkreten Gestalten der Interpretation offenbaren; freilich ohne dabei ihre ontologische Unerschöpflichkeit zu verlieren. Pareyson verbirgt die schellingsche Inspiration dieser Gedanken nicht und zitiert diesbezüglich eine wichtige Passage aus den Erlanger Vorlesungen: »Um sich in eine Gestalt einschließen zu können, muss es freilich außer aller Gestalt sein, aber nicht dieses, das außer aller Gestalt, das unfasslich-Sein ist das Positive an ihm, sondern, dass es sich in 158 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Einführung in das Denken Luigi Pareysons (1918–1991)

eine Gestalt einschließen, dass es fasslich machen kann, also dass es frei ist, sich in eine Gestalt einzuschliessen und nicht einzuschließen« (AA II,10, 621). Die zweite These von großer Bedeutung entspringt tatsächlich aus dieser Theorie der Wahrheit; zudem wird die Vorausdeutung auf die Freiheit der Wahrheit (sich in einer Gestalt einzuschließen oder nicht einzuschließen) den Verbindungspunkt zwischen der Ontologie des Unerschöpflichen und der zukünftigen Ontologie der Freiheit bilden. Diese Figur der Wahrheit (die in vollkommener Freiheit über jeder Gestalt liegt) besitzt offenbar eine sehr große Ähnlichkeit mit der heideggerianischen ›ontologischen Differenz‹, aber mit einigen und sehr wichtigen Abänderungen: Obwohl die ontologische Wahrheit gänzlich frei und gestaltlos ist, manifestiert sich in ihr zugleich eine fundamentale und ursprüngliche Tendenz, nämlich der Hang, Verhältnisse zum Denken (und somit auch zu der Interpretation) zu stiften. Unerschöpflichkeit und Gestaltlosigkeit der Wahrheit bedeuten also nicht, dass sie unaussprechlich ist (wie es bei Heidegger zu sein scheint); sondern vielmehr, dass es ein unauflösliches und positives Verhältnis zwischen der Wahrheit und dem Denken gibt, in dem die Wahrheit befähigt ist, positiv anwesend (›Anwesenheit in der Art einer Abwesenheit‹) und folglich in dem Seienden wahrnehmbar zu sein. Die theoretischen Konsequenzen, die sich aus diesen Gedanken ergeben, sind natürlich sehr weitreichend und vielfältig, weswegen es hier nicht möglich ist, sie alle zu erläutern. Die wichtigste Konsequenz ist vielleicht die folgende: Die Charakterisierung der Wahrheit als Quelle des Worts und des Denkens, d. h. als etwas, das hinter dem Denken schon liegt und deshalb kein Produkt desselben sein kann, zielt darauf ab, das Sein als positiv zu bestimmen. Mit anderen Worten: Wenn der Grund der negativen Wahrheitsbestimmungen die Unerschöpflichkeit (des Seins) ist und nicht seine Unaussprechlichkeit, verdient er eine unmittelbar positive Bestimmung. Etwas ›Unerschöpfliches‹ hat keine Begrenzung, weswegen es in unendlichen Weisen auszudrücken ist. Etwas ›Unaussprechliches‹ kann hingegen nicht einmal sagbar sein und bleibt daher negativ, unvermittelbar. Hierhin könnte die eklatante Differenz zwischen Heidegger und Pareyson liegen: Beide versuchen dieselbe Bestimmung des Seins auszudrücken; Heidegger aber benennt sie negativ als ›Unaussprechlichkeit‹, was zu einer Art von ›Mystik‹ des Seins führt, in der aber die Worte verschwinden; Pareyson will dagegen die Explizierbarkeit der Wahrheit des Seins bewahren, und definiert 159 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

3 · Ontologie der Freiheit: Holzwege zwischen Schelling und Pareyson

seine Unendlichkeit als ›Unerschöpflichkeit‹. Die tiefe und greifbare Anwesenheit des Seins in dem interpretierend-philosophischen Wort wird damit Beweis für seine unbestreitbare Positivität. Das Denken findet seine Quelle und seinen Boden im Sein; dadurch wird jedwede Form von Subjektivismus ausgeschlossen. Das Kriterium ist das Sein selbst und nicht das Subjekt. Es ist jedoch unleugbar, dass innerhalb dieser Dynamik dem Menschen das letzte Wort gehört. Der Mensch, dessen Eigenheit eine absolute Freiheit ist, ist nämlich frei, das Sein in seinem Wort anzunehemen oder das Sein zu verweigern, indem er seine Subjektivität herrschen lässt. Einzig die Freiheit gewährt den Zugang zur Wahrheit. Gerade hier liegt die ›tödliche‹ Möglichkeit des Bösen und des Irrtums, den Pareyson als ›positive Herstellung einer negativen Realität und negativen Gebrauch von positiven Fähigkeiten‹ definiert. Durch diese Dynamik erhält auch und vor allem das Böse eine positive (d. h. aus der Freiheit stammende) Bestimmung, was die Tragik des menschlichen Lebens veranschaulicht. Die Ontologie der Freiheit wird entwickelt, um das von der letzten Reflexion angeregte Fragen nach dem Bösen und der Freiheit in Angriff zu nehmen. Sie wird damit zum ultimativen Horizont der ganzen Spekulation Pareysons.

3.1.3. Ontologia della libertà (Ontologie der Freiheit, 1991) Das notwendige Sein existiert nicht, und die von seiner Inexistenz zurückgelassene unendliche Leere kann nur von dem Abgrund der Freiheit ausgefüllt werden. L. Pareyson, Esistenza e persona

Das Buch Ontologia della libertà wird von mehreren Interpreten als das Hauptwerk Pareysons betrachtet: Einerseits ist diese Bewertung partiell beschränkend, weil sein Werk aus verschiedenen Phasen besteht und mehrere Bereiche der Philosophie umfasst; andererseits repräsentiert die Ontologie der Freiheit ohne Zweifel den Ankunftspunkt seiner Spekulation aufgrund der Tiefe und der Originalität, die sie kennzeichnet. Wie im Fall von Verità e interpretazione besteht auch dieses Buch aus acht Aufsätzen (und einigen Fragmente über die Eschatologie), die von 1979 bis 1989 verfasst wurden. Die zwei Herausgeber des 160 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Einführung in das Denken Luigi Pareysons (1918–1991)

Buches (Pareysons Schüler Giuseppe Riconda und Gianni Vattimo) schreiben im Vorwort, dass Pareyson die Anweisungen für die Herausgabe von zwei Büchern hinterlassen hatte. Eines mit dem Titel Ontologie der Freiheit – das Böse und das Leiden und das andere mit dem Titel Die Freiheit und das Nichts. Die von den Herausgebern geplante Endfassung (publiziert im Jahre 1991) enthält beide. Im weiteren Verlauf wird der Versuch unternommen, die theoretischen Strukturen der Philosophie der Freiheit darzustellen. Wie die Terminologie selbst nahelegt, liegt die Zielsetzung einer Ontologie der Freiheit in dem Verständnis des Seins als ursprünglicher Freiheit. Spuren dieser Richtung waren schon in der vorigen Reflexion offenkundig: Bereits im Jahre 1968 stellte Pareyson fest: »Es ist notwendig zu bemerken, dass die bislang vorgenommenen Studien eigentlich eine Phänomenologie der Initiative sind, deren Grund und Vollendung nur in einer Ontologie der Freiheit liegen kann. […] Die hier dargestellte Phänomenologie der Freiheit kann also als Vorbereitung und Einleitung zu einer zukünftigen Ontologie der Freiheit betrachtet werden«. 15 Mit dem Projekt einer ›Ontologie der Freiheit‹ möchte unser Autor daher eine theoretische Begründung und einen Abschluss seiner ganzen Philosophie liefern. Die Unerschöpflichkeit und die Unobjektivierbarkeit des Seins, die die Hermeneutik zum Kerninstrument des philosophischen Diskurses machten, werden schließlich als Zeichen oder ›Raum‹ einer ontologischen Freiheit gedeutet. Die Äquivalenz Sein = Freiheit 16 ist daher der Anfangspunkt der Ontologie der Freiheit: In der ersten Neapel-Vorlesung (1988), Libertà e situazione [Freiheit und Situation], schrieb der Autor: »Wie wir später noch vertiefen werden, ist das Sein kein Grund. Warum? Weil es Freiheit ist. Hierin liegt das Verstoßen der ontischen, objektiven, spekulativen Metaphysik zugunsten einer kritischen Ontologie, die über das Sein nur mittelbar spricht. Das Sein steht also nur im Verhältnis mit dem Menschen, insofern er Verhältnis mit dem Sein ist«; weswegen »der philosophische Diskurs nicht unmittelbar zu dem Sein führt, sondern nur zu dem Menschen als Verhältnis zum Sein; in diesem Sinne handelt es sich mittelbar um einen Diskurs über das Sein«. Pareyson 1969. Diese Äquivalenz scheint in Pareysons Denken aus einer gleichzeitig spekulativen und phänomenologischen Anschauung zu stammen. Er leitet die Äquivalenz nicht ab, sondern nimmt sie fast als Tatsache an. Der Einfluss Schellings und seiner intellektualen Anschauung ist sicherlich unleugbar.

15 16

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Diese Sätze können nicht nur als Programm der Ontologie der Freiheit angesehen werden, sondern zeigen klar und deutlich die unumgängliche Verbindung der Begriffe Sein-Freiheit-Mensch: Sowohl das Sein als auch der Mensch sind durch die Freiheit (›Kern der Wirklichkeit‹) determiniert, deshalb geht es nicht mehr um das Verhältnis zwischen (menschlicher) Freiheit und (ontologischer) Notwendigkeit, sondern um dasjenige zwischen der Freiheit des Seins und der Freiheit des Menschen. Die Reflexion Pareysons über Ästhetik, die die innere Dynamik des Seins und seine Gestaltlosigkeit (welche er mit Schelling bereits als Freiheit interpretierte) hervorgehoben hatte, zeigt jetzt ihre große Bedeutsamkeit. Auch Heideggers Einfluss oder ›Radikalisierung‹ (wie Pareyson selbst formuliert) spielt eine große Rolle: Das Ereignis beurteilt Pareyson als das höchste Zeichen für die Äquivalenz Sein = Freiheit. Eben dies sollte das eigentliche Ergebnis der Philosophie Heideggers gewesen sein, aber Heidegger selbst habe es nicht expliziert, weil »es bedeutet hätte, die Zentralität des Seins zugunsten der Freiheit zu verlassen«. Mit Hilfe dieser kritischen Anmerkung zu Heidegger versteht man die Radikalität und die Originalität des Projektes Pareysons: Seine Absicht besteht in dem Ersetzen des Begriffes des Seins durch den Begriff der Freiheit. Nur auf diese Weise ist es für ihn möglich, eine ›neue‹ Metaphysik zu fordern. Heidegger war der Denker, der diesen Weg besser als jeder andere vorbereitet hatte, aber aufgrund der zu endlichen Natur des Ereignisses die Konsequenzen seines eigenen Denkens nicht tragen konnte. Damit die Freiheit, die nach Pareyson die wesentliche Eigenschaft des Ereignisses ist, ihre ontologische Macht wirklich offenbaren kann, ist es absolut notwendig, ihre Transzendenz zu erkennen. Diese Art von Transzendenz aber kann nicht von dem reinen, endlichen, in dem Ereignis entfalteten Sein getragen werden. Die Transzendenz der Freiheit besteht gar nicht darin, ›über dem Sein‹ lokalisiert zu sein, vielmehr wird hier die Modalität zur entscheidenden Kategorie. Die Freiheit nimmt durch die Analysen Pareysons nicht den Charakter einer dem Sein gegenübergestellten Substanz an, sondern den einer prinzipiellen Modalität, durch die sich das Sein entfalten kann: Die Freiheit ist als sie selbst nicht ohne das Sein. Die Freiheit, die nur bloße Aktivität und nichts anderes als Aktivität ist, […] ist eigentlich keine Freiheit. […] sie ist bloße praktische Handlung, sich selbst überlassen, so vernichtend, dass sie sich selbst vernichtet. Dagegen wird die Freiheit von dem Sein angeregt, durch die Tat, in der sich das Sein ihr

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Einführung in das Denken Luigi Pareysons (1918–1991)

hingibt und sich ihr überlässt. […] Der Freiheit überlassen zu sein bedeutet, dass die Freiheit durch ihr eigenes Handeln jene ursprüngliche Anwesenheit bezeugt, die sie anregt, indem sie sich der Freiheit hingibt. […] Die Freiheit kann sich nur in Anwesenheit des Seins ausüben«, und schließlich: »Das Problem ist nicht das Verhältnis zwischen der Freiheit und ihrem Gesetz, sondern das zwischen der Freiheit und dem Sein, jenem Sein, gegenüber dem sie immer frei ist, es aufzunehmen oder zu verstoßen«.

Die Konsequenzen einer solchen Theorie sind offensichtlich sehr weitreichend: Wenn die Freiheit nicht ohne das Sein ist, dann ist auch das Sein nicht ohne die Freiheit. Und wenn das Sein Freiheit ist, ist es abgründlich, »weil die Freiheit Abgrund ist, sie ist ein Grund, der sich als Grund aufhebt, ein Grund, der kein Grund sein will«. Damit solche Freiheit ontologisch bestimmt werden kann, ist es für Pareyson notwendig, über den Bereich der Philosophie hinauszugehen. In der Philosophie bleibt das Problem auf die Analyse des Verhältnisses zwischen Freiheit und Notwendigkeit beschränkt. Aber, wie schon gesagt, besteht das eigentliche Problem in dem Verhältnis zwischen Freiheit und Freiheit: Ein solches Verhältnis findet sich nur in der religiösen Erfahrung, d. h. in der Geschichte Gottes. Die Analyse der Freiheit wird also Interpretation eines Mythos, in dem die Tathandlungen Gottes erzählt werden. Die höchste und wirklichste Freiheit lässt sich nicht begrifflich fassen, sondern nur in einer Erzählung wahrnehmen – der Erzählung Gottes. Die Ontologie der Freiheit interpretiert so auf philosophische Weise die Wahrheitstragweite des Mythos und der religiösen Erfahrung. Mit diesen Prämissen kann unser Denker die Freiheit ontologisch darstellen, so wie sie sich auf der Bühne der Geschichte präsentiert. Der zentrale Punkt ist der folgende: Die Freiheit ist für Pareyson zugleich absoluter Anfang und Entscheidung. Sie ist ein plötzliches, unwiederbringliches Ereignis, das jede Demonstration, Definition und jedes System überschreitet. Der berühmte Vers aus Exodus 3,14 ›Ich bin der Ich-bin-da‹ 17 – ego sum qui sum – bedeutet für Pareyson eben dies: Die höchste Freiheit ist die Freiheit Gottes, der so frei ist, dass er sagen kann: ›Ich kann sein, wer ich möchte‹. Er ist so frei, dass er sogar frei von seinem Gott-Sein ist. Gott ist also kein notwendiges Sein, sondern ein Gott-vor-Gott, totaler Einbruch in die Wirklichkeit und Sieg über das Nichts. Eben dieser Sieg über das Nichts repräsen17

Andere Übersetzungen (auch die Italienische) lauten: »Ich bin, wer ich bin«.

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3 · Ontologie der Freiheit: Holzwege zwischen Schelling und Pareyson

tiert den anderen Aspekt der Freiheit, die Entscheidung: Gott hat sich für das Gute, für die Wirklichkeit, entschieden. Die getroffene Entscheidung hat also ontologische Macht: Wenn Gott sich für das Böse entschieden hätte, gäbe es nichts. Daraus folgt, dass ›das Gute‹ nicht gut ist, weil es in sich gut ist, sondern weil es gewählt wurde. Ebenso das Böse: ›Böse‹ bezeichnet hier keine privatio boni, sondern das Nicht-gewählt-sein. Am Anfang gibt es für unseren Denker eine ursprüngliche, aus einer unverfügbaren Entscheidung stammende Positivität, die in sich aber auch die verworfene Möglichkeit des Bösen trägt. Dies ist der entscheidende Punkt hinsichtlich des Problems des Bösen in Pareysons Ontologie der Freiheit: Das Böse bleibt in Gott (Pareyson benutzt manchmal den Ausdruck Karl Barths ›Gottes linke Hand‹), im Ursprung aller Wirklichkeit, als auf ewig verworfene Möglichkeit (daraus folgt der Ausdruck ›wagemutiger Diskurs‹). Der schellingsche ›Grund in Gott‹ nimmt hier die Gestalt einer ursprünglichen Entscheidung für das Positive an, eines Kampfes, der das Nichts auf ewig besiegt hat. Das Gute und das Böse stammen aus derselben Macht: Aus der Freiheit. Qualitativ betrachtet sind menschliche und göttliche Freiheit für Pareyson gleich. Deswegen hat der Mensch immer die Möglichkeit, das Böse wiederzuerwecken. Zwar gibt es noch das Böse in der Welt, aber als immer schon besiegtes. Die wirkliche Positivität, die wirkliche Freiheit, kann eine solche sein, weil sie ursprünglich einen Kontakt, sogar einen Kampf mit dem Nichts aufgenommen hat: »Es gibt keine Ontologie ohne Meontologie«. Eine ›reine‹ Positivität wäre nicht wirklich, sie würde dem Sein des Parmenides ähneln – rein, unbeweglich, fern. Die dramatische Tathandlung, durch die Gott die Wirklichkeit erschuf, ist dieselbe, durch die das Nichts und das Böse auf ewig verworfen wurden. Diese und jene Tathandlung Gottes sind geschichtliche Ereignisse (die also nur erzählt werden können), weil sie aus der Freiheit stammen – Pareyson zitiert diesbezüglich gerne Goethes Ausdruck: ›Im Anfang war die Tat‹. Der Gott Pareysons ist offenbar dem sogenannten ›Gott der Philosophen‹ entgegengesetzt. Es geht um einen lebendigen, teilweise dunklen Gott, der ab-gründlich frei ist, in der Geschichte immer wieder zu handeln. Er ist der Gott der religiösen Erfahrung Pareysons selbst, mit der er sich lebenslang auseinandergesetzt hat. Der von ihm beschriebene Freiheitsbegriff ist auch hochlebendig, ›gestaltende Gestalt‹ der ganzen Wirklichkeit, Gott inbegriffen. Solche Freiheit ist darüber hinaus ohne das Nichts undenkbar, deswegen ist sie immer 164 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Holzwege: Ein ›post-heideggerianisches‹ Denken

zweideutig; sie kann nur positiv sein, wenn sie den Kontakt mit dem Negativen in sich trägt und erträgt. Pareyson unterscheidet das Böse, welches schon immer besiegt ist, und das Leiden, das sich als einziges Zeichen der Niederlage des Bösen in der Welt manifestiert: Daraus folgt sein erlösender Wert. Mit diesen Worten schließt Pareyson sein Werk Ontologie der Freiheit ab: ›Das Leiden ist der Ort der Solidarität zwischen Gott und Mensch: Nur im Leiden können Gott und Mensch ihre Mühen zusammenbringen. […] Das Leiden erweckt die Krise jener objektivierenden und demonstrierenden Metaphysik, jenes harmonischen und vollendeten Systems, jener Philosophie des Seins, die nur um den Grund besorgt ist. Nur das Leiden enthält den Sinn der Freiheit und offenbart das Geheimnis jener universalen Geschichte, die Gott, den Menschen und die Welt in eine tragische Geschichte des Bösen und des Leidens, der Sünde und der Sühne, des Verderbens und des Heils hineinzieht‹. 18

3.2. Holzwege: Ein ›post-heideggerianisches‹ Denken Von höchster Bedeutung in dem Denken Pareysons sind drei Themen, die er mit Schelling gemeinsam hat: Das Erstaunen als fundamentales Erkenntnisverhalten der Vernunft; die Reflexion über den Ursprung des Bösen in der Welt; der ontologische Begriff der Freiheit, als grundlegendes Kennzeichen seiner Philosophie. Diese drei Themen sind wesentlich miteinander verbunden: Das Moment der Ekstase der Vernunft ist nach Pareyson nötig, damit die Vernunft sich nicht von sich selbst, von der reinen Begrifflichkeit überwältigen lässt. Durch das von der Ekstase verursachte Erstaunen wird die Vernunft nämlich fähig, sich einen Zugang zur reinen Existenz zu verschaffen und ihren Überschuss dem Begriff gegenüber zu erkennen. Zu der reinen Existenz – wie Pareyson sie versteht – gehört auch das Problem des Bösen, das von der Vernunft immer als eine Niederlage erlitten wird und nur auf eben diese Weise, d. h. als eine von der Vernunft unerklärbare Tatsache, in Angriff genommen werden kann: Das Problem des Bösen ist nach Pareyson ein zunächst religiöses Problem, das nur zusammen mit der Betrachtung des ›Begriffs‹ Gottes gestellt werden kann. Die ernste und langwierige Auseinanderset18

OL, 478.

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zung mit diesen und anderen Fundamentalfragen der Philosophie führt Pareyson zu dem höchsten Punkt seiner philosophischen Reflexion: Die Behauptung der Äquivalenz zwischen Sein und Freiheit, die er in den verschiedenen Aufsätzen seiner unvollendeten Ontologie der Freiheit auszuarbeiten suchte. Pareyson dachte eben die Freiheit als den einzig möglichen Kern und Sinn des Seins, die einzige unbegreifbare, dennoch denkbare Figur, die der unerschöpflichen, vielgestaltigen und oft widersprüchlichen Wahrheit des Seins Rechenschaft schulden kann. Die Verbindung dieser Themen, die Pareyson durch den ontologischen Begriff der Freiheit nachvollzieht und die er auf jeden Fall schon bei Schelling gefunden hatte, verleiht seinem eigenen Denken einen ›post-heideggerianischen‹ Charakter, 19 wie er selbst bezüglich Schelling schon festgestellt hatte: Pareyson (mit Schelling) hat die Freiheit zum tätigen Kern des Seins gemacht: Die ontologische Differenz des Seins erhält durch die Freiheit einen aussprechbaren Namen, der das von dem Ereignis durchgesetzte Schweigen des Denkens bricht und den philosophischen Diskurs wieder ermöglicht.

3.2.1. Das Erstaunen Der Aufsatz über das Erstaunen der Vernunft und Angst vor dem Sein ist einer der prominentesten Texte Pareysons geworden. Er wurde zuerst 1979 veröffentlicht und später dem dritten Teil der postum herausgegebenen Ontologia della libertà 20 hinzugefügt. Pareyson liefert hier eine tiefsinnige Interpretation der schellingschen ›Ekstase der Vernunft‹, die seine bestimmten philosophischen Positionen am besten zeigt. Die Ekstase der Vernunft repräsentiert für Pareyson den neuralgischen Punkt der Philosophie Schellings, da ihr die schwierige Aufgabe obliegt, die negative und die positive Philosophie zu vereinen und den Übergang zwischen den beiden zu ermöglichen. Diese Aufgabe scheint paradox, weil die zwei Philosophien in der Tat unvereinbar sind: Die negative Philosophie auf der einen Seite beschäftigt sich mit Begriffen, die aber keinen Zugang zur Wirklichkeit haben und Zu der Kernverbindung zwischen den drei Autoren vgl. Frigo 1979; Modica 2010; Riconda 2010, 289–291. 20 OL, 385–437. 19

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Holzwege: Ein ›post-heideggerianisches‹ Denken

haben können; die positive Philosophie auf der anderen Seite kann die Wirklichkeit des existierenden Seins erreichen, muss jedoch – genau zu diesem Zweck – den Begriff opfern und das Risiko der Nichtmittelbarkeit eingehen. »Ihre Koexistenz [der zwei Philosophien] erfordert das Problem ihres Zusammenbestehens, das sich zeigt, wenn schließlich der Übergang zwischen den beiden gedacht wird, ein Übergang, […] der ein Sprung und eine Umkehrung mit sich bringt«: 21 Deswegen entsteht genau auf dem Übergangspunkt zwischen den zwei Philosophien eine echte ›Krise‹, die Schelling ›Ekstase‹ nennt. Pareyson hebt den besonderen philosophischen Charakter der Ekstase hervor, die aufgrund ihrer Benennung einfach missverstanden werden kann: Das Denken Schellings zeigt in der Tat eine innere, vernünftige, philosophische Neigung, die auch eine solche ›Ekstase‹ miteinbezieht. Die Ekstase bezeichnet keinesfalls eine ›Schwärmerei‹, hingegen hat sie nach Pareyson eine spezifische, philosophische Rolle: Sie besitzt die einzigartige Fähigkeit, die Existenz des Wirklichen zu erreichen, d. h. sie soll – in der schellingschen Sprache – das Dass, das quod eines Dinges erfassen, aber nicht das quid, die Essenz, die nach Schelling schließlich dem Reich des Begriffes zusteht. Indem die Vernunft realisiert, dass sie keinen Zugang zur Wirklichkeit hat, braucht sie selbst die Ekstase, um das wirkliche Sein außerhalb des Denkens zu erreichen: Die Ekstase ist insofern eine Forderung der Vernunft, die aus der Vernunft kommt und der Vernunft dient. »Als die Vernunft die reine Idee des notwendigen Seins erreicht hat, mit der Idealität unzufriedene und nach der Wirklichkeit strebende geht sie außerhalb sich selbst und kehrt ihre Idee um, und erfährt in dem reinen Existierenden, in dem bloßen Akt des Existierens das, was eine Transzendenz wirklich ist«: 22 Die Transzendenz, die die Ekstase impliziert, ist ein integrierender Teil der Erfahrung der Vernunft selbst und daraus folgt, dass diese Erfahrung auf irgendeine Art vernünftig ist. Hier findet Pareyson die fundamentale Differenz zwischen der Ekstase und der intellektuellen Anschauung: »Während die intellektuelle Anschauung […] ihr Ziel direkt und positiv erreicht, […] hingegen hat die Ekstase einen viel weniger triumphalen und jubelnden Charakter, weil sie ihr Objekt schließlich in einem negativen Verhältnis erfasst«, und noch bedeutsamer »wenn die intellektuelle Anschauung Gott in seiner Wirklichkeit anbietet, als Sein und als Seiendes zusammen, als 21 22

OL, 387. OL, 391.

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Indifferenz und sogar Identität von Essenz und Existenz, hingegen liefert die Ekstase die bloße Existenz ohne Essenz, die keinen Namen oder Begriff hat, etwas, das Gott nicht ist, aber werden kann«. 23 Dadurch wird der philosophische Charakter der Ekstase bestätigt: Wenn die intellektuelle Anschauung in den ersten Schriften noch von einigen ›mystischen‹ Merkmalen gekennzeichnet war, indem sie auch die Essenz erfasste, so zeigt sich nun die Ekstase als keine »Abdankung der Vernunft« sondern als »ihre höchstmögliche Behauptung«, so dass »die intellektuelle Anschauung nur als Ekstase ihr Ziel erreicht«. 24 Die Vernünftigkeit der Ekstase kommt nicht nur aus ihrem Ursprung (d. h. aus der Vernunft selbst), sondern kann aus ihrem Ziel, aus ihrem Ergebnis deduziert werden: Das rein Existierende ist hiernach das Korrelat der ekstatischen Vernunft, ihre ›umgekehrte Idee‹, die die Vernunft zwar demütigt, aber zugleich ihre eigentliche Natur enthüllt. Die Vernunft steht endlich dem Unbegreifbaren gegenüber und unterliegt ihm nicht: Die bloße Vernunft liegt dem bloßen Sein gegenüber und das Denken verstummt vor Erstaunen. Das Erstaunen ist die erste Wirkung der Ekstase, der von dem Schweigen des Denkens gefolgt wird: »Die Ekstase ist der Ort der Apophasis«. 25 Wenn aber Ohnmacht, Schweigen und Unterwerfung der Vernunft Elemente sind, die Schelling mit anderen Philosophen gemeinsam hat, ist das Erstaunen das von Schelling hinzugefügte positive Element, dank dessen die Vernunft ihren Weg nicht unterbricht, sondern sich in Richtung einer positiven Philosophie weiter bewegt: »Die Unterwerfung wird Mittel zur Eroberung und Weg zur Beherrschung«, weil die Unbegreifbarkeit des reinen Existierenden von der ekstatischen Vernunft endlich aufgenommen werden kann. Die Erfassung des rein Existierenden wäre an sich unmöglich, weil die reine Existenz unbegreifbar und unverständlich, fast ›undurchlässig‹ für die Vernunft ist; ohne Begriff bleibt sie verschwommen: Dieses von dem Erstaunen bewirkte Trauma ist aber der einzig mögliche Zugang zur Existenz, den die Vernunft haben kann. Des Weiteren führt Pareyson aus, dass die Unbegreifbarkeit des rein Existierenden ein ontologisches und nicht bloß gnoseologisches Merkmal ist: Das rein Existierende ist das absolute prius, der absolute und unvordenkliche actus; seine Potenz ist unmittelbar Akt, es geht 23 24 25

OL, 392 f. OL, 394. OL, 396.

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Holzwege: Ein ›post-heideggerianisches‹ Denken

dem Denken voraus, deswegen »wird die Gleichheit zwischen Sein und Denken gebrochen«. 26 Mit diesem Prinzip fügt Schelling eine tiefe Zäsur in der Geschichte der Philosophie ein und stellt sich dem Idealismus entgegen. Aufgrund seiner besonderen Ontologie zeigt sich das Objekt der ekstatischen Vernunft, das rein Existierende, als der einzig mögliche Grund, der nicht weiter begründet sein kann: »Der Grund kann nur ohne Grund sein«. Pareyson betont den vernünftigen und menschlichen Charakter der Ekstase, indem er auf eine Analogie zu dem Monotheismus der Urmenschlichkeit hinweist, den Schelling in seiner Philosophie der Mythologie behandelt. Pareyson erinnert an die ›Theoplexie‹ der Urmenschlichkeit, die dem Gott gegenüber stumm bleibt und in einen Zustand der Taubheit und Unbewusstheit gebracht wird. Diese Unbewusstheit verwandelt sich aber nach Pareyson in ein ›unbewusstes Wissen‹ : Die Vernunft bleibt zwar stumm etwas Großem und Mächtigem gegenüber, trotzdem bleibt sie fähig, ihr Erstaunen auszudrücken. Die ekstatische Vernunft besitzt nach Pareyson einen ›erfassenden Charakter‹, der ihr ermöglicht, etwas Ursprüngliches zu greifen, das für die nicht-ekstatische Vernunft un(be)greifbar war; aus diesen Gründen kann Pareyson folgern, dass ein derartiges Wissen einen eher ontologischen als gnoseologischen Charakter besitzt: »Vielleicht hat das Wissen, dank seiner angeborenen Intentionalität, eine viel weniger gnoseologische als ontologische Tragweite, weil der Mensch ein Verhältnis zum Sein nicht nur hat, sondern Verhältnis zum Sein ist; und eben aus diesem Band zwischen Wahrheit und Person entspringt der Prozess der Interpretation«. 27 Einen weiteren Beweis für den vernünftigen Charakter der Ekstase sieht Pareyson in dem Verweis Schellings nicht auf theosophische oder mystische Theorien, sondern auf die berühmte kantische Passage über den ›Abgrund der Vernunft‹ (KrV, B 641), um die Ekstase der Vernunft besser zu erklären. Unsere spekulative Vernunft kann nicht ›ertragen‹, dass der Grund aller Dinge sich über seine eigene Herkunft befragt: In diesem Augenblick befindet sich die Vernunft in einem bodenlosen Abgrund und schwindelt. Das Erstaunen verbindet sich hier mit dem Schwindel: »Horror des Abgrunds und Zauber der Kluft verbinden sich in dem Schwindelgefühl, um alle

26 27

OL, 407. OL, 414.

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anderen Aspekte des Erstaunens zu erläutern«. 28 Hier zeigt sich der unauslöschliche, tragische Charakter des von der Ekstase verursachten Erstaunens: Wenn der Grund sich als notwendig grundlos enthüllt, wird die wirkliche Möglichkeit eines »bodenlosen Nichts« völlig plausibel, so dass »der letzte Sinn des Schwindels der Vernunft der Horror des Seins ist, […] in dem die Rätselhaftigkeit des Universums, die Kontingenz der Welt, die Gegebenheit des Wirklichen, das Leid der Existenz sich auf unentwirrbare Weise verbinden, um das einzige Objekt einer so tief enthüllenden Reaktion zu gestalten«. 29 Aus diesen von ihm hervorgehobenen Merkmalen der schellingschen Ekstase deduziert Pareyson das unauslöschliche Band, das Mensch und Transzendenz verbindet: Nach Pareyson sind die Ekstase und ihr Schwindel oder ihre Taubheit dem Abgrund gegenüber eigentliche »Erkenntnisreaktionen, die trotz ihres negativen Charakters Wirklichkeiten erfassen, die anderenfalls unnahbar wären«. 30 Die Ekstase wird der Kanal, durch den der Mensch mit der Transzendenz des Ursprungs ontologisch in Berührung kommt, der Kontaktpunkt zwischen dem Menschen und dem Transzendenten. Nach Pareyson besteht die Besonderheit des schellingschen Erstaunens in der Tatsache, dass es sich der Alternative zwischen Rationalismus und Irrationalismus entzieht, und darin liegt vielleicht die Tragweite seiner eigenen Ausdeutung der Ekstase der Vernunft: »In der Tat wird die Stellungnahme Schellings von dem nicht widersprüchlichen, sondern absolut gleichzeitigen Zusammenbestehen zweier fundamentaler Verhalten bestimmt«, so dass »die Nähe selbst einen Kommunikationsweg schließlich enthüllt. […] Nun, dieses ›Moment-Verhältnis‹, dieses gemeinsame Etwas, ist genau die Ekstase«. 31 Die negative und die positive Philosophie sind entgegengesetzt, aber der Endpunkt der einen ist mit dem Anfangspunkt der anderen gleich: Die Ekstase offenbart die ›umgekehrte Idee‹, das rein Existierende. »Das rein Existierende ist transzendent: Der Übergang zu ihm setzt eine Unterbrechung, einen Sprung voraus. Wenn es erreicht wurde, geschah es nicht dank des Denkens, sondern durch die Ekstase«: 32 Die Ekstase garantiert der Philosophie eine Fortsetzung jenseits ihres Schweigens

28 29 30 31 32

OL, 418. OL, 421. OL, 422. OL, 423. OL, 428.

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Holzwege: Ein ›post-heideggerianisches‹ Denken

und ihres Schwindels, indem sie ihr endlich das Unerreichbare und das Undenkbare zeigt. Die Revolution Schellings erweist sich am deutlichsten in der von der Ekstase enthüllten, umgekehrten Idee, die das traditionsgemäße Verhältnis Essenz-Existenz tatsächlich umkehrt: Jene Existenz ohne Begriff, jenes Existierende ohne Vergangenheit und ohne Potenz stellt die ganze metaphysische Tradition in Frage. Die von der plötzlichen Erscheinung des rein Existierenden bestürzte Vernunft beugt sich aber nicht, sondern tritt aus der Ohnmacht »mit erneuter Kraft und frischer Energie« heraus und sucht für ihr »neues« Objekt einen Namen. In ihrer positiven Form sucht die Philosophie einen Namen für das Unsagbare, einen Begriff für das Unbegreifbare, eine Essenz für die reine Existenz, und so wirft sie erneut das Problem der Einheit von Sein und Denken auf, »nicht mehr aus der Sicht der bloßen Rationalität, sondern diesmal aus der Sicht der aktualen Wirklichkeit«. 33 Nach Pareyson kehrt Schelling den gesamten Kurs der alten Metaphysik um: Es geht nämlich nicht mehr darum, »sich zum Transzendenten aus dem Immanenten zu erheben, sondern das Transzedente immanent zu machen«. 34 Pareyson macht drei Passagen aus, die diese schellingsche Revolution kennzeichnen: Die Definition des Begriffes des reinen Exstierenden, die der negativen Philosophie zugehört; die von der Ekstase vollzogene Erwerbung der Existenz; die Benennung des Existierenden, Aufgabe der positiven Philosophie. Diese Artikulation zeigt deutlich, dass Pareyson die Philosophie Schellings als eine einheitliche Bewegung versteht, wo die Ekstase keine Zäsur repräsentiert, sondern als vereinheitlichende Angel dient. Pareyson interpretiert den Moment des Erstaunens weder als Bruch noch als einfachen und notwendigen Durchgangspunkt, hingegen als »ein Augenblick des Schwebens, […] ein Intermezzo, dessen ruckartige und sogar heftige Unterbrechung nicht irreversibel ist«. 35 Der Abgrund des reinen Existierenden, in den die Vernunft sinkt, hindert sie nicht, unterbricht nicht ihren Weg, sondern schenkt ihr ein neues Leben, eine neue ›Nahrungsquelle‹. Dank der Ekstase kann Schelling die intellektuelle Anschauung und die Anstrengung des Begriffes zusammenhalten und vereitelt somit die unfruchtbare Alternative zwischen Rationalismus und Irrationalismus, die sich für 33 34 35

OL, 431. OL, 432. OL, 435.

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das Verstehen der Philosophie Schellings als völlig nutzlos erweist. Die Ekstase ermöglicht den Zugang des Denkens zu der Wirklichkeit, indem sie das ursprüngliche und transzendente Grundverhältnis mit dem Sein enthüllt: Pareyson interpretiert die Funktion der Ekstase eben als ein eigentlich ontologisches Verhältnis des Menschen mit dem Sein, d. h. »die Tatsache, dass der Mensch Seinbewusstsein ist«. Das Denken Schellings lehrt, dass »sowohl die Vernünftigkeit des [philosophischen] Diskurses als auch die Öffnung zum Sein eine feste Solidarität zwischen Begriff und Erfahrung und theoplessischem, intentionalem, ontologischem Charakter [der Vernunft]« 36 notwendig sind, um die Vollkommenheit des Denkens zu erreichen. Pareyson selbst hat sich diese schellingsche Lehre zueigen gemacht und sie als einen der fundamentalen Grundsätze der eigentlichen Philosophie definiert, um auf den höchsten Anspruch der menschlichen Vernunft nicht zu verzichten. Die Grenzen des Rationalismus decken nicht mit den Grenzen der Vernunft, oder, kantisch gesagt, mit den Grenzen des Denkens gleich. Pareyson verweist darauf (mit Schelling), dass die Vernünftigkeit des philosophischen Diskurses nicht von der Begrenztheit des Begriffes unterbrochen wird, hingegen wird sie von einer solchen Ekstase ermächtigt, diese Grenze zu überqueren und ihre ursprüngliche Quelle erneut zu entdecken. Die Diskurse Pareysons und Schellings sind in dieser Perspektive dem heideggerianischen ›Schritt zurück‹ und der Epoché Husserls sehr verwandt: Es geht hier darum, das ontologische Verhältnis zwischen Sein und Denken nicht in der bequemen Abstraktheit des Begriffes zu verlieren, weil das Denken vor allem ein Erfahren ist.

3.2.2. Das Böse Die Reflexion über das Problem des Bösen zählt zu den wichtigsten Denkfeldern des italienischen Philosophen. Seine Theorie der Freiheit ist mit diesem Problem stark verbunden, außerdem kann der schon erläuterte Aufsatz über die Ekstase der Vernunft als methodologische Prämisse dienen, um diesen ›wagemutigen‹ Diskurs am besten zu verstehen. Das Denken Pareysons wurde – wie er selbst mehrmals behauptete –immer stark beeinflusst von dem Problem des Negativen: Die Anwesenheit des Negativen in der wirklichen Welt nimmt 36

OL, 437.

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verschiedene Formen an (das Böse, der Irrtum, das Leid), die nach Pareyson nicht nur auf einem ›existenziellen‹ Niveau erklärt werden können, sondern eine tiefere Reflexion über den Ursprung des Bösen in der Welt fordern. Pareyson wird diesen Ursprung in Gott selbst finden, weswegen seine Theorie viel kritisiert und auch missverstanden wurde. Der Philosoph verteidigte sich immer, ohne jedoch Zugeständnisse an seine Kritiker zu machen; er sah diese wagemutige Theorie als notwendiges Korrelat seines Verstehens der Freiheit, die als absolute Freiheit die Möglichkeit des Bösen zulassen muss. Das Böse und das Leiden sind keine neuen Themen in der Philosophie, aber ihre negative Kraft wurde oft von der Philosophie unter einem beruhigenden Rationalismus versteckt: Augustinus und Pascal nehmen das Problem mehr als Christen als als Philosophen in Angriff; die in diesem Zusammenhang bedeutendsten Beiträge sieht Pareyson bei Kant und in dessen Kritik der Theodizee, bei dem jungen Hegel und dem späten Schelling, bei Schopenhauer und den Provokationen Nietzsches, aber »vieles muss noch gemacht werden«. 37 Das Böse ist per definitionem absurd und jeder Versuch, es zu begreifen, zu verstehen, ist zum Scheitern verurteilt. Wenn die Philosophie diese unleugbare Wahrheit bezüglich des Bösen nicht akzeptiert, macht sie nichts anderes, als das Problem zu beseitigen oder aufzuheben. Pareyson fügt sich aber nicht in dieses scheinbar schon geschriebene Schicksal der Philosophie dank seines überzeugten Vertrauens in das Vermögen der Vernunft. Wie der Aufsatz über die schellingsche Ekstase der Vernunft klarstellte, ist das Schweigen der Vernunft dem Unbegreifbaren gegenüber kein Zeichen ihrer Niederlage sondern ein Übergangspunkt: die Unbegreifbarkeit repräsentiert für Pareyson die echte Herausforderung der Vernunft, dank derer das Denken seine Fülle erfahren kann. Aus diesen Gründen nimmt Pareyson das Problem des Bösen in Angriff ohne die Absicht einer rationalistischen Erklärung: Seine Analyse wagt es, in die Tiefe der innersten Natur Gottes zu blicken, die aus der reinen und absoluten Freiheit besteht. Eben in der Freiheit des Grundes, von der die Welt abhängt, findet Pareyson nicht den Erklärungsgrund, sondern den Ursprung des Bösen. Der Aufsatz, der bezüglich des Problems des Bösen am weitesten geht, trägt den bedeutungsvollen Titel: Ein ›wagemutiger Diskurs‹:

37

OL, 151.

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Das Böse in Gott. 38 Wie schon erklärt, ist der Stil Pareysons scheinbar völlig unsystematisch: Offensichtlich hat der Anspruch eines Systems für Pareyson keine Geltung, dennoch bleibt sein Diskurs unleugbar rigoros und klar, so dass man sich ihm nicht entziehen kann. Manchmal fehlt eine klassische, argumentative Struktur, so dass Kritik daran legitim wäre; aber Pareyson war sich bewusst, dass die Strenge des Begriffs alleine keine Macht über derartige Probleme hat. Aus diesem Grund wundert es nicht, dass der ›wagemutige‹ Aufsatz über das Böse mit einer langen Liste von Zitaten aus der mystischen Tradition beginnt: Pareyson zitiert Meister Eckart und Angelus Silesius, besonders dessen Aphorismen, die auf die ›Übergottheit‹ oder das ›Übernichts‹ Gottes verweisen und hebt den ›indirekten und anspielenden‹ Charakter solcher Ausdrücke hervor, die auf keinen Fall unter einem rationalistischen Gesichtspunkt gelesen werden sollten. Eckhart und Silesius identifizieren oft Gott mit dem Nichts: Diese Aussagen sind aber nicht metaphysisch gemeint, wie Hegel sie ausgedeutet hat, sondern sie bewegen sich auf einem anderen Niveau des Diskurses, in dem die Sprache indirekt und paradoxerweise auf Gott anspielt, so dass, Gott mit dem Nichts gleich zu setzen, gerade im Gegenteil bedeutet, ihn zu behaupten. »Wir befinden uns im Reich des Unobjektivierbaren, wo das objektivierende und Beweis führende Denken kein Staatsbürgerrecht hat«: 39 Aus diesem Grunde definiert Pareyson seinen Diskurs als »existenzial und hermeneutisch«; existenzial, weil die Sphäre des Unobjektivierbaren sich in der Existenz zeigt und eine direkte Verbindung mit der Unbegrenztheit der Freiheit entstehen kann; hermeneutisch, weil die Materie des Denkens immer schon gegeben und vorher bestehend ist, so dass das Denken durch ein schon gestaltetes und unerschöpfliches Material geübt wird. Mit diesen Prämissen behauptet Pareyson ohne Zögern, dass das Problem des Bösen »ein überhaupt religiöser Diskurs ist«. Ethik und Moralphilosophie sind einschränkend, sie erleben notwendigerweise den Zwist zwischen Universalansprüchen und Kontingenz, ohne die tragische Dimension des Problems zu erfassen. Eben das Tragische aber charakterisiert auf fundamentale Weise das Problem des Bösen, das auch das Phänomen des Leidens einbezieht: Das ›metaphysische‹ Böse existiert für Pareyson nicht, zum Bösen gehört immer eine un38 39

Zuerst in Annuario filosofico, 1988, 4, 7–55 erschienen, dann OL, 235–292. OL, 244.

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auslöschliche, existentielle, ›tätige‹ und unbegreifbare Dimension – das hat er mit Schelling gemein –, die aber nicht aufgehoben oder reduziert werden darf. Das Tragische repräsentiert eine Schlappe für die Vernunft, deswegen ist es auch ihre größte Herausforderung; Die tragische, von den verschiedenen Formen des Bösen verkörperte Dimension des Lebens treibt die Vernunft bis an ihren Grenzen und ruft den Übergang von einer Philosophie des Seins (in der das Böse ein Skandal ist) zu einer Philosophie der Freiheit hervor: »Das Böse in Gott ist eine Idee, die sich vor dem Horizont einer Philosophie des Seins als unbegreifbar und skandalös ergibt, und die sich nur in der Perspektive einer Philosophie der Freiheit als eine von Missverständnissen und Verfälschungen verschonte Idee zeigen kann«. 40 An dieser Stelle ist es einleuchtend, dass die Behandlung des Problems des Bösen bei Pareyson mit seiner Theorie der Freiheit untrennbar verbunden ist. Wir konzentrieren uns hier nur auf einen für das Problem des Bösen relevanten Aspekt dieser Theorie, die später ausführlich behandelt wird. Das wichtigste und entscheidende Element bezüglich der Verbindung zwischen Freiheit und Bösem ist nach Pareyson der ursprüngliche Kontakt zwischen dem Nichts und der Freiheit: Die Freiheit ist absoluter Anfang, deswegen geht ihr das Nichts voraus. Dieses Nichts, das der Freiheit ›vorangeht‹, ist aber für Pareyson etwas Wirkliches und Tätiges, eben weil es mit der Freiheit in Kontakt tritt: »Die von dem Nichtsein eingewickelte Freiheit verwandelt es [das Nichtsein] in ein tätiges und positives Nichts…eine fleißige und wirkende Antithese«, die durch den Ausdruck Karl Barths ›das Nichtige‹ am besten beschrieben werden kann. Das Nichtsein wird von der Freiheit ›potenziert‹ und verwandelt sich in das Böse – das die positive Freiheit sofort unterwirft und in dem die negative Freiheit sich verliert. »Nichtsein + Freiheit = Nichts«: 41 Die Freiheit, die zugleich als Anfang und Wahl erscheint, verwandelt das bloße, ihr vorangehende Nichtsein in das Nichtige, mit dem sie in demselben Akt ihres Ereignens kämpft und gegen das sie gewinnt. Sie gewinnt eben als Wahl zwischen Sein und Nichtsein: Sie könnte in dem Nichtsein bleiben, aber als sie anfängt, wählt sie zugleich das Sein und besiegt das Nichts. Hier geht es um keine Zeitfolge, sondern das Ereignis der Freiheit trägt in sich die Entstehung und die Niederlage ab aeterno des Nichts, besser des Nichtigen, aus dem das Böse 40 41

OL, 254. OL, 258.

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seine Kraft zieht. Dieser ursprüngliche Kontakt mit dem Nichts ist fundamental, um die Theorie des Bösen Pareysons von Grund auf zu verstehen: Die Freiheit wird wirklich positiv ausschließlich, weil sie mit der Negativität des Nichts in Kontakt getreten ist, sie hat den Abgrund des Nichts gestreift und sich gegen die Verneinung behauptet. Nur dadurch wird auch die Freiheit positiv, da die eigentliche Positivität nur aus dem Kontrast mit dem Negativen entspringt. Die ursprüngliche Alternative zeigt sich nach Pareyson nicht zwischen Sein und Nichtsein, sondern vielmehr zwischen Freiheit und Nichts – und genau dank dieses Kontrasts, dieses Gegensatzes, kann das Sein sein: In jenem anfänglichen Gegensatz wird das Sein gewählt und das Nichts ab aeterno besiegt und ausgeschlossen. Dieses Ereignis geschieht in Gott: Gott erfährt den Gegensatz, den Kontrast mit dem Nichtigen, indem das Sein, die Existenz gewählt wird; er trägt in sich die Spur dieses Kampfes, und ausschließlich darauf verweist der Ausdruck ›das Böse in Gott‹. Indem die Freiheit sein wollte, hat sie die Wirklichkeit des Bösen zur Möglichkeit gemacht; diese Möglichkeit des Bösen bleibt in der Wirklichkeit anwesend und für den Menschen verfügbar als eine »beängstigende Gegenwart«, 42 die der Mensch dank seiner Freiheit erneut beleben kann. Das Böse bleibt als Spur jenes besiegten Nichts und konstituiert den Abgrund Gottes, dem gegenüber eine Metaphysik des Seins sich als völlig ungenügend erweist. Gott ist dieser Abgrund der ursprünglichen und anfänglichen Freiheit, er ist die Wahl zwischen Sein und Nichts, angesichts dessen verändert Pareyson den Prolog des Johannes auf folgende Weise: »Am Anfang war die Wahl«. Für Pareyson ist Gott außerhalb dieser abgründigen Dynamik der Freiheit nicht denkbar, d. h. nicht ohne Dunkelheit, nicht ohne seine ›linke Hand‹, um wieder an Karl Barth zu erinnern: Die Zweideutigkeit der Freiheit spiegelt sich in der mysteriösen Natur Gottes, die ihn gegen jede Gnosis verteidigt. Gott trägt in sich die Potenz des Negativen als ewiges Zeichen seines Sieges: Gott ist nicht das Gute, sondern das gewählte Gute, das das Negative erfahren hat. Aus diesem unvordenklichen Ereignen der Freiheit entspringt nach Pareyson auch die Geschichte, besser: Dieses Ereignen ist Geschichte: Gott ist nicht eine statische Perfektion, sondern Kampf, Streit mit dem Negativen, um das ewige Positive zu werden (die schellingsche Wurzel dieser Gedanken ist evident). Der Preis dafür 42

OL, 270.

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ist die unauslöschliche Zweideutigkeit, die ein solcher Gott in sich trägt: Der Gott Pareysons ist kein tröstender Gott, sondern er gibt den Grund für die tragische Dimension des Lebens, indem »die Existenz Gottes selbst zeigt, wie das Gute sich nur durch das Böse verwirklichen kann. […] Es ist beunruhigend zu denken, dass es nur möglich ist, das Gute zu tun mit ausschließlich demselben Akt, mit dem es möglich ist, auch das Böse zu tun«. 43 Die Freiheit und ihre anfangsfähige Macht in Gott zu setzen, bedeutet, das Böse in Gott zu setzen, wenn die Freiheit Gottes als wirkliche und absolute Freiheit gedacht werden muss. Das geschichtliche Ereignis der Freiheit setzt in seiner ursprünglichen und zweideutigen Indifferenz beide Möglichkeiten, des Guten wie auch des Bösen, des Seins und des Nichts, der Bejahung und der Verneinung, der Offenbarung und der ewigen Verschlossenheit. Ein solches Ereignis kann nicht in ein System eingeordnet sein, da es sich als Geschichte erweist: Die Geschichte ist kein System, sie kann nur erzählt werden kann. Deswegen kann die philosophische Tragweite dieses Diskurses unbemerkt bleiben: Wenn man aber die Kernpunkte aus diesem Aufsatz herauslöst, wird die Kühnheit der Gedanken Pareysons offenbar. Eine solche Freiheit in Gott zu setzen, d. h. eine Freiheit, die zugleich Anfang und Wahl ist, ermöglicht Pareyson, den Ursprung des Bösen eben in der Potenz, besonders in der Indifferenz der ontologischen Freiheit zu finden. Diese anfängliche Indifferenz der absoluten Freiheit wird von der Freiheit selbst ent-schieden, und eben in und dank dieser Entscheidung können die zwei Möglichkeiten des Guten und des Bösen entstehen: Um das Gute, das Sein, die Offenbarung zu wählen, muss das Böse auf ewig ausgeschlossen sein – darin besteht der ursprüngliche Kontakt der Freiheit mit dem Nichts. Dieser Kontakt ist nach Pareyson der einzig mögliche Ursprung des Bösen in der Welt, das nie mehr absolut sein kann – da es auf ewig besiegt wurde; es manifestiert sich aber als Spur jenes anfänglichen Kampfes, d. h. als das Tragische des Lebens, indem der Mensch mit seiner Freiheit die Möglichkeit der Verneinung noch wählen kann – wie der Mythos der Genesis uns lehrt. Darin liegt wahrscheinlich der Schwachpunkt der Theorie Pareysons, die mindestens ein paar Fragen aufwirft: Es ist unklar, wie genau der Mensch jene Spur des Bösen beleben darf; außerdem, warum war der Sieg über das Nichts kein vollkommener?

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OL, 287.

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Trotz dieser offensichtlichen Unklarheiten, bei deren Klärung der Stil des Denkens Pareysons wenig hilft, erreicht seine Reflexion über das Problem des wirklichen Bösen den Kernpunkt: Die Metaphysik des Seins erweist sich in diesem Zusammenhang als ungenügend. Das Böse ist die destabilisierende Kraft des Seins par excellence und lässt sich nicht durch seine Grammatik erklären. Nur eine Philosophie der Freiheit, d. h. eine Philosophie, deren höchster Begriff die Freiheit ist, kann es wagen, etwas darüber zu sagen: »[…] die Idee des Bösen in Gott bedeutet eigentlich, dass der Kern der Wirklichkeit nicht das Gute ist. sondern das gewählte Gute, d. h. die Freiheit, die mit ihrer wesentlichen Duplizität dem unergründlichen Dynamismus des Universums zugrunde liegt«. 44

3.2.3. Die Freiheit Wie schon mehrmals erwähnt, ist die Lehre über die Freiheit der eigentliche Kern und Ursprung der Philosophie Pareysons, die tatsächlich als eine ›Philosophie der Freiheit‹ bezeichnet werden kann. Philosophie der Freiheit 45 ist auch der Titel seiner 1988 an der Turiner Universität gehaltenen Abschiedsvorlesung, in der sein ganzer philosophischer Werdegang zum Ausdruck kommt. Pareyson bietet eine tiefgründige Reflexion über den Begriff der Freiheit, über die Bedeutung von ›frei sein‹, die eine Entscheidung des Denkers erfordert, wenn er auf diese Theorie stößt: Nicht einmal die Phänomenologie nimmt das Thema auf eine so radikale Weise in Angriff. ›Freiheit‹ ist am deutlichsten bei Kant das Synonym für das ›Unbedingte‹, das ›Absolute‹ geworden: Kant begriff sie als eine Tatsache, die unserer Natur gehört, und zwar eine ganz besondere Tatsache wegen ihrer ihr innewohnenden Negativität. Wir können die Unbedingtheit der Freiheit denken, aber nicht erkennen: Sie ist Noumenon, deswegen kann sie kein Schema haben und bleibt für die menschliche Vernunft unzugänglich. Zwar hatte Kant sich der theologischen Voraussetzung 46 bezüglich der Freiheit entledigt, trotzdem hatte er sich zugleich durch eine ›empirische‹ (die Freiheit als unOL, 292. S. Anhang. 46 D. h. der scholastischen: Freiheit als Frei-sein von dem natürlichen Willen und deswegen als Streben – gratia superatita – nach der göttlichen beatitudo. 44 45

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erkennbare Tatsache) Voraussetzung wieder bedingt. Das Denken der Freiheit blieb auf diese Weise noch einmal gelähmt. Pareyson war sich völlig dessen bewusst, dass diese zwei Wege (der scholastische und der kantische Weg) in Richtung Freiheit unbegehbar waren. Er fand zuerst bei Fichte und vor allem bei Schelling eine andere, voraussetzungsfreie Quelle, um die Freiheit wirklich, d. h. ihrer Natur nach, zu denken. Seiner Auffassung nach musste das Denken der Freiheit selbst befreit werden sollte, eben von der aporetischen Kausalität einer (göttlichen) causa sui. Das Thema der Philosophie der Freiheit Pareysons besteht in der Tat darin, das Freisein ohne Voraussetzungen zu denken, d. h. jede aus dem Subjekt stammende Auffassung der Freiheit auszuschließen. Pareyson stellt auf diese Weise sein eigenes aut-aut: Entweder sich abfinden und behaupten, dass die Idee der Freiheit im Grunde nicht vergeblich ist, weil sie unser Denken und unser Handeln ermöglicht, obwohl wir sie nicht erkennen können; oder die Freiheit ontologisch denken, d. h. das Projekt einer Ontologie der Freiheit verfolgen. Entweder gehört die Freiheit dem Bereich der causa sui an, die man aber erkennen sollte (à la Spinoza); oder sie gehört dem Sein selbst an und umgekehrt – das Sein ist ursprünglich frei und die Freiheit ist mit dem Sein und mit der Essenz Gottes selbst gleich. Eine solche These aufzustellen bringt »die Abschwörung jeder ontischen Metaphysik« mit sich und impliziert den Entwurf einer anderen Ontologie; außerdem wird am Anfang dieses Versuches eine klare, persönliche Entscheidung des Denkers selbst für nur eine der zwei Alternativen des erwähnten Aut-aut notwendig, d. h., dass eine Philosophie der Freiheit nur Werk der Freiheit selbst sein kann. Die Philosophie der Freiheit erträgt keine Neutralität. Die vollständigste und organisierteste Darstellung seiner Ontologie der Freiheit findet sich genau am Anfang des unvollendeten Werks: Pareyson hielt Ende April 1988 in Neapel vier Vorlesungen mit der Absicht, ein kurzes Seminar über die Philosophie der Freiheit zu anzubieten. Die Vorlesungen tragen die folgenden, viel sagenden Titel: Freiheit und Situation, Freiheit und Transzendenz, Freiheit und Verneinung, Freiheit und Dialektik. Situation, Transzendenz, Verneinung und Dialektik sind in der Tat die wichtigsten Eigenschaften des von Pareyson gedachten Freiheitsbegriffs, die ihn in jener für sein Denken kennzeichnenden Spannung zwischen einer extremen Konkretheit und einer radikalen metaphysischen Instanz verortet.

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In der ersten dieser Vorlesungen macht Pareyson den Anfangspunkt seiner Theorie deutlich: Die Äquivalenz zwischen Sein und Freiheit. Dieser ›neue‹ Anfang wurde durch den hegelianischen ›Schluss‹ erforderlich: »Hegel, zum Beispiel: […] die Persönlichkeit, in der die ganze Geschichte der abendländischen Philosophie sich versammelt und bis zu ihrem Schluss kommt, und auch zu ihrer Krise. Ein Schluss: Folglich stellt sich das Problem eines neuen Anfangs«. 47 Pareyson suchte diesen neuen Anfang der Philosophie nach dem hegelianischen Schluss nicht nach Hegel, sondern vor ihm, um dort eine ›Kritik ante-litteram‹ der hegelianischen Philosophie zu finden. Er fand bei Fichte »einen viel ursprünglicheren und tieferen Freiheitsbegriff als den Moralfreiheitsbegriff […]. Damals lernte ich, dass das Niveau der Moralität auf einer unteren Ebene liegt im Vergleich zu der, auf der man den Freiheitsbegriff auf eine viel höhere, radikalere und ursprünglichere Weise erforschen kann«. 48 Es war aber schließlich Schelling, der sein Bezugsautor wurde: Pareyson bezeichnet ihn als »Vorhegelianer, aber auch Posthegelianer und sogar…Postheideggerianer. Nur der, wer mit dem Aufbau der hegelianischen Philosophie sich befasst hatte, konnte daran mitwirken, sie zu zerlegen: Genau mit diesem Unternehmen wollte er eine Philosophie der Freiheit machen«. 49 Auf diesem Hintergrund legt Pareyson seine eigene Perspektive dar: Der Mensch befindet sich immer in einer Situation, die er als ›Verhältnis zum Sein‹ bezeichnet; der Mensch ist dieses ontologische Verhältnis, aus dem die ontologische und persönliche Unendlichkeit der Interpretation stammt. Das Sein selbst setzt dieses Verhältnis und deswegen ist es darauf nicht reduzierbar, d. h. unobjektivierbar: Es kann nicht in einem Prinzip, in einem Fundament »versteift« werden, »weil das Sein kein Fundament ist«. 50 Eben die Unobjektivierbarkeit und die Unerschöpflichkeit des Seins bilden den Raum für die Freiheit: In jenem Verhältnis erfährt der Mensch eine Dialektik von Aktivität und Passivität, die Pareyson aus verschiedenen Perspektiven analysiert, um eine erste Charakterisierung der Freiheit zu liefern. Die Freiheit kann nicht reine Aktivität sein, weil die reine Aktivität im Grunde selbstzerstörerisch ist: Hingegen ist das Sein ihr »anver47 48 49 50

OL, 7. OL, 8 f. OL, 9. OL, 11.

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traut«, so dass »Die Freiheit ist nicht eine solche ohne das Sein«. 51 Das Verhältnis zwischen Sein und Freiheit ist ursprünglich und unvermeidbar: Die Freiheit kann sich üben, nur insofern es ein Sein gibt, und das Sein ist Zeichen für diesen ersten Akt der Freiheit. Pareyson bevorzugt oft ein Paradox, um seine Gedanken illustrieren: »Es gibt eine Koinzidenz zwischen dem Akt, mit dem die Freiheit gegeben ist, und dem Akt, mit dem die Freiheit von sich selbst anfängt. […] Die Freiheit erscheint als gegeben, weil sie von einer anfänglichen Notwendigkeit eingewickelt und eingehüllt wird, obwohl Letztere genau in dieser Theorie … beginnt, als Freiheit wiederum zu erscheinen, die Gegebenheit der Freiheit und zugleich Aufruf an die Freiheit ist. […] Das Problem besteht nicht mehr in dem Verhältnis zwischen Freiheit und Notwendigkeit, sondern in dem Verhältnis zwischen Freiheit und Freiheit«. 52

Die Freiheit ist zwar ›notwendig‹ gegeben, aber sie ist als Freiheit gegeben, so dass ihre scheinbare, anfängliche Notwendigkeit sich in eine zusätzliche Freiheit verwandelt. In dieser ersten Vorlesung tritt Pareyson auch für ›die Unbegrenztheit der Freiheit‹ ein: Es gibt keine von einem (inneren oder äußeren) Gesetz begrenzte Freiheit, deren Unbegrenztheit nicht in der reinen, unendlichen Aktivität besteht, sondern »in ihrer Fähigkeit, in ihrem Anspruch, jede Grenze zu überschreiten, d. h. jedes Gesetz, jede Norm, jedes Sein. […] Sie ist immer in Gegenwärtigkeit einer ursprünglichen Grenze, eines ursprünglichen Seins, trotzdem ist sie aber Freiheit, es zu bestreiten«. 53 Sein und Freiheit sind durch eine ›freie Notwendigkeit‹ verbunden, weil die Freiheit als Freiheit gegeben ist, d. h. dass sie Freiheit ist, auch sich selbst zu verneinen und jedes mit ihrem ersten Akt gleiche Sein zu verweigern: »Sie ist immer Annahme oder Verweigerung«, und weiter »nur die Freiheit kann der Freiheit vorangehen und nur die Freiheit kann der Freiheit folgen«. 54 Die Freiheit ist nach Pareyson nur als absolute denkbar, d. h. ohne Grenze, aber auch ohne Grund – eben als Abgrund: Die Freiheit ist Grund nur, insofern sie kein Grund sein will. Das als Freiheit gedachte Sein ist im Vergleich zu dem metaphysischen Sein on-

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OL, 18. OL, 16–18. OL, 20. OL, 22.

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tologisch different: Es erscheint als der erste Akt der Freiheit, als ihre erste, verneinbare Gestalt. Die Charakterisierung der Freiheit hat bei Pareyson keinen anderen Anfangspunkt als die Freiheit selbst: Deswegen scheint sie quasi apodiktisch und wenig argumentativ. Die Freiheit ist für Pareyson die realste Wirklichkeit, so offenbar wie das Sein selbst: Diese Äquivalenz, die er aus der Gegebenheit des Seins ableitet, ist das fundamentale Postulat seiner Theorie, Anfang- und Endpunkt seines Denkens. Die vielgestaltige Dialektik des Seins (als Verhältnis von Aktivität und Passivität, Gabe und Annahme) trägt für ihn einen einzigen Namen, Kern des Seins, des Menschen und Gottes. Das Sein wurde von Pareyson nie als durchsichtig und eindeutig wahrgenommen: Seine Unbestimmtheit, seine Ambiguität waren Spuren eines derartigen Prinzips, das nur Freiheit heißen kann. In der zweiten Vorlesung, Freiheit und Transzendenz, vertieft Pareyson seine Darstellung der Freiheit als Abgrund des Seins durch eine Beschreibung, die der heideggerianischen Charakterisierung des Ereignisses sehr nahe kommt: Nachdem er präzisiert hat, dass die Freiheit als Akt sich nur durch eine Erzählung, eine Geschichte (mit Bezug auf den Mythos und die religiöse Erfahrung) und nicht durch philosophische Argumentation darstellen lässt, versucht Pareyson die Freiheit an sich zu erläutern, d. h. »in ihren zwei fundamentalen Bedeutungen: […] die Freiheit als Anfang, als absoluter Anfang, als reines Anfangen, und die Freiheit als Wahl; die Freiheit in ihrer Absolutheit des Anfangens, und die Freiheit in ihrer Duplizität, Zweideutigkeit von Positivität und Negativität«. 55 Die Absolutheit der Freiheit zeigt sich vor allem in ihrer Ursprünglichkeit: Sie offenbart sich nämlich als reiner Anfang, weil ihr nur die Freiheit vorausgehen kann. Sowohl im Menschen als auch in Gott ist die Freiheit absolut und unbegrenzt: Bei Gott ist sie eine positive Unbegrenztheit, weil Gott der Autor nicht nur seiner Handlungen, sondern auch seiner eigenen Freiheit ist (in diesem Sinne behauptet Pareyson, dass Gott ›unverantwortlich‹ ist); bei den Menschen ist sie eine negative Unbegrenztheit, weil der Mensch nur der Autor seiner Handlungen aber nicht seiner Freiheit ist. Die Intensität der Freiheit bleibt aber in den zwei Möglichkeiten unverändert. Die Freiheit ist Ereignis, eine unvorhersehbare und unwiderrufliche Tatsache, d. h. absoluter Anfang und absolute Überraschung: 55

OL, 28.

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Holzwege: Ein ›post-heideggerianisches‹ Denken

»Sie erträgt weder den Begriff der Kausalität noch den Begriff der Möglichkeit: Sie ist nicht die Wirkung einer Ursache und auch nicht die Realisierung von etwas Möglichem«. 56 Woraus fängt also die Freiheit an? Die Antwort Pareysons lautet: Aus dem Nichts, »dem Nichts der Freiheit«. Dieses Nichts ist ebenso absolut wie die Freiheit, es schließt sogar die Kategorie der Möglichkeit aus, denn nichts kann der Freiheit vorausgehen: Sie findet ihren Anfang in einem geringen, quasi unmerklichen und ihr vorausgehenden Augenblick, der aber »ein Abgrund ist« – die von dem Blitz der Freiheit zerrissene Finsternis. Aufgrund dieser Merkmale kann die Freiheit in kein System eingeordnet werden, es gibt keine Demonstration oder Ableitung der Freiheit. Sie kann nur Erfahrung und Geschichte sein. Mit diesen Prämissen kann Pareyson mit Überzeugung vertreten, dass »umso mehr die göttliche Freiheit reiner Anfang ist«: 57 Pareyson begründet seine Konzeption der göttlichen Freiheit mit einer sehr persönlichen und ohne Zweifel diskutablen Interpretation des berühmten Verses des Ex 3,14, ʾ ehjeh ʾ ašer ʾ ehjeh – Ich bin, wer ich bin. Die erste Offenbarung Gottes zeigt sich nach Pareyson nicht in der Schöpfung, sondern in einem vorhergehenden Ereignis, das die göttliche ›Selbstsetzung‹, d. h. seine ›Selbsterzeugung‹ oder ›Selbstgenesis‹ genannt wird: Darin besteht der allererste Akt der Freiheit, der auch die allererste geschichtliche Tatsache ist. Dieses der Schöpfung vorangehende Moment ist von fundamentaler Bedeutung, um die Theorie der Freiheit Pareysons zu verstehen: Dort manifestiert sich die absolute und grundlose Macht der anfänglichen Freiheit, in der es keine Unterscheidung zwischen Essenz und Existenz, Natur und Akt gibt. Die anfängliche Freiheit repräsentiert das Frei-sein Gottes sogar von sich selbst, von seiner eigenen Existenz: Ich bin, wer ich bin wird aus diesem Grund für Pareyson Ich bin, wer ich sein will, wer ich sein möchte. Die Freiheit in ihrer Reinheit, in ihrem ursprünglichen und unvordenklichen Zustand wird nicht durch das Verb ›sein‹ beschrieben, sondern ist sie ein mögen, ein wollen, reine Potenz, die nur sein kann. Der schellingsche Ursprung dieser Gedanken ist nicht zu übersehen. Zu Gott gehört keine Notwendigkeit oder libera necessitas: »Man kann nicht sagen, dass Gott frei ist, sondern nur dass Gott Freiheit ist. […] Gott per definitionem setzt kein anderes Sein voraus: Er setzt nur einen Abgrund, den Abgrund der Vernunft, von dem 56 57

OL, 30. OL, 34.

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3 · Ontologie der Freiheit: Holzwege zwischen Schelling und Pareyson

Kant sprach«. 58 Die Essenz Gottes besteht in der reinen Freiheit als Akt, die aber an sich reine Potenz (zu sein oder nicht zu sein) ist, wie Schelling erklärt hat. Der ›Gott vor Gott‹ verweist eben auf diesen schwer nachzuvollziehenden Zustand, der aber fundamental ist, um die Ontologie der Freiheit zu verstehen: Bevor Gott ist, kann er sein – oder nicht. Diese Anfügung ›oder nicht‹ hat nicht nur eine literarische Bedeutung, sondern verweist auf den ursprünglichen Kontakt der Freiheit mit dem Nichts, der nach Pareyson wirklich und tätig ist: »Es gibt keine Ontologie ohne Meontologie«. 59 »Gott existiert« bedeutet »Das Nichts wurde auf ewig verworfen und besiegt«: Ohne diesen ursprünglichen Kampf mit dem Nichts zu denken, würde die Potenz der Freiheit ein bloßer Begriff bleiben: Die dritte Vorlesung des Seminars, Freiheit und Verneinung, ist tatsächlich der Aufgabe gewidmet, das Verhältnis zwischen absoluter Freiheit und dem Nichts zu denken und zu erläutern. Indem Gott existiert, indem er ist, fängt er nicht nur an, sondern entscheidet sich zu sein. Die Ontologie der Freiheit betrachtet die Freiheit als Anfang und Wahl, Entscheidung: Der allererste Akt der Freiheit vollzieht sich in dem Kampf mit dem Nichts, dem Einzigen, das ihr vorangehen kann. Das Nichts ist nach Pareyson nicht eine logische Entität, sondern etwas wirkliches, das die Möglichkeit des Seins ernsthaft bedroht hat und das nur durch die absolute Macht der Freiheit verworfen werden konnte: »Die Behauptung der Freiheit als Anfang realisiert die Freiheit als Wahl, der reine Anfang zeigt sich als reine Wahl. Initiative und Alternative, zweifache, zweideutige, zweischneidige Initiative, d. h. die positive Freiheit und die negative Freiheit. […] Die Freiheit ist so frei, dass sie sogar frei ist, nicht frei zu sein«. 60 Die negative Freiheit ist die Freiheit, die wählt, nicht frei zu sein, die sich verneint, eine unauslöschliche Möglichkeit in der Ontologie der Freiheit: Aber, bemerkt Pareyson, »die Duplizität der Freiheit zeigt sich immer auf dem Hintergrund des Vorrangs des Positiven«, 61 d. h., dass die Positivität der Freiheit so absolut ist, dass sie sogar in dem Akt ihrer Verneinung sich behauptet. In diesem notwendigen Verweis des Positiven auf das Negative und umgekehrt findet Pareyson die Wirklichkeit und den Ursprung des Bösen, wie oben erläutert (3.2.2): Gott trägt in sich die Spur dieses 58 59 60 61

OL, 36. OL, 37 f. OL, 47. OL, 49.

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Holzwege: Ein ›post-heideggerianisches‹ Denken

ursprünglichen und notwendigen Kampfes, so dass Pareyson folgende wagemutige Behauptung aufstellt: »Die Positivität selbst Gottes hat einen undurchsichtigen Aspekt, und ich werde sogar davon mehr sagen: Die Positivität selbst Gottes ist eine Provokation, eine indirekte Ursache des Bösen, eine Herausforderung für den Menschen, eine Versuchung, eine Anregung«. 62 Diese Theorie des Bösen schließt ohne Zweifel mehr als ein Problem zur Folge: Ihr im Bezug auf die Ontologie der Freiheit wichtigster Aspekt besteht jedoch darin, dass die anfängliche Freiheit Gottes in Kontakt mit dem wirklichen Nichts kommt, weil sie reine Potenz – im schellingschen Sinne – ist. Die Potenz an den Anfang zu setzen, bedeutet, eine grundlose Entscheidung, eine abgründige Öffnung in Gott selbst zu setzen: Potenz (Mögen), Anfang und Entscheidung sind untrennbar. Wenn Gott nicht gewählt hätte, würde nichts (und nicht das Nichts) existieren: Die Übergottheit, oder der Gott-vor-Gott drückt sich als Freiheit, als Gott aus; die Urpotenz der Freiheit entscheidet sich für Gott selbst, aber als Urpotenz ist sie auch Potenz des Nicht-seins, des Nichts, das als auf ewig besiegte Möglichkeit trotzdem besteht. Diese Figur der Urpotenz der Freiheit ist der Schlüssel, um die ganze Philosophie Pareysons zu begreifen: Die Ontologie der Freiheit muss das Gewicht eines Abgrunds in Gott, eines grundlosen Gottes ertragen, wenn die Freiheit wirklich und tief gedacht werden soll. Die Ontologie des Seins hält an Gott fest, macht ihn zu einem statischen Seienden in der Gewalt der menschlichen Vorstellungen: Die Ontologie der Freiheit hat die Absicht, diesen Gott zu befreien und die Freiheit – zusammen mit ihrer bestimmenden Grundlosigkeit – an den Anfang zu setzen. In der letzten der neapolitanischen Vorlesungen, Freiheit und Dialektik, erläutert Pareyson seine Philosophie der Geschichte: Weil das Ereignis der Freiheit zugleich eine geschichtliche Tatsache ist, entstammen aus jener allerersten Entscheidung (»das fundmentale Prinzip der Ontologie der Freiheit« 63) zwei Reiche: Das Reich der Ewigkeit und die zeitliche Geschichte. Die fundamentale Unterscheidung zwischen den zwei Reichen ist der Zustand des Bösen und der Negativität: In dem Reich der Ewigkeit bleibt das Böse besiegt, während die zeitliche Geschichte sich als kontinuierlicher und unsicherer Kampf 62 63

OL, 56. OL, 61.

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3 · Ontologie der Freiheit: Holzwege zwischen Schelling und Pareyson

zwischen Gutem und Bösem erweist. Die zwei Reiche bedingen sich gegenseitig auf eine dialektische Weise: Nicht aber durch eine hegelianische Dialektik der Notwendigkeit, die das Negative aufhebt, sondern eine »methodische und lebendige pascalianische Dialektik des Widerspruchs«, die »das Zusammenbestehen von irreduziblen und widersprüchlichen Elementen, die in einem ewigen Konflikt sind« 64 erträgt – d. h. eine Dialektik der Freiheit. Eine derartige Dialektik ist für Pareyson der Kern der Wirklichkeit: Der große Fehler Hegels war es, keinen Unterschied zwischen dem ewig-logischen und dem geschichtlich-zeitlichen Prozess zu machen. Das Negative ist kein notwendiges Moment einer Entwicklung, sondern eine wirkliche, der Freiheit angebotene Alternative: »Das ins Extreme getriebene Negative führt nicht durch eine dialektische Notwendigkeit zur Positivität: Hingegen führt es zur Zerstreuung, zur universellen Vernichtung«. 65 Die scharfe Trennung zwischen den zwei Reichen wird nach Pareyson nur durch die Heilsgeschichte aufgelöst, und daraus entspringt die tragische Prägung seines Denkens: In dem Kampf zwischen Gutem und Bösem sind nur das Leid und der Schmerz stärker als das Böse. »Die Negativität hat zwei Aspekte: Als Sünde ist sie Zerstreuung, als Leid ist sie Erlösung«: 66 Dem Unsinn des wirklichen Bösen gegenüber fand Pareyson die einzige, denkbare Lösung nicht in einer ihm entgegengesetzten, positiven Macht, sondern nur in der Macht des Negativen selbst, die sich auch als erlösendes Leid manifestiert. Dadurch ereignet sich die Universalgeschichte, eine Geschichte der Freiheit. Der grundlose Gott Pareysons ist kein tröstender Gott: Seine zweideutige Freiheit macht seine Anwesenheit »umständlich, quälend, eine dem Menschen keine Ruhe gebende Dringlichkeit […]. Weil, wie der Brief an die Hebräer sagt, ›Schrecklich ist’s, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen‹«. 67

64 65 66 67

OL, 67. OL, 69. OL, 71. OL, 81.

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Holzwege: Ein ›post-heideggerianisches‹ Denken

3.2.4. Das Prinzip Freiheit Nach der Analyse der wichtigsten Kernpunkte der Philosophie des Turiner Philosophen kann man sich fragen, inwiefern und in welchem Sinn die aus dem Denken Pareysons und Schellings – deren Denken oft schwer zu unterscheiden ist – stammenden Anstöße ›post-heideggerianisch‹ sind. Worin liegt der ›post-heideggerianische‹ Charakter einer Philosophie der Freiheit? Zwei Aspekte bieten sich diesbezüglich an: 1) Die ontologische Unerschöpflichkeit des Seins ist nach Pareyson Zeichen für die Nicht-Reduzierbarkeit des Seins auf einen sprachlichen Ausdruck. Das Sein kann nicht völlig von der darstellerischen Sprache und dem objektivierenden Denken erfasst werden: Diese gleichsam phänomenologische Wahrheit bedeutet aber nicht, dass das Sein und seine Gestalten nicht erforscht oder gedacht werden können. Das Sein und seine Existenz bleiben ein Geheimnis, aber genau darum sollen sie als Geheimnis dargestellt werden: Aus diesem Grund entwickeln sowohl Schelling als auch Pareyson nicht-darstellende und unobjektivierende Sprachen, die die Philosophie in eine Narration, in eine ›spekulative Geschichte‹ (wie im Fall der Weltalter Schellings) oder in eine ontologische Hermeneutik (wie im Fall Pareysons) umwandeln, weil die Ontologie sich aus dieser Perspektive unmittelbar als Geschichte erweist. Diese Umwandlung zeigt, dass die Philosophie in den vorher bestimmten Formen des darstellerischen Denkens nicht gebunden bleibt, sondern die Fähigkeit findet, sich an ein sie überschreitendes Objekt (das Sein) anzupassen und das Sein in seiner unauslöschlichen Unerschöpflichkeit darzustellen. Die Ontologie des Seins selbst führt nach Pareyson zu dieser Umwandlung des philosophischen Sprechens, das aus diesem Grund seine Legitimität und seine Schärfe nicht verliert. Die ›positive Philosophie‹, die Schelling und Pareyson (Letzterer mit einer erklärten nicht nur post-, sondern auch anti-heiddegerianischen Absicht) zu gestalten versuchen, kann deshalb als ›post-heideggerianisch‹ bezeichnet werden, weil sie sich der Unreduzierbarkeit des Seins gegenüber nicht ergibt; die Sprache erschöpft sich nicht, sondern folgt dem Sein in seinem Geheimnis, in seiner schwebenden Zweideutigkeit zwischen Sein und Nichts. Während die Ontologie des heideggerianischen Ereignisses sich im Grunde als negative erweist, versucht Pareyson (mit Schelling), das Prinzip dieser Negativität, dieses immerwährenden Überschreitens des Seins durch eine ontologische Hermeneutik nach187 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

3 · Ontologie der Freiheit: Holzwege zwischen Schelling und Pareyson

zuweisen: Er interpretiert die ›Tautologie‹, zu der das Denken kommt, als das fundamentale Moment der ›Ekstase‹ oder des ›Erstaunens‹ der Vernunft, das ihm ermöglicht, hinter das Geheimnis des Seins zu kommen. 2) Pareyson teilt mit Heidegger sowohl die Kritik an der ontotheologischen Metaphysik des Seienden als auch die Interpretation des Seins als Ereignis, das nach Pareyson die eigentliche Figur der Freiheit ist. Das Sein ist kein Grund, es gibt überhaupt keinen Grund, sondern nur den Ungrund der Freiheit. Warum kann aber Pareyson das heideggerianische Ereignis (›Es gibt‹) als Freiheit interpretieren, insbesondere als er das Verbot Heideggers, jenes ›Es‹ zu benennen, bewusst verletzt? Nach Heidegger kann das ›Es‹ des ›Es gibt Sein, Es gibt Zeit‹ nur bestenfalls das Sein sein (im Sinne des tautologischen Denkens: Sein gibt Sein), weil jede andere Interpretation eine (ontotheologische) ›Gefahr‹ repräsentieren würde. Diesbezüglich schlägt Pareyson wieder den schellingschen Ersatz des Grundes durch einen Ungrund (d. h.: nach Heidegger) vor: Das Sein muss nicht auf einen Grund reduziert werden, denn Schelling hat uns gezeigt, dass es keinen Grund hat, sondern nur einen Ungrund, den Ungrund der Freiheit, aus der ausschließlich die Zweideutigkeit des Seins bestehen kann. Pareyson stellt nicht in Zweifel, dass das Sein zweideutig, d. h., mit dem Nichts – im heideggerianischen Sinne – identisch ist; trotzdem fragt er nach dem Prinzip dieser Zweideutigkeit und findet den ›Abgrund‹ der Freiheit, den er in Gott setzt. Auf diese Weise versucht Pareyson den christlichen Gott (und besonders seine schöpferische Macht) vor der Ontotheologie zu retten, indem er Gott als den schellingschen Gott-vor-Gott, als Abgrund der Freiheit versteht. Seiner Meinung nach entzieht sich der Gott Schellings der heideggerianischen Kritik, weil er nicht Sein, nicht Grund, sondern Freiheit, Abgrund ist. Der Gott Schellings trägt in sich das Prinzip Freiheit, das ihn zwar dunkel und beunruhigend macht – aber auch lebendig und anfangsfähig: Diesem Gott gegenüber geht der metaphysische Grund zugrunde und die von ihm zurückgelassene Leere wird von der Potenz der Freiheit ersetzt. Der stärkste post-heideggerianische Charakter dieses Gottes liegt darin, dass er einen anderen Anfang in sich trägt und erträgt, dessen Name Freiheit ist. Das Prinzip ›Freiheit‹ lässt sich nicht in der Ontotheologie einschließen, weil es aus der reinen Potenz, aus dem reinen Können besteht, und nicht aus dem Sein, das nur als Konsequenz eines ursprünglichen Könnens existieren kann – wie Schelling gezeigt hat: Die Freiheit ist nicht, wie das Sein Heideg188 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Holzwege: Ein ›post-heideggerianisches‹ Denken

gers. Die Freiheit liegt in der Tat vor dem Sein, in dem Reich des reinen Könnens, aus dem sowohl das Sein als auch das Nichts entstammen können (die ›ursprüngliche Indifferenz‹ der Freiheit, von der Schelling spricht). Dank Schelling sah Pareyson die einzige Möglichkeit einer Überwindung der Ontotheologie in einem Gott, der die von Schelling gedachte Freiheit bis zur letzten Konsequenz in sich trägt. Das Sein ist zwar Ereignis, aber nur insofern es für sich entscheidet oder entschieden wird: Das Ereignis Heideggers ist nicht Entscheidung, weil es unmittelbar und ausschließlich ist – oder, in der Sprache Heideggers: ›Das Ereignis ereignet‹ ; hinter ihm steht nur ein anonymes Geschick, das eventuell mit der griechischen Moira metaphorisch identifiziert wird, um einen Namen zu bekommen. Das Geschick der Freiheit ist hingegen die Freiheit selbst, weil sie – wie Pareyson deutlich macht – Anfang des Seins und zugleich Entscheidung für das Sein ist. Diese anfängliche Entscheidung hat keinen Grund, sondern nur den Abgrund der Freiheit, aus der sie stammt. Mit Recht konnte Heidegger sagen: ›Der Grund bleibt ab vom Sein‹ : Denn das Sein kommt aus einem Abgrund. Dem Ab-grund gegenüber muss das Denken eine wesentliche (d. h.: sein Wesen bestimmende) Entscheidung treffen: Soll es sich einem solchen anderen Objekt anpassen oder nicht. Wenn aber das Denken diesen Moment der Verzweiflung, des nötigen Schweigens, der Ekstase durchhält, wenn es die Fähigkeit besitzt, außerhalb seiner selbst zu verharren, ist es schließlich imstande, jenem ›Abgrund der Vernunft‹ eine denkerische Gestalt zu verleihen, deren Name Freiheit ist.

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Anhang Versuch einer Übersetzung

Der folgende Text ist die unveröffentlichte deutsche Übersetzung der Abschiedsvorlesung, die Luigi Pareyson am 27. Oktober 1988 an der Universität Turin hielt und die am 10. April 1989 als ein von dem Präsidium des Regionalrats des Valle d’Aosta angeregter Vortrag in Aosta wiederholt wurde. Sie wurde zuerst veröffentlicht in: L. Pareyson, Filosofia della libertà, Genova 1989, SS. 9–34. Der hier übersetzte Text bezieht sich auf die spätere Veröffentlichung in dem Buch: L. Pareyson, Ontologia della libertà, Torino 1995, SS. 463–478. Die am Rand halbfett geschriebenen Zahlen beziehen sich auf die Originalseiten dieser letzten Edition. Die Sprache Pareysons stellt den Übersetzer vor besondere Schwierigkeiten: Seine geschliffene und faszinierende Sprachweise stellt auch für den muttersprachlichen Leser eine anspruchsvolle Herausforderung dar. Das Denken Pareysons entwickelt sich nicht auf eine systematische, lineare Weise, sondern kann eher als ›philosophische Prosa‹ bezeichnet werden. Trotzdem ist ein Missverständnis seiner Philosophie kaum möglich: Das Denken Pareysons wird durch harte Hiebe gestaltet, was manchmal seine Sprache so grob und unvollendeten Skulpturen ähnlich macht, die trotz ihrer Unvollkommenheit oft vielsagender als vollendete Werke sind; die Begriffe sind zwar oft skizzenhaft, aber ihre Bedeutung tritt klar und deutlich zu Tage, manchmal mit der Hilfe von literarischen oder biblischen Hinweisen. Pareyson war ohne Zweifel kein ›kanonischer‹ Philosoph, weder dem Inhalt noch der Form seines Denkens nach: Sein letztes, hart erkämpftes Werk über eine Ontologie der Freiheit dient als deutlichstes Beispiel eines solchen Stils. Der hier übersetzte Text Philosophie der Freiheit gilt seinerseits als eindrucksvolle summa dieses letzten Versuchs, vielleicht auch wegen seiner von dem Kontext eines öffentlichen Vortrags geforderten Kürze: Aus diesen Gründen wurde er aus der in dem Band Ontologia della libertà enthaltenen Sammlung gewählt. 191 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

463

Philosophie der Freiheit

I.

Der Abgrund der Freiheit und die Grundfrage. Heidegger und Schelling.

Man kann nicht behaupten, dass, als vor sechzig Jahren die Antrittsvorlesung Heideggers Was ist Metaphysik? veröffentlicht wurde, das intellektuelle Milieu ein solches war, das ein einfaches Verständnis derselben erlauben würde. Sie stellte die Frage nach dem Nichts, aber für die damals herrschenden Philosophien, den Idealismus in Italien, den Bergsonismus in Frankreich, die Phänomenologie in Deutschland, war das Nichts kein Thema, sondern wenig mehr als ein Glied einer logischen Opposition. Ich muss ferner sagen, dass ich weit davon entfernt war, sie gründlich verstanden zu haben, als ich sie in den dreißiger Jahren studierte, obwohl ich einen gelinde gesagt begeisternden Eindruck von ihr bekam. Heidegger selbst war sich der innovativen Kraft seiner Schrift vielleicht nicht völlig bewusst: In der Tat verspürte er mehr als einmal das Bedürfnis, darauf zurückzukommen. Aus dem Abstand von vielen Jahren glaube ich, dass man sie heute als einen entscheidenden Schritt in Richtung Realisierung jener Philosophie der Freiheit, die das eigentliche Vorhaben der modernen Philosophie von Descartes bis Fichte war, betrachten kann. Dieses Vorhaben, das von einer zunehmenden Begrenzung des Feldes der Freiheit im Bereich der Moral und von einer unvollständigen Bereinigung des Freiheitsbegriffes von dem der Notwendigkeit behindert war, wurde nicht durchgeführt, man kann es sogar für gescheitert erachten; tatsächlich passierte es aber, dass es genau am Ende der modernen Philosophie einen gab, der es verheißungsvoll wieder aufnahm, und das war Schelling. Man darf hoffen, dass wichtige Hinweise darauf heute aus dem verborgenen, aber sehr engen Band, das Heidegger und Schelling verbindet, stammen können, da es möglich ist, die Freiheit zum eigentlichen Gegenstand zu machen, auch dann 464 wenn man sie nicht auf die Notwendigkeit bezieht, | wie es die mo192 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Philosophie der Freiheit

derne Philosophie ohne Ergebnis unternommen hat, sondern auf das Nichts, wie Heidegger so richtig beschwor. Heidegger hat die Grundfrage ›Warum das Sein viel mehr als das Nichts?‹ wieder in den Vordergrund geschoben, die erstmals von Leibniz formuliert wurde, der aber – zwischen der größeren Einfachheit des Nichts und der größeren Vollkommenheit der Existenz stehend – mit der Erfindung des Satzes vom zureichenden Grund ausschließlich auf der metaphysischen Ebene blieb. Aber der Ansatz Heideggers ist der heutigen Denkweise angemessener, die in die Erfahrung des Nihilismus getaucht für den Reiz des Nichts empfänglich, von der Angst der Existenz durchdrungen ist. Diesbezüglich stammt Heidegger eher von Schelling ab, der die Grundfrage für die ›Frage der Verzweiflung‹ hielt. Zu diesem Ergebnis gelangte Schelling, indem er zwei kantianischen Ideen folgte: Das Erhabene, das besonders in jener Betrachtung des Sternenhimmels zu erfahren ist, der als Vorstellung von den unendlichen Räumen schon Pascal mit Erschütterung übermannte; und was Kant ›Abgrund der Vernunft‹ nannte, der der Taumel dem Unendlichen gegenüber, die Verwirrung an der Schwelle der Ewigkeit, der Schwindel kurz vor dem Abgrund des Erdlochs ist, das sich öffnet, wenn man sich Gott dramatisch vorstellt, während er sich eine beunruhigende Frage stellt: ›Alles stammt aus mir, aber woher komme ich?‹ All dies ließ Hegel unberührt: Seine Gleichsetzung von Rationalem und Realem bot dem Abgrund keinen Platz. Der auf dem Begriff des notwendigen Seins errichtete absolute Idealismus – fundamentaler Pfeiler des modernen metaphysischen Rationalismus – lässt weder dem Nichts noch der Freiheit den geringsten Spalt. Es ist kein Wunder, dass Hegel gegenüber der Betrachtung des Sternenhimmels völlig indifferent war: Die Sterne schienen ihm die ›Lepra des Himmels‹, und die kantischen Passagen über das Erhabene schienen ihm unerträgliche ›Tiraden‹. Außerdem wurde seine Aufmerksamkeit nie von dem hervorragenden Text Kants über den ›Abgrund der Vernunft‹ angezogen, was für einen so vernünftigen und vorsichtigen – und sagen wir doch so nüchtern und farblosen – Autor vollkommen seltsam war. Diesem harten und geschlossenen Rationalismus gegenüber scheint die Perspektive Schellings und Heideggers dem heutigen Zeitgeist näher, der den dunklen und beunruhigenden Aspekten der Existenz gegenüber so aufmerksam ist. Aber es ist nötig, Schelling von jeder restlichen Sorge um die Idee der Notwendigkeit, und Heidegger 193 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Philosophie der Freiheit 465

von | dem dornigen Problem des Verhältnisses zu dem Nichts, dem Sein und den Seienden zu befreien, so dass uns bei dem Ersteren das klare Echo der Freiheit in ihrer Reinheit und bei dem Zweiteren das deutliche und authentische Bild des Nichts begegnet. Um die Idee der Freiheit in ihrer Eigentlichkeit zurückzugewinnen, bietet es sich an, auf die Kategorien der Modalität zurückzugreifen, die bekanntlich drei sind: Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit. Von ihnen ist ohne Zweifel die Wirklichkeit die Wichtigste. Die Möglichkeit ist nur der Schatten der Wirklichkeit, die von ihr abgetrennt und sich in den Hintergrund verzogen hat; die Notwendigkeit ist eine so schwere und hartnäckige Wirklichkeit, die sich an sich selbst klammert und so starr verharrt. Die Wirklichkeit ist hingegen gelassen und leicht, sowohl ohne vorhergehende Ahnung als auch ohne innere Schwere, weder vom Möglichen angekündigt noch auf dem Notwendigen gegründet. Auf der einen Seite bricht sie ein und kommt jeder Erwartung zuvor, auf der anderen Seite hat sie weder Daseinsberechtigung noch Gewicht, das sie treibt und befestigt. Es reicht nicht zu behaupten, dass die Wirklichkeit kontingent ist, was ein weiterer Verweis sowohl auf die Notwendigkeit als auch besonders auf die Möglichkeit wäre. Von der Wirklichkeit lässt sich nicht behaupten, dass sie weder reine Wirklichkeit ist, weil sie sein konnte, noch dass sie ist, weil sie nicht nicht sein konnte, sondern einzig dass sie ist, weil sie ist. Sie ist vollkommen da und grundlos: Sie ist ganz an die Freiheit gekoppelt, die kein Grund ist sondern Abgrund, d. h. ein Grund, der sich immer als Grund verneint. Da sie an die Freiheit gekoppelt ist, kann die Wirklichkeit entweder in ihrem Dasein oder in ihrer Grundlosigkeit betrachtet werden. Betrachtet man sie als Geschenk, erscheint sie als Zugabe: Eine echte Gabe, die durch eine Geste der Großzügigkeit verursacht wurde, reiner Überschuss, der zum Objekt der Bewunderung wird. Wer sie als solche sieht, macht sich zum Zeitgenossen der Schöpfung und nimmt an dem Erstaunen teil, das Gott selbst seinem eben vollendeten Werk gegenüber empfand und das der Psalmist unaufhörlich empfindet: Tu es Deus qui facis mirabilia. Betrachtet man die Wirklichkeit in ihrer Grundlosigkeit zeigt sich ihr finsterer Aspekt; das Leben erscheint als eine Strafe, die zugleich das Bedauern über das Existieren und die Wehmut über das Nicht-Existieren erregt: Besser nicht sein als sein. Es ist das me funai der griechischen Tragiker und Lyriker, das ›besser war, nie geboren zu sein‹ von Sophokles und Theognis; es ist das non nasci von Silenus; es ist die Wehmut Hiobs, nicht direkt vom mütter194 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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lichen Schoß ad tumultum, ins Grab gegangen zu sein; alles Dinge, die sich auf die moderne und zeitgenössische Poesie mit Bitterkeit auswirken: ›Pues el delito mayor del hombre es haber nacido; Quel crime avons-nous fait pour | mériter de naître?; ›T‹ were better Cha- 466 rity / To leave me in the Atom’s Tomb; Not to be born ist the best for man; el horrer de ser y de seguir siendo‹ ; um nicht über den entsetzlichen und fürchterlichen Schrei zu sprechen, der von Shakespeare bis Conrad gehört werden kann: The horror! The horror!; und man muss sich an unseren Leopardi erinnern, der dieses Thema, zurückgeführt auf einen absoluten und deutlichen Nihilismus, zum Zentrum seiner Inspiration machte. Aus diesem Grund erregt die Wirklichkeit über sich Erstaunen und Entsetzen, Angst und Verwunderung: Ihre wesentliche Charakteristik ist die Zweideutigkeit. Die andere Seite des Seins ist das Nichts; die Ontologie wird immer von der Meontologie begleitet, die ihre untrennbare Rückseite ist. Was würde man in dem Abgrund der Freiheit finden, zu dessen Erkundung die Philosophie berufen ist? Nicht nur die Zweideutigkeit der Wirklichkeit, Gegenstand der Ekstase und der Bestürzung; sondern auch die Duplizität der Freiheit, immer zugleich positiv und negativ, nach Selbstbehauptung und Bestätigung strebend und fähig, sich zu negieren und zu verlieren; die Verneigung in allen ihren Aspekten, von dem einfachen Nichtsein einer anfänglichen Begrenzung bis zur absoluten Negativität des Bösen, von dem tüchtigen und wirkenden Nichts bis zur Qual des Leidens; das zweideutige Gesicht der Gottheit, das zugleich der Gott des Zornes und der Gnade ist, der Gott der Wut und des Kreuzes. Also stößt man auf die dramatische Situation des in der Zweideutigkeit verlorenen Menschen, die sich nur vollständig in dem tragischen Denken zeigt, jenseits jeder sterilen Antithese von Optimismus und Pessimismus, die auf gleiche Ebene gesetzte und sehr eng verbundene Glieder sind, so dass man zwischen dem einen und dem anderen hin und her prallt; eher psychologische Kategorien als ontologische, und deswegen völlig ungenügend, um die conditio humana auszudeuten.

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Philosophie der Freiheit

II.

Dostojewski. Die ursprüngliche Bindung zwischen Freiheit und Nichts.

Der Weg für die Suche nach der ursprünglichen Bindung zwischen Freiheit und Nichts ist jetzt offen. Dies scheint das Grundproblem der heutigen Zeit, aber bedauerlicherweise muss man feststellen, dass die Geschichte der Philosophie diesbezüglich sehr wenige Hinweise anzubieten hat. Im Laufe der Jahrhunderte hat die Philosophie einen entschlossenen Widerstand gezeigt, die Probleme des Bösen und der Freiheit in Angriff zu nehmen, die sich nicht in eine alles erklärende Konzeption einordnen lassen. Die philosophische Vernunft verträgt 467 das schlecht, | was sich ihrem Willen zum absolutem Verstehen entzieht, und neigt dazu, alles, was sie in diesem Unternehmen stört, zu vernachlässigen und zu unterschätzen und sogar zu vergessen. So wollte die Philosophie das Böse erfassen, aber sowohl wegen seiner radikalen Unverständlichkeit, als auch wegen der Art der angewendeten Vernünftigkeit tat sie nichts anderes, als es aufzuheben. Angesichts des Bösen hat die Philosophie dieses entweder völlig negiert, wie in den großen rationalistischen Systemen, oder die Unterscheidung zum Guten verringert, wenn nicht sogar beseitigt, wie im modernen Empirismus; oder es untertrieben, indem sie es als bloßen Entzug und Mangel interpretiert hat; oder es außerdem in eine absolute und harmonische Ordnung mit einer präzisen Funktion eingefügt, einer Dialektik folgend, die sogar Satan für den notwendigen Mitwirkenden Gottes hält. Die Theodizee hat Gott und das Böse zu einem Gegensatzpaar eines exklusiven Dilemmas gemacht, ohne zu verstehen, dass sie nur zusammen gedacht werden können. Auf diese Weise gingen die Glut und die Heftigkeit des Bösen verloren und ein Schleier von vergessender und tauber Nachlässigkeit wurde über dem Problem ausgebreitet. Der in ihrer Reinheit betrachteten Freiheit gegenüber hat die Philosophie immer ein offenes Misstrauen, wenn nicht sogar eine gewisse Besorgnis bekundet. Es muss aber zugestanden werden, dass die eigentliche und tiefe Freiheit im Menschen ein Gefühl von Unbehagen und Ehrfrucht erregt, wie Dostojewski mit unvergleichlichem Scharfsinn in der Legende vom Großinquisitor bewiesen hat, indem er die Menschen als unfähig darstellt, das schreckliche Gewicht der Freiheit, die Christus dem Menschen geschenkt hat, zu ertragen. Es ist eine Tatsache, dass die Freiheit Christi der Freiheit der Dämonen gleicht: Sie ist unbegrenzt. Dies erschien nicht nur als eine unerträg196 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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liche Last sondern auch als ein extrem gefährlicher Umstand. Und doch ist die Freiheit unbegrenzt oder es gibt sie nicht. Sie ignoriert Begrenzungen und Gesetze außer die, die sie freiwillig akzeptiert hat. Der Einspruch ist die erste Ausdrucksform ihrer Ausübung als Möglichkeit der Zustimmung oder der Ablehnung. Sie macht sogar vor Gott nicht Halt, indem sie den Anspruch geltend macht, ihn zur Diskussion zu stellen; und er wäre nicht Gott, wenn er ihr dieses Recht abstritte oder nicht zum Gebrauch desselben aufforderte. Er selbst möchte sich aufs Spiel setzen und ist sich völlig des Risikos bewusst, das er eingeht, indem er verlangt, dass die menschliche Antwort auf seine Frage absolut frei sei. Er setzt sich in die Lage, die Rebellion zu verurteilen, nur indem er sie nicht verhindert, weil sie der alleinige Hintergrund ist, auf dem der Gehorsam hervorgehoben und aufgewertet werden kann. Niemand würde ernsthaft bestreiten, dass | 468 das freie Böse besser als das erzwungene Gute ist: Das auferlegte Gute trägt seine Negation in sich, weil das wahrhaft Gute nur das ist, das freiwillig getan wird, auch wenn das Böse getan werden könnte; hingegen hat das freie Böse sein eigenes Korrektiv in sich, das die Freiheit selbst ist, aus der eines Tages das freie Gute entspringen kann. Trotzdem konnte ein schmachtender Spiritualismus denken, dass die Freiheit per definitionem ihr eigenes Gesetz in sich trägt in dem Sinne, dass sie im gegenteiligen Fall nicht Freiheit sondern Erlaubnis wäre. Dieser bequeme, aber unvorsichtige Optimismus könnte vielleicht Naivlinge beruhigen, erweist sich aber als völlig ahnungslos hinsichtlich des tragischen Charakters der Freiheit, die – indem sie sich bewusst ist, dass sie sowohl Prinzip von Verderbnis als auch von Bejahung sein kann – die große Verantwortung übernimmt, jedes Gesetz in Frage zu stellen und nur eins zu erlassen, wenn es in Freiheit angenommen ist. Zum Gegenstand der Besorgnis und des Verdachtes wird von der Philosophie auch die Konzeption eines absolut willkürliche Freiheit besitzenden Gottes gemacht. Dies wird durch die Tatsache erhärtet, dass die Formen des göttlichen Arbitrarismus in der Geschichte der Philosophie sehr selten sind, oft sind sie von der Hypothese des bösen Dämons begleitet. Damit meint man, dass man sich gegen einen willkürlichen Gott verteidigen muss aus Angst davor, dass nicht nur eine beunruhigende Ungewissheit bezüglich seines Verhaltens den Menschen gegenüber von ihm ausgehen könnte, sondern auch eine Besorgnis erregende Unterschiedslosigkeit zwischen dem Guten und dem Bösen. Um diesbezüglich eine Versicherung zu finden, greift 197 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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die Philosophie auf den bekannten Intellektualismus zurück, der Vernunft und Wille in Gott unterscheidet und Letzteren der Ersteren unterordnet; ohne zu bedenken, dass entweder die göttliche Vernunft wirklich die Vernunft Gottes ist und sich mit seinem Willen identifiziert, oder dass sie wirklich von ihm verschieden ist und infolgedessen nichts anderes als eine verabsolutierte menschliche Vernunft ist. Dass der göttliche Wille völlig willkürlich ist, bedeutet nicht, dass er launisch und akzidentell ist, als ob er zufällig handelte oder als ob es ihm ›passierte‹, dies oder das zu wollen; was typisch für einen schwachen und unsicheren Willen wäre, aber nicht für einen beherrschenden und souveränen wie den göttlichen Willen sein sollte. Für die Religion ist hingegen der Wille Gottes weder der Vernunft noch dem Zufall untergeordnet und seine Freiheit ist absolut willkürlich: Die Bibel wird nie müde zu wiederholen, dass Gott alles tut, was er will. Aber darum erregt Gott nicht mehr Angst und Unruhe, als er Trost spendendes Vertrauen einflößt. Auf diese Weise versucht die Philosophie, sich von den Elementen zu befreien, die hinsichtlich einer rationalen Konzeption im Allgemeinen für störend gehalten werden, indem sie die Gewalt des 469 Bösen und das Ungestüm der Freiheit auslöscht, was | dagegen die Religion in ihrer quälenden und herausfordernden Dringlichkeit unberührt lässt. Damit diese Probleme richtig untersucht werden können, bleibt also nichts anders zu tun, als eine philosophische Interpretation des Mythos durchzuführen, so wie er sich in der Kunst und in der Religion zeigt, d. h. nicht als eine zu entmythisierende oder in eine rationale Sprache zu übersetzende Fabel oder Legende, sondern als Enthüllung von unobjektivierbaren Wahrheiten, die sich nur offenbaren, indem sie sich verbergen und die nur auf diese Weise ausgedrückt werden können, und doch ist es philosophisch wichtig, dass sie ausschließlich auf diese Weise ausgedrückt werden. Es handelt sich also darum, in diesem Fall auf eine Hermeneutik der religiösen Erfahrung zurückzugreifen, die sich bisweilen vornimmt, sowohl ihre reichlich menschliche Bedeutung auszudeuten, als auch philosophische Bedeutungen, d. h. universale oder die sich im Großen und Ganzen universalisierbar machen lassen, daraus abzuleiten, so dass alle Menschen, gläubig oder ungläubig, in das Interesse, wenn nicht in den Konsens, miteinbezogen werden können.

198 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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III. Die Freiheit als Anfang und Entscheidung Es gibt also nichts Angemesseneres als die biblische Erzählung der Genesis. Daraus ergibt sich, dass der erste Akt Gottes die Schöpfung war: Der freie Akt par excellence, absolut gegeben und willkürlich; Akt der Freiheit und zugleich der Großzügigkeit, der sich auf seine Affirmation konzentriert und gleichzeitig weiträumig ausdehnt. Aber diesem Akt ist sicherlich ein noch ursprünglicherer Akt der Freiheit vorausgegangen, der allererste Akt, d. h. der, durch den Gott sich selbst erzeugt hat. Es stimmt, dass ein rabbinischer Text diesbezüglich jede Untersuchung verbietet: ›Du hast nicht das Recht nachzuforschen, außer ab dem Tag, an dem die Welt erschaffen wurde‹. Das erste Wort der Thora ist berešit, am Anfang, und der erste Buchstabe ist beth, der rechts geschlossen ist, d. h. auf der Stelle, an der man auf Hebräisch zu lesen anfängt, während er links geöffnet ist, d. h. in die Richtung, in die das Lesen weitergeht. So muss die Nachforschung nicht vor sondern nach der Schöpfung fortgesetzt werden. Trotzdem erzählt derselbe Text den Protest des Buchstabens aleph, weil er nicht ausgewählt wurde, um die Erzählung zu beginnen, obwohl er der erste Buchstabe des Alphabets ist, und die Antwort Gottes: ›Wenn ich das Gesetz auf dem Sinai schenken werde, werde ich genau mit dir beginnen‹ ; und tatsächlich heißt es ›Ich bin der Herr, dein Gott‹, wo das Wort ›Ich‹, d. h. anochí, aleph als Anfangsbuchstaben hat. Es ist vielleicht möglich, daraus zu schließen, dass auch | 470 die rabbinische Theologie auf ein ursprünglicheres Ereignis als die Schöpfung verweist, d. h. auf das Anbrechen Gottes, der von sich selbst ›Ich‹ sagt; und gerade dies ist der absolute Anfang, der erste Akt, durch den Gott sich selbst erzeugt. Die erste Enthüllung der göttlichen Freiheit ist also nicht die Schöpfung, sondern dasselbe Anbrechen der Freiheit, der Akt, durch den die ursprüngliche Freiheit sich durchsetzt, die absolute Gleichsetzung von Gott und Freiheit, die Geburt der positiven Freiheit, die der Schöpfung zugrunde liegt. Die Freiheit ist erster Anfang, bloßer Anfang [cominciamento]. Sie erzeugt sich: Der Anfang der Freiheit ist die Freiheit selbst. Nichts außer sie selbst geht der Freiheit voran: Sie ist Setzung von sich selbst. Was sie kennzeichnet, ist die Augenblicklichkeit ihres Anfangs: Sie setzt nichts, das ihr vorangeht, fort, und nichts von dem, das ihr vorangeht, erklärt ihr Anbrechen. Sie erscheint als eine steile und geglättete Bergwand ohne jegliche Griffsmöglichkeiten. Keine Erwartung zieht sie an und keine Vorbereitung kündigt sie an. Sie 199 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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ist reiner Einbruch, unvorhergesehen und plötzlich wie eine Explosion. Darauf wird angespielt, wenn man über das ›Nichts der Freiheit‹ redet, wie es oft geschieht. Zu sagen, dass die Freiheit aus sich selbst anfängt, heißt nichts anders als zu sagen, dass sie aus dem Nichts anfängt. Die Augenblicklichkeit des Anfangs kann als Hinausgehen aus einem Nichtsein nicht gedacht werden und die Freiheit kann ohne eine Grenze zu einem Nichtsein nicht begriffen werden. Aber der Ausdruck ›das Nichts der Freiheit‹ ist bedeutsam, weil er die Freiheit in Zusammenhang mit einer Negativität setzt genau in dem Moment, in dem sie sich bejaht. Das ist der unwegsamste und schwierigste Punkt des Freiheitsproblems, das darin besteht, zu verstehen, wie die Freiheit gleichzeitig Anfang und Wahl sein kann. Als reiner Anfang ist die Freiheit ein solcher Anfang, insofern sie nicht aufhört anzufangen; aber der so begriffene Anfang ist schon eine Entscheidung, weil die Freiheit nicht anfangen könnte, d. h. aus dem Nichtsein nicht austreten, und sie könnte aufhören, d. h. in das Nichtsein, aus dem sie herausgegangen ist, zurückkehren. In derselben Augenblicklichkeit des Anfangs ist die Alternative schon enthalten: Die Freiheit kann aus dem Nichtsein herauskommen oder dort bleiben, sie kann sich selbst bejahen oder in ihr Nichts zurückfallen. Dass die Freiheit anfängt und sich behauptet, ist nur in Anwesenheit der Möglichkeit, dass sie nicht anfängt oder dass sie zu Ende geht, von Bedeutung. Ihre Selbstbejahung bezieht Wert nur aus dem Kontrast zu der Möglichkeit ihrer Verneinung. Die Freiheit teilt sich und verdoppelt sich im selben Akt des 471 Anfangens, indem sie zeigt, dass sie nur Freiheit ist als | Wahl, als Entscheidung für eine Alternative. Die Freiheit ist dann an sich zweifach, anceps, zweideutig, und diese innere Trennung entfaltet sich als Kontraposition von zwei Elementen: Positivität und Negativität, positive Freiheit und negative Freiheit, sich bejahende Freiheit und sich vereinende und vernichtende Freiheit. Der einzige Ursprung der Dyade, des Gegensatzes, des Widerspruchs ist die Freiheit, weil es keinen anderen Widerspruch, keinen anderen Gegensatz, keine andere Dyade gibt als die Alternative, die die Freiheit in sich selbst ist, als Anfang und Wahl zugleich. Die Freiheit ist als solche also nicht ohne Verneinung. Aber die Verneinung als Element der Wahl ist etwas ganz anderes im Vergleich zu dem anfänglichen Nichtsein der Freiheit. Dieses Erstere ist eine einfache Begrenzung, eine Grenze des Nichtseins, ein untätiges Nichtsein, das man überwinden muss; das Letztere ist ein Nichts, in 200 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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das man abstürzen könnte, ein tätiges Nichts, mit dem man kämpfen muss, eine aktive Verneinung, die sich als Siegerin erweisen könnte. Ein qualitativer Übergang kam dazwischen, in dem das anfängliche Nichtsein seinen Negativitätsquotienten steigerte und eine entgegengesetzte Kraft und eine vernichtende Macht wurde, so wie das Böse eine solche ist. Dies ist die Arithmetik der Freiheit: Nichtsein plus Freiheit gleich Böse. So groß ist die Energie der Freiheit, dass sie das untätige und ruhende Nichts in ein dynamisches und aktives Nichts verwandelt, die Leere des Nichtseins in die Potenz des Bösen, eine einfache Begrenzung in eine vernichtende Kraft, einen bloßen Anfangspunkt in eine verheerende Verneinung. Es geht nicht darum, wie man meinen könnte, das Nichts und das Böse in die einfache Verneinung zurückzubringen, was extrem schwach und reduzierend wäre, sondern, im Gegensatz dazu, darum zu verstehen, wie aus der einfachen Verneinung die aktive Negativität, d. h. das Böse und das Nichts, entspringen konnte. Das potenzierende Element ist die Freiheit, die wohltuende und schöpfende Energie und zugleich tödliche und zerstörende Kraft ist, ein die Wirklichkeit bereichernder, ontologischer Zuwachs und vernichtender Wirbelsturm, der das Universum durchquert und erschüttert, frische und leuchtende Lebenswucht und dunkler und verhängnisvoller Todesimpuls. Hier erscheint das gesuchte ursprüngliche Verhältnis zwischen Freiheit und Nichts. Die negative Grenze der Freiheit zögert nicht, sich in einen regelrechten Kontakt zu dem Nichts zu verwandeln, den nur eine Philosophie der Freiheit – und nicht eine Philosophie des Seins – imstande ist zu erläutern. Nicht das Sein ist in Kontakt zu dem Nichts: Der eigentlich ursprüngliche Kontakt besteht zwischen Nichts und Freiheit. Wo das Problem des Nichts auftritt, dort gibt es die Freiheit, und | umgekehrt. Der Kontakt zu dem Nichts 472 kennzeichnet nicht nur die negative Freiheit, sondern die Freiheit an sich als Wahl. Die Freiheit kann nur positiv sein, wenn sie die Verneinung erfahren und sie vernichtet hat, indem sie sich als Siegerin über das Nichts und das Böse präsentiert. In einer Philosophie des Seins gibt es wegen der Abwesenheit der der Freiheit als Wahl innewohnenden Alternative nichts anderes als vollständige, kompakte Positivität, die dem Nichts keinen Raum lässt, und insofern das Böse als Nichtsein herabsetzt, als Mangel, Entbehrung, so dass das Nichts und das Böse nur illusorisch ausgelöscht werden. In einer Philosophie der Freiheit ist hingegen das Nichts nicht peripher und oberflächlich, sondern zentral und tiefgreifend: Nur das, was negativ sein könnte, 201 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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verdient den Namen ›positiv‹ und ›gut‹ ist nur das, was riskierte, böse zu sein. Keines dieser Elemente existiert ohne Bezug zu dem anderen und das nicht aufgrund einer logisch-dialektischen Notwendigkeit, sondern aufgrund der mächtigen und lebendigen Energie der Freiheit, die fähig ist, beide abwechselnd zu beleben. Dank der Freiheit erhebt sich und behauptet sich das Gute, aber ebenfalls dank der Freiheit entsteht und greift das Böse um sich. Die Geburt der positiven Freiheit ist folglich mit dem ursprünglichen Kontakt zwischen der Freiheit und dem Nichts eng verbunden und besteht in dem allerersten Akt – Anfang und Wahl zugleich –, mit dem Gott sich selbst erzeugt und sich als ursprüngliche Positivität setzt. In den unvordenklichen Finsternissen erstrahlt plötzlich ein Blitz: Es ist ein Wille, der sich behaupten will und dem dies gelingt. Dieser ist Gott, d. h. die Freiheit, die sich durch einen allerersten Akt behauptet hat, obwohl sie sich hätte verneinen können, so dass sie sich als positiv und siegreich über die Verneinung erwiesen hat. Nichts ist so dramatisch wie der Akt, durch den Gott sich selbst erzeugt, weil er ein Kampf ist zwischen dem Willen und der Begierde Gottes, sich selbst zu behaupten, und der Gefahr, dass das Nichts und das Böse siegen. In diesem Kampf spielt das Böse seinen höchsten Trumpf aus, so dass die Erzeugung Gottes selbst aufs Spiel gesetzt wird und ein Scheitern riskiert. Die göttliche Positivität wird geboren, wenn die ursprüngliche Wahl das Böse bezwingt, indem sie es endgültig verworfen hat. Es war ein ungeheurer und schrecklicher Vorgang, in dem die Alternative entschieden wurde: Entweder die positive Freiheit oder der Triumph der Verneinung, entweder der Sieg über das Böse oder der Sieg des Bösen, entweder die Existenz Gottes oder ›das ewige Nichts‹. Zu sagen ›Gott existiert‹ bedeutet nichts anderes als zu sagen: ›Das Gute wurde gewählt‹.

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| IV. Möglichkeit und Wirklichkeit des Bösen Was anders ist Gott, außer der Sieg über das Nichts und das Böse, die ursprüngliche Positivität, die die Macht der Verneinung zerquetscht hat? Aber genau an dieser Stelle stellt sich ein bestürzendes und verwirrendes Element vor: Das Böse in Gott. Der herrliche und strahlende göttliche Sieg ist von einem dunklen und trüb aussehenden Vorhang wie verschleiert. Eben um Positivität zu werden, musste Gott die Verneinung kennen und das Negative erfahren. Eben um die 202 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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negative Möglichkeit zu verwerfen, musste er sie in Betracht ziehen. Eben weil er sein will, muss er die Negativität besiegen, das Böse und das Nichts, die die Gefahr für seine Inexistenz sind. Es ist ohne Zweifel verwirrend zu sagen, dass das Böse gleichzeitig mit Gott existiert, und dass Gott selbst es erzeugt und eingeführt hat; aber, um ehrlich zu sein, können diese Behauptungen nicht vermieden werden. Vor allem ist das Böse gleichzeitig mit Gott, weil es ein Ereignis seiner Erzeugung und eine Episode seines Anbrechens ist, weil es in jenem zeitlosen Akt geboren wird, in dem die ursprüngliche Freiheit sich durchsetzt, nur indem sie die alternative Möglichkeit des Nichts besiegt. Außerdem hat Gott das Böse eingeführt, in dem Sinne, dass er in dem Akt der Selbsterzeugung das untätige und leere, anfängliche Nichtsein in jenes tätige Nichts, das das Böse ist, verwandelt hat, und es war dann in einem Sinn er, der es in das Universum gebracht hat, wo es früher nicht war. Es stimmt, dass in der Erzeugung Gottes das Böse schon als besiegt entsteht und als nicht real bestimmt wird, sondern nur als möglich. Das Böse wurde auf der Schwelle zur Wirklichkeit gehalten, ohne in sie eingehen zu können, und gerade sobald es sich zeigt, versinkt es in der Inaktualität. Es ist wie eine Vergangenheit, die nie anwesend war, und wie ein Bild, das nie wirklich war. Das schließt nicht aus, dass es seine Spur und seinen Stempel in Gott hinterlassen hat, und dieser Vorgang wird das Böse in Gott genannt. Es geht nicht um einen richtig dunklen Aspekt der Gottheit oder um einen finsteren Grund, sondern einfach um einen Schatten, eine Art von Verfinsterung seines Glanzes. Von der Alternative des Bösen verbleibt in Gott ein Rest als eine in der Vergangenheit von der Niederlage verhinderte Möglichkeit, die durch die misslungene Realisierung ausgeschaltet wurde: Ein einfaches Zeichen, schwach und unsicher, eine verblasste Fährte, eine zum Schweigen gebrachte und eingeschlafene Möglichkeit; aber sie bleibt immerhin eine beängstigende Gegenwart. Es ist als ob dieser unwirksame | Rest 474 noch eine Gefahr darstellen könnte, sicherlich nicht auf der Seite Gottes, der das Böse ab aeterno besiegt hat, sondern auf der Seite von jemand anders, der überraschend hinzugekommen in diesem in den göttlichen Abgründen latenten und schlafenden Bösen einen Antrieb und quasi eine Einladung zu einem unheilvollen Wiederbeleben und zu einer fatalen Verwirklichung finden kann. Dieser Wiedererwecker des Bösen, wie die biblische Erzählung lehrt, ist der Mensch. Der Ursprung des Bösen ist Gott, aber der eigentliche Urheber ist der Mensch, der die vollkommene Verantwor203 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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tung für diese Realisierung trägt. Der Mensch ist nicht der Urheber der Verneinung, aber er belebt sie wieder, er trägt sie in die Wirklichkeit, er bietet sich an als ihr Handlanger und ihr Werkzeug. Und die unverdächtige Energie, die er bei diesem Unternehmen zeigt, kommt aus der Freiheit, aus jener selben Freiheit, die hingegen in Gott das Gute verwirklicht hat, indem sie das Böse besiegte. Die Verneinung, die als von der (göttlichen) Freiheit schon besiegte geboren wurde, kann nur aus der (menschlichen) Freiheit neue Kraft und neues Leben ziehen. Dieser Gebrauch oder Missbrauch der Freiheit zeigt eine überwältigende Reserve an Negativität und eine außergewöhnliche, destruktive Neigung. Das dritte Kapitel der Genesis ist eine unangenehme und Furcht einflößende Beschreibung des Gewirrs von Zweideutigkeit und Äquivozität, von Lüge und Verfälschung, von unehrlichen Vorwänden und heimtückischen Betrügen, die in dem Abfall des Menschen zusammenwirken. Es ist schon bestürzend, dass der Mensch das schlafende Böse in Gott wiedererweckt hat, aber wie er das machen konnte, erregt Schwindel und Schrecken, so düster, finster und doch, sagen wir, unergründlich ist der Abgrund des Bösen. Zum Abfall des Menschen tragen drei Elemente bei: Die in Gott verborgene Möglichkeit des Bösen, die Energie der Freiheit, die in Gott sehr mächtig ist und nicht weniger in dem Menschen, und eine Negativitätskraft, die den Aspekt eines blasphemischen Verhaltens der Gottheit gegenüber annimmt. Das, was entsteht, ist der wohlbekannte Aufstand des Menschen. Aber worin besteht eigentlich dieser Aufstand? In dem Anspruch, die göttliche Erzeugung zu wiederholen. In dem Anspruch, sich im Kern selbst dieser Erzeugung zu stellen, indem man die Stelle Gottes annimmt und sich dem Versprechen der ›alten Schlange‹ anvertraut: wehiitem kelohim, eritis sicut dii. Im Laufe dieses unsinnigen und gewaltigen Versuches kann der Mensch die Verneinung nicht beherrschen, die sich als Alternative zu der göttlichen Entscheidung dargestellt hatte, und die Gott imstande war durch den Akt der positiven Freiheit, aus der seine eigene Exis475 tenz stammte, auszuhebeln. Die Verneinung fällt | aus den Händen des Menschen herunter und wendet sich gegen ihn, der gewagt hat, sie wiederzubeleben; und er kann nicht nur nicht Gott sein, sondern fällt unter seine Menschlichkeit, indem er das Schicksal von Verderben und Tod, von Selbstvernichtung und Vernichtung von allem auf sich nimmt. Der Mensch verwandelt nicht nur die in Gott verwurzelte einfache Möglichkeit des Bösen in eine hitzige und verhängnisvolle Wirklichkeit, sondern vielmehr dieselbe göttliche Positivität in eine 204 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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Provokation, als ob sie damit beschäftigt wäre, seine Freiheit herauszufordern, ihn zum Aufstand anzuspornen, ihm die Wege der Übertretung zu weisen. So schreibt Dostojewski in der Weiterführung des blasphemischen deutschen Titanismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts seinem ›heiligen Sünder‹ den Traum vom Sturz Gottes zu, um an seine Stelle zu treten, und Nietzsche behauptet, Hybris ist unsre Stellung zu Gott: Gott gegenüber ist das Verhalten des Menschen anmaßend und arrogant. Kraft des Bandes, das sie ursprünglich mit dem Nichts verbindet, ist jedenfalls die Freiheit eine enorme und unheimliche Macht: In Gott ist sie die Macht, gegen das Böse und das Nichts zu existieren, nachdem sie sie erobert hat, und als ursprüngliche Positivität aufzutreten, d. h. auf ihrem Herrlichkeitsthron zu sitzen und die Erde als Hocker zu haben; in dem Menschen ist sie die Macht, sich zu verlieren, wenn er will, und die Zerstörung seiner selbst und des Restes zu wählen, indem er in dem Feuer- und Schwefelsee und in der Finsternis draußen versinkt, wo Heulen und Zähneknirschen ist. Der erste Akt der Freiheit war in Gott ein Akt der positiven Freiheit und in dem Menschen ein Akt der negativen Freiheit. Ein Riesenunterschied, ein erschreckender und irreversibler Untergang. Ist es möglich, diesen unheilvollen Niedergang anzuhalten und auf Gegenkurs zu gehen? Erneut kommt die Bibel zu Hilfe, die sowohl im alten als auch im neuen Testament das Leid als einzige wirksame und entscheidende Abhilfe zeigt. Nur die Religion kann in ihrem Zusammenhang mit der Schuld dem Leid einen Sinn verleihen, weil sie es nicht nur als Strafe meint, sondern vor allem als Sühne und Erlösung, sogar als Enthüllung des letzten Sinnes der Dinge.

V.

Erlösender und enthüllender Wert des Leidens

Die dialektischen Konzeptionen des 18. und 19. Jahrhunderts haben die Potenz des Negativen hervorgehoben, weil sie darin den Motor | 476 der Geschichte sahen; aber sie haben das wahre und eigentliche Böse, die Schuld und die Sünde, nicht weitgehend genug von dem Leid unterschieden. Das Böse kann nicht konstruktiv sein: Auch wenn es ins Extreme getrieben wird, führt es nicht mit dialektischer Notwendigkeit durch eine Umkehrung zur Positivität. Es ist von sich aus verheerend und ruinös: Seine Macht ist groß, aber ausschließlich vernichtend. Sie ist nicht die Feder des Fortschritts, sondern der Weg 205 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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des Verderbens. Das positive Ergebnis ist hingegen dem Leid eigen, die einzige Kraft, die der des Bösen ungeheuer überlegen ist. Die Macht des Bösen ist groß, aber die Macht des Leids ist größer. Nur das Leid ist stärker als das Böse: Die einzige Hoffnung, das Böse zu bezwingen, wohnt dem Leid inne, das, so quälend und peinigend sein Wirken ist, die verborgene Energie der Welt ist, die einzige, die die Fähigkeit besitzt, jeder Zerstörungsneigung zu widerstehen und die tödlichen Wirkungen des Bösen zu besiegen. Das Leid erscheint in erster Linie als Bestrafung: Es ist die dem Menschen wegen seines Abfalls auferlegte Strafe. Aber wenn das Leid auf die Letztere reduziert wird, unterliegt es dem Risiko, eine Steigerung der Negativität zu werden: Böses zu Bösem. Nun ist es in der grandiosen Ökonomie des Universums weniger wichtig, dass der Bösartige bestraft wird, als dass er sich befreit. Die Strafe ebnet weder ein noch gleicht sie es aus; nur die bloße Gerechtigkeit kann damit zufrieden sein, die ohne Freikommen des Menschen ihr Reich in der Wüste der Verheerung errichten würde: fiat iustitia, pereat mundus. Die Strafe geht nicht über die Grenzen des Bösen hinaus; sie kann hingegen den Bösartigen verbittern, ihm in der finsteren Beharrlichkeit der Reuelosigkeit Anlass zum Groll werden, Gelegenheit zum Aufstand, Anfang der Verrohung. Die Strafe als ausschließlich erlittenes Böses macht nichts anderes, als das Böse zu multiplizieren. Aber das Leid, das stärker als das Böse und darüber siegreich ist, ist die Buße, das akzeptierte Leid, jedoch gewollt, gewünscht und gesucht. Der Sünder hat den Wunsch nach Buße, der vielleicht das Leid schon in der tiefen Qual der Reue und in den beklemmenden Widrigkeiten der Kehrtwende vorwegnahm, um sich von seiner Schuld zu erlösen und sie zu tilgen, er verlangt sie als Geißel, die Entlastung geben kann, als Bußgürtel, der sich in Erleichterung verwandelt. Ohne aufzuhören, Qual und Tortur zu sein, wird schließlich das Leid Balsam und Linderung; der Sünder, auch wenn er in dem Gefängnis der Bestrafung eingesperrt ist, fühlt sich kraft der erlösenden Buße davon befreit. In der Buße kann das schrecklichste Leid Sitz der lautersten Glückseligkeit werden. Als Kolja erfährt, dass 477 der unschuldige Dimitrij | Karamazow bald deportiert wird, ruft er aus: ›Was für ein glücklicher Mensch!‹. Dieser Wille zum Leiden hat nichts mit der trüben und zweifelhaften Alchimie der voluptas dolendi oder mit der düsteren und zweideutigen Lust des Masochismus zu tun, sondern er ist Wiedererlangung der ursprünglichen Ehrlichkeit und wahrhafte Quelle der Aufrichtigkeit. 206 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

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Hier setzt die Algebra des Leidens mit ihrer ganzen Wirkungskraft ein: Minus mal minus ist plus. Das Böse plus das Leid ist keine Steigerung des Negativitätssatzes des Universums. Es ist weder eine Verdoppelung noch eine Multiplikation des Bösen, sondern seine Elimination. Die Freiheit hat das Böse in der Welt eingeführt und mit dem Bösen auch das Leid. Diese zwei Exzesse, die sich gegenseitig weder addieren noch neutralisieren, von denen aber der Zweite Sieg über den Ersten ist. Aus zwei Negativitäten wurde eine Positivität geboren. Durch den Abfall wollte der Mensch die göttliche Erzeugung wiederholen und er ist miserabel gescheitert. Er sieht jetzt, dass die eigentliche menschliche Wiederholung der göttlichen Erzeugung das Leid als Buße, folglich als Sieg über das Böse ist. Aber die Macht des Bösen endet hier nicht. Das seines erlösenden Werts bewusste Leid wird enthüllendes Zeichen: Es öffnet das schmerzende Herz der Wirklichkeit und enthüllt das Geheimnis des Seins. Es lehrt, dass das Schicksal des Menschen die Buße ist und dass das Leid, das stärker als das Böse ist, der Sinn des Lebens und die Seele des Universums ist. Das Leid zeigt sich als Umkippen der Negativität in die Positivität, als Angel der Freiheitsgeschichte, als Schlüssel, um das Schicksal des Menschen und die Wirklichkeit der Welt zu verstehen. Woraus kommt die Macht des Leids? Aus der Tatsache, dass auch Gott leidet. Sogar Gott ist das Leid eigen: divinum est pati. Gott will leiden. Darauf wird er von jenem kenotischen Teil der Schöpfung vorbereitet, in den er sich in sich zurückgezogen hat, er hat sich freiwillig begrenzt und verkleinert, um für den Menschen und seine Freiheit Platz zu schaffen. Die menschliche Freiheit hat mit einem bewussten und freiwilligen Opfer Gottes begonnen. Aber seit der Mensch die Schöpfung zum Scheitern brachte, gab es nur eine Folge von Qualen: Das Leiden, das eigene Werk vom Menschen beschädigt zu sehen; festzustellen, dass der eigene Wunsch nach Einverständnis und Mitwirken von Seiten des Menschen unerfüllt und enttäuscht geblieben ist; dem Ruin des Menschen beizuwohnen, obwohl er mit dem unschätzbaren Vorrat an Freiheit ausgestattet wurde; die in dem Menschwerden freiwillig angenommenen Qualen, um den Menschen zu erlösen, bis zur Übernahme der Sünde, zur Unterwerfung unter den Tod, zum sich | dem Verlassen Gottes Aussetzen, zum Abstieg in 478 den Abgrund der Verzweiflung. Die einzige Wurzel des Bösen und des Schmerzes, der das Geheimnis des Leidens ist, dessen Schleier

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nur von der Religion gelüftet werden kann, besteht in diesem göttlichen Willen, für den Menschen zu leiden. Das Leiden ist der Ort der Solidarität zwischen Gott und Mensch: Nur im Leiden können Gott und Mensch ihre Mühen verbinden. Es ist außerordentlich tragisch, dass Gott es schafft, nur im Schmerz den Menschen zu retten, und dass es dem Menschen gelingt, sich zu befreien und Gott zuzuwenden. Aber es liegt genau in diesem göttlichen und menschlichen Mitleiden, dass der Schmerz sich als die einzige Kraft zeigt, die fähig ist, mit dem Bösen fertig zu werden. Dieses Prinzip ist einer der Eckpfeiler des tragischen Denkens: Dass es kein Zusammenwirken zwischen Gott und dem Menschen in der Gnade gibt, ohne dass es früher dieses in dem Leiden gegeben hat; dass ohne Schmerz die Welt rätselhaft und das Leben absurd erscheint; dass ohne Leiden das Böse unerlöst und die Freude unerreichbar bleiben. Kraft jenes Mitleidens zeigt sich der Schmerz als die lebendige Verbindung zwischen Gottheit und Menschheit, als eine neue copula mundi; und deshalb muss das Leid als Bolzen für die Rotation vom Negativen zum Positiven, als der Rhythmus der Freiheit, der Angelpunkt der Geschichte, der Pulsschlag des Realen, das Band zwischen Zeit und Ewigkeit betrachtet werden; kurz, als eine Brücke, die zwischen der Genesis und der Apokalypse geschlagen wird, zwischen der göttlichen Erzeugung und der Apokatastasis. Das Leiden verursacht die Krise jener objektivierenden und demonstrierenden Metaphysik, jenes harmonischen und vollendeten Systems, jener Philosophie des Seins, die nur um den Grund besorgt ist. Nur im Leiden liegt der Sinn der Freiheit und offenbart sich das Geheimnis jener universalen Geschichte, die Gott, den Menschen und die Welt in eine tragische Geschichte des Bösen und des Leidens, der Sünde und der Sühne, des Verderbens und des Heils hineinzieht.

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Ausblick Alles ist hier Weg des prüfend hörenden Entsprechens. Weg ist immer in der Gefahr, Irrweg zu werden. Solche Wege zu gehen, verlangt Übung im Gang. Übung braucht Handwerk. Bleiben Sie in der echten Not auf dem Weg und lernen Sie unent-wegt, jedoch beirrt, das Handwerk des Denkens. 1 Martin Heidegger an einen jungen Studenten

Die Anforderung des Denkens Schellings, besonders in seiner mittleren und späten Phase, besteht darin, das Absolute positiv zu denken. Diese Aufgabe geht aus der phänomenologischen Feststellung hervor, dass das Reale und das Ideale nicht gleich sind. Das in sich alle Widersprüche aufhebende Absolute entspricht nicht der realen, widersprüchlichen Wirklichkeit, in der der Mensch denkt. Die größten Fragen der antiken Philosophie betrafen dasselbe Problem, obwohl sie natürlich anders formuliert wurden: Der unerklärbare Übergang von der Identität zur Differenz (als beredtestes Beispiel kann man Der Sophist Platons nennen). Das erste Element dieses Paars (d. h. die Identität, das Absolute, das Ideale) zeigt sich immer als das Andere des Denkens schlechthin, in der Form eines Un-vor-denklichen, d. h. als etwas, das dem Denken selbst vorangeht, obwohl es von dem Denken auf irgendeine Weise bestimmt wird. Der paradoxale, ontologische und gnoseologische Charakter dieses Elements ermöglicht zwei entgegensetzte Haltungen ihm gegenüber: Entweder legt man den Schwerpunkt auf den Aspekt der Unvordenklichkeit, des Andersseins, des absoluten Vorrangs der menschlichen Denkfähigkeit gegenüber – oder man zieht die Tatsache vor, dass dieses Element nur in und von dem Denken bestimmt werden kann, so dass seine Existenz im Grunde mit seinem Gedacht-Sein identifiziert wird. Die Schwierigkeit, diese zwei Perspektiven zusammenzuhalten, ohne ihr instabiles Gleichgewicht zu verlieren, zeigt sich deutlich in dem devenir des schellingschen Denkens. Sicherlich offenbart sich dem menschlichen Denken und seinen Schemata das, was man das ›Absolute‹ nennt – jener in der Phäno-

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GA 7, 187.

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Ausblick

menalität sich zeigende ›Überschuss‹, um mit Husserl zu sprechen: Darin findet die Philosophie ihren Ursprung. Dennoch ereignet sich diese Offenbarung vielleicht nicht, um sich von dem Denken bestimmen oder be-greifen zu lassen, sondern damit das Denken sie als solche, d. h. in ihrer Wahrheit, bewahrt: Nach der Auseinandersetzung mit dem Denken Schellings und Pareysons wagt die vorliegende Arbeit, diese These aufzustellen. Der philosophische Werdegang Schellings, den Pareyson fortzusetzen versucht, gestaltet sich durch den stetigen Kampf, das oben genannte Gleichgewicht nicht zu zerstören, oder mit anderen Worten: Dem Absoluten und seinem Anders-Sein Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die Tradition, zu der auch Schelling gehört und in deren Fußstapfen er denkt, hatte der menschlichen Vernunft deutlich den Vorrang gegeben: Ohne Kant im Hintergrund bleibt Schelling (und besonders der späte Schelling) nicht richtig verständlich. 2 Schelling war sich des kantischen Verbots gänzlich bewusst, ein Verbot, das aber nur in der ›negativen‹ Philosophie gelten konnte: Die schellingsche Aufteilung der Philosophie dient eben dazu, den Schritt jenseits von Kant zu ermöglichen und zu legitimieren. Aus diesem Grund ereignet sich die von dem Denken erfahrene Verlegung von der Negativität seiner Begriffe zu der absoluten Positivität seines wahren Objekts in dem Moment einer ›Ekstase‹, einer nicht zufällig mystisch klingenden Figur, die dem Denken unentbehrlich wird, um diese verlangte Überschreitung zu vollziehen. Die späte Philosophie Schellings zeigt aber, dass diese Überschreitung nicht das Denken selbst und seine Vernünftigkeit betrifft, sondern das ontologisch-metaphysische Paradigma, in dem das Denken sich immer geübt hat; es geht nicht mehr darum, etwas zu be-greifen, sondern vielmehr darum, des Unbegreifbaren gewahr zu werden. Dank seiner ›Entdeckung‹ der ontologischen Figur der Freiheit konnte Schelling diese Herausforderung in Angriff nehmen: Die in ihrer Reinheit (d. h. als Ungrund) gedachte Freiheit erscheint schon in den Philosophischen Untersuchungen von 1809 als die einzige denkbare Gestalt, die jene ursprüngliche Dualität des Grundes und der

W. Jacobs hebt der Einfluss Kants auf Schelling sehr klar hervor: vgl. z. B. Jacobs 2004. S. auch den Beitrag von M. Ruta, der Schelling als den letzten der Postkantianer bezeichnet: vgl. Ruta 2015. Außerdem ist es kein Zufall, dass es eine »post-kantische« Philosophie gibt, die sich als eine der prägendsten Bestimmungen des ganzen deutschen Idealismus erweist: vgl. dazu die Einleitung zu Arndt-Jaeschke 2012.

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Existenz in jedem Wesen (Gott inbegriffen) beherrschen kann. Infolgedessen ergibt sich eine wesentliche Veränderung in der Ontologie selbst: Wenn die Freiheit als letzter Grund jedes Wesens und folglich als die eigenste Natur Gottes selbst gedacht wird, fungiert sie ihrer Natur wegen nicht tatsächlich als Grund, sondern als Un-grund, weil die Freiheit ontologisch nicht begründet ist und auch nicht begründet werden kann. Die darauffolgende Reflexion Schellings konzentriert sich in der Tat auf diesen Punkt: Dem von der Freiheit verkörperten Ungrund eine positive Gestalt zu geben. Die Freiheit wird infolgedessen – eben weil sie ein Ungrund ist – die Figur des Ursprungs und des Anfangs schlechthin, nämlich des Anfangs Gottes selbst: Das Absolute, oder Gott, wird eben dank einer von der Freiheit verursachten Trennung in zwei entgegensetzte Prinzipien (Grund und Existenz, Sein und Seiendes, Dunkelheit und Licht) lebendig, d. h., dass die ›Aktualisierung‹ oder die ›Verwirklichung‹ des Absoluten oder Gottes nur aus Freiheit geschehen kann. Ohne diese Verwirklichung des Absoluten zu denken, bleibt Letzteres ein bloßer, ›toter‹ Begriff. Schelling bleibt einem der leitenden Prinzipien seiner Philosophie treu: Alles wird nur in seinem Gegenteil offenbar. Das Absolute manifestiert deshalb seine Wirklichkeit durch eine Trennung, eine ›Entzweyung‹, die an sich keine Daseinsberechtigung, keinen Grund hat, – sondern sie ist nur auf den Ungrund der Freiheit rückführbar. Man muss sich immer daran erinnern, dass aus dieser unbegründeten ›Entzweyung‹ Gottes seine eigene Existenz und folglich das Sein selbst stammen; mit diesen Gedanken antwortet Schelling ferner auf eine alte und beunruhigende Frage: Warum gibt es überhaupt das Sein und nicht das Nichts? Wenn es einen Grund, d. h. einen Gott, gibt, woraus kommt dieser Grund? Schelling fasst den beängstigenden Abschnitt aus der Critik der reinen Vernunft wörtlich auf: ›Die unbedingte Nothwendigkeit, die wir als den letzten Träger aller Dinge so unentbehrlich bedürfen, ist der wahre Abgrund für die menschliche Vernunft. […] Man kann sich des Gedanken nicht erwehren, man kann ihn aber auch nicht ertragen, daß ein Wesen, welches wir uns auch als das höchste unter allen möglichen vorstellen, gleichsam zu sich selbst sage: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir ist nichts ohne das, was bloß durch meinen Willen etwas ist; aber woher bin ich denn?‹ (KrV, B 641).

Dieser Abgrund der menschlichen Vernunft hört nach Schelling auf einen bestimmten Namen, der positiv ausgedrückt werden kann:

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Freiheit. Die Existenz des ›letzten Trägers aller Dinge‹ entstammt dem Ungrund der Freiheit, seiner Freiheit. Die Antwort ist aber alles andere als beruhigend, weil die Freiheit nicht unmittelbar mit der Bejahung des Seins verbunden ist, wie Schelling deutlich zeigt, sondern zwischen Sein und Nichts schwebt. Die Erlanger These lautet: Das Verb der Freiheit ist nicht das Sein, sondern das Können, das ›Seynkönnen‹. Die ›Lauterkeit‹ der Freiheit, aus der die Existenz Gottes selbst stammt, wird von Schelling als reine Potenz erfasst (potentia ultima), die vor dem Sein ist, und deren Reinheit in einer ursprünglichen Indifferenz sowohl dem Sein als auch dem Nichts gegenüber besteht: Die als reines (Sein)Können begriffene Potenz schien Schelling der einzig mögliche Begriff eines wirklichen Anfangs, d. h. eines Anfangs, nach dem etwas anderes folgen kann. Das führt zu der Idee einer ›Herablassung‹ Gottes, der sich ›potentialisiert‹, oder der sich zur Potenz macht, damit etwas anderes entstehen kann: Ab actu ad potentiam – darin besteht die ontologische Dynamik des Ungrundes Schellings, die den Begriff des Fundaments wesentlich verändert, indem die Kategorie der Möglichkeit, des Sein-Können, als die vorrangige Kategorie in der Ontologie des Fundaments gesetzt wird. Der Ungrund der Freiheit gestaltet sich auf diese Weise nicht als Gegen-Modell des Grundes, weil er sich auf ein Feld bezieht, das sich außerhalb oder jenseits der Ontologie des Seins befindet. Es wäre vielleicht sogar besser, nicht über eine ›Ontologie‹ des Fundaments zu sprechen, sondern über seine ›Gerechtigkeit‹, 3 um die Differenz zwischen Grund und Ungrund noch tiefer zu betonen: Der Ungrund entspricht keiner Onto-logie, weil er vor dem Sein ›ist‹ – er entspricht zwar einer eigenen Gerechtigkeit, einer Logik, die aber der Dynamik einer abgründigen Freiheit (deren Verb das Können ist) entspricht. Es geht um das Gebiet des Unvordenklichen, nämlich ›das, was vor dem Seyn steht‹. Vor dem Sein und nicht gegen: Darin liegt vielleicht die ›post-heideggerianische‹ Stärke des Ungrundes Schellings, die Pareyson mit dem ihm eigenen Scharfsinn ein Jahrhundert später herausarbeiten konnte. Die als der Abgrund Gottes erfasste Freiheit lässt der zweideutigen, widersprüchlichen, endlichen Wirklichkeit, die Pareyson dank seines quälerischen Existenzialismus sehr deutlich vor Augen hatte, Gerechtigkeit widerfahren: Die Endlichkeit Dieser Begriff wird mit besonderer Wirksamkeit in der Reflexion des Theologen P. Sequeri als alter-Begriff der Ontologie des Fundaments verwendet (vgl. Sequeri 1996).

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der Welt, des Menschen und die Tragödie des Leidens und des Bösen (deren Absurdität das Denken des Turiner Philosophen stark beeinflusste) konnten schließlich nicht mehr auf ein anonymes, perfektes Absolutes zurückgeführt werden, sondern konnten nur einen dem Absoluten entsprechenden Ursprung in dem Ab-grund der unendlichen Freiheit eines Gottes finden – des Einzigen, der den kantischen ›wahren‹ Abgrund in sich ertragen kann, jenen Abgrund, dem sowohl das Sein als auch das Nichts entstammen könnten. Diesbezüglich wagt sich Pareyson weiter als Schelling vor, indem er das Thema der sich in der Freiheit ereignenden Entscheidung vertieft: Der unerklärbare Übergang von dem ›potenzlosen‹ Zustand des Urwesens, oder von der ursprünglichen Indifferenz der Freiheit, zu der Existenz Gottes und folglich der Welt wird nach Pareyson ausschließlich denkbar, wenn man die Freiheit zugleich als Anfang und Entscheidung erfasst. Der Anfang ereignet sich als Entscheidung und umgekehrt: Der Gott Pareysons beruht auf dieser unvordenklichen und unbegründbaren Entscheidung, weil er nicht unmittelbar Anfang ist, sondern den Anfang in sich trägt, d. h., dass er sich zum Anfang macht. Nichts und niemand zwingt ihn dazu: Nur die Potenz seiner Freiheit, die sich plötzlich für das Sein entscheidet und das Nichts auf ewig ausschließt. Seine Existenz ist un-nötig, deswegen ist sie vollkommen frei, absoluta – von Nichts bedingt, frei-gelöst. 4 Die Figur eines un-nötigen Gottes zeichnet sich folglich ab: Ein aus Notwendigkeit determinierter Gott kann der Herr des Seins nicht sein, weil das Herr-Sein eine Absolutheit, d. h. ein vollkommenes Darin liegt vielleicht der Schwachpunkt der »Ontologie der Freiheit«, der hier in Form einer offenen Frage erläutert wird: Inwiefern ist es wirklich möglich, den Übergang von der ursprünglichen Indifferenz des Fundaments zur Entscheidung für das Sein, von seinem potenzlosen Zustand zu seiner Potentialisierung nicht zu bestimmen und ihn nur auf den Abgrund der Freiheit zurückzuführen? Eine Entscheidung soll einen Grund haben: Von wem oder was wird die Freiheit bewogen? Die Worte Schellings fallen sofort ein: »[…] und der ewige Geist, der das Wort in sich und zugleich die ewige Sehnsucht empfindet, von der Liebe bewogen, die er selbst ist, spricht das Wort aus […]« (AA I,17,132, Herv. v. Verf.). Kann die Liebe jene »göttliche« Macht sein, die die Freiheit bewegt? Die Anonymität des Abgrunds dieser Entscheidung bleibt vielleicht aus einem bloßen philosophischen Gesichtspunkt unbestreitbar, zwingt aber erneut die Philosophie zum Schweigen, das an das heideggerianische »tautologische Denken« erinnert. Diesbezüglich sind einige zeitgenössische Theologen, deren Reflexionen an dieser Stelle nicht behandelt werden können, weiter gegangen (vgl. vor allem das Werk H. U. von Balthasars, besonders seine Theologik III / Der Geist der Wahrheit; außerdem vgl. Sequeri 1996; Tourpe 2010; Guanzini 2016; Gourdain 2017, 303–345.).

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Frei-sein voraussetzt: Schelling und Pareyson haben gezeigt, dass der letzte Sinn dieses Frei-seins die Nicht-Notwendigkeit ist. Wenn das Wesen Gottes die Freiheit ist, ist Gott an sich nicht notwendig, d. h.: Er hat keinen Grund. Der Grund seiner Existenz schwebt über einem Abgrund, den nur er in sich ertragen kann. Eine solche dramatische Figur kann vielleicht suggerieren, dass das Denken über die Freiheit Anlass zu zwei grundsätzlichen Ausblicken gibt, die ihrerseits zwei existentiellen Haltungen entsprechen: Entweder wird die Freiheit als Last erfahren (sowohl auf der existentiellen als auch auf der ontologischen Ebene), oder als Gnade. Ihr Abgrund wird in diesem letzten Fall als die einzig mögliche und unerschöpfliche Quelle der Widersprüchlichkeit der Existenz angenommen, vorausgesetzt, dass das Verhältnis zwischen Existenz (im Sinne der Phänomenalität) und Ontologie akzeptiert wird. Das Problem der Legitimität der Frage nach dem Grund hatte sich am Anfang dieser Arbeit gestellt und stellt sich mit erneuter Stärke an ihrem Ende: Welchen Sinn hat es, nach dem Ende der Metaphysik wieder nach dem Grund zu fragen, umso mehr, wenn der Versuch dazu nur einen unbegreifbaren und unlogischen ›Abgrund‹ als Antwort erbringen kann? Der Sinn dieses Versuches liegt vielleicht nur in dem Blick, der das Fragen selbst hervorgerufen hat und den Schelling in großem Stil ausdrücken konnte: »Nur wer Freiheit gekostet hat, kann das Verlangen empfinden, ihr alles analog zu machen, sie über das ganze Universum zu verbreiten« (AA I,17, 124) – bis zu dem Punkt, den Grund des Seins selbst, Gott selbst, 5 als Freiheit zu denken. Er war sich aber vielleicht nicht völlig bewusst, dass seine von einem solchen ›Verlangen‹ getriebenen Untersuchungen der Philosophie Anlass gegeben haben, eine andere Gestalt des Anfangs zu denken. Der Abgrund der Freiheit kann zwar als die deutlichste Figur der Sinnlosigkeit erscheinen – aber auch als der einzig geeignete, unerschöpfliche Ursprung des Seins, wie Pareyson immer wieder betonte. Diese zwei Aspekte sind untrennbar, da die Zweideutigkeit des Seins unauslöschlich ist: Der andere Anfang negiert sie nicht, hebt sie nicht auf, hingegen nimmt er sie auf sich, in sich, in der absoluten Freiheit seines Anfangens. 6 In Richtung einer »Ent-ideologisierung« Gottes oder des Göttlichen: vgl. Bongiovanni 2007. 6 Vgl. Marassi 2003, 92–96: »Non resta dunque che chiedersi per quali motivi questo originario ›avvenimento‹ di libertà – che resta inafferrabile, incomprensibile, impre5

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Den anderen Anfang als ab-gründige Freiheit zu denken, bedeutet nicht, wieder in das ontotheologische Paradigma zu fallen, weil – wie Heidegger selbst schrieb – »der Grund bleibt ab vom Sein«: 7 Dieser Anfang ist kein Grund, sondern trägt in sich die Möglichkeit des Grundes, des Anfangenden. Die absolute Freiheit steht vor dem Sein, nicht ihm entgegen: Sie ist das Seinkönnen, nicht das Nichts. Der andere Anfang entspricht einer anderen Gerechtigkeit: Der Gerechtigkeit der Freiheit, die die Entscheidung trifft, Anfang (Gottes) zu werden. Aus diesen bruchstückhaften, oft verwickelten Gedanken heraus bietet sich der Philosophie der Ausblick auf einen zwar flüchtigen, schattenhaften Horizont, dessen Unerreichbarkeit aber die immer noch unvollendete Aufgabe des »Handwerks des Denkens« wiedergibt.

vedibile, in fondo un enigma – non sia riducibile all’eleogio della dispersione, ma continui a risuonare come un imprescindibile richiamo ad ›Altro‹, dell’›Altro‹ ? […] L’origine della libertà non è un contenuto umano, ma un orizzonte di manifestatività impresentabile«. 7 GA 10, 76. Vgl. Hühn 2010, 25–31. Für eine ausführliche Analyse des Begriffes des Grundes bei Heidegger und seiner besonderen Stellung im Denken des Philosophen s. auch Bongiovanni 2001.

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Namensregister

Angelus Silesius 188 Arndt, A. 210 Augusto, R. M. 19, 41, 48 von Balthasar, H. U. 213 Barbaric, D. 2 Barth, K. 145, 162, 164, 175 f. Baumgartner, H. M. 19 Bausola, A. 115 Bensussan, G. Bongiovanni, S. 7, 214 f. Brito, E. 115 Brown, R. 12, 42, 53 Buchheim, T. 20 Cacciari, M. 15, 26, 29, 36, 84 Challiol, M. 16 Claudel, P. 1 Conrad, J. 195 Conti, E. 156 Coriando, P. L. 2 Denker, A. 56, 57 Dörendahl, R. 31, 42, 53 Dostoewskij, F. 196, 205

Frigo, G. F. 166 Frisk, H. 141 Fuhrmans, H. 54, 56, 78 Furnari, M. G. 145 Gourdain, S. 67, 213 Guanzini, I. 213 Gubatz, T. 7 Halfwassen, J. 28, 132 Hegel, G. W. F. 3, 34, 56 f., 60, 86, 144, 148, 152, 158, 173 f., 180, 186, 193 Heidegger, M. 1–4, 12, 14, 40, 72, 97, 120, 140, 143 f., 147, 157 ff., 162, 188 f., 192 f., 209, 215 Holz, H. 55 Hühn, L. 2, 20, 25, 41, 70, 79, 88, 125, 139, 215 Iber, C. 12 Jacobs, W. G. 19, 210 Jaeschke W. 210 Kant, I. 13 f., 16, 26 f., 57, 86, 88, 115, 173, 178, 184, 193, 210 Kasper, W. 115 Knatz, L. 59 Korsch, D. 30, 34

Eco, U. 8, 145, Eliot, T. S. 3 Ewertowski, J. 86 Farrell Krell, D. 139 Ferrer, D. 19 Fichte, J. G. 13, 18, 57, 144 f., 179 f., 192 Forlin, F. 30, 34 Frank, M. 115

Lanfranconi, A. 54 Lauer, C. 38, 86 Leopardi, G. 195 Loer, B. 12 Lorini, G. 14, 16

227 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Namensregister Maesschalck, M. 55 Marassi, M. 1, 214 Marquet, J.-F. 53 Meister Eckhart 174 Mine, H. 58 Modica, G. 166 Müller, O. 8, 33 Müller-Lüneschloß, V. 41 Norman, J. 58, 65 Oesterreich, P. L. 55 Pareyson, L. 1, 4, 7 f., 10, 35–39, 139, 143–191, 210, 212–214 Pedro, T. 19 Pérez-Borbujo Álvarez, F. Platon 100, 102, 209 Plotin 35 Riconda, G. 161, 166 Rilke, R. M. 139 Roux, A. 19

Ruta, M. 210 Shakespeare, W. 195 Schüßler, I. 2 Schwab, P. 33 Sequeri, P. 212 f. Simon, R. 19, 26 Sophokles 194 Strummiello, G. 4, 120 Szondi, P. 139 Theunissen, M. 25 Theognis 194 Thomas von Aquin 64 Tilliette, X. 3, 8, 41, 54 f., 58, 60, 98, 115, 145 Tomatis, F. 115, 145 Tourpe, E. 213 Vetö, M. 23 f., 27, 29, 53, 117, 119 Vieillard-Baron, J.-L. 53 Wittgenstein, L. 134

228 https://doi.org/10.5771/9783495999349 .

Sachregister

Abfall 5, 11, 17, 19, 58, 204, 206 f. Abgrund 7–9, 12, 18, 30, 35 f., 38–40, 42, 47, 49, 62, 70, 73–77, 95, 97, 120, 135–138, 160, 163, 169, 171, 176, 181–194, 207, 211–214 Absolutes 43, 52, 73, 87 f., 127, 131, 137, 142, 145 f. Anderes 2, 4, 31, 50, 63, 69, 95, 130, 137 f. Anfangendes 77, 84, 97, 105, 114, 116, 125, 215 Anschauung 6, 15 f., 19, 34, 57, 77, 85–89, 161, 167, 171 Begrenzendes 101, 105, 126 Böse 5, 8 f., 19, 26–29, 37, 47, 52, 67, 71 f., 102, 147, 154, 160 f., 164 f., 172–178, 184–186, 195–208, 213 Dualität 21, 29, 34–39, 48 f., 60–65, 72–75, 135–138, 210 Ekstase 6, 75–77, 89, 135, 165–173, 188 f., 195, 210 Endlichkeit 8, 11 f., 121, 127, 130, 133, 139, 140, 148–150, 154, 212 Entscheidung 3, 9, 39 f., 47, 62–77, 93–96, 135 f., 147, 163 f., 177–179, 184–189, 199–204, 213–215 Entzweiung 45 f., 74, 104 Erinnerung 58, 87 Erstaunen 146, 165–171, 188, 194 f. Existierendes 34, 63, 117–124, 167– 171

Geist 14, 51, 71, 86, 102, 110, 127– 132, 138, 148, 213 Gerechtigkeit 24, 206, 212 f. Geschichte 2, 19, 40, 54–60, 70, 72, 134, 139, 147–155, 157, 163–167, 176, 182–187, 195, 205–208 Gesetz 22–25, 44, 50, 65, 93–98, 141, 163, 181, 197 Gleichgültigkeit 61–63, 73, 81–84, 94, 136 Idee 15, 20, 35, 45, 47, 55, 59, 98, 102, 115–120, 129, 134, 152, 167, 170, 174, 178–180, 193 Indifferenz 36–41, 46, 48, 81, 84, 94, 104, 136, 168, 177, 189, 212 f. Können 6, 77, 81–93, 95–97, 107, 111, 117, 122–126, 135–139, 188, 212 Leid 8, 72, 144, 161, 167, 170–176, 182, 195, 205–208, 213 Mögen 82–87, 185 Negativität 5, 8, 27, 50, 74, 83, 91, 115, 135, 141, 148, 150, 155, 176, 182, 185–187, 195, 200–210 Nichtexistenz 37, 73, 95 Nichtseiendes 49–52, 68, 72, 96, 108 Nichtsein 6, 36, 39, 63, 90–92, 96, 102, 107, 124–127, 136, 175, 185, 195, 200–202

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Sachregister Offenbarung 13, 31–38, 48, 64–74, 95, 115–120, 130–140, 148, 158, 177, 183, 210 Ontologie 2–9, 33, 55, 74, 89–96, 118–123, 134, 146–155, 176–185, 190–200 Positivität 8, 15, 28, 45, 51, 53, 67, 69, 83, 115, 125, 128, 130, 135, 141, 149, 155, 160, 176, 182–186, 200– 210 Positives 69, 141, 158, 164, 176, 208 Potenz 6 f., 9, 16, 40–50, 62, 65–70, 80–85, 90–120, 135–140, 183–200 Prius 30, 34, 114, 117–121, 128, 168 Seiendes 49–52, 62, 72 f., 82, 93–96, 114, 120, 126–128, 138–140, 167, 211 Seinkönnen 82, 91–93, 107–111, 122–128, 131, 137, 212, 215 Trennung 19, 44–48, 74, 186, 200, 210

Unaussprechliches 159 Unbegrenztes 101–108, 126 Ungrund 6–9, 20, 34–41, 72, 119, 135–138, 142–145, 188, 210–212 Urgrund 36, 61, 132 Unseiendes 114 Urlebendiges 57–59 Ursache 64, 73, 101–114, 127, 129, 183–185 Ursein 26, 133–134 Vergangenheit 36, 59–65, 71, 74, 84, 122, 171, 203 Vernunft 13–16, 35, 42–46, 52, 75, 85, 98–104, 116–121, 128–135, 148, 151, 165, 168–175, 183, 187, 193, 210 Wahl 47, 63, 70, 85, 90, 175–177, 182, 184, 200–202 Wollen 26–28, 31, 36, 38, 81, 95, 104, 110, 114, 122–126, 133 Zweiheit 34, 60, 74, 84, 124

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