Struktur und Erfahrung in der psychologischen Forschung 9783110858105, 9783110105018


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German Pages 266 [268] Year 1987

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Table of contents :
Vorwort
„A rose has no teeth“ – Zum Problem der Unterscheidung zwischen Begriffsverwirrungen und überraschenden empirischen Befunden in der Psychologie
Strukturelle und empirische Implikationen: Über einige strukturinduzierte Implikationen und deren Umkehrungen in der Soziometrie und Sozialpsychologie
Zum Problem des empirischen Gehalts psychologischer Theorien – Eine Analyse am Beispiel der Theorie der Verhaltensinteraktion in Dyaden
Theoriendynamik in psychologischen Forschungsprogrammen
Lernen und Erfahrung
Das Allgemeine unseres Handelns: Zum Sinn der Rede von Gesetzen und Regeln für die Darstellung menschlichen Handelns
Zur rationalen Annehmbarkeit handlungspsychologischer Aussagen und Theorien-Skizzen
Das Beschreiben von Beschreibungen, Erklären von Erklärungen und Vorhersagen von Vorhersagen: paradigmatische Fälle für die Psychologie
Psychologische Forschung als Begegnung
Intentionale Systeme: Überlegungen zu Daniel Dennetts Theorie des Geistes
Autorenregister
Sachregister
Verzeichnis der Mitarbeiter
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Struktur und Erfahrung in der psychologischen Forschung
 9783110858105, 9783110105018

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Struktur und Erfahrung in der psychologischen Forschung

Struktur und Erfahrung in der psychologischen Forschung Herausgegeben von Jochen Brandtstädter

Mit Beiträgen von Peter Bieri, Jochen Brandtstädter, Berndt Brehmer, Theo Herrmann, Wilhelm Kempf, Hans Lenk, Oswald Schwemmer, Jan Smedslund, Hans Werbik, Hans Westmeyer

w DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1987

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig - pH 7, neutral)

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Struktur und Erfahrung in der psychologischen Forschung / hrsg. von Jochen Brandtstädter. Berlin; New York: de Gruyter, 1987. ISBN 3-11-010501-2 NE: Brandtstädter, Jochen [Hrsg.]

© 1987 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche G e n e h m i g u n g des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz: Dörlemann-Satz, Lemförde Druck: Hildebrand, Berlin Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin

Vorwort Die Entstehungsgeschichte dieses Buches geht zurück auf eine Arbeitstagung, die im Juni 1984 am Wissenschaftskolleg zu Berlin stattfand. Das Thema der Tagung - „Struktur und Erfahrung in der psychologischen Forschung" - umreißt die Probleme, die dort in einem kleineren Kreis von Psychologen und Philosophen diskutiert wurden, nur grob. Worum genauer ging es? Psychologische Forschung hat es mit der Konstruktion und empirischen Prüfung von Theorien zu tun. Die genauere Betrachtung begründet freilich den Verdacht, daß psychologietheoretische Annahmengefüge keineswegs in allen Teilen problemlos als empirisch zu prüfende und zu widerlegende Hypothesen verstanden werden können. Vielmehr scheint es, daß Teile dieser Annahmengefüge oft treffender als Implikationen formaler oder begrifflicher - insbesondere alltagssprachlicher - Strukturen oder Regeln rekonstruiert werden können. Zumal zentrale theoretische A n n a h m e n scheinen ihre Plausibilität und ihre Resistenz gegen empirische Falsifikationsbemühungen gerade aus dem Umstand zu beziehen, daß sie in solche Strukturen eingeordnet werden können - Strukturen, deren Aufbau zwar Erfahrungen voraussetzen mag, die andererseits aber geordnete Erfahrung erst ermöglichen und insofern nicht einfach mit empirischen Hypothesen gleichgesetzt werden können. Nun sind die hier angesprochenen T h e m e n keineswegs psychologiespezifisch, sondern berühren allgemeinere - teils traditionelle, teils sehr aktuelle - wissenschaftstheoretische Fragestellungen: Fragen zu den Bedingungen des Entstehens und Vergehens theoretischer Paradigmen, zur Abgrenzbarkeit empirischer und analytischer Sätze und zum Verhältnis empirischer und nichtempirischer Elemente in der Einführung theoretischer Begriffe, Fragen zum methodologischen Format von verhaltenswissenschaftlicher im Vergleich zu naturwissenschaftlicher Forschung und zur Anwendbarkeit eines strukturalistischen Theorienverständnisses („non-statement view") in den Verhaltens- bzw. Handlungswissenschaften, usw. Es lag daher nahe, diese Probleme in einem Kreis von wissenschaftstheoretisch interessierten Psychologen und psychologisch interessierten Wissenschaftstheoretikern zu diskutieren. Die Tagungsbeiträge, die hier in überarbeiteter und erweiterter Form vorgelegt werden, bieten keine fertigen Problemlösungen oder methodologischen Patentrezepte. Viel wäre erreicht, wenn das Buch

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Vorwort

etwas von den oft kontroversen, aber durchweg spannenden Diskussionen vermitteln würde. Soweit man die Tagungsergebnisse auf knappe Formeln reduzieren kann, sind dies - jedenfalls nach dem Eindruck des Herausgebers - am ehesten folgende Thesen: Apriorismus und Empirismus sind keine methodischen Alternativen, zwischen denen sich die Psychologie entscheiden müßte. Aussichtsreich erscheint vielmehr ein Standpunkt, der zwischen diesen Extremen vermittelt und ihre partiellen Berechtigungen - im dialektischen Wortsinne - aufhebt. Das Problem der Abgrenzung zwischen „strukturellen Implikationen", die sich aus dem formalen und begrifflichen Aufbau einer Theorie ergeben, und empirischen Hypothesen ist ernstzunehmen und keineswegs schon mit dem Hinweis erledigt, daß hier keine absoluten Trennlinien zu ziehen sind. Die kürzlich im Herausgeberkollegium der Zeitschrift für Sozialpsychologie (Band 17, 1986) geführte Diskussion zeigt die Brisanz des Problems. Einer gründlichen Überprüfung bedarf in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob psychologische Theorienbildung, soweit sie mit intentionalen Begriffen (Meinungen, Wünsche, Erwartungen etc.) arbeitet, nomologisch - etwa in Analogie zu physikalischen Theorien - ausgelegt werden kann. Allen Kollegen, die an der Tagung teilgenommen und zu diesem Band beigetragen haben, möchte ich für ihr Engagement herzlich danken. Ausdrücklich in meinen Dank einschließen möchte ich Carl G. Hempel, der - als Fellow und Senior des Wissenschaftskollegs im Jahrgang 1983/84 - in der Rolle des Diskutanten beteiligt war. Dem Wissenschaftskolleg zu Berlin, namentlich Peter Wapnewski als dem Rektor und Joachim Nettelbeck als dem Sekretär des Kollegs, sowie auch dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin bin ich für die organisatorische und materielle Unterstützung der Tagung zu Dank verpflichtet. Frau Ursula Barth (Trier) danke ich für technische und redaktionelle Hilfe bei der Fertigstellung des Buchmanuskriptes. Herr Gerolf Renner und Herr Hans-Georg Voss (Trier) halfen bei der Erstellung der Register und bei Übersetzungsarbeiten. Dem Verlag W. de Gruyter (Berlin) und seinem Verlagsleiter, Herrn Prof. Dr. H. Wenzel, danke ich für die Bereitschaft, die Drucklegung zu besorgen und auf editorische Wünsche kooperativ einzugehen. Trier, im Januar 1987

Jochen Brandtstädter

Inhalt

Vorwort

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JOCHEN BRANDTSTÄDTER

„A rose has no teeth" - Zum Problem der Unterscheidung zwischen Begriffsverwirrungen und überraschenden empirischen Befunden in der Psychologie

1

HANS LENK

Strukturelle und empirische Implikationen: Über einige strukturinduzierte Implikationen und deren Umkehrungen in der Soziometrie und Sozialpsychologie

14

HANS WESTMEYER

Zum Problem des empirischen Gehalts psychologischer Theorien - Eine Analyse am Beispiel der Theorie der Verhaltensinteraktion in Dyaden

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THEO HERRMANN

Theoriendynamik in psychologischen Forschungsprogrammen

71

BERNDT BREHMER

90

Lernen und Erfahrung OSWALD SCHWEMMER

Das Allgemeine unseres Handelns: Zum Sinn der Rede von Gesetzen und Regeln für die Darstellung menschlichen Handelns

104

HANS WERBIK

Zur rationalen Annehmbarkeit handlungspsychologischer Aussagen und Theorien-Skizzen

125

JAN S M E D S L U N D

Das Beschreiben von Beschreibungen, Erklären von Erklärungen und Vorhersagen von Vorhersagen: paradigmatische Fälle f ü r die Psychologie

159

VIII

Inhalt

WILHELM KEMPF

Psychologische Forschung als Begegnung

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PETER BIERI

Intentionale Systeme: Überlegungen zu Daniel Dennetts Theorie des Geistes 208 Autorenregister

253

Sachregister

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Verzeichnis der Mitarbeiter

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JOCHEN BRANDTSTÄDTER

„A rose has no teeth" - Zum Problem der Unterscheidung zwischen Begriffsverwirrungen und überraschenden empirischen Befunden in der Psychologiel

I. Es ist in mancher Hinsicht gewagt, Betrachtungen zur Psychologie mit einem Wittgenstein-Zitat einzuleiten. Doch hat das folgende Zitat, wenngleich darin von Psychologie nicht die Rede ist, durchaus mit meinem Thema zu tun. In den „Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie" (1980) betrachtet Wittgenstein die folgenden, auf den ersten Blick sehr ähnlichen Sätze: „Ein neugeborenes Kind hat keine Zähne." - „Eine Gans hat keine Zähne." - „Eine Rose hat keine Zähne." Er fährt fort: „Das letztere ist doch offenbar wahr! Sicherer sogar, als daß eine Gans keine hat. U n d doch ist es nicht so klar. D e n n wo sollte eine Rose Zähne haben? Die Gans hat keine in ihren Kiefern. U n d sie hat natürlich auch keine in ihren Flügeln, aber das meint niemand, der sagt, sie habe keine Zähne. Ja wie, w e n n man sagte: D i e Kuh kaut Gras mit ihren Z ä h n e n und düngt dann die Rose damit, also hat die Rose Zähne im M u n d e i n e s Tieres. Das ist darum nicht absurd, weil man von vornherein gar nicht wüßte, w o man nach Zähnen bei der Rose zu s u c h e n hat." (p. 24, Hervorhebung im Original)

Die in dieser Überlegung angedeutete Problematik der Frage, ob Rosen Zähne haben - und von empirischen Antworten auf diese Frage - , scheint mit dem Aufbau der Begriffe von „Rose" und „Zahn" zusammenzuhängen; offenbar passen die „Bedeutungskörper" dieser Begriffe - wie Wittgenstein es an anderer Stelle einmal ausdrückt nicht problemlos (erst unter Vermittlung einer Kuh) zusammen. Von Zähnen (ich spreche hier nicht von Zähnen an Briefmarken oder Sägeblättern) wird gewissermaßen prototypisch vorausgesetzt, daß sie bestimmte Funktionen im Zusammenhang der Nahrungsaufnahme haben, daß sie diesen Funktionen entsprechend anatomisch lokalisiert sind, usf. Diese Annahmen erscheinen vorausgesetzt insoweit, 1

Der vorliegende Beitrag ist zugleich abgedruckt in: Wapnewski, P. (Ed.) 1985. Wissenschaftskolleg zu Berlin. Jahrbuch 1983/84. Berlin: Siedler.

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Jochen Brandtstädter

als wir uns bei der Feststellung, ob ein bestimmtes Ding in einer bestimmten Umgebung ein Zahn ist, an ihnen orientieren. Von Rosen andererseits wissen wir über Nahrungsaufnahme, Stoffwechsel etc. genug, um von einem beliebigen Ding, das wir an einer Rose vorfinden, bezweifeln zu dürfen, daß es ein Zahn im oben dargelegten Verständnis ist. So wie die Dinge liegen, ist es nicht ohne weiteres auszumachen, ob der Satz „Eine Rose hat keine Zähne" einen empirischen Allgemeinsatz darstellt oder eine Bedeutungserläuterung, wie wir sie etwa kleinen Kindern geben, damit sie sich von Rosen oder Zähnen einen besseren Begriff machen. Fassen wir den Satz als Bedeutungserläuterung (oder als Implikat von Bedeutungserläuterungen) auf, so hätten wir, wenn jemand mit dem empirischen Befund einer „Rose mit Zähnen" aufwarten wollte, wohl Grund, an der konzeptuellen Gültigkeit seiner Beobachtungsmethoden zu zweifeln; zumindest würden wir genauer zusehen wollen, ob dieser „überraschende Befund" nicht eher Ausdruck einer Begriffsverwirrung ist. Diese „Empirieabstoßung" hat offenbar gewisse Ähnlichkeiten mit der Abschirmung von theoretischen Annahmen gegen theoriediskrepante Befunde durch Hinweise auf Störbedingungen, Instrumentenfehler etc. Dann wäre also die Entdeckung einer Rose mit Zähnen ausgenommen vielleicht auf surrealistischen Bildern - von vornherein aus begrifflichen G r ü n d e n ausgeschlossen? Wittgensteins Betrachtung zeigt auch, daß wir hier vorsichtig sein müssen. Wohl kann man die Begriffe so festlegen, daß ein solcher Fall - relativ zu dieser Festlegung - ausgeschlossen ist. Damit ist aber nicht gesagt, daß die zugrundegelegte Begriffsbestimmung sinnvoll ist und dauerhaft sinnvoll bleibt. Es ist vielmehr denkbar, daß wir durch bestimmte Erfahrung dazu gebracht werden, kleinere oder unwichtigere Teile eines begrifflichen Aufbaus preiszugeben, um größere oder wichtigere Teile zu retten. So wie wir einen Bedeutungskörper - unter Einarbeitung von Erfahrungsbeständen - aufbauen, so können wir ihn auch umbauen. Das Problem der Unterscheidung zwischen Begriffsverwirrungen und überraschenden empirischen Befunden hängt offenbar mit der Frage zusammen, wie weit man bei einem solchen Begriffsumbau zu einem gegebenen Zeitpunkt gehen darf oder kann. Was hat das alles nun mit Psychologie zu tun? Wittgensteins Problem der „zahnlosen Rose" steht im Zusammenhang seiner Analysen zum Gebrauch von Begriffen, die sich auf psychologische Zustände beziehen (z.B. zornig, furchtsam, freudig). Sein Interesse für die „Sprachspiele", in denen solche Begriffe stehen, ergab sich wesentlich aus der Einsicht, daß Regeln für die logische Verknüpfung von Sätzen ergänzt werden müssen durch Regeln, die „aus der inneren Syntax der Sätze stammen" (Wittgenstein 1967, p. 80). Einfachere Beispiele, an denen Wittgenstein diese Einsicht zunächst exemplifiziert hat, sind

Begriffsverwirrungen und überraschende empirische Befunde

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Sätze über Längenmessungen und Farbausschließungssätze: Wenn etwas 2 m groß ist, so kann es nicht zugleich 3 m groß sein; was grün ist, kann nicht zugleich rot sein. Diese Sätze aber sind offenbar keine empirischen Allgemeinsätze im üblichen Sinne, die durch weitere Beobachtungen eventuell entkräftet werden könnten, sondern Sätze, die sich aus der Struktur der „Satzsysteme" ergeben, in denen wir über Längen oder Farben reden. In entsprechender Weise stellt sich auch für den Gebrauch psychologischer Begriffe in Zusammenhängen der Forschung und Theorienbildung das Problem der Unterscheidung zwischen empirischen Allgemeinsätzen und Sätzen, die sich als strukturelle Implikationen aus dem Aufbau der verwendeten Begriffe ergeben, und, damit verbunden, das Problem der Unterscheidung zwischen überraschenden empirischen Befunden und Begriffsverwirrungen, die gleichsam unerlaubte Züge in einem Sprachspiel sind. Ich möchte hier nun diesen Problemen mit Blick auf die psychologische Forschungsarbeit nachgehen. Exemplarisch - und in mancherlei Hinsicht verkürzt - möchte ich zwei Forschungsansätze betrachten: zum einen Arbeiten zur Entwicklung moralischer Urteilskompetenzen, zum anderen Arbeiten zum Zusammenhang zwischen kognitiven und emotionalen Prozessen. Diese Auswahl ist nicht im Sinne einer positiven oder negativen Hervorhebung der betreffenden Forschungsrichtungen zu sehen. Vielmehr habe ich den Eindruck, daß die angesprochenen Probleme auch in anderen Forschungsbereichen der Psychologie auftreten und daß es sich letztlich nicht um psychologiespezifische, sondern um allgemeine Probleme der empirischen Forschung handelt. II. Angeregt durch Piagets Forschungen zur Entwicklung des moralischen Urteils (Piaget 1932) haben sich in der Entwicklungspsychologie zahlreiche Arbeiten mit der Frage des Zusammenhangs zwischen kognitiver und moralischer Entwicklung befaßt. Ein theoretischer Schlüsselbegriff dieser Forschungen ist der Begriff der „sozialen Kognition", der sich auf das Erkennen oder Erschließen der Wünsche, Meinungen, Standpunkte anderer Personen bezieht. Der Begriff bezieht sich, in anderen Worten, auf die kompetente Erschließung von Handlungsorientierungen und das Verstehen im Kontext sozialer Interaktion. Es wird nun in einschlägigen Arbeiten (ζ. B. Kohlberg 1973, Selman & Damon 1975) u.a. postuliert, daß sozialkognitive Kompetenzen (man spricht auch von „role taking" oder Perspektivenübernahme) notwendige, jedoch nicht hinreichende Bedingungen moralischer Ur-

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Jochen Brandtstädter

teilskompetenz seien. Es wird mit anderen Worten behauptet, daß (hohe) moralische Urteilskompetenz (expliziert etwa im Sinne des Kohlbergschen Stufenmodells) stets mit (hoher) sozialkognitiver K o m p e t e n z einhergeht, während umgekehrt sozialkognitive Kompetenz sowohl in Verbindung mit h o h e r wie mit niedriger moralischer Urteilskompetenz auftreten kann. Die Wahrheitstafel f ü r die postulierte Verbindung von moralischer Urteilskompetenz (MK) u n d sozialkognitiver K o m p e t e n z (SK) ist dann (w = wahr, f = falsch): M K SK w w f f

w f w f

M K - SK w f w w

Wenn wir also die A n n a h m e MK - SK (MK nicht o h n e SK, bzw. SK notwendig f ü r MK) als empirischen Allgemeinsatz auffassen, dann ist der in der zweiten Zeile der Wahrheitstafel aufgeführte Fall M K λ SK (d.h. das A u f t r e t e n von MK o h n e SK) der Falsifikationsfall. Zur Ü b e r p r ü f u n g dieser A n n a h m e sind zahlreiche U n t e r s u c h u n g e n , mit im allgemeinen positiven Ergebnissen, durchgeführt worden (Likkona 1976). Wenn m a n in dieser Weise die A n n a h m e MK - SK als empirische Hypothese behandelt, so unterstellt m a n damit, daß zwischen MK u n d SK keine begrifflichen Beziehungen bestehen, aufgrund derer das A u f t r e t e n des Falsifikationsfalles MK λ SK von vornherein ausgeschlossen werden könnte. Sollte sich dagegen ein solcher konzeptueller Z u s a m m e n h a n g gültig darstellen lassen, so wäre die zweite Zeile der Wahrheitstafel (siehe oben) aus begrifflichen G r ü n d e n zu streichen, u n d die Behauptung „MK setzt SK voraus" wäre - relativ zu dieser Analyse - eine Tautologie. D e m e n t s p r e c h e n d wäre der Fall „MK o h n e SK" kein überraschender bzw. hypothesendiskrepanter Befund, sondern eine begriffliche Anomalie (vergleichbar einem „ekkigen Kreis" oder einem „Walzer im 2 /4-Takt"). Ich möchte versuchen, eine entsprechende Analyse hier zumindest andeutungsweise d u r c h z u f ü h r e n , wobei ich natürlich an ein gemeinsames Sprachverständnis appellieren m u ß . Wenn wir zusehen, wie moralsprachliche Prädikate - „schuldig", „verantwortlich" usw. - im Z u s a m m e n h a n g mit der rechtlichen und moralischen Beurteilung eigenen oder f r e m d e n T u n s verwendet werden, so erscheint es begrifflich unzulässig, j e m a n d e m „Verantwortung" oder „Schuld" f ü r Ereignisse zuzuschreiben, über die er (mittelbar oder unmittelbar) keine Kontrolle hat. Moralisch relevant (im

Begriffsverwirrungen und überraschende empirische Befunde

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Sinne der Anwendbarkeit moralischer Urteilsprädikate) erscheint nur ein personal kontrolliertes Verhalten bzw. ein Handeln, nicht etwa eine unwillkürliche reflektorische Bewegung. Dementsprechend kommt es in moralischen und rechtlichen Urteilszusammenhängen wesentlich darauf an, zu prüfen, ob ein gegebenes Verhalten überhaupt als Handeln, als ein personal kontrolliertes Tun rekonstruiert werden kann. Geläufige Strategien der Verteidigung, Entlastung oder Entschuldigung bestehen bekanntlich darin, Argumente anzuführen, die personale Kontrolle ausschließen (Beispiel: jemand hat jemanden überfahren und versucht sich durch den Hinweis zu verteidigen, daß die Bremsen nicht funktioniert haben). Wir können somit bereits festhalten: der kompetente Gebrauch moralsprachlicher Prädikate setzt die Fähigkeit zur Unterscheidung von kontrollierten Handlungen und „Widerfahrnissen" außerhalb personaler Kontrolle voraus. Dies ist aber erst die halbe Geschichte. Bekanntlich kann der Versuch, sich durch Hinweis auf mangelnde personale Kontrolle zu entlasten, auch scheitern. Beispielsweise dürfte es schwierig sein, einen komplexen Verhaltensablauf wie z.B. das Aufschweißen eines Safes als ein nicht handlungsartiges Verhalten darzustellen, das einem, gleichsam reflexartig, „herausgerutscht" ist. Damit ist aber ein rechtliches oder moralisches Urteil noch nicht festgelegt. Vielmehr kommt es nun weiterhin darauf an, den relevanten Handlungskontext - insbesondere die Beweggründe und Motive, die inneren und äußeren Einschränkungen des Handlungsspielraums, etc. - darzustellen. Wer etwa in eine Bank einbricht, weil er glaubt, nur auf diese Weise seine Familie vor dem Hungertod zu retten, steht in rechtlicher und moralischer Hinsicht anders da als derjenige, der dieselbe Tat aus „niederen Beweggründen" ausführt. Man könnte auch sagen, daß das fragliche Verhalten unter den unterschiedlichen Kontextbeschreibungen unterschiedliche Handlungen aktualisiert: im einen Fall vielleicht einen altruistischen Akt, im anderen Fall etwa ein Akt egoistischer Selbstbereicherung. U m aber ein beobachtetes Verhalten dem einen oder anderen Akttyp zuzuordnen und dadurch in einer für rechtliche oder moralische Beurteilungen relevanten Weise zu charakterisieren, bedarf es notwendig einer Darstellung der diesem Verhalten zugrundeliegenden Orientierungen (Pläne, Ziele, Erwartungen etc.). Es scheint sich nach diesen kurzen Betrachtungen herauszustellen, daß die kompetente Anwendung moralsprachlicher Prädikate Deutungsleistungen voraussetzt, die recht genau dem entsprechen, was in Begriffen wie „sozialkognitive Kompetenz", „Perspektivenübernahme" etc. gemeint ist. Nur erscheint sozialkognitive Kompetenz vor dem Hintergrund dieser Überlegungen nicht als ein empirisches Korrelat, sondern eher als ein begriffsstrukturelles Implikat oder konstitutives Element moralischer Urteilskompetenz. Aufgrund gelten-

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Jochen Brandtstädter

der Regeln für den Gebrauch moralsprachlicher Prädikate erscheint es ausgeschlossen, daß jemand moralische Urteilskompetenz ohne sozialkognitive Kompetenz aufweist. Wenn jemand mit einem abweichenden Befund aufwarten wollte, so dürfte man ihm nahelegen, seine Begriffe oder Meßinstrumente in Ordnung zu bringen. Der Satz „Moralische Urteilskompetenz impliziert sozialkognitive Kompetenz" wäre dementsprechend nicht als eine empirische Hypothese zu verstehen, sondern eher als eine Regel, auf die man beim Aufbau eines konzeptuell validen Meßinstruments für moralische Urteilskompetenz schon Bezug nehmen muß. Freilich kann man an der Angemessenheit einer solchen Regel zweifeln. Aber die Beurteilung der Angemessenheit von Regeln ist ein anderes Geschäft als die Prüfung der empirischen Gültigkeit von Hypothesen, wenngleich das eine Geschäft das andere involvieren mag. Nun ist es allerdings nicht ausgeschlossen, daß es in der ontogenetischen Entwicklung moralischen Urteilens Entwicklungsstufen gibt, auf denen nicht bzw. noch nicht der Entstehungszusammenhang von Handlungen (also etwa handlungsleitende Intentionen), sondern ζ. B. nur der äußere Effekt von Handlungen beachtet wird. Wie Piaget gezeigt hat, steht jemand, der versehentlich einen Schaden angerichtet hat, im Urteil des kleinen Kindes schlechter da als einer, der Schaden anrichten wollte, dem aber die Durchführung seiner Absichten mißlingt. Wie kommt es, daß sich das moralische Urteilsverhalten von diesen Vorstufen (bei denen man darüber streiten kann, ob hier schon von moralischen Urteilen i.e.S. geredet werden kann) im Laufe der weiteren Entwicklung den oben beschriebenen, kompetenteren Formen der Urteilsbildung annähert? Nicht zuletzt wohl dadurch, daß im Zuge der sprachlichen Sozialisation ein noch inkorrekter oder ungenauer Gebrauch moralsprachlicher Prädikate zum Anlaß genommen wird, durch Musterbeispiele, explizite Regelerklärungen usw. auf ihren korrekten Gebrauch hinzuwirken. Ein solcher Entwicklungsaufbau ist einer Konstruktion vergleichbar, der ein idealtypisches Muster zugrundeliegt; inwieweit ein konkreter Aufbau mit diesem Muster übereinstimmt und insofern „gelungen" ist, ist eine empirische Frage. Aber zwischen einem Muster und seiner Realisation besteht eine andere Beziehung als zwischen einer Hypothese und einem Befund. Es zeigt sich in diesem Zusammenhang auch, daß sich aus begriffsstrukturellen Implikationen auch Restriktionen hinsichtlich ontogenetischer Aufbausequenzen ergeben. Wenn moralische Urteilskompetenz sozialkognitive Kompetenzen begrifflich einschließt - oder anders: wenn letztere Kompetenzen für erstere konstitutiv sind - , dann ist es jedenfalls strikt ausgeschlossen, daß moralische Urteilskompetenz im ontogenetischen Aufbau vor sozialkognitiver Kompetenz auftritt. Wir haben hier den Fall eines universellen Sequenzpo-

Begriffsverwirrungen und überraschende empirische Befunde

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stulates, das jedoch offenbar grundlegend anders aufzufassen ist als ein empirischer Allgemeinsatz. Universalität heißt hier nicht mehr und nicht weniger als: Universalität relativ zu einem bestimmten Begriffs- und Methodenaufbau. Zwar erscheint die empirische Falsifikation solcher begriffsstrukturell begründeten Universalitätspostulate ausgeschlossen. Nicht aber ausgeschlossen sind Widersprüche gegen den Begriffsaufbau, auf dem sie beruhen: andere Kulturen und Epochen mögen sich andere Begriffe machen. Je radikaler freilich diese Begriffe von den unseren abweichen, desto problematischer wird es, Entwicklung in diesen Kulturen in unseren Begriffen und mit den auf ihnen gründenden Beobachtungsmethoden zu beschreiben.

III. Ich wende mich nun einem psychologischen Thema zu, das auch Wittgenstein bei seinen eingangs zitierten Überlegungen im Blick hatte: den Emotionen. Vorausschicken möchte ich die Feststellung, das entgegen verbreiteten Auffassungen zwischen emotionalen und kognitiven bzw. reflexiven Prozessen ein sehr enger Zusammenhang besteht. Im Unterschied zu Körperempfindungen wie Schmerz, Wärme, usf. sind Emotionen wie ζ. B. Schadenfreude, Stolz, Sorge, Genugtuung, Eifersucht, Reue mit spezifischen kognitiven Strukturierungen oder Situationstypisierungen verbunden: Freude empfindet man bekanntlich im Zusammenhang mit der Wahrnehmung eines subjektiv positiven Ereignisses; Dankbarkeit, wenn man ein solches positives Ereignis mit Hilfeleistungen einer anderen Person in Zusammenhang bringt; Sorge, wenn man ein subjektiv negatives Ereignis antizipiert und zugleich unsicher ist, dieses Ereignis abwenden zu können, und so fort. Wenn man bislang ζ. B. noch keinen schadenfrohen, stolzen, reuigen oder ehrgeizigen Säugling gesehen hat, so ist dies nicht damit zu erklären, daß das emotionale Erleben oder Ausdrucksrepertoire des Säuglings noch „undifferenziert" ist (dies wäre allenfalls eine selbst erklärungsbedürftige Beschreibung). Es ist vielmehr so, daß Säuglinge zu den in den betreffenden Emotionen jeweils vorausgesetzten Situationsstrukturierungen noch nicht fähig sind. Das heißt freilich nicht, daß man sich erst einen Begriff von Stolz, Reue etc. gemacht haben muß, um die entsprechende Emotion zu haben. Neuere psychologische Emotionstheorien haben die angesprochenen Zusammenhänge in empirische Forschungshypothesen umgesetzt. In Arbeiten aus dem Bereich der sogenannten „Attributionstheorie" wird postuliert, daß Stolz in Leistungszusammenhängen voraussetzt, daß man einen wahrgenommenen Erfolg „internal" (auf

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Jochen Brandtstädter

eigene Fähigkeit oder Anstrengung) attribuiert; daß sich ein Gefühl der Dankbarkeit einstellt, wenn man den Erfolg einer absichtlichen Unterstützung von anderer Seite zuschreibt, etc. (eingehender z.B. Weiner, Russell & Lerman 1978; Weiner 1982). Überprüfungen solcher Annahmen werden beispielsweise so vorgenommen, daß man Versuchspersonen instruiert, sich eine bestimmte emotionsintensive Situation in Erinnerung zu rufen, und dann nachsieht, ob die berichteten Erlebnisqualitäten mit den theoretisch unterstellten kognitiven Attributionen bzw. Situationsstrukturierungen einhergehen. Auch hier stellt sich freilich wieder die Frage, mit welcher Art von Zusammenhang wir es bei den oben angesprochenen Relationen zwischen Emotionen und kognitiven Strukturierungen zu tun haben. Handelt es sich einfach, wie üblicherweise unterstellt wird, um empirische Verlaufshypothesen bzw. kausale Beziehungen? Dazu hätte man wohl vorauszusetzen, daß die empirisch bzw. kausal verbundenen emotionalen und kognitiven Aspekte logisch bzw. terminologisch voneinander unabhängig sind. Wenn nun etwa behauptet würde, daß man auch Dankbarkeit empfinden könne, ohne ein positives Ereignis mit Unterstützung von anderer Seite in Zusammenhang zu bringen, oder Sorge ohne die Erwartung eines subjektiv negativen Ereignisses: Wäre dies ein überraschender Befund, der eine Hypothesenrevision nahelegt, oder darf eine Begriffsverwirrung unterstellt werden - sei es auf Seiten des psychologischen Beobachters, sei es auf Seiten des Subjekts, das über sein emotionales Erleben Auskunft gibt? Ich neige zur letzteren Ansicht. Der naheliegende Einwand, daß es doch ohne weiteres möglich sei, daß eine Person für fremde Hilfe nicht dankbar sei, daß sie trotz drohender Gefahren sorglos sein könnte etc., ist jedenfalls nicht stichhaltig: denn was aus externer Sicht als freundliche Hilfe erscheint, mag aus der Sicht des Betroffenen eher eine lästige Einschränkung seiner Selbständigkeit sein; was dem äußeren Beobachter als Bedrohung erscheint, mag als willkommene Herausforderung oder leicht zu bewältigendes Problem wahrgenommen werden, und so fort. Sicherlich ist es eine offene empirische Frage, welche konkreten Situationen jeweils Freude, Dankbarkeit, etc. bei einer Person auslösen. Aber ob es auch eine offene empirische Frage ist, welche allgemeineren Strukturmerkmale Situationen aufweisen müssen, damit Emotionen eines bestimmten Typs auftreten, erscheint zumindest sehr zweifelhaft. Wenn wir von einer Emotion auf eine emotionstypische Kognition schließen können, so scheint dieser Schluß seine Stringenz wesentlich aus einer begrifflichen Verbindung zu beziehen. Welche Gründe hätten wir überhaupt, ein bestimmtes Ausdrucksverhalten einer bestimmten Typklasse von Emotionen zuzuordnen, solange wir keinerlei Evidenz bezüglich einer entsprechenden Situa-

Begriffsverwirrungen und überraschende empirische Befunde

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tionsstrukturierung haben? Offenbar müssen wir uns für die empirische Bestimmung eines Reaktionsmusters als „Emotion des Typs X" schon auf bestimmte Regeln oder Kriterien stützen. Ich meine hier Kriterien nicht im schwächeren Sinne von äußeren Korrelaten oder Symptomen, sondern im stärkeren Sinne von begriffskonstitutiven Bedeutungselementen, die nicht aufgegeben werden können, ohne den betreffenden Begriff zu „verlieren". Natürlich kann man eine Emotionsdiagnostik z.B. auch mit Hilfe physiologischer Emotionskorrelate oder als Ausdrucksdiagnostik betreiben. Dann aber bleibt die Frage, wie wir, wenn nicht mit Hilfe stärkerer Kriterien, die Zuordnung eines äußeren Korrelates zu einer Emotion vornehmen könnten. Es scheint einiges dafür zu sprechen, spezifische Situationsstrukturierungen der angesprochenen Art eben nicht als kausale Antecedensbedingungen von Emotionen, sondern eher als konstitutive Bedeutungselemente der jeweiligen Emotionsbegriffe aufzufassen, auf die wir uns für die Zuschreibung (auch Selbstzuschreibung) von Emotionen schon stützen müssen. Es ergeben sich hier Ausblicke auf eine „Konstituententheorie" der Emotionen. Wer sich selbst oder einer anderen Person eine bestimmte Emotion zuschreibt, zugleich aber bestimmte Situationsstrukturierungen abspricht, die als konstitutive Bedingung einer solchen Emotion zu gelten haben, weicht jedenfalls nicht von einem theoretisch unterstellten Verlaufsgesetz ab, sondern verstößt gegen eine Regel, und man hätte Gründe, an seiner sprachlichen Kompetenz oder Ernsthaftigkeit zu zweifeln. Der methodisch versierte Attributionsforscher weiß natürlich, daß Annahmen über bestimmte Regelhaftigkeiten im Gebrauch emotionssprachlicher Attribute nicht gerade an solchen Versuchspersonen überprüft werden können, welche mit dem Gebrauch der betreffenden Attribute gar nicht vertraut sind. Er zieht es deshalb meist vor, seine Hypothesen nicht bei Sprachunkundigen, Babies, Schizophrenen und sonstigen Abweichlern zu überprüfen, sondern bei Psychologiestudenten unterer Semester. Dies mag einer der Gründe für seine empirischen Erfolge sein. IV. Es ist bei den vorausgegangenen Überlegungen nicht ohne gewisse Vereinfachungen abgegangen. Ich möchte deshalb einige weiterführende und ergänzende Gedanken anschließen. Eine Abgrenzung zwischen Begriffsverwirrungen und überraschenden empirischen Befunden scheint, wie wohl deutlich geworden ist, nur im Zusammenhang mit einer expliziten Begriffsanalyse möglich.

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Es drängt sich hier sofort die Frage nach der Gültigkeit einer gegebenen Analyse auf. Der schlichte Appell an ein gemeinsames Sprachverständnis, verbunden mit der Feststellung, daß derjenige, der dieses Verständnis nicht teilt, eben seine Begriffe in Ordnung zu bringen habe, ersetzt sicher keine Begründungsargumente. Die Geltungsfrage stellt sich unterschiedlich, je nachdem, ob Begriffsanalysen im deskriptiven Modus, d.h. als Feststellungen über einen Sprachgebrauch, oder im präskriptiven Modus, d.h. als Festsetzungen für einen Sprachgebrauch, gemeint sind. Für Feststellungen über einen Sprachgebrauch bzw. Behauptungen über die faktische Geltung von Sprachregeln entstehen natürlich die gleichen Prüfverpflichtungen wie für andere empirische Behauptungen auch. Bekanntlich sind aber bei der strengen Prüfung empirischer Hypothesen, und so auch hier, gewisse idealisierende Einschränkungen zu beachten. Die Beobachtung z.B. eines Geisterfahrers widerlegt nicht die Hypothese, daß auf Autobahnen Einbahnverkehr geboten ist. In gleicher Weise reicht auch die Beobachtung eines regelabweichenden Sprachverhaltens nicht aus, um eine entsprechende Hypothese bezüglich der Geltung einer Regel zu entkräften. Es kommt für die Prüfung von Hypothesen über einen Sprachgebrauch in einer Sprachgemeinschaft z.B. wesentlich darauf an, die sprachliche „Kompetenz" des Sprechers, seine Zugehörigkeit zur jeweiligen Sprachgemeinschaft etc. zu beachten. Entscheide ich über diese Voraussetzungen am Maßstab der Regel, deren faktische Geltung erst zu überprüfen ist, so bewege ich mich offenbar in einem methodischen Zirkel. Äußere Kompetenzkorrelate des Typs „neither mad nor bad" erscheinen gleichermaßen unbefriedigend; wenn ich etwa jemanden antreffe, für den Rappen keine schwarzen Pferde sind, so habe ich es u.U. nicht mit einem bösartigen oder unverständigen Menschen, sondern mit einem Schweizer zu tun, der bei dem Wort „Rappen" an sein Kleingeld denkt. Wie kann man dann überhaupt Annahmen über die faktische Geltung bestimmter Sprachregeln zirkelfrei prüfen? Offenbar nur dann, wenn man bei dieser Prüfung nicht nur auf bestimmte Regelmäßigkeiten des Sprachgebrauchs sieht, sondern auch die formativen Prozesse beachtet, welche diese Regelmäßigkeit hervorbringen oder eventuelle Unregelmäßigkeiten beseitigen. Wir müssen also, wenn ein beobachtetes Sprachverhalten von einer hypothetischen Regel abweicht, zumindest auch zusehen, wie das betreffende Subjekt mit seinem Sprachverhalten in der jeweiligen Sprachgemeinschaft zurechtkommt, und beobachten, ob es soziale Regulationen (etwa Sanktionen) gibt, die auf die Modifikation des betreffenden Verhaltens abzielen. In diesem Fall hätten wir Gründe, die beobachtete Regelabweichung nicht unserer Hypothese, sondern dem Subjekt anzulasten.

Begriffsverwirrungen und überraschende empirische Befunde

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Anders stellt sich die Geltungsfrage für Bedeutungs- bzw. Begriffsanalysen im präskriptiven oder konstruktiven Modus. Beispielsweise intendiert Kohlbergs Stufenmodell der Moralentwicklung gerade nicht die Beschreibung des faktischen moralischen Urteilsverhaltens (wenngleich es zu einer solchen Beschreibung benutzt werden kann); vielmehr konstruiert es mit dem Konzept der nachkonventionellen oder prinzipienorientierten Moral (Stufen 5 und 6) einen Idealtyp moralischen Urteilens, der gegenwärtig statistisch selten ist (auf andere, z.T. eher deskriptiv-hypothetische Aspekte des Modells will ich hier nicht weiter eingehen). Gerade hieraus bezieht das Modell einen kulturkritischen Anspruch. Gegen solche idealtypischen Begriffskonstruktionen kann nun offenbar nicht in gleicher Weise argumentiert werden wie gegen deskriptive Rekonstruktionen. Sie stehen deshalb jedoch nicht außerhalb der Kritik. Vielmehr muß man - kurz und apodiktisch gesagt - zusehen, wie es sich mit den Handlungs- und Begriffsmustern, die hier idealtypisch vorgegeben werden, leben und zusammenleben läßt, wobei sogleich wieder hinzuzusetzen ist, daß die Beantwortung dieser Frage auch empirische Aufgaben einschließt. Ein letzter Fragenkomplex drängt sich hier auf: Sind Begriffsverwirrungen nicht notwendige, insofern keineswegs von vornherein negativ zu bewertende, Begleiterscheinungen wissenschaftlichen Fortschritts? Man sollte im Zusammenhang mit dieser Frage vielleicht einen Unterschied machen zwischen den Destabilisierungen eines Annahmengefüges oder Begriffssystems, die im Zuge der radikalen Problematisierung theoretischer Haltungen eintreten und die schließlich zu einem „gestalt switch", einem revolutionären Neuaufbau von Begriffen führen können, und einem weniger fruchtbaren Zustand permanenter Verwirrung, der dadurch entsteht, daß man Bedeutungserläuterungen mit empirischen Hypothesen identifiziert. Zwar kann man u. U. den gleichen Satz einmal als Gegenstand, einmal als Regel oder Kriterium empirischer Überprüfung behandeln; aber man kann nicht beides zugleich tun. Begrififskonstruktive oder -rekonstruktive Bemühungen sind konkreten empirischen Unternehmungen, etwa zu Fragen der Entwicklung des moralischen Urteilens oder des emotionalen Erlebens, nicht nach- oder eingeordnet, sondern methodisch vorgeordnet. Hier hat zumal in der Psychologie die Doktrin des Operationismus einigen Schaden angerichtet, da sie suggeriert, die Bedeutung theoretischer Begriffe könne durch einzelne operationale Definitionen festgelegt werden, und weitergehende begriffliche Bemühungen als müßige Lehnstuhlspekulation erscheinen läßt. Operationalisierungen aber ersetzen keine Bedeutungsanalysen, sondern setzen solche Analysen schon voraus. Hinter den hier an psychologischen Beispielen dargelegten Problemen stehen offenbar epistemologische Probleme allgemeinerer Art.

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Jochen Brandtstädter

Diese allgemeineren Probleme werden sichtbar, wenn wir fragen: Wie können unsere Begriffe gleichsam auf Realität ausgreifen? Schließlich müssen wir uns mit unseren vortheoretischen und theoretischen Begriffsbildungen im Leben und in der Welt zurechtfinden. Traditionelle wissenschaftstheoretische Antworten auf diese Frage orientieren sich am Bild eines Begriffsnetzes, in das wir von einer „beobachtungssprachlichen" oder zumindest erfahrungsnäheren Ebene hinaufsteigen und von dem wir wieder auf diese Ebene herabsteigen, wobei dieser Auf- und Abstieg über interpretative Sätze (Korrespondenzregeln, Reduktionssätze) vermittelt wird. Aber dieses Bild schafft die hier angesprochenen Probleme der Unterscheidung zwischen Begriffsverwirrungen und überraschenden empirischen Befunden in keiner Weise aus der Welt. Wenn wir theoretische Begriffe durch die Aufstellung eines Systems von notwendigen und von hinreichenden Reduktionssätzen interpretieren, so stellt sich vielmehr heraus, daß ein solches interpretatives System keinen rein empirischen, aber auch keinen rein definitorischen bzw. analytischen Status hat. Wenn wir etwa einen Emotionsbegriff Ε durch eine Menge hinreichender Reduktionssätze X interpretieren, in denen z.B. situative Antezedentien des durch Ε bezeichneten emotionalen Zustandes genannt werden, sowie durch eine Menge notwendiger Reduktionssätze Y, in denen bestimmte verhaltensspezifische Folgeerscheinungen oder Ausdruckskorrelate der betreffenden Emotionen behauptet werden, so zeigt sich, daß sich aus der Verbindung von X und Y empirisch gehaltvolle Behauptungen ergeben (etwa: Wenn immer ein Individuum in einer Situation des Typs X s ist, zeigt es eine physiologische Reaktion des Typs Y r ), für die man u. U. zusehen möchte, ob sie durch entsprechende Untersuchungen bestätigt werden. Einige Elemente der durch X und Y gegebenen Bedeutungserläuterungen von Ε mögen also empirisch zur Disposition stehen. Andererseits wird man aber auch nicht alle aufgelisteten Bedeutungselemente empirisch zur Disposition stellen wollen. Vielmehr haben wir den Eindruck, daß bei Preisgabe aller Bedeutungselemente der Begriff Ε zu einer leeren Wortmarke verkümmert, so daß wir gar nicht mehr wissen, wovon bei Ε eigentlich die Rede sein soll. Mithin hat ein hinlänglich umfassendes interpretatives System von notwendigen und hinreichenden Reduktionssätzen auch keinen rein empirischen Status. Es scheint, daß wir hier vom Problem der Unterscheidung zwischen Begriffsverwirrungen und überraschenden empirischen Befunden wieder eingeholt werden. Die Geschichte, die ich hier erzählt habe, hat also kein einfaches Happy-End. Einerseits fühlen wir - und die betrachteten Beispiele aus dem Bereich psychologischer Forschung haben uns in diesem Gefühl vielleicht bestärkt -, daß das Bemühen um eine Unterscheidung

Begriffsverwirrungen und überraschende empirische Befunde

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zwischen begriffsstrukturellen Implikationen und empirischen Zusammenhängen bzw. zwischen Begriffsverwirrungen und überraschenden Forschungsbefunden einen methodischen Sinn macht. Andererseits erkennen wir, daß es schwierig und vielleicht methodisch fragwürdig ist, im Einzelfall eine scharfe oder gar ein für allemal gültige Grenze zu ziehen. Ich habe mit einem Zitat Wittgensteins begonnen und möchte Wittgenstein auch zum Abschluß zitieren. In den Gedanken „Über Gewißheit" (1970, p. 34) schreibt er: „Man könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung f ü r die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionierten; und daß sich dieses Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig würden. Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt."

Literatur KOHLBERG, L. 1973. Continuities in childhood and adult moral development revisited. In: BALTES, P. B . & SCHAIE, K . W. (Ed.) Life-span developmental psychology. New York: Academic Press. LICKONA, T. (Ed.) 1976. Moral development and behavior. Theory, research and social issues. New York: Holt, Rinehart & Winston. PIAGET, J. 1932. Le jugement moral chez l'enfant. Paris: Presses Universitaires de France. SELMAN, R . & D A M O N , W . 1 9 7 5 . The necessity (but insufficiency) of social perspective taking for conception of justice at three levels. In: DE PALMA, J. & FOLEY, J. M. (Ed.) Moral development. Current theory and research. Hillsdale, N. J.: Erlbaum. WEINER, B., RUSSELL, D . & LERMAN, D . 1978. A f f e c t i v e c o n s e q u e n c e s o f c a u s a l

ascriptions. In: HARVEY, J. H . , ICKES, W . & K I D D , R . (Ed.) New directions in attribution research. Vol. 2. Hillsdale, N. J.: Erlbaum. WEINER, B. 1982. An attributionally based theory of motivation and emotion: Focus, range, and issues. In: FEATHER, Ν. T. (Ed.) Expectations and actions: Expectancy-value models in psychology. Hillsdale, N. J.: Erlbaum. WITTGENSTEIN, L. 1967. Wittgenstein und der Wiener Kreis von Friedrich Waismann. Aus dem Nachlaß herausgegeben von P . F . M C G U I N E S S (= Ludwig Wittgenstein. Schriften 3). Frankfurt a.M.: Suhrkamp. W I T T G E N S T E I N , L. 1970. Über Gewißheit (Hg. G. Ε. M. A N S C O M B E und G. H. VON WRIGHT). Frankfurt a.M.: Suhrkamp. WITTGENSTEIN, L. 1980. Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie. Band 1 (Hg. G . Ε . M . A N S C O M B E und G . H. VON W R I G H T ) . Oxford: Blackwell.

HANS LENK

Strukturelle und empirische Implikationen: Über einige strukturinduzierte Implikationen und deren Umkehrungen in die Soziometrie und Sozialpsychologie

Die Psychologie ist an allgemeinen Ergebnissen und Erkenntnissen interessiert. Soweit sie eine theoretische und empirische Wissenschaft ist, strebt sie die Formulierung allgemeiner Gesetzesaussagen an, verwendet dazu theoretische Begriffe und versucht, möglichst weitgehend entweder empirische Gesetze, Quasi-Gesetze (d. h. Aussagen von der logischen Form echter genereller Gesetze, aber mit einem durch Epochenbegriffe, durch Bezugnahme auf Individuenkonstanten oder auf bestimmte Raum-Zeit-Gebiete eingeschränkten Gültigkeitsbereich) und empirische Generalisierungen - etwa im Sinne von Trendaussagen - aus generellen theoretischen Gesetzen bzw. Axiomen der Theorie herzuleiten und so zu einer inneren logischen Verflechtung und Hierarchisierung der gesamten jeweiligen Theorie zu gelangen. Dieser logische Aufbau der Theorie muß freilich durchaus nicht immer vollständig mit deduktiv-nomologischen Erklärungen einhergehen, und er braucht sich auch keineswegs auf deterministische Systeme zu beschränken, sondern es reicht, daß er in probabilistischen Systemen Wahrscheinlichkeitserklärungen und -Prognosen gestattet. Selbst wenn als klassisches Grundmuster der exakten Wissenschaft die deterministische Theorie mit deduktiv-nomologischer Erklärung gilt (d. h. eine Theorie, in der Zustandsaussagen über das System mit logischer Stringenz aus anderen Zustandsaussagen über dasselbe System zu einem anderen Zeitpunkt abgeleitet werden können), so mag dennoch auch die Verwendung von Wahrscheinlichkeitsschlüssen sich am Ziel einer axiomatischen und hierarchisch logisch geordneten Darstellung der Theorie orientieren. (Auch viele Theorien der Physik sind wie die statistische Thermodynamik oder die Quantenmechanik grundsätzlich von wahrscheinlichkeitsgesetzlicher Form.) Solche Wahrscheinlichkeitsschlüsse können so formuliert werden, daß sie weder auf einen strikt quantifizierenden Begriff der relativen Häufigkeit und Ereigniswahrscheinlichkeit in der Grundmenge noch auf einen quantitativen Begriff der Hypothesenwahrscheinlichkeit angewiesen sind, sondern man vermag in einem relativ

Strukturelle und empirische Implikationen

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weiten Bereich mit „praktischer Sicherheit" Erklärungen und Prognosen dieser Art vorzunehmen. Das noch ungelöste wissenschaftstheoretische Problem, was ein echtes Gesetz im Sinne eines Naturgesetzes ist - etwa im Unterschied zu den erwähnten empirischen Generalisierungen oder zu den Quasi-Gesetzen -, kann und muß hier beiseite bleiben. Man mag davon ausgehen, daß jeder Wissenschaftler voraussetzt, daß es einen präzisierbaren und für die Praxis hinreichend klaren Unterschied zwischen Gesetzesaussagen und zufälligen empirischen Regelmäßigkeiten bzw. Trendaussagen usw. gibt. 1. Zum Problem der theoretischen

Begriffe

Theorien und theoretische Gesetze sind nur mit Hilfe von theoretischen Begriffen zu formulieren. Das sind solche Begriffe, die sich nicht definitorisch oder durch Konstitution oder gar im Sinne der frühen Neopositivisten durch Reduktionssätze ausschließlich auf einfache Messungen oder Beobachtungsaussagen zurückführen lassen. Seit der sogenannten strukturalistischen Wende in der Wissenschaftstheorie durch Sneed und Stegmüller verfügen wir über eine klare Definition des „theoretischen Begriffs". Ein Begriff ist theoretisch (in bezug auf eine Theorie), wenn die ihm zugeordnete Größe in allen Anwendungen nur durch Benutzung der Theorie selbst gemessen werden kann. Dies hat zur Folge, daß die Eigenschaft, ein theoretischer Begriff zu sein, nunmehr auf eine Theorie relativiert und durch ein Kriterium kontrollierbar wird, also unabhängig von der herkömmlichen gescheiterten Unterscheidung zwischen beobachtbaren und nicht beobachtbaren Größen bestimmbar ist. Eine Größe ist also nur noch relativ zu einer Theorie „theoretisch" - eben dann, wenn sie in allen Anwendungen nur in von der Theorie abhängiger Weise gemessen werden kann. Dies gilt zum Beispiel in der Newtonschen klassischen Mechanik für Kraft und Masse, aber nicht etwa für Ort und Zeit. „Kraft" und „Masse" wären also theoretische Begriffe der Newtonschen klassischen Mechanik. Begriffe sind Instrumente - und zwar praktisch überhaupt unverzichtbare Hilfsmittel für allgemeine Theorien. Bei stark „logifizierten" und axiomatisierten empirischen Theorien ist die Rolle dieser theoretischen Begriffe genauer untersucht worden. Man weiß, daß theoretische Begriffe - oder wie man in der Psychologie des öfteren sagt: theoretische Konstrukte - nicht vollständig mit empirischer Bedeutung versehen werden können. Es besteht zum Beispiel keine Möglichkeit, dem theoretischen Begriff „Temperatur" durch eine endliche Anzahl von Meßverfahren eindeutig eine vollständige empirische Interpretation zuzuweisen: Jedes spezielle Meßverfahren hat Gültigkeit nur in einem bestimmten eingrenzbaren Normalbereich - oberhalb einer bestimmten absoluten

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Temperatur schmilzt zum Beispiel jedes Meßinstrument. Der theoretische Begriff leistet dennoch - obwohl nur unvollständig interpretiert - durch Gesetze, in denen er vorkommt, die theoretisch-ideelle Integration aller bekannten und evtl. noch zu entdeckenden Meßmöglichkeiten, die ihm zugeordnet werden können. Angeregt durch die Untersuchungen von Ramsey (1931) konnte man freilich erkennen, daß man prinzipiell, wenn auch nicht praktisch, auf theoretische Begriffe verzichten könnte. Ramsey ersetzte sämtliche theoretischen Terme (Ausdrücke der Theoriesprache, die den theoretischen Begriffen entsprechen) durch Variablen, die durch vorgesetzte Existenzquantoren gebunden werden. Dachte man sich die Theorie in axiomatischer Form und als konjunktive Zusammenfassung der Axiome und Zuordnungsregeln zwischen theoretischen Begriffen und Beobachtungsbegriffen gegeben, so ergibt sich durch das Ramseysche Verfahren ein einziger komplizierter Existenzsatz, der keinerlei theoretische Begriffe mehr enthält. Dieser heißt der Ramsey-Satz der Theorie. Dieser Ramsey-Satz hat einige bemerkenswerte wissenschaftstheoretische Eigenschaften. Es läßt sich nämlich beweisen, daß er im Hinblick auf die Erklärung von Einzelergebnissen und auch auf die Tatsachenprognosen genauso leistungskräftig ist wie die Ausgangstheorie. Er stellt in gewissem Sinne den empirischen Strukturgehalt der Theorie dar (von der Bedeutung der theoretischen Begriffe ist ja abstrahiert). (Dieses Verfahren bleibt mit geringer Modifikation des Ramsey-Satzes in der strukturalistischen Wissenschaftstheorie erhalten; Stegmüller 1970, pp. 400-437; Stegmüller 1983, p. 1041). Da der Ramsey-Satz bis auf die Vorschaltung von Existenzquantoren dieselbe logische Struktur hat wie die Ausgangstheorie, folgt, daß die spezielle Interpretation der theoretischen Begriffe für die Möglichkeit der Voraussage und Tatsachenerklärung nicht von entscheidender Bedeutung ist. Das strukturelle Gerüst der Theorie, also die logisch darzustellenden und unter Umständen mathematischen Relationen sowie die Beobachtungsterme und Beobachtungsaussagen sind von größerer Bedeutung für die genannten Ziele der Erklärung und Prognose von Ereignissen als die theoretischen Begriffe selbst, die gleichsam durch Leerstellen ersetzt werden könnten. Hiermit ist erkannt, daß die strukturelle und kontextuelle Stellung von theoretischen Begriffen innerhalb einer Theorie etwas sehr Wesentliches und Entscheidendes (für deren Bedeutung) ist. - Es ist hiermit jedoch nicht behauptet, daß man wirklich auf theoretische Begriffe völlig verzichten kann, wie gelegentlich von Wissenschaftstheoretikern geschlossen wurde. Nicht nur sind theoretische Begriffe unerläßlich für das praktische Arbeiten mit Theorien, sondern auch bei der Gewinnung neuer empirischer Gesetze unter Zugrundelegung der Ausgangstheorie sowie bei der Modifikation der Theorie

Strukturelle und empirische Implikationen

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selbst scheinen theoretische Begriffe keineswegs überflüssig zu sein (Braithwaite-Ramsey-Vermutung, vgl. ζ. B. Stegmüller 1970, p. 280ff.). Nebenbei bemerkt hat dieser Ramsey-Satz, der zu einer Theorie gehört, noch eine Reihe besonderer Vorteile für die Beurteilung der Theorie. Zunächst einmal können unvollständig gedeutete Begriffe natürlich nur zu unvollständig gedeuteten Sätzen führen, die diese Begriffe enthalten. Unvollständig gedeuteten Sätzen hingegen ist kein Wahrheitswert definitiv zuzusprechen. Theoretische Gesetze konnten bis dahin weder als wahr noch als falsch bezeichnet werden, da sie eben unvollständig gedeutete Begriffe enthalten. Nach der Elimination der theoretischen Begriffe ist nun freilich der RamseySatz ein vollständiger Satz ohne nur partiell interpretierte Begriffe, und als solcher ist er wahr oder falsch. Man hat nunmehr die Möglichkeit, der gesamten Theorie das Prädikat „wahr" genau dann zuzuordnen, wenn der Ramsey-Satz der Theorie ein wahrer Satz ist. - Ferner kann der Ramsey-Satz in fruchtbarer Weise verwendet werden, um triviale und empirisch nicht überprüfbare, tautologische oder total gegen die Empirie immunisierte Theorien zu kennzeichnen. Solche haben nämlich die Eigenschaft, daß ihr Ramsey-Satz selbst trivial ist, d.h. logisch wahr. Durch bestimmte sinnvolle Zuordnungen gelingt es auch mit Hilfe des Ramsey-Satzes bzw. mittels weiterer Modifikationen durch Sneed und Stegmüller, innerhalb der theoretischen Sprache einer Theorie analytisch wahre von synthetischen (d.h. empirisch gehaltvollen) Sätzen abzutrennen - ein Problem, dem sich vorher unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenzustellen schienen. In der strukturalistischen Wissenschaftstheorie wird dabei der empirische Gehalt einer Theorie durch eine zentrale empirische Gesamthypothese dargestellt, die allerdings nicht mehr direkt mit der Theorie zu identifizieren ist. Diese Gesamthypothese, Ramsey-Sneed-Satz genannt, behauptet, daß es theoretische Funktionen gibt, die vorgegebene allgemeine Nebenbedingungen erfüllen, so daß die möglichen Anwendungsmodelle ohne theoretische Terme (die sogenannten partiellen potentiellen Modelle), d. h. die „intendierten Anwendungen", durch Hinzufügung dieser theoretischen Funktionen zu Modellen der Theorie ergänzt werden können (die Theorie „wahr" machen, erfüllen) (vgl. etwa Stegmüller 1980, p. 10, p. 35, p. 62, p. 187 u.a.). Es soll hier allerdings nicht über weitere wissenschaftstheoretische und teilweise auch philosophische Probleme des Ramsey-(Sneed)Satzes diskutiert werden. Nur soviel ist festzuhalten: Im Hinblick auf die Erklärung und Prognose von Ereignissen sind theoretische Begriffe wesentlich durch ihre strukturellen Beziehungen im logischstrukturellen Gerüst der Theorie und durch ihre formalen Zuordnungen zu Beobachtungstermen und Beobachtungssätzen gekennzeichnet. Sie sind selbst Instrumente, die gleichsam kontextuell

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und zum guten Teil theorie-relativ strukturell bestimmt und verwendet werden. Auch in der Psychologie werden eine ganze Reihe theoretischer Begriffe benutzt, selbst wenn diese oftmals anscheinend erst dann anschaulichen Gehalt dadurch gewinnen, daß ihre Beziehungen aus der Umgangssprache und dem Alltagsleben übernommen worden sind. Man denke zum Beispiel nur an Grundbegriffe der Motivationsforschung wie „Motiv", „Motivation", „Volitionsstärke" oder an die unten zu erörternden Dispositionsbegriffe usw. Dies gilt natürlich erst recht für solche Begriffe in der Sozialpsychologie wie „soziometrischer Status", „Interaktionshäufigkeit" sowie für die gerichteten Wahl- bzw. Vorzugs- oder Ablehnungsbeziehungen in soziometrischen Analysen. Insbesondere sind auch die dort verwendeten Begriffe der Graphentheorie nicht mehr nur mathematische Instrumente, sondern durch die sozialpsychologische Deutung zu theoretischen Begriffen einer Erfahrungswissenschaft geworden. 2. Strukturelle

Implikationen

Begriffe sind Instrumente. Wenn sie weitgehend strukturell und kontextuell gekennzeichnet werden können, so strukturieren sie ihrerseits eben aufgrund ihrer kontextuellen „Bedeutung" das Erfahrungsfeld einer empirischen Wissenschaft in zentraler Weise mit. Dies gilt natürlich auch für die Analysen der empirischen Psychologie selbst. Es können nun Fälle eintreten, bei denen sich anscheinend empirische und gelegentlich sogar überraschende Resultate nicht als Aussagen von empirischem Gehalt herausstellen, sondern als strukturell erzeugte analytische Folgen der zugrundegelegten logisch-mathematischen oder axiomatischen Strukturbegriffe der Theorie aufzufassen sind. Es handelt sich hierbei nicht einmal um normale Folgerungen aus den, wenn auch nur partiell gedeuteten, theoretischen Begriffen, die ihre Interpretation über die Zuordnungsregeln zu Beobachtungsaussagen erhalten, sondern um Folgerungen aus dem logisch-mathematischen Strukturzusammenhang der Theorie an sich - ohne Berücksichtigung der erwähnten Zuordnungsregeln, welche die Verbindung zur empirischen Überprüfung herstellen. Diese Fälle sind also dadurch gekennzeichnet, daß abgeleitete Resultate nicht aus jenem strukturellen Zusammenhang folgen, der die theoretischen Begriffe durch die Zuordnungsregeln empirisch deutet, sondern aus dem theorie-relativen logisch-mathematischen Strukturgehalt dieser Begriffe allein. (Natürlich gehört dieser Strukturgehalt zur strukturellen Kennzeichnung des theoretischen Begriffes als ein wesentlicher Teil hinzu, macht aber nicht den gesamten kontextuellen Bedeutungsgehalt dieses Begriffes aus.) Bestimmen in dieser Weise ausschließlich

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logisch-mathematische oder theorie-axiomatische Strukturen ein abgeleitetes Resultat, so soll die Beziehung zwischen Prämisse und abgeleitetem Resultat eine (rein) strukturelle Implikation heißen. Selbstverständlich kommen strukturelle Implikationen nicht nur in streng axiomatisierten Theorien vor. Hier lassen sie sich aber am besten aufzeigen und identifizieren! Im folgenden sollen einige Beispiele für strukturelle Implikationen in relativ exakt axiomatisierbaren Teiltheorien der Sozialpsychologie gegeben werden. Der Einfachheit halber werden die Beispiele stets unter Zugrundelegung desselben logisch-mathematischen Instrumentalmodells gewonnen, nämlich der Graphentheorie, die sich bekanntlich in der Sozialpsychologie sehr fruchtbar bei der Analyse von Kleingruppenbeziehungen, Kommunikationsnetzwerken und von soziometrischen Beziehungen anwenden läßt. 3. Strukturelle Implikationen Beispiel)

in der Soziometrie (ein erstes

Soziogramme wie auch die entsprechenden Matrizen lassen sich mit den Mitteln der mathematischen Graphentheorie als gerichtete Graphen auffassen, wobei den Personen, Positions- oder Beziehungsträgern die Punkte des Graphen und den Beziehungen oder Interaktionen die Linien des Graphen entsprechen. Ein gerichteter Graph ist jede Struktur, die sich axiomatisch in folgender Weise kennzeichnen läßt: Vorausgesetzt wird eine Menge, deren Elemente „Punkte" genannt werden, sowie ebenfalls eine zweite Menge von geordneten Punktepaaren, „Linien" genannt, die nur Punkte der ersten Menge enthalten. In den Axiomen der Theorie der gerichteten Graphen wird nun gefordert, daß die Punktmenge nichtleer und endlich ist und daß auch die Zahl der Punktepaare, also der Linien, endlich ist. Weiter dürfen keine zwei gleichgerichteten (parallelen) Linien zwischen zwei Punkten existieren (entgegengesetzt gerichtete Linien werden zugelassen), d. h., ein geordnetes Punktepaar darf nur als eine Linie zählen. Zuletzt sind vielfach (die Autoren differieren ein wenig hierüber) noch Schleifen verboten, d.h., in einem Punktepaar darf nicht an beiden Stellen zugleich derselbe Punkt auftreten, oder eine Linie darf nicht zu ihrem Ausgangspunkt direkt zurückkehren. Linienzüge gleichgerichteter Linien, die aneinandergehängt sind, heißen Pfade, wenn die Punkte und Linien nicht doppelt auftreten. Ohne diese letztere Einschränkung handelt es sich um Sequenzen. Linienzüge von aneinanderhängenden Linien, deren Teillinien nicht notwendigerweise gleichgerichtet sind, nennt man Semisequenzen bzw. Semipfade. Geschlossene Pfade sind Zyklen, geschlossene Semipfade sind Semizyklen.

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Ähnlich wie Soziogramme sich in Matrizen darstellen und auf Digitalrechnern verarbeiten lassen, können auch Graphen in sogenannten Benachbartheitsmatrizen (adjacency matrices) dargestellt werden. Eine solche Benachbartheitsmatrix (ajk) gibt in der Zeile i und der Spalte k an, ob der Punkt Ai mit dem Punkt Ak durch eine gerichtete Linie direkt verbunden ist: Dann steht an dieser Stelle ajk eine Eins; wenn keine solche Linie existiert, so steht dort eine Null (siehe Tab. 1). Tab. 1: Zugehörige Benachbartheitsmatrix zu dem unten abgebildeten funktionalen Graphen (vgl. Abb. 1)

A Β C D Ε F G Η I Κ L Μ Ν

A

Β

c

D

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F

G

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0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0

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0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0

0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0

Aus diesen Benachbartheitsmatrizen lassen sich weitere Matrizen herleiten, die angeben, ob ein Punkt durch einen Pfad von einem anderen aus erreichbar ist (Erreichbarkeitsmatrix) oder welche Distanz (Länge der Teillinien) ein kürzester Pfad zwischen zwei Punkten hat. Potenzmatrizen der Benachbartheitsmatrix können zur Ermittlung von Cliquenstrukturen herangezogen werden. In den Hauptdiagonalen der dritten Potenz der Benachbartheitsmatrix wird nämlich die Anzahl der Dreiercliquen angegeben, an denen der jeweils in der Zeile und Spalte stehende Punkt teilhat. Größere Cliquen können als durch Dreiercliquen aufgebaut analysiert werden. Vollständige Cliquen, d.h. solche, in denen jeder Punkt mit jedem durch eine direkte Linie verbunden ist und auch jeder Linie die umgekehrte entspricht und im Soziogramm vorkommt, sind in wirklichen sozialen Gruppen recht selten anzufinden. Deshalb ist es sinnvoll, den Cliquenbegriff abzuschwächen. Harary, Norman & Cartwright (1965) schlagen deshalb einen schwächeren Cliquenbegriff vor: Clique ist jeder größte Subgraph, der die Eigenschaft hat, daß jeder Punkt in ihm von jedem anderen in ihm auf einem Pfad erreichbar ist. Triviale Cliquen dieser Art wie Einzelpunkte und auch Zweiercliquen

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sollten dabei definitorisch noch ausgeschlossen werden. Diese sogenannten schwachen oder nicht vollständigen Cliquen sind für die Soziometrie von großer Bedeutung, da die meisten in der Wirklichkeit sich findenden Cliquenstrukturen von solcher Art sind. In Soziogrammen, bei denen eine feste Zahl der abzugebenden Stimmen (sei es Vorzugswahlen oder Ablehnungen) oder eine feste Zahl der Interaktionspartner gegeben ist, treten nun solche nichtvollständigen Cliquen aus strukturellen Gründen notwendig auf: Die Existenz von schwachen Cliquen bestimmter Art sind in Soziogrammen dieses Typs strukturelle Implikationen und somit keine empirischen Resultate. Hierzu ist es nötig, zunächst eine etwas vereinfachende Analysenannahme zu machen, von der man sich nachher freilich wieder befreien kann. Es sei vorausgesetzt, daß jeder Wähler im Soziogramm bzw. jeder beobachtete Interaktionspartner nur eine Beziehung zu bloß einem anderen Partner realisieren kann. In diesem Fall ist das entstehende Soziogramm durch einen funktionalen gerichteten Graphen darzustellen, d.h. durch einen Graphen, in dem von jedem Punkt aus genau eine Linie hervorgeht oder, wie man auch sagt, jeder Punkt den Ausgrad 1 hat. Funktionale gerichtete Graphen haben nun aus strukturellen Gründen stets die Form eines Zyklus, an den Bäume gehängt sind, d.h. zyklenfreie Linienzüge, die von einem Punkt des Zyklus ausgehen oder auf einen solchen Punkt hin gerichtet sind. Bei funktionalen Graphen sind die Linienzüge in den Bäumen stets auf den entsprechenden Punkt des Zyklus gerichtet, an dem der jeweilige Baum angehängt ist. Handelt es sich um einen Graphen, der in mehrere unverbundene Stücke auseinanderfällt, so enthält jedes Teilstück genau einen solchen Zyklus. Soziogramme, die durch funktionale gerichtete Graphen dargestellt werden können, enthalten also aus rein strukturellen Gründen Cliquen im Sinne von nichtvollständigen schwachen Cliquen. Schwache Cliquen sind also rein strukturelle Implikate in funktionalen Soziogrammen (siehe Abb. 1). Beweis: Der funktionale Graph sei nach Voraussetzung zusammenhängend, er zerfalle also nicht in unverbundene Teilstücke. Da jeder Punkt den Ausgangsgrad 1 hat, kann im Graphen kein reiner Empfängerpunkt bestehen; denn dieser hätte den Ausgangsgrad 0. Hieraus folgt, daß der Graph mindestens einen Zyklus enthält; denn der Endpunkt jedes größten Pfades hat eine ausgehende Linie, diese aber muß zu einem Punkt des Pfades zurückkehren. (Wäre nämlich ein neuer, nicht auf dem Pfad liegender Punkt Endpunkt dieser Linie, so wäre der Pfad nicht ein größter oder maximaler.) Ist der gerichtete Graph zusammenhängend, so kann er keine zwei Zyklen enthalten; denn ein Verbindungspunkt der beiden Zyklen oder ein Punkt auf dem Semipfad, der beide Zyklen verbinden würde, hätte dann den

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Abb. 1: Beispieldiagramm für einen funktionalen gerichteten Graphen (etwa Vorzugswahlensoziogramm - z.B. Kapitänswahl - einer Ein-Stimmen-Wahl in einer Fußballmannschaft mit zwei Ersatzspielern)

Ausgangsgrad 2. - Enthält der funktionale Graph zwei oder mehr Zyklen, so besteht er aus entsprechend zwei oder mehr unverbundenen Teilstücken, die jedes einen Zyklus enthalten. Der vorherige Beweis bezieht sich dann auf jedes Teilstück. - Nichtzyklische Teile des zusammenhängenden funktionalen Graphen sind Bäume, die je in ihren Linienzügen auf einen Punkt des Zyklus ausgerichtet sind. Jeder nicht im Zyklus liegende größte Pfad hat nämlich nach Voraussetzung einen Endpunkt mit dem Ausgangsgrad 1. Die ausgehende Linie kann keinen außerhalb des Pfades und des Zyklus befindlichen Punkt enthalten; denn dann wäre der Pfad nicht maximal und dieses widerspräche der Annahme. Diese Linie kann auch nicht auf Punkte des Pfades zurückgerichtet sein, denn dann enthielte der Pfad selbst noch einen Zyklus. Nach Erhalt dieses Resultats kann man sich von der Voraussetzung befreien, daß die betroffenen Soziogramme jedem Wähler nur eine Stimmabgabe erlauben bzw. für jeden Interaktionspartner nur je einen anderen Interaktionspartner vorsehen. Soziogramme, die aus genau zwei Stimmabgaben jedes Wählers entstehen bzw. jedem Interaktionspartner genau zwei Interaktionspartner zuordnen, sind als Vereinigung bzw. Überlagerung zweier funktionaler gerichteter Graphen aufzufassen. Sie enthalten also mindestens zwei Zyklen oder schwache unvollständige Cliquen. Entsprechendes gilt für höhere Stimmenzahlen. Kompliziert man also Soziogramme durch die Vorgabe einer höheren Anzahl von möglichen Stimmabgaben (entsprechend für höhere Anzahlen von Interaktionspartnern oder Kommunika-

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tionskanälen), so erhält man eine entsprechend durch Überlagerung zustandegekommene komplexere Struktur, die dann ebenfalls aus strukturellen Gründen schwache Cliquen aufweist, welche allerdings nun nicht so leicht als bloße strukturelle Implikationen der Fragestellung bzw. des theoretischen Begriffsinstrumentariums erkannt werden können. Insbesondere ist empirisch bestimmt, welche Gruppenmitglieder in der jeweiligen Clique sind. Nur die allgemeine Aussage, daß ein Soziogramm stimmengleicher Wähler oder ein Kommunikationsnetz mit jeweils ausgradgleichen Punkten schwache Cliquen enthalte, ist keine empirische Feststellung, sondern eine strukturelle Implikation des theoretisch-logischen Gerüsts allein. Daher ist es etwa in der Soziometrie empirisch sinnvoll, nur einen Begriff der fastvollständigen (nicht: der vollständigen) Cliquen zu verwenden, bei dem bis auf ein oder zwei Linien alle Punkte wechselweise durch Linien verbunden sind. Immerhin ließ sich an diesem Beispiel ein klassischer Fall einer strukturellen Implikation illustrieren, bei der ausschließlich der logisch-mathematische Strukturgehalt der zugrundeliegenden theoretischen Begriffe ein anscheinend empirisches, aber in Wirklichkeit analytisches Ergebnis (Resultat) bestimmte. 4. Das sogenannte

Sportjournalistenparadox

Es sei noch ein gruppenpsychologisches Beispiel erörtert, das zwar eher in die Mikrosoziologie gehören dürfte, aber besonders klar graphentheoretische strukturelle Implikationen enthüllt. In Rundenspielturnieren - etwa von Sportmannschaften - spielt jede Mannschaft innerhalb einer bestimmten Runde gegen jede andere. Der gerichtete Graph eines Rundenspielturniers ist, wenn ein Spiel durch eine Linie dargestellt wird, also ein vollständiger Graph. Da eine Mannschaft in einer Runde gegen jeden Gegner nur einmal spielt und bei diesem Spiel nur eine Mannschaft von beiden gewinnen kann, ist der Graph auch asymmetrisch: d.h., wenn Α über Β gesiegt hat, so kann in derselben Runde nicht auch Β über Α gesiegt haben. („Unentschieden" sei aus Gründen der Einfachheit ausgeschlossen; man kann sich aber auch von dieser Einschränkung späterhin durch eine Komplizierung des Modells befreien.) Vollständigkeit und Asymmetrie kennzeichnen strukturell einen besonderen Typ von Graphen, der aus naheliegenden Gründen als Typus der Turniere (tournaments) bezeichnet wird. Turniere sind also vollständige, asymmetrisch gerichtete Graphen. Möchte man sich von der oben erwähnten Einschränkung auf bloße Siege oder Niederlagen beschränken, so könnte man den bisher wenig untersuchten Typus der gemischten Turniere einführen, in denen unentschiedene

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Spiele durch ungerichtete Linien dargestellt werden können. Vom Verfasser sind diese gemischten Turniere an anderer Stelle (1970) ausführlicher untersucht worden. Für die vorliegende Beispielillustration braucht jedoch nicht diese komplexere Theorie herangezogen zu werden. Auch bei reinen Turnieren gibt es eine Reihe von strukturellen Implikationen, von denen einige sehr einfach zu erkennende hier genannt werden sollen: Ein reines Turnier hat höchstens einen reinen Sendepunkt, d.h. einen Punkt, der nur ausgehende Linien zeigt jedes Turnier hat also höchstens eine Siegermannschaft, die alle anderen besiegt. (Besiegt nämlich eine Mannschaft alle anderen, so liegen alle diese als Endpunkte auf mindestens einer in sie hineingerichteten Linie, sind also keine reinen Sendepunkte.) Ebenso hat natürlich ein jeder Turniergraph höchstens einen reinen Empfängerpunkt, der nur einlaufende Linien aufweist, also höchstens einen totalen Verlierer, der gegen jede andere Mannschaft verloren hat. Bezeichnet man die Zahl der Siege einer Mannschaft als Ergebnisrate des zugehörigen Punktes im Turnier, so gibt es einen interessanten Satz der Turniertheorie, der sich hiermit formulieren läßt. Er besagt, daß die Entfernung von einem Punkt Α mit der höchsten Ergebnisrate des gesamten Turniers zu jedem anderen Punkt eins oder zwei ist. Beweis: Die Entfernung von Α zu den von Α besiegten Mannschaften ist selbstverständlich eins. Man muß also nur noch zeigen, daß die Entfernung zu allen anderen Mannschaften gleich zwei ist. In reinen Turnieren, die wir hier vorausgesetzt haben, haben diese Α besiegt. Ζ sei eine beliebige Mannschaft davon. Angenommen, es gäbe keinen Punkt unter den von Α besiegten Mannschaften, von dem die Entfernung bis zu Ζ eins ist (also die Entfernung von Α zu Ζ gleich zwei wäre), dann hätte Ζ alle von Α besiegten Mannschaften und Α selber besiegt. Das ergibt einen Widerspruch zur Voraussetzung, daß Α die höchste Ergebnisrate des Turniers hat. Aus diesem Beweis folgt sofort, daß für den Fall eines Turniers ohne totalen Gewinner auch die Mannschaft mit der höchsten Ergebnisrate von einer Mannschaft geschlagen wurde, die ihrerseits besiegt wurde von einer Mannschaft, welche der führenden unterlegen war. Oder anders ausgedrückt: Jede nicht total gewinnende Mannschaft C befindet sich in einem Dreierzyklus mit Verlust oder, wie man kurz sagen könnte, in einem „Verlusttripel" (C verliert gegen Υ, Y verliert gegen Χ, X verliert gegen C). Hieraus folgt bereits, daß Turniere ohne totalen Gewinner nicht transitiv sein können, d. h., es ist nicht immer der Fall, daß, wenn Α Β besiegt hat und Β C besiegt hat, dann auch A C besiegt hat. Hieraus folgt unmittelbar, daß ein Turnier ohne Totalgewinner keine strenge

Strukturelle und empirische Implikationen

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(vollständige) Ordnung oder Kette darstellen kann; transitive Turniere sind nämlich, logisch gesehen, strenge Ordnungen. Es gilt aber nicht nur, daß jeder nicht-totale Gewinner eines Turniers in einem Verlusttripel liegt, sondern unter bestimmten Bedingungen ist er sogar Endpunkt eines Verlustpfades von jedem anderen Punkt aus. Das bedeutet: Jede Mannschaft ist in einem Einzelvergleich sozusagen besser als der nicht-totale Gewinner, weil sie Mannschaften geschlagen hat, die wiederum Mannschaften geschlagen haben usw. - bis hin zu den Mannschaften, welche letztlich den Gewinner geschlagen haben. Einschränkend ist hierbei nur zu sagen, daß eine eventuelle völlig sieglose Mannschaft natürlich nicht als Anfang oder als Zwischenpunkt eines Verlustpfades dieser Art genommen werden kann. Es darf auch nicht ein solcher beliebiger Anfangspunkt des Verlustpfades für den Gewinner zu einer deklassierten Menge gehören, d.h. zu einer Menge von Mannschaften, welche keinerlei Sieg über eine nicht dazugehörige Mannschaft zu verzeichnen haben. Nimmt man aber diese Bedingungen an, so gilt der Satz: Von jedem Punkt aus, der nicht zu einer deklassierten Menge gehört, existiert ein Pfad durch alle Turnierpunkte hindurch, also auch durch den (nicht-totalen) Gewinnpunkt, falls dieser vom Anfangspunkt verschieden ist. Beweis: Weil der Anfangspunkt Al nach Voraussetzung zu keiner deklassierten Menge gehört, gibt es einen von Al ausgehenden Pfad. Würden alle von Al ausgehenden Pfade abbrechen, bevor alle Punkte des Graphen durchlaufen sind, so wären die Punkte, die von allen diesen Pfaden von Al aus erreicht sind, eine deklassierte Menge. (Wenn nicht, so gäbe es nämlich von einem dieser Punkte aus eine Linie zu einem weiteren Punkt außerhalb dieser Teilmenge. Dann ließe sich der Pfad von Al aus zu diesem Punkt durch diese Linie nach außen verlängern.) Al gehörte also zu einer deklassierten Menge dies aber im Widerspruch zur Voraussetzung. Man muß also Fußballjournalisten und Vereinsfunktionäre enttäuschen: Dieses sogenannte Sportjournalistenparadox (nach Ore 1963) tritt notwendigerweise in reinen Turnieren auf, und es läßt sich auch auf gemischte Turniere (d. h. Turniere mit „Unentschieden") übertragen. Es ist also nicht möglich, um der spektakulären Minderung des Gewinners willen oder um einer mittelbaren, gleichsam ideologischen Erhöhung der eigenen unterlegenen Mannschaft willen diese als die „eigentlich bessere" hinzustellen, da sie doch Mannschaften geschlagen habe, die wiederum Mannschaften geschlagen haben, die den nicht-totalen Gewinner der Gesamtrunde besiegt haben. Wären die genannten Journalisten oder Funktionäre graphentheoretisch vorgebildet, so würden sie nach der Saison nicht einen solchen Verlustpfad für den Gewinner als besonders überraschend herausheben kön-

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nen und als eine Schwäche des Gewinners oder „eigentliche Überlegenheit" ihrer eigenen Mannschaft interpretieren können, sondern sie würden einsehen, daß es sich hier nur um eine logisch-mathematische Folge der Turnierordnung und der Tatsache handelt, daß der Gewinner überhaupt ein Spiel verloren hat. (Vorauszusetzen für die Übertragung auf gemischte Turniere ist übrigens auch noch, daß nicht nur unentschiedene Spiele außerhalb einer deklassierten Gruppe im Turnier stattgefunden haben.) Man sieht also, daß eine recht komplexe, auf den ersten Anschein sogar eine überraschende, empirische Tatsachen konstatierende Aussage doch nur eine analytische Folge der Organisationsbedingungen des Turniers ist - also ein strukturelles Implikat dieser Organisation, aber keineswegs ein empirisches Ergebnis. 5. Einige

Folgerungen

Mit diesen beiden Beispielen (Soziogramme, Turniere) dürfte das Prinzip der strukturellen Implikationen zunächst einmal klar illustriert sein. Es ließen sich natürlich ähnliche Beispiele in allen Teilbereichen finden, wo axiomatisierte Strukturen zur Beschreibung und Darstellung von Strukturen - etwa aller Art von Beziehungsstrukturen - Verwendung finden können, also insbesondere für formalisierte Beziehungen und Kommunikationsnetzwerke sowie für institutionalisierte Informationskanäle. Der empirische Sozialpsychologe hat also in jedem Falle genau darauf zu achten, welche seiner Resultate nur eine strukturelle Folge der Versuchsanordnung oder theoretischen Struktur oder gar der entsprechenden institutionellen Regeln ist, was sich also als strukturelle Folge des verwendeten Beschreibungs- und Begriffsinstrumentariums erweist. Erst wenn er hierüber Klarheit erlangt hat, kann er einwandfrei sagen, was über diese strukturellen Implikationen hinaus nun echte empirische Resultate seiner Untersuchungen sind. Bei den strukturellen Implikationen - und das zeigt sich auch im Unterschied der beiden Beispiele - können folgende zwei wichtige Falltypen unterschieden werden: Die strukturellen Implikationen können Folge der gewählten Beschreibungsinstrumente oder des begrifflichen Instrumentariums der Analyse oder gar der vom Wissenschaftler ausgesuchten Versuchsanordnung sein. Der andere Fall (vgl. das obige Turnierbeispiel) ist dadurch gekennzeichnet, daß die strukturellen Implikationen sich schon aus den Institutsregeln selber ergeben: Ein Turnier ist nun eben institutionell so angeordnet, daß das graphentheoretische Modell der Turniere darauf zutreffen m u ß (zumindest jenes der gemischten Turniere). In diesem Falle hat die Wahl der begrifflichen Instrumente sozusagen keinen Freiheitsgrad mehr für

Strukturelle und empirische Implikationen

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strukturelle Implikationen, die nicht schon aus den Organisationsregeln des sozialen Institutionszusammenhanges selber stammen. Dies ist natürlich ein wesentlicher Unterschied, der zu beachten ist. Wollte man den ersten Fall noch weiter differenzieren, so ließe sich noch zwischen strukturellen Implikationen der Versuchsanordnung und den strukturellen Folgen der Wahl der Begriffsinstrumente bzw. der Theorie selbst (etwa bei nichtteilnehmender Beobachtung ohne Experimentalcharakter) unterscheiden. Selbstverständlich ist das Phänomen struktureller Implikationen nicht ausschließlich auf logisch-mathematische Folgen der Strukturzusammenhänge einzuschränken, sondern die Wahl der theoretischen Begriffe in mittelbarer Zuordnung zu Beobachtungssätzen selbst hat natürlich empirische Relevanz - eben durch die besondere Struktur der Zuordnungsregeln, aber auch durch den logischen Zusammenhang der theoretischen Begriffe innerhalb der Gesetze oder Quasi-Gesetze selbst (soweit diese nicht rein mathematische oder logisch-analytische Zusammenhänge sind). Auch hier ist natürlich das Phänomen der strukturellen Implikationen genau zu verfolgen und analog zu den beiden oben gegebenen Beispielen zu unterteilen. Handelt es sich um den zweiten Typus struktureller Implikationen aus bereits vorgegebenen institutionellen Regelungen des sozialen Bereichs selbst, so ist natürlich nicht zu übersehen, daß den spezifischen strukturellen Folgen dieser Art insgesamt eine empirische Bedeutsamkeit schon insofern zukommt, als bei vorausgesetzter Anwendbarkeit des theoretischen Strukturmodells die Folgerungen sich eben aus empirisch vorliegenden Regelstrukturen ergeben. Doch bietet eine solche strukturelle Implikation im Grunde nichts Neues über die Voraussetzung hinaus - der empirische Gehalt wird nicht vermehrt, sondern ist voll bereits in den Prämissen enthalten. In manchen Fällen wäre allerdings die Übereinstimmung der strukturellen Implikationen mit entsprechenden Phänomenen der Wirklichkeit auch als bestätigendes Indiz dafür aufzufassen, daß das gewählte theoretische Modell auf diesen Phänomenbereich anwendbar ist.

6. Zur Umkehrung: „Empirische Implikationen aus zentralen Strukturbegriffen " Die bisher erwähnten Ergebnisse zu den strukturellen Implikationen lassen sich freilich in gewisser Weise durch Umkehrungen konterkarieren bzw. relativieren. Es erweist sich nämlich, daß auch strukturelle Bildungen im Rahmen der theoretischen Begriffe einer Theorie u.U. empirischen Gehalt aufweisen. Insgesamt zeigt sich an einer wissenschaftstheoretischen Diskussion der Dispositionsbegriffe und -prädikate, daß die Unterscheidung zwischen strukturellem und empiri-

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schem Gehalt nicht so absolut zu treffen ist, wie es die herkömmlichen Modelle der Wissenschaftstheorie und auch die Intuition der Einzelwissenschaftler unterstellen. Die Dispositionsbegriffe oder Dispositionsprädikate sind ohnehin für die Psychologen besonders interessant, weil die meisten ihrer Eigenschaftszuschreibungen aufgrund von Tests den Charakter von Dispositionsprädikaten aufweisen. Die logischen Schwierigkeiten bei der Einführung von Dispositionsprädikaten haben die Wissenschaftstheoretiker schon seit Mitte der dreißiger Jahre beschäftigt. Diese Diskussion kann hier nicht skizziert werden (vgl. Carnap 1954; neuerdings Stegmüller 1969, p. 120; 1970, p. 213). Die Schwierigkeit der Dispositionsprädikate, die durch mehrere Anwendungsbedingungen eingeführt werden, für die Logik der Erklärungen kann hier nicht ausführlich erörtert werden; nur so viel ist zu sagen: Ein solcher Dispositionsbegriff läßt sich nicht explizit definieren; denn würde man dies versuchen, so müßte man die betreffende Disposition jedem Element (oder etwa einer jeden Versuchsperson), das (die) niemals (wenigstens grundsätzlich) den Testbedingungen unterworfen wurde oder unterworfen wird, zusprechen. Dies ist eine Folge der logischen Eigenschaften der Wennso-Hypothesen (logisch gesprochen: der Subjunktion „wenn-so"), die darin besteht, daß eine Wenn-so-Aussage mit einem grundsätzlich falschen Vorderglied stets wahr ist und benutzt werden könnte, um die Disposition jedem Element (jeder Versuchsperson) zuzusprechen, das (die) niemals getestet wurde. Wissenschaftlich werden Dispositionsprädikate aufgrund von Testaussagen in Wenn-dann-Hypothesen zugeschrieben. Die meisten Eigenschaftsprädikate oder auch viele Relationsprädikate der Psychologie sind solche Dispositionsbegriffe. Wendet man die Einführungsmöglichkeiten für Dispositionsprädikate exemplarisch auf die Messung der Leistungsmotivation (b-Leistung) durch projektive Verfahren (TAT; McClelland et al. 1953) und Verfahren zur Ermittlung von Leistungsmotivationsindikatoren aufgrund verschiedener Testvorlagen an, so ergibt sich in sehr skizzenhafter Form ein Wenn-dann-Zusammenhang der folgenden Art: Wenn eine Versuchsperson unter standardisierten Testbedingungen (S) einem der näher spezifizierten TAT-Tests unterworfen wird (T) und die sich ergebende relative Häufigkeit des Auftretens von leistungsthematischen Topoi in der Aussage R beschrieben wird, dann wird der Person in der Aussage Α der entsprechende Wert von bLeistung zugeschrieben. Der Zusammenhang kann symbolisch durch die folgende Formel notiert werden: A x[S(x) - (T(x) a R(x) - A(x))]

Strukturelle und empirische Implikationen

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Dabei ist χ eine Variable, die hier auf Personen oder entsprechend auf Kontexte oder Gruppen oder gar Gesamtgesellschaften bezogen werden könnte, je nachdem, welche Analyse- und Kompositionsverfahren angewandt werden. Ein Satz von dieser logischen Struktur wird ein hinreichender Reduktionssatz für die Einführung des Dispositionsbegriffs Α genannt. Hier handelt es sich um die Zuschreibung des Dispositionsprädikates „ . . . hat den b-Leistungsgrad a". Da, wie erwähnt, verschiedene Testvorlagen und also verschiedene Testbedingungen benutzt werden, um b-Leistungswerte zuzuschreiben, hat man wenigstens einen weiteren hinreichenden Reduktionssatz zu berücksichtigen (man denke etwa an unterschiedliche Testvorlagen bzw. Textvorlagen bei McClelland (1961) und etwa im deutschen Bereich bei Heckhausen (1963, 1967, 1980)): A x[S'(x) - (T'(x) A R'(x) - A'(x))] Das Prädikat A' bezeichnet hier dieselbe Disposition wie Α im ersten hinreichenden Reduktionssatz. Ein strikter Operationalist wäre jedoch gezwungen, zwischen A' und Α in jedem Falle scharf zu unterscheiden, und er müßte für die Zueinanderordnung dieser, strikt operationalistisch gesprochen, verschiedenen Dispositionen ein weiteres empirisches Gesetz der Art A x(A'(x) - A'(x)) einführen, das üblicherweise nur durch Korrelationen meist mittlerer Höhe (wenn überhaupt Signifikanz gegeben ist), gewonnen wird. Es gibt aber nicht nur hinreichende, sondern auch notwendige Reduktionssätze, die eine logische Struktur etwa der folgenden Form aufweisen: A x[A(x) - (S"(x) - R"(x))] In umgangssprachlicher Interpretation bedeutet dies etwa: Wenn einer Person eine b-Leistung zugeschrieben wird, dann wird diese unter bestimmten Bedingungen ebenfalls andere Züge aufweisen (bzw. dann wird man ihr auch andere Eigenschaften zuschreiben müssen). Solche Eigenschaften werden unter Umständen durch die logische Konsistenzforderung für die Theorie erzwungen: So wäre ein Maß der Leistungsmotivationsmessung unsinnig, das etwa nach der einen Testvorlageart eine sehr hohe Leistungsmotivation ergibt, nach einer anderen regelmäßig und signifikant eine sehr niedrige. Auch theoretische Annahmen gehen in solche notwendigen Reduktionssätze ein, etwa der Art, daß ein Hochleistungsmotivierter unter denselben Teststandardbedingungen und zur selben Zeit nicht zugleich hoch mißerfolgsmeidungs-motiviert ist. Dies ist eine notwendige Bedingung, der die gesamte theoretische Konzeption der Lei-

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stungsmotivationstheorie genügt; ja, diese den Alltagserfahrungen angeschlossene Konzeptbildung liegt der gesamten Leistungsmotivationstheorie zugrunde. Nimmt man den ersten hinreichenden und den letzten notwendigen Reduktionssatz zusammen, so implizieren beide logisch den Satz: Λ x[S(x) A T(x) A R(x) - (S"(x) - R"(x))] Dies freilich ist nun eine empirische Hypothese, die logisch von den anscheinend reinen Definitionscharakter zeigenden Reduktionssätzen impliziert wird. Dies hat zur wichtigen Folge, daß die Einführung von Reduktionssätzen nicht eine reine Definitionsangelegenheit sein kann, sondern daß bei der Einführung von Dispositionsprädikaten mittels mehrerer Reduktionssätze, unter denen hinreichende und notwendige vorkommen, Begriffliches und Empirisches schon bei der Definition unlösbar miteinander verzahnt sind. Man müßte daher behaupten, daß Dispositionsbegriffe, insbesondere etwa der Begriff der Leistungsmotivation selbst, schon bei ihrer definitorischen Einführung empirischen Gehalt aufweisen, wenn sie eben nur durch mehrere hinreichende und notwendige Reduktionssätze eingeführt werden können. Alles dies bedeutet: Dispositionsbegriffe können nicht auf bloße Beobachtungsbegriffe zurückgeführt oder durch die Zuordnung zu Meßverfahren vollständig definiert werden, sondern Dispositionsbegriffe müssen als theoretische Begriffe konzipiert werden. Würde man sie als vollständig operationalisierbar auffassen, so müßte man zusätzlich ein durch Korrelationsanalysen höchstens unvollständig zu konfirmierendes und also die gesamte theoretische Konstruktion in Frage stellendes (wieso kann dieselbe Disposition nur höchst unvollständig mit sich selbst korrelieren?) hypothetisches Äquivalenzgesetz der angegebenen Form annehmen. Die Auffassung von Dispositionsprädikaten als Prädikaten, die theoretische Begriffe umschreiben, ist unvereinbar mit dem strikten Operationalismus, der behauptet, daß Begriffe nur durch Bezug auf Beobachtungsbegriffe und Meßverfahren allein definiert werden können. Man weiß zwar, daß prinzipiell exakt axiomatisierte erfahrungswissenschaftliche Theorien auf theoretische Begriffe verzichten könnten (Ramsey 1931, vgl. etwa Carnap 1969 oder Stegmüller 1970), jedoch kann keine Sozialwissenschaft und auch die Psychologie nicht auf die praktische Verwendung theoretischer Begriffe verzichten. Dies gilt selbst für die Theorie der Messung und der Meßinstrumente. Es gibt noch andere Gründe dafür, daß Dispositionsbegriffe nicht als Beobachtungsbegriffe, sondern nur als theoretische Begriffe konstruiert werden können. Man kann auch zeigen, daß verschiedene Versuche, den strikten Operationalismus wissenschaftstheoretisch zu retten und zu rechtfer-

Strukturelle und empirische Implikationen

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tigen, aus praktischen und prinzipiellen Gründen gescheitert sind (Stegmüller 1970, pp. 221-238; Lenk 1975, pp. 168-189). Ganz abgesehen von der Einsicht, daß der Operationalismus letztlich scheitert (und übrigens damit der strikte methodologische Behaviorismus; vgl. Lenk 1975, pp. 168-183), kann gefragt werden, was uns dieses Beispiel der Leistungsmotivationsforschung in bezug auf die Problematik der strukturellen Implikationen und in bezug auf die umgekehrte Fragestellung bzw. hinsichtlich der strikten Unterscheidung zwischen dem empirischen und strukturellen Gehalt einer Theorie lehrt. Offensichtlich lassen sich definitorische Einführungen von Begriffen nicht mehr scharf von der strukturellen Konzeption von empirisch gehaltvollen Fundamentalgesetzen unterscheiden. Grundgesetze einer Theorie haben sozusagen sowohl definitorischen als auch empirischen Gehalt, also einen doppelten Status, wenn man bei der traditionellen Unterscheidung zwischen definitorisch-analytischem Teil einer Theorie und dem empirischen Gehalt verbleiben wollte. Dies ist seit längerem auch aus der Diskussion etwa des zweiten Newtonschen Gesetzes „Kraft = Masse mal Beschleunigung" bekannt. Hier handelt es sich einerseits um die Definition des Kraftbegriffs, andererseits um das Grundgesetz jeder Anwendung dieses theoretischen Begriffs „Kraft", das allerdings zur Anwendung durch spezielle Gesetze zu erweitern ist. Das Fundamentalgesetz gehört zum mathematischen Struktur- und theoretischen Strukturkern der Newtonschen Teilchenmechanik, also zum unverzichtbaren konstituierenden und identifizierenden Kerngerüst der Theorie. Der theoretische Begriff der Kraft und das Fundamentalgesetz werden also gleichzeitig zur Konstituierung der Theorie benutzt. Definition und Gesetzesbildung lassen sich nicht mehr scharf trennen. Bloße Nominaldefinitionen bei zentralen und theoretischen Grundbegriffen solcher Art sind also nicht rein analytisch, sondern - wie man sagen könnte - theoriekonstitutiv. Wissenschaftstheoretisch hat man also entweder den Schluß zu ziehen, daß es keine klare Unterscheidung zwischen definitorischen und empirisch gehaltvollen Einführungen von theoretischen Grundbegriffen gibt. Oder man müßte - was ich vorziehen würde - die Theoriekonstruktion und die diesbezügliche Einführung der zentralen Grundbegriffe der Theorie als eine eigene Verfahrensweise - unabhängig von einer rein analytischen Nominaldefinition und etwa einer rein empirischen Folgerung oder Messung auffassen. Entsprechendes müßte beispielsweise für die grundlegende Einführung der Begriffe „Leistungsmotiv" und „Leistungsmotivation" durch das Atkinson-McClellandsche Erwartungs-mal-Valenz-Gesetz gelten. Der theoretische Begriff „n-ach" (b-Leistung) läßt sich nach

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dem Scheitern des strikten Operationalismus nicht ausschließlich als technisch-operationalisierter Begriff deuten, obwohl er nach wie vor in bezug auf seine Meßbarkeit durch die Vorschriften des TATVerfahrens teilweise charakterisiert wird, aber eben nur teilweise. Der theoretische Gehalt drückt sich eben wesentlich durch die strukturelle Stellung im Rahmen der Minitheorie aus (unter wesentlichem Einschluß etwa des eben genannten ersten Grundgesetzes sowie natürlich der weiteren Grundaxiome über Mißerfolgsmeidungsmotivation usw.). Wir haben also interessanterweise eine Art Umkehrproblematik zur Charakterisierung der strukturellen Implikation festgestellt: Anscheinend rein strukturell eingeführte Grundbegriffe einer Theorie tragen von vornherein empirischen Gehalt, ohne daß dies unter Umständen zugleich bemerkbar ist. Gerade auch diese Umkehrung der Frage nach den strukturellen Implikationen zeigt deutlich die Theorierelativierung der theoretischen Begriffe wie auch die Obsoletheit klassisch-scharfer Unterscheidungen zwischen reinen Nominaldefinitionen und dem konstituierenden Aufbau der Theorie. Man könnte - hoffentlich nicht zu mißverständlich - von einer Umkehrung der Fragestellung und dem entsprechenden Schluß von anscheinend rein strukturellen Begriffseinführungen auf den involvierten empirischen Gehalt von „empirischen Implikationen struktureller Grundbegriffe" sprechen. Dispositionsbegriffe, die durch mehrere mindestens notwendige und hinreichende Reduktionssätze eingeführt werden, würden zu solchen „empirischen Implikationen struktureller Grundbegriffe" Anlaß geben. Man könnte natürlich meinen, daß erst die sogenannte strukturalistische Wende der Wissenschaftstheorie diese Phänomene näher zu beschreiben gestattete. Doch ist dies meines Erachtens nicht der Fall. Die grundlegende Bestimmung der theoretischen Begriffe als solche, daß deren Größen in jedem Fall nur unter Zugrundelegung des entsprechenden Fundamentalgesetzes gemessen werden können, läßt sich auch in anderen Varianten - etwa der Lakatosschen - der Wissenschaftstheorie vollgültig anwenden. Im übrigen hat auch aufgrund der Kritik von Feyerabend Stegmüller später zugestanden, daß Perspektiven der herkömmlichen Wissenschaftstheorie (etwa nach Popper, besser: Lakatos) und der strukturalistischen durchaus vereinbar sind. Er spricht sogar neuerdings von einer „,Versöhnung' mit dem Aussagenkonzept", die sich darin zeigt, „daß die Aufstellung eines Theoriennetzes die Aufstellung eines entsprechenden Netzes von empirischen Hypothesen eindeutig festlegt" (Stegmüller 1980, pp. 17 f.) und durch Autodetermination zu einer „dreifachen Immunität gegenüber potentiellen Widerlegungen" führt. Aussagenkonzept und „nonstatement view" scheinen sich also wesentlich zu ergänzen (Steg-

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müller 1980, p. 19), sollten daher je nach Blickwinkel und Problemstellung auch als einander methodologisch ergänzende Ansätze in der Wissenschaftstheorie verwendet werden. Für die Psychologie sind solche methodologischen Gesichtspunkte natürlich erst auszuarbeiten. Die angeführten einfachen Beispiele konnten nur die Möglichkeit einer fruchtbaren Anwendung neuerer Konzepte der Wissenschaftstheorie in der alten Problematik des Zusammenhangs von BegrifTsstruktur und empirischem Theoriegehalt, von analytischen und hypothetischen Elementen innerhalb einer Theorie illustrieren. Hier gilt es noch viel theoriespezifische Einzelarbeit zu leisten. Deutlich dürfte jedoch sein: Insgesamt kann erst die logisch-wissenschaftstheoretische Analyse seiner theoretischen Modelle auch dem Sozialpsychologen und dem Psychologen Klarheit darüber verschaffen, wieweit manche seiner Resultate im einzelnen wirklich empirisch gehaltvoll sind oder unter Umständen nur logisch-mathematische Folgen, eben strukturelle Implikationen, seiner Prämissen bzw. der gewählten theoretischen Modelle darstellen. Die Fragen nach strukturellen Implikationen sowie nach den umgekehrten empirischen Implikationen umschreiben also einen Problembereich, der wie auch andere methodologische Schwierigkeiten deutlich machen kann, wie unabdingbar eine wissenschaftstheoretische Schulung nicht nur für den Grundlagenforscher und theoretisch orientierten Forscher ist, sondern auch für den eher empirisch ausgerichteten Forscher, wenn er imstande sein soll, den empirischen Gehalt seiner Resultate richtig einzuschätzen. Literatur J. W. & F E A T H E R , Ν. T. (Ed.) 1966. A theory of achievement motivation. New York: Wiley. C A R N A P , R. 1954. Testability and meaning (1936-1937). New Haven: Yale University Press. C A R N A P , R. 1956. The methodological character of theoretical concepts. In: F E I G L , H. & S C R I V E N , M. (Ed.) Minnesota studies in the philosophy of science. Band 1. Minneapolis: University of Minnesota Press. C A R N A P , R. 1969. Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften. München: Nymphenburger. H A R A R Y , F., N O R M A N , R. Z. & C A R T W R I G H T , D. 1965. Structural models. An introduction to the theory of directed graphs. New York: Wiley. H E C K H A U S E N , Η . 1963. Hoffnung und Furcht in der Leistungsmotivation. Meisenheim: Hain. H E C K H A U S E N , H . 1967. The anatomy of achievement motivation. New York: Academic Press. H E C K H A U S E N , Η . 1980. Motivation und Handeln. Berlin: Springer. H E M P E L , C. G. 1970. On the „standard conception" of scientific theories. In: R A D N E R , M . & W I N O K U R , S. (Ed.) Minnesota studies in the philosophy of science. Band 4. Minneapolis: University of Minnesota Press. ATKINSON,

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Hans Lenk

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HANS WESTMEYER

Zum Problem des empirischen Gehalts psychologischer Theorien - Eine Analyse am Beispiel der Theorie der Verhaltensinteraktion in Dyaden 1. Einführung in die Problematik In der Psychologie ist mehrfach der Verdacht geäußert worden, daß viele Aussagen, in denen wir gemeinhin allgemeine Gesetzesannahmen mit empirischem Gehalt sehen, sich bei genauerer Betrachtung als Implikate aus Bedeutungspostulaten bzw. Definitionen der in diesen Aussagen auftretenden Begriffe entpuppen (z.B. Meehl 1953). Besonders weit geht in jüngerer Zeit in dieser Hinsicht Smedslund (1978,1979,1980,1984), eine wesentlich abgewogenere Position findet sich bei Brandtstädter (1982,1984,1985). In manchen Fällen ist dieser Verdacht sicher berechtigt, denkt man ζ. B. an das sogenannte empirische Effektgesetz und die mehrfach gegen dieses „Gesetz" vorgebrachten Zirkularitätsvorwürfe (siehe dazu Westmeyer 1973) oder an einige der von Brandtstädter (in diesem Band) analysierten Beispiele. In anderen Fällen ist dieser Verdacht aber sicher ebenso unberechtigt (siehe dazu ζ. B. Jones 1980, Kühl & Waldmann 1985, Reisenzein 1984, Sjöberg 1982) und wird vor allem dadurch genährt, daß die Betrachtung der in Frage stehenden Aussagen nicht genau genug erfolgt und die Differenzierungen vermissen läßt, die für eine angemessene Behandlung dieser Frage notwendig sind. Drei Aspekte, die häufig übersehen werden, sind in diesem Zusammenhang vorrangig zu nennen: 1. Viele Gesetzesannahmen in der Psychologie enthalten implizit zeitliche Relationen zwischen den im Antezedens und Sukzedens beschriebenen Sachverhalten. Durch eine Interpretation derartiger Annahmen, die den mitgedachten Zeitbezug ignoriert, ist es in manchen Fällen möglich, ursprünglich gehaltvolle als gehaltsleere Aussagen erscheinen zu lassen. 2. Viele Gesetzesannahmen in der Psychologie enthalten implizit oder explizit quantitative Begrifflichkeiten oder stehen im Kontext eines theoretischen Elements mit anderen Annahmen in Verbindung, die quantitative Begriffe aufweisen. In manchen Fällen ist es

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Hans Westmeyer

auch hier möglich, aus dem Verbund gerissene Aussagen unter Vernachlässigung des quantitativen Charakters in ihnen auftretender Begriffe so zu deuten, daß sie ihren empirischen Gehalt verlieren. 3. In den meisten Gesetzesannahmen der Psychologie finden sich Begrifflichkeiten, bei denen die präoperationale Begriffsexplikation Operationalisierungsspielräume offenläßt, innerhalb derer Festlegungen möglich sind, die zu teilweise erheblichen Variationen in der empirischen Bewährung dieser Gesetzesannahmen führen können. Indem dieser Umstand übersehen und für die intendierte Gehaltsentleerung besonders günstige Begriffsexplikationen und Operationalisierungen gewählt werden, gelingt es in manchen Fällen, Gesetzesaussagen den Anschein der Analytizität zu geben. Ich will im folgenden an einem konkreten Beispiel diese drei Aspekte verdeutlichen. Dabei gehe ich von keiner der Theorien aus, die in der bisherigen Diskussion der Problematik eine Rolle gespielt haben. Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit einer Theorie unter den hier in Frage stehenden Aspekten ist es erforderlich, die Theorie im Detail zu rekonstruieren. Rekonstruktionen sollte man nach meiner Auffassung vorrangig denen überlassen, die die betreffende Theorie auch vertreten. Ich will deshalb eine Theorie betrachten, die ich vertrete und die mir besonders vertraut ist, weil ich sie selbst mitentwickelt habe (Hannemann et al. 1985; Projekt 1984; Westmeyer et al. 1982,1984,1985). Bei ihrer Konstruktion und Überprüfung sind wissenschaftstheoretische Fragestellungen von Anfang an einbezogen worden, so daß sich an ihr das hier zu behandelnde wissenschaftstheoretische Problem gut exemplifizieren läßt. Auch wenn ich - dies sei schon vorweggenommen - die Möglichkeit, Gesetzesannahmen in der Psychologie als Implikate aus Bedeutungspostulaten oder Definitionen zu entlarven, wesentlich skeptischer beurteile als die Proponenten eines begriffsanalytischen Ansatzes, so halte ich doch die damit in Zusammenhang stehenden Fragen - „Wo steckt eigentlich der empirische Gehalt einer Theorie?", „Läßt er sich allein in den Gesetzesannahmen lokalisieren?", „In welcher Weise hängt die empirische Bewährung von Gesetzesannahmen von den Festlegungen ab, die auf begrifflicher und/oder methodischer Ebene zu treffen sind?" u.ä. - für außerordentlich interessant. Gerade in der Psychologie wird die theoretische Ebene oft losgelöst von der methodischen betrachtet. Eine Behandlung des hier anstehenden Problems kann sicher zu einer differenzierteren Sicht der Beziehungen dieser beiden Ebenen zueinander beitragen.

Zum empirischen Gehalt psychologischer Theorien

2. Eine Theorie der Verhaltensinteraktion 2.1 Zum intendierten

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in Dyaden

Anwendungsbereich

Die Theorie zielt ab auf die Erklärung und Vorhersage von Verhalten einzelner Personen in natürlicher Umgebung. 1 Die Formulierung der Theorie ist der strukturalistischen Konzeption wissenschaftlicher Theorien verpflichtet. Daraus folgt, daß die Theorie nicht mit dem Anspruch universeller Gültigkeit auftritt, sondern sich als auf die Elemente einer Klasse intendierter Anwendungen bezogen begreift. Der intendierte Anwendungsbereich läßt sich global mit „Verhaltensinteraktion in Dyaden" umschreiben. Zwei Elemente aus diesem Bereich sind bisher untersucht worden: „Eltern-Kind-Interaktion" und „Face-to-Face-Interaktion". Von Interesse ist, ohne daß wir dabei von der Vorstellung einer totalen wechselseitigen Verhaltenskontrolle, also einem Marionettenmodell sozialer Interaktion, in dem jeder Interaktionspartner als Marionette und zugleich als Marionettenspieler aufträte, ausgehen, ob bzw. in welchem Umfang und in welcher Weise Verhalten von Eltern und Kind bzw. nonverbales Verhalten von jungen Erwachsenen in Situationen der Kontaktaufnahme und der Aufrechterhaltung von Kontakten einer wechselseitigen Steuerung unterliegt. „Verhalten" ist dabei als Verhaltenskategorie zu verstehen, der betrachtete Verhaltensaspekt ist die Auftrittshäufigkeit einer Verhaltenskategorie. 2.2 Zum theoretischen

Netz

Die Theorie der Verhaltensinteraktion in Dyaden ist als ein Theorieelement in ein umfassenderes theoretisches Netz (Abb. 1) eingebettet, zu der die Performanz-Theorie von Patterson (1977, 1979, 1982) ebenso gehört wie die Theorie des operanten Verhaltens. Die Performanz-Theorie und die Theorie der Verhaltensinteraktion in Dyaden lassen sich als Spezialisierungen einer behavioralen Theorie sozialer Interaktion verstehen, die ihrerseits aus einer Spezialisierung des Basiselements des theoretischen Netzes hervorgegangen ist. Zu einigen Grundbegriffen und Kernannahmen der Theorieelemente des Netzes siehe Westmeyer et al. (1982). Innerhalb der strukturalistischen Konzeption wissenschaftlicher Theorien ist der Kern eines Theorieelements nicht direkt auf eine intendierte Anwendung beziehbar, sondern muß erst durch eine geeignete Kernerweiterung anwendungsfahig gemacht werden. Dazu gehört, daß im Hinblick auf die intendierte Anwendung Spezialgesetze und spezielle Nebenbedingungen formuliert werden. Für die so erweiterte Struktur kann dann geprüft werden, ob sich die Theorie tatsächlich auf den intendierten Kontext anwenden läßt.

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Hans Westmeyer

Abb. 1: Ausschnitt aus dem verhaltenstheoretischen Netz vom Typ S

Zum empirischen Gehalt psychologischer Theorien 2.3

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Spezialgesetze

Einige Spezialgesetze, die den Kern unseres T h e o r i e e l e m e n t s im Hinblick auf die beiden intendierten A n w e n d u n g e n „Face-to-FaceInteraktion" und „Eltern-Kind-Interaktion" erweitern und bereits einer empirischen Überprüfung unterzogen wurden, sind in Tabelle 1 aufgeführt. D i e Spezialgesetze k ö n n e n weitgehend als Spezialisierungen der Kernannahmen unseres T h e o r i e e l e m e n t s begriffen werden. SG 1 - 6 setzen jeweils voraus, daß zwischen Verhaltenskategorien zweier Personen fördernde u n d / o d e r hindernde B e z i e h u n g e n bestehen, u n d geben dann an, welche Einflüsse auf die Frequenzentwicklung kontrollierter (geförderter bzw. gehinderter) Verhaltenskategorien es hat, w e n n sich die Frequenz der kontrollierenden (fördernden bzw. hindernden) Kategorien in bestimmter Weise ändert (zunimmt Tab. 1: Einige Spezialgesetze unserer Theorie der Verhaltensinteraktion in Dyaden Ci und Cji seien Verhaltenskategorien für Person 1, C2 und C j seien Verhaltenskategorien für Person 2, C sei eine Verhaltenskategorie für Person 1 oder Person 2. (SG 1) Ci sei eine fordernde Kategorie für C2Dann gilt: (a) Wenn die Frequenz von C] steigt, dann hat das einen fördernden Einfluß auf die Frequenzentwicklung von C2· (b) Wenn die Frequenz von C j fällt, dann hat das einen hindernden Einfluß auf die Frequenzentwicklung von C2(SG 2) C j sei eine hindernde Kategorie für C2Dann gilt: (a) Wenn die Frequenz von C ι steigt, dann hat das einen hindernden Einfluß auf die Frequenzentwicklung von C2(b) Wenn die Frequenz von Ci fällt, dann hat das einen fördernden Einfluß auf die Frequenzentwicklung von C2(SG 3) C'2 sei eine fördernde Kategorie für Ci. Ci sei eine fördernde Kategorie für C2. Dann gilt: (a) Wenn die Frequenz von C2 steigt und die Frequenz von Ci gleichbleibt, dann hat das einen fördernden Einfluß auf die Frequenzentwicklung von C2. (b) Wenn die Frequenz von C'2 fallt und die Frequenz von Ci gleichbleibt, dann hat das einen hindernden Einfluß auf die Frequenzentwicklung von C2. (SG 4) C2 sei eine fördernde Kategorie für Cj. Ci sei eine hindernde Kategorie für C2Dann gilt: (a) Wenn die Frequenz von C2 steigt und die Frequenz von Ci gleichbleibt, dann hat das einen hindernden Einfluß auf die Frequenzentwicklung von C2. (b) Wenn die Frequenz von C2 fällt und die Frequenz von Ci gleichbleibt, dann hat das einen fördernden Einfluß auf die Frequenzentwicklung von C2-

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40 Tab. 1 (Forts.): (SG 5)

(SG 6)

(SG 7)

(SG 8)

C'2 sei eine hindernde Kategorie für CiC j sei eine fördernde Kategorie für C2. Dann gilt: (a) Wenn die Frequenz von C2 steigt und die Frequenz von Ci gleichbleibt, dann hat das einen hindernden Einfluß auf die Frequenzentwicklung von C2. (b) Wenn die Frequenz von C2 fällt und die Frequenz von Ci gleichbleibt, dann hat das einen fordernden Einfluß auf die Frequenzentwicklung von C2· C2 sei eine hindernde Kategorie für CiCi sei eine hindernde Kategorie für C2Dann gilt: (a) Wenn die Frequenz von C2 steigt und die Frequenz von Ci gleichbleibt, dann hat das einen fördernden Einfluß auf die Frequenzentwicklung von C2. (b) Wenn die Frequenz von C2 fallt und die Frequenz von C] gleichbleibt, dann hat das einen hindernden Einfluß auf die Frequenzentwicklung von C2ME C sei die Menge aller fördernden und/oder hindernden Einflüsse, die Frequenzänderungen kontrollierender Kategorien auf die Frequenzentwicklung einer (unmittelbar und/oder mittelbar) kontrollierten Kategorie C haben. Dann gilt: (a) Wenn in ME C die Zahl der fördernden Einflüsse größer ist als die Zahl der hindernden Einflüsse, dann steigt die Frequenz von C oder sie bleibt gleich. (b) Wenn in ME C die Zahl der fördernden Einflüsse kleiner ist als die Zahl der hindernden Einflüsse, dann fallt die Frequenz von C oder sie bleibt gleich. C2 sei eine kontrollierende Kategorie für Ci. C j sei eine kontrollierende Kategorie für C2. Dann gilt: Wenn die Frequenz von C2 steigt oder fällt und die Frequenz von Ci gleichbleibt, dann bestehen entweder zwischen C2 und C j und zwischen C j und C2 fördernde Kategorienbeziehungen, oder zwischen C2 und Ci und zwischen Ci und C2 bestehen hindernde Kategorienbeziehungen.

oder abnimmt). SG 7 legt fest, wie die e i n z e l n e n E i n f l ü s s e , die sich auf die F r e q u e n z e n t w i c k l u n g einer kontrollierten Kategorie auswirken, zu kombinieren, zu bilanzieren sind, so daß e i n e b e s t i m m t e Frequenzentwicklung der kontrollierten Kategorie erwartet w e r d e n kann. In der v o r l i e g e n d e n F o r m schließt Spezialgesetz 7 j e w e i l s e i n e v o n drei m ö g l i c h e n F r e q u e n z e n t w i c k l u n g e n aus. E i n e striktere F o r m u l i e rung ist in Anbetracht der Eigenart der D a t e n , auf die die Spezialgesetze a n z u w e n d e n sind, nicht sinnvoll. D u r c h b e s o n d e r s strenge Kriterien bei der Bewertung der Bewährung der Theorie ist dieser Mangel aber w e i t g e h e n d kompensierbar.

Zum empirischen Gehalt psychologischer Theorien

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SG 8 macht auf eine besonders interessante Konstellation aufmerksam. Auf das Verhalten einer Person übt nicht nur das Verhalten einer anderen Person Einfluß aus, sondern auch das Verhalten der Person selbst, allerdings - wie in SG 8 und ebenso in SG 3-6 deutlich wird indirekt, d.h. vermittelt durch das Verhalten der anderen Person. Diese Selbststeuerung des Verhaltens einer Person ist ein integraler Bestandteil unserer Theorie. SG 8 greift nun einen Spezialfall dieser vermittelten Selbststeuerung auf, bei dem kontrollierende und kontrollierte Verhaltenskategorien identisch sind. 2.4 Zur Frage des empirischen Gehalts der Spezialgesetze Innerhalb der strukturalistischen Konzeption wissenschaftlicher Theorien sind es die Spezialgesetze, die am ehesten dem entsprechen, was in der Standardauffassung unter Gesetzesannahmen bzw. -aussagen verstanden wird. Fragt man nun nach dem empirischen Gehalt dieser Spezialgesetze, so hängt die Antwort - sofern man eine solche Frage überhaupt für sinnvoll hält - ganz entscheidend davon ab, wie die in den Spezialgesetzen auftretenden Begrifflichkeiten expliziert bzw. definiert werden. Es ist möglich, dabei so vorzugehen, daß zumindest für einzelne Gesetzesannahmen - tendentiell eine Gehaltsentleerung resultiert. So könnte man z.B. von folgenden Definitionen der Begriffe der fördernden Kategorie und der hindernden Kategorie ausgehen: (DFK) Eine Kategorie Ci ist eine fordernde Verhaltenskategorie für eine Kategorie C per definitionem genau dann, wenn eine Zunahme der Frequenz von Ci einen fördernden Einfluß und eine Abnahme der Frequenz von Cj einen hindernden Einfluß auf die Frequenzentwicklung von C2 haben. (DHK) Eine Kategorie Ci ist eine hindernde Verhaltenskategorie für eine Kategorie C2 per definitionem genau dann, wenn eine Zunahme der Frequenz von Ci einen hindernden Einfluß und eine Abnahme der Frequenz von Cj einen fördernden Einfluß auf die Frequenzentwicklung von C2 haben.

Dann würde SG 1 unmittelbar aus DFK und SG 2 ebenso direkt aus DHK folgen, es wären Implikate aus Definitionen und damit Aussagen ohne empirischen Gehalt. Die Definitionen selbst sind, für sich betrachtet, denkbare Bestimmungen der beiden Begriffe, liegen im Spektrum der durch unser sprachliches Verständnis der verwendeten Worte eröffneten Bestimmungsmöglichkeiten und sind insoweit nicht von vornherein abzulehnen. Allerdings passen sie nicht in den Kontext der übrigen Spezialgesetze. Weder läßt sich aus ihnen eine Tautologisierung von SG 3 bis SG 8 ableiten, noch sind sie mit der Struktur der Spezialgesetze insgesamt vereinbar. Aufgrund von DFK und DHK würden die Konzepte der fordernden und der hindernden Kategorie zu definierten

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Begriffen. Sie würden u.a. zurückgeführt auf die Konzepte des fördernden und des hindernden Einflusses auf die Frequenzentwicklung einer Kategorie. Damit würde die Struktur der Spezialgesetze auf den Kopf gestellt. Man müßte, statt aus der Existenz fördernder und/oder hindernder Kategorienbeziehungen und erfolgter Frequenzänderungen kontrollierender Kategorien auf fördernde und/oder hindernde Einflüsse auf die Frequenzentwicklung einer kontrollierten Kategorie schließen zu können, erst einmal - auf einem anderen Wege - über diese Einflüsse auf die Frequenzentwicklung einer Kategorie im Gefolge von Frequenzänderungen diese Kategorie möglicherweise kontrollierender anderer Kategorien Aufschluß gewinnen, um dann das Vorliegen fördernder und/oder hindernder Kategorienbeziehungen feststellen zu können. DFK und DHK mögen denkbare Begriffsbestimmungen sein, sie sind aber auf jeden Fall unzweckmäßig und ebenso denkbaren Alternativen, die insbesondere den impliziten Zeitbezug in den Spezialgesetzen berücksichtigen, unterlegen. Bezieht man die Zeitvariable explizit ein, so sind ja mehrere Konkretisierungen der Spezialgesetze denkbar. Mit DFK am ehesten vereinbar wäre ζ. B. folgende Konkretisierung von SG la: C j sei zum Zeitpunkt t eine fordernde Kategorie für C2. Dann gilt: (a) Wenn zum Zeitpunkt t die Frequenz von C j steigt, dann hat das zum Zeitpunkt t einen fordernden Einfluß auf die Frequenzentwicklung von C2·

Wenn diese Konkretisierung noch den Verdacht, daß es sich um eine gehaltsleere Aussage handelt, auf dem Hintergrund unseres sprachlichen Vorverständnisses stützen mag, so dürfte dies bei der der Struktur der Spezialgesetze eher Rechnung tragenden folgenden Konkretisierung nicht mehr der Fall sein: C j sei zum Zeitpunkt t eine fordernde Kategorie für C2- Dann gilt: (a) Wenn zum Zeitpunkt t+i die Frequenz von C i steigt, dann hat das zum Zeitpunkt t+i einen fördernden Einfluß auf die Frequenzentwicklung von C2.

i ist dabei eine Zahl größer/gleich 1. Mit dieser Konkretisierung vereinbar ist eine Sachlage, in der Ci zu dem Zeitpunkt t+1, zu dem die Frequenz von Ci steigt und das einen fördernden Einfluß auf die Frequenzentwicklung von C2 hat, keine fördernde Kategorie für C2 mehr ist, sondern dies nur zu einem früheren Zeitpunkt t war, eine Sachlage, die mit dem Vorwurf der Gehaltsleere des Spezialgesetzes kaum in Einklang zu bringen ist. Nun lassen sich aber auch andere Begriffsbestimmungen denken, um den empirischen Gehalt von SG 1 und SG 2 in Frage zu stellen. Statt die Begriffe der fördernden bzw. hindernden Kategorie zu defi-

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nieren, definiert man die Begriffe des fördernden bzw. hindernden Einflusses auf die Frequenzentwicklung einer Kategorie: (DFE) Auf die Frequenzentwicklung einer Kategorie C2 wirkt ein fordernder Einfluß ein per definitionem genau dann, wenn es eine Kategorie Cj gibt derart, daß Cj eine fordernde Kategorie für C2 ist und die Frequenz von Ci steigt oder Cj eine hindernde Kategorie für C2 ist und die Frequenz von C] fällt. (DHE)Auf die Frequenzentwicklung einer Kategorie C2 wirkt ein hindernder Einfluß ein per definitionem genau dann, wenn es eine Kategorie Ci gibt derart, daß Q eine fördernde Kategorie für C2 ist und die Frequenz von Ci fällt oder Ci eine hinreichende Kategorie für C2 ist und die Frequenz von Cj steigt.

Dann würden SG la und SG 2b aus DFE und SG lb und SG 2a aus DHE folgen, wären also wieder Implikate aus Definitionen, mithin Aussagen ohne empirischen Gehalt. Ob unser vorwissenschaftliches Sprachverständnis diese Begriffsbestimmungen nahelegt, vermag ich nicht zu entscheiden. Eines ist jedoch gewiß, sie führen nicht zu einer Gehaltsentleerung der Gesamtheit der Spezialgesetze. SG 3-6 lassen sich aus DFE und DHE nicht ableiten, eine Erweiterung der Definitionen, um dies zu ermöglichen, hätte rein willkürlichen Charakter. Entscheidender ist der Umstand, daß die ersten sechs Spezialgesetze gar nicht für sich allein stehen, sondern erst in Verbindung mit dem siebten überprüfbare Vorhersagen erlauben. SG 1-6 liefern nur die Elemente für den auf der Grundlage von SG 7 erfolgenden Vergleich von Quantitäten. Reißt man SG 1 und SG 2 aus ihrem theoretischen Verbund, mag eine Tautologisierung möglich sein, auf den empirischen Gehalt der Theorie wirkt sich das nicht aus. An dieser Stelle ist anzumerken, daß in unserem Ansatz die Begriffe des fördernden und hindernden Einflusses T-theoretische Begriffe im Sinne der strukturalistischen Konzeption wissenschaftlicher Theorien sind. Sie können nicht unabhängig von der Theorie gemessen werden, ihre Erfassung setzt die erfolgreiche Anwendung der Theorie voraus. In dieser Hinsicht werden sie in ihrer Bedeutung durch die Spezialgesetze festgelegt, in denen sie vorkommen, ohne daß damit „Begriffsverwirrungen" verbunden sind (zum Begriff der T-Theoretizität siehe Stegmüller 1973,1979, 1980). Bisher sind wir auf der Ebene der Spezialgesetze verblieben und haben untersucht, ob Bestimmungen einiger wesentlicher in ihnen auftretender Begriffe denkbar sind, die zu einer Beeinträchtigung des empirischen Gehalts der Theorie führen. Am Beispiel zweier Spezialgesetze haben wir gesehen, daß Definitionen möglich sind, die diese Spezialgesetze als Implikate enthalten, daß diese Definitionen aber keineswegs zwingend sind, überdies den impliziten Zeitbezug ignorieren und den Verbund dieser Spezialgesetze mit den übrigen zerreis-

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sen. Selbst bei der Wahl in dieser Hinsicht akzeptabler Definitionen bleibt der empirische Gehalt der Spezialgesetze insgesamt unberührt. Innerhalb der strukturalistischen Konzeption sind neben den Spezialgesetzen die speziellen Nebenbedingungen, mit denen auch die methodische Ebene einbezogen wird, wesentliche Bestandteile der Kernerweiterung eines Theorieelements. Mit der Betrachtung der speziellen Nebenbedingungen, die bisher nur implizit in unsere Erörterung hereingespielt haben, lassen sich die hier zur Diskussion stehenden Fragen systematischer und mit größerer Verbindlichkeit behandeln. 2.5 Spezielle

Nebenbedingungen

In unserer Theorie unterscheiden wir zwei verschiedene Arten von speziellen Nebenbedingungen, die mit den Spezialgesetzen in Verbindung zu bringen sind. In den speziellen theoretischen Nebenbedingungen wird neben der Regelung über die Anwendbarkeit des Spezialgesetzes 7 für bestimmte Sonderfälle ein Indifferenzbereich festgelegt, außerhalb dessen ein Frequenzverlauf als verändert zu bewerten ist. In den speziellen methodischen Nebenbedingungen wird die Verwendung bestimmter informationserhebender Verfahren bei der Registrierung des Interaktionsverhaltens und der Einsatz eines bestimmten heuristischen Verfahrens zur Identifikation fördernder und hindernder Kategorienbeziehungen gefordert. Außerdem wird die Basis für diese Identifikation festgelegt. Von besonderer Bedeutung in diesem Kontext ist der Umstand, daß die Spezialgesetze und die darin vorkommenden Begrifflichkeiten bestimmte Ausformulierungen dieser speziellen Nebenbedingungen nicht erzwingen, sondern in allen Punkten einen erheblichen Gestaltungsspielraum lassen, der die Möglichkeit eröffnet, verschiedene Varianten spezieller Nebenbedingungen zu konzipieren und zu prüfen, welche Auswirkungen sich dabei für die empirische Bewährung der Theorie ergeben. Dabei ist, wohlgemerkt, nur an solche Variationen einer speziellen Nebenbedingung gedacht, die innerhalb des durch präoperationale Begriffsexplikationen und -definitionen offen bleibenden Spektrums liegen, zwischen denen also durch Rekurs auf ein vorwissenschaftliches oder wissenschaftliches Sprachverständnis nicht entschieden werden kann, Variationen, die als unterschiedliche, aber zulässige Konkretisierungen bzw. Operationalisierungen ein und derselben Begrifflichkeit zu verstehen sind. Wenn eine Variation der speziellen Nebenbedingungen bei gleichen Spezialgesetzen zu einer Variation im Ausmaß der empirischen Bewährung einer Theorie führt, wird die Vorstellung, man könne den empirischen Gehalt einer Theorie allein auf der Grundlage der Gesetzesannahmen (Spezialgesetze) diskutieren, fragwürdig. Eine von der

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m e t h o d i s c h e n E b e n e l o s g e l ö s t e B e h a n d l u n g der t h e o r e t i s c h e n E b e n e ist d a n n n i c h t m e h r m ö g l i c h . 2.6

Variationen

spezieller

Nebenbedingungen

P i e erste spezielle theoretische Nebenbedingung ( S T N 1) l e g t f e s t , w e l c h e s p e z i f i s c h e n E i n f l u ß k o n s t e l l a t i o n e n a u f die F r e q u e n z e n t w i c k l u n g k o n t r o l l i e r t e r K a t e g o r i e n a u s der B i l a n z i e r u n g g e m ä ß S G 7 a u s z u n e h m e n sind. D i e s e F ä l l e w e r d e n d e m A n w e n d u n g s b e r e i c h v o n S G 8 z u g e o r d n e t ( s i e h e Tab. 2). M i t d e m e r s t e n Teil d i e s e r s p e z i e l l e n t h e o r e t i s c h e n N e b e n b e d i n g u n g s o l l s i c h e r g e s t e l l t w e r d e n , daß e s n i c h t z u e i n e r Erklärung e i n e r F r e q u e n z v e r ä n d e r u n g d u r c h s i c h s e l b s t k o m m e n kann. D i e s w ä r e z . B . der Fall, w e n n e i n e K a t e g o r i e C 2 nur d u r c h e i n e K a t e g o r i e C i k o n t r o l l i e r t wird, d e r e n F r e q u e n z u n v e r ä n d e r t g e b l i e b e n ist u n d d i e ihrerseits nur durch C 2 kontrolliert wird. E i n e Erklärung der F r e q u e n z e n t w i c k l u n g v o n C 2 a u f g r u n d der B i l a n z i e r u n g d e s E i n f l u s s e s a u s der F r e q u e n z v e r ä n d e r u n g v o n C 2 e n t s p r e c h e n d S G 3 o d e r S G 6 w ä r e e i n e S e l b s t e r k l ä r u n g u n d ist d a h e r a u s z u s c h l i e ß e n . Tab. 2: Spezielle Nebenbedingungen unserer Theorie der Verhaltensinteraktion in Dyaden (a) Spezielle theoretische

Nebenbedingungen

1. Geltungsbereich von SG 7 (STN 1A) Das Spezialgesetz 7 gilt im Falle der Erklärung nicht f ü r kontrollierte Kategorien, die in dieser Funktion nur in Instanzen von SG 8 vorkommen. Bei diesen kontrollierten Kategorien würde es bei einer Anwendung von SG 1-7 zu einer Selbsterklärung kommen; sie werden deshalb nur unter SG 8 aufgeführt. Das Spezialgesetz 7 gilt im Falle der Erklärung nicht für kontrollierte Kategorien, die in dieser Funktion auch in Instanzen von SG 8 vorkommen und auf deren Frequenzentwicklung durch Frequenzänderungen kontrollierender Kategorien fordernd und hindernd Einfluß genommen wird. Diese kontrollierten Kategorien werden deshalb nur unter SG 8 aufgeführt. (STN 1B) Das Spezialgesetz 7 gilt im Falle der Erklärung nicht für kontrollierte Kategorien, bei denen die Einflüsse, die in die Richtung der tatsächlich eingetretenen Frequenzentwicklung weisen, nur aus Instanzen von SG 8 erwachsen. Bei diesen kontrollierten Kategorien würde es bei einer Anwendung von SG 1-7 zu einer Selbsterklärung kommen; sie werden deshalb nur unter SG 8 aufgeführt. Einflüsse auf die Frequenzentwicklung einer kontrollierten Kategorie C2, die aus solchen Instanzen von SG 3 oder SG 6 resultieren, bei denen C2 und C2 identisch sind, werden bei der Bilanzierung der fordernden und hindernden Einflüsse in SG 7 doppelt gezählt. 2. Festlegung des Indifferenzbereichs (STN 2A) Die Frequenz einer Verhaltenskategorie C (in einer Phase Phß) gilt als gleichgeblieben, wenn ihr Wert innerhalb der Grenzen eines

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Tab. 2 (Forts.):

(STN 2B)

(STN 2C)

(STN 2D)

Indifferenzbereichs verbleibt, als gestiegen, wenn ihr Wert die obere Grenze des Indifferenzbereichs überschreitet, als gefallen, wenn ihr Wert die untere Grenze des Indifferenzbereichs unterschreitet. Die Grenzen des Indifferenzbereichs für C werden nach folgender Konvention festgelegt: P h j und Ph2 seien Vergleichsphasen für Ph3, d.h., P h j und Ph2 sind aufeinanderfolgende Phasen, Ph2 und Ph3 sind in der Regel durch eine Interventionsphase voneinander getrennt. Für den Fall, daß Interventions- und Prüfphase in einer Phase vereinigt sind, sind Ph2 und PI13 aufeinanderfolgende Phasen. Dann wird die absolute Differenz der Frequenzen der Kategorie C in den beiden Vergleichsphasen P h j und PI12 dem Mittelwert der Frequenzen von C in P h j und Ph2 hinzuaddiert (obere Grenze) bzw. von ihm abgezogen (untere Grenze). Die Frequenz einer Verhaltenskategorie C (in einer Phase Phß) gilt als gleichgeblieben, wenn ihr Wert innerhalb der Grenzen eines Indifferenzbereichs verbleibt, als gestiegen, wenn ihr Wert die obere Grenze des Indifferenzbereichs überschreitet, als gefallen, wenn ihr Wert die untere Grenze des Indifferenzbereichs unterschreitet. Die Grenzen des Indifferenzbereichs für C werden nach folgender Konvention festgelegt: P h j und Ph2 seien Vergleichsphasen für PI13, d.h. P h j und Ph2 sind aufeinanderfolgende Phasen, Ph2 und PI13 sind in der Regel durch eine Interventionsphase voneinander getrennt. Für den Fall, daß Interventions- und Prüfphase in einer Phase vereinigt sind, sind Ph2 und Ph3 aufeinanderfolgende Phasen. P h j i , . . . , P h j n seien Phasenabschnitte von P h j ; Ph2i, . . . , Ph2m seien Phasenabschnitte von Ph2- Phiu2k sei ein beliebiger Phasenabschnitt von P h j oder Ph2- Dann wird die Standardabweichung der Verteilung der Frequenzen der Kategorie C in den η + m Phasenabschnitten P h i ^ k dem Mittelwert der Frequenzen von C in den P h j ^ k hinzuaddiert (obere Grenze) bzw. von ihm abgezogen (untere Grenze). Die Frequenz einer Verhaltenskategorie C (in einer Phase Ph3) gilt als gleichgeblieben, wenn ihr Wert innerhalb der Grenzen eines Indifferenzbereichs verbleibt, als gestiegen, wenn ihr Wert die obere Grenze des Indifferenzbereichs überschreitet, als gefallen, wenn ihr Wert die untere Grenze des Indifferenzbereichs unterschreitet. Die Grenzen des Indifferenzbereichs für C werden nach folgender Konvention festgelegt: P h j und Ph2 seien Vergleichsphasen für Ph3, d.h., Ph] und Ph2 sind aufeinanderfolgende Phasen, Ph2 und Ph3 sind in der Regel durch eine Interventionsphase voneinander getrennt. Für den Fall, daß Interventions- und Prüfphase in einer Phase vereinigt sind, sind Ph2 und Ph3 aufeinanderfolgende Phasen. P h ] i , . . . , P h i n seien Phasenabschnitte von P h j ; Ph2l, . . . , Ph2m seien Phasenabschnitte von Ph2- Phiu2k s e i e i n beliebiger Phasenabschnitt von P h j oder Ph2- Dann wird unter den Frequenzen der Kategorie C in den η + m Phasenabschnitten P h j w 2k der maximale (obere Grenze) und der minimale (untere Grenze) Wert bestimmt. Die Frequenz einer Verhaltenskategorie C (in einer Phase Ph3) gilt als gleichgeblieben, wenn ihr Wert innerhalb der Grenzen eines

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Tab. 2 (Forts.): Indifferenzbereichs verbleibt, als gestiegen, wenn ihr Wert die obere Grenze des Indifferenzbereichs überschreitet, als gefallen, wenn ihr Wert die untere Grenze des Indifferenzbereichs unterschreitet. Die Grenzen des Indifferenzbereichs f ü r C werden nach folgender Konvention festgelegt: P h j und Ph2 seien Vergleichsphasen für Ph3, d.h., P h j und Ph2 sind aufeinanderfolgende Phasen, Ph2 und PI13 sind in der Regel durch eine Interventionsphase voneinander getrennt. Für den Fall, daß Interventions- und Prüfphase in einer Phase vereinigt sind, sind Ph2 und Ph3 aufeinanderfolgende Phasen. Dann wird unter den Frequenzen der Kategorie C in den beiden Phasen P h j und Ph2 der größere (obere Grenze) und der kleinere (untere Grenze) Wert bestimmt. (b) Spezielle methodische

Nebenbedingungen

1. Modalitäten der Registrierung der Verhaltensinteraktion (SMN 1A) Bei der Erfassung der Verhaltensinteraktion in Dyaden sind bestimmte systematische Beobachtungsverfahren kategorieller Natur zu verwenden. Die Beobachtungsverfahren (Kategoriensysteme) sind spezifisch f ü r eine bestimmte intendierte Anwendung. Für die intendierte Anwendung „Eltern-Kind-Interaktion" kann das Verfahren BEKID, f ü r die intendierte Anwendung „Face-toFace-Interaktion" das Verfahren BENVID verwendet werden. 2. Verfahren zur Identifikation fördernder und hindernder Kategorienbeziehungen (SMN 2A) Bei der Identifikation fordernder und hindernder Kategorien ist ein bestimmtes heuristisches Verfahren (INSEDA) zu verwenden. (SMN 2B) Bei der Identifikation der Anzahl fördernder und hindernder Kategorienbeziehungen ist ein bestimmtes heuristisches Verfahren (INSEDA) zu verwenden. Zwischen welchen Kategorien die anzahlmäßig durch INSEDA vorgegebenen fordernden bzw. hindernden Kategorienbeziehungen bestehen, wird - abweichend von (SMN 2A) - nicht durch INSEDA, sondern per Zufall entschieden. (SMN 2C) Bei der Identifikation fordernder und hindernder Kategorienbeziehungen ist ein bestimmtes heuristisches Verfahren (SEQ 2A) zu verwenden. 3. Festlegung der Identifikationsbasis (SMN 3A) Das heuristische Verfahren wird auf die Daten aus der Baselinephase angewandt, die der ersten Interventionsphase vorangeht. Der kritische Wert wird auf 0.1/s festgesetzt, wobei s der Anzahl der insgesamt durchgeführten statistischen Tests pro Interaktionsrichtung entspricht. (SMN 3B) Das heuristische Verfahren wird auf die Daten aus den beiden Untersuchungsphasen angewandt, die der zur betrachteten Prüfphase gehörenden Interventionsphase vorangehen. Nur die Kategorien gelten im Sinne der Spezialgesetze als fördernd oder hindernd, die in beiden Identifikationsphasen durch das heuristische Verfahren als fördernde oder hindernde Kategorien identifiziert werden. Der kritische Wert wird auf 0.05 festgesetzt. (SMN 3C) Das heuristische Verfahren wird auf die Daten aus der Untersuchungsphase angewandt, die der betrachteten Prüfphase vorangeht. Der kritische Wert wird auf 0.1/s festgesetzt, wobei s der

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Tab. 2 (Forts.):

(SMN 3D)

Anzahl der insgesamt durchgeführten statistischen Tests pro Interaktionsrichtung entspricht. Das heuristische Verfahren wird auf die Daten aus der betrachteten Prüfphase angewandt. Der kritische Wert wird auf 0.1/s festgesetzt, wobei s der Anzahl der insgesamt durchgeführten statistischen Tests pro Interaktionsrichtung entspricht.

Im zweiten Teil werden in der Version STN 1A auch jene Konstellationen, in denen sowohl hindernd als auch fördernd auf die Frequenzentwicklung der kontrollierten Kategorie Einfluß genommen wird und in denen wenigstens eine Instanz von SG 8 vorkommt, aufgrund fehlender expliziter Annahmen über die Bewertung der als Rückmeldeschleifen interpretierbaren Instanzen von SG 8 aus dem Geltungsbereich von SG 7 ausgeschlossen. Damit wird die Erklärbarkeit von Frequenzänderungen, die das zentrale Ziel unseres Ansatzes ist, in nicht unerheblicher Weise eingeschränkt. Eine Liberalisierung dieses Kriteriums würde zu einer erheblich größeren Anwendungsbreite unserer Theorie führen. Dementsprechend werden in STN 1B jene Rückmeldeschleifen, die als Instanzen von SG 8 gelten, bei der Bilanzierung gemäß SG 7 doppelt gezählt. Die doppelte Gewichtung dieser Einflüsse basiert auf der Annahme, daß das durch die Rückmeldeschleife vermittelte Feedback zu einer Verstärkung eingeleiteter Frequenzentwicklungen führt. D i e zweite

spezielle

theoretische

Nebenbedingung

( S T N 2) l e g t d e n

Indifferenzbereich fest, von dem ausgehend entschieden wird, welche Frequenzentwicklung eine Kategorie genommen hat. Die Einführung eines Indifferenzbereichs erweist sich als notwendig, weil die absoluten Häufigkeiten von Kategorien selbst über Phasen hinweg, in denen keine Änderungen durch gezieltes Training induziert werden, nicht völlig konstant bleiben. Diese „natürlichen" Schwankungen sollen im Indifferenzbereich aufgefangen werden. Die Art seiner Festlegung hat unmittelbar Konsequenzen für die Bestätigungsfähigkeit der Spezialgesetze SG 1-7. Ist der Indifferenzbereich sehr großzügig gewählt, wird der Anwendungsbereich von SG 1-6 durch einen erhöhten Anteil gleichgebliebener kontrollierender Kategorien eingeschränkt. Eine Bestätigung des SG 7 wird hingegen leichtfallen, da in den meisten Fällen die beobachtete Frequenzentwicklung kontrollierter Kategorien als „Frequenz ist gleichgeblieben" zu bewerten ist und somit erwartungskonform ausfällt. Im Extremfall ist auf diese Weise eine Gehaltsentleerung der ganzen Theorie möglich. Wenn dagegen der Indifferenzbereich sehr klein gehalten wird, hat dies eine Vergrößerung der Anwendungsbreite von SG 1-6 zur Folge. Die Erfüllung von SG 7 kann jedoch schwerer

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fallen, da unbedeutsame Schwankungen zufallsbedingter Art bereits zu erwartungskonträren Frequenzänderungen führen können. U m über diese hier nur ausschnitthaft vorgestellte Wechselbeziehung zwischen verschiedenen Aspekten der Anwendungsbreite und dem Bewährungsgrad unserer Theorie Aufschluß zu erhalten, werden auf der Basis unterschiedlicher Dispersionsmaße verschiedene Indifferenzbereiche mit den Spezialgesetzen in Verbindung gebracht. Neben einem auf der Grundlage einer zeitbereichsbezogenen Variationsbreite generierten „weiten" Indifferenzbereich (STN 2C) und einem unter Zugrundelegung der phasenbezogenen Variationsbreite erzeugten „engen" Indifferenzbereich (STN 2D) wird in der Variante 2A der von uns ursprünglich zugrundegelegte Indifferenzbereich vorgestellt, der einer mittleren Ausprägung entspricht. Mit der Variante 2B ist eine unterschiedliche Form der Informationsausschöpfung „natürlicher" Schwankungen gewählt worden, bei der große Abweichungen zeitbereichsspezifischer Kategorienfrequenzen vom Mittelwert stärker gewichtet werden. Als geläufiges Maß hierfür gilt die Varianz bzw. die Standardabweichung, die dem Mittelwert zuaddiert bzw. von diesem abgezogen wird. Die erste spezielle methodische Nebenbedingung (SMN 1) schreibt die Verwendung bestimmter Kategoriensysteme vor, die spezifisch für die jeweilige intendierte Anwendung sind. Für die intendierte Anwendung „Eltern-Kind-Interaktion" wird das Kategoriensystem BEKID, für den Bereich „Face-to-Face-Interaktion" das Kategoriensystem BENVID eingesetzt. Beide Kategoriensysteme konnten sich in umfangreichen Evaluationsstudien hinsichtlich ihrer deskriptiven Eigenschaften (Repräsentativität der Kategorien für den interessierenden Verhaltensbereich, objektive und reliable Anwendbarkeit durch trainierte Beobachter) und im Hinblick auf die theoretische Zielsetzung des Projektes (Identifikation kontrollierender Kategorienbeziehungen) bewähren (Projekt 1982, Neil 1982, Eller & Winkelmann 1983). Die Bewährung unserer Theorie der Verhaltensinteraktion in Dyaden ist grundsätzlich auch bei Verwendung anderer Kategoriensysteme denkbar. Neben der erfolgreichen Bewährung in den oben bereits angesprochenen Aspekten haben ökonomische Gesichtspunkte uns bewogen, zunächst auf eine Variation der ersten speziellen methodischen Nebenbedingung zu verzichten. 2 Die zweite spezielle methodische Nebenbedingung (SMN 2), die die Verwendung eines bestimmten heuristischen Verfahrens zur Identifikation fördernder und hindernder Kategorien vorschreibt, steht in engem Zusammenhang zu den Spezialgesetzen unserer Theorie. Eine Identifikation kontrollierender Kategorienbeziehungen ist Voraussetzung für die Anwendung der Spezialgesetze. Natürlich werden die

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Begriffe der fördernden und hindernden Kategorie von uns ganz anders als in den Definitionen DFK und DHK bestimmt. Im Rahmen der Theorieentwicklung ist eigens für die vorliegende Datenstruktur ein Auswertungsverfahren entwickelt worden, das wir INSEDA nennen. Das Programm INSEDA geht von bestimmten heuristischen Modellannahmen aus, berücksichtigt in besonderer Weise die Abhängigkeiten sequentieller Beobachtungsdaten und führt ein Mehrentscheidungsverfahren durch, das die Identifizierung kontrollierender Kategorienbeziehungen erlaubt (siehe dazu Holling & Schultze 1985, Kehl 1978; vgl. Neil 1982). Dabei werden die Begriffe des fordernden und hindernden Reizes auf komparative Relationen zwischen absoluten und bedingten Auftrittswahrscheinlichkeiten von Kategorien zurückgeführt. Durch eine Variation der zweiten speziellen Nebenbedingung wird der Frage nach der Angemessenheit des gewählten Verfahrens im Rahmen unserer Theorie der Verhaltensinteraktion in Dyaden nachgegangen. Von besonderer Bedeutung ist die Fragestellung, ob und in welchem Umfang es möglich ist, mit dem Verfahren INSEDA für die jeweilige Verhaltensinteraktion über zufällige Kontingenzen hinaus existierende Abhängigkeiten zwischen Kategorien aufzudecken und zur korrekten Erklärung und Vorhersage von Frequenzentwicklungen kontrollierter Kategorien zu nutzen. Dazu bietet sich eine vergleichende Betrachtung der Ergebnisse an, die aufgrund des Einsatzes von INSEDA erhalten werden, mit denen, die auf der Grundlage eines Zufallsverfahrens Zustandekommen. In SMN 2B wird daher, ausgehend von der Anzahl der durch das heuristische Verfahren INSEDA identifizierten fördernden und hindernden Kategorienbeziehungen, die Entscheidung, zwischen welchen Kategorien die kontrollierenden Beziehungen bestehen, per Zufall getroffen. Die dritte Version der zweiten speziellen methodischen Nebenbedingung (SMN 2C) sieht den Einsatz eines anderen heuristischen Verfahrens (SEQ 2A) vor. Dies erscheint besonders sinnvoll, da mit dem Verfahren INSEDA bestimmte Modellannahmen verbunden sind. Der Vergleich mit einem anderen Verfahren, dem andere Modellannahmen zugrundeliegen, ermöglicht eine vorläufige Einschätzung der Angemessenheit der verwendeten Modellannahmen für die vorliegende Datenstruktur. Das Verfahren SEQ 2A ist eine Adaptation des Verfahrens von Taerum et al. (1976), das ebenfalls speziell für die Analyse sequentieller Beobachtungsdaten entwickelt wurde mit dem Ziel, funktionale Zusammenhänge zwischen Verhaltenskategorien zu identifizieren. Im Unterschied zu dem Verfahren INSEDA wird bei SEQ 2A die Abhängigkeit der Daten nicht berücksichtigt. D i e dritte spezielle

methodische

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Zum empirischen Gehalt psychologischer Theorien

51

lieh aus pragmatischen G r ü n d e n entstandener unterschiedlicher Verwendungsmodus des heuristischen Verfahrens INSEDA in den beiden intendierten Anwendungen hat zu dem Entschluß geführt, auch die dritte spezielle methodische Nebenbedingung zu varriieren. Durch eine Variation dieser Nebenbedingung wollen wir der Frage nachgehen, inwieweit sich der Erklärungswert der Theorie in Abhängigkeit von der Festlegung der Identifikationsbasis und der zeitlichen Distanz zwischen Identifikations- und Prüfphase verändert. Die Festlegungen SMN 3A und 3B berücksichtigen in unterschiedlicher Art und Weise die Reduktion möglicher Fehler bzw. Schwankungen der Verhaltensdaten, die die Grundlage für das zu untersuchende Interaktionsgefüge bilden. In SMN 3A wird für die Auswahl der kontrollierenden Kategorienbeziehungen von den Daten einer Untersuchungsphase ausgegangen und, um bei der Auswertung mit INSEDA die Wahrscheinlichkeit des Fehlers 1. Art zu senken, ein kritischer Wert von 0.1/s (s = Anzahl der durchgeführten Signifikanztests) festgelegt. In SMN 3B dagegen erfolgt die Auswahl der kontrollierenden Kategorienbeziehungen eher unter zeitlichen Stabilitätsgesichtspunkten. INSEDA wird auf die Daten aus zwei Phasen angewandt, und nur die in beiden Phasen bei einem kritischen Wert von 0,05 übereinstimmend als kontrollierend identifizierten Kategorienbeziehungen werden berücksichtigt. Die Festlegung der Identifikationsbasis gibt den Zeitbereich an, auf den sich die Anwendungsvoraussetzungen der Spezialgesetze unserer Theorie beziehen. Je größer die zeitliche Distanz zwischen dem identifizierten Ausgangsgefüge und der Prüfphase ist, desto gravierender können sich zeitliche Instabilitäten auswirken. Bei einem längeren Zeitraum zwischen den beiden Phasen m u ß mit Veränderungen in den Kategorienfrequenzen gerechnet werden, die nicht allein auf die Kontrolle durch das Verhalten des Partners zurückzuführen sind, sondern sich aufgrund natürlicher zeitbedingter Fluktuationen ergeben. Inwieweit sich die zeitliche Distanz zwischen dem Interaktionsgefüge der Ausgangsbedingung und der Prüfbedingung auf den Bewährungsgrad unserer Theorie auswirkt, soll durch den Einsatz einer weiteren Variation der dritten speziellen methodischen Nebenbedingung überprüft werden. In SMN 3C wird durch die spezifische Wahl der Identifikationsbasis von einer gegebenen zeitlichen Nähe und einer starken strukturellen Ähnlichkeit zwischen dem Interaktionsgefüge der Ausgangsbedingung und der Prüfbedingung ausgegangen. Als Identifikationsbasis für die kontrollierenden Kategorienbeziehungen gilt die der Prüfphase unmittelbar vorgeschaltete Interventionsphase. Eine weitere Version der dritten speziellen methodischen Nebenbedingung, in der Identifikations- und Prüfphase identisch sind

52

Hans Westmeyer

(SMN 3D), wurde aufgenommen, um dem Einwand zu begegnen, unsere Spezialgesetze seien „tautologisch" formuliert. Hinter diesem Einwand steht offensichtlich die Vorstellung, die Identifikation kontrollierender Kategorienbeziehungen impliziere bereits, daß mit Änderung der Frequenz einer kontrollierenden Kategorie der Frequenzverlauf für die von ihr kontrollierte Kategorie festgelegt sei. Dieser Eindruck wird möglicherweise durch Inhalt und Struktur der Spezialgesetze nahegelegt. In Verbindung mit den speziellen methodischen Nebenbedingungen SMN 3A, 3B und 3C läßt er sich allerdings schon deshalb nicht aufrechterhalten, weil in diesen Fällen in Identifikationsphase und Prüfphase auf verschiedene Datensätze Bezug genommen wird. Mit der Version SMN 3D wollen wir zeigen, daß die dem Tautologie-Vorwurf zugrundeliegende Annahme selbst dann nicht stimmt, wenn Identifikations- und Prüfphase zusammenfallen. An unsere Diskussion des impliziten Zeitbezugs der Spezialgesetze sei an dieser Stelle noch einmal erinnert. Aus diesen Variationen spezieller theoretischer und methodischer Nebenbedingungen sind durch die Kombination bestimmter Versionen 13 Varianten der Kernerweiterung unserer Theorie der Verhaltensinteraktion in Dyaden hervorgegangen, die in Tabelle 3 aufgeführt sind. Der Tabelle ist zu entnehmen, welche Versionen der Nebenbedingungen zu einer Variante zusammengefaßt und mit den Spezialgesetzen in Verbindung zu bringen sind. Die ersten vier Varianten sind gekennzeichnet durch die Veränderung der Identifikationsbasis unter Beibehaltung des ursprünglich festgelegten Indifferenzbereichs (STN 2A) und des heuristischen Verfahrens INSEDA zur Identifikation fördernder und hindernder Kategorienbeziehungen (SMN 2A). Die Varianten 5-7 sind die von uns so benannten Zufallsvarianten, in denen die Struktur des Interaktionsgefüges bei vorgegebener Anzahl fördernder und hindernder Kategorienbeziehungen per Zufall erzeugt wird (SMN 2B). Die Identifikationsbasis bestimmt sich bei der intendierten Anwendung „Eltern-Kind-Interaktion" aus SMN 3B und bei der intendierten Anwendung „Face-to-Face-Interaktion" aus SMN 3A. Die zusätzlich zur ursprünglichen Festlegung gewählten weiteren Ausprägungen des Indifferenzbereichs werden in den Varianten 8-11 mit unterschiedlichen Identifikationsphasen verbunden. Dabei sind dem auf der Standardabweichung basierenden Indifferenzbereich (STN 2B) der Variante 8, identisch für beide Anwendungsbereiche, die Identifikationsphasen gemäß SMN 3A und dem ebenfalls auf diesem Dispersionsmaß beruhenden Indifferenzbereich der Variante 9 die Identifikationsbedingungen gemäß SMN 3B zugeordnet. In den Varianten 10 (STN 2C: „weiter" Indifferenzbereich) und 11 (STN 2D:

53

Zum emDirischen Gehalt psychologischer Theorien Ν e c

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Hans Werbik

einer Maximierung der (externen) „Validität" eines Tests unverträglich ist. Allgemein scheinen sich die Forderungen „Genauigkeit" und „Berücksichtigung von Komplexität" wechselseitig auszuschließen. Auch können unverzichtbare ethische Grundsätze mit methodischen Anforderungen unverträglich sein. So ist etwa die Forderung nach symmetrischen und vertrauensvollen Beziehungen zwischen Forschern und „Versuchspartnern" mit der Prüfung der kausalen Wirksamkeit von Bedingungen des Verhaltens im Experiment unverträglich. Die Anwendbarkeit der experimentellen Methodik zur Prüfung von Kausalzusammenhängen setzt ein beträchtliches Machtgefalle zwischen Forschern und erforschten Personen voraus. Umgekehrt impliziert eine Umgestaltung der Beziehungen zwischen Forschern und Versuchspartnern nach partnerschaftlichen Leitbildern einen weitgehenden Verzicht auf die Nachweisbarkeit kausaler Beziehungen (Kaiser & Werbik 1977, Munzert 1979). Mit der Frage, ob die sozialwissenschaftliche Methodologie normalerweise eine Wahl zwischen mehreren Übeln impliziert, haben sich in jüngster Zeit Blalock (1984) und McGrath (1981) beschäftigt. 3. Wahrheit und

Wahrscheinlichkeit

Die nomothetische bzw. kausal-analytische Methodik der wissenschaftlichen Psychologie ist am regulativen Prinzip der Wahrheit orientiert. Als „wahr" können die Beobachtungssätze gelten, soweit sie in Übereinstimmung mit methodischen Normen gewonnen werden. Allgemein formulierte empirische Sätze sind vertretbar, solange sie nicht durch wahre Beobachtungssätze falsifiziert wurden (Popper 1971). Die Überprüfung der Realgeltung theoretischer Sätze erfolgt durch a) Konkretisierung der theoretischen Begriffe durch operationale Definitionen oder Zuordnungsregeln; b) Konfrontation des in dieser Weise auf die Ebene der Beobachtung transformierten theoretischen Satzes mit Beobachtungssätzen, welche aufgrund der Einhaltung der methodischen Vorschriften als „objektive Befunde" gelten können. Hierbei tritt das Problem auf, daß die Beurteilung des empirischen Gehalts einer theoretischen Proposition nicht zweifelsfrei und auch nicht kontextfrei möglich ist (Putnam 1982). Relationen zwischen theoretischen Termini können in einzelnen Fällen auch als materialanalytische Wahrheiten (als „strukturelle Implikationen") ausgewiesen werden (Smedslund 1978, 1979, 1980). Unter dem Einfluß der konstruktiven Wissenschaftslehre (Lorenzen & Schwemmer 1975) ist

Zur rationalen Annehmbarkeit handlungspsychologischer Aussagen

135

die Möglichkeit der „Analytizität" angeblich empirisch gehaltvoller psychologischer Hypothesen oder Theorien wenigstens ernsthaft und mit einigen Ergebnissen untersucht worden (Brandtstädter 1981,1982, Kempf 1978, Hilke & Kempf 1982). Ein mindestens ebenso gravierendes Problem ist jedoch darin zu sehen, daß die nomothetische Methodologie nur die Wahl zwischen zwei Erklärungs-Modellen zuläßt: Entweder ein beobachtetes Phänomen kann hinreichend durch Antezedenz-Bedingungen, als Wirkung einer konjunktiven Verknüpfung von Ursache-Faktoren dargestellt und erklärt werden. Oder es wird angenommen, daß zu den Kausal-Faktoren noch Zufalls-Faktoren hinzutreten, wobei der Anteil der zufälligen Einflüsse auch überwiegen kann. Im ersten Fall wird die erklärende Hypothese deterministisch formuliert. Im zweiten Fall wird eine probabilistische Formulierung der Hypothese bevorzugt. Kaum jemand denkt in der Psychologie jedoch daran, daß die probabilistische Formulierung einer Hypothese eigentlich voraussetzt, daß es adäquat ist, das Verhalten der Person so zu betrachten, als sei es von einem Zufallsgenerator erzeugt worden. Vielmehr wird unter impliziter Anerkennung eines methodischen Prinzips in der Physik („Alle Naturgesetze sind entweder deterministisch oder probabilistisch") von der mangelnden Geltung deterministischer Propositionen auf die notwendige Geltung probabilistischer Hypothesen-Formulierungen geschlossen. Von einigen Paradigmen zufallsgesteuerten Verhaltens (etwa Laboratoriumsexperimente vom „Wahrscheinlichkeits-Lernen") abgesehen, ist jedoch die Interpretation des Verhaltens als Ergebnis von Zufallsgeneratoren höchst fragwürdig. Speziell im Bereich des menschlichen Handelns ist diese Annahme sogar mit den Grundbegriffen unverträglich. Probabilistische Hypothesen-Formulierungen gelten so lange als vertretbar, als nicht durch ein Verfahren der statistischen Prüfung die Unwahrscheinlichkeit der Geltung nachgewiesen wurde. Diese Verfahren der statistischen Prüfung setzen die Häufigkeitstheorie der Wahrscheinlichkeit voraus. Was auch immer unter „Wahrscheinlichkeit" in den Hypothesen-Formulierungen verstanden wird, im Zuge der Überprüfung dieser Hypothesen wird jedoch immer der Begriff der Wahrscheinlichkeit im Sinne der Häufigkeitstheorie konkretisiert. Bezüglich dieser Theorie stimmen praktisch alle namhaften Theoretiker überein, daß die Ableitbarkeit des Theorems von Bernoulli einen Begriff von Zufallsartigkeit von Ereignisfolgen voraussetzt, welcher Regellosigkeit, Unempfindlichkeit einer Statistik gegenüber Aussonderungen impliziert (Popper 1971, Lorenzen 1974, von Mises 1936). Offenkundig ist die Annahme der Kontextgebundenheit des Handelns mit diesen Annahmen unverträglich. Als Konsens ergibt sich, daß nach subjektiven Interpretationen und Theorien der Wahrscheinlichkeit gesucht werden muß, will man ein

136

Hans Werbik

Kriterium der rationalen Annehmbarkeit handlungspsychologischer Aussagen gewinnen. Begriffe der subjektiven Wahrscheinlichkeit erlauben entweder kategorische oder komparative Urteile. Die Metrisierung eines komparativen Wahrscheinlichkeitsbegriffs ist nur unter besonderen A n n a h m e n (wie Unabhängigkeit der Ereignisse, mengentheoretische Darstellbarkeit, vollständige Disjunktion, gleichförmige Zerlegbarkeit der Mengen) möglich (von Kutschera 1972). Bei Betrachtung von Handlungen - etwa im Kontext von Lebensformen ist bereits unklar, was hier „Ereignis" heißen soll. Auch die Formulierung einer vollständigen Disjunktion von Handlungsmöglichkeiten ist problematisch. Vielmehr muß die Liste der Handlungsmöglichkeiten als stets erweiterbar gedacht werden. Es ist daher durchaus angemessen, auf die Metrisierbarkeit des Begriffs der subjektiven Wahrscheinlichkeit von vornherein zu verzichten und sich mit kategorialen oder komparativen Wahrscheinlichkeitsurteilen zufrieden zu geben. Bei Überlegungen zur Konkretisierung von Begriffen der subjektiven Wahrscheinlichkeit sollte auch berücksichtigt werden, daß die heutigen Theorien der subjektiven Wahrscheinlichkeit eng an den Theorien der objektiven Wahrscheinlichkeit orientiert sind. Ob diese Entwicklung der letzten dreihundert Jahre ein Fortschritt ist, mag bezweifelt werden. Es ist zumindest auffällig, daß in der Antike eine Fülle von Begriffen der Wahrscheinlichkeit unterschieden wurde. Aristoteles verwendet (a) endoxon („Anerkannt ist, was entweder alle meinen oder die meisten oder die Weisen, und von diesen wieder entweder alle oder die meisten oder die Anerkannten", Topik I, 1), (b) pithanon („glaubwürdig"), (c) eikos („wahrscheinlich", kontextabhängig im subjektiven oder objektiven Sinn), (d) hos epi to poly („das, was meistenteils der Fall ist oder geschieht") (vgl. dazu Wolf 1979). Auch die Neuzeit kennt noch einen Begriff der Wahrscheinlichkeit, der von der Argumentationslage abhängig ist: „Die Wahrscheinlichkeit ist der Schein der Wahrheit; das Wort bezeichnet einen solchen Satz, für den Gründe vorliegen, um ihn für wahr zu halten. Die Bestimmung, die man diesen Sätzen gibt, heißt Glaube, Zustimm u n g oder Meinung" (Leibniz, Nouv. Ess. IV, ch. 15f.; zit. nach Eisler 1910). Die quantifizierende Auslegung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs auf der Grundlage eines Begriffs der Zufälligkeit scheint erst durch Hume, Kant und Bernoulli in die wissenschaftliche Begriffsbildung eingeführt worden zu sein. Wie etwa der Begriff der historischen Wahrscheinlichkeit zeigt, kann von einer universellen Anwendbarkeit der quantifizierenden Betrachtung keine Rede sein. Analog ist in der Psychologie eine quantifizierende Betrachtung eines Wahrscheinlichkeitsbegriffes, welcher in Redewendungen wie die „wahrscheinliche Entwicklung eines Jugendlichen", die „wahrscheinliche Weiterentwicklung einer Ehe" oder die „wahrschein-

Zur rationalen Annehmbarkeit handlungspsychologischer Aussagen

137

lichste Konfliktlösung" zum Ausdruck kommt, praktisch aussichtslos. 4. Klassifikationen

und

Typisierungen

Die Aufstellung theoretischer Propositionen im Rahmen des nomothetischen Programms setzt implizit voraus, daß die Realität in Form von Ereignissen beschrieben und in Übereinstimmung mit mengentheoretischen Axiomen dargestellt werden kann. Diese Mengen von Ereignissen werden durch Prädikation und darauf aufbauend durch die Anwendung von Systemen von Prädikaten, welche eine erschöpfende Klassifikation der Ereignisse erlauben, untergliedert. Indem Vorschriften oder Normen für die Klassifikation von Ereignissen formuliert werden, ist im Prinzip die Subsumption von Ereignissen unter Kategorien eine Aufgabe, die quasi mechanisch gelöst werden kann. Die Mechanisierbarkeit von Kategorisierungen ist üblicherweise sogar ein Kriterium der „Objektivität". Gerade bei der Darstellung von menschlichen Handlungen erheben sich jedoch Zweifel, ob die Darstellung in Form von unabhängigen Einzel-Ereignissen oder Aggregaten dieser Einzel-Ereignisse adäquat ist. Die Grundannahme der Kontextgebundenheit des Handelns ist mit einer elementaristischen Darstellungsweise unverträglich. Ebenso ist fraglich, ob eine Klassifikation von Handlungen aufgrund eines feststehenden Regelsystems sinnvoll ist oder ob nicht ein beträchtlicher Spielraum der Kategorisierung besteht, der im objektivistischen Ansatz sich höchstens in Form eines geringen Intersubjektivitätsgrades der „Kodierung" bemerkbar macht. Aufgrund einer ungefähren Beurteilung kann man sagen, daß „konkrete" Handlungen (von Cranach et al. 1980) einer klassifizierenden Beschreibung zugänglich sind, während Bemühungen, die sozialen Bedeutungen von Handlungen zu klassifizieren, also die „acts" im Sinne von Harre & Secord (1972), höchstwahrscheinlich aussichtslos sind. An zahlreichen Beispielen kann gezeigt werden, daß die Zuweisung sozialer Bedeutungen zu komplexen Handlungen (wie „Aggression", „Gewalt", vgl. dazu Werbik 1982) eine Typisierung in dem Sinne ist, daß die komplexe Handlung einem Handlungstypus zugeordnet wird. Diese Zuordnung setzt einen Entschluß voraus, den bestehenden Spielraum einer Typisierung in bestimmter Weise zu nutzen. Noch deutlicher wird der Unterschied zwischen Klassifikation und Typisierungen, wenn nicht einzelne, mehr oder weniger gut abgrenzbare Handlungen, sondern „Handlungsgeschichten" kodiert werden sollen. „Handlungsgeschichten" können geeignet sein, den Zusammenhang des Handelns mit dem Lebenslauf darzustellen; es ist aber auch möglich, daß in detaillierter Form der „Handlungsstrom" eines Ta-

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Hans Werbik

ges nach dem theoretischen Gesichtspunkt des „Mehrfachhandelns" (Fuhrer 1984) rekonstruiert wird. Schon bei relativ grober Methodik der Verhaltensbeobachtung und -beschreibung lassen sich „Überlappungen" von Handlungen in „Verhaltensströmen" erkennen (Fuhrer 1984, p. 130; Kaminski 1984). Hier dürfte die Typisierung die allein anwendbare Methode der Ordnung handlungspsychologischer Befunde sein. Aber auch eine detaillierte Betrachtung „konkreter" Handlungen wird in dem einen oder anderen Fall deutlich machen, daß eine klassifizierende Beschreibung aufgrund genereller, mechanisch anwendbarer Klassifikationsvorschriften aussichtslos ist und daß die Beschreibung der Handlung in Form einer Typisierung, in diesem Fall der Zuordnung einer vorläufigen Handlungsbeschreibung zu einem „Handlungsschema" (vgl. Kamiah & Lorenzen 1973), erfolgt, wobei ein beträchtlicher Ermessensspielraum genutzt werden kann.

5. Vorschlag eines Kriteriums der rationalen handlungspsychologischer Aussagen

Annehmbarkeit

Ich hoffe den Leser überzeugt zu haben, daß die Untersuchung menschlichen Handelns eine Fülle von subjektiven Einschätzungen und Entscheidungen erforderlich macht. Das Ausmaß der Subjektivität läßt sich nicht quantifizieren. Die Beseitigung subjektiver Urteilsbildung durch Standardisierung ist aussichtslos, weil wegen der weitgehenden Kontextabhängigkeit von Bedeutungen der Zusammenhang zwischen den theoretisch gemeinten Bedeutungen und den „Operationalisierungen" oder „Kriterien" nicht als invariant angesehen werden kann. Die Subjektivität der Urteilsbildung muß also anerkannt werden. Nun haben wir gerade in Deutschland mit subjektiver Urteilsbildung im Bereich der Psychologie schlechte Erfahrungen gemacht. Wir haben daher nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland die Typologien verworfen und nach klassifikatorischen Systemen der Persönlichkeitsbeschreibung Ausschau gehalten (vgl. Graumann 1960). Ist die ausdrückliche Zulassung von Subjektivität nicht der Anfang vom Ende der Wissenschaft? Der Autor beabsichtigt nicht, dem „deutschen Irrationalismus" ein neues Betätigungsfeld zu eröffnen (vgl. Müller-Freienfels 1922). Es sind vielmehr von Anfang an Schutzvorkehrungen gegen einen „Subjektivismus" in der Psychologie zu treffen. Das grundlegende Dilemma kann etwa so formuliert werden: Entweder nicht eingestandener, faktischer Subjektivismus in Form eines fingierten Objektivismus oder der Versuch, die Subjektivität der Urteilsbildung anzuerkennen, aufzuklären und argumentativ einzuschränken. Diesen Hintergrund berücksichtigend, will ich vorschlagen, die Interpretation handlungspsychologisch relevanter Fallbeschreibungen

Zur rationalen Annehmbarkeit handlungspsychologischer Aussagen

139

(Texte, Beobachtungsprotokolle) nicht einzelnen Interpreten, sondern eigens für die Zwecke der Interpretation eingerichteten Gruppen zu überantworten. Die Diskussions- und Entscheidungspraxis der Interpretationsgruppen sollen an der regulativen Idee des „Diskurses" (Habermas 1971, 1981) ausgerichtet sein. Eine Interpretation (die Zuordnung einer Handlungsgeschichte zu einem Handlungstypus) soll genau dann als rational annehmbar gelten, wenn eine an der regulativen Idee des „Diskurses" ausgerichtete Interpretationsgruppe eine Interpretation in dem Sinne faktisch angenommen hat, daß keiner der Interpreten gegen die Interpretation einen Einspruch (Einwand, Veto) erhebt und jeder der Interpreten bekundet, daß seine sonstigen Bedenken so gut wie möglich berücksichtigt worden sind. In einer an der Leitvorstellung des „Diskurses" ausgerichteten Diskussionspraxis werden Argumente für und gegen einen Interpretationsvorschlag angehört, bewertet und gegeneinander abgewogen. Die Teilnehmer an einem „Diskurs" lassen sich vom Prinzip der „kooperativen Verständigungsbereitschaft" (Habermas 1971) bzw. im allgemeinsten Sinne vom „Prinzip der Transsubjektivität" (Lorenzen & Schwemmer 1975) leiten, achten sich gegenseitig als sachkundige und diesen Prinzipien entsprechende Subjekte und gestehen sich gegenseitig die Freiheit zu, welche Argumente ein Teilnehmer annehmen will und welche nicht. Die Formulierung universell und generell anwendbarer Regeln der Argumentation und die Einschränkung der Begründbarkeit von Einlassungen auf deduktive Argumente bzw. Begründung durch Normen ist jedoch unmöglich. Voraussetzungen für einen „Diskurs" sind jedoch, daß - kein Teilnehmer für das Vorbringen von Überlegungen irgendwelche Sanktionen seitens anderer Teilnehmer zu befürchten hat, - jeder Teilnehmer seine Überlegungen allen anderen Teilnehmern zur Kenntnis bringt und bereit ist, die Überlegungen aller anderen Teilnehmer zur Kenntnis zu nehmen, - jede Überlegung im Verlaufe eines Argumentationsprozesses in den Diskurs einbezogen wird und keine Überlegung als von vornherein „nicht äußerungswürdig" zurückgestellt wird (vgl. Habermas 1971, Schwemmer 1976, Werbik 1974, Kempf 1982). Für die Erfüllung dieser Voraussetzungen gibt es jedoch keine feststehenden Kriterien. Die Voraussetzungen sind auch nicht durch situative Manipulation herstellbar. Gleichwohl kann durch die Art der Gestaltung von „Rahmenbedingungen" die Erfüllbarkeit der Voraussetzungen gefordert werden. Ein weiteres Prinzip, das bei Diskursen über Interpretationen berücksichtigt werden soll, ist die Forderung, die Selbstinterpretation des abwesenden Akteurs, dessen Handeln interpretiert wird, so gut wie möglich zu berücksichtigen. Eine defini-

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Hans Werbik

tive Übereinstimmung mit dem Akteur wird - wie unsere ersten Erfahrungen zeigen - nicht durchweg erreichbar sein. Die Übereinstimmung mit dem Akteur kann daher - entgegen früheren Ausführungen (Werbik 1984) - keine notwendige Voraussetzung für die rationale Annahme einer handlungspsychologischen Interpretation sein. Bei der praktischen Realisierung dieser Vorstellungen wird man eine Dreier-Gruppe („Interpretations-Triade") bevorzugen, wobei die beteiligten Personen sich abwechselnd in den Rollen eines Proponenten, eines Opponenten und eines Vermittlers befinden werden. Eine Reglementierung dieser Rollenzuweisung wäre sinnlos, da sich die Bereitschaft, eine dieser Rollen anzunehmen, aus dem jeweiligen Kontext des Gesprächs ergibt. Im Gegensatz zur Praxis der Gerichtshöfe, die ja jeden Fall entscheiden müssen, wird man auch das Urteil „unentscheidbar" zulassen müssen. Die von der Interpretationsgruppe gemeinsam anerkannten regulativen Ideen und sonstigen ethischen Prinzipien sollen eine Schutzvorkehrung gegen die Gefahr der Abhängigkeit der Interpretation von jeweiligen Interessen der Interpreten darstellen. Die gemeinsame Intemalisierung dieser Prinzipien im Verlauf einer längeren Interpretationspraxis ist sicherlich keine ausreichende Schutzvorkehrung; vielmehr wird man immer wieder mit Verzerrungen durch spezielle gruppendynamische Einflüsse rechnen müssen. Allerdings können diese möglichen Einflüsse durch eine gemeinsame metakommunikative Analyse erkennbar gemacht und entsprechend berücksichtigt werden. Das vorgeschlagene Kriterium der rationalen Annehmbarkeit unterscheidet sich vom Kriterium der Wahrheit dadurch, daß die getroffene Entscheidung nicht aus allgemein verbindlichen Normen abgeleitet werden kann und auch nicht von jedem beliebigen Beurteiler jederzeit überprüft werden kann. Vielmehr kommt es darauf an, ob die Interpretationsgruppe genügend „angesehen" ist, so daß das, was die Interpretationsgruppe gemeinsam für wahr hält, von den Nicht-Teiln e h m e r n am Interpretationsprozeß wenigstens als wahrscheinlich eingeschätzt wird. Unser Kriterium der rationalen Annehmbarkeit ist ähnlich dem „Verhandlungsmodell", welches Westmeyer (1983) für die Begründung diagnostischer und therapeutischer Entscheidungen vorgeschlagen hat. Allerdings würde Westmeyer wahrscheinlich sagen, daß im grundwissenschaftlichen Kontext unser Kriterium der rationalen Annehmbarkeit allenfalls für die Heuristik von Belang ist. Fragen der Geltungsbegründung von handlungspsychologischen Aussagen könnten nach Westmeyers vermuteter Auffassung nicht durch Konsensbildung entschieden werden. Dagegen wäre nur zu sagen, daß die Pro-

Zur rationalen Annehmbarkeit handlungspsychologischer Aussagen

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blematik der Beurteilung handlungspsychologischer Aussagen gerade deutlich macht, daß zwischen dem Entstehungs- und Geltungszusammenhang einer handlungspsychologischen Aussage auch methodisch nicht streng getrennt werden kann. In einem vom Konsensprinzip geleiteten Interpretationsprozeß ist die Formulierung eines Interpretationsvorschlags von seiner Rechtfertigung im Diskurs praktisch nicht abtrennbar. Interpretation und Rechtfertigung erscheinen als praktisch untrennbare, komplementäre Akte. Oder anders formuliert: Die Bedingungen der Möglichkeit der Abtrennbarkeit von Methoden der Geltungsbeurteilung von heuristischen Methoden sind in einer am „Diskurs" orientierten Gesprächssituation nicht erfüllbar. 6. Darstellung Beispielen

des Interpretationsverfahrens

anhand

von

Für die Darstellung einiger allgemeiner Prinzipien des Verfahrens werden Beispiele aus dem Bereich der Wahrnehmung im Sinne von Erleben erörtert, weil die Art der Wahrnehmung von erlebten Situationen sowohl bei „konkreten" Handlungen als auch bei der Analyse der sozialen Bedeutung von Handlungen mitberücksichtigt werden muß. Im folgenden werden zwei Beispiele gebracht, denen gemeinsam ist, daß sie mittels des Konzepts „Sensibilisierung vs. Abwehr" interpretiert werden können (Bruner & Postman 1947, Gordon 1957, Klein, Barr & Wolitzky 1967). In handlungstheoretischer Terminologie läßt sich der Begriff „Bedrohungsgefühl" als Subkategorie eines „aversiven Zustands" (Werbik 1974, 1978) explizieren. Beispiel 1: Es soll untersucht werden, ob die Darbietung von bildhaften Informationen zum Thema „Waldsterben" Gefühle der existentiellen Bedrohung auslöst. Als Material stehen zur Verfügung: Protokolle aus einem Versuch der freien Assoziation, in welchem als Stimulus-Material jeweils acht Diapositive zu Waldschäden (Fichtelgebirge, Bayer. Alpen, Sommer 1983) dargeboten wurden. (Die Forschungspartner wußten zuvor nicht, daß es sich um einen Versuch zum Thema „Waldsterben" handelt.) Aufgrund des Materials sollte eine Zuordnung des Forschungspartners zu einem der folgenden Typen erfolgen: Τ 1: Keinerlei G e f ü h l der Bedrohung erkennbar. Τ 2: G e f ü h l der Bedrohung ansatzweise („latent") erkennbar; „latente" Bedrohungsgefühle werden eher abgewehrt. Τ 3: G e f ü h l der Bedrohung manifest. Die folgenden Ausführungen zum Beispiel 1 verdanke ich Jürgen Straub und Roswitha Netzband-Werbik.

142

Hans Werbik

Vorbemerkung Wir geben zunächst eine die gesamten Äußerungen des Forschungspartners (FP) zusammenfassende Passage in indirekter Rede inhaltlich wieder. Der anschließend dargestellte Konsensbildungsprozeß unter Beteiligung von drei Interpreten wurde durchgeführt, um ein rational motiviertes Einverständnis aller Interpreten im Hinblick auf die Vertretbarkeit der angesprochenen Deutungsmöglichkeiten zu erzielen. Im Rahmen dieses Konsensbildungsprozesses ging es in erster Linie darum, ob und ggf. aus welchen im Text interpretativ aufweisbaren Gründen die Äußerungen des FP einem der drei Typen (s.o.) zuordenbar sind. Wir möchten an dieser Stelle, um Mißverständnisse zu vermeiden, noch daraufhinweisen, daß es im Rahmen unserer wissenschaftlichen Bemühungen nicht das eigentliche Ziel ist, typologische Zuordnungen von Personen zu vorab feststehenden Typen vorzunehmen, sondern daß solche typologischen Zuordnungen vor allem den Sinn haben, Typenbildungen sowie Modifikationen und Differenzierungen bereits gebildeter Typen im Rahmen psychologischer Theoriebildung zu ermöglichen. Thematisch relevante Aussagen (paraphrasierende Erstinterpretation) (Die folgende Passage wurde geschrieben auf der Grundlage vorliegender Transskriptionen von Tonbandprotokollen, in denen die Äußerungen der FP zu jedem der in den Assoziationsversuchen gezeigten Bilder festgehalten sind.) Der FP (25 J., m., Student) erzählte während des Assoziationsversuchs mehrmals über eigene Erfahrungen und Einstellungen, die mit der Natur oder spezieller dem Wald in Zusammenhang stehen. So berichtete er, daß seine Eltern früher im Schwarzwald ein Haus besaßen, daß Schulausflüge häufig als Wanderungen in den Bergen oder im Wald veranstaltet wurden, daß er öfters im Wald zeltete, daß er den Wald als „schön, überdauernd, sturmfest, erdverwachsen und idyllisch", insgesamt als einen Ort der „Erholung und Erbauung" empfinde, der ihn zudem an „Heimat(-lieder)" erinnere. Weiter konnte der FP an den gezeigten Bildern teilweise ästhetisches Gefallen finden („schöne Aufnahme", „interessante Schattenbildung"). Andererseits überkomme ihn beim Betrachten dieser geschädigten Bäume und Wälder ein „trostloses Gefühl", ein „Gefühl eigener Schlappheit", da er sich nicht selbst engagiere gegen das Waldsterben. Er sieht in den Bildern eine „zerstörte Umwelt", in die „noch kleine Bäume gepflanzt werden, bis diese auch wieder kaputt sind". Schließlich macht der FP Bemerkungen über „negative volkswirtschaftliche Aspekte" des Waldsterbens sowie über „hirnrissige Diskussionen über teure Autos, Katalysatoren, finanzielle Aufwendungen, die umsonst rausgeschmissen werden". Den Versuch fand der FP „frustrierend". Ausgewählte Ausschnitte aus dem Konsensbildungsprozeß: Die i.f. wiedergegebenen Deutungen der Interpreten sind als einzelne Äußerungen wie auch in ihrem fortlaufenden, argumentativen Zusammenhang in einigen Aspekten kommentiert. Zur Indizierung: Am Konsensbildungsprozeß nahmen die Interpreten I j , I2 und I3 teil, deren Deutungsvorschläge fortlaufend numeriert sind. Die Kommentare werden fortlaufend als K j bis K9 gekennzeichnet. ill:

Der FP „erkennt" die in den Bildern angesprochene Problematik sofort, spricht aber wenig darüber und dann auch nur sehr oberflächlich. Kommentar K j : Erste paraphrasierende

2l2'·

Deutung.

Über das Waldin sterben eher wenig, stimmt. als Lebensraum, dem spricht er sich er erholen kann und dgl.,Über redetden er Wald dagegen

Zur rationalen Annehmbarkeit handlungspsychologischer Aussagen

143

häufig. Er hat durchaus eine Beziehung zum Wald, die ich als sentimentale, idyllisierende und romantische bezeichnen könnte. K2: Weitere paraphrasierende Deutung, die auf ] I j zustimmend Bezug nimmt und zusätzlich eine Erweiterung darstellt. Darüber hinaus wird dem FP in einer seine Äußerungen in „Oberbegriffe" (sentimental, idyllisierend, romantisch) zusammenfassenden Deutung eine bestimmte Beziehung zur Natur zugeschrieben. 311:

Daß er wenig über Waldsterben spricht, hat ja seinen Grund: die Bilder erinnern ihn an seine eigene Schlappheit. Er hat ein schlechtes Gewissen, weil er nichts tut gegen das Waldsterben. Deshalb versucht er doch auch, die eigentliche Problematik, die er erkennt, aus dem Interview auszublenden, vielleicht ganz zu verdrängen. Er verharmlost m.E. die Problematik, indem er Dinge erzählt, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang stehen mit dem Waldsterben, oder auch durch eine Ästhetisierung der Photos. So braucht er sich auch nicht betroffen oder gar bedroht zu fühlen. K3: Konsens in j l j und 2I2 wird aufgegriffen (FP sagt wenig über Waldsterben) und weitergehend psychologisch gedeutet (schlechtes Gewissen, Ausblendung, Verdrängung, Verharmlosung). Diese Deutung beruht im wesentlichen auf „Versatzstücken" psychoanalytischer Theorie. Die - sicher kritisierbare - Akzeptanz einer Theorie „legitimiert" hier die vorgenommene Deutung. Weiter wird auf der vorgetragenen Interpretation aufbauend eine erste Zuordnung des FPs zu Typ 1 vorgenommen. Hierbei werden Vermutungen angestellt, warum der FP sich nicht betroffen fühlt.

4I2:

Warum sollten denn die zahlreichen Schilderungen eigenerlebter Erfahrungen, das Wohlgefallen an den Photos, bloße Verharmlosungen oder die Verdrängung der Problematik bedeuten? Ich interpretiere dies als Ausdruck seiner durchaus authentischen Beziehung zum Wald. Dafür haben wir im Text auch Anhaltspunkte. K4: Die in 3I1 vorgeschlagene psychologische Deutung wird in Frage gestellt, zurückgewiesen. I2 hält an der Zuschreibung einer „authentischen Beziehung" fest (zusammenfassende Deutung von 2h)· Hiermit ist über die Zuordnung zu einem der vorliegenden Typen explizit nichts gesagt.

5I3:

Das schließt sich doch nicht aus: Wir können doch einerseits dem FP eine authentische, in Erfahrungen entstandene Beziehung zum Wald zusprechen, die man als romantische oder sentimentale bezeichnen kann, oder? K5: I3 kündigt einen Vermittlungsvorschlag an. Wiederholt eirii '1er bislang scheinbar im Widerspruch stehenden Deutungen (2I2 und 4I2) in einer „rhetorischen", „suggestiven" Formulierung.

6^1,2: Zustimmung I3: Andererseits kann die Tatsache, daß er beim Anblick der Versuchsdias kaum über die faktische Zerstörung des Waldes bzw. seine damit in Zusammenhang stehenden Gedanken und Gefühle sprach, sondern eher über vorwiegend vergangene Erfahrungen in einem „intakten" Wald oder über sonst etwas „Nebensächliches", schon als Ausweichen vor einem problematischen Thema, als Verdrängung oder dgl. gedeutet werden.

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Hans Werbik K^: Die zweite psychologische Deutung (3I1) wird ebenfalls wiederholt, nun jedoch nicht als konkurrierend mit der ersten Deutung, sondern als diese ergänzend aufgefaßt. Gleichzeitig wird die 2. Deutung „abgeschwächt", d. h. ihre Geltung wird nur noch im Hinblick auf die aktuelle Versuchssituation beansprucht. Diese situationsbezogene Relativierung des Geltungsanspruchs der Deutung erleichtert ihre Annehmbarkeit. Offensichtlich wird hier in 7I3, daß die zur Diskussion stehende Interpretation nicht in erster Linie auf bestimmten Aussagen des FP beruht, die diese Interpretation im einzelnen stützen. Der Anlaß für diese psychologische Interpretation ist vielmehr, daß es der FP unterlassen hat, über einen bestimmten Sachverhalt in erwartungsgemäßer Ausführlichkeit und Offenheit zu sprechen. Für die psychologische Deutung spielen A n n a h m e n der Interpreten wie z.B.: „was mich gefühlsmäßig bewegt, darüber spreche ich auch . . . " eine wohl erhebliche Rolle.

gl2:

Ist es nicht doch so, daß unser FP sich schon betroffen, auch bedroht fühlt durch das Waldsterben, daß er es aber im Versuch nicht zeigen will. Er sagt ja auch einmal, daß er den Versuch frustrierend finde. Ansatzweise sind solche G e f ü h l e der Betroffenheit da. Er spricht ja auch von „Trostlosigkeit" im Versuch. K7: I2 nimmt Bezug auf den Vermittlungsvorschlag, hebt verstärkend die dort schon vollzogene versuchssituationsbezogene Relativierung der psychologischen Deutung hervor. Grundsätzlich möchte 12 dem FP ein Gefühl der Betroffenheit oder Bedrohtheit nicht absprechen. Dafür, daß der FP ein solches Gefühl erfahren hat, spricht nach I2, daß er im Versuch die Trostlosigkeit der Bilder erwähnt. Die Argumente von I2 sprechen f ü r die Zuordnung zu Typ 2.

9I3:

Jedenfalls sind während des Assoziationsversuchs eindeutig keine Gefühle starker Betroffenheit oder gar existentieller Bedrohtheit erkennbar, oder? Kg: Vorschlag einer Zuordnung zu Typ 1 unter expliziter Bezugnahme auf den im Versuch produzierten „Text".

lOll 2 : Zustimmung lll2:

Aus einem Hinweis auf die Trostlosigkeit der Bilder können wir nicht schließen, daß der FP sich tatsächlich gefühlsmäßig betroffen oder bedroht fühlte. Aufgrund der im Versuch gemachten Äußerungen können wir ihm solche Erfahrungen aber auch nicht definitiv absprechen. Z u m Zwecke einer endgültigen Klärung sollten wir m.E. jedoch noch ein Zweitgespräch mit dem FP führen, in dem der diskutierte Punkt jedenfalls angesprochen wird. Vorläufig ordnen wir ihn dem Typ 1 zu.

12ll 3 Z u s t i m m u n g K9: Die Interpreten ordnen den FP vorläufig dem Typ 1 zu, wenngleich für eine solche Zuordnung in \ \ Ϊ 2 die argumentative Grundlage eigentlich entzogen ist, wenn I2 sagt: „Aufgrund der im Versuch gemachten Äußerungen können wir ihm solche Erfahrungen aber auch nicht definitiv absprechen". Abschließender Kommentar: Die Schwierigkeiten der Interpreten, den FP einem der beiden Typen (1 oder 2) zuzuordnen, liegt zumindest teilweise daran, daß

Z u r rationalen A n n e h m b a r k e i t handlungspsychologischer A u s s a g e n

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f ü r die Z u o r d n u n g zu b e i d e n dieser Typen ein G e f ü h l der B e t r o f f e n h e i t o d e r B e d r o h t h e i t nicht offensichtlich („manifest") sein darf. A n n a h m e n ü b e r die Gründe, w a r u m ein solches G e f ü h l nicht zur Sprache kam, e n t s c h e i d e n ü b e r die jeweilige Z u o r d n u n g . M a c h e n wir z.B. die „Versuchssituation" h i e r f ü r verantwortlich, w o f ü r sich w i e d e r u m Indizien im Text aufweisen lassen m ü ß t e n , ist eine Z u o r d n u n g zu Typ 2 angezeigt (vgl. 9I2). N u r w e n n im Text keine H i n w e i s e d a f ü r g e f u n d e n w e r d e n , die d a r a u f h i n d e u t e n , daß der F P aus a n d e r e n G r ü n d e n als d e m j e n i g e n , in der Versuchssituation und außerhalb dieser faktisch sich nicht b e t r o f f e n o d e r b e d r o h t zu f ü h l e n angesichts des Waldsterbens, k ö n n e n wir eine Z u o r d n u n g zu Typ 1 v o r n e h m e n . Was wir aber als solche H i n w e i s e (Indizien) ü b e r h a u p t a n e r k e n n e n , ist aus d e m Text selbst nicht e n t n e h m b a r . Dies ist v i e l m e h r abhängig von ( p s e u d o - ) t h e o r e t i s c h e n Vorstellungen v o m Alltagswissen u n d von „Vorurteilen" der I n t e r p r e t e n . W i e solche unterschiedlic h e n psychologischen Alltagstheorien u n d V o r a n n a h m e n zu u n t e r s c h i e d l i c h e n D e u t u n g e n u n d Z u o r d n u n g s v o r s c h l ä g e n f ü h r e n k ö n n e n , ist in u n s e r e m Beispiel offensichtlich. Weiter lassen sich in u n s e r e m K o n s e n s b i l d u n g s p r o z e ß u.a. Beispiele d a f ü r aufzeigen, wie durch e i n e n unterschiedlichen bzw. ungeklärten Sprachgebrauch (vgl. dazu z.B. die V e r w e n d u n g des Wortes „ b e t r o f f e n " in 311 u n d 8I2), w ' e d u r c h nicht mit im Text a u f w e i s b a r e n „Indizien" a b s t ü t z b a r e D e u t u n g e n der Ä u ß e r u n g e n des F P s (vgl. 3I1) o d e r wie durch logische u n d t e r m i n o l o g i s c h e Fraglichkeiten in der A r g u m e n t a t i o n der I n t e r p r e t e n (vgl. z.B. 11I2) die rationale Vertretbarkeit des schließlich erlangten K o n s e n s u s in \2l\ 3 in Frage gestellt ist. N u n ging es u n s in u n s e r e m Beispiel nicht d a r u m , e i n e n „idealen" K o n s e n s b i l d u n g s p r o z e ß darzustellen, s o n d e r n durch die B e t r a c h t u n g eines K o n s e n s b i l d u n g s p r o z e s s e s , wie er tatsächlich stattfand, exemplarisch auf einige P r o b l e m e bei der Bildung eines rational b e g r ü n d b a r e n K o n s e n s u s aufm e r k s a m zu m a c h e n sowie erste Kriterien a u f z u z e i g e n , die f ü r die Beurteilung der „Zulässigkeit" v o n in solchen K o n s e n s b i l d u n g s p r o z e s s e n v e r w e n d e t e n Arg u m e n t e n nützlich sind. So sind etwa logisch widersprüchliche „ A r g u m e n t e " e b e n s o w e n i g als G r u n d l a g e einer D e u t u n g geeignet wie nicht v e r n ü n f t i g beg r ü n d b a r e „alltagspsychologische universalisierte N o r m a l i t ä t s a n n a h m e n " der Interpreten. I m Hinblick auf die vorliegenden Typen 1 u n d 2 wurde, wie gesagt, in u n s e r e m K o n s e n s b i l d u n g s p r o z e ß deutlich, daß A n n a h m e n ü b e r die G r ü n d e , w a r u m ein G e f ü h l der B e t r o f f e n h e i t b e i m F P im Versuch nicht g e ä u ß e r t wurde, ü b e r die jeweilige Z u o r d n u n g e n t s c h e i d e n . I m K o n s e n s b i l d u n g s p r o z e ß wird weiter offensichtlich, daß auch im Hinblick auf eine Z u o r d n u n g zu einem der Typen v e r s c h i e d e n e A r g u m e n t a t i o n e n möglich sind. Z u m Typ 1 k ö n n t e n wir e i n e n F P z u o r d n e n , der 1. sich nicht m i t der T h e m a t i k a u s e i n a n d e r g e s e t z t hat u n d deswegen nicht b e t r o f f e n ist, 2. sich mit der T h e m a t i k a u s e i n a n d e r g e s e t z t hat, f ü r den aber die Ergebnisse seiner Ü b e r l e g u n g e n tatsächlich nicht b e d r o h e n d sind. D i f f e r e n z i e r u n g e n des Typs 1 k ö n n t e n v o r g e n o m m e n w e r d e n im Hinblick auf die gerade a n g e f ü h r t e n p e r s ö n l i c h e n „ H i n t e r g r ü n d e " einer m ö g l i c h e n Z u o r d n u n g v o n F o r s c h u n g s p a r t n e r n zu d i e s e m Typ. A u c h d e m Typ 2 o r d n e n wir e i n e n F P u. U. aus v e r s c h i e d e n e n G r ü n d e n zu, was auch hier D i f f e r e n z i e r u n g e n nötig e r s c h e i n e n läßt. So k ö n n e n als A r g u m e n t e f ü r die Z u o r d n u n g zu Typ 2 f u n g i e r e n : 1. Ä u ß e r u n g e n eines FP, die als H i n w e i s e auf ein a u ß e r h a l b der Versuchssituation v o r h a n d e n e s G e f ü h l der B e t r o f f e n h e i t o d e r B e d r o h t h e i t gewertet werd e n k ö n n e n , als auch

Hans Werbik

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2. Äußerungen eines FP, die als Hinweise darauf gewertet werden können, daß der FP sich unter bestimmten Umständen (z.B. nähere Beschäftigung mit dem Thema) betroffen fühlen würde. Hier denken wir an FP, die - sich mit der Thematik auseinandergesetzt haben, hierbei „erahnte" Bedrohungen aber bewußt nicht „sehen" möchten, sich nicht damit auseinandersetzen; - sich mit der Thematik vielleicht beschäftigt haben, eine dabei auftretende gefühlsmäßige Betroffenheit jedoch i.S. psychoanalytischer Terminologie abwehrten, verdrängten. Beispiel 2: Es soll nachträglich untersucht werden, o b politische Vorgänge als existentiell bedrohlich hinsichtlich der Möglichkeit e i n e s Kriegsausbruches (eines A t o m k r i e g e s ) in Europa eingeschätzt word e n sind. Als Material s t e h e n zur Verfügung: Transskripte v o n Interviews mit v e r s c h i e d e n e n Gesprächspartnern. A u f g r u n d des Materials sollte e i n e Z u o r d n u n g des Gesprächspartners zu e i n e m der f o l g e n d e n Typen erfolgen: Τ 1: Keinerlei G e f ü h l e der B e d r o h u n g erkennbar. Τ 2: G e f ü h l der B e d r o h u n g ansatzweise („latent") erkennbar; „latente" B e d r o h u n g s g e f ü h l e w e r d e n eher abgewehrt. Τ 3: G e f ü h l der B e d r o h u n g manifest. Defizitäre E n t w i c k l u n g e n bei P l a n u n g e n des H a n d e l n s erkennbar. D i e f o l g e n d e Darstellung und Interpretation e i n e s Forschungsgesprächs verdanke ich G ü n t h e r A s c h e n b a c h u n d Walter Zitterbarth. Biographische

Zusammenhänge

Der FP ist 36 Jahre alt, seit kurzem verheiratet und hat keine Kinder. Sein Vater war 1933 wegen Verbreitung sozialdemokratischen Gedankengutes für ein Jahr im KZ. Ansonsten wird der Vater vom FP als Pazifist charakterisiert, und die Mutter wird als sehr religiös und sozial engagiert beschrieben. An thematisch relevanten Erinnerungen nennt der FP Erzählungen des Vaters von Kriegserlebnissen, in denen der Krieg als schrecklich und grausam beschrieben wird, Filmbilder vom Ungarn-Aufstand, die unter dem Aspekt der Ohnmacht und Hilflosigkeit von Menschen gegenüber Panzern memoriert wurden, sowie Eindrücke vom Vietnamkrieg, der als Ost-West-Polarisierung angesehen wird. 1967 verweigert der FP den Kriegsdienst und leistet seinen Ersatzdienst ab. Beruflich stellt sich der Werdegang des FP bis in die jüngste Vergangenheit als eine durchgängige Abbruchkarriere dar. Die auf diesem Hintergrund erwartbaren Lebensängste und biographischen Verunsicherungen schlagen aber nicht in Form generalisierter Angst auf den thematisch relevanten Bereich in Form eines manifesten Bedrohungsgefühls hinsichtlich der Möglichkeit eines bevorstehenden Atomkrieges durch. Thematisch relevante

Aussagen

Der FP meint, er habe nicht „dauernd Ängste", daß eine Atombombe fallen könnte. Er sagt, wenn er Ängste im Leben habe, dann würden sich diese primär auf andere Dinge erstrecken. Auch habe er persönlich keine Lust, sich die nächsten dreißig Jahre zu „vermiesen", indem er dauernd Ängste hätte, „und nachher kommt des Ding gar net in zwei Jahren". Vor dem atomaren Tod habe

Zur rationalen Annehmbarkeit handlungspsychologischer Aussagen

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er momentan genausowenig Angst wie vor jedem anderen Tod, und er habe auch die Hoffnung, daß die Menschheit noch umkehre, ehe es zur atomaren Katastrophe kommt. Sollte sie aber dennoch eintreten, so rede er sich ein, daß es sich dann um eine schlagartige Katastrophe handeln würde. Bezüglich einer solchen aber empfinde er es nicht als schlimm, wenn es schlagartig einen Blitz täte und er weg wäre. Doch diese Situation sei für ihn abstrakt und liege in weiter Ferne. Er vergleicht sie mit der Vorstellung, daß ein Laster (LKW) ihn total ramme. Dagegen würde er Angst haben, daß - wenn eine atomare Katastrophe absehbar sein würde - er miterleben müßte, daß jemand stürbe, den er mag. Auch erzeuge die Vorstellung Unbehagen bei ihm, daß man in einer verseuchten Umwelt weiterleben müßte. Mulmig würde es ihm werden, wenn er in zwei Wochen das Gefühl haben würde, daß diese Situation jetzt näher sei als vor zwei Wochen und in vier Wochen näher als vorher. Er vergleicht dann dieses G e f ü h l bezüglich einer absehbaren atomaren Katastrophe mit der Vorstellung, daß ganz in der Ferne ein kleiner Panzer auftauchte, der immer größer würde. Vom Verstand her, so meint er, sei ihm klar, daß eine solche Situation nicht ausgeschlossen werden könne. Er glaube aber im Moment nicht an eine solche Situation, außer es passiere aus Versehen, infolge technischer Pannen, aber an deren Möglichkeit möchte er nicht glauben. Er bezeichnet dies als eine Art Verdrängung, die das Leben erleichtere. Er sei froh, daß er sich in solche Sachen - hier vergleicht er wieder mit dem Zusammenstoß mit einem LKW - nicht mehr hineindenken müsse. interpretation und Typenzuordnung These: Nimmt man als Ausgangspunkt Aussagen des Gesprächspartners in bezug auf eine mögliche Betroffenheit, so sprechen diese für eine Zuordnung zum Typus 1: „Keinerlei Gefühl der Betroffenheit erkennbar". Z.B.: Wenn er Angst im Leben habe, dann erstrecke sich diese primär auf andere Dinge. Er empfinde es nicht als schlimm, wenn es schlagartig einen Blitz täte und er weg wäre. Dabei handele es sich um eine abstrakte Vorstellung für ihn. Er habe momentan genauso wenig Angst vor dem atomaren Tod wie vor jedem anderen Tod. Diese Zuordnung erfahrt weiterhin Unterstützung durch die distanzierte und theoretisierende Redeform bei der Beurteilung der politischen Situation. Einwand: Solche Redeformen könnten doch auch „gewollt" sein, um Betroffenheit nicht deutlich werden zu lassen. Als Indiz dafür läßt sich ein „performatives Paradoxon" in Form einer Inkonsistenz zwischen informativem Gehalt und Performanz aufzeigen. Denn der FP sagt, daß er keine Angst habe, und er sagt, daß er sich „einredet", daß es sich, wenn, dann um eine schlagartige Katastrophe handele, also um eine solche, vor der er keine Angst hat. Das hieße, daß er die Situation so sehen möchte, daß sie ihm keine Angst macht. Wenn er sich dies jedoch einreden muß, dann hat er auch eine Ahnung von einer möglichen Betroffenheit. Gegeneinwand: Die Redeweise „einreden" soll vielleicht dem Psychologen als Interviewer nur signalisieren, daß der Gesprächspartner wohl weiß, daß man seine Einschätzung auch als durch „Verdrängungen" zustandegekommen deuten kann, obwohl dies beim Gesprächspartner tatsächlich aber nicht der Fall ist. Beim Versuch, den Gegeneinwand zu erhärten, stößt man nur auf ein nicht weiter stützbares „vermutetes Indiz". Dieses besteht darin, daß der Interviewer an einer Stelle das vom Gesprächspartner verwendete Wort „Horror" nicht mit „Abscheu", sondern sehr selbstverständlich mit „Angst" wiedergibt, was möglicherweise suggerieren kann, daß der Interviewer es f ü r normal hält, hier Angst zu haben. Die Redeweise von verdrängter Angst wäre dann zu werten als eine

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Hans Werbik

Ausrichtung an den angenommenen Normalitätsvorstellungen des Interviewers. Hierfür liegen jedoch keine weiteren Indizien vor. Dagegen läßt sich der obige Einwand durch zahlreiche Indizien stützen, die für ein Beiseiteschieben der Ahnung einer Betroffenheit sprechen. Z.B.: Er „hätte" Angst, daß - wenn eine atomare Katastrophe absehbar wäre - er miterleben müßte, daß jemand stirbt, den er jetzt möge. Unbehagen erzeuge die Vorstellung, daß man in einer verseuchten Umwelt weiterleben müßte. Das Gefühl, das er bezüglich einer absehbaren atomaren Katastrophe hätte, vergleicht er mit dem, daß in der Ferne ein kleiner Panzer auftauche, der immer größer werde. Mulmig würde es ihm werden, wenn er in zwei Wochen das Gefühl hätte, daß diese Situation jetzt näher sei als vor zwei Wochen und in vier Wochen näher als vorher . . . Vom Verstand her sei ihm klar, daß das Eintreten einer solchen Situation nicht auszuschließen sei. Er glaube im Moment nicht an eine solche Situation, außer es passiere aus Versehen infolge technischer Pannen, aber an diese Möglichkeit würde er nicht glauben mögen. Er bezeichnet dies als eine Art Verdrängung, die das Leben erleichtere. Er sei froh, daß er sich in solche Sachen - z.B. in den Zusammenstoß mit einem Laster - nicht mehr hineindenken müsse . . . Er persönlich habe keine Lust, sich die nächsten dreißig Jahre zu vermiesen, indem er dauernd Angst hätte, obwohl eine atomare Katastrophe gar nicht in den nächsten zwei Jahren komme. Fazit: Die letztgenannten Textstellen sprechen dagegen, den FP umstandslos dem ersten Typus in seiner obigen Formulierung zuzuordnen. Doch auch der zweite Typus, der auf eine Abwehr latenter Bedrohungsgefuhle abzielt, scheint nicht ohne weiteres zu passen. Man könnte nun allerdings auf dem Erfahrungshintergrund, daß Menschen auch Ahnungen von „aversiven Zuständen", die sich bei einem näheren Hineindenken ergeben könnten, gelegentlich verdrängen, den zweiten Typus ausdifferenzieren und eine „latente" von einer „potentiellen" Betroffenheit als Typus 2a und 2b unterscheiden und den FP dann dem Typ 2b zuordnen. Auch hiergegen ließe sich nun aber der Einwand erheben, daß eine solche potentielle Betroffenheit wohl immer dann auftritt, wenn man sich nun hinreichend weit auf die Vorstellung des tatsächlichen Eintritts eines Atomkrieges einläßt. Die zitierten Konjunktivformulierungen des FPs lassen auch die Vermutung zu, daß er nur für die Zwecke des Interviews diese Vorstellung übernimmt, während er im Alltag dagegen vom Nichteintritt eines solchen Ereignisses ausgeht und dementsprechend gerade keinerlei Bedrohungsgefuhl empfindet. Dies ließe dann doch eine Einordnung in Typus 1 vertretbar erscheinen, wobei der FP darüber hinaus Anlaß gäbe, vielleicht auch den Typus 1 zu untergliedern. Die existentielle Nichtbetroffenheit kann nämlich einerseits die Folge einer intensiven kognitiven Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Rüstungsentwicklung und Kriegsgefahr sein, wenn diese nämlich dazu fuhrt, die Wahrscheinlichkeit eines solchen Krieges als äußerst gering zu veranschlagen. Die Nichtbetroffenheit kann aber gerade auch aus einer wesentlichen Nichtbeschäftigung mit dem Themenkomplex resultieren, so daß keine akute Gefahr hinsichtlich eines möglichen Atomkrieges gesehen wird. In diesem Falle wäre der FP der zweiten Variante zuzurechnen, wofür als Indiz das durchgängige Nichtvorkommen des gesamten aktuellen Vokabulars der Rüstungsdebatte (NATO-Doppelbeschluß, Nachrüstung, Pershing II, SS 20 usw.) im Interview gewertet werden kann.

Aus diesen beiden Beispielen ist die ungefähre Vorgehensweise bei der Interpretation von Gesprächsprotokollen (bzw. Protokollen „nachträglichen lauten Denkens") erkennbar. Es werden auch gewisse Unter-

Zur rationalen Annehmbarkeit handlungspsychologischer Aussagen

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schiede in den Interpretationsweisen der an den Diskursen beteiligten Forscher erkennbar. Eine Normierung der Argumentationspraxis ist weder möglich noch wünschenswert. Sicherlich wird sich im Verlauf einer längerfristigen Entwicklung des diskursiven Interpretationsverfahrens herausstellen, daß die Beachtung gewisser minimaler Regeln der Argumentation (etwa an der Logik orientierte Regeln über Verteilung von „Beweispflichten") unverzichtbar ist. Durch diese Regeln wird jedoch die Entwicklung des Argumentationsgangs nicht determiniert. Auch wird es nicht möglich sein, einen „Kanon" von Argumentationsregeln anzugeben. 7. Vorschlag zweier Kriterien der rationalen Annehmbarkeit handlungspsychologischen Theorie-Skizzen

von

PsychologischeBeiträgezurHandlungstheoriebeziehensich(vgl.Kuhl& Waldmann 1985) a) auf die angemessene Formulierung eines theoretischen Rahmenkonzepts, innerhalbdesseneinzelneHandlungen(oderidealtypisch: Handlungsweisen) genauer dargestellt werden können (vgl. dazu insbesondere Kaminski 1984), b) auf die Analyse des fortwährenden Wechsels von einer Handlung zu einer anderen Handlung (Atkinson & Birch 1970, Barker 1963) mit Untersuchung der „Überlappungsphänomene", c) aufdieAnalysespezifischerRegulationsprozesse,welchedieAusführung von Einzelhandlungen vermitteln (Miller, Galanter & Pribram 1960, Hacker 1973, Volpert 1974, Oesterreich 1981), d) auf die Prozesse der Abschirmung der aktuellen Handlungsabsicht gegen konkurrierende Handlungstendenzen (Ach 1910,1935, Kühl 1983, 1984), e) auf detailliertere Rekonstruktion der Genese einer Handlungsabsicht (Werbik 1978), wobei diese Rekonstruktion auf besonders wichtige Faktoren (Realisierungschance, Anreizwert des Handlungsergebnisses bzw. der Folgen) zentriert sein kann (Atkinson 1957, Heckhausen 1977, Vroom 1964), f) auf eine detailliertere Rekonstruktion von Prozessen der Koordination mehrerer, gleichzeitig ablaufender Handlungen (Fuhrer 1984), g) auf Aufklärung der Zusammenhänge zwischen einzelnen Handlungen, Handlungsweisen und dem biographischen Kontext (Thomae 1960). An diesen Beiträgen fällt auf, daß auf vollständige Explikation aller handlungsleitenden Charakteristiken in der Regel verzichtet wird. Eine vollständige Explikation aller Merkmale eines Handlungsprozesses dürfte wegen der hohen Komplexität, der Kontext- und Kultur-

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Hans Werbik

abhängigkeit des Geschehens auch nicht lohnend sein. Es ist daher angemessen, diese Beiträge Theorien-Skizzen zu nennen. Der Versuch, für alle Theorien-Skizzen ein Kriterium der rationalen Annehmbarkeit vorzuschlagen, ist sicherlich aussichtslos. Allgemein kann lediglich gesagt werden, daß das jeweilige Kriterium nicht „Wahrheit" ist, sondern ein Kriterium der argumentativen „Vertretbarkeit". Die Beurteilung eines theoretischen Ansatzes als „vertretbar" kann sich stützen a) auf eine Praxis des Veranstaltens, des Auswertens und der Interpretation handlungspsychologischer Experimente, b) auf eine Praxis der Interpretation von Handlungen und Handlungsgeschichten. Durch diese Formulierung wird erkennbar, daß die Praxis (a) die Praxis (b) implizit voraussetzt. Eine experimentelle Praxis im Kontext von Handlungstheorie setzt im übrigen eine beträchtliche Uminterpretation des Begriffes „Experiment" voraus. Handlungspsychologische „Experimente" sind nicht im gleichen Sinn „Experimente" wie diejenigen „Experimente", welche etwa im Bereich der Psychophysik veranstaltet werden können. Grundsätzlich können wenigstens drei verschiedene Begriffe von „Experiment" unterschieden werden: a) Herstellung und systematische Variation von Bedingungen zum Zwecke der Prüfung, ob Bedingungen als „Kausalfaktoren" angesehen werden können, b) Beobachtung eines „Phänomens" unter weitgehender Vernachlässigbarkeit von sonstigen effektiven („störenden") Bedingungen („Demonstrationsexperiment"), c) Beobachtung eines „Phänomens" unter fiktiven, allein durch Instruktion herbeigeführten Rahmenbedingungen („Simulationsversuch"). Ersichtlich kann im Kontext von Handlungspsychologie ein Experiment im Sinne von (a) kaum veranstaltet werden, insbesondere dann nicht, wenn die kausale Relevanz gewisser handlungsbezogener Kognitionen nachgewiesen werden soll. Handlungsbezogene Kognitionen sind grundsätzlich nicht herstellbar. Strategien der Beeinflussung (etwa Versuchsanordnungen, welche „Täuschungsmanöver" beinhalten) sind nicht als Herstellungsvorschriften zu werten, da die Beeinflussung weder generell noch universell wirksam ist. Unter „Herstellung" im Sinne von (a) kann sinnvollerweise nur die gelungene Herstellung einer Bedingung verstanden werden. Experimente vom Typus (b) oder (c) erlauben keine Bestätigung oder Falsifikation von KausalAnnahmen. Vielmehr handelt es sich hier um „Realisationsversuche"

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(im Sinne von Dingler 1931) einer theoretischen Konstruktion, welche am besten als „Typus" (Idealtypus; idealtypische Relation von Typen) expliziert werden kann. Soweit die Realisation der idealtypischen Konstruktion gelungen ist, mag man letztere als „durch Beobachtungen gestützt" beurteilen. Eine gelungene „Realisation" im Rahmen eines „Demonstrationsexperiments" gilt als Nachweis, daß das postulierte Phänomen unter günstigen Bedingungen (vgl. die Überlegungen zum „reinen Fall" bei Lewin 1927, 1930/31) existiert. Das demonstrierte Phänomen soll bei weiteren Überlegungen und Theorienbildungen öen/c/ci/c/ii/giwerden.EsgiltalszulässigerEinwandgegeneineTheorieSkizze, ein bereits demonstrierter „Effekt" sei im theoretischen Ansatz nicht berücksichtigt worden. Die Frage, ob es angemessen ist, bestimmte Episoden des Handelns „im Lichte" eines experimentell demonstrierten Phänomens zu interpretieren, ist jedoch grundsätzlich ein Problem der Konsensbildung für Interpreten. Analog ist der Interpretationsbedarf bei „Simulationsversuchen" einzuschätzen. Ob die unter den Rahmenbedingungen einer „als-ob-Einstellung" (in rollenspielartigen Simulationsversuchen) erzielten Befunde als „realitätsadäquat" beurteilt werden können, ist mit Sicherheit keine Frage, die durch das Experiment selbst beantwortet werden kann. Diese Vorüberlegungen berücksichtigend, könnte folgendes erstes Kriterium der rationalen Annehmbarkeit von handlungspsychologischen Theorie-Skizzen formuliert werden (erstes Kriterium): Eine Theorie-Skizze ist relativ zu einer experimentellen Praxis dann rational annehmbar, wenn sie die bereits demonstrierten handlungspsychologischen „Phänomene" oder „Effekte" ausdrücklich berücksichtigt, oder sich zeigen läßt, daß eine Berücksichtigung jeweils unschwer möglich ist, oder die Nichtberücksichtigung der bereits demonstrierten „Phänomene" oder „Effekte" argumentativ verteidigt werden kann. Die Beurteilung, ob dieses Kriterium von einer gegebenen TheorieSkizze erfüllt wird, kann wiederum nur im Rahmen einer Diskussionspraxis, welche am regulativen Prinzip des „Diskurses" orientiert ist, geleistet werden. Dieses Kriterium ist jedoch weder notwendig noch hinreichend für die rationale Annehmbarkeit einer Theorie-Skizze. Denn erstens kann sich die Annehmbarkeit einer Theorie-Skizze auch auf eine Praxis der Interpretation von „Handlungsgeschichten" außerhalb einer experimentellen Praxis stützen, und zweitens ist auch relativ zu einem Problemkontext, auf den sich eine Theorie-Skizze bezieht, eine implizite Nichtberücksichtigung experimenteller Befunde möglich, wenn diese offenkundig irrelevant sind. Bezogen auf eine Praxis der konsensorientierten Interpretation von „Handlungsgeschichten" kann folgendes Annahme-Kriterium formuliert werden:

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(Zweites Kriterium): Eine handlungspsychologische Theorie-Skizze ist relativ zu einer argumentativen Interpretationspraxis dann rational annehmbar, wenn sie zur Findung von Interpretationsvorschlägen anleitet, Begründungen für Interpretationsvorschläge ermöglicht oder begriffliche Unterscheidungen oder Präzisierungen bereitstellt, welche die Konsensbildung über Interpretationsvorschläge erleichtert. Die Annahme einer Theorie-Skizze aufgrund dieses Kriteriums erfolgt grundsätzlich relativ zu einem interpretativen Problem, welches durch einen Konsensbildungsprozeß gelöst werden soll. Im Unterschied zum ersten Kriterium ermöglicht das zweite Kriterium nur eine fallbezogene Annahme einer Theorie-Skizze, ohne daß die Übertragung der Annahme-Entscheidung auf einen anderen Fall a priori möglich und sinnvoll ist. Gleichwohl wird sich im Verlauf einer längerfristigen interpretativen Praxis herausstellen, daß gewisse Theorie-Skizzen eher als annehmbar beurteilt werden als andere. Es wäre jedoch übertrieben, aufgrund solcher Entwicklungen bestimmten TheorienSkizzen einen feststehenden Wert (im Sinne von heuristischem Wert, Begründungswert oder Einigungswert) zusprechen zu wollen. Als Konsequenz dieser Überlegungen kann man sagen, daß eine handlungspsychologische Theorie-Skizze rational annehmbar ist, wenn sie wenigstens eines der beiden vorgeschlagenen Kriterien erfüllt. Die Beurteilung, ob die fragliche Theorie-Skizze das jeweilige AnnahmeKriterium erfüllt, ist an einen an der Leitvorstellung des „Diskurses" ausgerichteten argumentativen Prozeß gebunden. 8.

Schlußbemerkungen

Die Auffassung von Handlungspsychologie als Wissenschaft, wie sie von mir vertreten wird, läßt sich am besten durch Rückgriff auf den aristotelischen Tugend-Begriff verständlich machen: Die Tugend ist das „rechte Maß" zwischen den Extremen. Dieser Begriff auf die Methodik einer wissenschaftlichen Handlungspsychologie angewandt bedeutet: Weder ist es angemessen, die Beurteilung der Annehmbarkeit handlungspsychologischer Aussagen an ein „Regelwerk" zu delegieren, noch ist es angemessen, die eigene subjektive Sichtweise zum „Maß aller Dinge" zu erheben. Skylla ist die Gleichsetzung von wissenschaftlicher Vorgehensweise mit der strikten Befolgung eines Regelwerks „für alle Fälle", Chaiybdis ist die Dogmatisierung von Subjektivität, wie es heutzutage bei einigen Psychotherapie-Richtungen üblich ist. Daher wäre es ein schweres Mißverständnis, wollte man aus meinen Ausführungen den Schluß ziehen, ich hätte die Auffassung vorgetragen, daß jegliches „Bauchgefuhl" ein vertretbarer Interpretationsvorschlag und jeglicher „Biertisch-Konsens" eine wissenschaftlich anerkannte Interpretation sei. Vielmehr ist unverzichtbar, daß die

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Interpreten unter sorgfältiger Beachtung aller vorliegenden Daten, Fakten und Argumente und unter gemeinsamer Orientierung am Prinzip des „Diskurses" und seiner Implikationen zu einer konsensfähigen Interpretation gelangen. Allerdings - diese Konsequenz ist bereits jetzt erkennbar - läuft unser methodischer Vorschlag de facto auf eine Preisgabe der Idee der universellen und generellen Nachprüfbarkeit psychologischer Befunde hinaus. Die Explikation der Argumentationslage in bezug auf einen bestimmten Interpretationsvorschlag kann nur so gut wie möglich versucht werden, sie wird niemals vollständig gelingen, da die Interpreten immer wieder auf implizites Wissen zurückgreifen. Speziell in psychologischen Problemzusammenhängen kommt noch hinzu, daß nicht jedermann gleichermaßen befähigt ist, gewisse Wahrnehmungen zu machen und gewisse Unterscheidungen nachzuvollziehen, einfach weil gewisse begriffliche Differenzierungen auf einem Erfahrungshintergrund basieren, welcher nicht jedermann sofort zugänglich ist. Etwas überpointiert kann man daher sagen: Die Akzeptanz der Grundsätze einer interpretativen Methodologie in dem dargestellten Sinne impliziert auch, daß man bereit ist, den Diskursgemeinschaften ein gewisses Maß an Beurteilungskompetenz zuzugestehen. Unter Rahmenbedingungen, wie sie heute in westeuropäischen Demokratien üblich sind, können mögliche ungünstige Auswirkungen der Preisgabe des Prinzips der uneingeschränkten Nachprüfbarkeit psychologischer Befunde durch den Grundsatz, daß Interpretationsgruppen (Diskursgemeinschaften) sich jederzeit frei bilden können, aller Voraussicht nach kompensiert und ausgeglichen werden. Es können ja verschiedene Interpretationsgruppen zu demselben Ausgangsmaterial - so gut wie möglich - Stellung nehmen. Eine definitive und endgültige Entscheidung, welche von mehreren konkurrierenden Interpretationen die „richtige" ist, muß von vornherein als unmöglich angesehen werden. Gleichwohl verläuft der argumentative Interpretationsprozeß nicht orientierungslos. Die argumentative Abklärung der Subjektivität der Interpretationen durch den Diskurs führt unter Beachtung des oben genannten TugendBegriffs zu paradigmatischen Lösungen, die bei weiteren Interpretationsbemühungen als „Präzedenzfälle" eine Orientierungsfunktion erfüllen. Mit der Zeit entstehen Traditionen, welche den Spielraum der Interpretation weiter einschränken. In Diskussionen mit Vertretern einer „objektiven" Wissenschaft wird man darauf hinweisen können, daß der hier vorgeschlagene methodische Ansatz sich besonders dann empfiehlt, wenn das Erkenntnisinteresse auf die Gewinnung subtiler oder komplexer Informationen aus „Handlungsgeschichten" gerichtet ist. Wollte man an den Grundsätzen einer „objektiven Wissenschaft" festhalten, so müßte man „Handlungsgeschichten" auf Aggregate „harter Fakten" reduzie-

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ren, um die notwendige Intersubjektivität zu gewährleisten; dies hätte jedoch einen beträchtlichen Informationsverlust zur Folge. Zwei wichtige Gesichtspunkte sollen ergänzend noch erwähnt werden: Der erste Punkt ist der methodische Grundsatz, weder irgendeinem Interpreten noch dem Akteur selbst ein „Interpretationsmonopol" zuzugestehen. Der Akteur hat lediglich einen Vorrang beim Einbringen von Interpretationsmaterial. Dieser methodische Grundsatz hat zur Konsequenz, daß durchaus auch aporetische Lagen eintreten können, welche dadurch charakterisiert sind, daß weder der Akteur noch einer der Interpreten sagen kann, wie eine Selbstbeschreibung des Akteurs zu interpretieren sei. Die prinzipielle Ungewißheit und Vorläufigkeit des Interpretationsprozesses (Schütz 1974) scheint sich also auch auf die Selbst-Interpretation des Akteurs zu beziehen. Der zweite Punkt ist der methodische Grundsatz, sich so weit wie möglich der Übereinstimmung mit dem Akteur zu versichern. Unsere Erfahrungen haben uns gelehrt, daß jedoch eine strengere Formulierung dieses Grundsatzes in dem Sinne, daß eine faktische Zustimmung des Akteurs zu jeder Interpretation notwendig sei, sich nicht aufrechterhalten läßt. Auch der Vorschlag, alle Interpretationsschritte durch weitere Dialoge mit dem Akteur abzuklären und zu einer Konsens-Entscheidung zu bringen, ist unhaltbar. Vermutlich hängt das Versagen dieser Vorgehensweise damit zusammen, daß Selbstbericht und darauf bezogene Interpretationen insbesondere auch situationsspezifisch beeinflußt sind. Die „Bedeutungen" bleiben nicht in dem Maße konstant, wie es ein sequentielles dialogisches Abklärungsverfahren erfordern würde. Auch ist erfahrungsgemäß die Motivation von Gesprächspartnern, einen hohen Aufwand an Selbstreflexion zu bestreiten, eher gering. Unter wissenschaftssystematischer Perspektive können meine Vorschläge zur Methodologie der Handlungspsychologie als ein Versuch verstanden werden, sowohl die Verknüpfung der Handlungspsychologie mit der Soziologie, welche ja zum großen Teil auf Handlungstheorie aufbaut, zu verbessern, als auch den „Eisernen Vorhang" zwischen Psychologie und Geschichte (vgl. Stegmüller 1969, p. 423-427) durchlässiger zu machen. Auf diese Weise kann allmählich eine bessere Integration kulturwissenschaftlicher Erkenntnisse erreicht werden.

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JAN S M E D S L U N D

Das Beschreiben von Beschreibungen, Erklären von Erklärungen und Vorhersagen von Vorhersagen: paradigmatische Fälle für die Psychologie

Aus den Besonderheiten des Gegenstandes, mit dem Psychologie befaßt ist, ergeben sich bestimmte Probleme, die ich im Rahmen dieser Ausführungen behandeln möchte. Diese Probleme sind sehr eng mit der Frage nach der möglichen Entwicklung dieser Disziplin verbunden. Mein grundlegendes Argument lautet: Fälle, in denen eine Person das Verhalten einer anderen beschreibt, erklärt oder vorhersagt, können nicht vom Gegenstandsbereich der Psychologie ausgenommen werden. Zweifellos sind sie ihrerseits Beispiele für das Verhalten einer Person. Daher sollte jedes psychologische Begriffssystem, das einen Anspruch auf Allgemeinheit erhebt, auch auf derartige Fälle anwendbar sein. Weiterhin gehe ich davon aus, daß zu den Aufgaben der Psychologie die Beschreibung, Erklärung und Vorhersage von Fällen gehört, die in ihrem Gegenstandsbereich liegen. Somit ist das Beschreiben, Erklären oder Vorhersagen von vorliegenden Handlungsbeschreibungen, Erklärungen oder Vorhersagen offenbar als legitime Aufgabe der Psychologie anzusehen. Dies gilt des weiteren auch für alle diesbezüglich möglichen Permutationen, wie etwa für die Beschreibung von Erklärungen, Erklärung von Vorhersagen, Vorhersage von Beschreibungen usw. Wenn man das eben Gesagte akzeptiert, so sieht man sich einer Reihe von besonderen Problemen der Psychologie gegenüber, die von Psychologen jedoch weitgehend vernachlässigt worden sind. Diese Probleme ergeben sich sämtlich aus dem folgenden Umstand: Die Aktivitäten des Psychologen (P), der sich mit bestimmten Aktivitäten einer anderen Person (A) beschäftigt - nämlich mit deren auf die Handlungen eines Dritten (B) bezogenen Beschreibungen, Erklärungen und Prognosen - entsprechen jenen Leistungen, die Α in bezug auf Β bereits erbracht hat. Ich werde im folgenden die Implikationen dieser Entsprechung der Aktivitäten von Α und Ρ diskutieren.

160 1. Das Beschreiben Vorhersage

Jan Smedslund

einer Beschreibung,

einer Erklärung

oder

Angenommen, Α hätte das Verhalten von Β mit den Worten „B hat meine Annäherungsversuche zurückgewiesen" beschrieben, Ρ hätte seinerseits dieses Verhalten von Α beobachtet und sollte es nunmehr beschreiben. Die Aufgabe besteht nun nicht in der Wiedergabe des akustischen, phonetischen oder anatomischen bzw. physiologischen Geschehens, sondern schlicht in der Beschreibung dessen, was Α tat: nämlich B's Verhalten beschreiben. Mit anderen Worten, die Aufgabe besteht in der Darstellung des Inhaltes der Beschreibung, die Α abgegeben hat. Die Beschreibung (oder Beschreibung zweiter Ordnung) des Inhaltes einer vorgegebenen Beschreibung (oder Beschreibung erster Ordnung) hat der ursprünglichen Beschreibung synonym zu sein. Diese Forderung nach Bedeutungsgleichheit leitet sich einfach daraus ab, daß die Wiedergabe dessen, was jemand durch eine Beschreibung mitzuteilen beabsichtigte, eben dies wiedergeben sollte. Demzufolge ist es offensichtlich angemessen, daß Ρ das von Α Gesagte wiederholt („A sagte: ,B hat mein Entgegenkommen zurückgewiesen'") oder aber eine mutmaßlich gleichbedeutende Version der interessierenden Beschreibung abgibt (ζ. B. „A sagte, daß Β ihre Versuche, ihn zu verführen, zurückgewiesen habe"). Allerdings birgt jede Abwandlung des Wortlauts, so wie die vorangegangene, die Gefahr in sich, der ursprünglichen Formulierung nicht völlig synonym zu sein. Die schlichte Wiederholung des Gesagten ist mithin die sicherste der genannten Möglichkeiten. Eine korrekte Beschreibung zweiter Ordnung ist an mehrere Voraussetzungen gebunden. So ist es erstens notwendig, daß die Beschreibung erster Ordnung richtig verstanden wurde. Richtiges Verstehen setzt, zweitens, die Vertrautheit mit dem jeweils relevanten Kontext ebenso voraus wie die mit der Sprache sowie mit dem gesamten dafür bedeutsamen kulturellen Umfeld. Folglich muß der Psychologe mit der sprachlichen und kulturellen Gemeinschaft vertraut sein, um in der Lage zu sein, eine Beschreibung zutreffend zu beschreiben. A's Aussage über B's Verhalten kann als Hinweis auf die Überzeugung (von A) genommen werden, daß Β aufrichtig war und hinreichende Selbstkenntnis besaß. Das Verhalten von Β hätte Α auch mit den Worten „B gab vor, meine Annäherungsversuche zurückzuweisen" beschrieben haben können, um damit darzustellen, daß Β unaufrichtig war. Die Aussage „B hat, ohne daß er es bemerkte, meine Annäherungsversuche zurückgewiesen" würde besagen, daß Β nicht wußte, daß er eben dieses tat. Ebenso mag nun allerdings auch A's

Beschreiben von Beschreibungen, Erklären von Erklärungen

161

Darstellung von B's Verhalten unaufrichtig sein oder auf unzureichender Selbstkenntnis beruhen. Das zuvor Gesagte führt zu dem Schluß, daß eine Beschreibung (zweiter Ordnung) einer vorgegebenen Beschreibung (erster Ordnung) der ursprünglichen Darstellung solange synonym sein sollte, solange nicht Zweifel an der Aufrichtigkeit oder der Selbstkenntnis desjenigen bestehen, der die ursprüngliche Beschreibung abgibt. Im Grundsatz wird mithin eine zutreffende Beschreibung einfach durch Wiederholung erreicht. Für die beiden anderen Fälle gilt, daß die Wiederholung zu qualifizieren ist, und zwar durch die Zusatzannahme, der die ursprüngliche Beschreibung Gebende würde heucheln bzw. lügen oder sich der Bedeutung seines Tuns (in bezug auf Beweggründe oder Konsequenzen) nicht bewußt sein. Die Forderung nach bedeutungsgleicher Wiedergabe - ob mit oder ohne qualifizierende Zusätze - schränkt den Spielraum für eine korrekte Beschreibung von vorgegebenen Verhaltens- bzw. Handlungsbeschreibungen stark ein. Die im Zusammenhang mit dem Problem, wie Bedeutungsgleichheit bestimmbar ist, auftretenden technischen Fragen - mithin auch die exakten Beschränkungen - sollen hier nicht behandelt werden. Die Ausführungen über die Beschreibung von Verhaltensbeschreibungen haben auch für die Beschreibung von Verhaltenserklärungen Gültigkeit. So mag Ρ etwa die Äußerung von A: „B hat meine Annäherungsversuche zurückgewiesen, weil er an einer anderen Frau interessiert ist", oder: „B gab vor, meine Annäherungsversuche zurückzuweisen, weil er mich quälen wollte" registrieren. Jede diesen beiden Erklärungen adäquate Beschreibung sollte ihnen bedeutungsgleich und, mithin, vorzugsweise eine Wiederholung in der Form „A sagte . . . " sein. Die gleichen Überlegungen gelten schließlich auch für die Beschreibung von Vorhersagen. Ρ könnte beispielsweise feststellen, daß Α sagt: „Ich erwarte, daß Β mein Entgegenkommen zurückweisen wird". Auch die Beschreibung des Inhaltes dieser Prognose kann nur über eine Wiederholung oder eine mutmaßlich synonyme Formulierung erreicht werden. Das Gesagte läßt sich offenbar auf die Beschreibung allen verbalen Verhaltens generalisieren. Der Inhalt jeder verbalen Äußerung ist über Wiederholungen oder bedeutungsgleiche Formulierungen wiederzugeben; die Fähigkeit zum Verstehen der Aussage aufgrund der Vertrautheit mit dem relevanten Kontext sowie die Partizipation in der jeweiligen sprachlichen und kulturellen Gemeinschaft ist dafür eine Voraussetzung. Offenbar kann auch nonverbales menschliches Verhalten unter dieses Paradigma subsumiert werden. Die Bedeutung einer nonverba-

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Jan Smedslund

len Verhaltensweise hängt davon ab, wie sie der Handelnde beschreibt oder beschreiben würde. Eine Beschreibung nonverbalen Verhaltens durch einen Psychologen sollte insofern in der Wiedergabe der faktischen oder potentiell zu erwartenden Beschreibung des Verhaltens durch den Akteur selbst bestehen oder ihr bedeutungsgleich sein. Beispielsweise sollte ein Psychologe eine bestimmte Kopfbewegung nur dann als „Zustimmung" beschreiben, wenn die beobachtete Person ihre Bewegung in diesem Sinne beschreibt oder beschreiben würde, sofern sie aufrichtig und hinreichend selbsteinsichtig ist. Es wird hier behauptet, daß das Beschreiben einer Beschreibung, einer Erklärung oder Vorhersage als paradigmatischer Fall gelten kann, von dem valide auf alle Arten der Darstellung von menschlichem Verhalten generalisiert werden kann. Eine optimale Beschreibung einer menschlichen Verhaltensweise hat ihrer Beschreibung durch die sie ausführende Person synonym zu sein, vorausgesetzt, diese Person ist vollkommen aufrichtig und verfügt über diesbezüglich vollständige Selbstkenntnis. Die bedeutenden technischen Probleme bei der Bestimmung von Aufrichtigkeit und Selbstkenntnis sollen hier nicht erörtert werden. Es handelt sich um die theoretische Definition eines idealen Zustandes, der in der Realität nur annäherungsweise gegeben sein kann. Der Sprache wird in diesem Zusammenhang eine Schlüsselstellung zuerkannt und damit dem Trend entgegengewirkt, das Verhalten von Tieren als paradigmatischen Fall (für die Psychologie) zu betrachten. Daß diese Überlegungen mit der Art und Weise übereinstimmen, wie im Alltag Fragen nach dem Zutreffen von Handlungsbeschreibungen behandelt werden, ist ein augenfälliger Vorzug. 2. Das Erklären einer Beschreibung, Vorhersage

einer Erklärung

oder

P's Aufgabe sei nunmehr, eine von Α abgegebene Beschreibung/ Erklärung/Vorhersage von B's Verhalten zu erklären. Zunächst soll wiederum der Fall einer von Α abgegebenen Beschreibung betrachtet werden, wobei im folgenden auf das bereits verwendete Beispiel zurückgegriffen wird. Ρ hat die Frage „ Warum beschrieb Α das Verhalten von Β auf diese (und nicht auf eine andere) Weise?" zu beantworten. Ρ wird im Normalfall, wenn er also keine Zweifel an der Aufrichtigkeit oder Selbstkenntnis von Α hegt, A's Beschreibung schlicht durch die Aussage erklären, daß Α eben das von ihr Dargestellte wahrgenommen und, da sie es Ρ erzählen wollte, auch so mitgeteilt habe. Konkret könnte P's Erklärung wie folgt aussehen: „A sagte: ,B hat meine Annäherungsversuche zurückgewiesen', weil sie der Ansicht ist, daß Β dies tat, und weil sie mir dies mitteilen wollte". Offensicht-

Beschreiben von Beschreibungen, Erklären von Erklärungen

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lieh muß die Erklärung einer Beschreibung, um als zutreffend gelten zu können, in einer Wiederholung oder bedeutungsgleichen Darstellung dessen bestehen, was Α als korrekte Erklärung ansieht, immer vorausgesetzt, Α ist aufrichtig und verfügt über die relevante Selbstkenntnis. Mit anderen Worten, das Erklären einer Beschreibung besteht in der Angabe der Gründe, die die Person zu der von ihr jeweils gewählten Beschreibung bewogen haben. Wie stellt sich dies nun für das Erklären einer Erklärung dar? A erkläre B's Verhalten etwa, indem sie sagt: „B hat meine Annäherungsversuche zurückgewiesen, weil er sich für eine andere Frau interessiert". Ρ hat dies zu erklären. Geht Ρ davon aus, daß Α völlig aufrichtig ist und über diesbezüglich vollständige Selbstkenntnis verfügt, so reicht es aus, wenn er die vorliegende Erklärung wiederholt. Ρ könnte die folgende Formulierung wählen: „A hat B's Verhalten so erklärt, weil Α glaubte, das sei die zutreffende Erklärung". Geht Ρ jedoch von der Vermutung aus, Α sei unaufrichtig oder kenne ihre eigenen Beweggründe nicht, so dürfte er eine andere Erklärung vorziehen, etwa „A hat das Verhalten von Β auf diese Weise erklärt, weil es für sie zu schmerzlich war, sich selbst (und/oder anderen) einzugestehen, daß Β sie nicht mehr liebt, ohne daß eine andere Frau der Grund dafür ist". Diese alternative Version bezieht allerdings die Annahme ein, daß eine gleichsinnige Erklärung auch von Α zu erwarten wäre, wenn A rückhaltlos offen wäre und über diesbezüglich vollständige Selbstkenntnis verfügen würde. Auch auf das Erklären einer Vorhersage kann diese Argumentation übertragen werden. Wenn Α äußert: „Ich erwarte, daß Β auf meine Annäherungsversuche eingehen wird", dann dürfte Ρ das, was A äußerte, mit den Worten „A hat dies geäußert, weil sie eben dies für die beste Prognose hielt und mich davon in Kenntnis setzen wollte" erklären. Hegt Ρ jedoch wiederum Zweifel an A's Aufrichtigkeit und Selbstkenntnis, so kann er als alternative Erklärung beispielsweise feststellen: „A hat diese Prognose abgegeben, weil es für sie zu schmerzlich war, mir oder sich selbst einzugestehen, daß Β sich für eine andere Frau interessiert". Hier gilt erneut, daß diese Erklärung derjenigen synonym sein sollte, die Α bei völliger Aufrichtigkeit und Selbstkenntnis abgeben würde. Das Vorangegangene kann auf alle Erklärungen verbaler Äußerungen generalisiert werden. Wenn immer eine Person etwas sagt, hat die darauf bezogene Erklärung eines Psychologen der Erklärung des Gesagten durch diese Person, wäre sie völlig aufrichtig und sich diesbezüglich völlig selbst bewußt, synonym zu sein. Unter das gleiche Paradigma läßt sich schließlich auch das Erklären allen nonverbalen menschlichen Verhaltens subsumieren, so-

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Jan Smedslund

weit die Darstellung des Verhaltens der faktischen oder möglichen Kennzeichnung dieses Verhaltens durch den Akteur entspricht, dessen Aufrichtigkeit und Selbstkenntnis vorausgesetzt. So sollte der Psychologe beispielsweise ein als „Kopfnicken" beschreibbares Verhalten ebenso erklären, wie die erklärende Person dies unter den erwähnten Bedingungen (Aufrichtigkeit und Selbstkenntnis) tun würde. Abschließend kann man von den Musterfallen des Erklärens einer Beschreibung, Erklärung oder Vorhersage auf alle Fälle der Erklärung menschlichen Handelns generalisieren. Eine optimale Erklärung einer menschlichen Verhaltensweise hat ihrer Erklärung durch die sie ausführende Person synonym zu sein, vorausgesetzt diese Person ist vollkommen aufrichtig und verfugt über diesbezüglich vollständige Selbstkenntnis. Dies ist erneut die theoretische Definition eines idealen Zustandes, der in der Realität lediglich annäherungsweise gegeben sein kann. Sie besagt, daß eine zutreffende psychologische Erklärung in der Benennung der wirklichen G r ü n d e besteht, die die Person zu dem fraglichen Verhalten bewogen haben. Die mit der Ermittlung dieser wirklichen Gründe verbundenen technischen Probleme sind im Rahmen dieser Ausführungen nicht von Belang. 3. Das Vorhersagen einer Beschreibung, Vorhersage

einer Erklärung

oder

Wie kann ein Psychologe prognostizieren, wie Α das Verhalten von Β beschreiben wird? Prinzipiell, so denke ich, sieht sich der Psychologe hier immer der Frage gegenüber „Wie würde ich, wenn ich A wäre, B's Verhalten beschreiben?" Dies ist ein Spezialfall einer allgemeinen Methode, derer sich auch E. C. Tolman bediente, indem er sich die Frage stellte: „Was würde ich tun, wäre ich die Ratte?". Dieses Vorgehen beruht auf der Annahme, daß Verhalten aufgrund der genauen Kenntnis des Wissens und der Bedürfnisse eines Individuums vorhergesagt werden kann, da Verhalten durch Wissen und Bedürfnisse bedingt wird. Dies aber bedeutet, daß die optimale Prognose, die Ρ abgeben kann, mit A's eigener Vorhersage über die von ihr zu erwartende Beschreibung von B's Verhalten übereinstimmt, Aufrichtigkeit und Selbstkenntnis wiederum vorausgesetzt. Es ist unmöglich, bessere Vorhersagen zu machen als solche, die möglich sind aufgrund umfassender und zutreffender Informationen über die Bedürfnislage und den Wissensstand einer Person unmittelbar vor der Handlung. Folglich sollte die beste Prognose des Psychologen, wie eine Person das Verhalten einer anderen beschreiben wird, derjenigen entsprechen, die die beschreibende Person unmittelbar vor ihrer eigenen

Beschreiben von Beschreibungen, Erklären von Erklärungen

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Beschreibung abgeben würde, wenn sie aufrichtig und sich selbst bewußt wäre. Das Vorhersagen einer Erklärung folgt der gleichen Logik. Ρ wird A's Erklärung von B's Verhalten auf der Grundlage seines Wissens über A's Wissen und Bedürfnisse vorhersagen. Weiß Ρ sowohl, daß Α das Interesse von Β an einer anderen Frau bekannt ist, als auch, daß A's Bedürfnis, dies mitzuteilen, größer ist als das Bedürfnis, diese schmerzliche Einsicht Ρ gegenüber zu verschweigen, dann wird Ρ vorhersagen, daß Α das Verhalten von Β tatsächlich unter Hinweis auf B's Interesse an einer anderen Frau erklären wird. Somit werden die von Ρ und Α abgegebenen Prognosen hinsichtlich der von Α zu erwartenden Erklärung einander entsprechen. Auch das Vorhersagen einer Vorhersage entspricht dem vorgestellten Muster. Ρ prognostiziert A's Prognose des Verhaltens von Β aufgrund seiner Kenntnisse über A's Wissen und Bedürfnisse. Ρ weiß, daß Α von B's Interesse an einer anderen Frau weiß. Ρ ist darüber hinaus bekannt, daß es für Α nicht zu schmerzlich ist, dies ihm gegenüber einzugestehen. Folglich wird Ρ vorhersagen, daß Α die Prognose machen wird, Β werde ihre Annäherungen zurückweisen. Zusammengefaßt: in dem Maße, wie sich die Informationslage des Psychologen verbessert, tendieren die Vorhersagen zweiter Ordnung des Psychologen über Vorhersagen erster Ordnung, die eine Person abgeben wird, dahin, den Vorhersagen (zweiter Ordnung) dieser Person und letztlich ihrer tatsächlichen Prognose (Vorhersage erster Ordnung) zu entsprechen. Das Gesagte läßt sich auf alle Vorhersagen verbalen Verhaltens übertragen. Vorhersagen zielen darauf ab, eine Antwort auf die Frage „Was würde ich sagen, wenn ich jene Person wäre?" zu geben. Das heißt auch, daß sie tendenziell mit der eigenen Vorhersage der Person konvergieren, wenn sie sich vor einer Äußerung fragt: „Was werde ich gleich sagen?". Wobei der Psychologe wiederum, soweit er an der Selbstkenntnis des Individuums zweifelt, eine andere Prognose abgeben kann. Selbstverständlich hat der Psychologe manchmal in Rechnung zu stellen, daß die von ihm geäußerten Vorhersagen das Verhalten der Person beeinflussen können. Schließlich können diese Überlegungen auf alle Vorhersagen über nonverbales menschliches Verhalten generalisiert werden, da dieses Verhalten, wie schon erwähnt, in Übereinstimmung mit seiner faktischen oder potentiellen Beschreibung seitens des Akteurs definiert wird. „Was würde ich tun, wenn ich jene Person wäre?" bezeichnet die allgemeine Grundlage für solche Prognosen. Die Prognose des Psychologen sollte darauf abzielen, mit der besten Vorhersage durch die fragliche Person selbst übereinzustimmen. Daher wird die folgende theoretische Definition vorgeschlagen: Die optimale Vorhersage eines

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menschlichen Verhaltens muß mit der Vorhersage synonym sein, die die Person selbst hinsichtlich ihres Verhaltens abgibt, wenn sie vollkommen aufrichtig ist und über diesbezüglich vollständige Selbstkenntnis verfügt. Diese ideale Bedingung für Vorhersagen kann in der Realität nur annäherungsweise gegeben sein. Sie beinhaltet, daß eine zutreffende psychologische Prognose der unter optimalen Bedingungen von der betreffenden Person selbst abgegebenen Vorhersage bedeutungsgleich zu sein hat. Da innere und äußere Umstände in nicht vorhersehbarer Weise variieren können, verlieren psychologische Vorhersagen zu eigenem oder zu fremdem Verhalten tendenziell an Genauigkeit, je größer das Zeitintervall zwischen Vorhersage und vorhergesagtem Verhalten wird. Folglich wird sogar eine methodisch optimale Prognose nicht in jedem Falle tatsächlich zutreffen. 4.

Diskussion

Der Diskussion der Implikationen der vorangegangenen Analysen sei zusammenfassend die folgende allgemeine These vorangestellt: Eine optimale Beschreibung, Erklärung oder Vorhersage des Verhaltens einer Person hat der Beschreibung, Erklärung und Vorhersage dieses Verhaltens durch die Person selbst synonym zu sein, vorausgesetzt, diese Person ist vollkommen aufrichtig und verfügt über diesbezüglich vollständige Selbstkenntnis. Dies alles läßt sich auch einfacher ausdrücken: 1. Eine Person tut das, was sie sagt, daß sie tut, es sei denn, sie lügt oder ist sich über sich selbst nicht im klaren. 2. Eine Person tut etwas aus den Gründen, von denen sie sagt, daß sie sie hat, es sei denn, sie lügt oder ist sich über sich selbst nicht im klaren. 3. Eine Person wird das tun, was sie sagt, das sie tun wird, es sei denn, sie lügt, ist sich über sich selbst nicht im klaren oder ändert ihre Absichten. Als zentrale Gesichtspunkte dieses Paradigmas sind zu beachten: Erstens, es wird auf die fundamentale Rolle der Sprache für das menschliche Leben abgehoben. Das Handeln einer Person wird - unter den entsprechenden Voraussetzungen (Aufrichtigkeit und Selbstkenntnis) - durch ihre Aussagen darüber in seiner Bedeutung festgelegt. Das Individuum selbst bestimmt durch Worte, was seine Handlungen bedeuten, warum es sie ausführt und was es erwartet. Folglich ist die Darstellung von Handlungen innerhalb einer Kultur durch die Sprache dieser Kultur determiniert. Verhaltensaspekte, die nicht in der natürlichen Sprache des Handlungssubjekts faßbar sind, liegen außerhalb des Geltungsbereichs dieses Paradigmas. Diese Sprache liefert das konzeptuelle Netzwerk, in dem das Handeln der Mitglieder einer Kultur beschrieben, erklärt, prognostiziert und der Kontext des Handelns dargestellt werden kann.

Beschreiben von Beschreibungen, Erklären von Erklärungen

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Das Paradigma impliziert, zweitens, daß der Psychologe die von ihm untersuchten Mitmenschen gleichsam als Berufskollegen anzusehen hat. Es ist der handelnden Person schlechthin eigentümlich, daß sie das eigene Verhalten und das anderer Personen zu beschreiben, erklären, vorherzusagen sucht. Nichts anderes tut der professionelle bzw. akademische Psychologe. Der Zusammenhang zwischen diesen beiden Psychologien wird mithin zu einem deutlich erkennbaren Problem. Vieles, was im Alltagsleben vorgeht, wird schlicht hingenommen und nicht eigens hervorgehoben. Die wissenschaftliche Psychologie ist demgegenüber insbesondere daran interessiert, das, was stillschweigend angenommen wird, exakt darzustellen, um so zu einem klaren und umfassenden Bild zu gelangen. Alltagspsychologie und wissenschaftlich betriebene Psychologie stehen diesem Paradigma zufolge zueinander wie Implizites und Explizites. Die Aufgabe besteht darin, zu explizieren, was der Art und Weise, wie Angehörige einer Kultur sich selbst und andere begreifen, implizit zugrunde liegt. Gegenstand der wissenschaftlichen Psychologie ist mithin die Psychologie, die den untersuchten Personen eigentümlich ist - ihre Aufgabe ist es, explizit zu machen, was wir alle implizit wissen. Das vorgestellte Paradigma entläßt, drittens, den Psychologen aus der überkommenen Verpflichtung, zu theoretisieren und dazu Daten zu erheben. Damit entfallt der Zwang, esoterische Sprachen, exotische Konstrukte und intervenierende Variablen zu entwickeln. Die Suche nach grundlegenden „Faktoren", „Dimensionen", „Prozessen", „Prinzipien", „Gesetzmäßigkeiten" oder ähnlichem kann aufgegeben werden. Der Grund dafür ist schlicht der, daß wir innerhalb dieses Paradigmas nicht die Natur studieren, sondern etwas von Menschen Hervorgebrachtes, nämlich Alltagspsychologien menschlicher Kulturen. Diese Psychologien sind der Art und Weise inhärent, in der Menschen sich selbst und ihre Mitmenschen begreifen, wie sie beschreiben, erklären und prognostizieren, wie sie handeln. Der Gegenstand der wissenschaftlichen Psychologie ist bereits in impliziter Form vorgegeben - vorgegeben, u m expliziert zu werden. Als Mitglieder einer Kultur erwerben wir im Rahmen unserer Sozialisation diese inhärente Psychologie und verfügen über sie in impliziter Form. Es ist widersinnig, diesen Bereich als eine unbekannte Domäne, die dem Theoretisieren und der Anwendung empirischer Methoden völligen Freiraum läßt, zu behandeln. Er ist bereits vorstrukturiert, und wir sind mit dieser Struktur vertraut, da wir durch sie geformt wurden. Wir haben gesehen, daß man die Beschreibungen, Erklärungen und Vorhersagen eines Individuums ohne besondere theoretische Bemühungen verstehen kann. Und auch dann, wenn ein Psychologe das Handeln einer Person anders als diese selbst erklärt, so tut er dies nicht etwa

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mit Hilfe von besonderen Theorien, sondern einfach auf der Grundlage konkreter Hinweise dafür, daß die Selbstkenntnis der Person in einem bestimmten Bereich unzulänglich ist. Wir kommen damit zu folgendem Schluß: Zu den Dingen, mit denen sich die von Psychologen betrachteten Personen beschäftigen, gehört das Beschreiben, das Erklären und Vorhersagen von Handlungen. Jeder Versuch, eine umfassende wissenschaftliche Psychologie zu etablieren, muß diesem Umstand ernsthaft Rechnung tragen. Das zwangsläufige Ergebnis dieser Überlegungen ist, so glaube ich, ein Paradigma von der Art des hier vorgestellten. Anmerkung Zu der im vorliegenden Aufsatz berührten Frage des Zusammenhangs zwischen psychologischer Theorienbildung und Alltagssprache vgl. auch folgende Publikationen von Jan Smedslund (die Arbeiten werden auf Anfrage gern zugesandt): - 1978. Bandura's theory of self-efficacy: A set of common sense theorems. Scandinavian Journal of Psychology 19,1-14. - 1978. Some psychological theories are not empirical: Reply to Bandura. Scandinavian Journal of Psychology 19,101-102. - 1978. Measurement sequences, logical necessity and common sense. The Behavioral and Brain Sciences 2, 203-204. - 1979. Between the analytic and the arbitrary: A case study of psychological research. Scandinavian Journal of Psychology 20, 1-12. - 1 9 8 0 . Analyzing the primary code: From empiricism to apriorism. In: O L S O N , D. R. (Ed.) The social foundations of language and thought: Essays in honor of Jerome S. Bruner. New York: Norton. - 1980. From ordinary to scientific language: Reply to Jones. Scandinavian Journal of Psychology 21, 231-233. - 1981. The logic of psychological treatment. Scandinavian Journal of Psychology 22, 65-77. - 1981. Rationality is a necessary presupposition in psychology. T h e Behavioral and Brain Sciences 4, 352. - 1982. C o m m o n sense as psychosocial reality: A reply to Sjöberg. Scandinavian Journal of Psychology 23, 79-82. - 1982. Seven common sense rules of psychological treatment. Journal of the Norwegian Psychological Association 19, 441-449. - 1982. Revising explications of common sense through dialogue: Thirtysix psychological theorems. Scandinavian Journal of Psychology 23,299-305. - 1 9 8 4 . T h e invisible obvious: Culture in psychology. In: L A G E R S P E T Z , Κ. & NIEMI, P. (Ed.) Psychology in the 1990's. Amsterdam: Elsevier. - 1984. What is necessarily true in psychology? Annals of Theoretical Psychology 2, 241-272. - 1984. Psychology cannot take leave of common sense: Reply to Tennesen, Vollmer and Wilkes. Annals of Theoretical Psychology 2, 295-302. - 1 9 8 5 . Necessarily true cultural psychologies. In: G E R G E N , K . J. & DAVIS, Κ . E . (Ed.) The social construction of the person. New York: Springer. - 1986. T h e explication of psychological common sense: Implications for the science of psychology. In: BARCAN M A R C U S , R . , D O R N , G . J. W . & W E I N G A R T N E R , P. (Ed.) Logic, Methodology and Philosophy of Science. VII. Amsterdam: Elsevier Science Publishers Β. V.

WILHELM KEMPF

Psychologische Forschung als Begegnung

1. Einleitung Seit einem runden Jahrhundert versteht sich die Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Ich habe Zweifel daran, wie weit die Psychologie auch nur eines der beiden Worte - „Erfahrung" und „Wissenschaft" - zu Recht für sich in Anspruch nimmt. Diese Zweifel scheinen mir zumindest so weit berechtigt, als in der Psychologie Tendenzen bemerkbar sind, ihr Selbstverständnis als Wissenschaft an einer bestimmten - und selbst nicht mehr als begründungsbedürftig angesehenen - Methodik festzumachen ι und/oder überhaupt nur noch zur Kenntnis zu nehmen, was in das Korsett dieser Methodik paßt. Unter dem Verlust eines den gesamten Wissenschaftsprozeß umfassenden Methodologieverständnisses (vgl. Blumer 1973) hat sich in der Psychologie zudem der Glaube daran eingenistet, „Wissenschaftlichkeit" sei ein Wert für sich. Die Frage, wozu es denn gut sein soll, wissenschaftliche Psychologie zu betreiben, ist mehr und mehr aus dem Blickfeld gerückt. Vor dem Hintergrund solcher Vorstellungen halte ich ζ. B. die Diskussion um quantitative oder qualitative Methoden der Psychologie für fruchtlos. Ich möchte daher ein Methodologieverständnis vorschlagen, das keine Methode der Psychologie von vorneherein als „wissenschaftlich" auszeichnet, sondern sich auf den Ursprung des Wortes „Methode" besinnt. Das Wort „Methode" kommt bekanntlich aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie „der Weg zu etwas". Wissenschaft hat Ziele und sucht nach geeigneten Wegen, diese Ziele zu erreichen. Die Wege sind in unserem Fall die Methoden der Psychologie. Das Ziel ist die Bildung eines Wissens über etwas, das als wissenswert erachtet wird. Je nachdem, was wir in der Psychologie als wissenswert erachten, werden wir entsprechend verschiedener Methoden bedürfen. Hinter dem Streit darum, was zum Methodeninventar der Psychologie gehören soll und was nicht, steht in Wahrheit oft ein Interessenkonflikt darum, was für uns wissenswert ist, oder darum, welche Art von Erfahrungen mit Hilfe der Psychologie zugänglich gemacht werden soll.

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Erfahrung kann vielerlei bedeuten. In der experimentellen Psychologie haben wir es mit einem sehr engen Erfahrungsbegriff zu tun. Die Erfahrungen, die hier gemacht werden, sind auf die Bestätigung oder Verwerfung vorgefaßter Meinungen - sogenannter „Hypothesen" beschränkt. Wirklich tiefgreifende Erfahrungen (die - im Ernstfall das Leben des Forschers selbst verändern könnten) sind durch die Distanz zwischen Forscher und Forschungsobjekt - der „Versuchsperson" - so gut wie ausgeschlossen. Nun gibt es in der Psychologie zweifellos eine Reihe von Fragestellungen - insbesondere im Bereich der Allgemeinen Psychologie - die sich aus dieser Distanz heraus bearbeiten lassen. Schlimm wird es erst, wenn die angesprochene Erfahrungsarmut der Psychologie zum methodischen Prinzip wird und genau darauf läuft der dogmatische Anspruch der messenden und experimentierenden Psychologie akademisch-psychologischer Provenienz letztlich hinaus. Denn „wissenschaftliche Psychologie" bedeutet dann nicht mehr eine Verfeinerung und Erweiterung lebensweltlicher Erfahrungsmöglichkeiten, sondern deren Einschränkung. Sie dient dann nicht mehr dem Erkenntnisdrang des Menschen, sondern wird zum Werkzeug der Verdrängung. Jeder Wissenschaft geht eine Entscheidung darüber voraus, was als wissenswert erachtet wird. Diese Entscheidung ist in der Psychologie keineswegs einheitlich ausgefallen. Es lassen sich zumindest drei idealtypische Konzeptionen von Psychologie rekonstruieren, die ich als das „behavioristische", das „kognitive" und das „humanistische" Psychologieverständnis bezeichnet habe (Kempf 1983b). Als behavioristisches Psychologieverständnis möchte ich dabei eine Konzeption von Psychologie kennzeichnen, die sich in Methodologie und Methodik am Vorbild der Naturwissenschaften orientiert und den Sinn wissenschaftlichen Tuns in dessen technischer Verwertbarkeit sieht. Ersichtlich ist dieses Verständnis von Psychologie von dem Streben danach geprägt, in derselben Weise Macht über menschliches Verhalten zu gewinnen, wie wir sie in vielen Bereichen gegenüber der unbelebten Natur schon gewonnen haben. Als „behavioristisches Psychologieverständnis" bezeichne ich es, weil es vor allem Behavioristen wie Watson, Skinner oder Buss sind, denen das Verdienst zukommt, eine naturwissenschaftliche Auffassung von Psychologie konsequent ausformuliert, in ein wissenschaftstheoretisches Programm übersetzt und damit auch kritikfähig gemacht zu haben. In methodischer Hinsicht ist das behavioristische Psychologieverständnis durch dreierlei gekennzeichnet: (1) die Beschränkung auf das beobachtbare Verhalten; (2) die Erklärung von Verhaltensweisen mittels Deduktion aus empirischen Gesetzmäßigkeiten und objektiv bestimmbaren Stimulusbedingungen; und (3) Experimentiertechniken und Mathematik als Methoden schlechthin.

Psychologische Forschung als Begegnung

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Daß vieles von dem, was die akademische Psychologie seither unter ihrem naturwissenschaftlichen Selbstverständnis treibt, mit diesem wissenschaftstheoretischen Programm kaum etwas zu tun hat, ist die durchaus tragische Folge des geringen Augenmerks, welches die akademische Psychologie methodologischen Fragen schenkt. „Tragisch" deshalb, weil sie die Grundlage dafür bildet, daß auch die vielgerühmte „kognitive Wende" in der Psychologie nicht etwa einen Paradigmenwechsel nach sich gezogen hat, sondern man wurstelt so weiter wie bisher, nur daß man keine methodologischen Skrupel mehr hat, wenn in der Theoriesprache intentionale Prädikatoren vorkommen, Worte wie „Gedanken", „Gefühle" oder „Vorstellungen". Was ich hier als das kognitive Psychologieverständnis charakterisieren möchte, stimmt denn mit dem methodologischen Selbstverständnis der meisten Vertreter der kognitiven Psychologie keineswegs überein, wenngleich es in der kognitiven Psychologie eine ganze Reihe von Theorien - insbesondere strukturelle Lerntheorien und Computersimulationstheorien - gibt, die sich einschließlich der ihnen zugehörigen experimentellen Forschung unter diesem Wissenschaftsverständnis weit angemessener darstellen lassen als unter den gängigen Naturwissenschaftlichkeitsansprüchen (vgl. dazu insbesondere Landa 1969, Scandura 1973, Scandura & Brainerd 1978). Hauptsächlich handelt es sich hier jedoch um jenes Wissenschaftsverständnis, das der (z.T. von der konstruktiven Wissenschaftstheorie der Erlanger Schule beeinflußten) handlungstheoretischen Kritik an der akademischen Psychologie zugrundeliegt (vgl. dazu insbesondere Aschenbach 1981,1982; Brandtstädter 1981; Hilke 1982; Kempf 1978, 1981, 1982a, 1983b; Smedslund 1976, 1978a, 1978b, 1980; Werbik 1981). Wissenschaft wird unter dieser Konzeption von Psychologie als ein aufgabenorientiertes Handeln verstanden, wobei die technische Verwertbarkeit von Wissen dann nur noch einen Spezialfall darstellt. Dabei wird ein Wissenschaftsverständnis, das (immer noch) auf die zielgerichtete Veränderung des Menschen abhebt, mit einer anthropologischen Konzeption verbunden, die durch Stichworte wie „Mündigkeit" und „Eigenverantwortlichkeit" gekennzeichnet ist. In methodischer Hinsicht ist dieses kognitive Psychologieverständnis gekennzeichnet durch (1) eine Akzentverschiebung vom (distanziert-objektiv) beobachtbaren Verhalten auf gleichwohl mittels objektivierbarer Deutungsregeln aus dem Verhalten rekonstruierbare Sinngehalte sowie (2) durch die Aufgabe des deduktiv-nomologischen Erklärungsschemas: empirische Korrelationen zwischen Stimulusbedingungen und Verhaltensweisen werden nicht mehr als Erklärung des Verhaltens hingenommen, sondern nur noch als Beschreibung erklärungsbedürftiger Zusammenhänge aufgefaßt. Als Erklärungsprinzip dient der praktische Syllogismus (vgl. von Wright 1974), der

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sich grob etwa so zusammenfassen läßt: „Wenn ich in bestimmter Weise denke und gemäß meinem Denken handle, dann werde ich am Ende ein bestimmtes Verhalten zeigen". Entsprechend verändert sich damit (3) die Funktion des Experimentes, das nun nicht mehr dazu dient, empirische Gesetzmäßigkeiten zu überprüfen, sondern die methodisch geregelte Rekonstruktion von Denkinhalten und Denkabläufen ermöglichen soll. Als „humanistisch" möchte ich dagegen eine Konzeption von Psychologie charakterisieren, die sich von den vorgenannten insofern radikal unterscheidet, als es ihr nicht so sehr um ein zielgerichtetes Eingreifen geht, sondern die ihr Sinnkriterium in der Verständnisbildung sieht. Die technische Verwertbarkeit von Wissen ist als Relevanzkriterium psychologischer Forschung endgültig zugunsten dessen in den Hintergrund getreten, was Holzkamp (1972) als „emanzipatorische Relevanz" bezeichnet. Dahinter steht - ähnlich wie im symbolischen Interaktionismus - die bis auf Epiktet zurückverfolgbare Auffassung, daß es nicht die Dinge 2 selbst sind, die die Menschen bewegen, sondern die Ansichten, die sie von ihnen haben, oder, wie dies Blumer (1973, p. 81) ausgedrückt hat, „daß Menschen f i n gen' gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen handeln, die diese für sie besitzen". 3 Entsprechend ist das Erkenntnisinteresse der humanistischen Psychologie nicht so sehr dadurch gekennzeichnet, daß wir gleichsam objektive Aussagen über Menschen gewinnen wollen, sondern dadurch, daß wir die Subjektivität des Menschen nachzuvollziehen und in Sinnzusammenhänge einzuordnen versuchen. Dazu gehört auch: die gesellschaftliche Vermitteltheit individueller Subjektivität transparent zu machen. Denn, wie Blumer (1973) zu Recht feststellt, werden Bedeutungen den Dingen nicht einfach appliziert, sondern die Bedeutung der Dinge ist aus der sozialen Interaktion abgeleitet, die mensch mit seinen Mitmenschen eingeht, und wird in der Auseinandersetzung mit den ihm begegnenden Dingen zugleich gehandhabt und abgeändert. Insofern ist eine recht verstandene humanistische Psychologie stets auch Sozialpsychologie im eigentlichen Sinne des Wortes. Verständnisbildung als Erkenntnisinteresse, unter dem Psychologie betrieben wird, impliziert, daß viele der von den Naturwissenschaften übernommenen Wissenschaftlichkeitskriterien traditioneller empirischer Sozialforschung noch radikaler überdacht werden müssen, als dies schon vom kognitiven Psychologieverständnis nahegelegt wird. Der einschneidende Unterschied zwischen auf Erklärung menschlichen Verhaltens ausgerichteter, traditioneller empirischer Sozialforschung und auf Verständnisbildung ausgerichteter, interpretativer Sozialforschung beginnt bereits dort, wo wir danach fragen, welche Funktion Theorie denn überhaupt im Forschungsprozeß zukommt.

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Im traditionellen Paradigma dient Theorie als Deduktionsbasis für Hypothesen, d.h. sie nimmt empirische Wirklichkeit vorweg, dient dazu, daß aus ihr Annahmen über die empirische Wirklichkeit abgeleitet werden können. Im interpretativen Paradigma dient Theorie als Interpretationsfolie, d. h. sie liefert eine Perspektive, unter der empirische Wirklichkeit geordnet werden kann. Dies hat Auswirkungen darauf, wie mit Theorie wissenschaftlich umzugehen ist: Theorie als Deduktionsbasis ist daraufhin zu befragen, ob sie auch empirisch wahr4 ist. An Theorie als Interpretationsfolie haben wir die Frage zu stellen, wie leistungsfähig sie im Hinblick auf die ihr zukommende Ordnungsaufgabe ist. Als Deduktionsbasis konzipierte Theorien können einander widersprechen. Dem Umgang mit ihnen ist eine puristische (entweder/oder) Haltung angemessen. Als Interpretationsfolie konzipierte Theorien eröffnen allenfalls Perspektiven, die nicht gleichzeitig eingenommen werden können. Dem Umgang mit ihnen ist eine dialektische Haltung angemessen. Mit dem beim Übergang vom traditionellen zum interpretativen Paradigma vollzogenen Funktionswandel von Theorie geht zugleich ein Wandel der Funktion einher, welche die Empirie zu erfüllen hat: Als Deduktionsbasis konzipierte Theorien bedürfen zu ihrer Überprüfung der systematischen Herstellung und Variation gezielter Ausschnitte der empirischen Wirklichkeit, des Experiments, in dem nur zum Tragen kommen soll, was auch in der Theorie vorkommt. Die von Holzkamp (1972) konstatierte zunehmende Desintegration und Parzellierung psychologischer Forschung ist daher nicht nur Folge der Präzisierung und Verfeinerung einer bestimmten Art von Methodik - nämlich der einseitigen Betonung von Design-und Meßtechniken, welche den Bestätigungsgrad empirischer Hypothesen optimieren sollen - sondern die Bevorzugung des Bestätigungsgrades empirischer Hypothesen als Kriterium für den Wert wissenschaftlicher Forschungsbemühungen im traditionellen Paradigma ist ihrerseits die konsequente Folge des ihm zugrundeliegenden Theorieverständnisses. Als Interpretationsfolie konzipierte Theorien bedürfen zu ihrer Anwendung dagegen der Explikation und Rekonstruktion möglichst umfassender Ausschnitte der „natürlichen" empirischen Wirklichkeit. Im interpretativen Paradigma ist es daher die Strukturähnlichkeit zwischen Forschungssituation und Alltagssituation (respektive Anwendungssituation), der als Kriterium für den Wert wissenschaftlicher Forschungsbemühungen eine ähnlich bevorzugte Stellung zukommt wie dem Bestätigungsgrad empirischer Hypothesen im traditionellen Paradigma. 5

174 2. Drei Zugangsweisen

Wilhelm Kempf

zur

Frustrations-Aggressions-Theorie

Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird es vor allem um das humanistische Psychologieverständnis gehen. Die Existenzberechtigung anderer Konzeptionen von Psychologie soll dadurch keineswegs in Frage gestellt werden. Ich bin allerdings der Auffassung, daß die verschiedenen Psychologieverständnisse hierarchisch geordnet sind, daß vom humanistischen über das kognitive hin zum naturwissenschaftlichbehavioristischen Psychologieverständnis eine zunehmende methodologische Reduktion stattfindet, die auf ihre Angemessenheit für die jeweilige Fragestellung zu beurteilen ist. Dabei sollten wir stets im Auge behalten, daß uns diese Reduktion zwar desto „härtere" Methoden anbietet, je weiter sie getrieben wird, daß sie unseren Blickwinkel aber zugleich auf immer enger werdende Ausschnitte der menschlichen Existenz einengt. Wie ich am Beispiel der FrustrationsAggressions-Theorie deutlich machen möchte, hat dies zur Folge, daß es innerhalb der Psychologie jedenfalls einige Fragestellungen gibt, die unter bestimmten Psychologieverständnissen nicht mehr angemessen thematisiert werden können, bzw. die methodologischen Forderungen dieser Psychologieverständnisse bei der Bearbeitung jener Fragestellungen nicht eingelöst werden können. Inhaltlich der Psychoanalyse nahestehend, zugleich aber im Bemühen um eine streng behavioristische Methodologie formuliert, umfaßt die 1939 von der Yale-Gruppe (Dollard, Doob, Miller, Mowrer & Sears) vorgestellte Frustrations-Aggressions-Theorie neben den Definitionen - Dl. 1: Aggression ist eine Verhaltenssequenz, die auf die Verletzung (injury) eines Organismus oder Organismusersatzes abzielt; und - D2.1: Frustration ist die Störung einer zielgerichteten Aktivität; die beiden Grundannahmen - Al.l: Aggression ist stets eine Folge von Frustration; und - A2.1; Frustration führt stets zu einer Form von Aggression; von denen letztere allerdings bald durch Miller (1941) und Sears (1941) abgeschwächt wurde: - A2.1*: Frustration erzeugt Anreize zu verschiedenen Arten von Verhaltensweisen; einer dieser Anreize ist stets ein Anreiz zu einer Form von Aggression. Ferner umfaßt die Theorie eine Reihe von Zusatzannahmen, von denen vor allem die sogenannte Katharsis-Hypothese einige Berühmtheit erlangt hat: - A3.1; Durch die Ausführung einer Aggression wird der von der Frustration erzeugte Anreiz zur Aggression reduziert; der Anreiz

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zur Fortsetzung der gestörten Verhaltenssequenz bleibt dabei weiter bestehen. Damit wurde eine Erklärung aggressiven Verhaltens im Sinne des deduktiv-nomologischen Erklärungsmodells der Naturwissenschaften angestrebt. Dieses Erklärungsmodell kann im sogenannten HempelOppenheim-Schema (vgl. Hempel 1965, Stegmüller 1969) so dargestellt werden, daß der zu erklärende Sachverhalt (das „Explanandum") Ε aus einer Reihe von Gesetzesaussagen G l , G 2 , . . . , Gm und Randbedingungen Rl, R 2 , . . . , Rn (die zusammen das „Explanans" bilden) deduziert wird: G l , G 2 , . . . , Gm Rl, R 2 , . . . , Rn Ε Bei den Gesetzesaussagen handelt es sich dabei um universelle Subjunktionen der Form Α x A(x) - B(x), wobei A(x) als das „Antecedens" („unabhängige Variable") und B(x) als das „Succedens" („abhängige Variable") der Gesetzesaussage bezeichnet wird. Ist ein solcher Allsatz wahr, so kann man dann, wenn A(N) für ein individuelles Ν zutrifft, vermittels . A x A(x) - B(x). A(N) > B(N) auf das Bestehen von B(N) schließen und derart das Explanandum B(N) aus der Gesetzesaussage Α χΑ(χ) - B(x) und der Randbedingung A(N) erklären. 6 Damit eine Deduktion nach dem Hempel-Oppenheim-Schema tatsächlich als eine Erklärung gelten kann, müssen noch einige Voraussetzungen erfüllt sein (vgl. dazu z.B. Stegmüller 1969, von Kutschera 1972, Schwemmer 1976). Insbesondere: (a) Sowohl im Antecedens als auch im Succedens der Gesetzesaussagen dürfen ausschließlich empirische Aussagen vorkommen, d.h. nur solche Aussagen, deren Wahrheit oder Falschheit von der Beobachtung abhängt und nicht schon allein aufgrund logischer, terminologischer oder mathematischer Regeln beweisbar ist; sowie (b) die den zu erklärenden Sachverhalt darstellenden Aussagen dürfen nicht schon aufgrund logischer, terminologischer oder mathematischer Regeln aus den Aussagen ableitbar sein, die die jeweiligen Antecedensbedingungen darstellen. Zweifel daran, ob die von der Yale-Gruppe vorgelegte FrustrationsAggressions-Theorie diese methodologischen Forderungen auch tatsächlich erfüllen kann, wurden zunächst im Hinblick auf die zugrundeliegende Aggressions-Definition laut. So hat insbesondere Buss (1961) kritisiert, daß Aussagen über Verhaltensintentionen nicht durch Beobachtung (allein) entscheidbar seien. Sein Versuch, diese Verletzung des behavioristischen Methodenideals zu heilen, führte zwar zur Erfindung der „Aggressionsmaschine", einem experimentellen

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Paradigma, das den Mangel an Strukturübereinstimmung zwischen Alltagssituation und Experiment geradezu potenziert, konnte jedoch den intentionalen Gehalt des Aggressionsbegriffes dennoch nicht völlig eliminieren: selbst wenn Buss definiert „ . . . aggression is defined as a response that delivers noxious stimuli to another organism" (1961, p. 1), bleibt für ihn doch die Frage offen, wie zufällig gelieferte, schädliche Stimuli von Aggressionen abgegrenzt werden können (vgl. Hilke & Kempf 1976). Hinzu kommt, daß auch das Wort „schädlich" kein beobachtungssprachlicher Prädikator ist, sondern der Beurteilungssprache angehört. Die Besinnung auf den intentionalen Gehalt des Aggressionsbegriffes (Werbik 1971) - aber auch die auf Buss zurückgehende Unterscheidung zwischen „angry aggression" und „instrumentally aggressive responses" führten schließlich zur Frage, ob und wieweit denn die in der Frustrations-Aggressions-Theorie formulierten Gesetzesaussagen tatsächlich empirischen Gehalt haben oder sich einfach aus der Art und Weise ergeben, wie wir über Handeln im allgemeinen und über Frustration, Aggression und Katharsis im speziellen sprechen (vgl. Smedslund 1976). Am detailliertesten ausgearbeitet wurde in diesem Zusammenhang ein Rekonstruktionsversuch der Frustrations-Aggressions-Theorie für instrumentelle Aggressionen (Kempf 1978), der freilich von einem sehr allgemeinen Aggressionsbegriff ausgeht und nicht mehr auf die Verletzung eines Organismus abhebt, sondern (wie bei Buss) nur noch auf dessen Schädigung, und zwar in einem sehr vordergründigen Sinne: Schädigung als Verstoß gegen den Willen eines anderen: - D-1.2: Aggression ist eine Handlung, die (nach Meinung des Handelnden) gegen den Willen eines anderen verstößt. - D-2.2: Frustration ist ein Ereignis, als dessen Folge eine Handlung (in Hinblick auf die damit verfolgten Handlungsorientierungen) erfolglos bleibt. - D-3.2: Wenn Handlungsorientierungen einander wechselseitig be- oder verhindern, so besteht ein Konflikt. Daraus ergibt sich unmittelbar: - A-1.2: Aggression setzt voraus, daß (nach Meinung des Handelnden) ein Konflikt besteht. - A-2.2a: Tritt eine Frustration als (tatsächliche oder vermeintliche Wirkung des Handelns eines anderen ein, und deute ich diese Wirkung als vom anderen gewollt, so besteht (nach meiner Meinung) ein Konflikt. - A-2.2b: Halte ich in diesem (tatsächlichen oder vermeintlichen) Konflikt an meinen ursprünglichen Handlungsorientierungen fest und versuche, diese gegen den (tatsächlichen oder vermeintlichen) Willen des anderen durchzusetzen, so sind alle darauf gerichteten Handlungen meinerseits per deflnitionem Aggressionen.

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- A-3.2: Behalte ich meine ursprünglichen Handlungsorientierungen bei und setze sie erfolgreich durch (d. h. sind die von mir verfolgten Handlungsziele am Ende erreicht), so entfällt der Grund zur Aggression (d. h. jene Handlungsziele, deren Verfolgung mit der Frustration und ihrer Deutung als vom anderen intendiert zu aggressiven Zielen geworden sind, bestehen nicht mehr). Infolge der vorgenommenen Differenzierung zwischen Frustration und Konflikt werden die ursprünglichen Annahmen der FrustrationsAggressions-Theorie durch diese Rekonstruktion zwar modifiziert. Diese Modifikation macht es jedoch möglich, die strukturellen und die empirischen Anteile der Theorie voneinander zu trennen: Die von der Frustrations-Aggressions-Theorie behauptete Regelmäßigkeit, mit der Frustrationen aggressiv beantwortet werden, ist an die materialen Voraussetzungen (1) der Deutung der Frustration als intendierter Wirkung des Handelns eines anderen und (2) des Festhaltens an den ursprünglichen Handlungsorientierungen geknüpft; jedes nichtaggressive Handeln in einer Frustrationssituation setzt voraus, daß ich entweder die Frustration nicht als intendierte Wirkung des Handelns eines anderen deute oder daß ich meine ursprünglichen Handlungsorientierungen aufgebe (bzw. zumindest vorläufig zurückstelle). Was in der Frustrations-Aggressions-Theorie als einfache empirische Regelmäßigkeit zwischen Stimulusbedingungen und Verhaltensweisen konzipiert worden war, wirft damit eine Reihe von neuen Fragen auf, zu deren Behandlung Aggression nicht mehr als isoliertes Phänomen - gleichsam losgelöst von dem historischen und gesellschaftlichen Kontext, in dem Aggressionen stattfinden - betrachtet werden kann. Z.B. stellt sich die Frage, wie sich jene subjektive Realität konstituiert, die Aggression zur einzig angemessenen Antwort auf eine Frustration macht und dabei ursprünglich instrumentelle Aggression oft in feindselige Aggression umschlagen läßt, bei der es nicht mehr nur darum geht, ursprüngliche Handlungsorientierungen durchzusetzen, sondern (auch) darum, den anderen zu verletzen (im Sinne der Definition der Yale-Gruppe). Die Antwort auf solche Fragen sprengt nicht nur den Rahmen des beobachtungssprachlich Beschreibbaren, sie kann auch nicht mehr auf der Sprachebene von finalen Handlungsorientierungen gegeben werden, die auf mehr oder minder objektiv beschreibbare Handlungsziele gerichtet sind, mit deren Erreichung sie gleichsam „aufgehoben werden". Denn bei diesen Fragen geht es nun nicht mehr um einzelne Verhaltensweisen, Handlungen oder Handlungsorientierungen in unserem Leben, sondern es geht um den Gesamtzusammenhang unseres Handelns und Lebens und darum, welche Bedeutung eine Frustration und die uns verfügbaren Handlungsmöglichkeiten, vermittels

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welcher wir auf die Frustration antworten könnten, in diesem Gesamtzusammenhang gewinnen. Es geht nicht mehr um gleichsam objektive Beziehungen zwischen Frustration und Aggression, sondern um individuelle, aber gleichwohl gesellschaftlich vermittelte Subjektivität. Es geht darum, wie sich mensch in seinem Leben orientiert, wie sich die objektiven (sozialen) Umwelt-Gegebenheiten - das soziale Milieu - zur sozialen Situation konstituiert. „Die Umwelt kann auf das Subjekt nur in genau dem Maße einwirken, in dem dieses sie versteht, d.h. indem dieses sie in Situationen verwandelt" (Sartre 1956, p. 720). Erst dadurch, wie wir uns in einem Milieu orientieren, wird das Milieu zur Situation. Die soziale Situation konstituiert sich als Interaktionspraxis zwischen von der Situation betroffenen Individuen und Milieugegebenheiten (vgl. Leithäuser & Volmerg 1977). Kambartel (1978, 1981) hat in Anlehnung an Wittgenstein den Terminus „Lebensorientierungen" geprägt und damit eine Orientierungsebene angesprochen, die sich im Hinblick auf die zu ihrer Darstellung erforderlichen sprachlichen Mittel grundlegend von der Ebene der Handlungsorientierungen unterscheidet. Im Unterschied zu den Handlungsorientierungen sind Lebensorientierungen afinal, d.h. sie weisen einen Weg, der sich nicht vom Ende her bestimmen läßt. Und, wir begreifen Lebensformen letztlich weniger theoretisch als vielmehr im ihnen gemäßen Erleben und Handeln, also „empraktisch". Worte genügen erst, wenn eine Lebensform bereits empraktisch zugänglich ist, sie zu vergegenwärtigen. Wenn die Worte, mit denen wir über Lebensformen reden, dieser empraktischen Basis entbehren, dann helfen uns noch so viele theoretische, insbesondere definitorische Bemühungen nicht weiter. Über Lebensformen läßt sich daher auch nicht in derselben Weise argumentieren wie über Handlungsorientierungen. Wer eine Lebensform ein Stück weit empraktisch begriffen hat, dem mag es gelingen, mit anderen (die sich in derselben Lage befinden) einen Konsens darüber herzustellen. Eine Kritik „von außen" ist dagegen wenig hilfreich. Lebensorientierungen sind daher auch nicht in derselben Weise verfügbar wie Handlungsorientierungen. Die Aufgabe oder Modifikation von Lebensorientierungen gelingt - wenn überhaupt - so nur um den Preis einer (zumindest vorübergehenden) Identitätskrise. Denn in ihnen sind all jene Selbstverständlichkeiten unseres Erlebens und Handelns niedergelegt, die es uns überhaupt erst erlauben, unser Leben als ganzes und uns selbst als identische Person zu verstehen.

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3. Lebensorientierungen, Alltagsbewußtsein

Gesellschaftscharakter

und

Mit den Lebensorientierungen wird wie bei Fromms „Charakterorientierungen" eine Orientierungsebene angesprochen, die den Menschen grundsätzlich vom Tier unterscheidet, denn nur für ihn stellt sich aufgrund seiner hoch ausgebildeten Sprach- und Denkfähigkeit das existentielle Problem der Sinngebung des Lebens. Gleichwohl sind Lebensorientierungen - im Unterschied zu konkreten Handlungszielen - weitgehend unbewußt und können daher auch nicht im Paradigma traditioneller empirischer Sozialforschung - etwa durch direkte Befragung - erfaßt werden. Sie sind der subjektiven Realität, welche sie konstituieren, implizit und erfordern zu ihrer Bewußtmachung und Explikation daher einen eigenen Reflexions- bzw. Interpretationsprozeß. Darauf weist auch Fromm (1962) hin, indem er die Unzulänglichkeiten des CharakterbegrifFs der traditionellen empirischen Sozialforschung kritisiert, die den Charakter als das für ein bestimmtes Individuum charakteristische Verhaltensmuster definiert. Fromm beruft sich dabei auf Freuds dynamischen Charakterbegriff, der „ . . . den Charakter als ein System von Strebungen auffaßte, die dem Verhalten zugrundeliegen, jedoch nicht mit ihm identisch s i n d . . . Verhaltensmerkmale beziehen sich auf Tätigkeiten, die von einer dritten Person beobachtet werden k ö n n e n . . . Wenn wir jedoch die Motivationen und insbesondere die unbewußten Motive solcher Verhaltensmerkmale untersuchen, so finden wir, daß das Ker/ia/fensmerkmal zahlreichen, völlig unterschiedlichen Charakterzügen entspricht . . . Freud hat etwas erkannt, was die großen Romanschriftsteller und Dramatiker schon immer wußten: daß - wie Balzac sich ausdrückt - das Charakterstudium ,sich mit den Kräften befaßt, die den Menschen motivieren', daß die Art und Weise, wie jemand handelt, fühlt und denkt, weitgehend durch die Besonderheit seines Charakters bestimmt ist, und daß sie nicht nur das Resultat rationaler Reaktionen auf bestimmte Situationen ist. Freud erkannte die dynamische Qualität der Charakterzüge und stellte fest, daß die Charakterstruktur eines Menschen eine spezielle Form darstellt, in der die Energie im Lebensprozeß kanalisiert wird" (Fromm 1962, p. 85-87).

Die Charakterzüge eines Menschen sind mehr als nur (mehr oder minder) stabile Merkmale seines Handelns und Verhaltens. Es ist die Art und Weise, wie sich jemand in seinem Leben orientiert, die seinen Charakter ausmacht. Es ist der Charakter eines Menschen, der bestimmt, wie er den Gegenständen der belebten und unbelebten Natur gegenübertritt, welche Bedeutung die Ereignisse seiner Umwelt für ihn haben, wie er gefühlsmäßig auf sie reagiert, welche Handlungswünsche sie in ihm wachrufen, wie er mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen umgeht und wonach er in seinem Leben strebt. Die Frage nach dem Charakter eines Menschen, das ist die Frage nach den Orientierungen seines Lebens, welche ihm eine über seine jeweiligen

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sozialen Rollen und seine physischen und psychischen Eigenschaften hinausreichende Identität verleihen. Es ist letztlich die Frage, wer er denn eigentlich sei (vgl. Kempf 1982b), und diese Frage läßt sich im Grunde nur narrativ beantworten. Die Worte, mit denen wir die Lebensorientierungen eines Menschen beschreiben können, gewinnen ihre Bedeutung erst aus dem Kontext seines Lebens und werden erst verstehbar, wenn wir zugleich die konkreten Beispielsituationen angeben, welche durch sie in einen Sinnzusammenhang gebracht werden, und das heißt: indem wir die Subjektivität des anderen und deren gesellschaftliche Vermittlung zu rekonstruieren versuchen. Daß Adorno et al. (1950) diese methodologischen Konsequenzen von Freuds dynamischem Charakterbegriff übersehen und den Versuch u n t e r n o m m e n haben, die autoritätsgebundene Persönlichkeit mittels des Instrumentariums der traditionellen empirischen Sozialforschung - d.h. mittels Persönlichkeitsfragebögen - zu erfassen, führte am Ende in jene methodischen Aporien, an denen die Untersuchungen zur autoritätsgebundenen Persönlichkeit notwendigerweise scheitern mußten und deren Ursprung Leithäuser & Volmerg (1977, p. 30) darin sehen, daß ihre Bezugsgröße das Individuum ist, „seine Charakterstruktur, die sich nach Auffassung Horkheimers und Adornos nicht sozialpsychologisch, sondern in letzter Instanz nur individualpsychologisch" aufschließen läßt. Indem der Charakter eines Menschen von Adorno derart doch wieder als „Summe individueller Persönlichkeitszüge im Verhalten und Handeln" (Argelander 1972) aufgefaßt wird, erscheinen die Vergesellschaftungsprozesse, durch die die Individuen vermittelt sind, nur als Randbedingung der empirischen Untersuchung zur autoritätsgebundenen Persönlichkeit. Durch methodische Reduktion wird das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in einen abstrakten Gegensatz verwandelt. Und was erst künstlich getrennt wurde, m u ß dann wieder ebenso künstlich zusammengefügt werden. So läßt sich z.B. allein gestützt auf die empirischen Befunde der Studien, die die situativen Faktoren, die Milieufaktoren und die gesellschaftlichen Bedingungen durch ihre Erhebungsund Auswertungsmethoden notwendig vernachlässigen, die Vorurteilsbereitschaft als Strukturmerkmal des „autoritären Charakters" nicht begründen. Es bedarf zusätzlicher allgemeiner theoretischer Überlegungen, die die methodologische Reduktion auf die als individualpsychologische Kategorie aufgefaßten Charaktertypen rückgängig machen sollen. Zu diesem Zweck wird z.B. der gesellschaftliche Faktor der „ideologischen Gesamtstruktur" herangezogen, womit nichts anderes gemeint ist „als unser allgemeines kulturelles Klima und besonders die ideologische Wirkung, welche die Massenbeeinflussungsmittel auf die Bildung der öffentlichen Meinung ausüben". Mit der Einführung von nicht an den Charakter gebundenen Größen

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wird aber, wie Leithäuser & Volmerg (1977) aufzeigen, der autoritäre Charakter als individualpsychologische Bezugsgröße selbst unglaubwürdig: „Denn wie sollte erklärbar sein, daß die positiven Reaktionen auf die Skalensätze von einem Angehörigen der Mittelschicht auf dessen Charaktervariablen verweisen und die gleichen Reaktionen von einem Arbeiter auf dessen ökonomische Lage? Nach einer solchen Auflösung der Bezugsgröße gibt es keine gemeinsame Meßgrundlage mehr" (p. 35). Anders als bei Adorno ist eine künstliche Trennung zwischen einem individualpsychologisch zu analysierenden Charakter und gesellschaftlichen Randbedingungen dagegen bei Fromm nicht von vornherein angelegt. 7 „Nach Marx besteht zwischen der ökonomischen Basis der Gesellschaft und den politischen und rechtlichen Institutionen sowie ihrer Philosophie, Kunst, Religion usw. eine wechselseitige Abhängigkeit. Nach der Marxistischen Theorie werden letztere - der ideologische Überbau' - von der ökonomischen Basis bestimmt. Aber Marx und Engels haben nicht gezeigt - was übrigens Engels ausdrücklich zugab -, wie die ökonomische Basis in den ideologischen Überbau übersetzt wird" (Fromm 1962, p. 85). Diese Lücke will Fromm mittels des Charakterbegriffs schließen. D. h. der Charakterbegriff dient bei Fromm als eine jener Bezugsgrößen, mittels welcher die Vermittlung zwischen ökonomischer Basis und ideologischem Überbau analysiert wird. Dabei gewinnt die Charakterstruktur freilich erst dann über den Einzelmenschen hinaus an Bedeutung, „wenn sich nachweisen läßt, daß auch ganze Völker und Gesellschaften oder Klassen innerhalb einer Gesellschaft eine Charakterstruktur besitzen, die für sie charakteristisch ist, auch wenn die einzelnen Individuen sich auf vielfaltige Weise voneinander unterscheiden, und es auch eine Anzahl von Menschen darunter geben wird, deren Charakterstrukturen überhaupt nicht in die umfassende Struktur der Gesamtgruppe hineinpassen" (p. 89). Diese für eine Gesellschaft typische Orientierungsweise nennt Fromm den „Gesellschaftscharakter" und weist darauf hin, daß der Gesellschaftscharakter nicht statisch verstanden werden dürfe, „so als ob er die Gesamtsumme der bei der Mehrheit der Menschen in einer bestimmten Kultur anzutreffenden Charakterzüge darstellte. Er wird nur richtig verstanden, wenn er hinsichtlich seiner Funktion verstanden wird" (p. 89). Zur Bestimmung der Funktion des Gesellschaftscharakters geht Fromm (1949, p. 210) davon aus, daß Aufbau und Handlungsweise einer Gesellschaft durch eine Anzahl objektiver Gegebenheiten notwendig werden. „Solche Bedingungen sind die Produktionsweise und die Güterverteilung, welche ihrerseits von den Rohmaterialien und Herstellungstechniken, vom Klima usw. abhängen, sowie von politischen und geographischen Faktoren und kulturellen Traditionen und Einflüssen, denen die Gesellschaft ausgesetzt ist.

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Es gibt keine Gesellschaft' als solche, sondern nur bestimmte Gesellschaftsstrukturen . . . Obgleich diese Gesellschaftsstrukturen im Lauf der Geschichte sich ändern, sind sie während eines bestimmten geschichtlichen Zeitabschnitts doch relativ beständig, und eine Gesellschaft kann nur bestehen, insofern sie sich innerhalb des Rahmens dieser bestimmten Struktur b e w e g t . . . Die Aufgabe des Gesellschafts-Charakters besteht darin, die Energien der Mitglieder der Gesellschaft so zu formen, daß ihr Verhalten nicht mehr einer bewußten Entscheidung bedarf, ob sie sich dem Sozialgefüge einordnen sollen oder nicht; daß die Menschen vielmehr so handeln wollen, wie sie handeln müssen, und daß sie gleichzeitig darin eine Genugtuung f i n d e n . . . Der GesellschaftsCharakter formt die menschliche Energie so, daß sie das reibungslose Funktionieren einer gegebenen Gesellschaft garantiert".

Vergegenwärtigen wir uns, daß der Gesellschaftscharakter aber nicht nur „die Energien der Mitglieder der Gesellschaft" in einer bestimmten Weise formt, sondern daß er dies tut, indem er eine bestimmte, für die Gesellschaft typische Art und Weise darstellt, wie sich Menschen in ihrem Leben orientieren, wie sich die objektiven (sozialen) Gegebenheiten zu gemeinsam geteilter subjektiver Realität konstituieren, so wird deutlich, daß der Gesellschaftscharakter nicht nur eine derart gesellschaftsstabilisierende Funktion besitzt. Er ist - indem er überhaupt erst gemeinsame soziale Realität schafft - konstitutiv für Gesellschaft schlechthin. Daß der Gesellschaftscharakter nur hinsichtlich seiner Funktion richtig verstanden werden kann, bedeutet, daß auch die empirische Analyse des Gesellschaftscharakters nicht auf jener bloß deskriptiven Ebene stehenbleiben kann, auf der die für eine Gesellschaft typischen Lebensorientierungen dargestellt werden, sondern daß gleichzeitig auf einer funktionalen Ebene aufzuweisen ist, wie diese Orientierungen der Aufrechterhaltung der Gesellschaftsstruktur und der innerhalb einer Gesellschaft bestehenden Herrschaftsverhältnisse dienen, d.h. insbesondere, wie das Milieu der Gesellschaft unter diesen Orientierungen in jene soziale Situation transformiert wird, in der die gegebene Gesellschaftsstruktur unter ihren objektiven Bedingungen als notwendig und diese Bedingungen ihrerseits als unverrückbar erscheinen. Oder anders ausgedrückt: es ist aufzuweisen, wie die zum Gesellschaftscharakter gehörigen Orientierungen die Struktur der Gesellschaft in der Identität ihrer Mitglieder verankert. 8 Und es ist auf einer strukturellen Ebene empirisch aufzuweisen, mittels welcher Mechanismen die Funktionsweise dieser Orientierungen gesellschaftlich hergestellt und aufrechterhalten wird. Für die Analyse des Gesellschaftscharakters auf dieser dritten Ebene ist der von Leithäuser (1978) geprägte Begriff des Alltagsbewußtseins von maßgeblicher Bedeutung, mit dem der gegenwärtigen Form der Vergesellschaftung des Bewußtseins Rechnung getragen werden soll. In seiner Theorie des Alltagsbewußtseins geht Leithäu-

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ser davon aus, daß die unmittelbaren Lebenszusammenhänge des Menschen durch die Vergesellschaftung von ihrer traditionalen Herkunft getrennt und dem Verwertungsinteresse des Kapitals fungibel gemacht werden. Das Verwertungsinteresse paßt sich an die wirklichen Bedürfnisse an, modelt sie aber gleichzeitig um, um sie in seine abstrakte Systematik einzupassen. Die Vergesellschaftung produziert einen permanenten Regressionsdruck in allen Lebensbereichen, durch welchen Übertragungsvorgänge erzeugt und verstärkt werden, mittels welcher die Individuen ihre Wahrnehmungen und Interpretationen von einer sozialen Situation zu anderen verknüpfen. Die Gesellschaft hat sich Institutionen geschaffen, die diese Ubertragungsvorgänge unterstützen und erleichtern, gleichsam Übertragungsangebote bereitstellen. Unter dem Einfluß der Bewußtseinsindustrie kommt es zu einer Aufspaltung des Bewußtseins in ein alltagspraktisches, erfahrungsgebundenes Bewußtsein und ein industriell vororganisiertes Bewußtsein, bei dem sich Meinungen nicht in der bewußten Auseinandersetzung mit erkennbaren Sachverhalten bilden, sondern die öffentlich dargebotenen Symbole korrespondieren mit unbewußten, dem Einzelnen in ihrer Mechanik verborgenen Prozessen. Innerhalb des Alltagsbewußtseins sind derart zwei Bewußtseinsmodi unterscheidbar, von denen der eine sozialisationsbedingt ist und auf Einsichten in die eigene Lebensgeschichte, auf einer (wie auch immer beschränkten) Reflexionsfahigkeit beruht, während der andere von den Medien vorgefertigt, gleichsam industriell produziert, ohne große individuelle Modifikationen und Erfahrungskumulation internalisiert wird. Die beiden Bewußtseinsmodi lagern nicht abstrakt nebeneinander (mit jeweils Dominanzen des einen über den anderen), sondern bestimmen sich wechselseitig, desgleichen auch die Sozialisationsagenturen, so daß eine Aufgliederung der Sozialisation in (aufeinanderfolgende) primäre und sekundäre Sozialisation schwierig wird. Deshalb kann auch nicht mehr davon ausgegangen werden, daß nur die Familie der Ort ist, an dem die uns interessierenden Orientierungen der Individuen hergestellt werden. Die Entwicklung der Bewußtseinsindustrie verschärft diese Verwischung der Grenzen zwischen den Sozialisationsphasen noch, indem die Massenmedien einerseits den Einfluß der traditionellen Sozialisationsagenturen zurückdrängen, aber zugleich jene Tendenzen verstärken, die regressiv an die Familienstruktur binden. Die Funktionsweise des Alltagsbewußtseins ist durch Übertragungsprozesse geprägt, d.h. durch den bloß wiederholenden, auf Assimilation gerichteten Gebrauch von das Alltagsbewußtsein strukturierenden und die soziale Situation organisierenden Regeln angesichts fremder und neuer sozialer Situationen. Dadurch werden kumulative

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Prozesse, bei denen sich das Bewußtsein Stufe um Stufe mit Erfahrungen und Wissen anreichert, abgewehrt und auf nicht-kumulative Prozesse der einfachen Reproduktion reduziert. Die Übertragungsregeln (Abwehrregeln, Reduktionsregeln und Thematisierungsregeln) dienen der Aufrechterhaltung des durch Thema und Horizont gegliederten Bewußtseinsfeldes, des „Thema-Horizont-Schemas". Unter dem Horizont des Alltagsbewußtseins versteht Leithäuser den Gesichtskreis, der all das umfaßt und umschließt, was von einem Punkt aus sichtbar ist, d. h. thematisch werden, einer bewußten Verarbeitung zugänglich gemacht werden kann. Das Alltagsbewußtsein erschließt sich keine neuen Horizonte. Aber auch nicht alles innerhalb des Horizonts des Alltagsbewußtseins kann zum relevanten Thema werden: Der Routinebereich des Alltagsbewußtseins ist nicht innerhalb des Horizonts des Alltagsbewußtseins thematisierbar. Aufgrund seiner internalisierten „Plausibilitätsstruktur" (Berger & Luckmann 1969) kann das Routinewissen nicht zur Sprache gebracht werden. Die Sinndeutungen, die im Rahmen des Thema-Horizont-Schemas die Orientierung der Individuen herstellen und aufrechterhalten, sind zwar potentiell kommunizierbar und thematisierbar, ihre Thematisierungschance wird jedoch durch internalisierte „Intersubjektivität" minimiert, d.h. durch die internalisierte Unterstellung gegenseitigen Verstehens. Intersubjektivität ist die Instanz der Vergesellschaftung des Bewußtseins. Sie ist Resultat gesellschaftlicher Anpassungsprozesse, die sie zugleich garantieren muß, und wird durch Abwehr verteidigt, die den Horizont des Alltagsbewußtseins abdichtet; insbesondere durch Harmonisierung, d. h. durch die Schwächung der Thematisierungschance eines Konfliktes; durch Nivellierung, d. h. durch Löschung der Thematisierungschance; oder durch Exterritorialisierung, d.h. durch Verlagerung des Konfliktes außerhalb des Thema-Horizont-Schemas. Intersubjektivität konstituiert sich im Medium der Sprache und wird aufrechterhalten durch Gelegenheitsausdrücke, d.h. Wortausdrücke, bei denen der Sinn, den eine besondere Gelegenheit ihnen aufdrückt, ihren üblichen (sachlichen) Sinn dominiert; durch die „eigentümliche Vagheit", einen Überschuß an Bedeutungen im Alltagsdiskurs, der nicht aufzuheben ist und in der Interaktion immer mitgedacht werden muß; sowie durch die Unterstellung von Sinnübereinstimmung, aufgrund welcher in alltäglicher Kommunikation ein Sprecher erwarten kann, daß der von ihm intendierte Sinn von den Angesprochenen in der gleichen Weise aufgefaßt wird, wie er gemeint war. Garfinkel (1973, p. 208) schreibt dazu: „Abweichungen von der allgemein üblichen Praxis, Gelegenheitsausdrücke zu benutzen, die unausweichliche Vagheit hinzunehmen sowie Sinneinverständnis zu beanspruchen (und zu unterstellen), rufen unmittelbare Versuche

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hervor, diese allgemein übliche Praxis als einen erwünschten Zustand der Dinge wieder herzustellen". Nach Leithäuser & Volmerg (1977, p. 58) beschreiben solche Versuche „noch einmal die Intention des Alltagsbewußtseins, seinen Horizont mit der der sozialen Situation möglichst deckungsgleich zu halten". Das Alltagsbewußtsein möchte reibungslosen Verkehr und Verlauf der sozialen Situationen sicherstellen, den status quo bewahren, beim Vertrauten und Bekannten bleiben, jede qualitative U m f o r m u n g des Thema-HorizontSchemas vermeiden, indem es das Unbekannte auf das scheinbar Bekannte reduziert. Zu diesem Zweck funktionalisiert die Abwehr auch die Thematisierung selbst und stellt sie in ihren Dienst, indem sie nur geschwächte oder verdrehte Thematisierung zuläßt, die Thematisierung auf andere Konfliktzonen innerhalb des ThemaHorizont-Schemas verschiebt, oder sie außerhalb des Horizonts verlagert. Für die empirische Analyse des Übertragungsvorganges ergeben sich derart drei Fragestellungen: 1. Wie wird ein Thema thematisiert? Die Antwort erhalten wir durch Explikation der Thematisierungsregeln. 2. Wie wird ein Thema modifiziert? Hier ist die Antwort die Explikation der Reduktionsregeln. 3. Welche Funktion hat eine Thematisierung? Hier folgt die Explikation der Abwehrregeln. Besondere Bedeutung gewinnt das Konzept des Alltagsbewußtseins bei der strukturellen Analyse des Gesellschaftscharakters unter den Bedingungen des Kulturkonfliktes, d.h. dann, wenn sich innerhalb einer Gesellschaft Ansätze zu einem potentiell kulturrevolutionären Orientierungswandel entwickeln. Bereits Fromm (1949) hatte darauf hingewiesen, daß der Gesellschaftscharakter zwar grundsätzlich gesellschaftsstabilisierende Funktion besitzt. Ändern sich jedoch die äußeren Bedingungen so, daß sie nicht mehr zu dem herkömmlichen Gesellschaftscharakter passen, und die ihm entsprechende Gesellschaftsordnung grundlegende Bedürfnisse der Menschen - in einer wie auch immer transformierten Form - nicht mehr erfüllen kann, so wird er zu einem Element der Zersetzung. In welcher Weise dies geschieht, kann anhand der Übertragungsvorgänge des Alltagsbewußtseins näher analysiert werden. Wenn eine Gesellschaftsordnung grundlegende Bedürfnisse der Menschen vernachlässigt, so werden die Mitglieder dieser Gesellschaft erwartbarerweise versuchen, die Gesellschaftsordnung zu ändern. Dagegen versucht sich der Gesellschaftscharakter so lange als irgend möglich zu schützen, indem eine Thematisierung der Bedürfnisdefizite nicht oder nur verzerrt zugelassen wird, bzw. durch eine Verzerrung der Thematisierung von auf die defizitären Bedürfnisse gerichteten Orientierungen, z.B. indem sich die neuen Orientierungen ein Praxisfeld suchen, in dem sie kompensatorisch verfolgt werden kön-

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nen, während der Gesamtzusammenhang des Handelns und Erlebens im traditionellen Gesellschaftscharakter verhaftet bleibt. Während der erste dieser Mechanismen der Abwehr eines drohenden Kulturkonfliktes dient, versucht der Gesellschaftscharakter mittels des anderen der beschriebenen Mechanismen, potentiell kulturrevolutionäre Orientierungsänderungen zu transformieren und für sich zu vereinnahmen. Während sich ein Kulturkonflikt durchaus noch im Medium des Alltagsbewußtseins artikulieren kann, setzen kulturrevolutionäre Orientierungsänderungen voraus, daß der Horizont des Alltagsbewußtseins gesprengt wird. Wo sich kulturrevolutionäre Orientierungsänderungen - jedenfalls bei einer Teilgruppe innerhalb einer Gesellschaft - durchzusetzen beginnen, verhindern die Übertragungsmechanismen des Alltagsbewußtseins eine angemessene Thematisierung des Kulturkonflikts. Stattdessen werden Übertragungsangebote bereitgestellt, die die Mitglieder der Gesellschaft noch stärker an den traditionellen Gesellschaftscharakter binden sollen. Mit der verzerrten Thematisierung des Kulturkonfliktes wird auf die potentiell kulturrevolutionären Orientierungen erneut ein Transformationsdruck ausgeübt. Indem sie sich nur in einem verdrehten Kontext artikulieren können, wird ihre Thematisierung verzerrt, und sie laufen Gefahr, doch noch vom traditionellen Gesellschaftscharakter vereinnahmt zu werden und/oder in eine bloße - und bloß punktuelle - Gegenposition zu diesem abzugleiten. 4. Traditionelles

und interpretatives

Paradigma

Unser empirisches Interesse gilt den Lebensorientierungen von Menschen in ihrer gesellschaftlichen Vermitteltheit. Wegen der Implizitheit von Lebensorientierungen ist ihre empirische Analyse notwendigerweise interpretativ. Und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens können Lebensorientierungen nur mittels eines Interpretationsprozesses aus der subjektiven Realität erschlossen werden, welche sie konstituieren, und zweitens erfordert schon die Erfassung subjektiver Realität, d.h. die Erfassung der Bedeutungen, welche die Dinge für einen Menschen haben, einen Interpretationsprozeß. Taylor (1971) hat darauf hingewiesen, daß unser Verständnis der Worte, mittels welcher wir Bedeutungen erschließen können, sich unausweichlich in einem hermeneutischen Zirkel bewegt und notwendigerweise kontextabhängig ist. „Our actions are ordinarily characterized by the purpose sought and explained by desires, feelings, emotions. But the language by which we describe our goals, feelings, desires is also a definition of the meaning things have for us. The vocabulary defining meaning - words like 'terrifying', 'attractive', - is linked with that describing feeling - 'fear', 'desire' - and that describing goals - 'safety', 'possession'... An emotion term like 'shame', for instance, essentially refers us

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to a certain kind of situation, the 'shameful', or 'humiliating', and a certain mode of response, that of hiding oneself, of covering up, or else 'wiping out' the blot. That is, it is essential to this feeling being identified as shame that it be related to this situation and give rise to this type of disposition. But this situation in its turn can only be identified in relation to the feeling which it provokes; and the disposition is to a goal which can similarly not be understood without reference to the feelings experienced: the 'hiding' in question is one which will cover up with my shame; it is not the same as hiding from an armed pursuer; we can only understand, what is meant by 'hiding' here if we understand what kind of feeling and situation is being talked about. We have to be within the circle. An emotion term like 'shame' can only be explained by reference to other concepts which in turn cannot be understood without reference to shame. To understand these concepts we have to be in a certain experience, we have to understand a certain language, not just of words, but also a certain language of mutual action and communication, by which we blame, exhort, admire, esteem each other. In the end we are in on this because we grow up in the ambit of certain common meanings. But we can often experience what it is like to be on the outside when we encounter the feeling, action and experiential meaning language of other civilization" (p. 34-35). W ä h r e n d die Kulturanthropologie durch d e n drastischen W e c h s e l des kulturellen Hintergrundes seit jeher für die Andersartigkeit ihrer Forschungssubjekte sensibilisiert war (vgl. H o f f m a n n - R i e m 1980), fiel e s der P s y c h o l o g i e m a n g e l s entsprechender Erfahrungen vergleichsw e i s e leichter, in j e n e r alltagsweltlichen Einstellung internalisierter Intersubjektivität z u verharren, in der die D i n g e „in m e i n e r U m w e l t und der m e i n e r M i t m e n s c h e n für u n s die g l e i c h e n sind und grundsätzlich die gleiche B e d e u t u n g haben" (Schütz & L u c k m a n n 1979, p. 27). Solange die Regelhaftigkeit einer H a n d l u n g derart als kontextunabhängig feststellbar gilt (vgl. W i l s o n 1973), verhilft der Rückgriff auf ein (vermeintlich) g e m e i n s a m e s Wertsystem als nicht weiter thematisierter Interpretationsrahmen zur b e d e u t u n g s m ä ß i g e n „Feststellung" empirischer D a t e n . Z w e i f e l an dieser Feststellbarkeit markieren den A u s g a n g s p u n k t der interpretativen Sozialforschung u n d z i e h e n w e i t r e i c h e n d e m e t h o d o l o g i s c h e K o n s e q u e n z e n nach sich: „Verhaltensweisen lassen sich in dieser Konzeption von gesellschaftlicher Wirklichkeit zwar raum-zeitlich exakt erfassen . . . Ihre Bedeutungskomponente entzieht sich jedoch dem objektivierenden Zugriff: Die Bedeutung einer sprachlichen Äußerung zum Beispjel ist indexikal" (vgl. Garfinkel & Sacks 1973), „d. h. sie ist an den Kontext der Äußerung, etwa an die Intention von Sprecher und Hörer und deren Beziehung zueinander, wie an einen Index gebunden und losgelöst von diesem Kontext nicht faßbar. Da eine Äußerung nach Garfinkel nicht von ihrer Indexikalität,geheilt' werden kann, ohne daß ihr Sinn verfehlt wird, kann Sozialforschung die soziale Wirklichkeit auf ihrer ,empirischen' Ebene nur geleitet durch das Prinzip der Offenheit aufnehmen: Die aktuelle Konstitution von Bedeutung ist an die Kommunikationssituation gebunden, auch an die Kommunikationssituation des Forschungshandelns, und es gilt abzuwarten, wie sich Bedeutungszuschreibungen kontextabhängig herausbilden" (Hoffmann-Riem 1980, p. 344).

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Die theoretische Strukturierung des Forschungsgegenstandes m u ß zurückgestellt werden, bis sich die Strukturierung des Forschungsgegenstandes durch die Forschungssubjekte herausgebildet hat. Dieser Verzicht auf eine „Hypothesenbildung ex ante" (Hoffmann-Riem) betrifft freilich nur die Vorwegnahme empirischer Wirklichkeit qua empirische Allaussagen, wie sie im deduktiv-nomologischen Erklärungsmodell getroffen wird. Auch interpretative Sozialforschung kann nicht theoriefrei getrieben werden, soll sie nachprüfbaren Kriterien für die Sicherung sozialwissenschaftlicher Erkenntnis gerecht werden. Blumer (1973, p. 121) hat daraufhingewiesen, daß „kein Theoretisieren, wie geistreich es auch sein mag, und keine Beachtung des wissenschaftlichen Programms, wie peinlich genau sie auch sein mag" ein „Ersatz für die Entwicklung einer Vertrautheit mit dem" sind, „was tatsächlich in dem zu untersuchenden Lebensbereich vor sich geht". Gleichzeitig m u ß aber auch in Rechnung gestellt werden, daß mensch die empirische Welt immer nur durch ein Schema oder eine Vorstellung von ihr wahrnehmen kann. „Die gesamte wissenschaftliche Untersuchung ist nach dem ihr zugrundeliegenden Bild der empirischen Welt ausgerichtet und von ihm gestaltet. Dieses Bild legt die Auswahl und Formulierung von Problemen fest, die Bestimmung der Dinge, die als Daten betrachtet werden, die für die Sammlung der Daten benutzten Mittel, die zwischen den Daten gesuchten Arten der Beziehungen und die Formen, in denen Vorschläge gemacht werden" (Blumer 1973, p. 105). Dies ist das Spannungsfeld, in dem sich interpretative Sozialforschung notwendigerweise bewegt, und das die von Blumer getroffene Unterscheidung zwischen Exploration und Inspektion bedingt. „Die explorative Erforschung des menschlichen Zusammenlebens ist das Mittel, um gleichzeitig zwei sich ergänzende und miteinander verbundene Ziele zu erreichen. Einerseits ist sie der Weg, über den ein Forscher eine enge und umfassende Bekanntschaft mit einem Bereich des sozialen Lebens herstellen kann, der ihm nicht vertraut und daher unbekannt war. Andererseits ist sie das Mittel, um seine Untersuchung zu entwerfen und zu verbessern, so daß seine Probleme, seine Untersuchungsausrichtung, seine Daten, seine analytischen Beziehungen und seine Interpretationen aus dem zu untersuchenden empirischen Leben hervorgehen und in ihm begründet bleiben" (Blumer 1973, p. 122)

Explorative Forschung ist daher notwendigerweise eine flexible Vorgehensweise, die noch nicht so strengen methodischen Kriterien gerecht werden kann, wie sie an die Inspektion anzulegen sind. Da eine ausgearbeitete Interpretationsfolie noch nicht verfügbar ist bzw. erst im Verlaufe der Exploration entwickelt wird, stellt die Exploration besondere Anforderungen an die Bereitschaft des Forschers, die seinen Sinndeutungen impliziten Prämissen zu reflektieren, wodurch

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zugleich auch Selbsterfahrungsprozesse auf Seiten des Forschers impliziert werden. Schon deshalb kann interpretative Sozialforschung nicht mit derselben Distanz zum Forschungsgegenstand betrieben werden, die das traditionelle Paradigma aufrechtzuerhalten sucht. Die Lebenswelt eines anderen wird für mich nur nachvollziehbar, wenn ich zugleich Klarheit über meine eigene Lebenswelt gewinne. Denn: Anerkennung und Verständnis fremder Subjektivität ist mir nur in dem Maße möglich, in dem ich eben meine eigene Subjektivität als solche erkenne" (Kempf 1983b, p. 17). Während die Exploration weitgehend deskriptiv bleibt, geht die Inspektion darüber hinaus: „Die direkte Prüfung der empirischen Welt ist nicht auf die Erstellung umfassender und vertrauter Darstellungen des Geschehens begrenzt. Sie sollte auch die Analyse beinhalten. Der Forscher, der eine direkte Prüfung vornimmt, sollte daraufhinzielen, sein Problem in eine theoretische Form zu gießen, die allgemeinen Beziehungen aufzudecken, die situationsspezifischen Bezüge seiner Konzepte zu schärfen und theoretische Entwürfe zu formulieren. Solch eine Analyse ist das eigentliche Ziel der empirischen Wissenschaft, wie sie sich von der Bereitstellung rein deskriptiver Darstellungen unterscheidet" (Blumer 1973, p. 125).

Die dazu erforderlichen theoretischen Sätze haben jedoch nicht den Status von empirischen Allgemeinaussagen, sondern sie haben den Status von methodischen Prinzipien, unter denen das Typische empirisch aufweisbar wird. In diesem Sinne sind etwa die im vorangegangenen Abschnitt skizzierten Übertragungsprozesse, welche die Funktionsweise des Alltagsbewußtseins prägen, nicht so zu verstehen, daß damit unterstellt würde, daß unser Bewußtsein ganz allgemein nach solchen Mechanismen funktioniert (was eine ziemlich unsinnige Unterstellung wäre), sondern diese Übertragungsprozesse definieren erst, was unter einer „alltagsweltlichen Einstellung" gemeint ist, in der eben unser Bewußtsein durch solche Mechanismen dominiert ist und damit überhaupt erst zu dem wird, was Leithäuser als „Alltagsbewußtsein" bezeichnet. Daraus folgt, daß auch die erst noch zu formulierenden Kriterien für die Sicherung sozialwissenschaftlicher Erkenntnis im Rahmen des interpretativen Paradigmas einen anderen Status haben müssen als die Kriterien zur Sicherung der „objektiven Erkenntnis" im R a h m e n des traditionellen Paradigmas. Sie sind nicht als Anleitungen zum Testen von Hypothesen, sondern als Anleitungen zur Interpretation zu verstehen. Wie die Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (1973, p. 43) hervorhebt, wurde innerhalb des interpretativen Paradigmas dem Problem der Kontrolle der Interpretationen des Forschers lange Zeit nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. „So kann es sicherlich nicht genügen anzunehmen, der Forscher werde nach einer gewissen Zeit des Zusammenlebens mit der untersuchten Gruppe,gültige Interpre-

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tationen' erbringen, die mit denen der Handelnden übereinstimmen es müssen auch Regeln entwickelt werden, nach denen eine Überprüfung dieser Interpretationen durch andere Forscher ermöglicht wird, und es müssen des weiteren Regeln für den Wechsel zwischen Innenperspektive und äußerer Analyse angegeben werden". Leithäuser & Volmerg (1977) haben in Analogie zu dem von Mertens (1975) aufgestellten Schema zur „Sicherung objektiver Erkenntnis" ein Schema zur „Sicherung gültiger Interpretationen" entwickelt, an dem sowohl die Gemeinschaft als auch die Unterschiedlichkeit der Gütekriterien deutlich wird, welche an sozialwissenschaftliche Erkenntnis im traditionellen Paradigma und im interpretativen Paradigma anzulegen sind (vgl. Abb. 1). Traditionelles Paradigma wissenschaftsth. Forderungen

methodische KorrespondenzKriterien

wissenschaftsth. Forderungen Interpretatives Paradigma

Kriterien zur Kennzeichnung objektiver Erkenntnis

Realitätsgehalt

externe Validität

Realitätsgehalt

\

Kriterien zur Ermöglichung objektiver Erkenntnis

SituationsUnabhängigkeit

Intersubjektivität

Reproduzierbarkeit

Standardisierbarkeit

Nachvollzieh barkeit

Festst. d. Strukturübereinstimmung

Meßbarkeit

interne Validität

Kontextabhängigkeit

Kriterien zur Kennzeichnung gültiger Interpretationen

Konsens über Stimmigkeit der . Ipterpr.

Intersubjektivität

Kriterien zur Ermöglichung gültiger Interpretationen

Abb. 1: Kriterien für die Sicherung sozialwissenschaftlicher Erkenntnis im traditionellen und im interpretativen Paradigma (nach Leithäuser & Volmerg 1977)

Während die wissenschaftstheoretischen Forderungen nach Realitätshaltigkeit und Intersubjektivität von beiden Paradigmen geteilt werden, ist die - im traditionellen Paradigma von den Naturwissenschaften übernommene - Forderung nach Situationsunabhängigkeit wegen der Indexikalität seines Forschungsgegenstandes (Garfinkel)

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im interpretativen Paradigma durch die Forderung nach Kontextabhängigkeit ersetzt. Dies bedeutet, daß interne Validität interpretativer Sozialforschung einerseits die gelungene praktische Teilhabe des Forschers an den mehr oder weniger impliziten Regulationen der sozialen Situationen erfordert, die untersucht werden sollen. Analog zu Lorenzers (1974) Unterscheidungen der psychoanalytischen Erkenntnis bezeichnen Leithäuser & Volmerg (1977) die praktische Teilhabe des Forschers an und in der betroffenen sozialen Situation als „hermeneutisches Feld I". „Je korrekter und intensiver dem Forscher die praktische Teilhabe gelingt, umso besser erfüllt er das zugeordnete methodische Kriterium der internen Validität' der engen Verknüpfung seiner wissenschaftlichen Erfahrung mit den Gegebenheiten des Untersuchungsfeldes" (p. 131). Zugleich kann die interne Validität interpretativer Sozialforschung aber nur über die Konstruktion eines „hermeneutischen Feldes II" sichergestellt werden, denn man kann den Interpretationen und Berichten der Forscher aus dem hermeneutischen Feld I nicht einfach Glauben schenken: „Sie müssen nachvollziehbar, ihre Gültigkeit muß überprüfbar sein . . . - nicht als eines Forschungsinstrumentes, sondern im Sinne einer Kontrolle der gelungenen praktischen Teilhabe in sozialen Situationen. Im ,hermeneutischen Feld II' gelten andere Regeln als im ,hermeneutischen Feld I'. Während in diesem nur praktische Teilhabe, das Sich-Ausrichten auf und Sich-Anpassen an implizite (meist implizite) Regelsysteme, Verregelung möglich ist, die es nachträglich zu explizieren gilt, dominiert im,hermeneutischen Feld II' von vorneherein die Nötigung zur Explikation der Regeln" (Leithäuser & Volmerg 1977, p. 131-132).

Im hermeneutischen Feld II ist über die Regelexplikation die Intersubjektivität der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis herzustellen, wofür die - auf „Bedingungskontrolle" (für psychologische Experimente) ausgerichteten - methodischen Korrespondenzkriterien für die Intersubjektivitätsgarantie im traditionellen Paradigma - Reproduzierbarkeit, Standardisierbarkeit und Meßbarkeit - jedoch nicht einfach übernommen werden können. An ihre Stelle treten Nachvollziehbarkeit, Feststellung der Strukturübereinstimmung und Konsensbildung über die Stimmigkeit der Interpretation in der gleichen Rangfolge. Ihr Status muß freilich in jedem neuen Forschungszusammenhang in einem jeweils neuen hermeneutischen Feld II neu konstituiert werden. Nachvollziehbarkeit, Feststellung der Strukturübereinstimmung und Konsensbildung über die Stimmigkeit der Interpretationen sind Kriterien, über die sich die beteiligten Forscher in jedem Falle neu zu einigen haben, und keine Verfahrensanleitung. 9 Der Unterscheidung zwischen den hermeneutischen Feldern I und II entsprechend, wird vom Forscher die Anwendung zweier Perspektiven verlangt, einer „Innenperspektive", wie es die Arbeitsgruppe

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Bielefelder Soziologen ausdrückt, und einer „äußeren Perspektive". Die „Innenperspektive" zielt auf die zu untersuchende Interaktionspraxis der sozialen Situation und betrifft die praktische Teilhabe des Forschers. 10 Die „äußere Perspektive" zielt auf die Regeln der Regelexplikation, „also auf die Interaktionspraxis der Forschergruppe im ,hermeneutischen Feld II', an der der Feldforscher teilnimmt" (Leithäuser & Volmerg 1977, p. 134). 5. Narratives

Interview und partnerzentriertes

Gespräch

Dem zugrundeliegenden Theorieverständnis entsprechend, steht im traditionellen Paradigma der Bestätigungsgrad empirischer Hypothesen im Vordergrund des methodischen Kontrollinteresses. Dies hat zur Folge, daß die methodischen Korrespondenzkriterien der Intersubjektivität hauptsächlich durch die Forderung nach interner Validität geprägt sind, während die externe Validität - da sich Bestätigungsgrad empirischer Hypothesen und Strukturübereinstimmung zwischen Forschungssituation und Alltags- bzw. Anwendungssituation gegenseitig ausspielen 11 - allenfalls nachträglich und bloß korrelativ festgestellt werden kann. Im interpretativen Paradigma ist der Gegensatz zwischen externer und interner Validität dagegen nicht so kraß, wenngleich die Forderung nach methodischer Kontrolle empirischer Forschung auch hier immer noch in einem Spannungsverhältnis zur Realitätshaltigkeit der Erhebungssituation steht. Dies hat zur Folge, daß die Methoden der Datenerhebung im interpretativen Paradigma nicht schematisch gewählt werden können, sondern im Hinblick auf die jeweilige Fragestellung und im Hinblick auf die anvisierte Analyseebene jeweils neu zu bestimmen sind. In diesem Sinne können z.B. Leithäuser & Volmerg (1977) davon ausgehen, daß für die empirische Analyse der Übertragungsprozesse des Alltagsbewußtseins die Realitätshaltigkeit der Erhebungssituation erfüllt ist, sofern sich eine gewisse Dichte von Vermittlungen gesellschaftlicher Strukturen und die häufige Wiederholung der Situation aufweisen lassen, d. h. wenn die Erhebungssituation in wesentlichen Strukturmerkmalen mit der typischen Alltagssituation übereinstimmt. Bei der empirischen Analyse des Gesellschaftscharakters haben wir auf drei unterschiedlichen Analyseebenen zu operieren, die entsprechend auch eine unterschiedliche Qualität des empirischen Materials verlangen. Für die strukturelle Analyse der Mechanismen des Alltagsbewußtseins, mittels welcher die Funktionsweise der für den Gesellschaftscharakter typischen Orientierungen gesellschaftlich hergestellt und aufrechterhalten wird, haben Leithäuser et al. (1977) bereits umfassende methodologische Überlegungen angestellt, und es braucht

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darauf hier nicht näher eingegangen zu werden. Für die Analyse der Orientierungen des Gesellschaftscharakters in ihrer Funktion zur Aufrechterhaltung bestehender Herrschaftsverhältnisse erscheint es mir von besonderer Wichtigkeit, auch die von den gesellschaftlichen Institutionen unterbreiteten Übertragungsangebote mit einzubeziehen, wie ich dies in Kempf (1984, 1985) über die Analyse der Äußerungen politischer Meinungsführer zur Frage „Was heißt für dich Frieden?" und der Presseberichterstattung über die Friedensbewegung ansatzweise versucht habe. Eine methodologische Systematisierung dieser Analyseebene steht freilich noch aus und kann auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit (noch) nicht geleistet werden. Hier sollen lediglich einige methodologische Überlegungen zur deskriptiven Analyse von Lebensorientierungen angestellt werden. Dazu möchte ich zunächst in Erinnerung rufen, daß mit den Lebensorientierungen eine Orientierungsebene angesprochen ist, die nicht direkt abgefragt, sondern nur über einen eigenen Interpretationsprozeß zugänglich gemacht werden kann. Lebensorientierungen sind interpretative Kategorien, die individuelles Handeln und Erleben in einen Sinnzusammenhang stellen, indem sie jene Bedeutungen konstituieren, welche sich letztlich nur aus kontextabhängigen Handlungs- und Situationsbeschreibungen erschließen lassen. Damit ist auf eine von Schwemmer (in diesem Band) getroffene Unterscheidung verwiesen, wonach uns (mindestens) zwei grundlegend verschiedene Arten der Handlungsbeschreibung offenstehen. 12 Die eine besteht darin, die Handlung als Verwirklichung eines Tätigkeitsmusters 13 darzustellen. Die andere beschreibt eine Handlung als Teil einer Geschichte. Eine Handlungsbeschreibung, die die Bedeutung des Handelns nicht übergehen will, ist niemals bloß die Beschreibung einer isolierten Tätigkeit, sondern immer eine Gesamtbeschreibung der Handlung in ihrem Kontext, und wie Schwemmer (in diesem Band) deutlich macht, sind auch die „schlichten" schematischen Handlungsbeschreibungen keine kontextfreien Beschreibungen, sondern nur solche Beschreibungen, deren Kontext nicht reflektiert ist, und die die Handlungen meist in einen anderen Kontext rücken als der es war, in dem sie von den handelnden Personen ausgeführt worden sind. 14 Als Ausgangspunkt für die empirische Erfassung von Lebensorientierungen reichen schematische Handlungsbeschreibungen daher keinesfalls aus. Der Frage nach jenen Orientierungen, welche den Gesamtzusammenhang unseres Handelns und Erlebens herstellen, kann erst auf der Grundlage kontextbezogener Handlungsbeschreibungen nachgegangen werden, d.h. auf der Grundlage des Verständnisses jener Geschichte, die sich für das handelnde Subjekt tatsächlich abgespielt hat. 15

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Daraus folgt, daß wir einen empirischen Zugang zu den Lebensorientierungen von Menschen am ehesten über die Ausnutzung der alltagspraktischen Kompetenz des Erzählens gewinnen können, wie sie Schütze (1976,1982,1983) mit der Methode des „narrativen Interviews" für die sozialwissenschaftliche Forschung zu nutzen versucht. Im Gegensatz zum geschlossenen Interview handelt es sich dabei um ein Verfahren, das auf eine vorhergehende Strukturierung der Interviewinhalte weitgehend verzichtet. Ein Leitfaden ist zwar vorhanden, „seine Bedeutung schrumpft jedoch durch die Eigenleistung der Forschungssubjekte" (HofFmann-Riem 1980, p. 360) Durch den Verzicht auf eine vorherige Strukturierung, die den Interviewten auf vorherbestimmte Interviewinhalte festlegt, und das stattdessen intendierte „Hervorlocken von Geschichten" soll einerseits ein Maximum an Kontext geschaffen werden, um subjektive Realität interpretativ erfassen zu können, und andererseits soll erreicht werden, daß die Erzählung durch die Bedeutungshierarchie des Gesprächspartners strukturiert wird. Entsprechend empfiehlt Schütze eine Zweiteilung des Interviews in eine Haupterzählung und eine Phase des narrativen Nachfragens. „Narrative Interviews setzen zu ihrer Anwendung voraus, daß hinsichtlich des interessierenden Gegenstandsbereiches eine zentrale Eingangsfrage mit narrativer Generierungskraft formulierbar ist. Nur dort, wo ein Informant als Akteur oder Betroffener auf die Verstrickung in einen lebensgeschichtlichen oder historischen Ereigniszusammenhang (eine ,Geschichte') zurückblicken kann, ist die Formulierung eines narrativen Themas möglich" (Schütze 1982, p. 570). Die zentrale Anfangsthemenstellung hat die Funktion, eine längere Haupterzählung hervorzulocken. Die Eingangsfrage soll so gestaltet werden, daß der Forscher sein Interesse am gesamten Hintergrundzusammenhang bekundet, ohne jedoch eine allgemeine Erzählfolie in allen relevanten Aspekten vorzugeben. Gleichzeitig soll die Erzählung durch sie thematisch begrenzt werden. „Denn ansonsten kann das Problem auftauchen, daß der Erzähler den narrativen Zusammenhang (die Gesamtgestalt und den ,roten Faden' der historischen Ereignisse) nicht mehr überblickt... Zudem muß der in der Erzählung darzustellende Ereigniszusammenhang zumindest in einem Hauptereignishöhepunkt, einem Ereignis zu Beginn und einem Ereignis gegen Ende des Ereignisablaufs noch im Gedächtnis des Erzählers haften, um überhaupt die Motivation fürs Erzählen über die vorgeschlagene Thematik zu schaffen" (Schütze 1982, p. 574). Während der Haupterzählung beschränkt sich der Interviewer „strikt auf die Zuhörerrolle mit den entsprechenden erzählunterstützenden Signalen (Kopfnicken, ,hm, hm' usw.) bis der Informant durch eine eindeutige K o d a . . . zu erkennen gibt, daß nunmehr seine Erzählung abgeschlos-

P s y c h o l o g i s c h e F o r s c h u n g als B e g e g n u n g

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sen sei. Die jetzt einsetzenden Fragen des Interviewers dürfen nicht als Theorie- und Meinungsfragen formuliert sein (Fragen nach Gründen, Aufforderungen zu Meinungskundgaben usw.), sondern sollen neue narrative Sequenzen zu Darstellungsbereichen hervorlocken, die bisher nicht genügend oder überhaupt nicht ausgeführt wurden" (Schütze 1982, p. 570). Um den Erzählungsfluß so wenig wie möglich zu stören und andererseits dem Interviewer die Möglichkeit zu geben, seine eigenen thematischen Interessen in die Interviewsituation einzubringen, sollen dabei zunächst durch „immanente" Fragen Themenbereiche aufgegriffen werden, die der Informant selbst bereits angesprochen hat. Nur wenn der Informant bestimmte Punkte der Vorab-Erzählfolie gänzlich ausläßt, sollen auch „exmanente" Fragen eingebracht werden. Während Schützes Anweisungen - jedenfalls so weit - für die sozialwissenschaftliche Erzählforschung allgemeingültig sein dürften, reichen die Bestimmungen des narrativen Interviews jedoch nicht aus, um die Realitätshaltigkeit der Erhebungssituation für die Untersuchung von Lebensorientierungen zu gewährleisten. Wir werden mit dem partnerzentrierten Gespräch daher eine Methode vorschlagen, die dem narrativen Interview zwar verwandt ist, gleichzeitig jedoch wichtige Elemente der klientenzentrierten Gesprächstherapie (Rogers 1972) und der themenzentrierten Interaktion (Cohn 1976) übernimmt (vgl. Abb. 2).

Abb. 2: Stellung des partnerzentrierten Gesprächs zwischen narrativem Interview, klientenzentrierter Therapie und themenzentrierter Interaktion

Wie Hoffmann-Riem (1980, p. 347) zu Recht vermerkt hat, entscheidet sich mit dem Aufbau der Kommunikationsbeziehung, „welche Tiefenschicht der Datengewinnung erreicht wird". Die Realitätshaltigkeit einer Gesprächssituation in Hinblick auf die Lebensorien-

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tierungen eines Gesprächspartners setzt daher nicht nur voraus, daß über die Stimulation des Geschichtenerzählens auf die Gewinnung eines hinreichend kontexthaltigen Datenmaterials abgezielt wird. Die Realitätshaltigkeit kann erst gewährleistet werden, wenn der Gesprächspartner zugleich bereit ist, tatsächlich seine subjektive Realität der Dinge ein Stück weit offenzulegen und, wenn die Gesprächssituation wesentliche Strukturübereinstimmung mit typischen Alltagssituationen aufweist, die eben ein solches Offenlegen subjektiver Realität ermöglichen. Damit gewinnt die Art der Gesprächsbeziehungen zwischen dem Forscher und seinem Gesprächspartner besondere Bedeutung. Während Schütze den Gesprächspartner in erster Linie als „Informanten" sehen kann, den es gilt, in bestimmte Zugzwänge des Erzählens (Detaillierungszwang, Gestaltschließungszwang, Kondensierungszwang) zu verwickeln, und die kommunikative Aufgabe des Interviewers im Eingehen der Rolle eines „produktiv zuhörenden Erzählpartners" sieht, der seinem Gegenüber durch „erzählunterstützende Signale" sein Interesse an den Erzählungen signalisiert und seinen Einfluß auf den Interaktionsprozeß und die Entwicklung der Erzählung durch Einhalten einer Reihe von Verhaltensmaßregeln 1 6 auf ein Minimum beschränkt, wird der Forscher durch das partnerzentrierte Gespräch sowohl in seinem Selbsterfahrungsstand als auch in der Reflexion über sein Forschungsinteresse stärker gefordert. Während Schütze für das narrative Interview davon ausgehen kann, daß die Fragen des Interviewers nicht als Eindringen in die private Sphäre erlebt werden und daher Sachverhalte treffen sollen, die auch von öffentlichem Interesse sind und von daher die Erzählung rechtfertigen, können wir uns bei der empirischen Analyse von Lebensorientierungen nicht von vorneherein nur auf T h e m e n von öffentlichem Interesse beschränken. Durch die Spaltung in Inhalte „von öffentlichem Interesse" einerseits und „privaten" Inhalten andererseits wird der Zugang zu Lebensorientierungen, welche ja den Gesamtzusammenhang individuellen Handelns und Erlebens - und damit auch die Verankerung des Öffentlichen im Privaten - herstellen, abgeschnitten. Für die empirische Erfassung von Lebensorientierungen bedarf es einer Bereitschaft zur Preisgabe subjektiver Realität, die auch die Preisgabe „privater" Realität - d. h. solcher Realität, die mensch nicht gleich jedermann zu erzählen, gleichsam zu veröffentlichen bereit ist - zumindest tendenziell mit einschließt. Die alltagsweltliche Kommunikationsform, an welche wir dabei anschließen können, ist die eines vertrauensvollen Gespräches zwischen einem Erzähler und einem Zuhörer, die ein gemeinsames Interesse an dem Gespräch miteinander verbindet. Dies stellt einerseits besondere Anforderungen an die Gesprächsführung und bedeutet andererseits, daß der Gesprächspartner nicht als „Informant" funktionalisiert werden kann,

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sondern daß der Forscher mit seinen Gesprächspartnern eine soziale Beziehung eingeht, die durch ein gemeinsames Interesse an dem Forschungsthema aber zugleich auch durch ein gegenseitiges Interesse von Forscher und Gesprächspartner gekennzeichnet sein muß. Die daraus sich ergebende Notwendigkeit der Überwindung der Distanz zwischen Forscher und Forschungssubjekt hat Smedslund sehr prägnant formuliert: „If you want to study a thing, you have to move closer. Create a situation of trust, show care, respect and understanding".17 Was dem Forscher dadurch abverlangt wird, ist mehr als bloß die Entwicklung bestimmter Gesprächstechniken, damit sich sein Gegenüber z.B. „nicht ausgefragt" fühlt. Es ist die Einnahme einer bestimmten Haltung gegenüber seinem Gesprächspartner, die nicht nur einen solchen Eindruck zu vermeiden hilft, sondern die von vorneherein ausschließt, daß der andere bloß zu Forschungszwecken funktionalisiert wird. Die Vorstellung, daß das Interesse des Forschers an seinem Forschungsthema und sein Interesse an dem Gesprächspartner einander widersprechen, und daß so das Interesse am Forschungsthema notwendigerweise zur Funktionalisierung des Gesprächspartners führen muß, ist mit Sicherheit falsch. Jedenfalls dann, wenn sich das Interesse an dem Forschungsthema aus dem Interesse an den Menschen ergibt, aus dem Interesse, neue Erfahrungen mit Menschen zu machen, denen ich über ein gemeinsames Thema solidarisch verbunden bin, besteht ein solcher Widerspruch nicht. Solange das Interesse an dem Forschungsthema dagegen hauptsächlich durch z.B. akademische Qualifikationswünsche geprägt ist, ist der Widerspruch unauflösbar. Die Tendenz, andere Menschen (oft sogar in den intimsten Zweierbeziehungen) zu funktionalisieren, ist uns durch unsere Sozialisation so tief eingeprägt, daß sie nicht einfach per Beschluß abgelegt, ja ohne entsprechende Selbsterfahrungsprozesse nicht einmal in verständlicher Weise über die Möglichkeit ihrer Überwindung kommuniziert werden kann. Es ist daher auch müßig, hierüber weiter theoretisieren zu wollen. Wenn wir von der Erwartung ausgehen, daß unsere Gesprächspartner uns Vertrauen und Offenheit entgegenbringen wollen, dann müssen wir ihnen auch von unserer Seite Vertrauen und Offenheit entgegenbringen. Dazu gehört auch die Offenlegung des Interesses, welches der Forscher an dem Gespräch hat, denn nur so kann sich ein gemeinsames Interesse an dem Gespräch konstituieren. Und es gehört dazu, daß die Rollenverteilung während des Gesprächs klargemacht wird, daß das Interesse des Forschers ein Hörinteresse und das seines Gesprächspartners ein Erzählinteresse ist. Eine sich unter der Fiktion egalitärer Kommunikation (Hoffmann-Riem 1980, p. 380) allzuleicht einstellende Rollenverwischung birgt die Gefahr in sich, daß der

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Gesprächspartner Zweifel an der Offenheit des Forschers entwickelt. Darüber gewinnen die Kontaktaufnahme mit dem Gesprächspartner und die dem eigentlichen Gespräch vorangehende „small-talk-Phase" (Schütze) besondere Bedeutung. Sie sind nicht nur entscheidend für die Herstellung des Rapports zwischen dem Forscher und seinem Gesprächspartner, sondern müssen auch für die Konstitution eines gemeinsamen Interesses an dem Gespräch und für die Klärung der während des Gesprächs eingegangenen Rollenverteilung genutzt werden. Deshalb ist auch die Trennung zwischen dem vorangehenden „small-talk" und der das eigentliche Gespräch eröffnenden Eingangsfrage eher künstlich. Die Eingangsfrage hat lediglich die Funktion, das Gesprächsthema nochmals auf den Punkt zu bringen. Die Bedeutung der Eingangsfrage wird durch den Kontext der bisherigen Kommunikation zwischen dem Forscher und seinem Gesprächspartner mitbestimmt und kann von diesem nicht getrennt werden. Alle quasiobjektivistischen Vorstellungen, die Eingangsfrage könnte als „narrativer Stimulus" standardisiert - und die sich anschließende Erzählung könnte als „narrative Reaktion" auf diesen Stimulus betrachtet werden, sind Restbestände einer im traditionellen Paradigma verhafteten Denkweise, die zwar nicht apodiktisch abgelehnt werden kann, gleichwohl jedoch ungeeignet ist, um die methodische Vorgehensweise interpretativer Sozialforschung angemessen zu thematisieren. Die Notwendigkeit der Formulierung einer - allerdings flexiblen - Folie für die - ggf. kontextabhängig zu modifizierende - Eingangsfrage bleibt davon jedoch unberührt. Der empirische Zugang zu den Lebensorientierungen von Menschen bleibt uns verwehrt, wenn unsere Gesprächspartner nicht bereit sind, ihre subjektive Realität der Dinge ofifenzulegen. Um ihnen dies zu ermöglichen, ist es erforderlich, daß der Forscher während des gesamten Gesprächs jene personenzentrierte Grundhaltung einnimmt und auch kommuniziert, die Rogers (1972) unter den Kategorien „einfühlendes Verstehen", „Wertschätzung und emotionale Wärme" sowie „Echtheit und Selbstkongruenz" thematisiert. Daraus lassen sich eine Reihe von Regeln ableiten, welche für die Gesprächsführung zu beachten sind, und die u.a. Tausch & Tausch (1981) ausführlich diskutieren und in eine lehrbare Form zu übersetzen versuchen. Tausch und Tausch weisen auch daraufhin, daß diese Regeln nicht als Rezepte verstanden werden können, nach denen eine personenzentrierte Haltung mechanisch „verwirklicht" werden könnte. Ich möchte auf Rogers Kategorien hier nur so weit eingehen, als es zur Abgrenzung des partnerzentrierten Gesprächs gegenüber dem narrativen Interview erforderlich ist, bzw. soweit das partnerzentrierte Gespräch als Forschungsmethode zusätzliche Konkretisierungen der Kategorien erfordert. Der empirische Zugang zu den Lebens-

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Orientierungen von Menschen setzt voraus, daß wir uns einerseits unter Einnahme einer „Innenperspektive" in den subjektiven Bezugsrahmen unserer Gesprächspartner hineinversetzen, daß wir versuchen, die Dinge seiner Bedeutungswelt so wahrzunehmen und zu erleben, wie er sie wahrnimmt und erlebt, und versuchen, seine Haltung, seine subjektiven Erfahrungen, Werte und Wahrnehmungen zu akzeptieren und anzunehmen. Andererseits haben wir uns unter Einnahme einer „äußeren Perspektive" aus dem subjektiven Bezugsrahmen unseres Gegenübers wieder zu lösen und jene Orientierungen kritisch zu hinterfragen, vermittels welcher diese subjektive Realität sich konstituiert. Dieser Perspektivenwechsel betrifft zunächst nur den Interpretationsprozeß und nicht die Gesprächsführung, die allerdings dafür ausschlaggebend ist, ob wir uns denn überhaupt die Möglichkeit eröffnen, das dafür erforderliche empirische Material zu erlangen. Um den subjektiven Bezugsrahmen unseres Gesprächspartners übernehmen zu können, ist es erforderlich, daß er uns tatsächlich erzählt, was er erlebt (hat), und nicht nur seine - bereits durch Rationalisierungen, Abstraktionen und Generalisierungen etc. bereinigten Alltagstheorien darüber. Dies hat Konsequenzen für die Art der Formulierung der Fragen im partnerzentrierten Gespräch, die Smedslund in die Regel zusammengefaßt hat: „Don't ask what goes on inside people, but ask what people go on inside of'. 1 8 Diese Regel geht parallel zu der von Schütze geforderten Vermeidung von Theorie-, Meinungs- und „warum"-Fragen im narrativen Interview, geht aber zugleich darüber hinaus, indem sie einen Weg aufzeigt, wie wir stattdessen fragen können, ζ. B. indem wir „warum"-Fragen durch „wieso"Fragen ersetzen. Statt unseren Gesprächspartner um Erklärung zu bitten, warum er diese oder jene Handlung ausgeführt, sich diese oder jene Meinung gebildet hat etc., können wir ihn danach fragen, wie es sich so ergeben hat, daß er dies getan, wie er dazu gekommen ist, oder wir können ihn auch zu solchen Erläuterungen bewegen, ohne explizit danach zu fragen, indem wir ζ. B. die Inhalte seiner Meinungsäußerungen mit einem leicht fragenden Anheben der Stimme am Satzende „spiegeln" und ihn derart implizit auffordern, sie mit mehr Kontext zu versehen.^ Um die Bereitschaft zur Preisgabe subjektiver Realität zu schaffen bzw. nicht zu zerstören, ist es darüber hinaus erforderlich, daß der Forscher bereit ist, die subjektive Realität seines Gegenübers als solche zu akzeptieren, den Gesprächspartner nicht etwa in Diskussionen verwickelt und sich mit eigenen Stellungnahmen zurückhält. Das heißt auch, daß er sich der Subjektivität seiner eigenen Realität bewußt ist. Dies bedeutet nicht, daß der Forscher - wie dies im narrativen Interview gefordert wird - seinem Gesprächspartner zu signalisieren

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hat, daß er dessen Typisierungen in einer Weise nachvollzieht, „als ob beim Austausch der Standorte ,der Zuhörer als Erzähler die Dinge' in derselben Typikalität sähe" (Hoffmann-Riem 1980, p. 359) sondern es bedeutet, daß der Forscher seinem Gegenüber zu signalisieren hat, daß es in dem Gespräch nicht um irgendeine „objektive" Realität geht, über die sich der Forscher und sein Gesprächspartner im Verlauf des Gesprächs zu einigen hätten, sondern daß lediglich die Art und Weise, wie der Gesprächspartner die Dinge sieht, von Interesse ist, daß der Forscher bereit ist, sich auf die subjektive Realität seines Gegenübers voll und ganz einzulassen. Um dies zu ermöglichen, ist es erforderlich, daß sich der Forscher schon während des Gesprächs so weit als möglich in den subjektiven Bezugsrahmen seines Gegenübers hineinversetzt, die Übernahme des Bezugsrahmens im Sinne der Regeln für die Gesprächsführung in der klientenzentrierten Therapie kommuniziert und seine Fragen nicht nur in dem Sinne „immanent" formuliert hat, als sie Themen aufgreifen, die sein Gesprächspartner bereits angesprochen hat, sondern indem er die Fragen aus dem subjektiven Bezugsrahmen des Gesprächspartners heraus entwickelt. Dabei darf man sich allerdings nicht allzu großen Illusionen darüber hingeben, wie weit die Ü b e r n a h m e des Bezugsrahmens des Gesprächspartners schon während des Gesprächs de facto gelingen kann. Es erfordert systematische Anstrengungen, jene Mechanismen des Alltagsbewußtseins zu durchkreuzen, die das Neue, welches unser Gegenüber uns erzählt (hat), vorschnell auf das - aus eigener Erfahrung, unserem theoretischen Wissen, vorangegangenen Gesprächen oder unserer sonstigen Kenntnis der Sachlage - vermeintlich Bekannte zu reduzieren. Und, die Bereitschaft, die subjektive Realität eines anderen - auch wenn man sie im Moment noch nicht ganz versteht - anzuerkennen und nachzuvollziehen, erfordert darüber hinaus eine Menge an Selbsterfahrung darüber, welchen eigenen Bedürfnissen und Ängsten diese Mechanismen entgegenkommen, aus welchen Widerständen sie geboren sind, welche Bedrohlichkeit die subjektive Realität des anderen für unser eigenes Selbstverständnis hat. 20 Für das partnerzentrierte Gespräch ergibt sich daraus, daß mit direkten Fragen vorsichtig umgegangen werden und soweit als möglich auf die Methode des Spiegeins ausgewichen werden sollte. Wo direkte Fragen unvermeidlich sind, kann durch gezielte Ausnützung der „eigentümlichen Vagheit" der Alltagskommunikation vermieden werden, daß sich der Forscher definitiv außerhalb des Bezugsrahmens seines Gesprächspartners stellt. Jedenfalls sollten ad-hoc-Interpretationen des Gehörten - etwa indem man es „auf den Punkt zu bringen" oder zusammenzufassen versucht - vermieden werden. Stattdessen sollte der Forscher versuchen, dem Erzählfluß zu folgen und

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seine Aufmerksamkeit voll und ganz auf das hier und jetzt Gesagte auszurichten, ohne schon während des Gesprächs den Gesamtzusammenhang kognitiv erfassen zu wollen. Indem wir den Erzählfluß unseres Gesprächspartners nicht durch (voreilige) Fragen unterbrechen, (vermeintlichen) Themenabweichungen folgen und Pausen aushalten, vermitteln wir ihm bezüglich der Form seiner Erzählung zugleich bereits jene „nicht an Bedingungen gebundene positive Wertschätzung" (Tausch & Tausch 1981, p. 70), die wir ihm auch bezüglich der Inhalte seiner Erzählung entgegenbringen müssen - d.h. ohne Abneigung oder Mißbilligung auszudrücken -, wollen wir die Bereitschaft zur ungeschminkten Darstellung seiner subjektiven Realität nicht im Keim ersticken. Die Forderung nach Vermittlung einer nicht an Bedingungen geknüpften positiven Wertschätzung wird durch die Unterdrückung von Kritik freilich bei weitem noch nicht erfüllt. Tausch & Tausch (1981, p. 71) weisen daraufhin, daß auch mechanische Formulierungen oder mangelndes Interesse an dem Gesagten ein Defizit an positiver Wertschätzung ausdrücken. Eben diese Gesprächshaltungen entstehen aber oft gerade dann, wenn z.B. die Äußerung von Kritik unterdrückt wird. Jede Art von „Selbstdisziplinierung" des Forschers stört die kommunikative Beziehung mit seinem Gegenüber. Aus diesem Grunde ist der Echtheit und Selbstkongruenz des Forschers der unbedingte Vorrang vor den anderen beiden Kategorien einzuräumen, welche eine personenzentrierte Gesprächshaltung ausmachen. Dies bedeutet, daß Störungen nicht unterdrückt werden dürfen. Der Forscher darf nicht versuchen, „sich nichts anmerken zu lassen", sondern muß - wie dies auch in der themenzentrierten Interaktion gefordert ist - die Störung in geeigneter Weise thematisieren. In geeigneter Weise, d.h. indem er - ohne Vorwürfe gegen seinen Gesprächspartner zu erheben - diesem mitteilt, welche Wirkungen das Gesagte - oder das sonstige Verhalten des Gesprächspartners - auf ihn hat. Ob eine solche angemessene Thematisierung von Störungen gelingen kann, hängt allerdings weniger von erlernbaren Techniken ab, als davon, ob wir unserer selbst genügend sicher sind, im Konfliktfall auf unser Gegenüber einen Schritt zugehen zu können (indem wir ihm etwas über uns mitteilen), statt uns von ihm zu distanzieren (indem wir Wertungen seiner Person oder seines Verhaltens abgeben). Diese Sicherheit kann im Grunde nur über Selbsterfahrungsprozesse erworben und durch regelmäßige Supervision aufrechterhalten werden. Wo diese Voraussetzungen fehlen und wir eine personenzentrierte Gesprächshaltung per Regelbefolgung schematisch herzustellen versuchen, verlieren wir den Anschluß an die natürliche Alltagskommunikation, verfallen in ein „therapeutisches Gehabe", und die Realitätshaltigkeit des Gesprächs wird zerstört. Aus diesem Grunde sind die

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oben formulierten Regeln nicht als Verhaltensinstruktionen für die Gesprächsführung zu verstehen, sondern als ein System von Regeln, anhand dessen wir unser kommunikatives Verhalten reflektieren und auf seine Eignung für die Gewinnung jener Art von empirischem Material beurteilen können, welches für die deskriptive Erfassung individueller Subjektivität erforderlich ist.

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Vgl. dazu z.B. das „Lehrbuch der Psychologie" von Ruch & Zimbardo (1974), das gleich auf Seite 12 dogmatisch festhält: „Die Ausgangsposition eines jeden Wissenschaftlers ist die Annahme eines auf Gesetzmäßigkeiten beruhenden Universums". Mit dem Wort „Dinge" werden hier nicht nur die belebten und unbelebten Gegenstände der Natur gemeint, sondern auch abstrakte Gegenstände wie z.B. Gesellschaft, Institutionen, Ideen, Handlungen anderer Personen usw.. Schlichtweg alles, was mensch in seiner Welt wahrzunehmen und/oder worauf er sein Handeln auszurichten vermag. Weder das Wort „Ansichten", noch das Wort „Bedeutung" soll dabei allzu rationalistisch verstanden werden. Vgl. dazu die Ausführungen zum Verhältnis von „Wahrheit" und „Wirklichkeit" in Kamiah & Lorenzen (1967) sowie bei Janich, Kambartel & Mittelstrass (1974). Holzkamp (1972) hat darauf aufmerksam gemacht, daß sich die Kriterien des Bestätigungsgrades empirischer Hypothesen und der Strukturähnlichkeit zwischen Forschungssituation und Anwendungssituation im traditionellen Paradigma gegenseitig ausspielen. Andererseits kann technische Relevanz psychologischer Forschung nur erzielt werden, wenn beide Kriterien gleichzeitig erfüllt sind. Die hier verwendeten logischen Symbole bezeichnen: „A " den Allquantor ( Λ x = „für alle x") und „ - " die Subjunktion (A • Β = „wenn A, dann B"), „ a " die Konjunktion (Α λ Β = „A und B") und „ > " die logische Implikation (Α > Β = „aus Α folgt B"). Vgl. dazu die Kritik Fromms (1949) an Kardiner, die u. a. eben darauf hinausläuft, daß die sozio-ökonomischen Faktoren bei Kardiner (ähnlich wie bei Adorno) nur als Randbedingungen der Persönlichkeitsentwicklung aufscheinen. An anderer Stelle weist Fromm (1932, p. 41) ausdrücklich daraufhin, daß Freud niemals den isolierten, aus dem sozialen Zusammenhang gelösten Menschen als Objekt der Psychologie angenommen hat. „Ist so für Freud immer nur der vergesellschaftete Mensch, der Mensch in seiner sozialen Verflochtenheit, Objekt der Psychologie, so spielen auch für i h n . . . Umwelt und Lebensbedingungen des Menschen die entscheidende Rolle für seine seelische Entwicklung wie für deren theoretisches Verständnis". Darauf aufbauend kritisiert Fromm an der Anwendung der Psychoanalyse auf gesellschaftliche Probleme, daß es ein Fehler der psychoanalytischen Autoren gewesen sei, die psychoanalytische Methode nicht mehr „in konsequenter und korrekter Weise anzuwenden, wenn sie statt über Individuen über Gesellschaften, Gruppen, Klassen, kurz über soziale Phänomene Untersuchungen anstellten" (p. 45): „Man sah zwar, daß der einzelne nur als vergesellschaftetes Wesen zu verstehen ist, man entdeckte, daß es die Beziehungen des Kindes zu den verschiedenen Mitgliedern der Familie sind, die seine Triebentwicklung so entscheidend bestimmen, aber man übersah fast vollkommen, daß die Familie ihrerseits in ihrer ganzen psychologischen und sozialen Struktur, mit den für sie spezifischen Erziehungszielen und affektiven Einstellungen, das Produkt einer bestimmten gesellschaftlichen und, im engeren Sinn, einer bestimmten Klassenstruktur ist, daß sie tatsächlich nur die psychologische

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Agentur der Gesellschaft und Klasse ist, aus der sie erwächst" (p. 43). In seinen eigenen empirischen Untersuchungen zum Gesellschaftscharakter (Fromm & Maccoby 1970, Fromm 1980) bediente sich Fromm daher - anders als Adorno - hauptsächlich des offenen Fragebogens, aber ζ. T. auch schon des Interviews (vgl. Fromm 1936). Die Antworten wurden nicht „mechanisch" ausgewertet, sondern unter Bezugnahme auf Fromms Charaktertypen und im Kontext der sozioökonomischen Situation der Befragten psychoanalytisch interpretiert. Im Gesellschaftscharakter sind jene, von den Mitgliedern einer Gesellschaft gemeinsam geteilten Selbstverständlichkeiten ihres Erlebens und Handelns niedergelegt, aufgrund derer es eben keiner bewußten Entscheidung mehr bedarf, ob sie sich an das gesellschaftliche Modell halten wollen oder nicht. Dabei sind die von Habermas geleisteten Vorarbeiten zu einer Konsenstheorie auf die Konstruktion des hermeneutischen Feldes II zu applizieren: „Die Unterscheidung des wahren und des falschen Konsensus muß in Zweifelsfällen durch Diskurs entschieden werden. Aber der Ausgang des Diskurses ist wiederum von der Erzielung eines tragfähigen Konsensus abhängig. Die Konsensustheorie der Wahrheit bringt zu Bewußtsein, daß über die Wahrheit von Aussagen nicht ohne Bezugnahme auf die Kompetenz möglicher Beurteiler, und über diese Kompetenz wiederum nicht ohne Bewertung der Wahrhaftigkeit ihrer Äußerungen, der Richtigkeit ihrer Handlungen entschieden werden kann" (Habermas 1971, p. 134). Leithäuser & Volmerg (1977, p. 133) weisen daraufhin, daß die Forschergruppen des hermeneutischen Feldes II immer wieder in diesen Zirkel geraten werden. „Er ist als philosophisches Problem nicht auflösbar; andererseits kann er, bezogen auf die empirischen Interpretationen, nicht so einschränkend und rigide formuliert werden, daß dadurch ausreichende Plausibilität der Interpretationen . . . von vorneherein ausgeschlossen wäre". Die Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen spricht hier von „Rollenübernahme". Ich selbst werde weiter unten in Anlehnung an Rogers von der „Übernahme des subjektiven Bezugsrahmens" eines Gesprächspartners sprechen. Beide Begriffe sind jedoch enger gefaßt als der Begriff der „praktischen Teilhabe" und in ihrer Anwendbarkeit an bestimmte Methoden gebunden. So weisen Leithäuser & Volmerg (1977, p. 134) daraufhin, daß der Begriff der Rollenübernahme zwar etwas für die Methode der „teilnehmenden Beobachtung" zutreffen mag, nicht immer aber für die Methode der „themenzentrierten Interaktion" und, wie Lorenzer gezeigt hat, auch nicht für das psychoanalytische Verfahren. Holzkamp (1970) hat daraufhingewiesen und davor gewarnt, daß die Strukturübereinstimmung zwischen Erhebungssituation und Anwendungssituation - und damit die technische Relevanz experimentalpsychologischer Forschung - auch auf umgekehrtem Weg hergestellt werden kann: indem man die Struktur der Alltagsrealität in höherem Maße der Struktur der experimentellen Realität angleicht. Als dritte Möglichkeit der Handlungsbeschreibung sei hier auf die Beschreibung einer Handlung durch die Unterstellung bestimmter Handlungsorientierungen verwiesen. Kamiah & Lorenzen (1967) sprechen in diesem Zusammenhang von der „Aktualisierung eines Handlungsschemas". Auch hierin kommt wieder das Bestreben des Alltagsbewußtseins zum Ausdruck, beim Vertrauten zu bleiben, das (eventuell) Neue in der sozialen Situation auf das Bekannte, aber nur vermeintlich und vage Bekannte, zu reduzieren. Daß die Struktur unserer Sprache solche Möglichkeiten eröffnet, stellt zugleich die Grundlage für den in der traditionellen empirischen Sozialforschung verbreiteten Glauben dar, Handlungen könnten „operational" beschrieben werden - womit dann jene Sinndeutungen, die ein beobachtbares Verhalten erst zur Handlung machen, lediglich unreflektiert bleiben und als unproblematisch unterstellt werden.

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Die Feststellung der Bedeutung von Handlungen und der diese Bedeutungen konstituierenden Lebensorientierungen können allerdings nicht in aufeinanderfolgende methodische Schritte aufgelöst werden, sondern sie bewegen sich in einem hermeneutischen Zirkel. Darunter z.B. das Verbot von Theorie-, Meinungs- und „warum"-Fragen. Weiter sollte der Interviewer nicht zu erkennen geben, wenn ihm bestimmte Teile der Erzählung bereits bekannt sind, Auslassungen sollten nicht explizit nachgefragt werden etc.. Diskussionsbeitrag auf der Arbeitstagung „Erfahrung und Struktur in der psychologischen Forschung" am Wissenschaftskolleg zu Berlin, 28.-30. Juni 1984. Diskussionsbeitrag auf der o.a. Arbeitstagung. Das Verbot von Theorie-, Meinungs- und „warum"-Fragen ist dabei lediglich in Hinblick auf die für die empirische Erfassung von Lebensorientierungen erforderliche Datenqualität begründet und nicht apodiktisch zu verstehen. Dasselbe gilt auch für die Zurückhaltung des Forschers mit eigenen Meinungsäußerungen und für die Regel, wonach der Gesprächspartner nicht in Diskussionen verwickelt werden soll. Je mehr wir diese Regeln verletzen, desto mehr nähert sich die Gesprächssituation der themenzentrierten Interaktion an. Die Realitätshaltigkeit des empirischen Materials verschiebt sich dann zugunsten der Übertragungsprozesse des Alltagsbewußtseins. Der Ort, an dem diese systematischen Anstrengungen zu erfolgen haben, ist der Interpretationsprozeß, der sich dadurch grundlegend von der „Verständnisbildung" in der Alltagskommunikation unterscheidet, die zu einem großen Teil nicht-hermeneutisch, sondern durch Abwehr und Übertragung bestimmt ist. Aus diesem Grunde sind auch Bedenken gegenüber Interpretationsverfahren anzumelden, die wie ζ. B. Südmersen (1983) - den hermeneutischen Prozeß aus Gründen der Arbeitsökonomie abzukürzen versuchen. Ich teile die von Heinze & Klusemann (1980, p. 109) vertretene Auffassung, wonach sich eine einzelne Textstelle in ihrer wirklichen Bedeutung erst erschließt, wenn der Gesamtkontext bekannt ist. „Der Interpretationsvorgang bedeutet also ein ständiges Schließen vom Ganzen auf das Einzelne und umgekehrt". Die von Südmersen vorgeschlagene Gliederung des Textes in Sequenzen ist dabei durchaus funktional, um einen „engeren" Kontext der Textstelle herzustellen, der seine Bedeutung wiederum erst aus dem Kontext des Gesamtinterviews gewinnt. Die Notwendigkeit einer gründlichen, Satz für Satz vorgehenden Textinterpretation kann jedoch nicht behoben werden.

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PETER BIERI

Intentionale Systeme: Überlegungen zu Daniel Dennetts Theorie des Geistes Während der letzten 15 Jahre hat Daniel Dennett ein Projekt in der Theorie des Geistes entwickelt, das wie kaum ein anderes die Philosophie des Geistes und die Philosophie der Psychologie bestimmt und geformt hat. Das Kernstück dieses Projekts ist die Theorie intentionaler Systeme. Ich habe mir für diesen Essay die Aufgabe gestellt, die innere Uhr dieser Theorie zu entdecken. Das ist keine leichte Aufgabe, denn der Gegenstand der Betrachtung weigert sich stillzustehen: Dennetts Projekt ist nicht zuletzt deshalb so fruchtbar, weil es so plastisch ist. Aus diesem Grund beginne ich nicht mit einer direkten Rekonstruktion seiner Theorie, sondern mit der Frage: Auf welches Problem reagiert die Theorie intentionaler Systeme? Auf welche Frage antwortet sie? 1. Intentionale

Zustände: das Problem

Wenn wir uns erklären wollen, warum Leute etwas Bestimmtes tun, so fragen wir uns gewöhnlich, was sie glauben oder denken, woran sie sich erinnern, was sie wünschen oder wollen, was sie hoffen oder befürchten, usw. Ein intuitiv naheliegender Kommentar zu dieser Praxis ist, daß wir hier anderen Menschen und uns selbst gewisse innere Zustände zuschreiben, um ein Stück Verhalten verständlich zu machen. Das Besondere an diesen inneren Zuständen besteht darin, daß sie einen intentionalen Gehalt haben. Meinungen und Gedanken sind Meinungen und Gedanken über etwas, Wünsche sind Wünsche nach etwas, Hoffnungen sind Hoffnungen auf etwas, Erinnerungen sind Erinnerungen an etwas, usw. Solche inneren Zustände beziehen sich auf etwas. Sie haben die Eigenschaft der Referenz. Diese Eigenschaft ist ein Aspekt des Umstands, daß sie einen propositionalen Gehalt haben. Wir meinen oder denken, daß etwas der Fall ist, wünschen oder hoffen, daß etwas der Fall sein wird, erinnern uns, daß etwas der Fall war, usw. Ihr propositionaler Gehalt ist das, was diese inneren Zustände individuiert. Wenn zwei Sätze (Propositionen) Pund Q sich in ihrer Bedeutung oder ihrer Referenz unterscheiden, so ist auch die Meinung oder der Wunsch, daß P, verschieden von der Mei-

Intentionale Systeme

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nungodQT dem Wunsch, daß Q. Es handelt sich dann um zwei Meinungen oder W ü n s c h e . So ist etwa mein Wunsch, daß A n n a k o m m e n möge, ein anderer W u n s c h als mein Wunsch, daß Kirsten k o m m e n möge, weil die beiden W ü n s c h e sich in ihrer Referenz unterscheiden. Und mein Gedanke, daß Kirsten unterwegs ist, ist ein anderer G e danke als mein Gedanke, daß Kirsten zu Hause ist, weil sie sich in ihrer Bedeutung unterscheiden. D a ß solche inneren Zustände einen intentionalen Gehalt haben, heißt demnach, daß sie semantische Eigenschaften wie Bedeutung und Referenz haben. Z u den semantischen Eigenschaften dieser Zustände gehört, daß sie Erfüllungsbedingungen haben. Bei Meinungen, Gedanken oder Erinnerungen etwa heißt das, daß diese Zustände wahroder falsch sein können. Die Erfüllungsbedingung für meine M e i n u n g beispielsweise, daß A n n a in Z ü rich ist, ist der Sachverhalt, daß A n n a in Zürich ist. Wenn dieser Sachverhalt besteht, ist meine Meinung erfüllt, d. h. wahr, andernfalls ist sie unerfüllt, d.h. falsch. Entsprechend ist mein Wunsch, A n n a möge in Zürich sein (es möge wahr sein, daß A n n a in Zürich ist), dann erfüllt, wenn dieser Sachverhalt besteht, und der Wunsch bleibt unerfüllt, wenn er nicht besteht. 1 Ich werde mich im folgenden auf Meinungen und Wünsche als paradigmatische Fälle von intentionalen inneren Zuständen konzentrieren. 2 Mein bisheriger knapper Kommentar läßt sich dann in Form einer konditionalen Feststellung zusammenfassen: (A) Wenn es Meinungen und W ü n s c h e gibt, dann sind sie Zustände mit Referenz, Bedeutung und Erfüllungsbedingungen, d.h. Zustände mit semantischen Eigenschaften. Das ist eine phänomenologische Feststellung, die den Rahmen für jede theoretische A u s k u n f t über Meinungen und W ü n s c h e festlegt: Eine Theorie über innere Zustände, die nicht Referenz, Bedeutung und Erfüllungsbedingungen z u m T h e m a hat, ist nicht wirklich eine Theorie über Meinungen und Wünsche. Eine Theorie über Meinungen und W ü n s c h e , die aus irgendwelchen G r ü n d e n die semantischen Eigenschaften dieser inneren Zustände ausklammert oder ignoriert, verliert ihr ursprüngliches Thema. Wenn wir über andere und uns selber sagen, daß wir Meinungen und W ü n s c h e haben, so machen wir intentionale Zuschreibungen. Wenn wir sie machen, so können wir uns irren; es kann falsch sein, daß jemand die-und-die Meinung und den-und-den Wunsch hat. A b e r oft genug stellen sich solche Zuschreibungen als wahr heraus. Das Gegenteil anzunehmen hieße, die seltsame Behauptung aufzustellen, daß niemals jemand etwas glaubt oder wünscht. Es gilt demnach:

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(Β) Intentionale Zuschreibungen sind (manchmal) wahr. Indem wir intentionale Zuschreibungen als wahr betrachten, gehen wir eine ontologische Verpflichtung ein: Wir legen uns darauf fest, daß es diese Zustände wirklich gibt. Das folgt einfach aus der Logik des Wahrheitsbegriffs: Von einer Theorie zu sagen, sie sei wahr, heißt zu sagen, daß die Entitäten, von denen die Theorie handelt, wirklich existieren - daß sie ein Teil der realen Welt sind. Wenn wir das System intentionaler Zuschreibungen für einen M o m e n t in Analogie zu einer Theorie betrachten, so bedeutet das entsprechend, daß aus (A) und (B) eine weitere Feststellung folgt: (C) Es gibt innere Zustände, die einen intentionalen Gehalt, d.h. semantische Eigenschaften haben. Wir betrachten diese inneren Zustände gewöhnlich als Ursachen unseres Verhaltens. Das Schema für unsere alltäglichen Verhaltenserklärungen ist: „S tat P, weil er glaubte (dachte), daß Q, und weil er wünschte (wollte), daß /?." Es ist zumindest nicht unnatürlich, das ,weil' in diesem Schema genau so zu verstehen wie etwa in dem Satz „Das Feuer brach aus, weil ein Kurzschluß eintrat", der eine kausale Erklärung formuliert. So wie wir aufgrund dieser Erklärung bereit sind zu sagen „Wäre der Kurzschluß nicht eingetreten, so wäre (ceteris paribus) das Feuer nicht ausgebrochen", so sind wir aufgrund unseres Schemas bereit zu kontrafaktischen A u s s a g e n der Form „Hätte S nicht geglaubt, daß Q, und hätte er nicht gewünscht, daß R, so hätte er (ceteris paribus) nicht Ρ getan". D i e inneren Zustände, die wir auf diese Weise als kausale A n t e z e d e n z i e n von Verhalten zitieren, sind einer natürlichen A u f f a s s u n g zufolge auch untereinander kausal verbunden: Im Wunschdenken etwa sind W ü n s c h e Ursachen von Meinungen, und umgekehrt können G e d a n k e n oder Erinnerungen W ü n s c h e auslösen. Was in unseren gewöhnlichen Verhaltenserklärungen am Werk ist, gleicht deshalb durchaus einer Theorie, wenn auch nicht einer ausdrücklich und präzise formulierten Theorie: Erstens sind die zugeschriebenen inneren Zustände unbeobachtbar, zweitens sind sie mit beobachtbarem Verhalten sowie untereinander nach kausalen Regeln verbunden, und drittens erreichen wir durch die Bezugnahme auf innere Zustände ziemlich gute Erklärungen und Prognosen, was unser Verhalten betrifft. Zur realistischen Interpretation unserer Alltagspsychologie gehört also die A n n a h m e : (D) Unsere intentionalen inneren Zustände sind Ursachen von Verhalten. Die inneren Zustände, auf die wir uns in der alltäglichen Theorie über menschliches Verhalten beziehen, haben also sowohl semantische als auch kausale Eigenschaften. Es kennzeichnet unseren Begriff einer

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Handlung, daß wir - ganz grob gesprochen - nur dann davon sprechen, daß jemand handelt oder etwas tut, wenn wir annehmen können, daß das fragliche Ereignis - beispielsweise eine Körperbewegung - Antezedenzien mit semantischen Eigenschaften (einem intentionalen Gehalt) hat. Wenn wir Grund zu der Annahme haben, daß es von außen oder aber durch innere Zustände verursacht wurde, die keine Referenz, keine Bedeutung und keine Erfüllungsbedingungen haben, so betrachten wir es nicht als die Handlung einer Person, sondern als etwas, was ihr bloß zustößt oder was mit ihr bloß geschieht. Wenn wir beispielsweise den Arm einer Person hochgehen sehen und dann erfahren, daß er - wie bei einer Puppe - an einem Faden hochgezogen wurde, oder daß die Armbewegung eine reflexhafte Reaktion auf einen plötzlichen stechenden Schmerz in der Schulter war, so fassen wir dieses Ereignis als eine bloße Körperbewegung auf und nicht als etwas, was eine Handlung darstellt, für die die Person beispielsweise zur Verantwortung gezogen werden kann. Diese zweite Interpretation geben wir der Armbewegung nur unter der Voraussetzung, daß sie durch innere Zustände verursacht wurde, die Referenz und Bedeutung sowie bestimmte Erfüllungsbedingungen haben - unter der Voraussetzung also, daß die Person sich dabei etwas dachte und damit etwas zu erreichen wünschte. Die intentionalen und semantisch charakterisierbaren inneren Zustände, die am Zustandekommen der Handlung einer Person beteiligt sind, nennen wir in der Regel die Gründe, die die Person zu dieser Handlung veranlaßten, und wir sagen über die Situation, daß die Person aus diesen Gründen handelte. Gründe, wie wir sagen, bewegen, veranlassen oder bringen jemanden dazu, etwas zu tun, und es ist deshalb eine natürliche Annahme, daß Gründe kausale Antezedenzien von Verhalten sind. 3 So weit, so gut. Die Situation beginnt jedoch, problematisch zu werden, wenn wir nun eine weitere Annahme betrachten: (E) Die inneren Zustände, die unser Verhalten verursachen, sind neurobiologische Zustände. Diese Annahme gehört zu einem bestimmten Erklärungsprojekt, das man das naturalistische Projekt nennen kann. Dieses Projekt ist seit langem bekannt und inzwischen fast zur Selbstverständlichkeit geworden. Was immer wir sonst noch sein mögen, zunächst einmal sind wir biologische Systeme. Wenn wir das Verhalten eines relativ einfachen solchen Systems verstehen wollen, verfolgen wir eine Strategie, an der man zwei Aspekte unterscheiden kann: (1) Wir versuchen, uns ein Bild von seinem stofflichen und strukturellen Aufbau zu machen, das uns dann Aufschluß über die inneren biologischen Zustände gibt, die in dem System auftreten und sein makroskopisches Verhalten verursachen. (2) Wir nehmen dem System gegenüber eine evolutio-

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näre Perspektive ein und versuchen, seine Charakteristika als das Produkt biologischer Anpassung an eine bestimmte Art von Umgebung zu verstehen. Wir versuchen, mit anderen Worten, die Frage, warum diese Art von System gerade so und nicht anders beschaffen ist, dadurch zu beantworten, daß wir einen funktionalen Kommentar zu ihren Charakteristika entwickeln: einen Kommentar, der zeigt, wie diese Charakteristika dazu beitragen, daß solche Systeme in ihrer natürlichen Umwelt überleben können. Dieses naturalistische Projekt ist nicht auf einfache biologische Systeme beschränkt. Wir sehen keinen Grund, es substantiell zu verändern, wenn wir es mit immer komplizierteren Lebewesen zu tun haben. Es wird zwar immer schwieriger, es durchzuführen, wenn wir auf der Skala der Komplexität höher steigen. Und wenn wir bei Wesen angelangt sind, die ein Gehirn und ein Nervensystem haben, wird es nahezu unübersehbar schwierig. Vor allem die Fähigkeit solcher Wesen, nicht nur auf ihre Umgebung, sondern auch auf ihre Reaktionen auf diese Umgebung reagieren zu können, läßt die Komplexität dieser Wesen und damit den Schwierigkeitsgrad des naturalistischen Projekts explodieren. Aber das ändert am regulativen Ideal des Projekts nichts. Es bedeutet lediglich, daß dem stofflichen, strukturellen und evolutionären Studium des Gehirns und Nervensystems - also der Neurobiologie - eine zunehmend größere Bedeutung zukommt. Bei allen Sprüngen in der Komplexität, die zwischen verschiedenen biologischen Arten bestehen mögen, gibt es eine Kontinuität in der explanatorischen Strategie: Es geht immer wieder darum, das Verhalten eines Lebewesens durch die Spezifikation detaillierter Kausalketten auf ein System von inneren, neurobiologischen Zuständen zurückzuführen. Es geht, mit anderen Worten, um eine neurobiologische Verhaltenstheorie. Die naturalistische Annahme (E) besagt einfach, daß dies für Menschen genauso gilt wie für andere Lebewesen, auch wenn wir uns von den anderen natürlichen Arten durch einen erneuten Zuwachs an Komplexität - durch Sprache etwa und durch eine neue Form von Bewußtsein - unterscheiden. So vertraut und selbstverständlich uns die naturalistische Annahme inzwischen geworden ist, so schwierig ist es, sie mit der realistischen und kausalen Interpretation unserer Alltagspsychologie - den Annahmen (B), (C) und (D) - in Einklang zu bringen. Auf der einen Seite sollen es innere Zustände mit intentionalem Gehalt und semantischen Eigenschaften - also Gründe - sein, die uns zu unserem Verhalten veranlassen; auf der anderen Seite geht ein breiter Zweig empirischer Forschung davon aus, daß die eigentlichen Ursachen für unser Verhalten neurobiologische Zustände sind. Wie hat man das zu verstehen? Sollen wir sagen, daß unser Verhalten als kausale Antezedenzien sowohl intentionale als auch neurobiologische Zustände hat? Das

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wäre schwieriger zu verstehen, als es zunächst scheinen mag. Denn es würde bedeuten, das Projekt einer naturalistischen Verhaltenstheorie von vornherein (gewissermaßen a priori) einzuschränken, noch bevor es sich in vollem Umfang entfalten konnte. Es gehört zur Definition dieses Projekts, daß das Verhalten von biologischen Systemen - auch von solchen, wie wir es sind - im Prinzip vollständig durch neurobiologische (und andere körperliche) Zustände erklärt werden kann. Wenn wir das heute noch nicht können, und selbst wenn wir es nie ganz können werden, so liegt das an unseren wissenschaftlichen Grenzen also an einem epistemischen Defizit - und nicht daran, daß die relevanten Kausalketten Glieder enthalten wie beispielsweise Gedanken, Meinungen und Wünsche, die die Neurobiologie nicht zu fassen bekommt. So zumindest lautet der Kommentar zum naturalistischen Projekt. Und es wäre schwierig, diesem Kommentar zu widersprechen: Was sollte es heißen, daß in einer Kausalkette, die mit der Ausschüttung eines Neurotransmitters und dem Auftau eines neuronalen Aktionspotentials im Gehirn beginnt und mit der Kontraktion meiner Schultermuskulatur endet, Glieder auftreten wie mein Gedanke, daß jetzt eine Abstimmung stattfindet, und mein Wunsch, durch Heben meines Arms ein positives Votum abzugeben? Intentionale innere Zustände mit semantischen Eigenschaften scheinen ganz einfach nicht die richtige Art von Zuständen zu sein, um in eine neurobiologische Kausalkette eingegliedert zu werden. Müssen wir daraus schließen, daß die kausale Interpretation unserer Common Sense Psychologie - die Annahme (D) - falsch ist? Daß die vielen intentionalen inneren Zustände, die wir uns zuschreiben, nur Nebenprodukte des neurobiologischen Geschehens sind - schattenhafte Phänomene, die keine eigene kausale Wirksamkeit haben? Autoren, die in dem naturalistischen Projekt engagiert sind, neigen oft zu dieser Auffassung. Sie sind Epiphänomenalisten, was Intentionalität, Referenz und Bedeutung anlangt. Wenn man den Epiphänomenalismus jedoch durchzubuchstabieren beginnt, sieht man, wie schwer er zu schlucken wäre. Es würde gelten: Niemand tut jemals etwas aus Gründen. Niemand wird zu seinen Handlungen durch Meinungen, Gedanken, Wünsche oder Erinnerungen veranlaßt. Niemand wird zu seinen Handlungen aus Haß auf jemanden oder Angst vor jemandem getrieben. Strenggenommen handelt überhaupt niemand Das System unserer alltagspsychologischen Verhaltenserklärungen würde sich als ein einziger, gigantischer Irrtum herausstellen. Diese Konsequenz scheint vermeidbar, wenn man sich zu einem Schritt entschließt, der in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten ausführlich diskutiert worden ist: Warum lösen wir den Konflikt zwischen den Annahmen (D) und (E) nicht durch die weitere Annahme, daß unsere intentionalen inneren Zustände und unsere neurobiologi-

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sehen inneren Zustände ein und dieselben Zustände sind? Daß intentionale Zustände einfach neurobiologische Zustände sind? Das naturalistische Projekt und das realistisch-kausale Bild der Common Sense Psychologie paßten dann plötzlich wieder zusammen: Die neurobiologischen Antezedenzien unseres Verhaltens zu entdecken hieße herauszufinden, was unsere intentionalen inneren Zustände in Wirklichkeit sindA Doch so einfach und elegant diese Lösung des Problems auch klingt: Es ist vorerst nicht zu sehen, wie sie funktionieren könnte. Das Bestechende an ihr ist das Versprechen, daß wir unsere Meinungen und Wünsche innerhalb des naturalistischen Projekts wiederfinden werden, diesmal unter einer präzisen und geläuterten Beschreibung, wie sie uns die Neurobiologie eines Tages liefern wird. Doch dieses Versprechen ist nur dann wirklich etwas wert, wenn die neurobiologische Neubeschreibung von Meinungen und Wünschen unserer Rahmenbedingung (A) genügen kann - wenn in dieser Neubeschreibung nichts auf der Strecke bleibt, was zur Identität der intentionalen Zustände gehört, von denen wir ausgegangen sind. Wir brauchen nichts weniger als eine naturalistische Theorie über die Gründe unseres Handelns. Und das wiederum bedeutet nichts weniger als die Annahme, daß es neurobiologische Zustände in uns gibt, die sich auf etwas beziehen, die etwas bedeuten, die erfüllt oder unerfüllt, wahr oder falsch sein können. Ist das denkbar? Ist es eine kohärente Annahme? Es spricht alles dagegen. Das Bild, das unsere Alltagspsychologie von uns zeichnet, ist das Bild von Personen oder Subjekten, die etwas verstehen können. Wir wissen, was die Dinge und Ereignisse, die uns begegnen, bedeuten, weil wir mit Begriffen und Sätzen, d. h. mit semantischen Inhalten umgehen können. Und weil wir das können, haben wir auch die Fähigkeit, uns auf Dinge und Ereignisse der Welt durch Zustände zu beziehen, die erfüllt oder unerfüllt, beispielsweise wahr oder falsch sein können. Im naturalistischen Projekt dagegen entsteht ein ganz anderes Bild von uns. Unser Gehirn hat zwar die Fähigkeit, zwischen den verschiedenen Arten von Input, die es bekommt, zu unterscheiden. Es hat überdies die Aufgabe, seinen Input nach momentaner Relevanz und Irrelevanz zu differenzieren. Es reagiert auf seinen Input durch eine Unzahl von rasch wechselnden neurobiologischen Zuständen und ist überdies imstande, auch auf seine eigenen Reaktionen zu reagieren. Dadurch wird es in die Lage versetzt, seine Hauptfunktion der Verhaltenskontrolle auszuüben. Nun werden all diese Fähigkeiten des Gehirns zwar manchmal so kommentiert, als seien sie Fähigkeiten von Personen: „Das Gehirn entdeckt die Bedeutung seines Inputs, es erkennt, welcher Input wichtig ist und welcher nicht, es rechnet sich aus, wie am besten zu reagieren

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ist, es überprüft seine Einschätzung der Lage, entscheidet sich dann für eine bestimmte Reaktion und ist anschließend imstande, diese Entscheidung zu korrigieren, wenn es herausfindet, daß sie falsch war." Das Gehirn erscheint in solchen Kommentaren als eine kleine Person in der großen Person, die genauso über intentionale und semantische Fähigkeiten verfügt wie die große Person. Doch in Wirklichkeit ist das natürlich keineswegs der Fall. Unser Gehirn ist nichts weiter als eine biologische Maschine von gigantischer Komplexität, die nach physikalischen und chemischen Gesetzen funktioniert. Es ist wahr, daß das Gehirn gegenüber seinem enormen Input über eine große Diskriminationsfähigkeit verfügt. Die Unterscheidungen, die es zu machen vermag, sind jedoch nicht semantische Unterscheidungen. Es sind Unterscheidungen, die einzig und allein die strukturellen, zeitlichen, räumlichen und physikalischen Eigenschaften des Inputs betreffen. Um einen Terminus für diese Art von Eigenschaften zu haben, kann man eine traditionelle Unterscheidung aus der Linguistik adaptieren und sagen, daß das Gehirn keine semantischen, sondern nur syntaktische Eigenschaften an seinem Input unterscheiden kann. 5 Und vielleicht ist es sogar irreführend zu sagen, daß es diese syntaktischen Eigenschaften unterscheiden kann. Strenggenommen reagiert die biologische Maschine ,Gehirn' nur auf diese Eigenschaften, und sie reagiert rein mechanisch: Die syntaktischen Eigenschaften des Inputs verursachen bestimmte physikalische und chemische Zustände in ihr. Es gilt also eine Feststellung, die unser Problem weiter zuspitzt: (F) Die neurobiologischen Ursachen unseres Verhaltens sind Zustände mit rein syntaktischen Eigenschaften. Das naturalistische Projekt ist ein rein syntaktisches Projekt, eine naturalistische Verhaltenstheorie ist - ganz anders als unsere Common Sense Psychologie - eine ausschließlich syntaktische Theorie. Es ist eine Theorie, die zu erklären versucht, wie die biologische Maschine des Gehirns es fertigbringt, daß der gesamte Organismus, den sie steuert, in seiner Umgebung überleben kann, indem er ein für diese Umgebung und seine eigenen Bedürfnisse adäquates Verhalten entwickelt. Um das erklären zu können, muß man annehmen, daß überlebensrelevante Aspekte der Welt im Gehirn irgendwie repräsentiert werden können. Es ist dann naheliegend zu sagen, daß das Gehirn ein System von Repräsentationen der Welt enthält. Doch hier ist Vorsicht geboten: Das kann nicht heißen, daß das Gehirn seine Repräsentationen auf intentionale Weise benützt, daß es sie in ihrer Bedeutung versteht und daß es sich mit ihrer Hilfe auf die Welt bezieht - s o , wie wir uns mit gewissen Repräsentationen wie Bildern, Landkarten, Diagrammen und Sätzen auf etwas beziehen. Das Gehirn tut nichts dergleichen - als eine biologische Maschine kann es das nicht. Die

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Repräsentationen, die wir ihm zuschreiben, haben wiederum nur syntaktische Eigenschaften: Sie sind zeitlich und räumlich geordnet, sie bilden Strukturen, sie haben bestimmte physikalische und chemische Eigenschaften, und sie erfüllen bestimmte kausale Rollen als Vermittler zwischen sensorischem Input und behavioralem Output. Sie haben für das Gehirn keine Bedeutung, keine Referenz und keine Erfüllungsbedingungen. Im Unterschied zu den inneren Zuständen, die uns die Alltagspsychologie zuschreibt - zu Meinungen, Gedanken, Wünschen, Erinnerungen usw. - haben sie nicht die Spur von intentionalem oder semantischem Gehalt. Auch wenn wir die neurobiologischen Ursachen unseres Verhaltens Repräsentationen' nennen können: Diese inneren Zustände sind semantisch völlig blind. Das ist der Grund, warum eine Identifizierung von intentionalen und neurobiologischen Zuständen als Lösung unseres Problems nicht funktionieren kann: Irgendwo auf dem Wege von der Common Sense Psychologie zur Neurobiologie verlieren wir Intentionalität und Semantik. Und wir werden sie innerhalb des naturalistischen Projekts auch nicht wiederfinden. Man kann soviel syntaktische Elemente anhäufen und soviel syntaktische Komplexität aufbauen, wie man will: Aus Syntax allein ist niemals Semantik zu gewinnen. Was machen wir mit dem Konflikt zwischen der realistisch-kausalen Interpretation intentionaler Zustände auf der einen Seite und dem naturalistisch-syntaktischen Projekt auf der anderen Seite, gegeben, daß der Weg einer Identitätstheorie nicht gangbar ist? Gibt es vielleicht eine Beschreibung von Meinungen und Wünschen, die sowohl deren semantischen Eigenschaften gerecht wird als auch in Einklang mit dem Faktum steht, daß das Gehirn nach rein syntaktischen Prinzipien operiert? Viele Autoren, besonders solche, die im Projekt der Cognitive Science engagiert sind, glauben, daß eine bestimmte Art von funktionalen Beschreibungen diese Bedingung zu erfüllen vermag. Was gibt einem inneren Zustand den intentionalen, semantischen Gehalt, den er hat? Die Rolle, die dieser Zustand in der gesamten kognitiven Ökonomie eines Systems spielt. Ein Zustand hat den semantischen Gehalt, „daß P", genau dann, wenn er eine bestimmte begriffliche und inferentielle Rolle in der kognitiven Dynamik eines Systems spielt: die gleiche Rolle wie beispielsweise meine Meinung, daß P, in meiner kognitiven Dynamik spielt.6 Das ist eine einleuchtende Auskunft, da auch die Bedeutung von Prädikaten und Sätzen eine Frage der inferentiellen Rolle ist, die Prädikate und Sätze in Sprachspielen innehaben. Intentionale innere Zustände können durch ihren Ort in einer funktionalen Organisation individuiert werden. Und diese Beobachtung sieht für unser Problem vielversprechend aus, denn auch das System syntaktischer Repräsentationen, mit dem das Gehirn operiert, hat natürlich eine funktionale Organisation: Eine

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syntaktische Repräsentation im Gehirn ist die Repräsentation, die sie ist, kraft der kausalen Rolle, die sie in der Vermittlung zwischen Input und Output spielt. Ist deshalb der Trick, um von Syntax zu Semantik und zurück zu gelangen, nicht einfach der, intentionale und neurobiologische Zustände unter dem Gesichtspunkt ihrer funktionalen Äquivalenz zu betrachten? 7 Es ist wahr, könnte man dann sagen, daß unser Verhalten vollständig durch neurobiologische Zustände verursacht wird, und es ist auch wahr, daß man über diese Verursachung eine rein syntaktische Geschichte erzählen kann, in der von intentionalem Gehalt keine Rede ist. Aber ebenso wahr ist es, daß man die funktionale Organisation neurobiologischer Zustände so beschreiben kann, daß sie der funktionalen Organisation etwa eines Meinungssystems entspricht. Und dann wird aus der syntaktischen eine semantische, intentionale Geschichte über dasselbe Verhalten, da es ja die funktionale Rolle ist, die den intentionalen Gehalt eines inneren Zustands definiert. Doch leider ist das - was unser Problem anlangt - nur ein Trick. Denn man fragt sich, was es heißt, den intentionalen Gehalt eines inneren Zustands über dessen begriffliche und inferentielle Rolle zu definieren. Muß ein Zustand, um eine Rolle dieser Art spielen zu können, nicht zuvor schon einen semantischen Gehalt haben? Wo kommt der her? Die Auskunft, daß ein Zustand den semantischen Gehalt „daß P" hat, wenn er die gleiche inferentielle und begriffliche Rolle spielt, die meine Meinung, daß P, in meiner kognitiven Ökonomie spielt, beantwortet nicht die Frage, wie einer meiner neurobiologischen Zustände überhaupt eine inferentielle und begriffliche Rolle in einer kognitiven Ökonomie spielen kann. Und das ist schließlich die entscheidende Frage. 8 Die Idee einer funktionalen Äquivalenz zwischen dem Intentionalen und dem Neurobiologischen läßt es weiterhin rätselhaft, wie Intentionalität in biologischen Systemen vorkommen und in ihnen kausal wirksam sein kann. Nun sieht es allmählich so aus, als müßte dies für immer rätselhaft bleiben. Zumindest ist kein weiterer Vorschlag in Sicht, der es einem ermöglichen würde, trotz des naturalistischen Projekts weiterhin an der realistisch-kausalen Interpretation unserer alltäglichen Psychologie festzuhalten. Man kann deshalb schließlich auf den Gedanken kommen, diese Interpretation zu revidieren. So würde unser Problem verschwinden, wenn wir bereit wären, die Annahmen (C) und (D) aufzugeben und zu sagen, daß es die inneren intentionalen Zustände, von denen unsere alltägliche Verhaltenstheorie handelt, gar nicht wirklich gibt, und daß sie infolgedessen auch gar nicht wirklich Ursachen unseres Verhaltens sein können. Das würde jeden von uns, die wir Alltagspsychologie praktizieren, überraschen, um es milde auszudrücken. Die erste Reaktion wäre Ungläubigkeit. Aber man könnte

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mindestens zwei Gründe für eine solche Position nennen: Erstens wäre es nicht das erste Mal in der Geschichte von Erklärungsprojekten, daß eine weit verbreitete Theorie von großem praktischen Nutzen sich einfach als falsch herausstellt und daß man deshalb gewohnte ontologische Verpflichtungen überprüfen muß. Und zweitens würde man unseren natürlichen intentionalen Realismus ja nicht willkürlich aufgeben: Man würde es aus Gründen der Kohärenz unseres Weltbilds tun und folgte damit einem zentralen Prinzip der Rationalität. 9 Trotzdem könnte man diese Botschaft - anders als bei überholten wissenschaftlichen Theorien - außerhalb des Studierzimmers (um Humesche Worte zu gebrauchen) nicht glauben. Und das läge vor allem daran, daß mit der Preisgabe von (C) und (D) auch die selbstverständliche Feststellung (B) über die Wahrheit unserer intentionalen Zuschreibungen fallen würde. Den intentionalen Realismus zu verwerfen hieße, sich darauf festzulegen, daß wir alle in Wirklichkeit niemals etwas glauben, denken, wünschen, hoffen und befürchten. Man müßte bestreiten, daß wir etwas Wahres über uns sagen, wenn wir uns intentionale Zustände zuschreiben. Es müßte als falsch gelten zu sagen, daß wir aus Gründen handeln - daß wir überhaupt handeln. Doch was da von uns verlangt würde, scheint nicht nur überraschend, sondern unmöglich: Wir können aufhören, bestimmte Dinge über die Natur und damit über uns als biologische Systeme zu glauben, d.h. für wahr zu halten. Aber wir können nicht aufhören, von uns zu glauben, daß wir bestimmte Dinge glauben und daß wir bestimmte Dinge tun, weil wir bestimmte Dinge glauben. Dieser Gedanke ergibt für uns keinen Sinn, und deshalb kann uns auch diese Lösung für unser Problem nicht überzeugen. Wenn weder die Identitätstheorie noch der Funktionalismus dem Problem beikommen können, und wenn uns auch der Ausweg einer theoretischen Elimination intentionaler Zustände abgeschnitten ist: Was bleibt uns noch zu sagen? Ist das Problem falsch beschrieben? Sind vielleicht einige der-Annahmen (A)-(F) falsch, wie einleuchtend sie zunächst auch sein mögen? Hängen sie untereinander vielleicht nicht so zusammen, wie es zunächst scheint? Oder kann man trotz allem eine Geschichte erzählen, die zeigt, daß sie alle miteinander kompatibel sind? Ich glaube, daß man Dennetts Theorie intentionaler Systeme am besten verstehen kann, wenn man sie als Antwort auf diese Fragen liest. Diese Fragen und die Überlegungen, die zu ihnen geführt haben, definieren den dialektischen Ort, an dem Dennett mit seiner Geschichte beginnt.

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2. Die intentionale

Strategie:

Wie funktioniert

sie?

Der erste Schritt in dieser Geschichte besteht darin, daß Dennett all unsere intentionalen Zuschreibungen als Elemente in einer Erklärungsstrategie auffaßt. 10 Dieser Schritt mag trivial klingen, denn schließlich bestreitet ja niemand, daß unsere Alltagspsychologie dazu dient zu erklären, warum wir uns auf bestimmte Weise verhalten. Doch Dennetts Eröffnungszug ist folgenreicher, als man zunächst denkt. Er bedeutet nämlich, daß alle philosophischen Probleme, die mit intentionalen Zuständen verbunden sind, aus der Perspektive zweier Fragen behandelt werden: (1) (2)

Wie funktioniert die intentionale Erklärungsstrategie? Warum funktioniert die intentionale Erklärungsstrategie?

Diese beiden Fragen bilden deshalb auch den Rahmen für die Lösung unseres Problems, die Dennett vorschlägt. Beginnen wir mit der ersten Frage. Was ist spezifisch für die Strategie, das Verhalten eines Systems dadurch zu erklären, daß man ihm intentionale Zustände wie Meinungen und Wünsche zuschreibt? Zunächst unterscheidet Dennett drei explanatorische Einstellungen, die man einem System gegenüber einnehmen kann: 11 (a) Die physikalische Einstellung: Wir bestimmen die physikalische Zusammensetzung und den physikalischen Auflau eines Systems seinen Stoff und dessen Organisation (je nach Kontext bis hinunter auf ein Mikroniveau); wir bestimmen die physikalischen Einwirkungen auf das System - seinen Input; wir benützen die uns bekannten physikalischen Gesetze, um zu erklären, warum sich das System (oder Teile von ihm) unter den vergangenen Einwirkungen so verhalten hat, und um vorherzusagen, wie es sich unter zukünftigen Einwirkungen verhalten wird. Das Ideal, das diese Einstellung leitet, ist das Laplacesche Ideal. (b) Die funktionale Einstellung: Wir ignorieren die Details der physikalischen Konstitution des Systems; wir gehen davon aus, daß das System ein bestimmtes Design, einen bestimmten Konstruktionsplan oder ein bestimmtes Programm hat; wir berufen uns in Erklärung und Vorhersage auf seine funktionale Organisation, also auf eine abstrakte Struktur, die auf vielfaltige Weise, in vielfältigen Stoffen realisiert sein kann. Die Regel für Prognosen über das Verhalten des Systems lautet: Es wird sich so verhalten wie geplant - in Übereinstimmung mit seinem Konstruktionsplan oder Programm. Um in dieser Einstellung erfolgreich zu sein, brauchen wir nichts über die stofflichen, mechanischen Details des Systems zu wissen. Es genügt, daß wir seine funktionale Organisation kennen und daß das System seinem Programm folgt - daß es nicht defekt ist.

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(c) Die intentionale Einstellung: Wir ignorieren sowohl die physikalische Konstitution des Systems als auch die Details seiner funktionalen Organisation - seines Programms - und schreiben ihm statt dessen intentionale Zustände zu. Wir fragen uns, was das System glaubt (denkt) und wünscht (will); ohne das physikalische oder funktionale Profil des Systems zu kennen, zeichnen wir ein intentionales Profil, und es ist dieses intentionale Profil, auf das wir uns stützen, wenn wir erklären und vorhersagen wollen, was das System tat und tun wird. Man kann sich das, was in diesen drei Einstellungen geschieht, als drei verschiedene Ebenen der Beschreibung, Analyse und Erklärung eines Systems und seines Verhaltens vorstellen. Von unten nach oben: die physikalische oder stoffliche Ebene, die funktionale oder Programmebene und schließlich die intentionale Ebene. Was den explanatorischen Erfolg anlangt, gibt es Abhängigkeitsbeziehungen von oben nach unten. Das kann man an Dennetts Beispiel eines Schachcomputers illustrieren: Der Programmierer eines Schachcomputers, der als solcher Prognosen über dessen Züge aus der funktionalen Einstellung abgeben kann, ist damit nur solange erfolgreich, als die Maschine physikalisch betrachtet - richtig funktioniert. Im Falle einer mechanischen Fehlfunktion nützt ihm seine Kenntnis des Programms nichts mehr. Wenn er jetzt erklären und vorhersagen will, was mit der Maschine geschieht, muß er die Ebene wechseln und die physikalische Einstellung einnehmen - die Einstellung des Ingenieurs. Und eine entsprechende Abhängigkeitsbeziehung besteht auch zwischen der intentionalen und der funktionalen Ebene: Die intentionale Einstellung einem System gegenüber ist explanatorisch nur dann erfolgreich, wenn sein funktionales Design adäquat ist. Wenn ich die Reaktionen eines Computers verstehen und vorhersagen will, indem ich Annahmen darüber mache, was er über eine laufende Schachpartie denkt und welche Ziele er in ihr verfolgt, so kann ich damit nur dann Erfolg haben, wenn er für das Spielen von Schach programmiert ist. Entdecke ich, daß meine intentionalen Zuschreibungen explanatorisch und prognostisch nutzlos bleiben, so werde ich die Erklärungsebene wechseln und herauszufinden versuchen, nach welchem Programm der Computer eigentlich arbeitet. Auf der anderen Seite sind die drei explanatorischen Einstellungen voneinander epistemisch unabhängig. Der Programmierer kann wissen, was der Computer tun wird, ohne die mechanischen Details seines Funktionierens zu kennen, und ich kann bei einem Schachcomputer mit der intentionalen Einstellung erfolgreich sein, ohne die Details seines Programms zu kennen oder überhaupt zu wissen, wie ein Computerprogramm aussieht.

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Bedeutet die Idee dieser verschiedenen explanatorischen Einstellungen bereits einen Fortschritt mit unserem Problem intentionaler Zustände? Zunächst nicht. Aber sie erlaubt ein hilfreiches Resümee dieses Problems. Was es zu verstehen gilt, ist, wie einem System gegenüber sowohl eine Erklärungsstrategie erfolgreich sein kann, die dem System intentionale Zustände mit semantischen Eigenschaften zuschreibt, als auch Strategien wie die physikalische und funktionale, die nur von syntaktischen Aspekten des Systems Gebrauch machen. Wenn wir unser Beispiel wechseln und nun einen biologischen Organismus mit einem Gehirn und einem Nervensystem betrachten, so fragt man sich: In welcher Beziehung stehen die Antezedenzien seines Verhaltens, die in der intentionalen Einstellung geltend gemacht werden - Meinungen und Wünsche -, zu den Antezedenzien desselben Verhaltens, von denen in der physikalischen und funktionalen Einstellung die Rede ist - zu den neurobiologischen Zuständen, die man als Realisierung eines Programms auffassen kann? Sowohl intentionale (d.h. semantische) als auch neurobiologische (d.h. rein syntaktische) Antezedenzien scheinen kausale Antezedenzien zu sein: Sowohl die physikalische oder stoffliche - in diesem Fall die neurobiologische - Einstellung als auch die intentionale Einstellung sind Einstellungen, in denen nach kausalen Erklärungen für das Verhalten eines Systems gesucht wird. Oder zumindest ist das der hartnäckige Eindruck. 12 Und doch, so hatten wir gesehen, kann man intentionale und neurobiologische Antezedenzien nicht einfach in einer Kausalkette verbinden. Dennetts Idee von drei explanatorischen Einstellungen, die epistemisch voneinander unabhängig sind und sich durch die jeweilige Beschreibungsebene eines Systems unterscheiden, macht das nachträglich besser verständlich: Erklärungen für das Verhalten eines Systems werden jeweils innerhalb einer Einstellung entwickelt. Sie beruhen auf Informationen über das System, die jeweils einer Beschreibungsebene dieses Systems angehören. Einstellungen und Beschreibungsebenen zu vermischen hieße nicht, Erklärungschancen zu vergrößern, sondern begriffliche Verwirrung zu stiften. Diese Beobachtung erklärt auch, warum der epiphänomenalistische Gedanke nicht akzeptabel ist, demzufolge die intentionale Beschreibungsebene kausal irrelevant ist, weil sich nur auf der untersten von unseren drei Ebenen ein echtes kausales Geschehen abspielt: Daraus, daß es kausale Erklärungen auf dem neurobiologischen Niveau gibt, folgt nicht, daß es keine wahren kausalen Erklärungen auf dem intentionalen Niveau geben kann. Wenn Verhaltenserklärungen an bestimmte Einstellungen und damit an bestimmte Beschreibungsniveaus gebunden sind, folgte das auch dann nicht, wenn wir über neurobiologische Verhaltenserklärungen verfügten, die - auf diesem Niveau - vollständig wären.

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Diese Grundidee von Dennetts Konzeption erklärt überdies, warum auch die drei anderen Lösungen unseres Problems, die ich oben skizziert und verworfen habe, nicht funktionieren können. Die Identitätstheorie versucht, semantisch gehaltvolle Zustände von Systemen, die in der intentionalen Einstellung zugeschrieben werden, mit Zuständen zu identifizieren, die auf einem ganz anderen Beschreibungsniveau angesiedelt sind, und dasselbe gilt - grob gesprochen - für den Funktionalismus. Dabei entstehen zwangsläufig Kategorienfehler, um diesen inzwischen schon etwas altmodischen Ausdruck zu gebrauchen. Der generellste und wichtigste von ihnen ist, daß in diesen beiden Lösungsvorschlägen die für intentionale Zustände essentiellen semantischen Eigenschaften wie Referenz, Bedeutung und Wahrheit auf einer Ebene gesucht oder auf eine Ebene projiziert werden, auf der es, so wie diese Ebene definiert ist, keine semantischen, sondern nur syntaktische Eigenschaften geben kann. Und schließlich wird durch diese Betrachtungsweise auch deutlich, warum man auf unsere Alltagspsychologie mit ihren intentionalen Zuständen nicht einfach das Modell der Elimination überholter Theorien mit überholten ontologischen Verpflichtungen anwenden kann: Der explanatorische Erfolg der physikalischen (neurobiologischen) oder der funktionalen Einstellung mindert den explanatorischen Wert der intentionalen Einstellung in keiner Weise. Die verschiedenen Ebenen der Beschreibung, Analyse und Erklärung eines Systems stehen, mit anderen Worten, zueinander nicht so in Konkurrenz wie verschiedene Theorien, die sich innerhalb einer Ebene ablösen. Wir haben jetzt eine Diagnose darüber, warum die bisherigen Lösungsversuche unseres Problems scheitern mußten. Sie machen in der einen oder anderen Form alle denselben Fehler, nicht strikt genug zwischen verschiedenen explanatorischen Einstellungen und verschiedenen Beschreibungsebenen zu unterscheiden. Ferner wissen wir über die intentionale Erklärungsstrategie jetzt zweierlei: (1) Sie ist in ihrem Erfolg auf das physikalisch (oder neurobiologisch) richtige Funktionieren eines Systems und auf die Adäquatheit seiner funktionalen Organisation (seines Programms) angewiesen. (2) Sie ist epistemisch unabhängig von detaillierter Information physikalischer (neurobiologischer) und funktionaler Art. Wie entwickelt Dennett aus diesem Zwischenergebnis seinen neuen Lösungsvorschlag, die Theorie intentionaler Systeme? 2.1 Die Grundzüge Ein System, dessen Verhalten in der intentionalen Einstellung erklärt werden kann oder erklärt werden darf, nennt Dennett ein intentionales System. Von diesem ,kann' und diesem ,darf und ihrer Beziehung zueinander wird später noch die Rede sein, wenn ich auf die

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Frage eingehe, wie groß die Reichweite der intentionalen Erklärungsstrategie ist, d.h. wie groß die Klasse der intentionalen Systeme ist. Jetzt gilt es zunächst zu analysieren, wie Dennett die erste seiner leitenden Fragen - „Wie genau funktioniert die intentionale Strategie?" - beantwortet. Und es gilt, dies stets mit einem Auge darauf zu tun, ob und inwiefern die einzelnen Elemente seiner Antwort Schritte zu einer neuen Lösung unseres Problems intentionaler Zustände sind. Denn Dennett ist der Ansicht, daß sich dieses Problem dadurch und nur dadurch lösen läßt, daß wir sehr genau hinsehen und uns Rechenschaft über die Prinzipien geben, die in der intentionalen Strategie τ also unserer Alltagspsychologie - ständig am Werk sind. Was sind diese Prinzipien? Dennetts Auskunft ist, daß wir drei Grundprinzipien anwenden: 1 3 (1)

Wir schreiben einem System die Meinungen zu, die es haben sollte, gegeben seine sensorischen Fähigkeiten, seine Biografie und seine epistemischen Bedürfnisse und Ziele. Das bedeutet genauer, daß wir unsere Meinungszuschreibungen nach zwei Kriterien ausrichten: Wir nehmen an, daß das System die Meinungen hat, die für es relevant sind, und wir gehen davon aus, daß diese Meinungen weitgehend wahr sind. Dieses Prinzip schließt nicht aus, daß wir manchmal zu dem Ergebnis kommen, daß das System gewisse für es relevante Meinungen nicht hat und daß einige seiner Meinungen falsch sind. Aber es besagt, daß solche Fälle Ausnahmen sind, die eine Erklärung erfordern.

(2)

Wir schreiben einem System die Wünsche zu, die es haben sollte, gegeben seine biologischen Bedürfnisse und die praktischsten Mittel, um diese zu befriedigen. So wollen intentionale Systeme überleben und sich fortpflanzen, und daher streben sie nach Essen, Sicherheit, Gesundheit, Sex, Reichtum, Macht, Einfluß usw., sowie nach den Dingen, die ihnen in bestimmten Situationen geeignet erscheinen, diese Wünsche zu erfüllen. Dieses Prinzip schließt nicht aus, daß wir einem System manchmal auch abwegige Wünsche und Bedürfnisse zuschreiben. Doch auch hier gilt, daß es sich dabei um Ausnahmen handelt, die erklärungsbedürftig sind.

(3)

Wir betrachten ein intentionales System als ein rationales System: als einen Handelnden, der sich in Übereinstimmung mit dem verhält, was er wünscht und glaubt. Wenn wir erklären und vorhersagen wollen, was das System tut, rechnen wir uns auf der Grundlage von praktischer Überlegung aus, was zu tun rational wäre, gegeben bestimmte Meinungen und Wünsche, die wir ihm zugeschrieben haben. Der Gesichtspunkt der Rationalität er-

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laubt uns zu sagen, was ein intentionales System in einer bestimmten Situation tun sollte, und dann prognostizieren wir, daß es das tun wird. Auch von dieser Regel gibt es Ausnahmen, und auch diese Ausnahmen verlangen nach einer besonderen Erklärung. Das also sind Dennett zufolge die Grundregeln, die wir benützen, wenn wir uns das intentionale Profil eines Systems zurechtlegen und sein Verhalten als das Resultat dieses Profils erklären.14 Natürlich ist es nicht so, daß wir diese Erklärungsstrategie stets explizit, d.h. mit Bewußtsein anwenden. In den meisten Fällen kommen ihre Regeln nur implizit, als Bestandteile der habituell eingenommenen intentionalen Einstellung zur Anwendung. Wir wenden sie jedoch manchmal auch explizit an, besonders wenn wir einem Verhalten begegnen, das uns überrascht und zunächst Rätsel aufgibt. Weil wir mit der ersten, naheliegendsten intentionalen Geschichte über dieses Verhalten gescheitert sind, treten wir in einem solchen Fall einen Schritt zurück und entwickeln eine neue Geschichte, diesmal mit mehr methodischem Bewußtsein. Und wenn wir diese neue Geschichte durchbuchstabieren, so wechseln wir gegenüber der ersten, weniger reflektierten Geschichte nicht die Methode, sondern greifen nur bewußter auf die Prinzipien zurück, die uns auch in problemloseren Fällen implizit leiten. Folgt aus dieser Skizze der intentionalen Strategie schon etwas für unser Problem intentionaler Zustände? Noch nicht direkt. Aber Dennett kann auf ihrer Grundlage jetzt einen Schritt vorbereiten, der ihn seiner Lösung des Problems näherbringen wird. Der Schritt besteht in der Beobachtung, daß die intentionale Strategie, so wie er sie beschrieben hat, viele normative Elemente und Idealisierungen enthält. Ein System als ein intentionales System aufzufassen heißt nicht nur, ihm irgendwelche Wünsche und Meinungen zuzuschreiben und anzunehmen, daß sie irgendwie zu seinem Verhalten führen. Es heißt anzunehmen, daß das System die Meinungen hat, die zu haben bei einer bestimmten sensorischen Ausstattung, einer bestimmten Biografie und bei bestimmten epistemischen Bedürfnissen ideal wäre. Es heißt anzunehmen, daß das System die Wünsche hat, die zu haben bei bestimmten biologischen Bedürfnissen und in bestimmten Lebenslagen ideal wäre. Und es heißt schließlich anzunehmen, daß das System sich wie ein ideal rationaler Agent verhält. Das nun, so Dennetts Gedanke, bedeutet, daß man zwischen zwei ganz verschiedenen Interpretationen unserer Alltagspsychologie unterscheiden kann und unterscheiden muß. 15 Die eine ist die Interpretation, die wir aus der Exposition unseres Problems kennen und die maßgeblich zur Entstehung dieses Problems beiträgt. Man kann sie die realistische oder naturalistische Interpretation nennen. Sie lautet:

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(I)

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Unsere Alltagspsychologie ist zu verstehen als eine empirische, naturalistische Theorie über Verhalten. Sie beschreibt kausale Regularitäten, die durch extensive Induktion, also aufgrund von Erfahrung, entdeckt worden sind. Meinungen und Wünsche sind (genauso wie beispielsweise Schmerzen) reale, konkrete innere Zustände, die kausal zwischen Input und Output eines Systems vermitteln und auch untereinander in kausaler Interaktion stehen. Meinungen und Wünsche sind, mit anderen Worten, natürliche Arten von inneren Phänomenen, d.h.,meinen' (,glauben') und ,wünschen' (,wollen') sind (in Goodmans Terminologie) projizierbare, für Induktion geeignete Prädikate.

Wenn man die normativen und idealisierenden Elemente betrachtet, die nach Dennett für die intentionale Strategie konstitutiv sind, so gibt es jedoch auch eine andere Interpretation. Man kann sie die instrumentalistische oder rationalistische Interpretation nennen: (II)

Unsere Alltagspsychologie ist zu verstehen als ein rationalistischer Kalkül für Erklärung und Prognose - als eine idealisierende, abstrakte, instrumentalistische Interpretationsmethode für Verhalten. Intentionale Zustände - Gründe für Handlungen sind nicht postulierte und empirisch entdeckbare innere Zustände, wie es beispielsweise neurobiologische Zustände sind. Man braucht sie nicht aufzufassen als konkrete Elemente in einem inneren Mechanismus, der Verhalten produziert. Der Begriff einer Meinung etwa funktioniert nicht so wie Begriffe für die physikalischen oder chemischen (also kausalen) Veränderungen eines Körpers, sondern vielmehr wie der Begriff des Schwerpunkts eines Körpers, und die Kalkulationen, die durch die intentionale Strategie möglich werden, gleichen eher den Kalkulationen mit einem Kräfteparallelogramm als den Kalkulationen mit einer mechanischen Schalttafel. Die Mechanismen, von denen in der Alltagspsychologie die Rede ist, sind nicht konkrete innere Mechanismen in einem System; es sind abstrakte Operationen in einem Kalkül.

Dennett vertritt nun die doppelte These, (a) daß die zweite, instrumentalistische Interpretation der intentionalen Einstellung die richtige ist; und (b) daß diese Interpretation intentionaler Zuschreibungen zu einer neuen Lösung unseres Problems intentionaler Zustände führt, das zuletzt unlösbar erschien. Um die detaillierte Untersuchung dieser beiden Thesen einzuleiten und um deutlich zu machen, was von ihnen abhängt, beginne ich mit einigen vorgreifenden Bemerkungen. Zunächst: Was heißt es, daß unsere Alltagspsychologie instrumentalistisch, als rationalistischer

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Kalkül „zu verstehen ist"? Diese Formulierung ist von beabsichtigter Zweideutigkeit. Sie kann sowohl bedeuten, daß man die Alltagspsychologie so verstehen kann, als auch, daß man sie so verstehen soll. (Entsprechendes gilt natürlich auch für die realistische, naturalistische Interpretation.) Nach der ersten Lesart ist Dennetts These eine deskriptive Behauptung, die die Frage hervorruft: Ist es wirklich so, daß jemand, der Alltagspsychologie praktiziert, intentionale Zustände gar nicht als konkrete innere Zustände mit kausalen Eigenschaften auffaßt, sondern intentionale Zuschreibungen als Operationen in ein e m Kalkül betrachtet? Haben wir uns in der kausalen A n n a h m e (D), die in der Entstehung unseres Problems eine Schlüsselrolle spielte, so deutlich geirrt? U n d da es die idealisierenden Elemente in der intentionalen Erklärungsstrategie sind, die Dennett zu seiner Behauptung führen: Ist es wirklich wahr, daß wir in unserer C o m m o n Sense Psychologie derart normativ verfahren und zunächst immer davon ausgehen, daß wir ideal rationale A g e n t e n sind? - Nach der zweiten Lesart dagegen behauptet Dennett etwas, das nicht einfach an Intuitionen darüber gemessen werden kann, welche ontologischen Verpflichtungen mit unserer alltäglichen Psychologie verbunden sind. Was hier behauptet wird, ist, daß es theoretische Gründe dafür gibt, das intentionale Profil von Systemen, das in der intentionalen Einstellung gezeichnet wird, instrumentalistisch, d. h. als eine abstrakte Struktur zu interpretieren. U n d Dennett macht, grob gesprochen, zwei Arten solcher G r ü n d e geltend 1 6 , die in gewissem Sinn zueinander komplementär sind: Erstens argumentiert er, daß nur die instrumentalistische Interpretation den faktisch großen explanatorischen Erfolg der C o m m o n Sense Psychologie zu erklären vermag, und zweitens macht er geltend, daß nicht die naturalistischen, sondern nur die rationalistischen Elemente in dieser Psychologie die Chance bieten, die intentionale Erklärungsstrategie in das rigidere Erklärungsprojekt einer Verhaltenswissenschaft zu integrieren. Dennett glaubt, daß er sowohl die deskriptive als auch die theoretische Behauptung verteidigen kann. Was würde es für unser Problem bedeuten, wenn er es könnte? Erinnern wir uns: Das Problem besteht in dem Konflikt zwischen der realistisch-kausalen Interpretation intentionaler Zustände, die semantische Eigenschaften haben, und dem naturalistischen Erklärungsprojekt von Verhalten, in dem nur Zustände mit rein syntaktischen Eigenschaften vorkommen. Was würde folgen, wenn man den intentionalen Realismus durch einen intentionalen Instrumentalismus ersetzen könnte oder gar müßte? A n unserem Ausgangssatz (A) ändert sich in einer instrumentalistischen A u f fassung nichts: M e i n u n g e n und W ü n s c h e bleiben definiert durch Referenz, Bedeutung und Erfüllungsbedingungen. A u c h an Satz (B), der Wahrheitsannahme über intentionale Zuschreibungen, ändert

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sich nichts: Wenn der Begriff einer Meinung oder eines Wunsches ähnlich funktioniert wie der Begriff des Schwerpunkts eines Körpers, so gilt nach wie vor: Es ist wahr, daß wir Meinungen und Wünsche haben, genauso wie es wahrist, daß Körper einen Schwerpunkt haben. Das unterscheidet Dennetts instrumentalistischen Vorschlag von dem früher skizzierten Vorschlag einer theoretischen Elimination intentionaler Zustände, aus dem die Falschheit intentionaler Zuschreibungen folgen würde. Es gibt intentionale Zustände, so wie es Schwerpunkte gibt. Sie sind nicht fiktiv, so wie theoretische Entitäten fiktiv sind, die sich als inexistent herausgestellt haben, oder so, wie Romanfiguren fiktiv sind. In diesem Sinn bleibt nach Dennetts Vorschlag auch der Satz (C), die Existenzannahme über intentionale Zustände, bestehen. Etwas Entscheidendes freilich verändert sich an dieser Annahme: Zwar gibt es intentionale Zustände, aber nicht als konkrete innere Zustände, sondern als abstrakte Zustände, die in der rationalistischen Interpretationsmethode von Verhalten postuliert werden. Die Gründe unseres Handelns sind, so Dennetts Gedanke, nicht buchstäblich in uns zu suchen, als innere Ursachen unseres Verhaltens, genausowenig wie der Schwerpunkt eines Körpers buchstäblich in diesem Körper zu suchen ist, als innere Ursache seines Verhaltens. Damit wird unser Satz (D), die kausale Annahme über intentionale Zustände, verworfen. Der Bereich der inneren Verursachung unseres Verhaltens ist ausschließlich der Bereich neurobiologischer Zustände, der Bereich rein syntaktischer Repräsentationen. Verhaltenserklärungen, die semantische Repräsentationen - intentionale Zustände - zitieren, sind nicht kausale Erklärungen, die in Konkurrenz zu den kausalen Erklärungen der Neurobiologie stehen. Es sind überhaupt nicht kausale Erklärungen, genausowenig, wie Erklärungen, die mit dem Schwerpunkt von Körpern operieren, kausale Erklärungen sind. Unser Problem ist entschärft, ohne daß wir an der Wahrheit intentionaler Zuschreibungen und der Existenz intentionaler Zustände rütteln mußten, und ohne daß etwas von den essentiellen semantischen Eigenschaften dieser Zustände verlorengegangen wäre. Doch ist das Problem wirklich entschärft? Dem Vorschlag, die Annahme (D) fallen zu lassen, sind wir schon einmal begegnet: Es war der Vorschlag des Epiphänomenalismus. Läuft Dennetts intentionaler Instrumentalismus nicht einfach auf die epiphänomenalistische Position hinaus, die wir längst verworfen haben? Die Antwort, wie wir sehen werden, ist „nein". Denn im klassischen Epiphänomenalismus sind intentionale Zustände erstens konkrete innere Zustände, und zweitens haben sie in dem Sinne (und nur in dem Sinne) kausale Eigenschaften, daß sie kausale Produkte neurobiologischer Zustände sind. Beides gilt für die abstrakten Zustände des intentionalen Instrumentalismus nicht. Ist aber dieser Instrumentalismus nicht insofern

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eine Variante des Epiphänomenalismus, als unseren Meinungen und Wünschen - unseren Handlungsgründen - die kausale Wirksamkeit abgesprochen wird? Die Antwort wird sein „Ja, a b e r . . . " , und das „aber" wird sich darauf beziehen, daß Dennett mit der Unterscheidung zwischen verschiedenen explanatorischen Einstellungen und verschiedenen Ebenen der Beschreibung, Analyse und Erklärung eines Systems, die wir bereits kennengelernt haben, ein Instrument besitzt, um diesem Punkt die Spitze zu nehmen. Doch dieser Teil der Geschichte m u ß bis zum dritten Abschnitt dieses Essays warten. Zunächst gilt es, Dennetts Gründen für seine instrumentalistische Theorie intentionaler Systeme etwas genauer nachzugehen. 2.2 Meinungen, Wünsche und

Rationalität

Die intentionale Strategie ist außerordentlich erfolgreich, in der Erklärung wie in der Prognose von Verhalten. Wir bauen auf sie, ob wir uns nun in den Verkehr hinauswagen, Verabredungen treffen, Informationen austauschen oder uns sonstwie auf andere verlassen. Die vertrauten Formen menschlicher Interaktion und Kooperation wären unmöglich ohne die Annahme, daß die anderen bestimmte Dinge glauben und wünschen, und daß sie in Übereinstimmung mit ihren Meinungen und Wünschen handeln. Die Effizienz dieser Strategie vergrößert sich zusätzlich dadurch, daß wir einander intentionale Zustände höherer Ordnung zuschreiben können. „Er glaubt, daß sie wünscht, daß . . . " oder „Er will, daß sie meint, daß er glaubt, daß . . . " sind Beispiele für solche höherstufigen intentionalen Zuschreibungen, und es sind noch längst nicht die raffiniertesten Beispiele. Intentionale Zustände höherer Ordnung sind ferner immer dann im Spiel, wenn echte Kommunikation stattfindet. Und spätestens dann, wenn man sich als jemanden betrachtet, der mit anderen kommuniziert, wird einem klar, daß man nicht anders kann, als sich selbst als ein intentionales System aufzufassen. 1 7 Wir praktizieren die intentionale Einstellung in einfacheren und raffinierteren Formen mit großer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit. Kinder lernen sie schnell und ohne viel Erfahrung, auf die sie sich induktiv stützen könnten. Sie fällt ihnen so leicht, daß man ihnen abgewöhnen muß, sie auf beliebige Gegenstände anzuwenden. Und doch wissen wir erstaunlich wenig darüber, was es ist, was wir anderen und uns selbst in intentionalen Zuschreibungen zusprechen. Wir wenden die intentionale Strategie an, ohne viel über das Gehirn zu wissen. Man braucht nicht einmal zu wissen, daß es ein Gehirn gibt, um mit dieser Strategie erfolgreich zu sein. Und auch unabhängig von biologischen Betrachtungen fällt es uns schwer zu sagen, was Meinungen und Wünsche eigentlich sind. Wenn wir Wörter wie,glauben',,meinen',,wünschen', , wollen' usw. lernen, so lernen wir nahezu nichts über die innere Natur

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der Zustände, die wir mit ihnen bezeichnen. Niemand hat uns gesagt, was Meinungen und W ü n s c h e eigentlich sind. Wir lernen, diese Psychologie zu gebrauchen, aber wir lernen sie nicht als eine Theorie wir lernen keine Metatheorie. Unser Wissen von dieser Psychologie gleicht eher unserem Wissen von der Grammatik unserer Muttersprache.« Beobachtungen wie diese sind in Dennetts A u g e n wichtig, wenn es darum geht, zwischen der realistischen oder naturalistischen und einer instrumentalistischen Interpretation unserer Alltagspsychologie abzuwägen. N e h m e n wir die naturalistische Interpretation: Intentionale Zustände sind natürliche Arten von Phänomenen, konkrete innere Zustände, Elemente in einem kausalen Mechanismus zur Produktion von Verhalten. Ist es deskriptiv wahr, daß wir uns das so denken, wenn wir C o m m o n Sense Psychologie praktizieren, gegeben auf der einen Seite unsere Leichtigkeit und Raffinesse im Umgang mit dieser Psychologie, und auf der anderen Seite unsere nahezu vollständige Ignoranz, was die inneren Mechanismen eines intentionalen Systems angeht? Freilich, es gibt Phasen in der Entwicklung einer naturalistischen Theorie, in denen man über die innere Natur gewisser postulierter Entitäten und über die Details der entsprechenden Mechanismen noch nicht viel weiß, ohne daß dies gegen eine realistische Interpretation der Theorie spräche. Ein Beispiel ist die Genetik vor der Entdeckung der D N S - M o l e k ü l e . A b e r es gibt in solchen Fällen einen wichtigen Unterschied zur intentionalen Psychologie: Man weiß im Prinzip, was es heißen würde, die Natur der postulierten Entitäten aufzuklären und die relevanten Mechanismen zu entdecken. Wissen wir das im Fall von intentionalen Zuständen? Wissen wir überhaupt, was es heißen würde, mehr über sie herauszufinden, als daß sie Zustände mit semantischen Eigenschaften sind? Über konkrete innere Zustände mehr zu erfahren, heißt, ihren modus operandi kennenzulernen. G i b t es einen Sinn, nach dem modus operandi von M e i n u n g e n und W ü n s c h e n zu fragen? Haben solche Zustände eine innere Natur, aus der er sich erschließen ließe? Solche Fragen machen einen zumindest unsicher, und man beginnt die Pointe von Dennetts instrumentalistischer Konzeption zu ahnen: Wenn man intentionale Zustände als abstrakte Entitäten nach dem Modell des Schwerpunkts eines Körpers oder der Linien in einem Kräfteparallelogramm auffaßt, so erscheint unsere Ignoranz über die innere Natur dieser Zustände plötzlich in einem ganz anderen Licht: Sie ist gar nicht wirklich fehlendes Wissen, weil es hier nämlich gar nichts mehr zu wissen gibt als das, was jeder, der die intentionale Strategie verstanden hat, automatisch weiß. Es gibt bei intentionalen Zuständen ebensowenig eine innere Natur zu erforschen wie beim Schwerpunkt eines Körpers, und wenn man sich ausrechnen kann,

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was jemand aufgrund seiner M e i n u n g e n und W ü n s c h e tun wird, so ist es, wie wenn man aufgrund eines Kräfteparallelogramms das Verhalten eines Körpers berechnen kann: Die Regeln der Kalkulation zu kennen, heißt, alles über die beteiligten G r ö ß e n zu wissen, was es zu wissen gibt. Wäre unsere Alltagspsychologie eine naturalistische Verhaltenstheorie, so wäre es ein Rätsel - und das ist nun ein theoretischer Grund für die instrumentalistische Interpretation - , wie sie mit so viel Informationsarmut bezüglich innerer Mechanismen so erfolgreich sein kann. Sie wäre in dieser Hinsicht einzigartig. Interpretiert man sie dagegen instrumentalistisch, so ist dieses Rätsel nicht größer (und nicht kleiner) als beim explanatorischen Erfolg, den Kalkulationen mit abstrakten G r ö ß e n etwa in der Physik haben. So betrachtet sind die G r ü n d e unseres Handelns Zustände, die außer semantischen Eigenschaften nahezu nichts Konkretes an sich haben. U n d ist es nicht auch deskriptiv so, daß M e i n u n g e n und W ü n s c h e außerordentlich elusive, schwer greifbare Entitäten sind? D e r eine sieht etwas, der andere hört etwas, der dritte liest etwas. Drei ganz verschiedene Mechanismen, drei ganz verschiedene Erlebnisse, drei ganz verschiedene biografische Wirkungen und möglicherweise drei ganz verschiedene sprachliche Reaktionen. Verschiedener können naturalistische Fakten kaum mehr sein. U n d doch haben die drei Personen aus der intentionalen Perspektive eines gemeinsam: Sie glauben, daßp. Diese gemeinsame Eigenschaft ist nur aus dieser ganz besonderen Perspektive sichtbar. Faßte man sie als eine naturalistische Eigenschaft auf, durch Induktion entdeckt und projizierbar, so müßte man nun nach einer gemeinsamen Struktur in diesen naturalistisch sonst so verschiedenen intentionalen Systemen suchen. Ist das auch nur entfernt plausibel? Ist es nicht eher eine Verwechslung von Abstraktem mit Konkretem - eine Art Kategorienfehler, wie ihn jemand begehen würde, der unter dem Stichwort,Schwerpunkt' nach gemeinsamen Strukturen in Körpern suchen würde, die physikalisch und chemisch sonst denkbar verschieden sind? 19 Dennetts Idee, intentionale Zuschreibungen als einen Kalkül mit abstrakten Strukturen aufzufassen, läßt sich nun weiter verdichten, wenn man das Bild näher betrachtet, das er von den leitenden Prinzipien der intentionalen Strategie gezeichnet hat und das verständlich machen soll, warum dieser Kalkül ein rationalistischer Kalkül ist. D i e Pointe der gesamten intentionalen Erklärungsstrategie ist, aus dem Verhalten bestimmter Systeme Sinn zu machen.20 Das ist - retrospektiv oder prospektiv - das epistemische Ziel, wenn man einem System Zustände mit semantischen Eigenschaften, semantische Repräsentationen, zuschreibt. Dieses Ziel kann man nur erreichen, wenn man das intentionale oder semantische Profil eines Systems nach Prinzipien der Rationalität aufbaut. Warum? Und was sind diese Prinzipien?

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Beginnen wir mit den Meinungen, die wir einem System zuschreiben, wenn wir es als ein intentionales System auffassen. Welche Meinungen schreiben wir ihm zu? Dennetts Auskunft war, daß wir normativ verfahren und diejenigen Meinungen auswählen, die das System haben sollte. Und das hieß: wahre Meinungen, und unter ihnen diejenigen, die für das System in einer bestimmten Umgebung relevant sind. Woher kommen diese Normen? Es gibt bei Dennett zwei ganz verschiedene Überlegungsstränge zu diesem Punkt, die er selbst nicht immer sauber trennt. Das eine sind evolutionäre Überlegungen, die ihn zu dem Ergebnis führen: Die Fähigkeit zu glauben (meinen) hätte keinen Überlebenswert, wenn sie nicht die Fähigkeit wäre, Wahrheiten zu glauben, und zwar diejenigen Wahrheiten, die ein System braucht, um in einer bestimmten Art von Umgebung und in einer bestimmten Situation zurechtzukommen. Ein System, das größtenteils falsche Meinungen hat, ist eine evolutionäre Unmöglichkeit. 21 Wenn man sich klar macht, daß evolutionäre Überlegungen nicht selbst der intentionalen Einstellung angehören, sondern der nächst unteren Beschreibungsebene eines Systems, der funktionalen Einstellung, so erkennt man hier einen Gedanken wieder, den ich früher am Beispiel des Schachcomputers, also eines Artefakts, illustriert habe: Die intentionale Einstellung ist in ihrem explanatorischen Erfolg davon abhängig, daß das fragliche System das richtige Design oder Programm, d. h. die richtige funktionale Organisation hat. Und es ist nicht schwer zu sehen, wie Dennett sich diese Abhängigkeit in unserem Fall denkt: Während das funktionale Design bei Artefakten ein Produkt von intentionalen Systemen - den Konstrukteuren - ist, ist es bei natürlichen, biologischen Systemen das Produkt von Mutation und natürlicher Selektion, also einem Prozeß, der selbst nicht intentional ist. Das ändert an der Art von Abhängigkeit nichts, und genau diese Abhängigkeit wird jetzt zum evolutionären Argument für die weitgehende Wahrheit unserer Meinungen gemacht. Das Ergebnis der Evolution sind Arten von Systemen, deren Design für eine bestimmte Umgebung adäquat ist, und die Beschreibung dieser Adäquatheit lautet auf der intentionalen Ebene, daß die Meinungen dieser Systeme weitgehend wahr sind. Wäre dieses Argument wörtlich zu nehmen, so hätte das weitreichende Konsequenzen. Das Argument wäre die Basis für eine evolutionäre Erkenntnistheorie. Das cartesianische Projekt des methodischen Zweifels müßte nun als müßig erscheinen, denn der Träger eines solchen Projekts ist ein intentionales System (er stellt seine Meinungen in Frage), für das das evolutionäre Argument Geltung hätte. Und da er als Minimum weiß, daß er ein intentionales System ist, könnte er, gegeben die Schlüssigkeit des Arguments, auch wissen, daß er sich nicht in dem Umfang irren kann, den er ins Auge faßt. Ich

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glaube, es ist zumindest eine offene Frage, ob man in der Erkenntnistheorie auf dieses Argument bauen kann. Die Zweifel daran scheinen mir zu überwiegen, denn was aus der evolutionären Betrachtung zunächst folgt, ist nur, daß die Meinungen eines intentionalen Systems vis-ä-vis einer bestimmten Umgebung funktional adäquat sein müssen für die Möglichkeit des Überlebens, und es bedürfte eines zusätzlichen Arguments für die Annahme, daß diese funktionale Adäquatheit Wahrheit garantiert oder gar Wahrheit ist.12 Das freilich bedeutet nicht, daß Dennett die intentionale Strategie in diesem Punkt ganz falsch beschreibt. Was geschieht, ist einfach dies: Wenn wir die Umgebung und die Biografie einer Person kennen, so schreiben wir ihr all die Meinungen zu, von denen wir glauben, daß wir sie unter den entsprechenden Bedingungen haben oder hätten. Und da etwas zu glauben heißt, es für wahr zu halten, betrachten wir die zugeschriebenen Meinungen ebenfalls als wahr. Daraus folgt nicht, daß die nun als geteilt betrachteten Meinungen wirklich wahr sind. Aber es folgt, daß wir, wenn wir einem System überhaupt Meinungen zuschreiben, keine andere Möglichkeit haben, als ihm Meinungen zuzuschreiben, die wir für wahr halten. Das zeigt sich daran, daß wir eine intentionale Verhaltenserklärung, die von der durchgehenden Falschheit der Meinungen einer Person ausginge, nicht als eine Erklärung anerkennen würden. Unsere Reaktion wäre: „Aber das kann sie einfach nicht gemeint haben!" Und diese Reaktion gilt, ob es sich nun um sprachliches oder nicht-sprachliches Verhalten handelt: In beiden Fällen gilt das Resultat, daß ein intentionales System sich in allen für es relevanten Dingen irrt, als ein Indiz dafür, daß wir sein Verhalten noch nicht verstanden haben, weil es noch keinen Sinn ergibt. Wenn es vielleicht auch keine evolutionäre Unmöglichkeit ist, so ist ein intentionales System mit lauter falschen Meinungen doch eine explanatorische Unmöglichkeit. Das ist der zweite und, wie ich finde, wichtigere Überlegungsstrang, der sich bei Dennett zu diesem Aspekt der intentionalen Strategie findet. 23 Wir schreiben einem System wahre Meinungen nicht isoliert zu, sondern konstruieren sein Meinungsprofil nach einem Muster. Dieses Muster ist die Logik. Wir beginnen mit seinen bereits bekannten Meinungen und ziehen dann die inferentiellen Linien aus, die uns der logische Kanon vorgibt. Wir schreiben daher einem intentionalen System nicht widersprüchliche Meinungen zu, und wir schreiben ihm die logischen Konsequenzen aus bestimmten Meinungen als weitere Meinungen zu. Ein intentionales System ist, was seine Meinungen anlangt, ein konsistentes System mit deduktiver Übersicht. Das ist für Dennett ein entscheidender Grund gegen die naturalistische und für die rationalistische Interpretation unserer Alltagspsychologie. Wäre diese Psychologie eine naturalistische Verhaltenstheorie, die Mei-

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nungen als konkrete innere Zustände auffaßt, als Elemente in einem kausalen Mechanismus und somit als eine natürliche Art von Phänomenen, über die man induktiv generalisieren kann, so würde man erwarten, daß wir in der Konstruktion des Meinungsprofils eines intentionalen Systems nach einem kausalen Muster, also nach Naturgesetzen, verfahren. Das offensichtliche deskriptive Faktum aber ist, daß wir genau das nicht tun. Stattdessen lassen wir uns von der Logik, also einer abstrakten Struktur, leiten und benutzen die intentionale Strategie in diesem Sinn als eine rationalistische, instrumentalistische Interpretationsmethode für Verhalten. Und ist das verwunderlich, wenn Meinungen, wie wir gesehen haben, kaum etwas Konkretes an sich haben?24 Diese Linie der Überlegung setzt sich fort, wenn wir nun Zuschreibungen von Wünschen betrachten. Welche Wünsche schreiben wir einem intentionalen System zu? Auch hier war Dennetts Auskunft, daß es die Wünsche sind, die ein System haben sollte. Das sind zunächst die elementaren Wünsche, die sich aus seinen biologischen Bedürfnissen ergeben, wie der Wunsch nach Überleben, Essen, Sex, Sicherheit, Schmerzfreiheit, usw. Bei solchen Wünschen kommt die Suche nach Handlungsgründen typischerweise zum Stillstand. Warum? Auch hier gibt es, wie bei Meinungen, einen evolutionären Gesichtspunkt, d.h. einen Kommentar aus der funktionalen Einstellung: Eine Art von Systemen, die nicht das wünschen, was sie zum biologischen Überleben brauchen, wäre eine evolutionäre Unmöglichkeit. Es kann sie nicht geben, weil sie diese Wünsche nicht hätten und verfolgten. Und dieses Argument ist viel unproblematischer als das entsprechende bei Meinungen, weil der Begriff der Wahrheit nicht ins Spiel kommt. Wir schreiben intentionalen Systemen jedoch auch kompliziertere und raffiniertere Wünsche zu. Wie konstruieren wir sein weiteres Wunschprofil? Wie beispielsweise kommen wir dazu, ihm den Wunsch nach Geld oder - noch raffinierter den Wunsch nach CIBA-Aktien zuzuschreiben? Hier kommt ein Aspekt ins Spiel, den ich bisher noch nicht erwähnt habe: Das Wunschund das Meinungsprofil eines Systems sind eng miteinander verwoben, so daß wir in der intentionalen Strategie holistisch verfahren müssen, was die Gesamtheit der zugeschriebenen intentionalen Zustände anlangt. So wird der Wunsch nach Geld oder nach CIBAAktien dann und nur dann zugeschrieben, wenn wir von einem System annehmen können, daß es die relevanten Dinge über das Funktionieren von Geld, Firmen und Aktien glaubt. Kompliziertere Wünsche werden, mit anderen Worten, vor dem Hintergrund des kognitiven Bildes von der Welt zugeschrieben, über das ein System unserer Ansicht nach verfügt. Unser Kommentar dazu lautet oft, daß die Wünsche, die jemand hat, eine Funktion von dem sind, was er über

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die Welt weiß. Strenggenommen kommt es aber weniger auf Wissen als auf Glauben an. Alchimisten und Goldgräber sind dafür Beispiele. Entscheidend für Dennetts Konzeption ist, daß solche Wunschzuschreibungen sich ebenfalls an Prinzipien der Rationalität orientieren. Im Zuge von Handlungserklärungen schreiben wir Personen Wünsche zu, die zu haben rational wäre, in dem Sinn, daß sie zu ihren Meinungen über die Welt passen. Intentionale Systeme sind darin rational, daß sie nicht Dinge wollen, die sie für unmöglich halten. Sie sind im Aufbau ihrer Wünsche in dem Ausmaß rational, als sie dies im Prozeß ihrer Meinungsbildung sind. Und das ist in Dennetts Augen ein weiterer starker Grund gegen die naturalistische und für die rationalistische Interpretation unserer Alltagspsychologie. Der Kanon, nach dem die intentionale Strategie bei Wunschzuschreibungen operiert, ist nicht der kausale Kanon von Naturgesetzen über konkrete innere Zustände - was er sein müßte, wenn die realistische, naturalistische Interpretation zuträfe. Es ist der Kanon (wenn man ihn überhaupt so nennen kann) von praktischer Überlegung, der nach dem Schema funktioniert: „Was muß ich anstreben, wenn ich das-unddas will, und wenn ich glaube (oder weiß), daß die Welt so-und-so beschaffen ist?" Kürzer: „Was muß ich wollen, um meine Wünsche in dieser Welt erfüllen zu können?" Wir benützen, mit anderen Worten, auch in diesem Teil der intentionalen Strategie nicht empirisches Wissen über die inneren Mechanismen von intentionalen Systemen, sondern eine abstrakte Struktur von praktischer Rationalität. Wie, wenn nicht instrumentalistisch, läßt sich unser Erfolg damit erklären, gegeben, daß wir über empirisches Wissen von inneren Mechanismen gar nicht verfügen? Und um die Parallele zu Meinungen zu vervollständigen: Haben Wünsche nicht genausowenig Konkretes an sich wie Meinungen? Gewiß, sie sind jeweils Wünsche-daß-p und haben also semantische Eigenschaften. Aber diese Wünsche können von Systemen geteilt werden, deren naturalistische Charakteristika so verschieden sind wie nur möglich, und deshalb, so Dennetts Gedanke, wäre auch hier die Suche nach einer gemeinsamen inneren Struktur ein irregeleitetes Projekt. Die Annahmen der Wahrheit, der Konsistenz, der deduktiven Übersicht und der praktischen Rationalität oder Zweckrationalität machen es aus, daß ein intentionales System insgesamt als ein rationaler Agent aufgefaßt wird. Wir brauchen diese Annahmen für unser epistemisches Ziel, aus seinem Verhalten - seinen Handlungen - Sinn zu machen. Aus Handlungen Sinn zu machen heißt, sie zu rationalisieren. Um mit solchen Rationalisierungen explanatorisch und prognostisch erfolgreich zu sein, brauchen wir schließlich noch eine letzte Annahme: 25 Intentionale Systeme tun tatsächlich das, was zu tun rational wäre. Wäre diese Annahme falsch, so wäre der epistemische

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Prozeß der Rationalisierung ein müßiges Spiel. Gäbe es eine systematische Kluft zwischen den intentionalen Zuständen eines Systems und seinem tatsächlichen Verhalten, so könnten wir so viele Rationalisierungen entwickeln, wie wir wollten: Unsere Handlungsprognosen würden nie stimmen, und wir hätten keinen Grund zu der Annahme, daß unsere retrospektiven Handlungserklärungen die richtigen Erklärungen sind. Und mehr: Wir verlören den Begriff einer Handlung als eines Stücks Verhalten, für das es eine intentionale Interpretation gibt. Wenn wir den Fall, in dem jemand Ρ nicht tut, obwohl er Q will und sicher ist, daß er Ρ tun muß, um Q zu erreichen, einen Fall von Willensschwäche nennen, so gilt als ein Prinzip der intentionalen Strategie: Intentionale Systeme sind nicht willensschwach. Woher nehmen wir dieses Prinzip? Dennett hat erneut eine Antwort zugunsten seiner instrumentalistischen Konzeption von intentionalen Systemen: Es wäre ein Fehler (wiederum eine Art Kategorienfehler), dieses Prinzip als eine naturalistische Generalisierung aufzufassen und zu sagen, daß es eine empirische Tatsache über intentionale Systeme ist, daß sie in ihrem Verhalten ihren Wünschen und Meinungen folgen. Es verhält sich in gewissem Sinn genau umgekehrt: Zu sagen, daß jemand etwas glaubt und wünscht, heißt, daß er sich unter bestimmten Umständen auf bestimmte Weise verhält. Auf welche Weise? So, wie es rational wäre sich zu verhalten, gegeben die übrigen Wünsche und Meinungen dieser Person. 26 Wenn dies aber zur Bedeutung von Meinungs- und Wunschzuschreibungen gehört, dann kann es nicht eine naturalistische, empirische, kausale Frage sein, ob intentionale Systeme willensschwach sein können oder nicht. Dann können sie es a priori nicht sein. Das mag seltsam klingen, aber es heißt nichts weiter als dies: Wenn man ein Verhalten antrifft, das im Lichte einer bestimmten intentionalen Interpretation ein Fall von Willensschwäche zu sein scheint, so kann es nicht darum gehen, nach einem Defekt in einem inneren Mechanismus zu suchen - gewissermaßen nach einem fehlenden Glied in der Kausalkette, die sonst intentionale Zustände und Handlungen aneinander bindet. Einen solchen Mechanismus gibt es nicht. Der Anschein der Willensschwäche ist für die intentionale Strategie vielmehr ein Indiz, daß die Rationalisierung der fraglichen Handlung noch nicht gelungen ist - daß es noch nicht wirklich gelungen ist, aus ihr Sinn zu machen. Der rationalistische Kalkül muß erneut in Gang gesetzt, das intentionale Profil der Person muß neu konstruiert werden, bis daß der Anschein der Willensschwäche verschwunden ist, und sein Verschwinden ist für die intentionale Einstellung das Kriterium des explanatorischen Erfolgs. Fehlende Willensschwäche als Aspekt von Rationalität unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von ihren anderen Aspekten: Sie ist ein a-priori-Element in einer auch sonst a priori arbeitenden Strategie.

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Die Elemente dieser Strategie sind jetzt vollzählig. Man kann das Bild, das entstanden ist, auffassen als die Auswicklung einer Beobachtung, die in der Handlungstheorie häufig genannt worden ist: Handlungen aus der intentionalen Perspektive zu erklären, heißt immer auch, sie als unter den gegebenen Umständen vernünftig zu verteidigen. Nun ist es an der Zeit, einer schon lange lauernden Frage ins Gesicht zu sehen: Ist es nicht völlig unrealistisch, unsere Alltagspsychologie nach diesem rationalistischen Muster zu interpretieren? Ist es nicht einfach empirisch falsch, daß wir ideal rationale Agenten sind? Gibt es nicht offensichtlich Fälle von falschen oder widersprüchlichen Meinungen, von fehlender deduktiver Übersicht, von biologisch abwegigen und irrationalen Wünschen, von mißlungener praktischer Überlegung und von Willensschwäche? Und sprechen diese Fakten nicht viel eher für die realistische oder naturalistische Interpretation der Alltagspsychologie? Wenn man den Blick von den abstrakten Strukturen der Rationalität abwendet und sich auf die tatsächliche empirische Verfassung von intentionalen Systemen konzentriert: Müssen wir dann nicht doch von intentionalen Mechanismen kausaler Art sprechen, die im Idealfall der Rationalität reibungslos funktionieren, die aber störungsanfällig sind, wie die zahlreichen Fälle von Irrationalität zeigen? Anders ausgedrückt: Müßte uns eine idealisierende intentionale Strategie, wie Dennett sie beschreibt, nicht über weite Strecken im Stich lassen, wenn es darum geht, das Verhalten von unvollkommenen intentionalen Systemen, wie wir es sind, zu erklären? Dennett geht aber zu Recht davon aus, daß unsere tatsächliche intentionale Strategie sehr weit trägt. Müßte er daraus nicht schließen, daß seine rationalistische Interpretation dieser Strategie falsch ist?27 Dennetts Antwort auf diese Fragen ist außerordentlich kompliziert und vielschichtig. Sie ist ein Beispiel für das, was ich ganz zu Beginn sagte: Der Gegenstand der Betrachtung weigert sich stillzustehen. Ich habe nicht den Raum, u m die gesamte Komplexität seiner Antwort nachzuzeichnen. Was ich tun kann, ist nur, diese Komplexität auf einige Grundgedanken zu reduzieren, von denen Dennett immer wieder Gebrauch macht. Es gibt, soweit ich sehe, vier Linien der Überlegung, die eine Rolle spielen - gewissermaßen vier Vektoren in seiner Antwort. Die beiden ersten sind - um meine frühere Unterscheidung in Erinnerung zu bringen - deskriptive Überlegungen, die beiden anderen sind theoretische Gründe für einen intentionalen Instrumentalismus: 2 8 (1) Rationalität als konstitutive A n n a h m e in der intentionalen Strategie ist weder vollständige Irrtumsfreiheit (Infallibilität) noch perfekte logische Konsistenz oder perfekte deduktive Übersicht, (a) Natürlich

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sind unsere Meinungen manchmal falsch. Aber man darf die Unzahl vollständig banaler wahrer Meinungen nicht übersehen, die wir alle teilen. Demokrit irrte sich in seiner Physik gewaltig; aber die Anzahl seiner Irrtümer war verschwindend verglichen mit all den banalen Meinungen über die Welt, die er mit seinen Zeitgenossen teilte. (b) Natürlich übersehen wir nicht immer alle logischen Konsequenzen aus dem, was wir glauben. Sonst gäbe es nicht das Phänomen, daß wir durch das Ausziehen inferentieller Linien Neues lernen. Und weil unsere Meinungen nicht transparent sind gegenüber allen logischen Implikationen (weil sie nicht, wie die Logiker sagen,,unter bekannter logischer Implikation geschlossen' sind), verwickeln wir uns manchmal in Widersprüche. Aber es gehört eben zu intentionalen Systemen, daß sie Widersprüche vermeiden wollen, und daß sie die Logik als Instrument für kognitiven Fortschritt akzeptieren. Solche Systeme streben nach immer größerer Rationalität, und das ist der Grund, warum man ihr intentionales Leben nicht nach naturalistischen oder kausalen Prinzipien verstehen kann, sondern nur mit einer rationalistischen Interpretationsmethode erfolgreich ist. Dasselbe gilt bei Wünschen, bei praktischer Rationalität und bei Willensschwäche: (c) Natürlich bilden wir auch irrationale, abwegige und gelegentlich selbst-destruktive Wünsche aus. Oberhalb einer gewissen Grenze von biologischer Fixiertheit sind wir in unseren Wünschen plastisch und müssen uns unsere Ziele selbst setzen. Diese Ziele sind nicht einfach starre Verlängerungen biologischer Bedürfnisse, und oft ergeben sie sich ganz zufällig. Doch um zufallig entstandene (und in diesem Sinn irrationale) Wünsche herum bilden sich dann Strukturen der praktischen Rationalität - so, wie aus dem zufällig eingedrungenen Fremdkörper in der Muschel die Perle entsteht. 2 9 (d) Natürlich scheitern wir mit unseren praktischen Überlegungen manchmal. Aber wir reagieren darauf nicht etwa mit einem Programm der naturalistischen, kausalen Selbstverbesserung, sondern mit neuen Anstrengungen des Denkens, die man wiederum nur rationalistisch verstehen kann, (e) Natürlich erscheinen uns die anderen und wir uns selbst manchmal als willensschwach. Wenn es damit aber ernst wird, ist das einzige, was wirklich Abhilfe schaffen kann, nicht ein naturalistisch beschreibbarer Prozeß der Überwindung von inneren Hindernissen, also ein Aufbieten zusätzlicher kausaler Kraft, sondern ein Prozeß der Aufklärung über das, was man wirklich wünscht und glaubt. Und die leitenden Prinzipien in dieser Aufklärung sind erneut Prinzipien der Rationalität. Worunter intentionale Systeme leiden, wenn sie willensschwach zu sein scheinen, ist eine Selbsttäuschung über ihre wahren Wünsche und Meinungen, und Abbau von Selbsttäuschung ist ein rationaler, d.h. rationalistisch zu interpretierender Prozeß.

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(2) Es gibt also empirische Fakten der Irrationalität an intentionalen Systemen. Entscheidend aber ist, daß das, streng genommen, keine intentionalen Fakten mehr sind. Denn auf dem intentionalen Beschreibungsniveau eines Systems sind sie nicht kohärent darstellbar. Es ist richtig, daß wir in der alltäglichen Psychologie auch Fälle von Irrationalität im intentionalen Vokabular kommentieren: „Er hat sich von den Lichtverhältnissen täuschen lassen", „Sie hat zwei und zwei nicht zusammengezählt", „Er hat die Konsequenzen nicht bedacht", „Sie hat das Naheliegende übersehen", „Er handelt nicht konsequent", „Sie ist einem Fehlschluß zum Opfer gefallen", usw. Doch es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß wir es hier mit intentionalen Beschreibungen zu tun haben, die auf eigenen Füßen stehen können und nicht auf die Perspektive der Rationalität angewiesen sind. Denn wir können solche Formen von Irrationalität nur aus dieser Perspektive überhaupt entdecken. Sie zu entdecken heißt, von der Annahme der Rationalität eines intentionalen Systems - die sich dann als eine kontrafaktische A n n a h m e herausstellt - auszugehen und dann nach unten zu korrigieren. Und in diesem Prozeß der Korrektur kommen wir sehr schnell an den Punkt, wo es nur noch zwei Möglichkeiten gibt: Entweder halten wir weiter daran fest, daß es für dieses bestimmte Verhalten eine intentionale Interpretation gibt; dann tritt das Kriterium in Kraft, daß nichts als eine solche Interpretation zählt, was die betreffende Person als grob irrational darstellt, und so müssen wir unsere bisherigen intentionalen Prämissen über diese Person revidieren, bis es uns gelungen ist, aus ihrem Verhalten doch noch Sinn zu machen. Oder wir stellen fest, daß es zu irrational ist, um aus ihm Sinn zu machen; dann aber wäre es explanatorisch inkohärent, dieses Verhalten weiterhin durch intentionale Zustände und semantische Repräsentationen erklären zu wollen. Dieses bestimmte Verhalten kann dann nicht mehr als Ausdruck eines intentionalen Systems gelten. Wir können aus Gründen der begrifflichen Kohärenz nicht beides haben: Irrationalität und Intentionalität. Es mag sein, daß wir in der alltäglichen Psychologie manchmal so tun, als könnten wir beides haben. Aber das spricht, wenn es der Fall ist, nicht gegen die rationalistische Rekonstruktion dieser Psychologie, sondern gegen die Kohärenz derjenigen, die sie so anwenden. (3) Wenn wir ein Verhalten nicht mehr intentional erklären können, weil der Rationalisierungskalkül versagt, so bedeutet das nicht, daß wir es überhaupt nicht erklären können. Wir können es (im Prinzip jedenfalls) in der funktionalen oder der physikalischen Einstellung erklären. Wir postulieren dann Strukturen und Prozesse unterhalb der intentionalen Ebene, und auf diesen unteren Ebenen sind unsere Erklärungen naturalistisch. Wenn wir auch hier noch von ,Psycholo-

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gie' sprechen wollen (weil es sich immer noch um Verhalten Verklärungen handelt), so können wir sie subpersonale Psychologie30 nennen, denn dort, wo der Bereich des Intentionalen aufhört, hört auch der Bereich von Personalität auf. Hier und nur hier ist es richtig, nach Mechanismen zu suchen, die Verhalten erklären - seien es nun neurobiologische Mechanismen oder, abstrakter beschrieben, Mechanismen der Informationsverarbeitung. Es ist wahr, daß auch in der alltäglichen, personalen Psychologie gelegentlich von inneren Mechanismen die Rede ist, wenn es gilt, Irrationalität zu erklären: „Ich war müde und unaufmerksam", „Seine Konzentration setzte aus", „Sie hatte zuviel im Kopf und hat es vergessen", „Ich war verwirrt", usw. Das trägt zu dem falschen Eindruck bei, auch die personale Psychologie sei bereits eine naturalistische Theorie, oder zumindest, sie ginge bruchlos in eine solche über. Doch diese vagen Common Sense Konstrukte sind keine ernstzunehmenden theoretischen Entitäten, an die eine subpersonale Psychologie etwa direkt anschließen könnte. Denn bei genauem Hinsehen erkennt man, daß auch sie ihren Ursprung im Prozeß der Rationalisierung von Verhalten haben: Die Konstrukte sind Erfindungen, um irrationales Verhalten zu entschuldigen. Wir sagen: „Ich muß unkonzentriert gewesen sein", „Ich muß das vergessen haben", usw., und wenn wir dann hinzufügen: „Anders kann ich mir mein Verhalten nicht erklären", so wollen wir eigentlich sagen: „Anders kann ich mein Gesicht als rationale Person nicht wahren". Hypothesen über innere Prozesse, die aus diesem Bedürfnis entspringen, sind keine ernstzunehmenden Vorläufer subpersonaler Psychologie. Eine naturalistische Psychologie vergißt sie am besten und beginnt von vorne. 31 (4) Wenn sie das tut, so muß sie als erstes erklären, wonach sie sucht. Das kann sie nicht, wenn sie sich ««rauf die funktionale und physikalische (neurobiologische) Einstellung beschränkt. Denn in diesen Einstellungen gibt es zahllose Fakten zu entdecken, die für eine subpersonale Psychologie völlig uninteressant sind. Wie unterscheidet man hier zwischen Relevantem und Irrelevantem? Indem man abstrakte intentionale Strukturen, wie die intentionale Strategie sie sichtbar macht, zum Ausgangspunkt nimmt und sich fragt, wie ein System in seinen funktionalen und neurobiologischen Aspekten beschaffen sein muß, damit es diese abstrakten Strukturen erfüllen kann. In diesem Sinn braucht eine naturalistische, realistische Verhaltenstheorie die rationalistische, instrumentalistische Theorie intentionaler Systeme. 32 Wir müssen die Kamera nun wieder ein Stück weit zurücknehmen, um die größeren Umrisse von Dennetts Konzeption erkennen zu können. Wir kennen jetzt die Gründe für seinen intentionalen Instru-

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mentalismus. Nun wollen wir genauer wissen, inwiefern er beanspruchen kann, damit auch einen Ausweg aus unserem ursprünglichen Problem intentionaler Zustände gefunden zu haben. 2.3 Instrumentalismus und Objektivität Verhalten mit der intentionalen Strategie zu erklären, heißt nicht, es unter naturalistische, kausale Gesetze zu subsumieren. Handlungen zu erklären heißt, sie durch abstrakte intentionale Strukturen zu interpretieren, die in der intentionalen Einstellung (und nur in ihr) sichtbar werden. Diese Strukturen spiegeln Aspekte von Rationalität wie Wahrheit, Konsistenz, deduktive Übersicht und Zweckrationalität. Das Verfahren der Handlungserklärung ist deshalb eine Art rationalistische Hermeneutik,33 Dennett hat sie als die Anwendung eines rationalistischen Kalküls beschrieben und hat sie damit in die Nähe von Dingen wie der rationalen Entscheidungstheorie, der Spieltheorie und der epistemischen Logik gerückt. 34 Kann man sie nicht auch anders verstehen? Ein traditioneller Vorschlag lautet, daß wir uns, wenn wir aus dem Verhalten anderer Sinn machen wollen, in deren Lage versetzen und uns fragen, was wir in einer solchen Lage denken, wünschen und tun würden. Wir benützen uns selbst gewissermaßen als einen analogen Computer, um das intentionale Profil einer anderen Person zu simulieren. Dieser Vorschlag scheint zunächst den großen Vorzug zu haben, daß er - um ein früheres Stichwort aufzunehmen viel realistischer klingt als Dennetts Konzeption. Denn die leitende hermeneutische Frage, so scheint es, ist jetzt nicht die normative, idealisierende Frage: „Was sollte der andere tun?", sondern die deskriptive realistischere Frage: „Was würde ich tun?" Die Perspektive der empirischen Simulation kommt einem nicht zuletzt deshalb viel plausibler vor als die Perspektive eines a priori Kalküls, weil es unwahrscheinlich erscheint, daß sich die vielfaltigen Formen von praktischer Überlegung und praktischer Rationalität in einem Kalkül einfangen lassen. Ist deshalb nicht unsere einzige Chance, die anderen zu verstehen, die, hypothetisch in sie hineinzuschlüpfen und unsere eigene Raffinesse, Kompetenz und Erfahrung in praktischer Rationalität explanatorisch auszubeuten? 35 Doch dieser Unterschied zwischen Simulation und Kalkül besteht nur zum Schein. Denn was, wenn nicht generelle Annahmen über unsere gemeinsame intentionale Natur, läßt mich erwarten, daß die Ergebnisse meiner Simulation explanatorische Gültigkeit auch für die anderen haben? Um mein intentionales Profil erfolgreich in die anderen hineinprojizieren zu können, brauche ich trotz allem eine Art intentionaler Theorie über uns alle. Wie anders könnte Hermeneutik als Simulation sonst funktionieren? Und ein zweiter, dazu komple-

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mentärer Punkt: D i e v o r g e s c h l a g e n e A l t e r n a t i v e zu D e n n e t t s K o n zeption läßt es zunächst so aussehen, als w ü r d e n wir in intentionalen SWösfzuschreibungen ganz anders verfahren als in .Fremi/zuschreib u n g e n . V i e l l e i c h t lauert hier im Hintergrund sogar ein g a n z grundsätzlicher Einwand g e g e n D e n n e t t s Projekt, wie wir es bisher kennengelernt haben: B e d e u t e t es nicht eine gravierende Einschränkung der Perspektive, w e n n man, wie D e n n e t t , die Interpretation anderer Pers o n e n z u m A u s g a n g s p u n k t f ü r eine T h e o r i e ü b e r Intentionalität n i m m t ? H a b e ich nicht intentionale G e w i ß h e i t e n über m i c h selbst, die überhaupt nicht auf einer Strategie der Erklärung b e r u h e n , g a n z zu s c h w e i g e n von e i n e m abstrakten Rationalisierungskalkül? D o c h auch der U n t e r s c h i e d z w i s c h e n Erklärungsstrategie und Introspektion besteht nur z u m Schein. W i e lerne ich das Resultat m e i n e r intentionalen Simulation anderer Personen k e n n e n ? I n d e m ich m i c h vis-ä-vis einer h y p o t h e t i s c h e n Situation als ein intentionales S y s t e m interpretiere, und diese Interpretation verläuft bei mir nicht anders als bei anderen s o l c h e n S y s t e m e n . „Was würde ich tun, w e n n ich w ü ß t e , daß ich nur n o c h drei W o c h e n zu leben habe?" W i e beantworte ich mir eine solche Frage? Ich denke darüber nach, was für eine Person ich bin, und k o m m e dann z u m Ergebnis, daß eine Person dieser Art das-und-das w ü n s c h e n und tun würde, und damit m e i n e ich, daß sie das-und-das w ü n s c h e n und tun sollte, denn ich m e s s e sie am Standard der Rationalität. U n d weil so auch Introspektion an diesen Standard g e b u n d e n ist, besteht die Alternative z w i s c h e n Simulation und rationalistischer Interpretation nur z u m Schein: D i e anderen an mir zu m e s s e n heißt, sie am Ideal der Rationalität z u m e s s e n d D e r K e r n aller H e r m e n e u t i k bleibt der Rationalisierungskalkül. Inwiefern sagen wir mit dieser instrumentalistischen Interpretationsm e t h o d e über S y s t e m e und ihr V e r h a l t e n etwas Wahres und etwas Objektives? Was diese Frage anlangt, so lassen sich in der E n t w i c k l u n g von D e n n e t t s Projekt z w e i Phasen unterscheiden. In der ersten beschrieb er die intentionale Strategie als etwas, das nur einen heuristischen Wert hat und nicht zu wahren und objektiven B e s c h r e i b u n g e n eines S y s t e m s führt. Seine A u s k u n f t lautete, die E n t s c h e i d u n g , ein e m S y s t e m g e g e n ü b e r die intentionale Strategie a n z u w e n d e n , sei eine rein pragmatische E n t s c h e i d u n g und k ö n n e nicht als in sich richtig oder falsch betrachtet werden. E n t s p r e c h e n d galt, daß etwas ein G e g e n s t a n d - nicht an sich ein intentionales S y s t e m ist, sondern nur in B e z i e h u n g a u f j e m a n d e n , der durch intentionale Z u s c h r e i b u n gen sein V e r h a l t e n z u erklären und zu prognostizieren versucht. U n d der e n t s c h e i d e n d e G r u n d dafür, diese Erklärungstaktik einzuschlagen, war f ü r D e n n e t t damals nicht, daß wir dadurch irgendwelche objektiven Fakten oder Wahrheiten über S y s t e m e e n t d e c k e n k ö n n e n , die uns sonst v e r b o r g e n blieben, sondern einzig und allein der U m -

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stand, daß wir auf dem funktionalen und physikalischen Beschreibungsniveau über die meisten Systeme viel zu wenig wissen, um Erklärungen aus der funktionalen oder physikalischen Einstellung entwickeln zu können. Intentionale Erklärungen erschienen als Erklärungen faute de mieux - als Erklärungen, die durch ein epistemisches Defizit motiviert sind. 37 Diese Betrachtungsweise hatte eine harte Konsequenz: Wenn ,intentionaler Instrumentalismus' das hieße, so würden wir in dem M o m e n t , wo das epistemische Defizit funktionaler oder physikalischer Art beseitigt wäre, aufliören, intentionale Systeme zu sein. Oder anders ausgedrückt: In den A u g e n von viel kenntnisreicheren und viel intelligenteren Wesen als wir es sind - Wesen von einem fremden Stern etwa - wären wir gar nie intentionale Systeme gewesen. Für sie wäre unsere intentionale Selbstinterpretation nichts weiter als ein hilfloser Mythos. Die Idee eines intentionalen Systems hätte den Status einer bloßen Fiktion, wenn auch einer für uns unverzichtbaren Fiktion. U n d entsprechend müßte vieles, was wir für unser Personsein als essentiell betrachten, als bloß fiktiv gelten: Rationalität, die Fähigkeit zu echter Kommunikation aufgrund intentionaler Zustände höherer Ordnung sowie freier Wille und die damit verbundenen Aspekte von Verantwortlichkeit. Wenn der intentionale Instrumentalismus eine Form von Fiktionalismus38 wäre, so gerieten all diese Dinge durch den Vormarsch der naturalistischen Wissenschaften in Gefahr. Wir hätten es potentiell mit genau dem eliminativen Materialismus zu tun, der uns schon früher inakzeptabel erschien. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat Dennett seine Konzeption später revidiert. Seine A u s k u n f t lautet jetzt 3 9 , daß es einem vis-ä-vis eines Systems zwar in gewissem Sinn frei steht, die intentionale Perspektive einzunehmen oder es nicht zu tun, daß es aber im Zusammenhang mit dieser Perspektive vollständig objektive Fakten und Strukturen gibt, die unabhängig davon bestehen, ob jemand tatsächlich die intentionale Strategie anwendet oder nicht. Es ist nicht ganz einfach, diese A u s k u n f t aufzuschlüsseln, denn wiederum weigert sich der Gegenstand der Betrachtung stillzustehen. Ich glaube, man kann und muß hier drei Beobachtungen unterscheiden, die Dennett macht und die er selbst nicht ganz scharf trennt: (1) Für die Feststellung, daß man darin frei ist, die intentionale Strategie anzuwenden, gibt es eine gänzlich triviale und eine folgenreiche Lesart. Nach der ersten heißt sie einfach: Man kann die intentionale Strategie genau so anwenden oder es lassen, wie man auch alle anderen Dinge tun oder lassen kann. Nach der zweiten Lesart hieße die Feststellung: Man würde nichts verlieren, d.h. keine objektiven Fakten übersehen, wenn man diese Strategie fallen ließe. Es war ein Kennzeichen der ersten Phase in Dennetts Projekt, daß diese zweite Feststellung gelten sollte,

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und es kennzeichnet seine heutige Position, daß sie nicht gilt. Also kann es sich nur um die erste, triviale Beobachtung handeln: Man kann die intentionale Perspektive - sogar im eigenen Fall - beiseite lassen, wenn man alle epistemischen Bedürfnisse auch beiseite läßt, z.B. das Bedürfnis zu erfahren, was die anderen wissen. Wenn die Wesen vom fremden Stern dieses Bedürfnis aber haben, dann kommen sie genausowenig ohne die intentionale Strategie aus wie wir. (Nicht einmal Gott käme dann ohne sie aus.) (2) Die Verhaltensmuster, die aus der intentionalen Perspektive (und nur aus ihr) sichtbar werden, sind objektiv in einem doppelten Sinn: (a) Sie sind im Prinzip für alle gleichermaßen erkennbar, d.h. intersubjektiv zugänglich. (b) Sie sind da oder vorhanden, gleichgültig, ob sie jemand sieht oder nicht. Wenn die Wesen vom fremden Stern uns nicht aus der intentionalen Perspektive betrachten, dann verpassen sie etwas: wahre kontrafaktische Aussagen über intentionale Systeme, wie sie in intentionalen Erklärungen und Prognosen vorkommen. Sie mögen die Laplacesche Ordnung in unserer Welt sehen, aber sie sind blind gegenüber der intentionalen Ordnung, die, wie wir gesehen haben, eine abstraktere Ordnung ist. (3) Nicht nur gibt es objektive Fakten über intentionales Verhalten. Es gibt solche Fakten auch über die intentionale Strategie selbst: Man findet etwas vollständig Objektives über die Welt heraus, wenn man entdeckt, daß die intentionale Strategie funktioniert, wo sie funktioniert und wie gut sie funktioniert. Auch solche Fakten sind intersubjektiv, und auch sie sind ein Teil der Welt. Diese neue Definition des intentionalen Instrumentalismus hat eine wichtige Konsequenz: Nach der alten Definition liefen wir Gefahr, durch den Vormarsch der naturalistischen Wissenschaften unseren Status als Personen mit freiem Willen, Entscheidungsfähigkeit und Verantwortung zu verlieren. Nach der neuen Definition dagegen sind wir als Personen und moralische Subjekte immun gegen den epistemischen (wenn auch nicht den technologischen) Fortschritt im naturalistischen Studium des Menschen. Wir mögen noch so viel über uns als biologische und informationsverarbeitende Systeme herausfinden: Es kann sich an keinem Punkt dieser Entwicklung herausstellen, daß wir keine intentionalen Systeme sind. 40 Denn ein intentionales System zu sein heißt nicht, von einem intentionalen Mechanismus gesteuert zu sein, der später als fiktiv entlarvt und durch einen neurobiologischen Mechanismus ersetzt werden könnte. Es heißt vielmehr, nach gewissen intentionalen Mustern zu handeln, die abstrakt und überhaupt nicht Thema naturalistischer Wissenschaften sind, ohne daß sie deswegen das geringste an Objektivität einbüßen.

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die intentionale

Strategie?

Die intentionale Psychologie ist nicht eine naturalistische Verhaltenstheorie, die die kausale Herkunft von Handlungen erklärt. Sie ist eine rationalistische Hermeneutik, die konkrete Handlungen als I n s t a l l ierungen oder Realisierungen von abstrakten intentionalen Strukturen interpretiert und sie dadurch als rational verteidigt. Unter dem Stichwort,Psychologie' ist deshalb zwischen zwei Projekten strikt zu unterscheiden: 4 1 Auf der einen Seite haben wir die formale, abstrakte intentionale Systemtheorie - eine Wissenschaft von intentionalen Profilen, den Regeln ihrer Konstruktion und den Prinzipien intentionaler Erklärungen und Prognosen. Psychologie als intentionale Systemtheorie hat Systeme immer nur als ganze Systeme zum Gegenstand, denn die logischen Subjekte von intentionalen Zuschreibungen sind immer die ganzen Systeme und nicht ihre Teile oder Teilsysteme. Was ihren inneren, naturalistischen Aufbau betrifft, so behandelt die intentionale Systemtheorie ihre Gegenstände als black boxes: Sie kümmert sich nicht um die innere Mechanik intentionaler Systeme. Auf der anderen Seite gibt es das Projekt einer subpersonalen Psychologie. Sie ist die empirische, naturalistische Disziplin, der die Aufgabe zufällt, intentionale Systeme auf dem funktionalen und physikalischen Beschreibungsniveau zu analysieren. Sie ist die Gesamtheit der Anstrengungen, intentionale Systeme in ihrer Realisierung als physikalische oder biologische und als informationsverarbeitende Systeme zu verstehen. Was bedeutet diese Konzeption für die Variante des Leib-Seele Problems, von der wir ausgegangen sind? Sie bedeutet zunächst, daß jegliches Motiv für eine Reduktion verschwunden ist. 42 Ein Motiv, intentionale Zustände auf funktionale oder neurobiologische Zustände zu reduzieren, kann man nur haben, wenn man sie irrtümlich als eine Art von naturalistischen, kausalen Zuständen auffaßt. Man gerät dann in Not, weil man nicht sieht, wie man Zustände mit semantischen Eigenschaften in einem kausalen Mechanismus unterbringen soll, der ein rein syntaktischer Mechanismus ist. Es scheint dann keine andere Möglichkeit zu geben, als die semantischen Zustände irgendwie auf syntaktische Zustände zu reduzieren. Das ist das reduktionistische Motiv. Hat man einmal begriffen, daß es nicht darum gehen kann, die intentionale Psychologie zu naturalisieren, so erscheinen alle Formen von Reduktionismus als gleichermaßen verfehlt. Wenn man sich klar gemacht hat, daß die Strukturen, die aus der intentionalen Perspektive sichtbar werden, nicht konkrete Strukturen in uns sind, so wird man nicht mehr die Frage stellen: „Wie ist es nur möglich, daß intentionale Zustände kausal wirksam sind?", oder: „Wie erklären wir

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uns, daß semantischer Gehalt in einer syntaktischen Welt Wirkungen hat?". Diese Fragen benennen in Dennetts A u g e n ein Scheinrätsel, ein Pseudoproblem. Intentionale Systeme sind sowohl syntaktische Maschinen als auch semantische Maschinen43, aber sie sind dies auf verschiedenen Ebenen der Betrachtung: Insofern wir konkrete, naturalistisch erklärbare Systeme sind, sind wir rein syntaktische Maschinen, angetrieben durch nichts als sehr komplizierte syntaktische Mechanismen. Semantische Maschinen dagegen sind wir insofern, als wir abstrakte intentionale und semantische Strukturen instantiieren. Nach der kausalen Wirksamkeit von Bedeutung, Referenz und Erfüllungsbedingungen zu fragen heißt, diese beiden Betrachtungsebenen durcheinanderzubringen und Verwirrung zu stiften. Semantischer Gehalt hat keine kausale Wirksamkeit. Deshalb gibt es nicht den geringsten Grund, nach einer Reduktion von semantischen auf syntaktische Maschinen, von intentionaler Psychologie auf Informationstheorie oder Neurobiologie zu suchen. Dennett löst also unser Problem, indem er - wie früher schon einmal angedeutet - die beiden entscheidenden Prämissen (C) und (D) durch seinen intentionalen Instrumentalismus ersetzt. Das ist die Stelle, um noch einmal auf die früher formulierte Frage zurückzukommen: „Ist das nicht einfach eine Neuauflage des alten Epiphänomenalismus, und ist sie nicht genauso unbefriedigend wie dieser?" Wenn man sich ganz isoliert an der Auskunft orientiert, daß semantischer, intentionaler Gehalt nicht kausal wirksam ist, so wird die Antwort wohl „Ja" lauten müssen. A b e r man darf dabei etwas Wichtiges nicht aus dem A u g e verlieren: Das Haarsträubende am klassischen Epiphänomenalismus besteht darin, daß er intentionale Zustände sowohl als konkrete innere Zustände auffaßt, die zur naturalistischen Ordnung der Dinge gehören, als auch als Zustände, die keine kausale Wirksamkeit haben. Weil er dies beides tut, ist er eine paradoxe, inkohärente Position. Anders in Dennetts Konzeption: Zwar gelten intentionale Zustände als kausal irrelevant; aber das wird niemanden überraschen, der nicht zuvor den Fehler gemacht hat, sie als naturalistische Z u stände aufzufassen, die im Prinzip eine kausale Rolle spielen könnten oder sollten. Man darf, mit anderen Worten, nicht übersehen, daß es immer darauf ankommt, wer den Vorwurf des Epiphänomenalismus erhebt, d.h. welche Hintergrundsprämissen im Spiel sind. Und trotzdem bleibt eine Frage: Warum funktioniert die intentionale Strategie? Wir begegnen einem System j o n g l i e r e n mit unserem rationalistischen Interpretationskalkül, stellen Verhaltensprognosen auf - und es funktioniert! Wäre die intentionale Psychologie eine kausale Verhaltenstheorie, die über Gesetze verfügt, so wäre das nicht weiter rätselhaft. A b e r das ist sie nicht, und schiere Magie kann das G a n z e auch nicht sein. Warum also funktioniert es? 44

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Darauf gibt es eine kurze Antwort, die wir kennen, und eine lange Antwort, die wir noch kaum kennen. Der kurzen Antwort sind wir früher schon begegnet: Die Evolution hat dafür gesorgt, daß menschliche Wesen rational sind und also das glauben und wünschen, was sie glauben und wünschen sollten. Der Umstand, daß wir Produkte eines langen und schweren evolutionären Prozesses sind, bedeutet, daß wir getrost auf die intentionale Strategie setzen können. Wir hätten nicht überlebt, wenn unser biologisches Design nicht ein beträchtliches Maß an Rationalität garantierte - wenn es nicht so beschaffen wäre, daß die intentionale Strategie erfolgreich auf uns angewandt werden könnte. Und zu dieser Antwort paßt die triviale Beobachtung, daß wir bei weitem nicht immer perfekt rational sind und also oft unter das Niveau eines intentionalen Systems sinken: Das biologische Design einer evolutionär erfolgreichen Spezies muß gut sein, aber nicht optimal. Doch so kurz und elegant diese Antwort ist, so wenig informativ ist sie auch. Evolutionäre Auskünfte sind eben nicht mehr als sehr großflächige funktionale Kommentare. Um darüber hinaus gelangen zu können, müßten wir die detaillierte Geschichte darüber kennen, wie wir als syntaktische Maschinen im einzelnen arbeiten, vor allem, wie die biologische Maschine des Gehirns genau funktioniert. Das wäre die lange Antwort auf unsere Frage. Dennett hat sie natürlich genausowenig wie alle anderen. Aber er hat einige Rahmenüberlegungen zum Projekt einer subpersonalen Psychologie formuliert, die ich nun zum Schluß skizzieren will. Zunächst: Aus dem hoffnungslosen philosophischen Rätsel, mit dem wir begonnen haben, ist ein im Prinzip handhabbares empirisches Problem geworden. Das ist das Verdienst von Dennetts intentionalem Instrumentalismus. Ferner kennen wir bereits zwei Konsequenzen, die dieser für das empirische Projekt hat: (1) Die subpersonale Psychologie ist auf die intentionale Systemtheorie angewiesen: Sie muß sich an den intentionalen Strukturen orientieren, um zu wissen, wonach sie suchen soll, und um entscheiden zu können, ob das, was sie findet, relevant ist. (2) Wenn sie neurobiologische oder funktionale Strukturen gefunden hat, die als syntaktische Gegenstücke zu semantischen Strukturen gelten können, so hat sie damit nicht die innere Natur unserer intentionalen Zustände entdeckt. Das wäre ein falscher Kommentar zu ihren Entdeckungen, denn intentionale Zustände als abstrakte Zustände haben keine innere Natur, die entdeckt werden könnte. - Aus Dennetts Instrumentalismus folgt dann unmittelbar noch ein drittes: (3) Es kann keine psychophysischen Gesetze geben, zumindest nicht solche über intentionale Zustände. Wenn die Beziehung zwischen dem Mentalen und dem Physischen - zwischen Geist und Natur - nicht eine Beziehung zwischen zwei konkreten, naturalistischen Phänomenbereichen ist, sondern eine Beziehung zwischen

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Abstraktem und Konkretem, dann wäre es ein Kategorienfehler, diese Beziehung in empirischen, gesetzesartigen Generalisierungen einfangen zu wollen.45 Intentionale Systeme - das dürfte inzwischen klargeworden sein - können sowohl physikalisch als auch funktional auf ganz verschiedene Weisen realisiert sein. Das hatten sowohl die Identitätstheorie als auch der Funktionalismus übersehen. Nach syntaktischen Gegenstücken zu semantischen Zuständen zu suchen, kann deshalb nicht heißen, nach nomologischen Korrelationen zu suchen. Und es kann dies aus genau demselben Grund nicht heißen, aus dem Handlungserklärungen nicht als nomologisch-deduktive Erklärungen aufgefaßt werden können. Die subpersonale Psychologie kann davon ausgehen, daß die überlebensrelevanten Aspekte der Welt im Gehirn irgendwie repräsentiert sein müssen. Diese Annahme darf man - wie früher gesehen - nicht mißverstehen: Es handelt sich hier um ein System von rein syntaktischen Repräsentationen, mit denen das Gehirn nicht kognitiv, sondern rein mechanisch umgeht. Verblüffend an der Art, wie es das macht, ist, daß es auf der einen Seite zwar ein gigantisches System von Zellen, aber doch ein endliches, kompaktes und räumlich eng begrenztes System ist und daß es auf der anderen Seite so verläßlich, schnell und flexibel ist, daß wir - die Personen - in fast beliebigem Umfang fähig sind, neues Verhalten, neue Vokabularien und neue Theorien zu entwickeln. Es müssen hier ganz besonders elegante generative Prinzipien der Repräsentation am Werk sein. 46 Das einzige uns bekannte Modell für sie ist die menschliche Sprache. Und dieser Umstand kann dazu führen, daß man in der subpersonalen Psychologie ein System von mentalen Repräsentationen postuliert, das eine vergleichbare Tiefenstruktur hat wie unsere Sprache. Man postuliert, mit anderen Worten, eine Sprache des Denkens. Wenn man das tut, so bekommt man eine überraschend einfache Antwort auf die Frage, warum die intentionale Strategie funktioniert: Unsere mentalen Prozesse sind ein empirisches Modell für die abstrakten Strukturen der Logik und der Rationalität. Sie haben kausale Eigenschaften, insofern sie Verhalten verursachen, und sie haben inferentielle Eigenschaften, insofern sie rationales Verhalten verursachen. Die kausale und die inferentielle Struktur sind zueinander isomorph. 47 Wir wissen bereits, warum Dennett an diese Idee nicht glauben kann: Er hält sie für eine verfehlte Projektion von Intentionalität auf das subpersonale Niveau, die auf der einen Seite das falsche Versprechen enthält, intentionale Psychologie nun doch naturalisieren zu können, die auf der anderen Seite aber bereits auf der falschen Voraussetzung beruht, daß das möglich ist. Über seine Gründe für den intentionalen Instrumentalismus hinaus macht er gegen dieses Projekt zweierlei geltend. Das erste ist eine Maxime für alle subpersonale

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Psychologie: Man muß, wenn man innere Repräsentationen postuliert, zwischen ihrem Inhalt und ihrer Form unterscheiden. Wir wissen ungefähr, was auf dem subpersonalen Niveau repräsentiert sein muß, aber wir haben, ganz nüchtern betrachtet, keine Ahnung, wie es repräsentiert sein könnte. Der Umstand, daß die menschliche Sprache das einzige Modell ist, das wir kennen, darf uns nicht dazu verleiten, a priori etwas zu postulieren, für das wir keinerlei empirische Evidenzen haben. 48 Dennetts zweite Überlegung ist diagnostischer Art: Die Idee einer Sprache des Denkens kann jemandem attraktiv erscheinen, weil sie zunächst einfach wie eine Verlängerung der Beobachtung aussieht, daß intentionale Zustände einen propositionalen Gehalt haben. Doch jetzt muß man aufpassen: Das heißt nicht immer und nicht automatisch, daß intentionale Zustände mit einem sprachlichen Ausdruck, einer Proposition im Sinne eines Satzes, verbunden sind. Mit den Wörtern ,Meinung' und ,Wunsch', die auch in diesem Essay eine so große Bedeutung haben, werden jeweils zwei sehr unterschiedliche Phänomene bezeichnet. Auf der einen Seite handelt es sich einfach um die Zustände, die einem System in der intentionalen Einstellung zugeschrieben werden, ohne Rücksicht darauf, ob und wie das System sie - für andere oder für sich selbst - sprachlich formuliert. Auf der anderen Seite nennen wir auch solche Zustände Meinungen und Wünsche, für die es ausschlaggebend ist, daß ihnen eine sprachliche Formulierung entspricht. Ausschlaggebend wofür? Für ihre Bestimmtheit. Unsere Meinungen und Wünsche werden dadurch spezifischer, daß wir sie in Sätzen ausdrücken, und es ist für die anderen oft sehr wichtig, daß ich mich der Anstrengung unterziehe, sie spezifischer zu machen. Diese Anstrengung wird uns unter dem sozialen Druck der Sprache abgerungen. („Ich wünsche mir ein Auto." „Was für eins? Einen Lancia, einen BMW oder einen Mercedes?") Wenn wir nun Meinungen betrachten, so gilt es deshalb zu unterscheiden zwischen solchen Meinungen, die der Rationalisierungskalkül für Handlungen postuliert, ohne daß es wichtig würde, auf eine mögliche sprachliche Formulierung zu achten, und auf der anderen Seite Meinungen, die das Ergebnis eines Überlegungsprozesses sind, der in sprachlichen Schritten verläuft. Diese zweiten Meinungen sind das, was man manchmal auch Überzeugungen nennt. Es sind Zustände wie die, von denen die Rede ist, wenn wir sagen, wir hätten unsere Meinung geändert: Zustände, deren intentionaler Gehalt durch einen sprachlichen Satz fixierbar ist. Und nun lautet Dennetts Diagnose, daß eine subpersonale Psychologie, die eine Sprache des Denkens postuliert, dem Fehlschluß erliegt, daß, weil einige intentionale Zustände an Sätze gebunden sind, alle anderen auch nach dem Modell der Sprache verstanden werden müssen. Damit fällt das Projekt einer Illusion der Bestimmtheit aller intentionalen Zustände zum Opfer. 49

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Das bringt uns zum letzten Punkt: Inwiefern ist es gerechtfertigt, die intentionale Strategie über uns hinaus auch auf Wesen auszudehnen, die über keine der unseren ähnliche Sprache verfügen? Gilt sie auch für Tiere oder Pflanzen und für Artefakte wie Computer oder gar Thermostate? In der ersten Phase seines Projektes, in der es nur um den heuristischen Wert und nicht die Wahrheit von intentionalen Zuschreibungen ging, war Dennetts Antwort: Die intentionale Strategie ist pragmatisch überall dort gerechtfertigt, wo uns zur Zeit keine andere Erklärungsstrategie zur Verfügung steht, und sie ist überall dort nutzlos und irreführend, wo wir das Verhalten eines Systems genausogut aus der funktionalen oder physikalischen Perspektive erklären können. Damit schieden Thermostate und Wecker sowie Pflanzen mit ihren Tropismen als intentionale Systeme aus, während es bei Tieren und Computern zu einer Frage ihrer Komplexität warte: Überschauen wir die Biologie eines Tieres noch, oder wären wir explanatorisch verloren, wenn wir uns auf die physikalische und funktionale Einstellung beschränken wollten? Können die Ingenieure und Programmierer noch übersehen, was der Computer tun wird, oder ist es so komplex geworden, daß wir nur noch mit der intentionalen Strategie eine Chance haben? In dieser Phase hielt es Dennett für müßig zu fragen: „Welche Systeme haben nun wirklich Meinungen und Wünsche, und bei welchen ist die intentionale Strategie nur eine Strategie des als ob?"In der revidierten, objektivistischeren Fassung seines intentionalen Instrumentalismus dagegen braucht man diese Frage nicht als müßig zu betrachten. Was unterscheidet Systeme, bei denen eine intentionale Interpretation befremdlich erscheint, von solchen, bei denen sie ganz natürlich ist? Im Grunde hatte Dennett schon früher das Stichwort geliefert: Komplexität - und nicht etwa: innere Repräsentationen einer bestimmten Art. Die subpersonale Psychologie würde auf dem falschen Fuß beginnen, wenn sie glaubte, daß wir Meinungen und Wünsche nur solchen Dingen zuschreiben (oder zuschreiben sollten), in denen wir innere Repräsentationen finden. Es ist genau umgekehrt: Wenn wir ein System entdecken, für das die intentionale Strategie funktioniert, so interpretieren wir einige seiner inneren Zustände als Repräsentationen. Was gewisse innere Zustände zu Repräsentationen macht, kann nur ihre Rolle in der Regulation des Verhaltens eines intentionalen Systems sein. Wenn etwas echte von unechten intentionalen Systemen unterscheiden kann, dann nur das Ausmaß ihrer Komplexität: der Komplexität ihrer kausalen Verbindungen zur Umwelt, der eine bestimmte Komplexität im inneren Aufbau entspricht. Und das bedeutet, daß es sich um keinen prinzipiellen, sondern nur einen graduellen Unterschied handeln kann. Es gibt keinen magischen Moment im Übergang von einem einfachen Thermostat zu einem System, das wirkliche innere

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Repräsentationen hat und deshalb ein echtes intentionales System ist. Es gibt sehr große Komplexitätsunterschiede zwischen Systemen, aber trotzdem sind die Übergänge zwischen echten und unechten intentionalen Systemen fließend, wenn Intentionalität in diesem Sinn eine Frage der Komplexität ist.50 Worauf es deshalb ankommt, wenn wir verstehen wollen, wie es in einer naturalistischen Welt intentionale Systeme geben kann, ist zweierlei: Auf der einen Seite rationalistische Hermeneutik und auf der anderen Seite empirische Komplexitätsforschung ohne philosophische Vorurteile. Ich sagte zu Beginn dieses Essays, ich wolle die innere Uhr von Dennetts Theorie entdecken. Ich glaube, das sind die beiden Prinzipien, nach denen sie tickt.

Anmerkungen 1

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Was diese Charakterisierung intentionaler Zustände betrifft, verdanke ich vieles Searle 1983, vor allem dem 1. Kapitel. In Searle 1983, p. 29-36, findet sich ein Vorschlag, wie man andere intentionale Zustände durch Meinungen und Wünsche explizieren kann. Vgl. Davidson, Actions, Reasons, and Causes, in Davidson 1980, p. 3-19. Das ist der Vorschlag der sogenannten Identitätstheorie. Ich habe sie dokumentiert, kommentiert und bibliographisch erläutert in Bieri 1981. Ich ü b e r n e h m e diesen Sprachgebrauch, der inzwischen weit verbreitet ist, aus Fodors Methodological Solipsism Considered as a Research Strategy in Cognitive Psychology, in Fodor 1981, p. 225-253. Vgl. zu diesem Vorschlag etwa Harman 1973, vor allem Kapitel 3-6. Dieser Vorschlag ist eine Spielart des Funktionalismus. Auch der Funktionalismus ist dokumentiert und kommentiert in Bieri 1981. Ich ü b e r n e h m e diesen Einwand fast wörtlich aus Dretske 1983, p. 88, da ich keine bessere und knappere Formulierung kenne. Das ist die Position des eliminativen Materialismus. Siehe Bieri 1981. Diesen Gedanken entwickelt er zum ersten Mal in Intentional Systems, Journal of Philosophy 68 (1971), p. 87-106, wiederabgedruckt in Dennett 1978. Deutsch in Bieri 1981. Intentional Systems, in Dennett 1978, p. 3 ff. Um einem Mißverständnis vorzubeugen: Das ist nicht Dennetts Eindruck. Diese letzten Sätze beziehen sich zurück auf die Problemexposition, die ich unabhängig von Dennett entwickelt habe. Zu Dennetts Diagnose dieses Punkts später mehr. Dennett 1981b, p. 42ff. Vgl. Dennett 1981a, p. 57ff. Ein detaillierterer Katalog solcher Grundregeln findet sich in D. Lewis' Radical Interpretation, Synthese 23 (1974), p. 331-344, wiederabgedruckt in Lewis 1983. Dennett verweist selbst auf diesen Text. Dennett 1981b, p. 46ff. Dennett 1981b, passim. Eine Diskussion von intentionalen Zuschreibungen höherer Stufe findet sich in Conditions ofPersonhood, in Dennett 1978 (deutsch in Bieri 1981). Was Kommunikation angeht, so macht Dennett Gebrauch von Grice 1957 und 1969. Dennett 1981b, p. 39 f. Dennett 1981b, p. 47ff.

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Dennett 1981c, passim. Intentional Systems, in Dennett 1978, p. 17. 22 Ich habe diese Kritik an der evolutionären Erkenntnistheorie ausgeführt in Bieri 1985. 23 Diesen Überlegungsstrang teilt Dennett mit Davidson. Vgl. dessen On the Very Idea of a Conceptual Scheme, in Davidson 1984, und A Coherence Theory of Truth and Knowledge, in Henrich 1983. 24 Intentional Systems, in Dennett 1978, p. lOff. 25 Diese A n n a h m e diskutiert Dennett nicht ausdrücklich. Ich extrapoliere hier. 26 Dennett 1981b, p. 44. Diese Auskunft erinnert an das ältere Projekt des logischen Behaviorismus. Dennett akzeptiert das Etikett in diesem (und nur in diesem Sinn): p. 50. 27 Vgl. Stich 1981, passim. 28 Vgl. zum folgenden Dennett 1981b, p. 46f., und vor allem Dennett 1981c, passim. Einiges extrapoliere ich wiederum. 29 Dennetts Bild (im Gespräch). 30 Der Terminus findet sich schon in Dennett 1969, p. 90ff., und dann in Dennett 1981b, p. 50ff. 31 Dennett 1981c, p. 67ff. 32 Dennett 1981b, p. 56. 33 Mein Terminus. 34 Dennett 1981b, p. 50. 35 Zugeschnitten als Einwand gegen Dennett findet sich dieser Vorschlag in Stich 1981, p. 57. Diese Grundidee wird diskutiert in Lanz 1986. 3 6 Dennett 1981c, p. 77 ff. 37 Das ist die Position von Intentional Systems, in Dennett 1978. 38 Vgl. die Unterscheidung zwischen Instrumentalismus und Fiktionalismus in Scheffler 1969, p. 182ff. Dennett verweist selbst auf Scheffler. 39 Siehe vor allem Dennett 1981a, p. 61-67. 40 Mechanism and Responsibility, in Dennett 1978, und vor allem Dennett 1984. "I Dennett 1981b, p. 50ff. 42 Dennett 1981b, p. 59. Vgl. die Einleitung zu Dennett 1978. 43 Dennetts Termini in Dennett 1981b, p. 53. 44 Siehe zum folgenden Dennett 1981a, p. 71 ff. 45 Dennett gibt diese Auskunft zu psychophysischen Gesetzen nie direkt, sondern nur indirekt in der Einleitung zu Dennett 1978. Ich glaube jedoch, sie folgt unmittelbar aus seinem Instrumentalismus. Auch glaube ich, daß diese Begründung f ü r die Unmöglichkeit psychophysischer Gesetze besser oder zumindest klarer ist als Davidsons berühmtes, aber schwer verständliches Argument in Mental Events, in Davidson 1980 (deutsch in Bieri 1981). (Eine ausgezeichnete Analyse von Davidsons Argument findet sich in Lanz 1986.) Davidson folgert aus der Unmöglichkeit psychophysischer Gesetze, daß es für intentionale Zustände eine physikalistische Beschreibung geben muß. Aus Dennetts Argument - wie ich es rekonstruiere - folgt umgekehrt, daß es keine solche Beschreibung geben kann - und keine geben muß. Das ist die Pointe des intentionalen Instrumentalismus. 46 Dennett 1981a, p. 73. 47 Das ist, in viel zu groben Worten, Fodors Position in Fodor 1975 und in Propositional Attitudes, in Fodor 1981. Fodor begründet seine Position in Auseinandersetzung mit Dennett in Three Cheers for Propositional Attitudes, in Fodor 1981. 48 Dennett 1981a, p. 72 f. Vgl. Dennett 1981b sowie Brain Writing and Mind Reading und A Cure for the Common Code?, beide in Dennett 1978. 49 Dennetts Unterscheidung ist die zwischen belief und opinion, in How to Change Your Mind, in Dennett 1978. Die Diagnose, die auf dieser Unterscheidung beruht, findet 21

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sich - in mehreren Varianten - in Dennett 1981a und 1981b sowie in Brain Writing and Mind Reading und A Cure for the Common Code?, in Dennett 1978. Mit meinem Stichwort „Illusion der Bestimmtheit" ist noch ein anderes Thema verbunden: Dennetts Gedanke, daß es keinen absoluten semantischen Gehalt gibt und daß intentionale Zustände (auch als Überzeugungen) immer irgendwie unbestimmt bleiben. Siehe beispielsweise Dennett 1981a, p. 67. Wie wichtig dieser Gedanke für Dennett ist, hat sich in mehreren Diskussionen mit ihm hier in Bielefeld gezeigt. Ich habe jedoch am Ende nicht viel mehr verstanden, als daß seine Überlegungen irgendwie parallel zu denen von Quine verlaufen (siehe Quine 1960, Kap. II). Ich weiß infolgedessen auch nicht, was aus diesem Gedanken für Dennetts Konzeption folgt. Ich habe lediglich das Gefühl, daß zwischen ihm und der Interpretation intentionaler Strukturen als vollständig objektiver Strukturen eine Spannung besteht, die bisher nicht gelöst ist. 50 Dennett 1981a, p. 68 ff.

Literatur BIERI, P. (Ed.) 1981. Analytische Philosophie des Geistes. Königstein: Hain. BIERI, P. 1985. Evolution, Erkenntnis und Kognition. Zweifel an der evolutionären Erkenntnistheorie. In: LÜTTERFELDS, W. (Ed.) Transzendentale oder evolutionäre Erkenntnistheorie? Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. DAVIDSON, D . 1980. Essays on actions and events. Oxford: Clarendon Press. DAVIDSON, D . 1984. Inquiries into truth and interpretation. Oxford: Clarendon Press. D E N N E T T , D . C. 1969. Content and consciousness. London: Routledge & Kegan. D E N N E T T , D . C. 1978. Brainstorms. Philosophical essays on mind and psychology. Hassocks, Sussex: Harvester Press. D E N N E T T , D . C. 1981a. True believers: The intentional strategy and why it works. In: HEATH, A. F. (Ed.) Scientific explanation. Oxford: Clarendon Press. D E N N E T T , D . C. 1981b. Three kinds of intentional psychology. In: H E A L Y , R . (Ed.) Reduction, time and reality. Cambridge: Cambridge University Press. D E N N E T T , D . C. 1981c. Making sense of ourselves. Philosophical Topics 12,63-81. D E N N E T T , D . C. 1984. Elbow room. The varieties of free will worth wanting. Cambridge, Mass.: MIT Press. D R E T S K E , F . I. 1983. Precis of Knowledge and the flow of information. The Behavioral and Brain Sciences 6, 82-89. FODOR, J. A. 1975. T h e language of thought. Hassocks, Sussex: Harvester Press. FODOR, J. A. 1981. Representations. Philosophical essays on the foundation of cognitive science. Hassocks, Sussex: Harvester Press. GRICE, P. 1957. Meaning. Philosophical Review 66, 377-388. GRICE, P. 1969. Utterer's meaning and intentions. Philosophical Review 78, 147-177. HARMAN, G. 1973. Thought. Princeton: Princeton University Press. H E N R I C H , D . (Ed.) 1 9 8 3 . Kant oder Hegel? Über Formen der Begründung in der Philosophie. Stuttgart: Klett-Cotta. LANZ, P. 1986. Menschliches Handeln zwischen Kausalität und Rationalität. Königstein: Hain. LEWIS, D . 1 9 8 3 . Philosophical papers. Vol. I. Oxford: Oxford University Press. SCHEFFLER, I. 1969. T h e anatomy of inquiry. New York: Knopf. SEARLE, J. R. 1983. Intentionality. An essay in the philosophy of mind. Cambridge: Cambridge University Press. S T I C H , S . P. 1981. Dennett on intentional systems. Philosophical Topics 12,39-62.

Autorenregister Ach, Ν. 149,154 Adorno, Τ. W. 180,181, 202, 203,204 Albert, D. 69, 70 Alm, H. 99,102 Anastasi, A. 75, 88 Anderson, S. B. 206 Anscombe, G. Ε. M. 13 Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 189, 191,192,203, 204, 205, 207 Argelander, H. 180, 204 Aristoteles 107,136,152,154 Aschenbach, G. 125,146,155,156,171,204, 205, 206 Atkinson, J. W. 31, 33, 34, 149,155 Austin, G. A. 95,103 Baer, D. 69 Baltes, P. B. 13 Barcan Marcus, R. 168 Barker, R. G. 149,155 Barr, H. L. 141,156 Bateson, G. 118,123 Berger, P. 184, 204 Berkowitz, L. 206 Bernoulli, J. 135,136 Bieri, P. 250, 251, 252 Billmann-Mahecha, E. 125,155 Birch, D. 149,155 Björkman, M. 98,102 Blalock, Η. M. 134,155 Blum, M. L. 74, 88 Blumer, H. 169, 172,188,189, 204 Börner, A. 206 Bosshardt, H.-G. 124 Brainerd, C. J. 171,206 Brandt, R. 131,155 Brandtstädter, J. 35, 68, 87, 135, 155, 171, 205 Brehmer, B. 91,92,97,98,99,100,101,102, 103 Brodbeck, M. 69 Bruner, J. S. 95,103, 141,155 Brunswik, E. 97,103 Bühler, K. 79, 88 Buss, Α. Η. 170,175,176, 205 Butterfield, Ε. D. 71, 77, 88

Cairns, R. Β. 69 Carnap, R. 28, 30, 33 Cartwright, D. 20, 33 Cheng, C. 98,103 Chomsky, N. 75, 76, 82, 88, 93, 94,103 Clark, R. A. 34 Cohn, R. C. 195, 205 Coulter, J. 67, 68 Crott, H. 71, 88 Damon, W. 3,13 Danto, A. C. 110, 123 Dapolito, F. 103 Davidson, D. 250,251,252 Davis, Κ. E. 168 Dennett, D. C. 208,218,219, 220,221, 222, 223,224,225,226,227,228,229,230,231, 232,233,234,235,236,239,240,241,242, 245, 246, 247, 248, 249, 250, 251,252 De Palma, J. 13 Deppe, W. 81, 88 Dingler, H. 151,155 Dörner, D. 79, 80, 81, 82, 88 Dollard, J. 174, 205 Doob, L. W. 174, 205 Dorn, G. J. W. 168 Dray, W. H. 105, 119,124 Dretske, F. I. 250,252 Duhem, P. 73, 88 Eisler, R. 136,155 Eller, F. 49, 69, 70 Etzel, B. C. 69 Feather, Ν. Τ. 13, 33 Feigl, Η. 33, 69 Ferris, C. 70 Feyerabend, P. 32 Fodor, J. A. 93,94,95,96,97,100,103,250, 251,252 Foley, J. M. 13 Frank, H. 81, 88 Fredriksson, M. 103 Frenkel-Brunswik, E. 204 Freud, S. 179,180, 202 Fromm, Ε. 179,181,185, 202, 203,205

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Autorenregister

Fuhrer, V. 138, 149,155 Galanter, E. 125,149, 157 Gardiner, P. 105, 124 Garfinkel, H. 184, 187, 190, 205 Gergen, K. J. 168 Goodnow, J. J. 95,103 Gordon, J. E. 141,155 Graumann, C. F. 88, 138,155 Greeno, J. G. 90,103 Grice, P. 250, 252 Groeben, N. 84, 88,125,155 Gugler, B. 157 Habermas, J. 139,155, 203, 205 Hacker, W. 149,155 Hammond, Κ. R. 97,103 Hannemann, J. 36, 68, 69, 70 Harary, F. 20, 33 Harman, G. 250, 252 Harre, R. 137,155 Harvey, J. H. 13 Hayek, F. A. 96,103 Healy, R. 252 Heath, A. F. 252 Hebb, D. O. 75 Heckhausen, H. 29, 33, 75, 88,149, 155 Heinze, Th. 204,205 Heimick, J. S. 206 Hempel, C. G. 33,175, 205 Henrich, D. 251, 252 Herrmann, Th. 71, 77, 78, 88, 131,155 Hilke, R. 135, 155, 156, 157, 171, 176, 204, 205 Hörmann, H. 76, 79, 84, 88 Hoffmann-Riem, Ch. 187, 188, 194, 195, 197, 200, 205 Holling, H. 50, 69 Holzkamp, K. 126, 156, 172, 173, 202, 203, 205 Huesmann, L. R. 98,103 Hugdahl, K. 103 Hull, C. L. 97,103 Hume, D. 136, 218 Husserl, E. 96,103 Ickes, W. 13 Indermühle, K. 157 Inhelder, B. 90,103 James, C. T. 103 Janich, P. 202, 205 Jones, A. J. 35, 69

Jones, M. R. 88 Jüttemann, G. 155,158 Kaiser, H. J. 125, 126, 129, 134, 155, 156, 158,206, 207 Kalbermatten, U. 157 Kambartel, F. 178,202, 205,206 Kaminski, G. 125,130, 138,149,156 Kamiah, W. 109,124,138,156,202,203,206 Kant, I. 136 Kaplan, M. 103 Kardiner, A. 202 Kehl, D. 50, 69 Kempf, W. 125,135,139,155,156,158,170, 171,176,180, 189, 193, 204, 205,206 Kidd, R. 13 Kim, J. 131,155 Klein, G. S. 141,156 Klusemann, H. W. 204, 205 Koestler, A. 103 Kohlberg, L. 3,4, 11,75 Komadt, H. J. 85, 88 Krechevsky, I. 95,103 Krohne, H. W. 71, 88 Kühl, J. 35, 69,149,156 Kuhn, T. S. 101,103 Kuylenstierna, J. 98, 99, 100, 102, 103 Lachman, J. W. 71, 77, 88 Lachman, R. 71, 77, 88 Lämmert, C. 207 Lagerspetz, K. 168 Lakatos, I. 32, 73, 74, 88 Landa, L. N. 171, 206 Lantermann, E. D. 125,156 Lanz, P. 251, 252 LeBlanc, J. M. 69 Leibniz, G. W. 136 Leithäuser, T. 178,180, 181, 182, 183, 184, 185,189,190, 191, 192, 203, 206 Lenk, H. 31, 34, 68, 69, 156, 158 Lerman, D. 8,13 Lersch, P. 155 Levinson, D. J. 204 Lewin, K. 151, 156 Lewis, D. 250, 252 Lickona, T. 4,13 Liljergren, J. 98,103 Lorenzen, P. 109, 124, 134, 135, 138, 139, 156,157, 202, 203, 206 Lorenzer, A. 191, 203, 206 Lowell, Ε. L. 34 Luckmann, T. 184,187, 204, 207

Autorenregister Lütterfelds, W. 252 Luhmann, N. 155, 205 Lytton, H. 70

Putnam, Η. 131,134,157

Maccoby, M. 203, 205 Mäher, Β. A. 156 Manns, M. 68 Marbe, K. 74, 88 McClelland, D. C. 28,29,31, 34,75, 81, 84, 88 McGrath, J. E. 134,157 McGuiness, P. F. 13 Meehl, P. E. 35, 69 Meggle, G. 123 Mertens, W. 190,206 Metzger, W. 83, 88 Miller, G. A. 125,149,157 Miller, Ν. E. 174, 205, 206 Mintz, A. 74, 88 Mittelstrass, J. 202,205 Montada, L. 157 Mowrer, Ο. H. 174,205 Müller, G. E. 83, 88 Müller-Freienfels, R. 138,157 Mundle, C. W. K. 68, 69 Munzert, R. 125,134,157 Musgrave, A. 88

Rabinov, P. 207 Radner, M. 33 Ramsey, F. P. 16, 30, 34 Reisenzein, R. 35, 69 Reusser, K. 157 Rimmö, P. 103 Rogers, C. R. 195,198, 203, 206 Roth, E. 158 Ruch, F. L. 202, 206 Rüssel, Α. 75, 88 Russell, D. 8,13 Ryle, G. 67, 70

Quine, W. v. Ο. 252

Naylor, J. C. 98, 103 Nell, V. 49, 50, 68, 69, 70 Netzband-Werbik, R. 141 Newton, I. 15, 31 Niemi, P. 168 Nisbett, R. E. 129,157 Norman, R. Z. 20, 33 Öhman, A. 93,103 Oelmüller, W. 206 Oesterreich, R. 149,157 Olson, D. R. 70,157,168, Ore, Ο. 25, 34

255

207

Patterson, G. R. 37, 38, 69 Pawlow, I. P. 75 Perner, J. 74, 89 Piaget, J. 3, 6,13, 90, 91, 94,103 Piattelli-Palmarini, M. 103 Poison, P. G. 103 Popper, K. R. 32,72,82,88,91,94,100,103, 105,124, 134,135,157 Postman, L. 141,155 Pribram, Κ. Η. 125,149,157 Projekt 36, 49, 69

Sacks, H. 187, 205 Salje, G. 206 Sanford, R. N. 204 Sartre, J. P. 178,206 Scandura, J. M. 171,206 Schaie, K. W. 13 Scheele, Β. 84, 88,125,155 Scheerer, Ε. 77, 88 Schettler, I. 251,252 Schütz, Α. 154,157,187, 207 Schütze, F. 194, 195, 196, 198, 199, 207 Schultze, J. 50, 68, 69 Schwartz, S. 103 Schwemmer, O. 105, 107, 124, 129, 134, 139,157,175, 193, 207 Scriven, M. 33,105,124 Searle, J. R. 78, 89, 250,252 Sears, R. R. 174, 205,207 Secord, P. 137,155 Seel, H.-J. 125,126,156,157 Seligman, Μ. Ε. P. 93,103 Selman, R. 3,13 Shapere, D. 78, 80, 89 Sjöberg, L. 35, 70 Skinner, Β. F. 75, 76, 81, 82, 84, 89, 170 Smedslund, J. 35, 70,134,157,168,171,176, 197,199, 207 Smythies, J. 103 Sneed, J. 15,17, 34 Sniezek, J. A. 98,103 Söffner, H. G. 205 Sommer, G. 206 Spielberger, C. 85, 89 Stachowiak, H. 81, 89

256

Autorenregister

Stegmüller, W. 15,16,17,28,30,31,32,33, 34, 43, 65, 70, 72, 73, S9, 126, 154, 157, 175, 207 Steiner, G. 157 Steinmann, D. O. 103 Stewart, T. R. 103 Stich, S. P. 251, 252 Straub, J. 141,155 Südmersen, I. M. 204, 207 Sullivan, W. M. 207 Suppe, F. 89 Szagun, G. 75, 89 Tack, W. H. 158 Taerum, T. 50, 70 Tausch, Α. M. 198, 201, 207 Tausch, R. 198, 201,207 Taylor, C. 186, 207 Thomae, H. 149,155,157 Thomas, A. 156 Tolman, E. C. 164 Ueckert, H. 81, 89 Völkel, U. 68, 69, 70 Volmerg, B. 178, 180, 181, 185, 190, 191, 192,203,206 Volmerg, U. 206 Volpert, W. 149,157 Von Cranach, M. 125,130, 131,137, 157

Von Kutschera, F. 136,157,175, 207 Von Mises, R. 135,157 Von Wright, G. H. 13, 125, 128, 129, 157, 171,207 Vroom, V. H. 149, 157 Waldmann, M. 35, 69,149,156 Wapnewski, P. 1 Warg, L. 99,102 Weber, M. 107,124,132,157 Weiner, B. 8,13, 75, 84, 89 Weingartner, P. 168 Werbik, H. 74, 89, 125, 126, 129, 130, 131, 134,137,139,140,141,149,155,156,157, 158,171,176, 206, 207 Westmeyer, H. 35,36,37,54,66,69, 70,140, 158 Wilson, T. D. 129,157 Wilson, Τ. P. 187, 207 Wimmer, H. 74, 89 Winkelmann, K. 49, 68, 69, 70 Winokur, S. 33 Wittgenstein, L. 1, 2, 7,13,113,178 Wolf, U. 136,158 Wolitzky, D. L. 141,156 Wutka, B. 206 Zimbardo, P. G. 202, 206 Zitterbarth, W. 146 Zwirner, W. 70

Sachregister Abbildtheorie der Erkenntnis 91 Alltagsbewußtsein 182 ff, 189,192, 200 Alltagspsychologie 210, 213 fT, 223 ff, 229, 234 analytisch 131 (siehe auch apriorisch) Annehmbarkeit, rationale 138,140,149ff Anwendung, intendierte 37 apriorisch 85 ff (siehe auch analytisch) Äquipotentialität 93 Attributionstheorie 7 Bedeutung - Bedeutungsforschung 116 - Bedeutungspostulat 35 f, 66 f - Bedeutungsregel 112 ff - Bedeutungsstruktur 112, 114 Begriff - theoretischer 14ff, 27, 30ff - Begriffsanalyse 9 - Begriffsexplikation, präoperationale 36, 44, 65 ff Beobachtung - Beobachtungsaussage 15f, 18 - Beobachtungsbegriff 16, 30 - Beobachtungssatz 17, 27 Beschreibung 159 ff - geschlossene 118f - historische 111,117 - offene 117,119 - schematische 110, 114,117 (siehe auch Handlungsbeschreibung) Definition 35 f, 41 ff, 65 ff Dispositionsbegriff 18, 27 ff, 32 Dispositionsprädikat 27 ff Diskurs 139,141, 151 fT Emotion 7 ff empirisch 72, 85 ff Empirismus 90 Erklärung 162 ff - intentionale 219 ff - rationale 105 (siehe auch Handlungserklärung)

Evolution 211 f, 231, 246 Forschungsprogramm 70 f, 77 Frustrations-Aggressions-Hypothese 120 Funktionalismus 216f Gehalt - empirischer 17f, 27,30ff, 35f, 41 ff, 62, 65 ff - intentionaler 208 ff - struktureller 27, 31 Geschichte 109ff Gesellschaftscharakter 181f, 185 f, 192f Gesetz 14ff, 27, 31 - in den Kulturwissenschaften 104 ff, 111 - Gesetze nur für einen Fall 105,119 - Gesetzesannahme 35f, 41,44, 65f (siehe auch Spezialgesetz, QuasiGesetz) Gesprächspsychologie 132 Handlung 106 fT, 111 ff, 118f, 121 ff, 125,128, 130,132, 136 ff, 149,211,213 - Identität einer Handlung 112 - Muster einer Handlung 114 - Schema einer Handlung 108 ff - Spielraum einer Handlung 113 f Handlungsbegriff 106 f, 132 Handlungsbeschreibung 107 ff, 117 Handlungserklärung 125, 128, 130, 132 Handlungsinterpretation 117 f Handlungskontext 108 ff, 114 ff Handlungspsychologie 125, 138, 150, 152 Handlungstheorie, nomologische 125 ff, 130ff Handlungsvorbereitung 126,130, 132 Handlungswirkungen 122 f Heuristik 131,140 Hintergrundwissen 65 Hypothesen-Theorie des Lernens 95,100 Hypothesis sampling model 97,98 f Identitätstheorie 222 Implikation - empirische 14,27, 32 f

258

Sachregister

- strukturelle 3 , 5 , 6 , 1 3 , 1 4 , 1 8 f , 21,23f, 26f, 31 f Inferenzaufgaben 96,100 Instrumentalismus 225 ff, 240 intentionale Systemtheorie 244 intentionale Zuschreibungen 209 f intentionale Zustände 208 f Interpretation 132,139ff, 148, 151 ff (siehe auch Handlungsinterpretation) Interpretationsfolie 173,188 interpretatives Paradigma 173, 186,189ff Intersubjektivität 184, 187,190,191 f Interview, narratives 194 ff, 198 f Irrationalität 238 Klassifikation 137f klientenzentrierte Therapie 195 Kognition, soziale 3, 5f Konsistenz 72 f, 78 ff, 82, 86 f Kontext 107,114ff (siehe auch Handlungskontext) Konzeptlernen 93,95 Korrespondenzregeln 12 Lebensorientierung 178ff, 186,193 ff Leistungsmotivation 28 ff, 75, 81 Lernen 90ff - und Erfahrung 90, 92 - Lernfähigkeit 93 - verbales 91 - und Verstehen 94 (siehe auch Konzeptlernen, Regellernen, Hypothesentheorie des Lernens) Maschinen - semantische 214f, 245 - syntaktische 214 f, 245 Materialismus, eliminativer 242 Meinungen 208 f, 224 ff, 248 Moral - moralisches Urteil 3 ff, 11 - moralsprachliche Prädikate 4 ff - prinzipienorientierte 11

partnerzentriertes Gespräch 195 f, 198 ff Preparedness theory 93 Problemlösungsprozeß 71 Quasi-Gesetz 1 f, 27 Ramsey-Satz 16 f Rationalität 224 f, 230, 234 ff, 240 f Reduktionssatz 12,15, 29f, 32 Regellernen 96 ff Regelmäßigkeiten, empirische 111, 115f, 119f, 122 Regeln 112 ff Repräsentation 215f, 247 f Revierverhalten 121 Social judgment theory 97 Sozialforschung - interpretative 172, 187ff, 198 - traditionelle empirische 172,179 f Spezialgesetz 39 ff, 48 f, 51f, 56, 59 f Spielregeln 78f, 86f Sprache - und Handlungsinterpretation 166 - Spracherwerb 75 f, 93 - Sprachregeln 10 - Sprachspiele 2 f strukturalistische Wissenschaftstheorie 16f, 32 Subjektivität 138,152f subpersonale Psychologie 239, 244, 247 Tätigkeitsschema 109 ff themenzentrierte Interaktion 195, 201 Theorie 36 ff, 71 ff, 76 f, 82 ff - Theorie-Empirie-Relation 72 ff, 76 f, 82, 84 ff - Theorieelement 37 ff - Theoriemoden 76, 83 - Theoriendynamik 72 f, 76 f, 82 ff Typisierung 137 f Typus 151 Unfäller 74

nativistische Theorien 93 naturalistisches Projekt 211 ff Objektivität 240 ff ontogenetische Aufbausequenzen 6 Operationalismus 11, 29 ff Paradigma 166f Paradigmenwechsel 101

Verstehen - und Hypothesentesten 95 - und Lernen 94 Vorhersage 164ff Wahrscheinlichkeit 134 ff Willensschwäche 234 Wünsche 208 f, 224 ff, 248

Verzeichnis der Mitarbeiter Prof. Dr. Peter Bieri, Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie, Abteilung Philosophie, Universität Bielefeld, Postfach 8640, D-4800 Bielefeld 1

Prof. Dr. Hans Lenk, Institut für Philosophie der Universität Karlsruhe (TH), Kollegium am Schloß, Bau II, D-7500 Karlsruhe 1

Prof. Dr. Jochen Brandtstädter, Fachbereich I - Psychologie, Universität Trier, Postfach 3825, D-5500 Trier

Prof. Dr. Oswald Schwemmer, Institut für Philosophie der Universität Marburg, Wilhelm-Röpke-Str. 6, D-3550 Marburg

Prof. Dr. Berndt Brehmer, Department of Psychology, University of Uppsala, P.O. Box 227, S-75104 Uppsala (Schweden) Prof. Dr. Theo Herrmann, Universität Mannheim, Lehrstuhl für Psychologie III, Schloß, D-6800 Mannheim Prof. Dr. Wilhelm Kempf, Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und Statistik, Universität Konstanz, Postfach 5560, D-7750 Konstanz

Prof. Dr. Jan Smedslund, Institute of Psychology, University of Oslo, Box 1094, Blindem, Oslo 3 (Norwegen) Prof. Dr. Hans Werbik, Institut für Psychologie der Universität Erlangen-Nürnberg, Bismarckstr. 6, D-8520 Erlangen Prof. Dr. Hans Westmeyer, Institut für Psychologie der Freien Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45, D-1000 Berlin 33

de Gruyter Studienbuch KLAUS HOLZKAMP

Theorie und Experiment in der Psychologie Eine grundlagenkritische Untersuchung 2., um ein Nachwort vermehrte Auflage Oktav. 312 Seiten. 1981. Kartoniert DM 4 2 , - ISBN 3 11 002397 0 Inhaltsübersicht: Wissenschaftstheoretische Grundlegung — Exkurs über den dreifachen Gegenstand der Psychologie — Das „Repräsentanz"-Problem bei psychologischem Experimentieren.

MAURICE MERLEAU-PONTY

Phänomenologie der Wahrnehmung Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm Groß-Oktav. XXVIII, 535 Seiten, 9 Abbildungen. 1966. Nachdruck 1974. Kartoniert DM 4 2 , - ISBN 3 11 006884 2 (Phänomenologisch-Psychologische Forschungen, Band 7) Aus dem Inhalt: Einleitung, Die klassischen Vorurteile und der Rückgang auf die Phänomene — 1. Teil: Der Leib — 2. Teil: Die wahrgenommene Welt — 3. Teil: Für-sich-sein und Zur-Welt-sein.

MAURICE MERLEAU-PONTY

Die Struktur des Verhaltens Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch ein Vorwort von Bernhard Waidenfels Groß-Oktav. 278 Seiten. 1976. Kartoniert DM 7 8 , - ISBN 3 11 004469 2 (Phänomenologisch-Psychologische Forschungen, Band 13) Behandelte Themen: Kritik der klassischen Reflexologie und des Behaviorismus — Die Gestalttheorie als Alternative zur objektivistischen Psychologie — Auseinandersetzung mit dem Leib-Seele-Dualismus — Wissenschaftstheoretische und philosophische Klärung des Zugangs zum Verhalten und Handeln.

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