Handlungshoheit: Die normative Struktur der bestehenden Dogmatik und ihrer Materialisierung im deutschen und europäischen Schuldvertragsrecht. Habilitationsschrift 9783161556807, 9783161556814, 3161556801

Die neuere Entwicklung des Vertragsrechts wird teils unter Schlagworten wie "Materialisierung" oder "Wied

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German Pages 315 [338] Year 2019

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Table of contents :
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Titel
Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Einführung
Teil 1. „Materialisierungs“-Diagnose und dogmatische Analysen
A. Die Diagnose einer inhaltlichen Aufladung
B. Selbstbestimmung und Vertragsbindung als Kernelemente des Schuldvertragsrechts
I. Selbstbestimmung
II. Vertragsbindung
III. Interessengeleitete Wertungsjurisprudenz als systembildende Alternative?
C. Die verfassungsrechtlichen Einwirkungen auf das Schuldvertragsrecht
I. Grundrechte und der Inhalt des Vertrags
II. Grundrechtsbindung und Vertragsrecht
1. Grundlagen
a. Mittelbare Drittwirkung
b. Die Grundrechtsbindung des Privatrechtsgesetzgebers und der Gerichte
2. Die inhaltlichen Kriterien der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Vertragsinhalten
a. Vertragsfreiheit als Ausdruck der Selbstbestimmung
b. Bedingungen der Selbstbestimmung aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts
c. Die Fälle zu den Bedingungen der Selbstbestimmung bei § 138 Abs. 1 BGB
3. Zur Kritik der verfassungsrechtlichen Bedingungen der Selbstbestimmung
a. Das Bundesverfassungsgericht als Superrevisionsinstanz
b. Die Durchbrechung rechtsdogmatischer Interpretationssystematik
III. Grund und Grenze der verfassungsrechtlichen Bedingungen der Selbstbestimmung
1. Die historische Dimension der Grundrechte
2. Der Anwendungsbereich: die Vertragsfreiheit
3. Das tieferliegende theoretische Begründungs- und Interpretationsproblem der verfassungsrechtlichen Kriterien
D. Der Theoriebedarf des Fortschreitens der „Materialisierung“
I. Der Theoriebedarf durch Systematisierungsprobleme schuldvertraglicher Normen des BGB
II. Der Theoriebedarf durch verfassungsrechtliche Vorgaben
III. Der Theoriebedarf durch europäisches Verbraucherrecht
IV. Fazit
Teil 2. Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung
A. Theorien des Schuldvertragsrechts und das Schuldvertragsrecht oder: Die Offenheit von Tradition und Rechtspositivismus
I. Der Bruch zwischen juristischer und grundlagenorientierter Normenbegründung
1. Tradition und geltendes Recht: Die Gefahr des Gesetzgebers
a. Die „unauflösliche Gemeinschaft“ von Vergangenheit und Gegenwart
b. Die Ablehnung des BGB als Grundlage der Ablehnung europäischer Kodifikationsprojekte
c. Altes Recht als gutes Recht?
2. Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie
II. Zwecke und Argumentationsstrukturen des geltenden Rechts
1. Die Beschränkung der Gültigkeit
2. Die Folgen für den rechtswissenschaftlichen Diskurs
a. Merkmale eines positiv-rechtlichen Normensystems
b. Theoriebildung als rechtstechnische Strukturdiskussion
3. Der Theoriebedarf und das Theorieangebot
III. Die Aufgabe der Strukturierung des Theorieangebots
B. Vertrag als Versprechen und seine Machtbasis
I. Vertrag als Versprechen und das Problem moralischer Verpflichtung
1. Vertrag und Versprechen
2. Vertrag als rechtliches Versprechen
3. Vertrag als Übertragung von Rechten
4. „Versprechen“ als Quelle von individuellen Rechten und seine Grenzen
II. Die antinomische Struktur aller Wertungen und des Schuldvertragsrechts
1. Die Pole des Individualismus und Kollektivismus
2. Das Pendeln zwischen Gegenpolen als Ausdruck von Machtverhältnissen
3. Doppelte Grenzen der Kritik
C. Ökonomische Theorie des Rechts und das Vertragsrecht
I. Effizienz als vorrangiger Zweck
II. Die utilitaristischen Hintergrundannahmen
1. Das Nützlichkeitsprinzip
2. Die normativen und empirischen Probleme des Nützlichkeitsprinzips
III. Die normativen Probleme des Utilitarismus als normative Probleme der ökonomischen Analyse des Rechts
1. Intersubjektive Nutzenvergleiche
2. Schlechterstellung als Problem
3. Subjektive Rechte, Kosten und die Einschränkung des Anwendungsbereichs der ökonomischen Analyse des Rechts
IV. Die empirischen Probleme der ökonomischen Analyse des Rechts
1. Der „homo oeconomicus“
2. Die empirischen Beschränkungen menschlicher Rationalität
3. Rechtliche Normen als Standardeinstellungen
V. Der offene Nutzenbegriff und subjektive Rechte als Grenzen der Anwendbarkeit
D. Gerechtigkeit als Rechtswert und das Vertragsrecht
I. Gerechtigkeit und Privatrecht
1. Der Vorrang der iustitia commutativa
2. Der Vorrang der iustitia distributiva
II. Die Hintergrundannahme: Handeln als Streben
1. Handeln als tugendhaftes Handeln
2. Richtigkeit der juristischen Entscheidung als richtige Zweckerreichung
a. Tauschgerechtigkeit
(aa) Der Gegenwartsbezug der „corrective justice“
(bb) Das „Wesen“ des Schuldrechts des BGB
b. Verteilungsgerechtigkeit
III. Metaphysische und praktische Probleme der neoaristotelischen Gerechtigkeitsdebatte
1. Die Metaphysik der „Mitte“
2. Ziele ohne Zwecksetzung
3. Die Härte und Unangemessenheit der aristotelischen Orientierung für das Schuldvertragsrecht
a. Ausgleich und Vertragsrecht
b. Verteilung und Vertragsrecht
(aa) Das soziale Mietrecht als Muster des Vertragsrechts
(bb) „Verbraucherschutzrecht“ als Muster der Rechtssicherheit
c. Autorität und Tradition als Alternativen?
IV. Der doppelte Widerspruch
E. Die soziologische Einbettung des Vertrags
I. Recht als Steuerungsinstrument
II. Handlung als soziologischer Grundbegriff und seine Transformation zum System
1. System und Kommunikation
2. Die Vielfalt der sozialen Systeme
III. Die Beobachtung und Beschreibung des Rechts
1. Evolution des Rechts
2. Europäisierung der Demokratie
3. Der Inhalt des Vertragsrechts
IV. Die normative Wendung des systemtheoretischen Ansatzes
1. Die Verfassung der Gesellschaft als Verfassung des Rechts
2. Vertragsrecht jenseits der Willensbildung Einzelner
V. „Beobachtung“ und „Vergesellschaftung“ des Rechts jenseits individueller Handlungen und Entscheidungen
1. Zur Beobachtung
2. Zur normativen Wendung
F. Diskurstheoretische Normenbegründung und vertragliche Bindung
I. Die politische Dimension des Rechts: Das Diskursprinzip als normative Vorgabe
II. Kommunikative Vernunft als Hintergrundannahme: Selbstgesetzgebung und Diskursprinzip
III. Das Diskursprinzip und seine praktische Wirksamkeit
1. Der Vorrang der intersubjektiven Normenbegründung
2. Die Stärke des Verfassungsrechts
3. Die Schwäche des Vertragsrechts
IV. Die diskurstheoretische Kritik an der Rechtsform und ihre Probleme mit der vertraglichen Bindung
1. Privatrecht als „Privilegium“?
2. Eine Revision des Diskursprinzips durch subjektive Rechte?
G. Die Aufklärung des Vernunftrechts der Aufklärung: individuelle und interaktive Handlungshoheit
I. Die Leitfrage des Rechts: Wie kann individuelle Selbstbestimmung kollektiv organisiert werden?
1. Selbstbestimmung als Regelsetzung bei Kant
2. Selbstbestimmung durch Sozialität bei Fichte
3. Selbstbestimmung als Struktur
4. Interaktive Regelsetzung als Rechtsfrage
II. „Ent-Substantialisierung“ der Frühen Neuzeit und „Selbstpositionierung“ durch aufgeklärte Regelsetzung als Hintergrundannahmen
1. „Ent-Substantialisierung“ der Frühen Neuzeit als Ausgangspunkt
2. „Selbstpositionierung“ durch aufgeklärte Regelsetzung
3. Aufklärung über die Bedingungen von aufgeklärter Regelsetzung
4. Unterschiedliche Wege zur Willensfreiheit relativ zur Erkenntnisphilosophie
a. Kant und die Bestimmung der Erkenntnisgrenzen
b. Fichte und die Duplizität von Denken und Wollen
c. Hegel und das Absolute (Wissen)
d. Handlungsmöglichkeit als minimale Voraussetzung
III. Interaktive und individuelle Handlungshoheit als normativer Kern des Rechts der Moderne
1. Interaktive Handlungshoheit als rechtliches Strukturmerkmal
a. Die Vereinbarkeit von Freiheitssphären
b. Die Entdeckung des Anderen bei Fichte
c. Das „Dasein des freien Willens“ als Recht bei Hegel und sein Verhältnis zu den Rechtsideen Kants und Fichtes
d. Die geteilte normative Struktur der interaktiven Handlungshoheit
2. Individuelle Handlungshoheit und ihr Schutz als conditio sine qua non des modernen Rechts
a. Das angeborene Freiheitsrecht bei Kant
b. Das „absolute Recht der Person“ bei Fichte
c. Das Recht auf Persönlichkeit bei Hegel
d. Die geteilte normative Grundlage der individuellen Handlungshoheit
IV. Die Entwicklung der Handlungshoheit in einer positiven Rechtsordnung
1. Die Anwendungsvorschläge der philosophischen Rechtsphilosophie
a. Grundlegung und Anwendung bei Kant
b. „Verwirklichung“ bei Fichte
c. „Durchdringung“ bei Hegel
2. Die Bezugnahme auf eine existierende positive Rechtsordnung
a. Evolution statt Revolution bei Kant
b. Das zukünftige positive Recht bei Fichte
c. Die inhaltliche Entwicklung einer positiven Rechtsordnung bei Hegel
3. Aufgeklärter Rechtspositivismus als Zielpunkt philosophischer Rechtsphilosophie
V. Interaktive und individuelle Handlungshoheit als Meta-Regeln rechtlicher Ordnungsbildung
1. Normative Grundlagen als „Meta-Regeln“
2. Minimale Gehalte der Rechtsstaatlichkeit
3. Normative Grundlagen zwischen Vorgaben und historischer Erfahrung
a. Normative Grundlagen statt normativer Vorgaben
b. Historische Bezüge statt genetischer Begründung
H. Handlungshoheit und zwei Zielrichtungen vertraglicher Vernunft
I. Rechtsphilosophie als Grundlage des positiven Rechts und positives Recht als Grundlage der Rechtsphilosophie
II. Die rechtshistorische Wirksamkeit
1. Direkte Bezüge
2. Indirekte Bezüge und ihre Folgen für die Privatrechtsphilosophie
III. Die normative Angemessenheit eines Theorieangebots für das Vertragsrecht
1. Vertrag als Zentrum rechtlicher Normenbegründung
2. Relative Angemessenheit unterschiedlicher Theorieangebote für das Schuldvertragsrecht
a. Zum Vertrag als Versprechen
b. Zu Vorgaben der Effizienz
c. Zur Gerechtigkeit
d. Zur gesellschaftlichen Einbettung
e. Zur diskurstheoretischen Normenbegründung
f. Zur Handlungshoheit
IV. Vertragliche Vernunft als Begrenzung und Beförderung der Handlungshoheit
1. Begrenzung
2. Beförderung
Teil 3. „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit
A. Freiheit und Form: Die guten Sitten des § 138 BGB
I. Die privatrechtsphilosophischen Grundlagen und die Normzwecke des § 138 BGB
1. Normzwecke
2. Die Verbindung von Freiheit und Form
3. Handlungsbegrenzung und Funktionsfähigkeit der Vertragsfreiheit
II. Zur Geschichte der guten Sitten
1. Die „guten Sitten“ als Alternative zur öffentlichen Ordnung
2. Die politische Öffnung der „guten Sitten“
3. Die offene Frage nach der rechtlichen Bedeutung der „guten Sitten“
III. Die guten Sitten als Rechtsbegriff I: Das Verhältnis der Vertragspartner
1. Das auffällige Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung
2. Der Marktwert als objektiver Wert
3. Die sittenwidrige Abweichung
4. Die subjektive Voraussetzung
a. Die Erkennbarkeit der Sittenwidrigkeit
b. Die Vermutung des subjektiven Elements
c. Die Widerlegung der Vermutung
d. Die mehrfachen Brüche mit der laesio enormis
e. Beispiele für rechtsgeschäftsspezifische Anpassungen der Sittenwidrigkeitskriterien
(aa) Die Anpassungen der Sittenwidrigkeitskriterien für den Kaufvertrag
(bb) Grundstückskaufvertrag
(cc) Internetkaufvertrag
(dd) Die Anpassungen im Hinblick auf den Darlehensvertrag
(ee) Die Anpassungen im Hinblick auf den Arbeitsvertrag
(ff) Die Anpassungen im Hinblick auf den Mietvertrag
(1) Mietverträge über Wohnraum
(2) Gewerbliche Mietverträge über Räume
(3) Mietwagen nach Unfallersatztarif
(gg) Die Anpassungen im Hinblick auf den Behandlungsvertrag
(hh) Die Anpassungen im Hinblick auf Terminoptionsgeschäfte
5. Die Überforderung
a. Die objektive Seite
b. Die subjektive Seite
(aa) Die Vermutung der verwerflichen Gesinnung
(bb) Die Widerlegung der Vermutung der verwerflichen Gesinnung
c. Überforderung als Verhinderung eines Ausschlusses von rechtsgeschäftlicher Entscheidungsfreiheit
6. Der Schutz der Entscheidungsfreiheit
a. Verfügungsverbote und der objektive Schutz der Entscheidungsfreiheit
b. Langfristige Vertragsbindung und das Zusammenspiel des subjektiven und des objektiven Elements
(aa) Miet- und Pachtverträge
(bb) Gesellschaftsverträge
(1) Eingriffs- und Kontrollbefugnisse des Gläubigers
(2) Wettbewerbsverbot
(cc) Die Bedeutung des subjektiven Elements: Spielverträge und Übersicherung
(1) Spielverträge
(2) Übersicherung
(dd) Schutz der Entscheidungsfreiheit und individuelle Handlungshoheit
7. Das auffällige Missverhältnis als Instrument des Erhalts der individuellen Handlungshoheit
IV. Die guten Sitten als Rechtsbegriff II: Schädigung der Allgemeinheit oder Dritter
1. Ehe, Familie, Sexualsphäre
a. Die Anbahnung der Ehe und Brautgeldabreden
b. Grenzen ehevertraglicher Vereinbarungen
c. Die Sexualsphäre als Gegenstand der guten Sitten
(aa) Rechtsgeschäfte im Zusammenhang mit dem ProstG
(bb) Rechtsgeschäfte außerhalb des ProstG
d. Zur Doppelfunktion verfassungsrechtlicher Vorgaben
2. Die abnehmende Bedeutung der Kommerzialisierung
a. Patientenvermittlungsverträge
b. Empfängnisverhütungsvertrag
c. Künstliche Befruchtung und Leihmutterschaft
d. Organhandel
e. Sterbehilfe und Suizidassistenz
f. Provisionszusagen und Titelhandel
g. Nichterstattung einer Strafanzeige
h. Fazit
3. Standesrecht und die Rechtsordnung
a. Verfassungsrechtliche Vorgaben
b. Sittenverstoß ohne Standesrecht
c. Fazit
4. Die Inhaltskontrolle von Testamenten
a. Verfassungsrechtliche Vorgaben
(aa) Die Ebenbürtigkeitsklausel und ihre Beurteilung durch Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht
(bb) Rechts- und Begriffsverwirrungen zwischen Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof?
(cc) Die Ausnahme: Kollektive Handlungshoheit als Entscheidungskriterium
b. Verwirklichung zivilrechtlich anstößiger oder verwerflicher Zwecke des Erblassers
(aa) Geliebtentestament
(bb) Gefühlsschutz als Mittelweg?
(cc) Behinderten- und Bedürftigentestamente zulasten der Sozialhilfe
(dd) Fehlende normative Vorgaben
5. Rechtsgeschäftsspezifische Grundwertungen als Maßstab der guten Sitten
a. Verfassungsrechtliche Vorgaben als Handlungsbeförderung
b. Verfassungsrechtliche Vorgaben als Handlungsbeschränkung
V. Die normative Systematisierung der guten Sitten durch individuelle und interaktive Handlungshoheit
1. Einfachgesetzliche Vorgaben und Richterrecht
a. Einfachgesetzliche Bezüge
b. Richterrecht
(aa) Die Bedeutung der Rechtsprechung für die Interpretation
(bb) Die Vermutung seiner Richtigkeit?
(cc) Gerichte als Begründer der Sittennormen?
c. Allgemeine Rechtsüberzeugungen
2. Die Ordnung nach dem „beweglichen System“
a. Das Konzept des beweglichen Systems
b. Die postmoderne Rezeption
c. Die Abwendung des Bundesgerichtshofs vom beweglichen System
3. Typenbildung
a. Inhalts- und Umstandssittenwidrigkeit
b. Inhaltliche Entscheidungstypen
c. Normative Probleme der Typenbildung
4. Die rechtsimmanente Interpretation der guten Sitten im Ausgang von der Handlungshoheit
a. Wertvorstellungen
b. Die Verrechtlichung individueller und kollektiver Autonomie
c. Die Handlungshoheit im Verhältnis der Geschäftspartner
d. Die Handlungshoheit und die Schädigung der Allgemeinheit oder Dritter
VI. Die Bedeutung des subjektiven Elements für die Individualisierung des Sittenverstoßes
1. Die Kriterien der Rechtsprechung
2. Die Kritik des subjektiven Tatbestands
3. Die Leistungsfähigkeit des subjektiven Elements im Hinblick auf die individuelle Handlungshoheit
VII. Die gesetzliche Konkretisierung der Sittenwidrigkeit durch § 138 II BGB als Ausbeutungsschutz
1. Auffälliges Missverhältnis
2. Subjektive Voraussetzungen
a. Ausbeutung
b. Zwangslage
c. Unerfahrenheit
d. Mangelndes Urteilsvermögen
e. Erhebliche Willensschwäche
3. Fazit
VIII. Der Beurteilungszeitpunkt und der Wandel der guten Sitten
1. Grundsatz: Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts
2. Ausnahme: Sittenwidrigkeit nach Vornahme des Rechtsgeschäfts?
3. Rückwirkende Sittenwidrigkeit und rückwirkender Wegfall der Sittenwidrigkeit
4. Weitere Differenzierungsmöglichkeiten
5. Letztwillige Verfügungen und Wandel der Sittenwidrigkeit
6. Fazit
B. Der Vertragsinhalt, die Vertragsauslegung und die Vertragsbeendigung
I. Der wirkliche Wille und das Verbot der Wortlautorientierung
1. Die Entwicklung des Verbots der Wortlautorientierung
2. Die rechtsvergleichende Perspektive: „From literalism to contextualism“
3. Die Herausforderung der Kontextualisierung vertraglicher Begriffe
II. Die Kontextualisierung des wirklichen Willens
1. Die individuellen Willensäußerungen
2. Die übereinstimmenden Willenserklärungen und der Verkehrsschutz
a. Normative Kriterien
b. Die (vollständige) Trennung zwischen dem subjektiven Sinn einer Erklärung und der rechtlichen Bedeutung einer Willensäußerung
3. Ein Verzicht auf den „wirklichen Willen“?
III. Konflikte und ihre Auflösung im Sinne der Handlungshoheit
1. Die dogmatische Konzeption der weiteren Kontextualisierung
a. Vertrauensschutz
b. Interessenausgleich
c. Probleme der dogmatischen Konzeption
2. Das Kontextualisierungsproblem im Spiegel der Theorieangebote
a. Autonomie-Orientierung im Anschluss an das vertragliche Versprechen
b. Die ökonomische Theorie des Rechts
c. Gerechtigkeit durch Interessenausgleich
d. Die soziologische Einbettung des Vertrags
e. Die diskurstheoretische Perspektive
3. Die Kontextualisierung aus der Perspektive der interaktiven Handlungshoheit: Die Zwischenebene der Theoriewahl durch die Vertragsparteien
a. Der Gleichlauf mit dem dogmatischen Ausgangspunkt
b. Vertragsauslegung als Inhaltsbestimmung
c. Vertragsauslegung als Ausdruck interaktiver Handlungshoheit durch Theoriewahl
IV. Der hypothetische Parteiwille und die Vernunft des Vertrags
1. Die dogmatischen Erkenntnisse
a. Zweck und Funktion
b. Gesetzliche Vorgaben als Kriterien des hypothetischen Parteiwillens
2. Probleme im Umgang mit den dogmatischen Erkenntnissen
a. Vorrang des gesetzlichen Rechts und Grenzen des privaten Regelungsplans?
b. Auslegung oder Billigkeit?
c. Richterliche Macht?
d. Paradoxe Ergebnisse der Rechtsprechung
3. Zur Optimierung aus der Perspektive der Handlungshoheit
V. Die Folgen für die Vertragsbeendigung
1. Der Vertragszweck bei der Bestimmung des „wichtigen Grundes“ im Sinne des § 314 BGB
a. Die Risikobereiche aus dogmatischer Perspektive
b. Der Optimierungsbedarf aus der Perspektive der Handlungshoheit
2. Die Zumutbarkeit im Sinne des § 313 Abs. 3 BGB
a. Zumutbarkeit, Risikobereiche und Zirkel bei der Störung der Geschäftsgrundlage
b. Der Optimierungsbedarf aus der Perspektive der Handlungshoheit
C. Vertrag und Europäisches Privatrecht
I. Die Vielfalt der Kompetenzen und Rechtsquellen
1. Die Kompetenzordnung
2. Die Vielfalt der Rechtsquellen
3. Der Begriff des Europäischen Privatrechts
II. Europäisches Privatrecht der Gegenwart und die Systematik des BGB
1. Der „neue“ § 439 BGB und die Rechtsprechung von Bundesgerichtshof und Europäischem Gerichtshof zur Reichweite des Nacherfüllungsanspruchs bei Neulieferung
a. Zur richtlinienkonformen Auslegung
b. Die systematische Argumentation des Bundesgerichtshofs
c. Die teleologische Argumentation des Europäischen Gerichtshofs
d. Die nationalstaatliche Umsetzung
e. Dogmatische Kritik an der teleologischen Argumentation des Europäischen Gerichtshofs
2. Die gesetzliche Neuregelung als Anpassung des BGB an das Unionsprivatrecht
a. Die Neufassung des § 439 BGB
b. Neue Auslegungsprobleme
c. Die Systembrüche aus der Perspektive der Theorieangebote
(aa) Ein neues Kaufrecht?
(bb) Die Pflege der Systembrüche?
III. Europäisches Vertragsrecht und seine Zukunft
1. Die Zukunft des Unionsprivatrechts als Instrument supranationaler Wohlfahrt
2. Der DCFR als „Tool-Box“ für zukünftige europäische Gesetzgebung
a. Privatautonomie und Inhaltskontrolle
b. Vertragsauslegung
3. Die Perspektive der Handlungshoheit
Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Sach- und Personenregister
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I

JUS PRIVATUM Beiträge zum Privatrecht Band 236

II

III

Bernhard Jakl

Handlungshoheit Die normative Struktur der bestehenden Dogmatik und ihrer Materialisierung im deutschen und europäischen Schuldvertragsrecht

Mohr Siebeck

IV Bernhard Jakl, geboren 1977; Studium der Rechtswissenschaft (Staatsexamina 2004/2007), der Philosophie sowie neueren und neuesten Geschichte (M.A. 2002); 2006 Promotion; 2012 Habilitation an der Ludwig-Maximilians-Universität München (Venia Legendi für Philosophie); 2013–2015 Ent­lastungsprofessor für Zivilrecht an der Goethe-Universität Frankfurt  a.M.; 2017 Habilitation an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Venia ­Legendi für Bürgerliches Recht, Europäisches Privatrecht, Medizinrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie).

ISBN  978-3-16-155680-7 / eISBN 978-3-16-155681-4 DOI 10.1628/978-3-16-155681-4 ISSN  0940-9610 / eISSN 2568-8472 (Jus Privatum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg/N. aus der Stempel-Garamond gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.

V

Vorwort Eine Arbeit, die analysiert, wie freie Handlungen in ein kollektiv-verbindliches Normensystem eingebettet werden können, konzentriert sich auf die Kernfrage des Bürgerlichen Rechts und damit auf die Grundlagen privater Regelsetzung durch Verträge. Die unter gleichsam rechtswissenschaflichen Laborbedingungen erfolgende Untersuchung der damit einhergehenden Probleme anhand unterschiedlicher Theorieangebote verhandelt jeweils Fragen, bei denen die systembildenden normativen Vorgaben im Umgang mit freien Handlungen in den Vordergrund treten. So rückt die meta-theoretische Frage in den Mittelpunkt, welche der verschiedenen vorhandenen Theorien rekonstruktiv zu einem Vertragsrecht passt, das – wie das deutsche – die freie Handlung in den Mittelpunkt stellt. Für ihren Bezug zum Schuldvertragsrecht erweist sich dabei der Respekt vor der interaktiv ausgeübten Autonomie der Vertragsparteien als zentraler normativer Prüfstein für die Leistungsfähigkeit der jeweiligen Theorieangebote im Schuldvertragsrecht. Anhand der aufgefundenen theoretischen Vorgaben lassen sich – wenn auch angesichts der Fülle des Materials nur exemplarisch – grundlegende und aktuelle dogmatische Probleme lösen. Diese Studie geht zurück auf meine Beschäftigung mit unterschiedlichen Theorieangeboten im Rahmen meiner rechtswissenschaftlichen wie auch philosophischen Forschung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie lag im Wintersemester 2016/17 der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster vor. Für die Drucklegung wurde weitere Literatur bis zum August 2018 berücksichtigt. Meinem Mentor und Erstgutachter für das Habilitationsverfahren, Prof. Dr. Thomas Gutmann, danke ich für die vielfältige Unterstützung während meiner Assistententätigkeit an seinem Lehrstuhl, ganz besonders aber für die großen Freiräume, die das aufwändige Unternehmen einer interdisziplinär orientierten rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung verlangt. Besonderen Dank schulde ich darüber hinaus Prof. Dr. Johann Kindl für die Übernahme und rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Befördert wurde meine Arbeit durch Diskussionen mit vielen Kolleginnen und Kollegen, insbesondere im Rahmen des Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“ sowie der Kollegfor-

VI

Vorwort

schergruppe „Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Für Anregungen im Hinblick auf die internationale Diskussion um das Vertragsrecht danke ich den Kolleginnen und Kollegen des „Private Law Theory Network“, namentlich Prof. Dr. Aditi Bagchi, Dr. Dori Kimel, Prof. Dr. Roy Kreitner und Prof. Dr. Dan Wielsch. Für die Unterstützung und auch manchen praktischen Ratschlag während meiner Zeit als Entlastungsprofessor für Zivilrecht an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. möchte ich Prof. Dr. Klaus Günther, Prof. Dr. Felix Maultzsch, Prof. Dr. Joachim Rückert und Prof. Dr. Marina Wellenhofer danken. Für wiederholte Bestärkung während der mehrjährigen Entstehungszeit der Arbeit danke ich Prof. Dr. Andreas Bergmann, Prof. Dr. Olaf Muthorst und besonders Prof. Dr. Günter Zöller. Dem Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“ danke ich für die Übernahme der Druckkosten. Großen Dank schulde ich schließlich meiner Familie und vor allem meiner Frau Beatrice. Die Arbeit ist ihr und unseren beiden Töchtern Marie Charlotte und Lara Isabelle gewidmet. Münster, im August 2018

Bernhard Jakl

VII

Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   V Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  IX Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   1 Teil 1

„Materialisierungs“-Diagnose und dogmatische Analysen A. Die Diagnose einer inhaltlichen Aufladung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   5 B. Selbstbestimmung und Vertragsbindung als Kernelemente des Schuldvertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   7 C. Die verfassungsrechtlichen Einwirkungen auf das Schuldvertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  10 D. Der Theoriebedarf des Fortschreitens der „Materialisierung“ . . . . . . . . . .  19 Teil 2

Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung A. Theorien des Schuldvertragsrechts und das Schuldvertragsrecht oder: Die Offenheit von Tradition und Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . .  23 B. Vertrag als Versprechen und seine Machtbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  35 C. Ökonomische Theorie des Rechts und das Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . .  40 D. Gerechtigkeit als Rechtswert und das Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  47 E. Die soziologische Einbettung des Vertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  61 F. Diskurstheoretische Normenbegründung und vertragliche Bindung ������  70

VIII

Inhaltsübersicht

G. Die Aufklärung des Vernunftrechts der Aufklärung: individuelle und interaktive Handlungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  79 H. Handlungshoheit und zwei Zielrichtungen vertraglicher Vernunft . . . . .  117 Teil 3

„Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit A. Freiheit und Form: Die guten Sitten des § 138 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  128 B. Der Vertragsinhalt, die Vertragsauslegung und die Vertragsbeendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  216 C. Vertrag und Europäisches Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  247

Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  271 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  279 Sach- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  311

IX

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    V Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  VII Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    1 Teil 1

„Materialisierungs“-Diagnose und dogmatische Analysen A. Die Diagnose einer inhaltlichen Aufladung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   5 B. Selbstbestimmung und Vertragsbindung als Kernelemente des Schuldvertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   7 I. Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   8 II. Vertragsbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   8 III. Interessengeleitete Wertungsjurisprudenz als systembildende Alternative? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   9 C. Die verfassungsrechtlichen Einwirkungen auf das Schuldvertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  10 I. Grundrechte und der Inhalt des Vertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 II. Grundrechtsbindung und Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  12 a. Mittelbare Drittwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  12 b. Die Grundrechtsbindung des Privatrechtsgesetzgebers und der Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  12

2. Die inhaltlichen Kriterien der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Vertragsinhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  13 a. Vertragsfreiheit als Ausdruck der Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . .  13 b. Bedingungen der Selbstbestimmung aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  14

X

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c. Die Fälle zu den Bedingungen der Selbstbestimmung bei § 138 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  15

3. Zur Kritik der verfassungsrechtlichen Bedingungen der Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  15 a. Das Bundesverfassungsgericht als Superrevisionsinstanz . . . . . . . . .  16 b. Die Durchbrechung rechtsdogmatischer Interpretations systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  16

III. Grund und Grenze der verfassungsrechtlichen Bedingungen der Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die historische Dimension der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Anwendungsbereich: die Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das tieferliegende theoretische Begründungs- und Inter pretationsproblem der verfassungsrechtlichen Kriterien . . . . . . .

 16  17  17  18

D. Der Theoriebedarf des Fortschreitens der „Materialisierung“ . . . . . . . . . .  19 I. Der Theoriebedarf durch Systematisierungsprobleme schuldvertraglicher Normen des BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Theoriebedarf durch verfassungsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . III. Der Theoriebedarf durch europäisches Verbraucherrecht . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 19  20  21  22

Teil 2

Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung A. Theorien des Schuldvertragsrechts und das Schuldvertragsrecht oder: Die Offenheit von Tradition und Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . .  23 I. Der Bruch zwischen juristischer und grundlagenorientierter Normenbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  24 1. Tradition und geltendes Recht: Die Gefahr des Gesetzgebers ��  24 a. Die „unauflösliche Gemeinschaft“ von Vergangenheit und Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  25 b. Die Ablehnung des BGB als Grundlage der Ablehnung europäischer Kodifikationsprojekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  25 c. Altes Recht als gutes Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  26

2. Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  27 II. Zwecke und Argumentationsstrukturen des geltenden Rechts . . . .  28 1. Die Beschränkung der Gültigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  29 2. Die Folgen für den rechtswissenschaftlichen Diskurs . . . . . . . . .  30

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XI

a. Merkmale eines positiv-rechtlichen Normensystems . . . . . . . . . . . . .   31 b. Theoriebildung als rechtstechnische Strukturdiskussion . . . . . . . . . .  32

3. Der Theoriebedarf und das Theorieangebot . . . . . . . . . . . . . . . . . .  32 III. Die Aufgabe der Strukturierung des Theorieangebots . . . . . . . . . . .  34 B. Vertrag als Versprechen und seine Machtbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  35 I. Vertrag als Versprechen und das Problem moralischer Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vertrag und Versprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertrag als rechtliches Versprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vertrag als Übertragung von Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. „Versprechen“ als Quelle von individuellen Rechten und seine Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die antinomische Struktur aller Wertungen und des Schuldvertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Pole des Individualismus und Kollektivismus . . . . . . . . . . . . . 2. Das Pendeln zwischen Gegenpolen als Ausdruck von Machtverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Doppelte Grenzen der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

  35  35  36  36  37  37  38  38  39

C. Ökonomische Theorie des Rechts und das Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . .  40

I. Effizienz als vorrangiger Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  40

II. Die utilitaristischen Hintergrundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  41 1. Das Nützlichkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  41 2. Die normativen und empirischen Probleme des Nützlich keitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  41 III. Die normativen Probleme des Utilitarismus als normative Probleme der ökonomischen Analyse des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . .   42 1. Intersubjektive Nutzenvergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  42 2. Schlechterstellung als Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  43 3. Subjektive Rechte, Kosten und die Einschränkung des Anwendungsbereichs der ökonomischen Analyse des Rechts ��  43 IV.

Die empirischen Probleme der ökonomischen Analyse des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  44 1. Der „homo oeconomicus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  44 2. Die empirischen Beschränkungen menschlicher Rationalität ���  44 3. Rechtliche Normen als Standardeinstellungen . . . . . . . . . . . . . . . .  45

V. Der offene Nutzenbegriff und subjektive Rechte als Grenzen der Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  46

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D. Gerechtigkeit als Rechtswert und das Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  47 I. Gerechtigkeit und Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  47 1. Der Vorrang der iustitia commutativa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  48 2. Der Vorrang der iustitia distributiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  48 II. Die Hintergrundannahme: Handeln als Streben . . . . . . . . . . . . . . . . .  49 1. Handeln als tugendhaftes Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  49 2. Richtigkeit der juristischen Entscheidung als richtige Zweckerreichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  50 a. Tauschgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Der Gegenwartsbezug der „corrective justice“ . . . . . . . . . . . . . . (bb) Das „Wesen“ des Schuldrechts des BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Verteilungsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

III. Metaphysische und praktische Probleme der neo aristotelischen Gerechtigkeitsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Metaphysik der „Mitte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ziele ohne Zwecksetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Härte und Unangemessenheit der aristotelischen Orientierung für das Schuldvertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. b. c.

Ausgleich und Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verteilung und Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Das soziale Mietrecht als Muster des Vertragsrechts . . . . . . . . . . (bb) „Verbraucherschutzrecht“ als Muster der Rechtssicherheit . . . . . Autorität und Tradition als Alternativen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 51  51  52  52  53  53  55  56  56  58  58  59  60

IV. Der doppelte Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  60 E. Die soziologische Einbettung des Vertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  61 I. II.

Recht als Steuerungsinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handlung als soziologischer Grundbegriff und seine Transformation zum System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. System und Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Vielfalt der sozialen Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

III.

Die Beobachtung und Beschreibung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Evolution des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Europäisierung der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Inhalt des Vertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 61  62  62  63  64  64  65  65

IV. Die normative Wendung des systemtheoretischen Ansatzes . . . . . .  66 1. Die Verfassung der Gesellschaft als Verfassung des Rechts . . . .  67 2. Vertragsrecht jenseits der Willensbildung Einzelner . . . . . . . . . . .  68

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V.

XIII

„Beobachtung“ und „Vergesellschaftung“ des Rechts jenseits individueller Handlungen und Entscheidungen . . . . . . . . . .  69 1. Zur Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  69 2. Zur normativen Wendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  69

F. Diskurstheoretische Normenbegründung und vertragliche Bindung ������  70 I. Die politische Dimension des Rechts: Das Diskursprinzip als normative Vorgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  70 II. Kommunikative Vernunft als Hintergrundannahme: Selbstgesetzgebung und Diskursprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  71 III.

Das Diskursprinzip und seine praktische Wirksamkeit . . . . . . . . . . 1. Der Vorrang der intersubjektiven Normenbegründung . . . . . . . . 2. Die Stärke des Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Schwäche des Vertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IV.

Die diskurstheoretische Kritik an der Rechtsform und ihre Probleme mit der vertraglichen Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  75 1. Privatrecht als „Privilegium“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  76 2. Eine Revision des Diskursprinzips durch subjektive Rechte? ��  78

 72  73  74  75

G. Die Aufklärung des Vernunftrechts der Aufklärung: individuelle und interaktive Handlungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  79 I.

Die Leitfrage des Rechts: Wie kann individuelle Selbstbestimmung kollektiv organisiert werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Selbstbestimmung als Regelsetzung bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Selbstbestimmung durch Sozialität bei Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Selbstbestimmung als Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Interaktive Regelsetzung als Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II. „Ent-Substantialisierung“ der Frühen Neuzeit und „Selbstpositionierung“ durch aufgeklärte Regelsetzung als Hintergrundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Ent-Substantialisierung“ der Frühen Neuzeit als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Selbstpositionierung“ durch aufgeklärte Regelsetzung . . . . . . . 3. Aufklärung über die Bedingungen von aufgeklärter Regelsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Unterschiedliche Wege zur Willensfreiheit relativ zur Erkenntnisphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

a. b. c. d.

Kant und die Bestimmung der Erkenntnisgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . Fichte und die Duplizität von Denken und Wollen . . . . . . . . . . . . . . . Hegel und das Absolute (Wissen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handlungsmöglichkeit als minimale Voraussetzung . . . . . . . . . . . . .

 80  80  81  81  82

 83  83  84  85  86  87  89  90  91

XIV

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III. Interaktive und individuelle Handlungshoheit als normativer Kern des Rechts der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   93 1. Interaktive Handlungshoheit als rechtliches Strukturmerkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   93 a. Die Vereinbarkeit von Freiheitssphären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Entdeckung des Anderen bei Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Das „Dasein des freien Willens“ als Recht bei Hegel und sein Verhältnis zu den Rechtsideen Kants und Fichtes . . . . . . . d. Die geteilte normative Struktur der interaktiven Handlungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

  93   94   94   96

2. Individuelle Handlungshoheit und ihr Schutz als conditio sine qua non des modernen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . .   97 a. Das angeborene Freiheitsrecht bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Das „absolute Recht der Person“ bei Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Das Recht auf Persönlichkeit bei Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Die geteilte normative Grundlage der individuellen Handlungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

  97   97   98   99

IV. Die Entwicklung der Handlungshoheit in einer positiven Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  100 1. Die Anwendungsvorschläge der philosophischen Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  101

a. Grundlegung und Anwendung bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  101 b. „Verwirklichung“ bei Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  103 c. „Durchdringung“ bei Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  106

2. Die Bezugnahme auf eine existierende positive Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  109 a. Evolution statt Revolution bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  109 b. Das zukünftige positive Recht bei Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  111 c. Die inhaltliche Entwicklung einer positiven Rechtsordnung bei Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  112

3. Aufgeklärter Rechtspositivismus als Zielpunkt philosophischer Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  113 V. Interaktive und individuelle Handlungshoheit als Meta-Regeln rechtlicher Ordnungsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Normative Grundlagen als „Meta-Regeln“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Minimale Gehalte der Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Normative Grundlagen zwischen Vorgaben und historischer Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 114  114  115

 116 a. Normative Grundlagen statt normativer Vorgaben . . . . . . . . . . . . . .  116 b. Historische Bezüge statt genetischer Begründung . . . . . . . . . . . . . .  116

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XV

H. Handlungshoheit und zwei Zielrichtungen vertraglicher Vernunft . . . . .  117 I. Rechtsphilosophie als Grundlage des positiven Rechts und positives Recht als Grundlage der Rechtsphilosophie . . . . . . .  117 II. Die rechtshistorische Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  118 1. Direkte Bezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  118 2. Indirekte Bezüge und ihre Folgen für die Privatrechts philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  119 III. Die normative Angemessenheit eines Theorieangebots für das Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  120 1. Vertrag als Zentrum rechtlicher Normenbegründung . . . . . . . .  121 2. Relative Angemessenheit unterschiedlicher Theorieangebote für das Schuldvertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  122

a. Zum Vertrag als Versprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Zu Vorgaben der Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Zur Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Zur gesellschaftlichen Einbettung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e. Zur diskurstheoretischen Normenbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . f. Zur Handlungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 122  123  123  123  124  124

IV. Vertragliche Vernunft als Begrenzung und Beförderung der Handlungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  125 1. Begrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  125 2. Beförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  126 Teil 3

„Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit A. Freiheit und Form: Die guten Sitten des § 138 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  128 I. Die privatrechtsphilosophischen Grundlagen und die Normzwecke des § 138 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Normzwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Verbindung von Freiheit und Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Handlungsbegrenzung und Funktionsfähigkeit der Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zur Geschichte der guten Sitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die „guten Sitten“ als Alternative zur öffentlichen Ordnung . . 2. Die politische Öffnung der „guten Sitten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die offene Frage nach der rechtlichen Bedeutung der „guten Sitten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 128  129  129  130  130  131  131   132

XVI

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III. Die guten Sitten als Rechtsbegriff I: Das Verhältnis der Vertragspartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das auffällige Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Marktwert als objektiver Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die sittenwidrige Abweichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die subjektive Voraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Die Erkennbarkeit der Sittenwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Vermutung des subjektiven Elements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Die Widerlegung der Vermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Die mehrfachen Brüche mit der laesio enormis . . . . . . . . . . . . . . . . . e. Beispiele für rechtsgeschäftsspezifische Anpassungen der Sittenwidrigkeitskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Die Anpassungen der Sittenwidrigkeitskriterien für den Kaufvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Grundstückskaufvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Internetkaufvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Die Anpassungen im Hinblick auf den Darlehensvertrag . . . . (ee) Die Anpassungen im Hinblick auf den Arbeitsvertrag . . . . . . (ff) Die Anpassungen im Hinblick auf den Mietvertrag . . . . . . . . . (1)  .Mietverträge über Wohnraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2)  .Gewerbliche Mietverträge über Räume . . . . . . . . . . . . . . . . (3)  .Mietwagen nach Unfallersatztarif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (gg) Die Anpassungen im Hinblick auf den Behandlungsvertrag �� (hh) Die Anpassungen im Hinblick auf Terminoptionsgeschäfte . .

 133  133  134  134  135  135  135  136  137  137  138  138  139  140  143  143  144  145  146  146  147

5. Die Überforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  148 a. Die objektive Seite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die subjektive Seite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Die Vermutung der verwerflichen Gesinnung . . . . . . . . . . . . . . (bb) Die Widerlegung der Vermutung der verwerflichen Gesinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Überforderung als Verhinderung eines Ausschlusses von rechtsgeschäftlicher Entscheidungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 148  149  149  150  152

6. Der Schutz der Entscheidungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  152 a. Verfügungsverbote und der objektive Schutz der Entscheidungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Langfristige Vertragsbindung und das Zusammenspiel des subjektiven und des objektiven Elements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Miet- und Pachtverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Gesellschaftsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1)  Eingriffs- und Kontrollbefugnisse des Gläubigers . . . . . . . (2)  Wettbewerbsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Die Bedeutung des subjektiven Elements: Spielverträge und Übersicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 153  153  153  154  155  155  156

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XVII

(1)  Spielverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  157 (2)  Übersicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  158 (dd) Schutz der Entscheidungsfreiheit und individuelle Handlungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  160

7. Das auffällige Missverhältnis als Instrument des Erhalts der individuellen Handlungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  161 IV. Die guten Sitten als Rechtsbegriff II: Schädigung der Allgemeinheit oder Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  162 1. Ehe, Familie, Sexualsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  162 a. Die Anbahnung der Ehe und Brautgeldabreden . . . . . . . . . . . . . . . . b. Grenzen ehevertraglicher Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Die Sexualsphäre als Gegenstand der guten Sitten . . . . . . . . . . . . . . (aa) Rechtsgeschäfte im Zusammenhang mit dem ProstG . . . . . . . (bb) Rechtsgeschäfte außerhalb des ProstG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Zur Doppelfunktion verfassungsrechtlicher Vorgaben . . . . . . . . . . .

 162  163  167  167  169  170

2. Die abnehmende Bedeutung der Kommerzialisierung . . . . . . . .  170

a. Patientenvermittlungsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Empfängnisverhütungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Künstliche Befruchtung und Leihmutterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Organhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e. Sterbehilfe und Suizidassistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f. Provisionszusagen und Titelhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g. Nichterstattung einer Strafanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 172  172  172  173  173  174  175  175

3. Standesrecht und die Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  175 a. Verfassungsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  176 b. Sittenverstoß ohne Standesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  176 c. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  177

4. Die Inhaltskontrolle von Testamenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  177 a. Verfassungsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Die Ebenbürtigkeitsklausel und ihre Beurteilung durch Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . (bb) Rechts- und Begriffsverwirrungen zwischen Bundes verfassungsgericht und Bundesgerichtshof? . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Die Ausnahme: Kollektive Handlungshoheit als Entscheidungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Verwirklichung zivilrechtlich anstößiger oder verwerflicher Zwecke des Erblassers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Geliebtentestament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Gefühlsschutz als Mittelweg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Behinderten- und Bedürftigentestamente zulasten der Sozialhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Fehlende normative Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 178  179  180  181  182  182  184  185  186

XVIII

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5. Rechtsgeschäftsspezifische Grundwertungen als Maßstab der guten Sitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  187

a. Verfassungsrechtliche Vorgaben als Handlungsbeförderung . . . . . .  189 b. Verfassungsrechtliche Vorgaben als Handlungsbeschränkung . . . .  189

V. Die normative Systematisierung der guten Sitten durch individuelle und interaktive Handlungshoheit . . . . . . . . . . . .  189 1. Einfachgesetzliche Vorgaben und Richterrecht . . . . . . . . . . . . . . .  190 a. Einfachgesetzliche Bezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Richterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Die Bedeutung der Rechtsprechung für die Interpretation . . . (bb) Die Vermutung seiner Richtigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Gerichte als Begründer der Sittennormen? . . . . . . . . . . . . . . . . c. Allgemeine Rechtsüberzeugungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 190  191  191  191  192  192

2. Die Ordnung nach dem „beweglichen System“ . . . . . . . . . . . . . .  193 a. Das Konzept des beweglichen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  193 b. Die postmoderne Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  194 c. Die Abwendung des Bundesgerichtshofs vom beweglichen System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  194

3. Typenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  195

a. Inhalts- und Umstandssittenwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  195 b. Inhaltliche Entscheidungstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  196 c. Normative Probleme der Typenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  197

4. Die rechtsimmanente Interpretation der guten Sitten im Ausgang von der Handlungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  197 a. Wertvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Verrechtlichung individueller und kollektiver Autonomie . . . . c. Die Handlungshoheit im Verhältnis der Geschäftspartner . . . . . . . d. Die Handlungshoheit und die Schädigung der Allgemeinheit oder Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 197  198  199  201

VI. Die Bedeutung des subjektiven Elements für die Individualisierung des Sittenverstoßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  202 1. Die Kriterien der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  203 2. Die Kritik des subjektiven Tatbestands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  203 3. Die Leistungsfähigkeit des subjektiven Elements im Hinblick auf die individuelle Handlungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  204 VII.

Die gesetzliche Konkretisierung der Sittenwidrigkeit durch § 138 II BGB als Ausbeutungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  205 1. Auffälliges Missverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  205 2. Subjektive Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  206

a. Ausbeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  206 b. Zwangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  207 c. Unerfahrenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  209

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XIX

d. Mangelndes Urteilsvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  210 e. Erhebliche Willensschwäche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  211

3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  211 VIII. Der Beurteilungszeitpunkt und der Wandel der guten Sitten . . . . 1. Grundsatz: Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts . . . . 2. Ausnahme: Sittenwidrigkeit nach Vornahme des Rechtsgeschäfts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rückwirkende Sittenwidrigkeit und rückwirkender Wegfall der Sittenwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Weitere Differenzierungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Letztwillige Verfügungen und Wandel der Sittenwidrigkeit . . 6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 212  212  213  214  215  215  216

B. Der Vertragsinhalt, die Vertragsauslegung und die Vertragsbeendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  216 I. Der wirkliche Wille und das Verbot der Wortlautorientierung . . . 1. Die Entwicklung des Verbots der Wortlautorientierung . . . . . . 2. Die rechtsvergleichende Perspektive: „From literalism to contextualism“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Herausforderung der Kontextualisierung vertraglicher Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 217  217  218  218

II. Die Kontextualisierung des wirklichen Willens . . . . . . . . . . . . . . . . .  219 1. Die individuellen Willensäußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  219 2. Die übereinstimmenden Willenserklärungen und der Verkehrsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  220 a. Normative Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  220 b. Die (vollständige) Trennung zwischen dem subjektiven Sinn einer Erklärung und der rechtlichen Bedeutung einer Willensäußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  221

3. Ein Verzicht auf den „wirklichen Willen“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  222 III. Konflikte und ihre Auflösung im Sinne der Handlungshoheit . . .  223 1. Die dogmatische Konzeption der weiteren Kontextualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  223 a. Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  223 b. Interessenausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  224 c. Probleme der dogmatischen Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  225

2. Das Kontextualisierungsproblem im Spiegel der Theorieangebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  226 a. Autonomie-Orientierung im Anschluss an das vertragliche Versprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  227 b. Die ökonomische Theorie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  228

XX

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c. Gerechtigkeit durch Interessenausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  230 d. Die soziologische Einbettung des Vertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  231 e. Die diskurstheoretische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  232

3. Die Kontextualisierung aus der Perspektive der interaktiven Handlungshoheit: Die Zwischenebene der Theoriewahl durch die Vertragsparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  232 a. Der Gleichlauf mit dem dogmatischen Ausgangspunkt . . . . . . . . . .  233 b. Vertragsauslegung als Inhaltsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  233 c. Vertragsauslegung als Ausdruck interaktiver Handlungshoheit durch Theoriewahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  234

IV. Der hypothetische Parteiwille und die Vernunft des Vertrags . . . .  236 1. Die dogmatischen Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  236 a. Zweck und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  236 b. Gesetzliche Vorgaben als Kriterien des hypothetischen Parteiwillens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  237

2. Probleme im Umgang mit den dogmatischen Erkenntnissen . .  238 a. Vorrang des gesetzlichen Rechts und Grenzen des privaten Regelungsplans? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Auslegung oder Billigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Richterliche Macht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Paradoxe Ergebnisse der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 238  239  239  240

3. Zur Optimierung aus der Perspektive der Handlungshoheit . .  240 V. Die Folgen für die Vertragsbeendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  241 1. Der Vertragszweck bei der Bestimmung des „wichtigen Grundes“ im Sinne des § 314 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  242 a. Die Risikobereiche aus dogmatischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . .  242 b. Der Optimierungsbedarf aus der Perspektive der Handlungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  242

2. Die Zumutbarkeit im Sinne des § 313 Abs. 3 BGB . . . . . . . . . . . .  245 a. Zumutbarkeit, Risikobereiche und Zirkel bei der Störung der Geschäftsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  245 b. Der Optimierungsbedarf aus der Perspektive der Handlungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  246 C. Vertrag und Europäisches Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  247 I.

Die Vielfalt der Kompetenzen und Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Kompetenzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Vielfalt der Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Begriff des Europäischen Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 248  248  248  249

II. Europäisches Privatrecht der Gegenwart und die Systematik des BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  250

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XXI

1. Der „neue“ § 439 BGB und die Rechtsprechung von Bundes gerichtshof und Europäischem Gerichtshof zur Reichweite des Nacherfüllungsanspruchs bei Neulieferung . . . . . . . . . . . . . .  251 a. Zur richtlinienkonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  251 b. Die systematische Argumentation des Bundesgerichtshofs . . . . . . .  252 c. Die teleologische Argumentation des Europäischen Gerichtshofs  252 d. Die nationalstaatliche Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  253 e. Dogmatische Kritik an der teleologischen Argumentation des Europäischen Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  254

2. Die gesetzliche Neuregelung als Anpassung des BGB an das Unionsprivatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  255 a. b. c.

Die Neufassung des § 439 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Auslegungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Systembrüche aus der Perspektive der Theorieangebote . . . . . . (aa) Ein neues Kaufrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Die Pflege der Systembrüche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 255  256  259  259  260

III. Europäisches Vertragsrecht und seine Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . .  261 1. Die Zukunft des Unionsprivatrechts als Instrument supranationaler Wohlfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  262 2. Der DCFR als „Tool-Box“ für zukünftige europäische Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   263 a. Privatautonomie und Inhaltskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  263 b. Vertragsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  266

3. Die Perspektive der Handlungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  268

Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  271 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  279 Sach- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  311

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Einführung Die Materialisierung des Privatrechts wird einerseits als eine zentrale Entwicklungslinie des deutschen Privatrechts seit dem Ende des 19. Jahrhunderts identifiziert,1 die durch das europäische Verbraucherrecht verstärkt wird. Andererseits betonen aktuelle dogmatische Arbeiten mit Selbstbestimmung2 und vertraglicher Bindung3 zwei Kernelemente des klassischen liberalen Schuldvertragsrechts, die trotz der Materialisierung weitgehend unverändert geblieben seien. Auch Schriften zu verfassungsrechtlichen Einwirkungen auf das Privatrecht zeigen gleichsam in Absetzung zur „Materialisierungs“-Diagnose, dass sich aus dem Verfassungsrecht im Rahmen eines Untermaßverbots und auf Grund der weiten Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers bisher nur wenige und sehr eingeschränkte inhaltliche Vorgaben für das Privatrecht gewinnen lassen.4

1  Vgl. etwa Canaris, AcP 200 (2000), S. 273–364 im Anschluss an Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, S. 4 f., 9 und 18 sowie von der „Materialisierung“ ausgehend zur Vertragsauslegung Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I, S. 229–231 und 662 f. Für einen knappen Überblick zum Begriff der „Materialisierung“ HKK-­Rückert, Vor § 1 Rz. 93 ff. 2 Etwa Bachmann, Private Ordnung, S. 413 zur Ausübung der Selbstbestimmung als rechtlich verbindliche Zustimmung und Ohly, „Volenti non fit inuria“, S. 63–79, insb. S. 74 f., zur Einwilligung als Grundlage dogmatischer Einordnungen des Delikts- und Persönlichkeitsrechts. Für die Selbstbestimmung als Grundlage der Vertragsfreiheit schon Flume, Das Rechtsgeschäft, S. 1. Dies aufgreifend für das europäische Privatrecht etwa Basedow, European Review of Private Law 6 (2008), S. 903. 3  Für eine Begründung von Rechtsfolgen durch übereinstimmenden Parteiwillen bildet Canaris, AcP 184 (1984), S. 218 einen viel zitierten Bezugspunkt; ebenso Bydlinski, Privatautonomie, S. 126 f.; Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, S. 20 und 33 sieht die willentlich eingegangenen vertraglichen Bindungen darüber hinaus als Produkt einer Anordnung des positiven Rechts. Zusammenfassend und gegenwärtig die Vertragstreue betonend Weller, Die Vertragstreue, S. 11. 4 So Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 47 und 97; in diese Richtung auch Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, S. 20; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 218 sieht daher im Untermaßverbot einen Maßstab, der immer schon relativ zu der Freiheitsausübung anderer einzuschränken ist. Für eine bloße Berücksichtigung der einer Freiheitsausübung entgegenstehenden Rechtsgüter auch BVerfGE 88, 203, 254, aus der sich nach BVerfGE 91, 335, 339 keine strengeren Maßstäbe für Schutzpflichten ergeben. Diese allenfalls relativen verfassungsrechtlichen Einschränkungen vertrag-

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Im ersten Teil der Arbeit wird dieses Spannungsverhältnis zwischen „Materialisierungs“-Diagnose und dogmatischer Analyse aufgegriffen. Es wird nach einer möglichen Weiterentwicklung der für das Vertragsrecht grundlegenden Kriterien der Selbstbestimmung und Vertragsbindung gefragt. Dabei werden auch die zunehmenden Systematisierungsprobleme dieser Kriterien angesichts der stetig wachsenden Regulierungen der Vertragsfreiheit beleuchtet. Ein besonderer Einfluss kommt hier verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Vorgaben zu, die jedoch ihrerseits entweder interpretationsbedürftig sind oder aber auf die Einschränkung der Vertragsfreiheit zielen.5 Die fortschreitende Materialisierung führt insoweit zu einem weiteren Theo­ riebedarf. Die Arbeit stellt sich im zweiten Teil der Vielfalt vertragsrechtlicher Theorieangebote jenseits ihrer allgemeinen Festlegungen auf einen „liberalen“, „sozialen“ oder „ökonomischen“ Zweck einer kollektiven normativen Ordnung. Vielmehr werden die vorhandenen Theorieangebote aus der spezifisch schuldvertragsrechtlichen Perspektive analysiert. Es werden die wesentlichen gegenwärtigen historischen, moralischen, ökonomischen, gerechtigkeitsbasierten, soziologischen, diskurstheoretischen und vernunftrechtlichen Vorschläge zur Identifikation normativer Strukturmerkmale für das Schuldvertragsrecht untersucht. Die verschiedenen Theorieangebote werden jeweils auf ihre Konzeption der Verhältnisbildung zwischen freier, selbstbestimmter Handlung und rechtlicher Normenbegründung hin befragt. Dabei wird ein – hier als Theorie der Handlungshoheit bezeichneter – Ansatz entwickelt, der die vorhandenen Vorschläge normativ strukturiert. Dieser Ansatz ist von den Rechtsphilosophien der klassischen deutschen Philosophie inspiriert und setzt auf eine inzwischen auch in der angelsächsischen Debatte breit rezipierte Position auf.6 Im Mittelpunkt steht dabei die Möglichkeit der Normsetzung durch eine Selbstbindung der Willkür trotz oder auch entgegen empirischer Zwänge.

licher Freiheit werden dagegen von Hager, AcP 196 (1996), S. 168, 176 und Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 165 als unplausibler Vorrang der Freiheitsausübung kritisiert. 5  Für Interpretationsprobleme insb. bei der Berücksichtigung des Gleichheitssatzes etwa Neuner, JZ 2003, 57, 61; kritisch zu europarechtlichen Einschränkungen der Vertragsfreiheit Hassemer, Jb. J.ZivRWiss. 2004, 122 f. Zu den Spannungen und Zersplitterungen zwischen europäischem und nationalem Vertragsrecht etwa Müller-Graff, GPR 2009, 106, 118 f. 6 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 231 und S. 237; Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 92 und Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 80 zur rechtlichen Verhältnisbildung zwischen individueller und kollektiver Selbstbestimmung. Für die angelsächsische Rezeption der Handlungstheorie der klassischen deutschen Philosophie zum Zwecke der rechtlichen Normenbegründung im Ausgang von Kant etwa Raz, Harvard Law Review 95 (1982), S. 916 ff. und Ripstein, Force and Freedom, S. 35 ff. sowie für den Rückgriff auf hegelianische Argumentationsfiguren etwa Benson, Contract, in: Patterson (Hrsg.), Philosophy of Law, 2000, S. 39 f.

Einführung

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Die in der Arbeit vorgeschlagene Perspektive auf die Materialisierung des Schuldvertragsrechts wendet sich damit gegen ein „Streben nach der Mitte“7 als normatives Kernelement des Schuldvertragsrechts, das angesichts auslegungsbedürftiger Rechtsbegriffe und stärker werdender Abwägungstendenzen teils zur Begründung einer Einschränkung der willensbasierten Vertragsfreiheit herangezogen wird. Mit der hier entfalteten Position besteht dagegen die Möglichkeit, die dogmatischen Kernelemente der individuellen Willensäußerung und der vertraglichen Bindung selbst zum Ausgangspunkt einer Materialisierung des Vertragsrechts zu machen. Der dritte Teil widmet sich der Dogmatik und verdeutlicht diese Möglichkeit anhand der Analysen zu den guten Sitten, zur Vertragsauslegung, zur Vertragsbeendigung und zur Bestimmung der Reichweite der Vertragspflichten im deutschen und europäischen Vertragsrecht. Insbesondere am Beispiel der guten Sitten wird untersucht, ob ein sozial-­ ethisches Minimum jenseits der Selbstbestimmung und rechtsgeschäftlichen Entscheidungsfreiheit für die Auslegung der guten Sitten als Rechtsbegriff in Anspruch genommen werden muss.8 Allerdings ergibt sich dabei die gleichsam gegenläufige Anforderung, bei der Vertragsauslegung weniger die objektiven Grenzen des rechtlichen Wollens, wie etwa den Vertrauensschutz oder Vorstellungen eines objektiven Interessenausgleichs heranzuziehen, als vielmehr die theoretischen Hintergrundannahmen zu berücksichtigen, die die Parteien selbst für ihren Vertragsschluss bzw. die Vertragsdurchführung heranziehen. Die in Auseinandersetzung mit den vorhandenen Theorieangeboten entwickelte Position der Arbeit führt zu der folgenden Annahme: Die vorhandenen dogmatischen Kernelemente der Selbstbestimmung – insb. in Form der Zustimmung – und der Vertragsbindung werden immer dann gestärkt, wenn die willensbasierten Handlungen und Erklärungen der Parteien stärker respektiert werden, als das bisher geschieht.9 Diese Annahme wird zudem an zahlreichen rechtspraktischen Beispielen untersucht. Es wird diskutiert, inwieweit gerade wegen vielfältiger äußerer Umstände, gesellschaftlicher Zwänge sowie darauf basierender Verkehrsanschauungen und gesetzlicher Regelungen eine deutlichere Trennung zwischen diesen und dem übereinstimmenden Willen der Parteien dort aufrechterhalten werden 7  So aber Stürner, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Schuldvertragsrecht, S. 448 und allgemein für die ganze Rechtsordnung mit der „Mitte als Verfassungsauftrag“ Vosskuhle, Verfassung der Mitte, S. 48 f. 8  In diese Richtung jedoch Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 2, 23; MüKo-BGB/ Armbrüster, § 138 Rn. 1; NK-BGB/Looschelders, § 138 Rn. 4, 89. 9 Für eine allgemeine Stärkung der entindividualisierten Vertrauens- und Verkehrsschutzbezüge dagegen Canaris, AcP 200 (2000), S. 273, 276 ff. und Raiser, Institutionenschutz, S. 148 f.

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Einführung

kann, wo die Rechtsordnung aus historisch-dogmatischen Gründen die Handlungshoheit der Vertragsparteien noch nicht ausreichend respektiert. Dieses Vorgehen stößt innerhalb des Unionsprivatrechts allerdings schnell an Grenzen. Es ist nach Art. 3 Abs. 3 EUV auf die Sicherstellung eines funktionierenden Binnenmarktes und der vier im AEUV geregelten Grundfreiheiten der Warenverkehrsfreiheit, der Personenfreizügigkeit, der Dienstleistungsfreiheit und des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs gerichtet.10 Von besonderem Interesse ist daher, ob es innerhalb des geltenden Unionsprivatrechts oder innerhalb der akademischen Entwürfe für ein zukünftiges Europäisches Privatrecht Anknüpfungspunkte dafür gibt, auch die individuelle Autonomie der vertragschließenden Parteien weitergehend zu respektieren. Die vorliegende Arbeit greift in Teil 2 G. auf Ergebnisse meiner unveröffentlichten philosophischen Habilitationsschrift „Die Autonomie des Rechts. Das Vernunftrecht der klassischen deutschen Philosophie in Geschichte und Gegenwart“ zurück, die im Jahr 2011 der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München vorlag. Teil 3 A. bildet die Grundlage für meine Kommentierung „Sittenwidriges Rechtsgeschäft; Wucher (§ 138 BGB)“ im Beck’schen Online-Großkommentar (BeckOGK-BGB), Gesamtherausgeber: Prof. Dr. Beate Gsell, Prof. Dr. Wolfgang Krüger, Prof. Dr. Stephan Lorenz und Prof. Dr. Christoph Reymann, Beck-Online-Publikation.

10 Dazu Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 119. Für eine zentrale Rolle des Gleichheitssatzes bei der Untersuchung der Einheit und Folgerichtigkeit von Rechtssätzen des deutschen Privatrechts schon Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 110, 112 f. und 125.

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Teil 1

„Materialisierungs“-Diagnose und dogmatische Analysen A. Die Diagnose einer inhaltlichen Aufladung Die Entwicklung des deutschen Privatrechts seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wird einerseits unter dem Schlagwort einer „Materialisierung des Schuldvertragsrechts“ zusammengefasst. Sozialphilosophisch und diskurstheoretisch kann mit Jürgen Habermas von einem Paradigmenwechsel von einem liberalen Rechtsstaat zu einem Sozialstaat gesprochen werden.1 Juristisch spiegelt dies die Diagnose, dass die Wiederaufnahme der Idee der Vertragsgerechtigkeit den Einbruch einer materialen Vertragsethik in das moderne Privatrecht bedeute. 2 Dieser „Einbruch“ einer materialen Vertragsethik kann im deutschen Recht auf drei Quellen zurückgeführt werden, nämlich die Auslegung des BGB durch die Gerichte, den nationalen und den europäischen Gesetzgeber. Die „Materialisierungs“-Diagnose wird damit auf eine Entwicklungsgeschichte des BGB gestützt. Demnach wurde während der Entstehungszeit des BGB und dann auch im BGB das formale Prinzip der Vertragsfreiheit vorausgesetzt und entsprechend dem Grundsatz „pacta sunt servanda“ unabhängig von der Frage nach einem ausgewogenen Verhältnis von Leistung und Gegenleistung Geltung zugesprochen.3 Jedoch wurde in der weiteren Entwicklung die inhaltliche Vertragskontrolle zunächst durch die Rechtsprechung zu § 138 BGB und die Grundsätze des Wegfalls der Geschäftsgrundlage sowie später seitens des demokratischen Gesetzgebers durch das AGB-Recht und das euro1 

Habermas, Faktizität und Geltung, S. 468–488.

2 So Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 539–543; Auer, Der privatrechtliche

Diskurs der Moderne, S. 1 bezeichnet dieses Narrativ im Anschluss an Kennedy, The Rise and Fall of Legal Thougt als eine Geschichte von Aufstieg und Fall der Privatautonomie. 3  Vgl. etwa Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I, S. 229–231 und 662 f. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 375 f. sieht in der Bestimmung der Privatautonomie durch Savigny die Verwirklichung der kantischen Philosophie der Autonomie. Der späte Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 440 geht für das BGB ebenfalls von einer weitgehend unbegrenzten Privatautonomie aus, da die Vertragsfreiheit dazu führe, dass die Beteiligten nahezu alle durch das Gesetz geregelten Fälle in einer anderen Weise regeln könnten. Dagegen weist Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, S. 2 f., 152–154 darauf hin, dass die privatrechtstheoretische Debatte zur Entstehung des BGB die Vertragsfreiheit als Prinzip noch ablehnt.

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Teil 1: „Materialisierungs“-Diagnose und dogmatische Analysen

päische Verbraucherschutzrecht revitalisiert und in Einzelfällen verfassungsrechtlich ergänzt.4 § 138 Abs. 1 BGB wurde aus dieser Perspektive in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur gesellschaftspolitischen Kontrollnorm des angemessenen Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung ausgebaut.5 Selbst wenn beispielsweise die Voraussetzungen des § 138 Abs. 2 BGB nicht vorliegen, genügt bei Verträgen, bei denen der Benachteiligte kein Unternehmer oder Vollkaufmann ist, ein krasses Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung, um das subjektive Merkmal der verwerflichen Gesinnung zu vermuten und so den Vertrag für nichtig zu erklären.6 Das Kriterium des krassen Missverhältnisses wird zum Beispiel für Zinsen von den Gerichten bei einem Zinssatz festgelegt, der 100 Prozent über dem Marktdurchschnitt liegt.7 Der Sache nach wird aus der Perspektive der „Materialisierungs“-Diagnose damit die spätscholastische und im römischen Recht wurzelnde Idee der laesio enormis weitergeführt.8 Die Grundsätze des Wegfalls der Geschäftsgrundlage wurden seit dem frühen 20. Jahrhundert von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft ausgebaut. Der Gesetzgeber machte diese Grundsätze mit der Schuldrechtsreform von 2001 in § 313 BGB zum Gesetz.9 Daneben entstand ein Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, das bestimmte Vertragsklauseln schlicht für unwirksam erklärt und mit der Generalklausel des § 307 Abs. 1 BGB den Gerichten und Marktteilnehmern faktisch die Macht über die inhaltliche Ausgestaltung von AGB gibt.10

 4 Vgl. Canaris, AcP 200 (2000), S. 273–364 im Anschluss an Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzgeber und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, S. 4 f., 9 und 18.  5  So im Ergebnis HKK/Haferkamp, § 138, Rn. 31 unter Verweis auf Diederichsen, AcP 198 (1998), S. 247.  6  Ständige Rechtsprechung BGHZ 98, 174, 178 = NJW 1986, 2564, 2565; BGHZ 128, 255, 269 = NJW 1995, 1019, 1022 und NJW-RR 2012, 416, Rn. 10.  7  Ständige Rechtsprechung, vgl. etwa zu Darlehensverträgen BGH NJW 2018, 848, Rn. 25 und schon BGHZ 104, 102, 106 = NJW 1988, 1659, 1660.  8  Vgl. etwa Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, S. 230.  9  Für ein Verständnis des Wegfalls der Geschäftsgrundlage als Lehre von der Risikobefreiung schon Fikentscher, Die Geschäftsgrundlage als Frage des Vertragsrisikos, S. 21; kritisch dazu Picker, Schuldrechtsreform und Privatautonomie, S. 1035 und Finkenauer, AcP 213 (2013), S. 619, 646 f., der bei hinreichend weiter Anwendung der ergänzenden Vertragsauslegung für die Grundsätze des Wegfalls der Geschäftsgrundlage keinen Anwendungsbereich sieht. 10  So wird etwa von Staudinger/Coester, 2013, § 307, Rn. 5 als Ziel der richterlichen Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 BGB die Gewährleistung der Vertragsgerechtigkeit wie auch der vertraglichen Richtigkeitsgewähr gesehen. Für einen objektiven Gerechtigkeitsgehalt des AGB-Rechts im Anschluss an Raiser, Das Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen, S. 293 auch Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 166 f.

B. Selbstbestimmung und Vertragsbindung als Kernelemente

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Der Verbraucherschutzgedanke des AGB-Rechts wurde schließlich auch auf die Regelungen des Vertragsschlusses selbst übertragen.11 Er dient auf europäischer Ebene als Motor für die Entwicklung eines europäischen Zivilrechts und wird nicht zuletzt durch das neu geschaffene grundrechtsgleiche Recht auf Verbraucherschutz verstärkt.12 Daneben werden verfassungsrechtliche Vorgaben für Privatrecht als zentraler Bestandteil seiner inhaltlichen Aufladung angesehen, da der Privatrechtsgesetzgeber ebenso wie die Gerichte an die Grundrechte gebunden ist.13 Während einige diese Phänomene der inhaltlichen Aufladung des Privatrechts begrüßen14, werden sie überwiegend noch als zunehmende Beschränkung der Privatautonomie wahrgenommen.15 Unabhängig davon, welcher Bewertung man folgt, würde man erwarten, dass die zunehmende Materialisierung auch Auswirkungen auf die Dogmatik des Privatrechts hat.

B. Selbstbestimmung und Vertragsbindung als Kernelemente des Schuldvertragsrechts Neuere dogmatische Analysen, die das geltende Vertragsrecht des BGB und seine Normzusammenhänge untersuchen, blenden die zunehmende Materialisierung jedoch weitgehend aus. Sowohl im Hinblick auf die Selbstbestimmung und die damit einhergehende Festlegung auf die Willenstheorie als auch bezüglich der Vertragsbindung sowie der Rückbindung des Vertragsrechts an die subjektiven Rechte, wie sie in den Grundrechten des Grundgesetzes ihren Niederschlag gefunden haben, werden vielmehr klassisch liberale Elemente betont.

11  Vgl. etwa die §§ 312c, 312d, 355, 357 und 360 BGB, die vor allem auf eine sog. Vollharmonisierung für Fernabsatzverträge iSd § 312b BGB durch den europäischen Gesetzgeber zurückgehen. Sogar für eine Stärkung des Verbraucherschutzes durch behördliche Durchsetzung Micklitz, Behördliche Rechtsdurchsetzung Deutschland – Potenziale und Perspektiven für den Verbraucherschutz in Deutschland, in: Schulte-Nölke (Hrsg.), Neue Wege zur Durchsetzung des Verbraucherrechts, 2017, S. 7 f. 12  Vgl. Art. 6, 38 VüAEU. 13 Vgl. Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 16, 22. 14  Vgl. etwa Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, S. 139 f. und für eine weitergehende Ausrichtung des gesamten Vertragsrechts an einem ethischen Würdebegriff Lauber, Paritätische Vertragsfreiheit durch reflexiven Diskriminierungsschutz, S. 127 f., derzufolge das Vertragsrecht allgemein Menschen im Sinne des AGG vor Diskriminierungen schützen soll. 15  So stellvertretend für viele Medicus, Abschied von der Privatautonomie im Schuldrecht?, S. 9–11; daher für die weitere Einschränkung des inhaltlich aufgeladenen „Sonderprivatrechts“ auch auf Grund der Grundfreiheiten Reymann, Sonderprivatrecht der Handelsund Gesellschaftsverträge, S. 352 f.

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Teil 1: „Materialisierungs“-Diagnose und dogmatische Analysen

I. Selbstbestimmung Die Selbstbestimmung wird etwa als Zustimmung zu einem Vertragsschluss in empirischen Analysen des positiven Rechts als eines von zwei Grundelementen jeder privaten Ordnung identifiziert.16 Auch die Untersuchungen zur Vertragsverletzung fokussieren das individuelle Leistungsversprechen und versuchen es mit der auf Kant zurückgeführten Idee subjektiver Rechte zu stärken.17 Andere wiederum betonen die zentrale Rolle des dispositiven Rechts als Regelungsinstrument des Privatrechts zwischen Vertrag und zwingendem Gesetz.18 Auch Überlegungen, die von einem Rechtfertigungszwang für abdingbares Recht ausgehen, kommen zu dem Schluss, dass sich fast alle Schutzzwecke des zwingenden Rechts auch mittels abdingbarer Normen und damit ohne Eingriff in die Vertragsfreiheit erreichen lassen.19 Untersuchungen des zwingenden Delikts und Persönlichkeitsrechts wiederum betonen die grundlegende Rolle der Zustimmung, gerade auch für insoweit zwingende Normen. 20

II. Vertragsbindung Die Vertragsbindung und damit die übereinstimmenden Willenserklärungen werden weiterhin als klassisches Kernelement des Vertragsrechts betont. So werden etwa die Vertragsbindung, die Leistungstreue und der Naturalerfüllungsanspruch als die drei Elemente der Vertragstreue identifiziert 21 und anhand des geltenden Rechts die „königliche Stellung des Vertrags“22 erläutert. Selbst im entstehenden europäischen Privatrecht, das als eine der zentralen Quellen der inhaltlichen Aufladung des Privatrechts anzusehen ist, wird der Grundsatz „pacta sunt servanda“ als aus einer „immanenten Teleologie“ des Vertragsrechts stammend eingeführt.23 Auch kritische Zergliederungen des Privatrechts unter dem Titel des „Sonderprivatrechts“ gehen davon aus, dass das Modell des BGB mit seiner Ablehnung inhaltlicher Fairnessüberlegungen im Zentrum steht und rechtspolitisch divergierende Vertragsrechtsmodelle wie das Verbraucherrecht und das Handelsrecht darauf nur aufbauen können, soweit die

16  Bachmann, Private Ordnung, S. 413. Das andere Grundelement ist Bachmann, ebd., zufolge das gesellschaftsrechtlich – und nicht öffentlich-rechtlich – zu verstehende Allgemeinwohl. 17  Unberath, Die Vertragsverletzung, S. 387–389 und 32–70. 18  Möslein, Dispositives Recht, S. 484. 19  Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, S. 447 f. 20  Ohly, „Volenti non fit inuria“, S. 63–79. 21  Weller, Vertragstreue, S. 11, 183 f. 22  Weller, Vertragstreue, S. 572. 23  Metzger, Extra legem, intra ius, S. 167 f.

B. Selbstbestimmung und Vertragsbindung als Kernelemente

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diesbezüglichen partiellen Durchbrechungen der Systematik des BGB überzeugend gerechtfertigt werden können.24 Teils wird deswegen von einer sogenannten „Richtigkeitsgewähr“25 oder „Richtigkeitschance“26 des Vertrags ausgegangen. Darauf wird teils auch die Überlegung gestützt, dass das Privatrecht und insbesondere auch das Schuldvertragsrecht eine gesellschaftliche Regulierungsfunktion über das bipolare Vertragsverhältnis hinaus erfülle. 27 Über die Zustimmung der Parteien hinaus wird die Verbindlichkeit des Vertrags durch eine ihm innewohnende „Tendenz zur Gerechtigkeit“ begründet. 28 Dem wird aber entgegengehalten, dass eine Kontrolle des einzelnen Vertrags auf seine Richtigkeit unmöglich ist, da es an Maßstäben fehle, die durch den Vertrag gewonnene selbstbestimmte Koordinationsleistung vollumfänglich zu beurteilen. 29 Allenfalls die Art und Weise des Zustandekommens eines Vertrags könne als eine Art Filter oder Plausibilitätskontrolle für die Kontrolle eines Vertragsinhalts herangezogen werden.30

III. Interessengeleitete Wertungsjurisprudenz als systembildende Alternative? Zwar fokussieren auch weitergehende dogmatische Überlegungen, die sich explizit dem Paradigma der Wertungsjurisprudenz zuordnen und die widerspruchsfreie Einheit und Folgerichtigkeit im Rechtsdenken zum Ziel haben,31 den Anschluss neuer normativer Vorgaben an bestehende Normen und ihre Auslegungen. So wird versucht, Vorgaben des europäischen Privatrechts nicht nur rechtstechnisch – wie zum Beispiel §§ 241a, 312d ff., 307, 355, 357 BGB – in das BGB zu integrieren, sondern auch unter der Perspektive der Einheits- und Systembildung zu systematisieren.32

24 

Reymann, Das Sonderprivatrecht der Handels- und Verbraucherverträge, S. 498 f. Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), S. 130 f. Immer noch dogmatisch präsent in Palandt/Ellenberger, Einf. v. § 145 Rn. 13. 26  Wolf, Entscheidungsfreiheit und Interessenausgleich, S. 67 ff. Kritisch dazu Drexl, Selbstbestimmung, S. 41. 27 So Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, S. 60, 74 f., dem zufolge die Regulierungsfunktion privatrechtlicher Normen im Einzelfall zu identifizieren sei. 28  Schmidt-Rimpler, in: FS Raiser, 1974, S. 8, 10 f.; diesen Gedanken selbst für die Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 BGB aufnehmend Staudinger/Coester, 2013, § 307, Rn. 5. 29 Schon Flume, AT II, S. 6. So auch Leistner, Richtiger Vertrag und lauterer Wettbewerb, S. 184 f. 30 So Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, S. 24. 31  Zu diesem Paradigma kurz und prägnant Petersen, Von der Interessen- zur Wertungsjurisprudenz, S. 9–11. 32  Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 61 sieht vor 25 Schon

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Teil 1: „Materialisierungs“-Diagnose und dogmatische Analysen

Allerdings führt die Diskussion um die Implementierung durchweg zur Diagnose von Systembrüchen und Grenzen der Implementierung des europäischen Verbraucherrechts in die bestehende Dogmatik des BGB.33 Die Grenzen des Konzepts der Einheitsbildung nach dem Muster der interessengeleiteten Wertungsjurisprudenz werden daher insbesondere dort betont, wo diskutiert wird, welchen Zwecken das Vertragsrecht dienen soll. Angesichts außervertragsrechtlicher Vorgaben, die im Rahmen der fortschreitenden inhaltlichen Aufladung an Gewicht gewinnen, stoßen dogmatische Einheitsbildungen mit einem auf Widerspruchsfreiheit ausgerichteten Systembegriff an ihre Grenzen und beschränken sich inzwischen zunehmend darauf, nur noch die auftretenden Brüche zu diagnostizieren.34

C. Die verfassungsrechtlichen Einwirkungen auf das Schuldvertragsrecht Der demokratische Rechtsstaat stellt mit den Grundrechten einerseits und der Anforderung der Legitimationskette zwei Wege für inhaltliche Vorgaben des Vertragsrechts zur Verfügung. Jedoch entscheidet der demokratische Gesetzgeber auf Grund seines weiten Entscheidungsspielraums, der Ausfluss des Demokratieprinzips ist, oft zögerlich und teilweise aus zivilrechtlicher Sicht in einer Form, die sich nicht in die bestehende Dogmatik einfügen lässt. Dieses Phänomen der Gesetzgebung wird teils zugespitzt als „Irrationalitätsprivileg“35 bezeichnet. Der demokratische Gesetzgeber kann deshalb aus dogmatischer Sicht zwar zu einem Störfaktor einer historischen Rechtsbegründung werden.36 Allerdings müssen verfassungsrechtliche Vorgaben allein schon aus normenhierarchischen Gründen berückallem einen „rechtsethischen Gleichsatz“ als normativ hinreichenden Grund für die Anwendung des Systemdenkens auf das Europäische Privatrecht. 33  Vgl. etwa Riehm, Grenzen der Vollharmonisierung – dargestellt am Beispiel des Verbrauchervertragsrechts, in: Zimmermann/Kopp/Busch/McGuire (Hrsg.), Europäische Methodik, 2010, S. 159–207 und die Studie von Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen. 34  Daher für eine grundsätzliche Revision bis hin zum Verzicht des Anspruchs auf Einheitsbildung und Systematisierung Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, S. 2 f. im Anschluss an Kennedy, Harvard Law Review 89 (1976), S. 1713 ff. Dagegen schlicht für eine zunehmende Typisierung der Kontrolle der Vertragsentstehung Grundmann, AcP 202 (2002), S. 40, 67 ff. 35 Vgl. Dreier, Bioethik zwischen gesellschaftlicher Pluralität und staatlicher Neutralität, S. 43, URL: http://www.uni-muenster.de/KFG-Normenbegruendung/publikationen/ preprints.html (abgerufen am 17.6.2018), der durch diesen Begriff die Grenzen legislativer Rationalität betont. 36  In diese Richtung Jansen, The Making of Legal Authority, S. 85 f., 105.

C. Die verfassungsrechtlichen Einwirkungen auf das Schuldvertragsrecht

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sichtigt werden. Im Zusammenhang mit der Materialisierung des Privatrechts dienen sie zudem als Quelle der inhaltlichen Aufladung.

I. Grundrechte und der Inhalt des Vertrags Die Grundrechte des Grundgesetzes verlangen eine Rückbindung des Vertragsrechts an das Verfassungsrecht. Sie bieten aus zivilrechtlicher Sicht zwar eine tragfähige Grundlage für die Privatautonomie und insb. die Vertragsfreiheit, setzen aber, anders als das von einigen erhofft wurde, kaum inhaltliche Vorgaben.37 Vielmehr erschöpft sich die Einwirkung der Grundrechte auf das Privatrecht vor allem in einem bisher kaum konturierten Untermaßverbot. Ähnlich wie bei der Unterlassensproblematik im Zivilrecht und Strafrecht können auch die Schutzpflichten des Grundgesetzes nur mit hohem Begründungsaufwand formuliert werden.38 In inhaltlicher Hinsicht ergeben sich aus der verfassungsrechtlichen Einwirkung auf das Privatrecht sogar enge Grenzen für eine inhaltliche Aufladung des Privatrechts aus nicht-zustimmungsbasierten Gründen. Dies zeigt auch die Überlegung, dass vor allem die individuelle Zustimmung als subjektives Recht auch verfassungsrechtlich abgesichert wird.39

II. Grundrechtsbindung und Vertragsrecht Allgemein anerkannt ist die Notwendigkeit und besondere Bedeutung verfassungsrechtlicher Bezüge.40 Dies wird darauf zurückgeführt, dass Grundrechte eine objektive Werteordnung darstellen, die für Gesetzgeber und Richter bei der Rechtsfindung den rechtlichen Rahmen ziehen.41

37 Etwa

Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 97.

38 Vgl. Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 50, 97. Für die begrenzende Wirkung des

Verhältnismäßigkeitsprinzips auch Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 133 f. 39 So Gutmann, Iustitia Contrahentium, S. 321 ff., am Beispiel der Auslegung des § 138 Abs. 1 und Abs. 2 BGB durch die Wucher-Zins-Rechtsprechung des BGH. Dagegen für eine umfassende Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Schuldrecht Stürner, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, S. 16 f. 40  Vgl. statt vieler Staudinger/Olzen, 2015, Einleitung zum Schuldrecht, Rn. 268. 41  BVerfGE 7, 198, 205 f. = NJW 1958, 257, 257; NJW 2003, 2815, 2815; BGHZ 70, 313, 324 = NJW 1978, 943, 945; BGHZ 142, 304, 307 = NJW 1999, 3552; ebenso Boemke, NZA 1993, 532, 533; MüKo-BGB/Armbrüster, § 138, Rn. 20; Sack, WRP 1985, 1, 5.

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Teil 1: „Materialisierungs“-Diagnose und dogmatische Analysen

1. Grundlagen a. Mittelbare Drittwirkung Laut Bundesverfassungsgericht muss bei der Entscheidung darüber, was die guten Sitten jeweils im Einzelfall fordern, „in erster Linie von der Gesamtheit der Wertvorstellungen ausgegangen werden, die das Volk in einem bestimmten Zeitpunkt seiner geistig-kulturellen Entwicklung erreicht und in seiner Verfassung fixiert hat“.42 Die Rechtsprechung geht seitdem von einer „mittelbaren Drittwirkung“ der Grundrechte in das Privatrecht aus. Generalklauseln wie § 138 Abs. 1 BGB gelten als Medien, durch die die Grundrechte in das Privatrecht ausstrahlen.43

b. Die Grundrechtsbindung des Privatrechtsgesetzgebers und der Gerichte In der wissenschaftlichen Diskussion wird entgegen der Formulierung einer „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte die Grundrechtsbindung des Privatrechtsgesetzgebers und der Gerichte betont, wie sie sich aus Art. 20 Abs. 3 GG ergibt.44 Eine Bindung der Zivilrechtsprechung über Art. 1 Abs. 3 GG wird dagegen abgelehnt.45 Die verfassungsrechtlichen Vorgaben lassen Gesetzgeber und Richter jedenfalls einen weiten Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum.46 Dies liegt daran, dass schon der Verfassung und insbesondere dem Grundrechtskatalog eine durchgängige Systematik fehlt.47 Die Verfassung ist zudem auch durch Wertgegensätze gekennzeichnet, die nur im Einzelfall durch die Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne aufgelöst werden können.48 Es besteht gerade bei der Auslegung von vertragsrechtlichen Normen ein Widerstreit zwischen möglichen Schutzpflichten für den Vertragsschließenden und der subjektiven Berechtigung, Inhalt und Vertragspartner selbst zu bestim42  BVerfGE 7, 198, 198, 205 ff., 214 ff., 218 = NJW 1958, 257, 257. Zur Bedeutung des Urteils für das Zivilrecht nochmals Anm. Hufen, NJW 2017, 3064. 43 Vgl. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 123 f.; Staudinger/Olzen, 2015, Einleitung zum Schuldrecht, Rn. 269 f. 44  Canaris, AcP 184 (1984), S. 201, 245; ders., JuS 1989, 161, 164 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts und ders., JZ 2009, 389–398; für die mittelbare Drittwirkung als überzeugende Mehrheitsmeinung Staudinger/Olzen, 2015, Einleitung zum Schuldrecht, Rn. 269 f.; darüber hinausgehend für die unmittelbare Wirkung der Grundrechte im Vertragsrecht und damit eine umfassende Beachtung grundgesetzlicher Vorgaben im Vertragsrecht Hager, JZ 1994, 373. 45  BVerfGE 73, 261, 268 f. = NJW 1987, 827, 827 f. 46  Vgl. BVerfGE 4, 7, 17 f. = NJW 1954, 1235, 1236; BVerfGE 89, 214, 229 f., 233 f. = NJW 1994, 36, 38. 47  Vgl. zur Ablehnung einer feststehenden Ordnung der Grundrechte ebenso wie einer rein abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte Dreier, Rechtswissenschaft, S. 11. 48  Etwa schon Isensee, NJW 1977, 545, 549.

C. Die verfassungsrechtlichen Einwirkungen auf das Schuldvertragsrecht

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men.49 Darüber hinaus wird die inhaltliche Konkretisierung der Grundrechte bereits durch die Anerkennung der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers beschränkt. Umstritten ist in der Verfassungsinterpretation aber auch, inwieweit auf dieser Ebene ein gesellschaftlicher Konsens zu berücksichtigen ist.50

2. Die inhaltlichen Kriterien der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Vertragsinhalten Im Hinblick auf die vertragliche Inhaltskontrolle hat das Bundesverfassungsgericht anhand einzelner Fälle auch allgemeine verfassungsrechtliche Gesichtspunkte formuliert, die im Privatrecht zu beachten sind. Allerdings ändert dieser Gesichtspunkt des „verfassungsrechtlichen Geltungsvorrangs“ grundsätzlich nichts am „Erkenntnisvorrang des Privatrechts“.51 Das Bundesverfassungsgericht nimmt keine allgemeine, umfassende Kontrolle gesetzgeberischer oder richterlicher Entscheidungen vor. Zum Teil nehmen die verfassungsrechtlichen Vorgaben auch – aus Sicht des Bundesverfassungsgericht – vorkonstitutionelle zivilrechtliche Grundwertungen, wie etwa die Vertragsfreiheit, auf.52 Entscheidungen der Gerichte verstoßen erst dann gegen Verfassungsrecht, wenn sie dahingehend auf einem Auslegungsfehler beruhen, dass die Bedeutung eines Grundrechts verkannt wird. Von besonderer Bedeutung ist dabei der Umfang des Schutzbereichs wie auch die inhaltliche Gewichtung eines betroffenen Grundrechts im konkreten Fall.53

a. Vertragsfreiheit als Ausdruck der Selbstbestimmung Die Vertragsfreiheit wird vom Bundesverfassungsgericht als ein privatrechtliches Grundprinzip anerkannt. Sie wird als Ausdruck der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG angesehen und gilt damit als Ausdruck der individuellen Selbstbestimmung.54 Da der Vertragsschluss auf übereinstimmenden Willenserklärungen beruht, muss der Staat ihn respektieren. Es kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass der Vertragsinhalt von den Parteien selbstbestimmt gefunden wird.55 49  Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 52; kritisch zur Rechtsprechung des BVerfG insoweit Isensee, JZ 1996, 1085, 1090. 50  Für eine starke und auch direkte Berücksichtigung eines gesellschaftlichen Konsenses: Isensee, NJW 1977, 545, 549; für eine diskurstheoretische Ausblendung des gesellschaftlichen Konsenses im Namen der richtigen Entscheidung mit dem Ziel einer moralischen Gerechtigkeit zweiter Ordnung dagegen Alexy, Der Staat 50 (2011), S. 389. 51  Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 52. 52  BVerfGE 81, 242, 254–256 = NJW 1990, 1469, 1470; NJW 1996, 2021, 2021. 53  BVerfGE 18, 85, 92 f. = NJW 1964, 1715, 1716; NJW 2003, 2815, 2815 f. 54  BVerfGE 8, 274, 328 = NJW 1959, 475; BVerfGE 72, 155, 172 ff. = NJW 1986, 1859, 1860; NJW 1996, 2021; Palandt/Ellenberger, Überbl. Vor § 104 Rn. 1. 55  BVerfGE 81, 242, 254–256 = NJW 1990, 1469, 1470; BVerfGE 2001, 957, 958.

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Teil 1: „Materialisierungs“-Diagnose und dogmatische Analysen

b. Bedingungen der Selbstbestimmung aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht setzt mit der verfassungsrechtlichen Prüfung von Schutzpflichten im Privatrecht erst bei der Frage an, ob die Bedingungen der Selbstbestimmung auch tatsächlich gegeben sind.56 So soll verhindert werden, dass eine formelle Vertragsfreiheit auf Grund der Verbindlichkeit von Verträgen in ein Recht des Stärkeren umschlägt. Auch die Grundrechtspositionen der Vertragsparteien müssen laut Bundesverfassungsgericht möglichst weitgehend wirksam werden. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts kann daher nicht mehr von einem angemessenen Interessenausgleich ausgegangen werden, wenn eine Vertragspartei ein starkes Übergewicht hat.57 Fehlt es an einem ausgewogenen Kräfteverhältnis zwischen den Vertragsparteien, so kann dies für die schwächere Vertragspartei eine verfassungsrechtlich relevante Fremdbestimmung bedeuten.58 Staatliche Regelungen dürfen und müssen demnach zur grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie aus Art. 2 Abs. 1 GG sowie des aus Art. 20 Abs. 2 und Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG folgenden Sozialstaatsprinzips dort korrigierend eingreifen, wo mit den Mitteln des Vertragsrechts allein kein angemessener Interessenausgleich möglich ist, um den Grundrechtsschutz zu gewährleisten.59 Die Eingriffsschwelle liegt aber hoch. Bloße Verhandlungsungleichgewichte reichen nicht aus, um einen verfassungsrechtlichen Eingriff in den Vertrag zu rechtfertigen.60 Dazu müssen drei Kriterien erfüllt sein: Voraussetzung ist erstens ein erhebliches Kräfteungleichgewicht zwischen den Vertragsparteien, dass die Folgen des Vertragsschlusses für die schwächere Partei zweitens, „ungewöhnlich belastend“ und drittens „als Interessenausgleich offensichtlich unangemessen“ sind.61 Zum Schutze der Privatautonomie sieht das Bundesverfassungsgericht die verfassungsrechtlich gebotene Eingriffsschwelle in den in § 138 Abs. 2 BGB geregelten Fällen des Wuchers überschritten.62 Dort, wo es keine gesetzlichen Regelungen gibt, werden die Generalklauseln, insbesondere § 138 Abs. 1, §§ 242, 307 und § 315 BGB herangezogen. Sie fungieren rechtstechnisch aus

56  BVerfGE 57  BVerfGE

958.

103, 89, 100 f. = NJW 2001, 957, 958. 89, 214, 229 f., 233 f. = NJW 1994, 36, 38; BVerfGE 103, 89 = NJW 2001, 957,

58 BVerfGE 81, 242, 254–256 = NJW 1990, 1469, 1470; BVerfGE 103, 89, 100 f. = NJW 2001, 957, 958. 59  BVerfGE 89, 214, 229 f. = NJW 1994, 36, 38 f. 60  BVerfG NJW 1996, 2021. 61  BVerfGE 89, 214, 234 = NJW 1994, 36, 39. Vgl. auch BVerfGE 103, 89, 100 f. = NJW 2001, 957, 958. 62  BVerfGE 89, 214, 234 f. = NJW 1994, 36, 39.

C. Die verfassungsrechtlichen Einwirkungen auf das Schuldvertragsrecht

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verfassungsrecht­licher Sicht als „Übermaßverbote“, wenn das Problem einer „gestörten Vertragsparität“ nicht gesehen wird oder untauglich gelöst wird.63

c. Die Fälle zu den Bedingungen der Selbstbestimmung bei § 138 Abs. 1 BGB Das Bundesverfassungsgericht hat § 138 Abs. 1 BGB unter der Perspektive des „Übermaßverbotes“ nur in vier einzelnen Fällen dahingehend verfassungskonform ausgelegt, dass der jeweilige Vertragsschluss nichtig war. Ein Handelsvertretervertrag mit einem Einfirmen-Vertreter ist unwirksam, wenn er ein nachvertragliches Wettbewerbsverbot ohne Karenzentschädigung vorsieht. Er entzieht dem Einfirmen-Vertreter seine Betätigungsmöglichkeit und die wirtschaftliche Grundlage, die durch Art. 12 GG und Art. 2 Abs. 1 GG besonders geschützt sind.64 Ein Bürgschaftsvertrag, bei dem der Bürge die Bürgschaft ohne eigenes Interesse auf Grund einer emotionalen Bindung an den Hauptschuldner übernimmt, ist aus Gründen von Art. 6 Abs. 1 GG unwirksam.65 Eine Situation, in der eine unverheiratete schwangere Frau vor die Wahl gestellt wird, entweder in Zukunft alleinerziehend zu sein oder durch Eheschluss den Kindsvater um den Preis eines für sie besonders belastenden Ehevertrags mit einzubeziehen, hat unter Beachtung von Art. 6 GG die Unwirksamkeit des Ehevertrags zur Folge.66 Wegen der sich aus Art. 6 GG ergebenden Eheschließungsfreiheit wurde eine testamentarische Potestativbedingung für unwirksam erachtet, die die Erbenstellung an eine Ebenbürtigkeitsklausel knüpft.67

3. Zur Kritik der verfassungsrechtlichen Bedingungen der Selbstbestimmung Die verfassungsrechtliche Ausrichtung der Vertragsfreiheit auf einen angemessenen Interessenausgleich, der gerade auch durch § 138 Abs. 2 BGB umgesetzt werden soll, wird in der Zivilrechtswissenschaft sehr unterschiedlich aufgenommen.

63  BVerfGE 81, 242, 254–256 = NJW 1990, 1469, 1470. Vgl. auch BVerfGE 89, 214, 234 f. = NJW 1994, 36, 39. 64  BVerfGE 81, 242, 256 f. = NJW 1990, 1469, 1471. 65  BVerfG NJW 1996, 2021. 66  BVerfGE 103, 89, 100 f. = NJW 2001, 957, 958. 67  BVerfG NJW 2004, 2008, 2009.

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Teil 1: „Materialisierungs“-Diagnose und dogmatische Analysen

a. Das Bundesverfassungsgericht als Superrevisionsinstanz Ein Vorwurf lautet, das Bundesverfassungsgericht trete letztlich als zivilrechtliche Superrevisionsinstanz auf.68 Auch wird die zunehmende inhaltliche Ausgestaltung des Vertragsrechts allgemein als Schwächung der Privatautonomie wahrgenommen.69

b. Die Durchbrechung rechtsdogmatischer Interpretationssystematik Andere sprechen dagegen der Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ihre rechtspositivistische Berechtigung ab.70 Besonders die mangelnde Trennschärfe der verfassungsrechtlichen Kriterien steht dabei im Mittelpunkt. Schon das Zivilrecht selbst hat immer schon das Problem der Ausbeutung gesehen und normativ berücksichtigt. Allerdings führe von der Verhinderung zur Ausbeutung kein direktes Argument zu der Forderung, dass das Zivilrecht allgemein eine Gleichheit der Vertragspartner herstellen soll.71 In der Diskussion um das europäische Verbraucherrecht wird gerade die durch das Bundesverfassungsgericht erfolgte sozialstaatliche Ausrichtung des Vertragsrechts aufgegriffen und gefordert, diese im Ausgang vom Verbraucherschutzrecht gerade auf europäischer Ebene weiter auszubauen.72

III. Grund und Grenze der verfassungsrechtlichen Bedingungen der Selbstbestimmung Geht man mit dem Bundesverfassungsgericht davon aus, dass ohne die Vertragsfreiheit als Grundlage das Vertragsrecht und damit auch Art. 2 Abs. 1 GG selbst aus verfassungsrechtlicher Perspektive sinnentleert wären73, so stellt sich angesichts der Diskussion um die Einordnung der verfassungsrechtlichen Vor68  Diederichsen, JURA 1997, 57; Diederichsen, AcP 198 (1998), S. 171, 199 ff., 239 ff.; Adomeit, NJW 1994, 2467; Isensee, in: FS Großfeld, 1999, S. 485, 501 ff.; Zöllner, AcP 196 (1996), S. 1. 69  Medicus, Abschied von der Privatautonomie im Schuldrecht?, S. 9–11. 70  Limbach, in: Hadding (Hrsg.), FG Zivilrechtslehrer 1934/35, 1999, S. 383. 71  Picker, JZ 2003, 1035, 1047 f. 72  Micklitz, Brauchen Konsumenten und Unternehmen eine neue Architektur des Verbraucherrechts?, S. 36–56 zum Verbraucherbegriff und seine Rolle im europäischen Demokratisierungsprozess und S. 122 f. zur Zukunft des Verbraucherschutzrechts. Grüneberger, Personale Gleichheit verortet dagegen einen Grundsatz der Gleichbehandlung direkt im Bürgerlichen Recht, S. 222 f. und 726 f. Gegen eine solche zivilrechtliche Verankerung spricht allerdings, dass neben dem BGB zur Umsetzung der AntidiskriminierungsRL, der BeschäftigungsRL, der GenderRL/GenderÄndRL und der GleichbehandlungsRL das AGG geschaffen werden musste, um den Gleichheitsgrundsatz über die verfassungsrechtlichen Vorgaben hinaus im Zivilrecht wirksamer werden zu lassen. 73  BVerfG NJW 1994, 2749, 2750.

C. Die verfassungsrechtlichen Einwirkungen auf das Schuldvertragsrecht

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gaben die Frage, wie Grund und Grenze der verfassungsrechtlichen Bedingungen der Selbstbestimmung über den Einzelfall hinaus rechtswissenschaftlich erkennbar werden.

1. Die historische Dimension der Grundrechte Um Grundrechte zur Begrenzung vertraglicher Freiheit heranzuziehen, ist jedoch zunächst zu beachten, dass der Korpus an Grundrechten des GG selbst zufällig historisch gewachsen ist. Dies gilt für das Vertragsrecht umso mehr, als die nähere Kontur und das Gewicht des Grundes, der häufig die verfassungsrechtlichen Vorgaben für Eingriffe in die Vertragsfreiheit trägt, nämlich das Sozialstaatsprinzip, selbst unklar und undeutlich sind.74 Teils wird das Sozialstaatsprinzip daher für ungeeignet zur Herleitung gesetzlicher Schutzpflichten angesehen.75 Stattdessen wird überwiegend von einer historisch älteren subjektiv-rechtlichen Dimension der Freiheitsgrundrechte ausgegangen, der auf der Grundlage des GG eine objektiv-rechtliche Dimension zur Seite gestellt wird. Es wird insofern von einer „Zweidimensionalität der Grundrechte“ ge­ sprochen.76

2. Der Anwendungsbereich: die Vertragsfreiheit Auch angesichts der „Zweidimensionalität“ der Grundrechte wird zumeist daran festgehalten, dass die Grundrechte den staatlichen Handlungsspielraum einschränken sollen. Allerdings werden dem Gedanken der „Zweidimensionalität“ folgend die staatlichen Eingriffe in private Handlungsspielräume ebenso unter dem Verweis der Freiheitssicherung und damit zur Vermeidung eines bloßen Rechts des Stärkeren eingeführt.77 Vor diesem Hintergrund erscheint es im Weiteren nicht plausibel oder gar zwingend, im Schuldvertragsrecht die verfassungsrechtlichen Vorgaben pauschal „bei extremen Fällen“78 zu beachten. Sie sind vielmehr auch bei der Anerkennung ihrer „Zweidimensionalität“ gerade bei Austauschverträgen grundsätzlich nur zu einem inhaltlichen Zweck überzeugend anwendbar, der nicht mit dem Sozialstaatsprinzip in eins fällt: dem Erhalt und dem Schutz der Entscheidungsfreiheit der Vertragsparteien, um der Vertragsfreiheit und damit dem Grundsatz „pacta sunt servanda“ durch rechtliche Formgebung eine praktische Wirksamkeit zu verschaffen. 74  Für stets immer auch gegenläufige sozialstaatliche Zwecke am Bsp. der Zulassungsbeschränkung zum Studium mangels ausreichender Studienplätze siehe BVerfGE 33, 303. 75  Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 164 f. 76  So die Debatte zusammenfassend Stern, § 185 Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 2011, Rn. 52. 77  Prägnant dazu Kriele, § 188 Grundrechte und demokratischer Gestaltungsspielraum, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 2011, Rn. 3. 78  So aber Canaris, AcP 200 (2000), S. 273, 283 f.

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Teil 1: „Materialisierungs“-Diagnose und dogmatische Analysen

3. Das tieferliegende theoretische Begründungsund Interpretationsproblem der verfassungsrechtlichen Kriterien Will man zur Formgebung der Vertragsfreiheit die drei durch die Rechtspre­ chung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten verfassungsrechtlichen Abwägungskriterien heranziehen, so zeigt sich gerade vor dem Hintergrund der „Zweidimensionalität“ der Grundrechte ein tieferliegendes Begründungs- und Anwendungsproblem dieser Kriterien. Die drei verfassungsrechtlichen Abwägungskriterien des erheblichen Kräfteungleichgewichts, der ungewöhnlichen Belastung einer Vertragspartei und des offensichtlich unangemessenen Interessenausgleichs79 erscheinen nur auf den ersten Blick strukturierter als die vom Bundesverfassungsgericht als zu formal kritisierten zivilrechtlichen Begrenzungen der Vertragsfreiheit, wie etwa die guten Sitten und die Irrtumsregelungen. Insbesondere die Begriffe des Kräfteungleichgewichts, der Belastung und des Interessenausgleichs enthalten eine rechtswissenschaftlich kaum eingrenzbare Einladung an vielfältige Rechtskonzeptionen, jeweils ganz unterschiedliche Bedeutungsgehalte von „Ungleichgewicht“, „Belastung“ und „Interessenausgleich“ in das BGB zu lesen oder zu projizieren.80 Daher wird nicht nur der auf eine allgemeine Inhaltskontrolle zielende Leitsatz des Bürgschaftsbeschlusses kritisiert, sondern auch darauf hingewiesen, dass die Anforderungen des von Art. 2 Abs. 1 GG deutlich verfehlt werden sowie die Signalwirkung für eine Befürwortung der weiteren Materialisierung des Vertragsrechts auf „tönernen Füßen“ stehe.81 Jeder dieser drei Begriffe der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts trägt ebenso wie etwa der Begriff der guten Sitten oder des Irrtums in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs starke moralische und gesellschaftstheoretische Gehalte in sich, die typischerweise im Namen einer allgemeinen Weltanschauung beanspruchen, die individuelle Rechtsperson in paternalistischer Weise auch vor ihren eigenen Entscheidungen zu schützen. So öffnen die drei verfassungsrechtlichen Kriterien die Diskussion um die Inhaltskontrolle von Verträgen letztlich über die vorhandenen unbestimmten Rechtsbegriffe des BGB hinaus einer weiteren rechtlich kaum mehr eingrenzbaren Vielfalt histo-

79  So BVerfGE 89, 214, 229 f., 233 f. = NJW 1994, 36, 38; BVerfGE 103, 89 = NJW 2001, 957, 958. 80 Auf der Grundlage des Verfassungsrechts unter Abmilderung der Freiheitssicherungsfunktion der Grundrechte etwa Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 219–221 und umfassend paternalistisch auf der Grundlage der Rspr. des BVerfG und des europäischen Verbraucherrechts etwa Lauber, Paritätische Vertragsfreiheit durch reflexiven Diskriminierungsschutz, S. 56. 81  Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 357 ff. m.w.N.

D. Der Theoriebedarf des Fortschreitens der „Materialisierung“

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rischer, moralischer, gerechtigkeitsbasierter, ökonomischer, soziologischer und diskurstheoretischer Kriterien und Vorschläge.82

D. Der Theoriebedarf des Fortschreitens der „Materialisierung“ Unabhängig davon, ob die fortschreitende „Materialisierung“ begrüßt oder abgelehnt wird, ergeben sich aus ihr jedenfalls Probleme für die Kohärenz und Konsistenz des Schuldvertragsrechts83, die durch die bisherigen dogmatischen Analysen und insbesondere auch die verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht hinreichend bewältigt werden können.84 Der Theoriebedarf wird damit sowohl an den zunehmenden systematischen Brüchen innerhalb der Systematik des BGB wie auch der Unklarheit der verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Vertragsfreiheit deutlich. Er wird schließlich verstärkt durch die akademische Diskussion um die Ziele des europäischen Privatrechts.

I. Der Theoriebedarf durch Systematisierungsprobleme schuldvertraglicher Normen des BGB Die Ausblendung der Materialisierungstendenzen, verbunden mit der Betonung klassisch liberaler Elemente, nimmt auf dogmatischer Ebene auf, was die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vollzieht: Liberales Vertragsrecht bleibt der Regelfall, zu dem inhaltliche Vorgaben deutlich unterschiedene Ausnahmen bilden.85 82  Daher plädiert Isensee, § 150 Privatautonomie, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 2009, Rn. 15 für die Notwendigkeit außerrechtlicher Ordnungsfaktoren der Privatautonomie im vorgrundrechtlichen Kontext, wie etwa „Gerechtigkeit als Tugend, Klugheit und Courage, Ethos und Takt“. Darüber hinaus versage nach Kriele, § 188 Grundrechte und demokratischer Gestaltungsspielraum, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 2011, 37 f. die klassische Methodenlehre auch unter dem Regime des Grundgesetzes bei der Ermittlung von objektiv verbindlichen Auslegungskriterien und verschleiere letztlich allenfalls die angesichts der vielfältigen Auslegungsmöglichkeiten erfolgende Methodenwahl. 83  Siehe dazu Teil 1 B. 84  Siehe dazu Teil 1 C. 85  Vgl. etwa BGH JZ 2011, 527 (zur außerordentlichen Kündigung eines DSL-Telefonvertrags bei Umzug an einen Ort ohne DSL-Anschlussmöglichkeit), EuGH NJW 2011, 2269, BGHZ 192, 148 = NJW 2012, 1073 (zur Reichweite des Nacherfüllungsanspruchs des § 439 BGB), BVerfG NJW 2005, 2383, 2384, AG München NJW-RR 2011, 67, BGH NJW 2012, 1431, 1432 f. (zum Einfluss des Verfassungsrechts auf AGB bei der außerordentlichen Kündigung eines Fitnessstudio-Vertrags), BGH JZ 1989, 503, BVerfGE 89, 214, 233 f. und BGH NJW 1994, 36, 38 f.; BGH NJW 1994, 1341, 1342 f. (zur Angehörigenbürgschaft).

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Teil 1: „Materialisierungs“-Diagnose und dogmatische Analysen

Inhaltliche Vorgaben erscheinen als „Sonderprivatrecht“, das entweder die gesteigerte Selbstverantwortlichkeit von Kaufleuten oder die verringerte Selbstverantwortlichkeit und Schwäche von Verbrauchern in typisierender Weise reguliert.86 Trotz der Kategorisierung und Abkapselung des sogenannten Sonderprivatrechts geraten zum einen die Bestimmung und das Verständnis unbestimmter und selbst auslegungsbedürftiger Rechtsbegriffe im Kernbereich des Vertragsrechts unter den Druck der inhaltlichen Aufladung. Sowohl bei der Ermittlung des Vertragsinhalts nach den §§ 133, 157 BGB wie auch bei der Bestimmung des „wichtigen Grunds“ zur außerordentlichen Kündigung bei § 314 BGB stellt sich die Frage, inwieweit die inhaltliche Aufladung zu neuen, nunmehr zu berücksichtigenden Kriterien führen muss. Auf der Grundlage der Systematik des BGB müssen diese Kriterien jedenfalls die rechtsgeschäftliche Freiheit des Einzelnen wie auch die Vertragsfreiheit berücksichtigen.

II. Der Theoriebedarf durch verfassungsrechtliche Vorgaben Da die verfassungsrechtlichen Vorgaben für das BGB im Schuldvertragsrecht zu beachten sind, gilt es, die mögliche Vielfalt allgemeiner, auch rechtsordnungsunabhängiger Theorieangebote zur Beschränkung der Vertragsfreiheit zu analysieren und zu strukturieren. Den Ausgangspunkt bildet dabei der Respekt vor der individuellen Entscheidungsfreiheit, die durch Art. 2 Abs. 1 GG geboten und durch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht und seine Bezüge auf Art. 1 Abs. 1 GG verstärkt wird.87 Es muss damit nicht nur der Raum bestehen, im Einzelfall nicht nur ein typisiertes Kräfteungleichgewicht von einem situativen Machtgefälle abzugrenzen. Vielmehr stellt sich die Frage, inwieweit der Respekt vor der individuellen Entscheidungsfreiheit des Handelnden den Maßstab für eine normative Bewertung dieses Handelns durch die Privatautonomie wie auch durch die Grundrechtsordnung bildet. Es ist insoweit für die Analyse bestehender Theorieangebote im Anschluss an die verfassungsrechtlichen Vorgaben von „Ungleichgewicht“, „Belastung“ und „Interessenausgleich“ als Kriterien vertraglicher Inhaltskontrolle zu untersuchen, wie genau die rechtliche Formgebung der Vertragsfreiheit die Einbettung individuellen Handelns in die privatrechtliche Normstruktur leistet. 86  Zusammenfassend zur These des Sonderprivatrechts Reymann, Das Sonderprivatrecht der Handels- und Verbraucherverträge, S. 505 f. 87  Gegenwärtig z.B. BVerfG NJW 2016, 2559, Rn. 12 im Anschluss an BVerfGE 49, 286, 298 = NJW 1979, 595, 595 für eine starke Berücksichtigung des Persönlichkeitsrechts auch im Betreuungsverfahren.

D. Der Theoriebedarf des Fortschreitens der „Materialisierung“

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III. Der Theoriebedarf durch europäisches Verbraucherrecht Verschärft wird der Bedarf nach einer Analyse bestehender Theorieangebote durch die Entwicklungen des europäischen Privatrechts, vor allem durch das Verbraucherrecht. Beispielsweise wurde durch den europäischen Gesetzgeber und den Europäischen Gerichtshof mit dem Instrument des Widerrufsrechts im Kernbereich des Vertragsrechts, dem Kaufrecht, die inhaltliche Aufladung vorangetrieben.88 Die dogmatische Strategie, aus der systematisierenden Perspektive des BGB, die inhaltliche Aufladung gleichsam als Ausnahme einzufangen,89 verliert damit zunehmend an Plausibilität. Dogmatische Überlegungen geraten teils schon in die Rolle der historisierenden Kritik.90 In der akademischen Diskussion um das Verständnis und die Auslegung des europäischen Privatrechts wird darüber hinaus explizit auf Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit und Effizienz als „underlying principles“ verwiesen.91 Hier wird zudem diskutiert, ob nicht auch weitere Prinzipien, wie Schutz der Menschenrechte, Solidarität und soziale Verantwortung, zu berücksichtigen seien.92 Die Vielfalt der verhandelten Theorieangebote erzeugt dabei einen normativen Überschuss, den die auf Einheit und Folgerichtigkeit ausgerichtete systematisierende Perspektive des BGB nicht mehr in geordneter Weise aufnehmen kann.

88  Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 7 – Drucksache 18/8486, S. 9 zur Reichweite der Verkäuferpflichten bei der Nacherfüllung auf Grund der Vorgaben durch EuGH, Rs. C‑65/09 und C‑87/09 – Weber und Putz = NJW 2011, 2269 und ihrer gerichtlichen Umsetzung durch BGHZ 192, 148 = NJW 2012, 1073 und BGHZ 195, 135 = NJW 2013, 220; aber auch EuGH NJW 2008, 1433 zur richtlinienkonformen Rechtsfortbildung für den Nutzungsersatz sowie die Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie RL 2011/83/EU v. 25.10.2011 durch die §§ 355 bis 360 BGB zur Vollharmonisierung des Widerrufsrechts. 89  Dazu Teil 1 B. und D. I. 90  So weist etwa Jansen, The Making of Legal Authority, S. 85 f. darauf hin, dass der politische Gesetzgeber die dem Recht inhärente Rationalität nicht beachten müsse. Zum Beispiel erscheint dann die Tätigkeit des europäischen Gesetzgebers zum Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht lediglich als ein Beispiel für die „Reflexionsdefizite“ des Gesetzgebers im Umgang mit bestehenden Normenbeständen vgl. Eidenmüller/Faust/Grigoleit/Jansen/ Wagner/Zimmermann, JZ 2008, 529, 543–547. 91  Etwa v. Bar/Clive/Schulte-Nölke (Hrsg.), Introduction, DCFR Interim Outline Edition, no 14 und no 22. 92 Dies fordert etwa Hesselink, Core Values and Underlying Principles, in: Brownsword/Micklitz/Niglia/Weatherhill (Hrsg.), The Foundations of European Private Law, 2011, S. 66–69.

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Teil 1: „Materialisierungs“-Diagnose und dogmatische Analysen

IV. Fazit Innerhalb der Auslegung des BGB entsteht durch das Spannungsverhältnis von fortschreitender Materialisierung und bestehender Betonung von Zustimmung und Vertragsbindung ebenso wie durch die Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Vorgaben das Forschungsdesiderat nach einer systematischen Analyse der Begründung von inhaltlichen Vorgaben im Vertragsrecht, das durch die Rezeption und Diskussion des europäischen Privatrechts verstärkt wird. Im Zentrum steht dabei die Diskussion um die Einbettung der freien individuellen Handlung in eine objektiv-rechtliche normative Struktur. Bei der Analyse der Frage, wie mit der zunehmenden inhaltlichen Aufladung des Privatrechts umgegangen werden kann, sind daher die Dogmatik des Schuldvertragsrechts, die verfassungsrechtlichen Kriterien wie auch das europäische Vertragsrecht und seine Zielbestimmungen gleichermaßen darauf angewiesen, die Tiefenstruktur der Einbettung des Konzepts individueller Handlung in einen normativen Rahmen in den Blick zu nehmen.

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Teil 2

Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung A. Theorien des Schuldvertragsrechts und das Schuldvertragsrecht oder: Die Offenheit von Tradition und Rechtspositivismus Dogmatische Verwerfungen und ein daraus resultierender Theoriebedarf können in bestehenden Regelungsbereichen dadurch gerechtfertigt werden, dass das Privatrecht neue Aufgaben erfüllen soll.1 Damit werden allerdings auch ganz unterschiedliche moralische, gerechtigkeitsorientierte, ökonomische sowie soziale und diskursive Einflüsse auf das Vertragsrecht behauptet oder berücksichtigt. Insoweit erscheint es auch aus der Perspektive des Vertragsrechts jedenfalls unvermeidbar, auf den Theoriebedarf des geltenden Rechts mit Theorien des Schuldvertragsrechts zu reagieren, um die unterschiedlichen Einflüsse zu ordnen und auf ihre Leistungsfähigkeit für das Schuldvertragsrecht hin zu untersuchen. Allerdings muss für eine solche rechtswissenschaftliche Theoriewahl auch der rechtspositivistische Bruch zwischen Theorien des Vertrags und ihrer rechtsdogmatischen Verwendung beachtet werden (I.). Aus einer grundlagenorientierten Perspektive steht gerade die Position des Rechtspositivismus einem direkten Zugriff auf Theorien des Vertrags entgegen. Jedoch erlauben es die Zwecke und Argumentationsstrukturen des geltenden Rechts, gerade für eine inhaltliche Diskussion rechtsdogmatisch offener Fragen auf entsprechende Theorien des Vertrags zurückzugreifen (II.). Dabei legt es die rechtspositivistisch unvermeidbare Beachtung des existierenden Schuldvertragsrechts nahe, dass die unterschiedlichen Theorien im Hinblick auf das normative Problem der Einbettung der individuellen Handlung in einen allgemeinen Rahmen strukturiert werden (III.). Gerade zum Verständnis des Prozesses der inhaltlichen Aufladung des Schuldvertragsrechts, der verfassungsrechtlichen Kriterien der Inhaltskontrolle von Verträgen wie auch der Entwicklung des europäischen Vertragsrechts erscheint es daher – wie Teil 1 1  Canaris, AcP 200 (2000), S. 275 ff. Für einen „Tropfen sozialistischen Öls“ bereits v. Gierke, 1889/1948, S. 10; wegen gesellschaftlicher Veränderungen etwa Wiethölter, Materialization and Proceduralization in Modern Law, in: Teubner (Hrsg.), Dilemmas in Law within the Welfare State, 1986, S. 221–224 und Raiser, Die Zukunft des Privatrechts, S. 7 ff.

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gezeigt hat – notwendig, die Tiefenstruktur der Einbettung des Konzepts individueller Handlung in einen normativen Rahmen in den Blick zu nehmen. Auf diesem Weg lassen sich aber auch die Theorien und Theorieelemente des Vertrags identifizieren, die wiederum in besonderer Weise zu den dogmatischen Vorgaben des geltenden Schuldvertragsrechts passen.

I. Der Bruch zwischen juristischer und grundlagenorientierter Normenbegründung Die heute allgemein anerkannte und von dogmatischen Analysen zumeist unhinterfragt vorausgesetzte Position des Rechtspositivismus dokumentiert einen Bruch zwischen juristischer und grundlagenorientierter Normenbegründung. Inwieweit Recht überhaupt ein geeigneter Gegenstand grundlagenorientierter oder gar privatrechtsphilosophischer Überlegungen sein kann, ist selbst innerhalb der Diskussion um die Grundlagen des Rechts umstritten. 2 Teils werden die Grundlagen des Rechts daher unter Verweis auf Tradition und Autorität jenseits einer geltenden Rechtsordnung verortet. Allerdings kann auch der Verweis auf Tradition die rechtspositivistische Herausforderung letztlich nicht vollständig bewältigen. Eine nähere Betrachtung des Bruchs zwischen juristischer und grundlagenorientierter Normenbegründung erlaubt es aber, darüber hinaus normative Hintergrundannahmen zu identifizieren, auf die die auf Selbstbestimmung angelegte Ordnung des Schuldvertragsrechts überzeugender- und passenderweise zurückgreifen kann.3

1. Tradition und geltendes Recht: Die Gefahr des Gesetzgebers Die Rechtsvereinheitlichung in Deutschland im 19. Jahrhundert mündete im Zivilrecht in der Schaffung des BGB. Aus rechtshistorischer Perspektive wird hierin eine Nationalisierung der privatrechtlichen Rechtswissenschaft erkannt.4 Damit einhergehend wird die Gefahr gesehen, dass ein Rechtssystem orientierungslos wird, wenn es nur auf einen nationalen Gesetzgeber zurückgeht. Ein europäisches Zivilrecht verschärft aus einer solchen Perspektive diese Gefahr. Wird es auf einen europäischen Gesetzgeber zurückgeführt, bestehe das Risiko, dass weder die systematische Einheit nationaler Rechtssysteme noch die für alle Rechtsordnungen grundlegenden Tendenzen hinreichend berück-

2  So wird unter anderem von Lepsius, Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 1 f. schon wegen der Unterscheidung zwischen Privatrecht, Öffentlichem Recht und Strafrecht die Entwicklung einer eigenständigen „Rechtswissenschaftstheorie“ vorgeschlagen. 3  Dazu Teil 2 B.–H. 4 Etwa Zimmermann, Savignys Vermächtnis, S. 18 f., 22.

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sichtigt werden.5 Um diese Gefahren zu vermeiden, lassen sich unterschiedliche rechtshistorische Reaktionen auf die Nationalisierung der Rechtswissenschaft unterscheiden. Ein Teil der Rechtsgeschichte geht davon aus, dass sie „den Mythos des Gesetzespositivismus“6 entlarven könne. So wird kolportiert, dass Savigny das Allgemeine Preußische Landrecht als eine „Sudeley“ bezeichnet habe.7 Die Qualifizierung von Recht durch einen Gesetzgeber sei generell unnötig, da sie eine organische Rechtsentwicklung verzerre oder ersticke.8

a. Die „unauflösliche Gemeinschaft“ von Vergangenheit und Gegenwart Rechtsgeschichte wird daher von Savigny vor allem als Rechtswissenschaft verstanden, die im Bewusstsein der historischen Relativität den Zusammenhang des Rechtssystems absichert.9 Savigny betont die „unauflösliche Gemeinschaft“ von Vergangenheit und Gegenwart.10 In der Gegenwart wird davon ausgegangen, dass eine geschichtliche Rechtswissenschaft in der Lage ist, unter Berücksichtigung rechtsvergleichender Erkenntnisse unterschiedliche Regelungsvorschläge einer kritischen Evaluation zu unterziehen und damit eine rationale Wahl zu treffen.11 Allein durch die Vergegenwärtigung des Rechts, so die Überzeugung, ließe sich eine juristische Grammatik entwickeln, die „Terminologie (debtor, creditor, obligation, contract, restitution etc.), System, Argumenta­ tionsstil, rechtspolitische Ziele, Theorien, Rechtsgrundsätze und Rechtsregeln“ strukturieren und argumentativ erschließen könne.12

b. Die Ablehnung des BGB als Grundlage der Ablehnung europäischer Kodifikationsprojekte Die Ablehnung des Kodifikationsprojektes des BGB durch Savigny erscheint aus dieser Perspektive geboten und vernünftig. Schließlich habe erst diese Ablehnung dazu geführt, dass sich die Pandektenwissenschaft entwickeln und da-

 5 So Zimmermann, Savignys Vermächtnis, S. 25 im Anschluss an Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I (1840), S. XXIII, der davon ausgeht, dass eine einseitige Wertschätzung nur zur Zersplitterung und zu „einzelnen, abgerissenen Gedanken und Meinungen“ führe.  6  Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, S. 379 f.  7 So Zimmermann, Savignys Vermächtnis, S. 15.  8  Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, S. 192. Dazu in affirmativer Absicht Zimmermann, Savignys Vermächtnis, S. 15 f.  9 S. o. und im Anschluss an Savigny Zimmermann, Savignys Vermächtnis, S. 63 f. 10  Savigny, Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft 1 (1815), S. 3. 11  Zimmermann, Savignys Vermächtnis, S. 69. 12  Zimmermann, Savignys Vermächtnis, S. 69.

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mit Deutschlands führende Stellung in der rechtswissenschaftlichen Welt des 19. Jahrhunderts sichern konnte.13 Auf europäischer Ebene seien deswegen Kodifikationsprojekte für das Zivilrecht verfrüht. Erst müsse sich auf römisch-rechtlicher Basis eine organisch fortschreitende Rechtswissenschaft herausbilden. Diese müsse die gemeinsame rechtliche Tradition über die Landesgrenzen hinaus neu beleben. Die Hoffnung besteht darin, dass durch eine solche Vergegenwärtigung des Erbes des römischen Rechts eine „gemeinsame juristische ‚Grammatik‘ zur Erörterung juristischer Probleme und zur vergleichenden Würdigung möglicher Lösungen“14 zur Verfügung steht. Erst auf einer solchen Basis erscheinen dann Qualifika­ tionsprojekte sinnvoll und vernünftig. Es geht um nichts Geringeres, als Savignys historische Rechtsschule auf europäischer Ebene wieder zu begründen.15

c. Altes Recht als gutes Recht? Ebenso wie die römisch-rechtliche Tradition werden auch die Mediävistik und die germanische Rechtsgeschichte von einer gewissen Skepsis gegenüber modernen Kodifikationsprojekten durchzogen. Die Geltungsvoraussetzungen des Rechts werden nicht an einen Gesetzgeber geknüpft, sondern zugespitzt an zwei aufeinander aufbauende Überzeugungen: Altes Recht sei gutes Recht, und daraus folge, dass altes Recht das neue Recht aussteche.16 Diese Überzeugungen werden zwar zunehmend kritisiert.17 Allerdings wird auch kritischen Positionen zufolge eine „Autonomie des Rechts“ erst durch die geschichtliche Beglaubigung der Normen erreicht.18 So werden mitunter rechtliche Normen und ihr Gestaltungsanspruch in heilsgeschichtliche Zusammenhänge eingeordnet.19 Bisweilen wird sogar das Jüngste Gericht als Teil der Heilsgeschichte und des rechtlichen Gestaltungsanspruchs herangezogen, was sich während der spanischen Spätscholastik bis zum Verweis auf das Fegefeuer steigert. 20 Jedes Handeln stünde damit unter dem Druck seiner Bewertung durch das Jüngste Gericht, dessen Zeitpunkte aber ebenso unbekannt bleiben wie seine Kriterien. 13  Zimmermann, Savignys Vermächtnis, S. 17 im Anschluss an Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 348 ff. und Gordley, American Journal of Comparative Law 21 (1994), S. 459 ff. 14  Zimmermann, Savignys Vermächtnis, S. 75. 15  Zimmermann, Savignys Vermächtnis, S. 76. 16  Kern, HZ 120 (1919), S. 1. 17 Etwa Liebrecht, Gutes altes Recht, in: Cordes/Lück/Werkmüller (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2012, Sp. 624–626. 18 So Rückert, Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, S. 35 f. für die Vorzüge einer konkreten rechtshistorischen Herangehensweise. 19  Etwa Sachsenspiegel, Landrecht I 3 § 1, § 2. 20 So le Goff, Die Geburt des Fegefeuers, der in der Entdeckung des Fegefeuers eine frühe Form individueller Schuld und Buße sieht.

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2. Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie Rechtsgeschichtliche Forschung kann das normative Erbe vergegenwärtigen. Eine autoritativ-traditionale Herangehensweise wird deswegen oft vorgeschlagen 21 und hat als historische Argumentation insb. durch Savigny Eingang in die juristische Argumentationspraxis gefunden. 22 Allerdings unterliegen insb. die Rechtsbegriffe des römischen Rechts vielfältigen Wandlungen infolge jeweils unterschiedlicher weltanschaulicher Rahmenbedingungen, in denen sie verwendet wurden und teils werden. Insbesondere zwischen dem spätrömischen und dem nachmittelalterlichen Sprachgebrauch werden Unterschiede auch bei so zentralen Begriffen wie „dominus“ oder „culpa“ diagnostiziert. 23 Einige Autoren beziehen sich deswegen vor allem auf die Begriffsbildungen der spanischen Spätscholastik, um das römisch-rechtliche Erbe zu vergegenwärtigen. Allerdings ist für eine eigenständige Rechtswissenschaft die spätscholastische, theologisch geprägte Diskussion kaum mehr anschlussfähig. 24 Zudem beschränkt sich das römische Recht auf eine kasuistische Perspektive, was dazu führt, dass es für zentrale normative Strukturen des geltenden Rechts, wie die der Stellvertretung, keine konzeptionelle Struktur bereitstellen kann. 25 Der Verweis auf das Erbe des römischen Rechts allein ist daher nicht geeignet, in der Nachfolge Savignys einen exklusiven Anspruch bei der Auffindung und Deutung der normativen Strukturen von Recht oder Vertragsrecht zu erheben. Vielmehr erscheint es ebenso plausibel, zur Identifikation grundlegender juristischer Strukturen neben der rechtshistorischen Herangehensweise in gleicher Weise auch die rechtsphilosophischen und ideengeschichtlichen Ressourcen heranzuziehen. Es kann gerade unter den Bedingungen eines demokratischen Rechtsstaats und seines öffentlichen Diskurses davon ausgegangen werden, dass der positiven Rechtsordnung des Schuldvertragsrechts nicht nur rechtshistorische, traditive Vorgaben zu Grunde liegen, 26 sondern ebenso auch rechtsphilosophische, argumentativ vermittelte Vorentscheidungen, die deren dogmatisierte Gestalt ebenfalls präfigurieren. 21 So

Jansen, The Making of Legal Authority, S. 86, 139. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 141–163 und Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, S. 26–75. 23 Etwa Schermaier, Der zivilrechtliche Eigentumsbegriff in historischer Perspektive. Die beiden Gesichter des § 903 BGB, in: Brinkmann/Shirvani (Hrsg.), Eigentum, 2016, S. 23–62. 24  So beispielsweise Jansen, Theologie, Philosophie und Jurisprudenz in der spätscholastischen Lehre von der Restitution, S. 8 f. 25  Zimmermann, The Law of Obligations, S. 48 f. 26  So aber noch Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, S. 10, der die Tradition als den wesentlichen Teil des Vorverständnisses und damit auch der Interpretation rechtlicher Begriffe ansieht. 22 Siehe

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Denn ebenso wie die Untersuchung der Beziehung zwischen Geschichte und Recht ein überzeugendes Erkenntnisinteresse darstellt, verspricht die Untersuchung des Verhältnisses von Philosophie und Recht zur Identifikation einer normativen Struktur der Rechtsordnung und ihrer Teilgebiete, wie dem Schuldvertragsrecht, einen wichtigen Beitrag zu leisten. Die Berücksichtigung rechtsphilosophischer Begründungsressourcen gerade im Hinblick auf den Handlungsbegriff kann insbesondere die Möglichkeit eröffnen, einerseits die vorhandene Systematik des BGB und seiner verfassungsrechtlichen Überformung besser zu verstehen und vielleicht sogar weiterzuentwickeln, wie auch andererseits einen postnationalen rechtswissenschaftlichen Begründungshorizont normativer Rechtsstrukturen für eine europäische Zivilrechtsordnung bereitzustellen.

II. Zwecke und Argumentationsstrukturen des geltenden Rechts Innerhalb der dogmatischen Argumentation einer geltenden Rechtsordnung werden deren Kohärenz und Konsistenz durch eine streng gültigkeitsbasierte Argumentationsweise abgesichert. Philosophische Diskussionen um Normenbegründungen werden daher in den dogmatischen Diskursen einer geltenden Rechtsordnung der Gegenwart typischerweise bereits durch die Rechtsquellenlehre abgeschnitten. Rechtsquellen sind vorrangig die verfassungsrechtliche Ordnung, die Gesetze eines Gesetzgebers und die darauf gründenden Urteile von Gerichten. Auf diese Weise wird im Anschluss an Kelsens „Reine Rechtslehre“ das geltende positive Recht zum Gegenstand der Rechtswissenschaft. 27 Insoweit gilt innerhalb des Rechts grundsätzlich, dass „jeder beliebige Inhalt Recht sein“28 kann. Ethische, soziologische, politische, religiöse oder auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse bilden keine geeigneten Vorgaben oder notwendigen Voraussetzungen für eine legitime und funktionierende Rechtsordnung. Durch die gültigkeitsbasierte Argumentation im Recht werden historische Normentwicklungen wie auch philosophische Normbegründungen auf rechtspositivistischer Basis grundsätzlich in eine Fülle von rechtlichen Einzelfragen aufgelöst.

27 

Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934, S. 7 f. und S. 17 f. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 201. Zur Leistungsfähigkeit der Überlegungen Kelsens s. Dreier, Hans Kelsen (1881–1973): Jurist des Jahrhunderts?, in: Heinrichs/ Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 705–732. 28 

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1. Die Beschränkung der Gültigkeit Der Rechtspositivismus ist seit Kelsen durch zwei zentrale Elemente gekennzeichnet: die strikte Trennung von Sein und Sollen und die Auffassung, dass Recht ein eigenständiges Wertungssystem ist. Die Trennung von Sein und Sollen ist eine, die im scharfen Kontrast zu einer historischen Herangehensweise als plausibel vorausgesetzt wird: Die Elemente des Rechts sind (bestimmte) Normen. Normen gehören dem Bereich des Sollens an. Ihre spezifische Existenz wird Geltung genannt. 29 Innerhalb der Sollenssätze wird das Recht als ein eigenständiges Wertungssystem angesehen. Kelsen spricht daher von der „Reinen Rechtslehre“. Rein ist eine Rechtslehre, wenn es keine religiösen, naturwissenschaftlichen, ethischen, soziologischen oder politischen Vorgaben für das Recht gibt. Die Reine Rechtslehre „will das Recht darstellen, so wie es ist, nicht so, wie es sein soll: sie fragt nach dem wirklichen und möglichen, nicht nach dem „idealen“, „richtigen“ Recht“.30 Die zentrale Konsequenz für die juristische Begründungsarbeit der rechtspositivistischen Herangehensweise besteht aus philosophischer Perspektive in der Einschränkung auf eine rein gültigkeitsbasierte Argumentation innerhalb einer Rechtsordnung.31 Es genügt, mit dem zu argumentieren, was Recht ist. Das Rechtssystem als handlungsleitendes und konfliktlösendes System kann auf diese Weise einen normativen Rahmen für das gesellschaftliche Leben liefern. 32 Philosophische Begründungen, Überlegungen und Überzeugungen können hinzukommen, berühren aber grundsätzlich die Funktionsweise rechtlicher Normen und die Art und Weise juristischer Argumentation nicht mehr.33 Angesichts der rein gültigkeitsbasierten juristischen Argumentation kann man nun so weit gehen wie rechtsrealistische Ansätze, die nach dem Muster 29  Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 4 f.: „Der Unterschied zwischen Sein und Sollen kann nicht näher erklärt werden. Er ist unserem Bewußtsein unmittelbar gegeben. Niemand kann leugnen, daß die Aussage: etwas ist – das ist die Aussage, mit der eine Seins-Tatsache beschrieben wird – wesentlich verschieden ist von der Aussage: daß etwas sein soll – das ist die Aussage, mit der eine Norm beschrieben wird; und daß daraus, daß etwas ist, nicht folgen kann, daß etwas sein soll, so wie daraus, daß etwas sein soll, nicht folgen kann, daß etwas ist“ [sic!]. 30  Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 112. 31 So Raz, Praktische Normen und Gründe, S. 210. 32 So Raz, Praktische Normen und Gründe, S. 210. 33  Zwar werden ausnahmsweise in Fällen des „gesetzlichen Unrechts“ wie zur Bewältigung des NS-Unrechts und der DDR-Mauerschützenfälle Durchbrechungen der rechtspositivistischen Position, insb. im Hinblick auf das strafrechtliche Rückwirkungsverbot diskutiert. Allerdings enthält Art. 7 EMRK insoweit auch für die Fallgruppe des gesetzlichen Unrechts eine rechtliche Regelung. Zur Wahrung und Durchsetzung der, wie es in Art. 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention heißt, von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätze ist auch eine rückwirkende Strafbarkeit anerkannt.

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

naturwissenschaftlicher Erkenntnistheorien nur noch auf Tatsachen vertrauen wollen.34 Es erscheint aber gerade angesichts der rechtspositivistischen Fokussierung des Rechts auf Sollenssätze auch im rechtspositivistischen Sinne plausibler, Normenbegründung als ein Unternehmen zu verstehen, das für eine theorie- und gründeorientierte Analyse seiner Hintergrundannahmen offen ist. Denn nur so ist es möglich, den Zusammenhang der unterschiedlichen Begründungsstränge im Hinblick auf die jeweils zu entscheidenden Einzelfragen nutzbar zu machen.

2. Die Folgen für den rechtswissenschaftlichen Diskurs Die normativen Antworten auf diese Fragen treten jeweils selbst als unterschiedliche Rechtsentwicklungen zu Tage, deren Bedeutung wiederum aus unterschiedlichen Perspektiven interpretiert werden muss, um angemessen gewürdigt zu werden. Insbesondere deswegen sind auch systematische und teleologische Argumente bei der juristischen Entscheidungsfindung von teils herausragender Bedeutung.35 So bekannt diese Grundzüge des Rechtspositivismus sind, so unerforscht sind zum Teil die Konsequenzen, die der Rechtspositivismus für die rechtswissenschaftliche Theoriewahl hat.36 Zunächst ist die jedenfalls zumeist für die Philosophie prima facie unakzeptable Konsequenz zu beobachten, dass jeder beliebige Inhalt Recht sein kann. Für die Begründungsarbeit der Rechtswissenschaft folgt daraus weiter, dass Rechtssysteme allein mit gültigkeitsbasierten Aussagen arbeiten können, ohne dass die Rechtsanwender einschließlich der Rechtswissenschaftler von den Gründen für die Gültigkeit der Normen überzeugt sind oder sein müssten. Aussagen des Rechts werden grundsätzlich zu Handlungsgründen, ohne dass sich Personen die Gültigkeit von Normen zu eigen machen müssen. Recht wird zum Grund durch seine sozialen Bezüge, wie eine Sanktionierung, andere negative Folgen des Gesetzesbruchs oder einen damit einhergehenden Reputationsverlust.37 Rechtswissenschaft argumentiert ebenso wie die Praxis – das heißt die Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte – mit dem, was als Recht vorgefunden wird. Weitere Gründe können allenfalls hinzukommen, müssen es aber nicht. 34 

So etwa die rechtsrealistischen Überlegungen von Ross, On Law and Justice, S. 276. Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht, S. 14 ff. 36  Zu den hier diskutierten Möglichkeiten und Grenzen der rechtswissenschaftlichen Theoriewahl am Beispiel des Verhältnisses von Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung siehe auch Jakl, Theorien im Recht und Theorien des Rechts. Das Beispiel des Verhältnisses von Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung, in: Callies/Kähler (Hrsg.), Theorien im Recht und Theorien des Rechts, 2018, S. 85–99. 37  Eingehend zu der Wirkung von Rechtsnormen als „sozialen Tatsachen“ Raz, Prak­ tische Gründe und Normen, S. 233 f. und 242 f. 35 

A. Theorien des Schuldvertragsrechts

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Und selbst dann dürfen sie nur die Überzeugungen einbringen, die bereits im Rechtssystem Geltung und damit soziale Wirksamkeit erlangt haben.

a. Merkmale eines positiv-rechtlichen Normensystems Ein Rechtssystem kann mit Raz als durch drei Merkmale gekennzeichnet angesehen werden: Es ist allumfassend, beansprucht höchste Autorität und ist ein offenes System.38 „Rechtssysteme sind allumfassend“ bedeutet dabei nicht, dass jedes Verhalten durch das Recht angeordnet wird. Aber es bedeutet, dass jeder Lebensbereich durch das Recht berührt wird, dass es einen rechtlichen Bezug in allen Lebensbereichen gibt.39 Der Anspruch auf höchste Autorität bedeutet, dass das Recht im Konfliktfall alle anderen Normen, etwa religiöse oder ethische Überzeugungen, aussticht und von den Adressaten der Rechtsordnung verlangt, auch gegen ihre Überzeugungen die geltenden Regelungen zu befolgen.40 Das Recht und seine institutionelle Durchsetzung verdrängen somit im Fall einer Entscheidung andere Normensysteme. Das Merkmal der Offenheit von Rechtssystemen ist dasjenige, das für die Theoriewahl am wichtigsten ist. Rechtssysteme sind grundsätzlich offen für die Aufnahme von nichtrechtlichen Überlegungen.41 Ein Beispiel hierfür ist die Vertragsfreiheit. Der Inhalt der Verträge ist grundsätzlich durch die Parteien zu bestimmen, nicht durch ein Gesetz. Ist aber einmal ein Vertrag geschlossen, dann gilt der Rechtsgrundsatz: „pacta sunt servanda“. Die Offenheit ist also eine, die sich nicht auf Theorien des Vertrags richtet, sondern vielmehr auf die soziale Verwirklichung des vorhandenen Rechtssystems zielt. Diese drei Merkmale der Allumfassenheit, der höchsten Autorität und der Offenheit eines positiven Rechtssystems sichern dessen gesellschaftliche Bedeutung ab. Raz fasst das pointiert zusammen: „Wenn aber eine Gesellschaft einem Rechtssystem unterworfen ist, dann ist dieses System das wichtigste institutionalisierte System, dem sie unterliegt. Das Recht liefert den allgemeinen Rahmen, in dem gesellschaftliches Leben stattfindet. Es ist ein handlungsleitendes und konfliktlösendes System, das höchste Autorität für die Einmischung in jede Art von Aktivität beansprucht.“42

38  Raz, Praktische Gründe und Normen, S. 204–210. Dazu auch Shapiro, How to do things with plans. 39  Raz, Praktische Gründe und Normen, S. 206 f. 40  Raz, Praktische Gründe und Normen, S. 207 f. 41  Raz, Praktische Gründe und Normen, S. 208 ff. 42  Raz, Praktische Gründe und Normen, S. 210.

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b. Theoriebildung als rechtstechnische Strukturdiskussion Die Macht des positiven Rechts innerhalb einer Gesellschaft führt dazu, dass die Antwort auf die Frage nach der Theoriewahl klar und deutlich, aber ebenso ernüchternd wie die Antwort der rechtshistorischen Herangehensweise ausfällt: Rechtswissenschaftliche Theorien sind „Techniken“ eines Systems, das sich als höchste gesellschaftliche Kontrollinstanz sieht. Theorien werden in der dogmatisierten Gestalt einer Rechtsordnung nur herangezogen, soweit sie hilfreich sind, die „Verkettung“ der rechtlichen Regulierungen im Namen der Konsistenz und Kohärenz sicherzustellen.43 Darin wird teils eine besondere Form der Rationalität gesehen, insbesondere bei der Verhältnisbildung zwischen subjektiven Rechten im Wege der Abwägung. So wird vorgeschlagen, dass es bei verfassungsgerichtlichen Entscheidungen und damit in der gesamten Rechtsordnung darum gehe, „zu richtigen grundrechtlichen Ergebnissen zu gelangen.“44 Bei der positivistischen Art der Verwendung von Theorien kann man es bewenden lassen, ohne die Funktionsfähigkeit eines Rechtssystems kurzzeitig zu gefährden. Problematisch ist langfristig allerdings, dass typischerweise das jeweilige sachliche Problem nicht mehr adressiert wird, sondern bestenfalls eine Diskussion über die weiteren formalen Voraussetzungen einer möglichen rechtlichen Entscheidung in Gang gesetzt wird.45

3. Der Theoriebedarf und das Theorieangebot Mit der Reduzierung rechtswissenschaftlicher Theoriebildung auf eine Diskussion rechtstechnischer Strukturen geht ein gewisses rechtswissenschaftliches Unbehagen einher. Teils wird darauf hingewiesen, dass die normative Autorität des Rechts nicht allein auf seine soziale Wirksamkeit gestützt werden kann.46 Teils wird argumentiert, dass für die Kohärenz einer Rechtsordnung 43 Für die Systematisierungsprobleme angesichts der inhaltlichen Aufladung siehe Teil 1 C. I. 44  Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 520 f. Dagegen kritisch für einen nur subjektiven Sinn der einzig richtigen Entscheidung Jakl, Recht aus Freiheit, S. 60 f. und Herbst, JZ 2012, 891 f. 45  Beispielhaft für eine weitere abstrakte, rechtlich inhaltsleere Diskussion der allgemeinen methodologischen Kriterien und Strukturmerkmale rechtlicher Vernunft im Ausgang von Alexy, Die Theorie der juristischen Argumentation etwa Bäcker, Begründen und Entscheiden. 46  Für eine inhaltliche Ebene bei der Auslegung rechtlicher Normen, insb. des Verfassungsrechts, schon Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 115–119, 34 und sein Versuch, ein basales „right to equal concern and respect“ als inhaltliche Vorgabe weiterer Einzelfallentscheidungen zu begründen, Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 181 f. Zur insoweit einseitig formalen Diskussion um „Rules“ und „Principles“ Jakl, Recht aus Freiheit, S. 61 f. Gegenwär-

A. Theorien des Schuldvertragsrechts

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auch ihre Gehalte für diejenigen zugänglich sein müssen, die innerhalb der Rechtsordnung handeln.47 Zudem führt die Reduzierung der Theoriediskussion auf eine rechtstechnische Strukturdebatte paradoxerweise teils zu einer ungeordneten Aufnahme ganz unterschiedlicher und inhaltlich höchst voraus­ setzungsreicher oder auch gegenläufiger Theorieangebote. Beispielsweise wird bei der Auslegung der guten Sitten als Rechtsbegriff eine Systematisierung der Voraussetzungen teils unter Verweis auf ein „bewegliches System“ oder das „Sandhaufen-Theorem“ abgelehnt, demzufolge für das Vorliegen der Sittenwidrigkeit eine nicht näher bestimmbare Summenwirkung der im Einzelfall verwirklichten und allgemein ebenfalls nicht bestimmbaren Kriterien ausschlaggebend sei.48 In solchen Debatten um eine „Summenwirkung“ oder ein „bewegliches System“ wird zwar wiederum auf moralische, gerechtigkeitsorientierte, soziologische, ökonomische und diskursive Hintergrundannahmen zurückgegriffen. Allerdings wird die jeweilige Theoriewahl im Hinblick auf die inhaltliche Dimension des jeweiligen rechtlichen Problems nicht offengelegt. Es wirkt vielmehr so, als ob situativ nach der „Lieblingsphilosophen-Methode“49 verfahren wird, der zufolge eine beliebige, aber subjektiv zufällig geschätzte Theorie herangezogen wird. In der akademischen Diskussion um die Auslegung des europäischen Privatrechts wird beispielsweise explizit auf ein Bündel von Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit und Effizienz als „underlying principles“ verwiesen.50 Hier wird aber auch vorgeschlagen, weitere Prinzipien, wie den Schutz der Menschenrechte, die Solidarität und die soziale Verantwortung, zu berücksichtigen.51 Die Vielfalt der Theorieangebote erzeugt so einen normativen Überschuss, den das positive Rechtssystem ohne eine rechtswissenschaftliche Theoriewahl nicht mehr in geordneter Weise aufnehmen kann. Ein genauerer rechtsphilosophisch informierter Blick auf die normativen Hintergrundannahmen einer Rechtsordnung und ihrer theoretischen Leistungsfähigkeit erscheint deswegen nicht nur in Ergänzung der rechtshistorischen Herangehensweise, sondern auch im Hinblick auf die erforderliche Theotig über den „inclusive positivism“ hinaus die Notwendigkeit einer inhaltlichen Dimension des rechtsphilosophischen Diskurses betonend Coleman, Ratio Juris 22/3 (2009), S. 369 f. 47  Coleman, Ratio Juris 22/3 (2009), S. 371. 48  So NK-BGB/Looschelders, 3. Aufl. 2016, § 138 Rn. 100. Kritisch dazu BeckOGK/Jakl, 1.4.2018, § 138 Rn. 104–108. 49  Hörnle, in: FS 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, 2010, S. 1270 f. 50  Siehe etwa v. Bar/Clive/Schulte-Nölke (Hrsg.), Introduction, DCFR Interim Outline Edition, no 14 und no 22. 51 Dies fordert etwa Hesselink, Core Values and Underlying Principles, in: Brownsword/Micklitz/Niglia/Weatherhill (Hrsg.), The Foundations of European Private Law, 2011, S. 66–69.

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

riewahl als Grundlage der rechtspositivistischen, gültigkeitsbasierten Argumentation jedenfalls möglich, wenn nicht sogar aus Gründen der Aufklärung über die Voraussetzungen des rechtsdogmatischen Arbeitens und seines Umgangs mit der Vielfalt der Theorieangebote im Bereich des Schuldvertragsrechts notwendig.

III. Die Aufgabe der Strukturierung des Theorieangebots Die Rechtsphilosophie, verstanden als ein Unternehmen der unterschiedlichen historischen, moralischen, ökonomischen, soziologischen und philosophischen Theoriebildungen über das Recht, bietet unterschiedliche Herangehensweisen an, um mit den außervertragsrechtlichen inhaltlichen Vorgaben und Umständen umzugehen. In der deutschen Debatte wird implizit ohnehin auf moralische, ökonomische, soziologische und philosophische Hintergrundannahmen zum Zwecke der rechtspolitischen Diskussion zurückgegriffen.52 In der akademischen Diskussion um die Grundlagen des europäischen Privatrechts wird explizit auf Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit und Effizienz als „underlying principles“ Bezug genommen.53 Eine genauere Aufarbeitung der philosophischen Theorieangebote im Hinblick auf das Schuldvertragsrecht erscheint deswegen sowohl im Hinblick auf die deutsche Debatte um die „Materialisierung“ wie auch um die „underlying principles“ eines existierenden oder zukünftigen europäischen Privatrechts unverzichtbar. Nur mit einem insoweit passenden Theorieangebot kann der bestehende Theoriebedarf innerhalb des deutschen und des europäischen Schuldvertragsrechts in einer Weise abgedeckt werden, die für das geltende Schuldvertragsrecht anschlussfähig ist. Für die in dieser Arbeit zentrale Frage nach den normativen Grundlagen der inhaltlichen Aufladung des deutschen und des europäischen Schuldvertragsrechts muss daher jeweils die Einbettung der individuellen Entscheidung und Handlung in die jeweilige Konzeption im Mittelpunkt stehen.54 Aus Sicht einer Theorie des Schuldvertragsrechts fungiert daher das Konzept individueller Handlung und seine Einbettung in eine rechtliche Struktur als Filter dafür, an welche Theorieangebote normativ in welcher Weise vertragsrechtlich angeknüpft werden kann. Die im Folgenden zu untersuchenden Theo­rie­an­ge­bote (B–G) dürfen insoweit nicht mit anderen, etwa politischen, Umständen des Vertragsrechts verwechselt oder gleichgesetzt werden. Es geht jeweils darum, die Stärken und Schwächen der jeweiligen Theorieangebote im 52 

Zur These der „Materialisierung“ siehe Teil 1 A. v. Bar/Clive/Schulte-Nölke (Hrsg.), Introduction, DCFR Interim Outline Edition, no 14 und no 22. 54 S. o., Teil 1 D. 53 

B. Vertrag als Versprechen und seine Machtbasis

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Hinblick auf die rechtlich-normative Einbettung individueller Entscheidungen und Handlungen zu identifizieren und zu analysieren, soweit sie auf eine vertragliche Bindung gerichtet sind.

B. Vertrag als Versprechen und seine Machtbasis Ein klassischer Begründungsstrang des vertragsrechtlichen Denkens führt die Verbindlichkeit des Vertrags auf die moralische Verpflichtung zurück, Versprechen einzuhalten (I.). Die nur lose Verbindung des moralischen Versprechens zu einem Rechtsregime bietet allerdings Anlass zur Kritik des Schuldvertragsrechts als Ausdruck gesellschaftlicher Umstände (II.).

I. Vertrag als Versprechen und das Problem moralischer Verpflichtung Die Verbindlichkeit des Vertrags wird auf die moralische Verpflichtung zurückgeführt, Versprechen einzuhalten.55 Diese Auffassung ist gegenwärtig vor allem in der angelsächsischen Diskussion um die Verbindlichkeit von Verträgen lebendig.56

1. Vertrag und Versprechen Den Ausgangspunkt dieses Theorieansatzes bildet die moralische Intuition, dass Versprechen eine besonders verbindliche Qualität aufweisen. Fried beruft sich vor allem auf die Überlegung, dass menschliche Selbstbestimmung in einem normativen Rahmen von Vertrauen und Respekt stattfinde, wie er auch in der kantischen Philosophie aufscheine.57 Unklar bleibt aber, woher genau bestimmte Versprechen ihre besondere Verbindlichkeit erlangen. Im Anschluss an Kant wird teilweise der intrinsische Wert des Versprechens betont.58 Teilweise wird die Quelle dieser Intuition dagegen auch in der aristotelischen Tradition der „corrective justice“ bzw. der aus55 

In der amerikanischen Debatte prägend Fried, Contract as Promise, S. 5 f., 17, 21. Die gegenwärtige Rezeption der auf Fried zurückgehenden „Promise Theory“ kritisch zusammenfassend Dagan/Heller, The Choice Theory of Contracts, S. 25–32. 57  Fried, Contract as Promise, S. 17. 58  So plädiert Timmermann, Why Kant could not have been a Utilitarian, Utilitas 17 (2005), S. 243–264, 250 im Anschluss an Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 422 und 429 für eine nicht-konsequentialistische Lesart der Verbindlichkeit eines Versprechens; ebenso in nicht-konsequentialistischer Weise für den intrinsischen Wert des vertraglichen Versprechens Gutmann, Some Preliminary Remarks on a Liberal Theory of Contract, Law & Contemporary Problems 76 (2013), S. 39, 52. 56 

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

tauschenden Gerechtigkeit gesehen.59 Die Annahme einer besonderen Verbindlichkeit des Versprechens bei Fried erscheint dann als Ausdruck einer bloßen gesellschaftlichen Konvention.60

2. Vertrag als rechtliches Versprechen Der Vertrag wird in diesem Theorieentwurf wegen der Unbestimmtheit der moralischen Normen über das moralische Versprechen hinaus als eine besondere Form des Versprechens klassifiziert, nämlich als rechtliches Versprechen. Die moralische Forderung der Einhaltung des Versprechens wird hier ergänzt um die Durchsetzung des Versprechens durch eine Rechtsordnung.61 Derjenige, der das Versprechen abgibt, verpflichtet sich zur Einhaltung unter einem besonderen Regime, dem Rechtsregime. Dabei muss sich derjenige, der das Versprechen abgibt, über die Folgen der rechtlichen Verbindlichkeit informieren und diese tragen.62

3. Vertrag als Übertragung von Rechten Damit setzt sich das Vertragsrecht von einer Konzeption ab, die die Verbindlichkeit des Vertrags lediglich als Zustimmung der verpflichteten Partei deutet und dabei mit eigentumsrechtlichen Analogien arbeitet.63 Der Versprechende schafft mit dieser alternativen Konzeption der vertraglichen Bindung als Übertragung von Rechten zufolge ein Recht, dem der Versprechensempfänger zustimmen kann und somit den Anspruch auf Übertragung des entsprechenden Rechts erhält.64 Die Übertragung von Rechten rechtfertigt damit die rechtliche Durchsetzung eines Versprechens. So wird die vertragliche Bindung aus den Grundlagen des Eigentums- und Vermögensrechts abgeleitet.65

59 So

Dagan/Heller, The Choice Theory of Contracts, S. 25. Dagan/Heller, The Choice Theory of Contracts, S. 26. 61  Siehe etwa Scanlon, Promises and Contracts, in: Benson (Hrsg.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 102. Für das BGB schon Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, 1992, § 1/5 (6). 62  Scanlon, Promises and Contracts, in: Benson (Hrsg.), The Theory of Contract Law, 2001, S. 105. Kritisch dazu Kimel, Promise, Contract, Personal Autonomy, and the Freedom to Change One’s Mind. 63  Barnett, Columbia Law Review 86 (1986), S. 269–321, 297. 64  Barnett, Columbia Law Review 86 (1986), S. 269–321, 297. 65 Etwa Benson, WM & Mary L. Rev. 48 (2007), S. 1673, 1683. In der deutschen Debatte etwa Lobinger, Rechtsgeschäftliche Verpflichtung und autonome Bindung, S. 89 f., 96. 60 

B. Vertrag als Versprechen und seine Machtbasis

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4. „Versprechen“ als Quelle von individuellen Rechten und seine Grenzen Die Theorie des Vertrags als Versprechen sieht dagegen den Vertrag als Rechtsinstitut, das von eigentumsrechtlichen Analogien unabhängig funktionieren soll.66 Sie kann für sich in Anspruch nehmen, den Vertrag überzeugenderweise in das Zentrum der Begründung von individuellen Rechten zu stellen. Sie betont seine Leistung als Quelle von individuellen Rechten durch den selbstbestimmten Willen desjenigen, der ein Versprechen gibt.67 Allerdings geht damit eine weitgehende Ausblendung der inhaltlich-rechtlichen Vorgaben des Vertrags einher. Jede weitere Identifizierung inhaltlicher Vorgaben des Schuldvertragsrechts muss aus dieser Perspektive daher entweder abgelehnt oder auf eine bestimmte Fassung der rechtlichen Verbindlichkeit eines einmal abgegebenen Versprechens innerhalb einer Rechtsordnung zurückgeführt werden.68 Damit steht die Konzeption unter dem Druck, auch die Verbindlichkeit des Vertragsrechts in letztlich monistischer Weise zu verhandeln. Sie bietet keinen Horizont, die vielfältigen gegenwärtigen Entwicklungen der Materialisierung des Vertragsrechts zu diskutieren. Darüber hinaus bietet sie keinen Ort für eine Erörterung der verfassungsrechtlichen Einwirkungen auf das Privatrecht.

II. Die antinomische Struktur aller Wertungen und des Schuldvertragsrechts Die postmoderne Rechtstheorie kritisiert das liberale Paradigma der herausgehobenen Rolle des vertraglichen Versprechens als Ausdruck eines vorübergehenden normativen Individualismus. Sie analysiert das geltende Recht als Manifestation von gesellschaftlichen Bedingungen unter der Perspektive eines Aufstiegs und Falls.69

66  Siehe etwa Maine, From Status to Contract. Dagegen für die umfassende Bedeutung der Einigung auch als Rechtsübertragung am Beispiel des Kaufvertrags über Sachen Michaels, Sachzuordnung durch Kaufvertrag, S. 196 f. 67  Fried, Contract as Promise, S. 13 f., 17, auch unter Verweis auf die kantianische Fassung eines allgemeinen Respekts für Selbstbestimmung. 68  In diese Richtung etwa Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 309 f., der so die amerikanische Debatte zur Rekonstruktion der Rechtsinstitute des BGB nutzen möchte. 69  Emblematisch für die These vom Aufstieg und Fall der Vertragsfreiheit in der internationalen Debatte Atiyah, The Rise and Fall of Freedom of Contract und Gilmore, The Death of Contract; für das BGB Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetz­ bücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, S. 18.

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

1. Die Pole des Individualismus und Kollektivismus In einer Gegenbewegung zum liberalen Paradigma wird betont,70 dass das Vertragsrecht wie jede moralische Überlegung immer zwischen Kollektivismus und Individualismus pendele. Allenfalls ex post könne ermittelt werden, in welche Richtungen Abwägungen ausschlagen. Versuche, die kollektiven Züge als Ergänzungen des Vertragsrechts zu verstehen, müssten demzufolge scheitern, weil die entgegenstehende Spannung von Individualismus und Kollektivismus unberücksichtigt bleibe.71 Das Phänomen einer Materialisierung des Privatrechts wird daher im Hinblick auf die herausgehobene Rolle des Schuldvertragsrechts dahingehend gedeutet, dass das Prinzip der individuellen Autonomie zwar fortbestehe, aber zugleich seine Durchbrechungen zunehmen.72

2. Das Pendeln zwischen Gegenpolen als Ausdruck von Machtverhältnissen Die postmoderne Rechtstheorie kritisiert existierende Rechtsordnungen und ihre Begrifflichkeit als Ausdruck von gesellschaftlichen oder politischen Machtverhältnissen. In einer Gegenbewegung wird teils betont, dass das Recht wie jede moralische Überlegung immer zwischen Kollektivismus und Individualismus pendele und ermittelt oder gesteuert werden muss, in welche Richtung das Pendel der Rechtsentwicklungen gerade ausschlägt bzw. auszuschlagen hat.73 Die Frage nach dem Verhältnis von Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung lässt sich somit beispielsweise durch den Verweis auf ein Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit beantworten. Die Anlage eines solchen Spannungsverhältnisses lässt sich auch im Normenbestand des BGB identifizieren.74 Dieser umfasst aus dieser Perspektive sowohl entwicklungsoffene Prinzipien (zum Beispiel Generalklauseln wie §§ 138 und 242 BGB) als auch detaillierte Regelungen des Gesetzgebers (zum Beispiel zum Widerrufsrecht die §§ 312g, 355 BGB). Eine Berufung auf Generalklauseln (§ 138 I, II und § 242 BGB) erscheint damit als Ausdruck des Strebens nach Einzelfallgerechtigkeit wie auch als Fundament richterlicher Macht gegenüber der politischen Macht des Gesetzgebers, die teils auch contra legem ausgeübt werden könne.75 Rechtssicherheit wird in diesem Rahmen durch eine möglichst weitgehende Einschränkung des Anwen70 Etwa

Kennedy, Harvard Law Review 89 (1976), S. 1713 ff. und 1737 f. Vgl. im Anschluss an Kennedy, Harvard Law Review 89 (1976), S. 1713 ff., für die deutsche Diskussion Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, S. 22. 72 So Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, S. 167. 73 Etwa Kennedy, Harvard Law Review 89 (1976), S. 1713 ff. und 1737 f. 74  Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, S. 64. 75  Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, S. 174. 71 

B. Vertrag als Versprechen und seine Machtbasis

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dungsbereichs von Generalklauseln und damit richterlicher Macht, Rechtsentwicklung durch die Ausweitung ihres Anwendungsbereichs und damit auch richterlicher Macht erreicht.76 So wird deutlich gemacht, dass bestimmte Regelungstechniken auf eine bestimmte Art auf den rechtsdogmatischen Zusammenhang zurückwirken, die es nahelegen, die moralischen und rechtspolitischen Grundlagen des Privatrechts stärker zu thematisieren.77 Die Rezeption autonomiebasierter Theorien schlägt teils aber auch in einen harten Konventionalismus um, ohne dies zu bemerken. So werden auch Schäden für Institutionen als ausreichend angesehen, um Freiheitseingriffe zu rechtfertigen.78 Zwar lassen sich so Freiheitseinschränkungen zu Gunsten eines Institutionenschutzes rechtfertigen. Allerdings wird damit der Boden einer autonomieorientierten Herangehensweise verlassen, die dem individuellen Versprechen einen begründungstheoretischen Vorrang einräumt,79 auch wenn es keine hinreichende Bedingung für eine rechtliche Verbindlichkeit darstellt.80 So wird letztlich die Verrechtlichung des individuellen Versprechens für einen umfassenden Paternalismus geöffnet.81

3. Doppelte Grenzen der Kritik Die postmoderne Kritik der versprechensorientierten Theorie unterliegt damit doppelten Grenzen. Der Ansatz wird einerseits auf die Identifikation antinomischer Strukturen und andererseits auf die Kritik von Machtverhältnissen oder sogar auf deren Reproduktion durch einen Konventionalismus beschränkt. Die kritische Auseinandersetzung mit der versprechensorientierten Begründung vertraglicher Verpflichtung lehnt in der Folge nicht nur die Kriterien einer inhaltlichen Weiterentwicklung des Vertragsrechts ab, sondern deutet auch den zentralen Anspruch und die Funktion des Vertragsrechts, nämlich im Einzelfall gut begründete, nachvollziehbare und vor allem auch subjektiv von den Parteien als willensbasiert akzeptierte Entscheidungen zu treffen,82 als Ausdruck von äußeren Umständen. Recht kann dann insgesamt als sanktionsbewehrtes Normsystem gesehen werden.83 Die Selbstbestimmung des Vertragsrechts erscheint vor dem Hintergrund sanktionsbewehrter Vertragsbindung oder ver76 

Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, S. 64–90. Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, S. 218. 78  Raz, Harvard Law Review 95 (1982), S. 916 ff., 928 f. und 933 ff. 79  Fried, Contract as Promise, S. 13–14, 17. 80  Im Ergebnis wohl in diese Richtung Raz, Harvard Law Review 95 (1982), S. 916 ff., 928 f. und 933 ff. 81  Atiyah, Essays on Contract, S. 127 f. 82  Für diese herausgehobene Bedeutung der richterlichen Rechtsanwendung auf den Einzelfall generell etwa Dworkin, Law’s Empire, S. 90. Für eine Deutung, derzufolge das basale „right to equal concern and respect“ mit Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 181 jeder richterlichen Entscheidung als Maßstab zu Grunde liegt Jakl, Recht aus Freiheit, S. 54–61. 83  Raz, Concept of a Legal System, S. 186. Dagegen für den Versuch, einen sanktionslosen 77 

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

fassungsrechtlicher Einwirkungen lediglich als ein Beispiel für individuelle oder kollektive Bezüge, die keine besondere Verbindlichkeit oder inhaltlich eigenständige Vernetzung mehr aufweisen. Will man mehr über die im Vertragsrecht wirksamen konkreten gesellschaftlichen Zusammenhänge erfahren, so muss zudem auf eine gehaltvollere Theorie zurückgegriffen werden, wie etwa die ökonomische Analyse des Rechts, die Theorie der sozialen Systeme oder die Diskurstheorie.

C. Ökonomische Theorie des Rechts und das Vertragsrecht Die ökonomische Analyse des Rechts bietet mit der Effizienz eine inhaltliche normative Vorgabe für die Normenstruktur des Schuldvertragsrechts (I.). Sie basiert auf utilitaristischen Hintergrundannahmen für die Handlungsorientierung (II.), die normativ und empirisch erhellend, aber im Hinblick auf die zentrale Bedeutung subjektiver Rechte nicht ungebrochen in das Schuldvertragsrecht hineingelesen werden können (III. und IV.).

I. Effizienz als vorrangiger Zweck Anders als postmoderne Überlegungen nehmen ökonomische Theorien des Privatrechts eine klare Funktionszuweisung des Vertragsrechts vor. Das Vertragsrecht soll ihnen zufolge der Effizienz in einem wirtschaftlichen Sinne dienen, die durch Vertragsbindung selbst wiederum gestört werden kann. Nur solange Verträge einen wirtschaftlichen Nutzen bringen – sei er individuell oder kollektiv –, werden sie und ihr Inhalt als verbindlich angesehen.84 Die ökonomische Theorie des Rechts ist in rechtspolitischer Hinsicht eine normative Theorie. Sie fordert, die Verschwendung von Ressourcen zu verhindern und eine optimale Ressourcenallokation in effizienter Weise zu erreichen.85 Dem Recht bleibt nur eine rein instrumentelle Rolle. Die Normen der Rechtsbegriff auch bei den späten Schriften von Raz zu identifizieren Kuch, Autorität des Rechts, S. 162–166. 84  Für die Annahme einer immer schon bestehenden grundlegenden Ausrichtung des Zivilrechts auf Effizienz für die Debatte in Deutschland schon Ott, Allokationseffizienz, Rechtsdogmatik und Rechtsprechung – die immanente ökonomische Rationalität des Zivilrechts, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1988, S. 25–44. 85  Prägend für die internationale Debatte: Posner, Economic Analysis of Law, S. 29–35 und Polinsky/Shavell, Harvard Law Review 111 (1998), S. 869 ff., 887 ff. und zum Überblick Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law; für die Rezeption im deutschen Privatrecht: Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 58, 63, 71 und Ott/Schäfer, JZ 1988, 213– 223 und sogleich kritisch zur Annahme eines homo oeconomicus Fezer, JZ 1988, 223–228.

C. Ökonomische Theorie des Rechts und das Vertragsrecht

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Rechtsordnung sind allein im Hinblick auf die bestmögliche Erreichung eines wirtschaftlichen Ziels zu betrachten.86

II. Die utilitaristischen Hintergrundannahmen Das normative Ziel der Effizienz gründet auf den konsequentialistischen Grundannahmen des Utilitarismus. Das Grundprinzip des Utilitarismus lautet, dass das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl erreicht werden soll.

1. Das Nützlichkeitsprinzip Das Nützlichkeitsprinzip bildet einerseits eine individuelle Verhaltensmaxime. Es gilt, individuell Schmerzen zu vermeiden und Vergnügen zu maximieren.87 Andererseits erhebt das Nützlichkeitsprinzip einen universalen Geltungsanspruch. Demzufolge soll jeder Einzelne sich so verhalten, dass die Gesamtwohlfahrt maximiert wird.88 In dieser Form wird das Nützlichkeitsprinzip über das zweiseitige Vertragsverhältnis hinaus auch zu einer Entscheidungsregel für die Gesetzgebung und anderes staatliches, gemeinwohlorientiertes Handeln. Entsprechend ist umstritten, ob nur einzelne Akte dem Wohlfahrtskalkül zu unterwerfen sind oder auch Regeln und Institutionen.

2. Die normativen und empirischen Probleme des Nützlichkeitsprinzips Jenseits der philosophischen Frage, wozu eigentlich das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl erreicht werden soll, werden innerhalb des Utilitarismus vor allem zwei Probleme kritisch diskutiert. Zum einen ist hoch umstritten, wie der Nutzen und das Vergnügen als innere psychologische Aspekte gemessen werden können. Das Nutzenkalkül wird hier als vielversprechendes Mittel für Bewertungen aller Art angesehen,89 erweist

86  Für die deutsche Rezeption schon Lehmann, Bürgerliches Recht und Handelsrecht, S. 28. 87 Seit Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, S. 1. Für die Identifikation qualitativer Kriterien schon Mill, Utilitarianism, S. 257 f. Zur Aktualisierung des Nutzenkalküls und seiner Probleme siehe Sen, The Journal of Philosophy 76/9 (1979), S. 463–489. 88 Etwa Bofinger, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, S. 224 ff. 89  Beispielsweise sehen Petersen/Towfigh, § 1 Ökonomik in der Rechtswissenschaft, in: Towfigh/Petersen (Hrsg.), Ökonomische Methoden im Recht, 2016, S. 4 f. und 8 f. die Stärke der ökonomischen Analyse in der umfassenden empirischen und normativen Bewertung von existierenden Normen für die Verhaltenssteuerung wie für Nutzenbewertung von (zukünftigen) Gesetzesalternativen, um so einen optimalen Inhalt von Rechtsnormen zu erreichen.

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

sich aber als sehr komplex, insbesondere im Hinblick auf die Folgenermittlung und -bewertung.90 Zum anderen ist hoch umstritten, inwieweit die Maximierung der Gesamtwohlfahrt auf Kosten Einzelner erfolgen darf oder sogar muss.91 Aus juristischer Sicht ist davon vor allem die Frage betroffen, inwieweit subjektive Grundund Menschenrechte mit wirtschaftlichen Zielen verrechnet werden können. Die beiden Probleme der Messbarkeit des Nutzens und der Berücksichtigung einzelner Individuen durchziehen die ökonomische Analyse des Rechts als normative wie auch als empirische Theorie.

III. Die normativen Probleme des Utilitarismus als normative Probleme der ökonomischen Analyse des Rechts Die normative Diskussion der Effizienzkriterien kreist vor allem um das Verhältnis individueller und kollektiver Nutzenmaximierung. Der klassische Utilitarismus fordert eine Maximierung des Gesamtnutzens. Jedoch wird der Gesamtnutzen vor allem als Summe des individuellen Nutzens und der individuellen Präferenzen angesehen. Die Notwendigkeit intersubjektiver Nutzenvergleiche bleibt hier eine offene Flanke.

1. Intersubjektive Nutzenvergleiche Das Kriterium der Pareto-Effizienz nimmt das Problem des intersubjektiven Nutzenvergleichs auf. Ein Zustandswechsel wird immer dann befürwortet, wenn im neuen Zustand mindestens eine Person besser und im Vergleich zum alten Zustand niemand schlechter gestellt wird.92 Hier werden nun sogenannte ordinale Messungen von Nutzengrößen vorgenommen. Allerdings wird kritisiert, dass für diese Nutzenvergleiche kaum praktische Anwendungsmöglichkeiten bestehen. Es ist insbesondere für Rechtsnormen kaum denkbar, dass durch die Änderung einer Norm niemand schlechter gestellt wird.

90  Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 3; Rühl, Ökonomische Analyse des Rechts, in: Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, 2011, S. 223–243, insb. S. 231 verweist schlicht auf ökonomische Bewertungskriterien. 91 Grundlegend Coase, Journal of Law and Economics 3 (1960), S. 1–44. 92 Kritisch Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit, S. 52, da der Ausgangszustand nicht thematisiert werde. Dazu Schäfer/Ott, Lehrbuch der Ökonomischen Analyse des Rechts, S. 23 und 430 ff., demzufolge der Einzelne früher oder später sowohl die Rolle des Verlierers wie auch des Gewinners einnimmt.

C. Ökonomische Theorie des Rechts und das Vertragsrecht

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2. Schlechterstellung als Problem Um das Problem des Ausschlusses einer Schlechterstellung zu lösen, wird im Rahmen eines pragmatischen Ansatzes vorgeschlagen, eine monetäre Nutzenbewertung vorzunehmen. Diese monetäre Bewertung knüpft an den Marktpreisen für Güter an. Zum Kriterium des Nutzens wird so die individuelle Zahlungswilligkeit.93 Immaterielle Werte werden entweder in Geld übersetzt oder ausgeblendet. Innerhalb dieses Ansatzes wird aufgenommen, dass jeder Einzelne zunächst bestimmt, was er will und was sein Wohlergehen fördert. Die Gesamtwohlfahrt wird dabei als Funktion der Wohlfahrt der Einzelnen in der Summe angesehen. Dies kommt insbesondere im sogenannten Wohlfahrtsmaximierungsprinzip in Verbindung mit der Generalkompensationsthese nach Kaldor/Hicks zum Ausdruck.94 Danach ist jede rechtliche Entscheidung gerechtfertigt, wenn sie mindestens für ein Individuum eine Verbesserung bringt und die Verlierer durch die Gewinner kompensiert werden könnten. Wichtig ist dabei, dass eine bloß theoretisch mögliche Kompensation ausreicht. Eine Entschädigung im Einzelfall ist unerheblich.95 Die potentiell oder tatsächlich erheblich ungleiche Verteilung von Einkommen oder Vermögen wird stark kritisiert. Die Generalkompensationsthese wird zum einen allgemein bezweifelt, insbesondere im Hinblick auf ihre historische Wirksamkeit. Zum anderen ist ein Rückschluss von der individuellen Zahlungsbereitschaft auf den Nutzen nicht zwingend, sondern vielmehr ein methodisch riskanter Umkehrschluss.

3. Subjektive Rechte, Kosten und die Einschränkung des Anwendungsbereichs der ökonomischen Analyse des Rechts Darüber hinaus gibt es für die Rechtsordnung ein besonders schwerwiegendes Problem. Selbst wenn trotz der genannten grundsätzlichen Probleme der Nutzenidentifikation davon ausgegangen wird, dass sich unter ihren Marktbedingungen ein effizienter Zustand von selbst einstellt, erscheint eine Rechtsordnung allein als Kostenfaktor. Eine Rechtsordnung verursacht Transaktionskosten und „Agency-Costs“, entweder durch direkte Eingriffe des Staates oder durch zu beachtende rechtliche Vorgaben.96 Jede Rechtsordnung kann also einerseits wirtschaftliches Handeln nur dann beeinflussen, wenn sie Transaktionskosten verursacht. An93  Posner, Economic Analysis, S. 3. Schon Smith, Wealth of Nations, S. 63, 70, 111 (Buch I Kap. VIII und IX) geht davon aus, dass bei vollkommener Vertragsfreiheit ein Preisgleichgewicht eintritt. 94  Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 51 f. 95  Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 51 f. 96  Dazu allgemein Schmolke, § 5 Vertragstheorie, in: Towfigh/Petersen (Hrsg.), Ökonomische Methoden im Recht, 2016, S. 154–157.

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

dererseits ist jede Rechtsordnung angesichts ihrer Instrumentalisierung für das Effizienzziel darauf festgelegt, die Transaktionskosten so gering wie möglich zu halten.97 Neben der Unbestimmtheit der letztlich hypothetischen Nutzenkalküle ist es für eine Rechtsordnung, die sowohl im öffentlichen Recht wie auch im Privatrecht subjektive Rechte prozessiert, letztlich nicht möglich, diese subjektiven Rechte allein nach dem Effizienzkriterium zuzuteilen.98 Es wird deshalb vorgeschlagen, die Anwendbarkeit der ökonomischen Analyse des Rechts auf die Fälle zu beschränken, in denen das positive Recht bereits explizit oder implizit diese wirtschaftliche Betrachtungsweise vorsieht. Dabei wird insbesondere das Privatrecht als ein Rechtsgebiet angesehen, das ökonomischen Zielen dient.99

IV. Die empirischen Probleme der ökonomischen Analyse des Rechts Die empirischen Probleme der ökonomischen Analyse des Rechts lassen sich am Leitbild des „homo oeconomicus“ und seinen Modifikationen verdeutlichen.

1. Der „homo oeconomicus“ Die ökonomische Analyse des Rechts geht bei der Nutzenkalkulation von der Grundannahme eines „homo oeconomicus“ aus. Entscheider maximieren demzufolge ihren Nutzen rational. Es wird von einer stabilen Präferenzordnung des Entscheiders ausgegangen, der zudem mit optimalen Informationen über die Entscheidungssituation ausgestattet ist.

2. Die empirischen Beschränkungen menschlicher Rationalität Die normativen Annahmen der rationalen Eigenschaften des „homo oeconomicus“ werden unter Verweis auf empirische Beschränkungen menschlicher Verhaltensrationalität kritisiert. Allgemein anerkannt sind in der sogenannten Behavioral-Law-and-Economics-Debatte drei Einschränkungen: erstens die Be-

97  Zur Belastung von Unternehmen durch den Rechtspluralismus auf dem Gebiet des europäischen Binnenmarkts daher kritisch etwa Vogenauer/Weatherill, JZ 2005, 870, 874 ff. 98 So Sen, Inequality Reexamined, S. 88 f., 131 f. und schon Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 42–45, 474 und 52, der den Utilitarismus dafür kritisiert, die Verschiedenheit der einzelnen Menschen nicht ernst zu nehmen. 99  Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 71 ff. Das scheint angesichts des konsequentialistischen Anspruchs der ökonomischen Analyse des Rechts dennoch problematisch, dazu etwa Gutmann, Paternalismus und Konsequentialismus, in: Kühler/Nossek (Hrsg.), Paternalismus und Konsequentialismus, 2014, S. 27–65.

C. Ökonomische Theorie des Rechts und das Vertragsrecht

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schränkung des Eigeninteresses, zweitens die Beschränkung der Rationalität und drittens die Beschränkung der Willenskraft des Entscheiders.100 Das beschränkte Eigeninteresse zeigt sich insbesondere durch Experimentalstudien, in denen die Mehrzahl der Probanden sich reziprok verhält. Daraus wird allgemein gefolgert, dass Menschen fair handeln wollen und auch fair behandelt werden wollen. Die beschränkte Rationalität eines Entscheiders wird insbesondere durch die Begrenzung der Information, der Informationsgewinnungsverarbeitungskapazität durch die Kontextorientierung der Präferenzbildung und durch heuristische Verzerrungen aufgezeigt.101 Ein klassisches Beispiel für die Verzerrung durch eine Alltagsheuristik ist der Kompromisseffekt. Dies verdeutlichen drei ebenso klassische Beispiele aus empirischen Untersuchungen:102 Angesichts von extremen Alternativen versuchen Menschen in der Regel, einen Mittelweg zu finden. Das führt dazu, dass ein und dieselbe Option besser bewertet wird, wenn sie als mittlere Option zwischen zwei anderen präsentiert wird. Die Einschätzung eines Entscheiders wird also durch das Vorhandensein weiterer Optionen mitgesteuert. Ein anderes klassisches Beispiel für die beschränkte Rationalität ist der sogenannte „Anchoring-Effekt“:103 Einschätzungen von Entscheidern werden demzufolge von Vorausurteilen und Anfangswerten mitgesteuert, die zunächst zufällig sind, von denen man sich aber dennoch im Entscheidungsprozess kaum lösen kann. Schließlich zeigt sich in empirischen Untersuchungen, dass soziale und emotionale Reaktionen auf Verluste generell stärker ausfallen als die auf Gewinne. Daraus lässt sich folgern, dass die individuelle Bewertung von Handlungsfolgen vom Kontext abhängt. Ändert sich der Entscheidungsrahmen, ändern sich typischerweise auch die individuellen Entscheidungspräferenzen.104

3. Rechtliche Normen als Standardeinstellungen Auf den genannten Einschränkungen menschlicher Rationalität wird eine Theorie von Verhaltensstörungen aufgebaut, die bestimmte Standardeinstellungen des Kontextes von Entscheidungen als Anreize oder Anstöße ansehen. Das Recht wird unter dieser empirischen Perspektive als ein Instrument zur Besei100 

Eidenmüller, JZ 2011, S. 821. für die Bedeutung unvollständiger Information Akerlof, Quarterly Journal of Economics 84 (1970), S. 488 ff. 102  Eidenmüller, JZ 2011, 814–821 im Anschluss an Jolls/Sunstein/Thaler, Stanford Law Review 50 (1998), S. 1471, 1489 ff. 103 Seit Kahneman/Tversky, Cognitive Psychology 3 (1972), S. 430. 104  Für die Nutzung von Anreizen zur Überlistung der eigenen Anpassungsfähigkeit und zur Herstellung von Selbstkontrolle etwa Thaler/Sunstein, Nudging – Wie man kluge Entscheidungen anstößt, S. 67–78. Bereits zur autonomen Handlungsmotivation Dworkin, The Theory and Practice of Autonomy, S. 17 f. 101 Grundlegend

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

tigung der Rationalitätseinschränkungen angesehen.105 Zentrales Beispiel dafür sind die Normen des dispositiven Rechts. Sie erfüllen vor allem eine Steuerungsfunktion („governance“) im Schuldvertragsrecht, ohne die zentrale Rolle der Vertragsfreiheit zu Gunsten zwingender Gesetze hintanzustellen.106 Die Beseitigung der Rationalitätseinschränkungen der Entscheider wird dann zur Rechtfertigung von Eingriffen in ihre Entscheidungsfreiheit.

V. Der offene Nutzenbegriff und subjektive Rechte als Grenzen der Anwendbarkeit Auch unter Beachtung der empirischen Einschränkungen des „homo oeconomicus“ bleibt ebenso wie bei der Analyse der normativen Konzeptionen des Nutzenbegriffs wiederum unklar, worin der konkrete Nutzen von bestimmten Standardeinstellungen besteht. Das lässt sich insbesondere am Beispiel des Verbraucherschutzes demonstrieren. Mit Argumenten der ökonomischen Theorie des Rechts wird einerseits der geltende Verbraucherschutzstandard kritisiert107 und andererseits durch seine Erweiterung zum Verbraucherrecht ausgebaut und befördert.108 Gegen eine inhaltliche Aufladung des Privatrechts in einem rein ökonomischen Sinne spricht über die damit verbundene Ablehnung einer willensbasierten Vertragsbindung hinaus, dass dieser Ansatz im Widerspruch zur Idee subjektiver Rechte steht und damit in der dogmatischen Anwendung, wie von ihren Vertretern selbst eingeräumt wird, verfassungsrechtlich problematisch und letztlich nur innerhalb der eingeschränkten Bereiche an das Vertragsrecht anschlussfähig ist, in denen die ökonomische Betrachtungsweise ausdrücklich vorgesehen ist.109 105  Gegenwärtig zum „Nudging“ als einer weichen Form eines staatlichen Paternalismus zur Überwindung von individueller Willensschwäche, Strukturierung komplexer Entscheidungen und Stärkung des Allgemeinwohls Thaler/Sunstein, Nudging – Wie man kluge Entscheidungen anstößt, S. 13 f., 106 f., 136 f., 240–250 und Sunstein, Journal of Consumer Policy 37 (2014), S. 583 ff. 106  Für das deutsche und europäische Privatrecht Möslein, Dispositives Recht, S. 484. 107 Etwa Eidenmüller/Faust/Grigoleit/Jansen/Wagner/Zimmermann, JZ 2008, 535. 108  Zum Beispiel in den als Leitlinien bezeichneten Erwägungsgründen Nr. 11, 18 und 20 der Einleitung (S. 10, 15 und 16) des Entwurfs eines Referenzrahmens zu einem einheitlichen europäischen Privatrecht, v. Bar/Clive/Schulte-Nölke (Hrsg.), Study Group on an European Civil Code/Research Group on EC Private Law, Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law. DCFR. 109  Vgl. schon Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 272 ff. Für einen prinzipiellen Gegensatz zwischen ökonomischer Analyse und freiheitlichem Rechtsdenken schon Fezer, JZ 1986, 817, 823. Im Ausgang von einer Rezeption ohne Legitimation der ökonomischen Analyse in der Privatrechtsdogmatik für eine Berücksichtigung der Effizienz als Rechtsprinzip, soweit sie ein Zweck des Gesetzgebers ist, Wagner, Privatrechtsdogmatik und öknomische

D. Gerechtigkeit als Rechtswert und das Vertragsrecht

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D. Gerechtigkeit als Rechtswert und das Vertragsrecht Gerechtigkeit gilt seit der Antike auch als zentraler Rechtswert. Bis in die Gegenwart wird teils die gesamte Rechtsphilosophie auf den Gerechtigkeitsbegriff verengt.110 Im Anschluss an Aristoteles wird insbesondere die iustitia commutativa als Austauschgerechtigkeit bis heute als normative Grundlage des Vertragsrechts angesehen.111 Sie verlangt einen unmittelbaren Ausgleich zwischen den Vertragsparteien und umfasst auch ein Bereicherungsverbot.112 Davon zu unterscheiden ist mit Aristoteles die iustitia distributiva. Die Verteilungsgerechtigkeit soll sicherstellen, dass Geld oder andere Güter, die unter den Mitgliedern einer Staatsgemeinschaft teilbar sind, gerecht verteilt werden.113 Beide Gerechtigkeitsbezüge basieren auf der Hintergrundannahme, dass Handeln wesentlich als Streben aufzufassen ist (II.). Sie stehen damit vor der Herausforderung, sowohl einen Widerspruch zu dieser Grundlage wie auch zu den jeweiligen geltenden Rechtsordnungen zu vermeiden (III.), was aber letztlich misslingt (IV.).

I. Gerechtigkeit und Privatrecht Die Bedeutung der Gerechtigkeit im Vertragsrecht wird auf aristotelischer Grundlage vor allem als Frage eines Vorrangs der iustitia commutativa entfaltet. Einem solchen Vorrang wird jedoch teils ein Vorrang oder jedenfalls eine Gleichrangigkeit der iustitia distributiva entgegengehalten.

Analyse, in: Auer/Grigoleit/Hager et alt. (Hrsg.), Privatrechtsdogmatik im 21. Jahrhundert, 2017, S. 289 f. und 318. 110 Etwa Jansen/Reimann, ZEuP 89 (2018), S. 90; für das Schuldvertragsrecht hebt Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, S. 75 ff. die Bedeutung der Gerechtigkeit besonders hervor. 111  Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1130b 30–1131a 18 (S. 125f). Aristoteles zielt dabei auf die Ermittlung des Gleichen bei „vertraglichen Beziehungen von Mensch zu Mensch“. 112  Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1131a 17 ff. (S. 126 ff.). Das „Gerechte“ für Austauschverträge wird als das Mittlere zwischen Gewinn und Verlust angesehen, Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1131b 32–1132a 19 (S. 129). Ziel ist dabei, dass durch Verträge weder „Zuwachs noch Einbuße herausgekommen“ ist und die Geschäftspartner „ohne Gewinn und Verlust“ das ihre haben, Nikomachische Ethik, 1132b 9–1132b 27 (S. 131). 113  Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1130b 15–1131a 1 und 1131a 21–1131b 9 (S. 125, 127) verlangt, den Personen nach ihrer „Trefflichkeit“ Ämter und Güter zuzuteilen und dabei „nach einer bestimmten Angemessenheit“ vorzugehen.

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

1. Der Vorrang der iustitia commutativa Klassischerweise wird innerhalb der neo-aristotelischen Privatrechtstheorie von einem Vorrang der iustitia commutativa, das heißt der Austauschgerechtigkeit, ausgegangen.114 Demgegenüber wird die inhaltliche Aufladung des Privatrechts üblicherweise als ein Phänomen der iustitia distributiva, das heißt der Verteilungsgerechtigkeit, angesehen. Sie wird insbesondere als Rechtfertigung für inhaltliche staatliche Eingriffe in die Vertragsfreiheit herangezogen.115 Der Verteilungsgerechtigkeit kommt aus dieser Perspektive insoweit nur eine ergänzende Funktion zu.116

2. Der Vorrang der iustitia distributiva Ebenfalls aus neo-aristotelischer Perspektive wird vorgebracht, dass der Verteilungsgerechtigkeit richtigerweise eine normative Gleichrangigkeit sowie ein erkenntnistheoretischer Vorrang vor der Austauschgerechtigkeit zukommen muss.117 Die Vertragsfreiheit bildet in einer solchen Gerechtigkeitsperspektive der iustitia distributiva einerseits lediglich ein theoretisches Postulat.118 In seiner konsequenten Durchführung erscheint allerdings eine Einschränkung der Vertragsfreiheit auf umgrenzte Lebensbereiche nicht nur unproblematisch, sondern als ein zentrales Gebot der Privatrechtsentwicklung, die dem Einzelnen für bestimmte Bereiche jeweils Autonomie und Eigenverantwortung zuschreibt.119 Die Diskussionen um ausgleichende oder verteilende Gerechtigkeit als Rechtswerte basieren auf der entsprechenden Unterscheidung des Aristoteles. Ein genauer Blick auf diese aristotelischen Hintergrundannahmen ist angesichts der sich widersprechenden neo-aristotelischen Theorieansätze unumgänglich. Die Handlungskonzeption bildet einen zentralen Baustein der Gerechtigkeitskonzeption des Aristoteles.

114  Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, S. 27 f., 120. Für den angelsächsischen Rechtskreis Weinrib, The Idea of Private Law, S. 76. 115  Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, S. 75–77, 120. 116 Etwa Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 29 f. und 58 f. für das BGB im Anschluss an Weinrib, The Idea of Private Law. 117  Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 172 ff., 177 ff., 441, auch unter Verweis auf Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 122. Über Aristoteles hinaus für ein starkes Prinzip personaler Gleichheit als Summe aller Gleichbehandlungsgrundsätze des Verfassungs- und Unionsrechts Grünberger, Personale Gleichheit, S. 1053. 118  Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 261. 119  Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 261, 441, 443.

D. Gerechtigkeit als Rechtswert und das Vertragsrecht

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II. Die Hintergrundannahme: Handeln als Streben Aristoteles versteht das Handeln als ein Streben. Die Nikomachische Ethik geht davon aus, dass jede Handlung bereits zu einem bestimmten Ziel strebt: „Jede Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlung und jeder Entschluß scheint irgendein Gut zu erstreben. Darum hat man mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach alles strebt.“120 Dieses Gute des Aristoteles lässt sich in dem tatsächlichen Handeln von Menschen finden. Aristoteles verweist auf allgemeine Anschauungen und vorliegende Gegebenheiten.121 Das Besondere an diesen tatsächlichen Handlungen gemäß den allgemeinen Anschauungen und vorliegenden Gegebenheiten ist für Aristoteles, dass sie das Gute erkennbar machen. Das zentrale normative Kriterium für Handelnde und Entscheider ist nach Aristoteles dabei das Streben zur Mitte.122 Die Mitte ist jedoch kein Mittelmaß, sondern das Beste für die Handelnden, wie es sich in einer vernünftigen Überlegung erschließt.123 Die praktische Philosophie des Aristoteles gilt deswegen teils als ein Versuch, die Grundlegung von Normen in eine Theorie des guten Lebens zu integrieren.124 Das tugendhafte Leben eines Menschen wird damit zum Maßstab der Moral. Tugend bewirke, dass das Ziel bzw. der Zweck des Handelns richtig sei.125 Das Ziel beziehungsweise der Zweck des Handelns ist damit Überlegungen des Handelnden wie auch seiner Entscheidung vorgegeben. Individuelles Leben steht damit unter dem Anspruch eines tugendhaften Lebens. Juristische Entscheidungen sind demzufolge richtig, wenn sie den richtigen Zweck er­reichen.

1. Handeln als tugendhaftes Handeln Die Tugendorientierung der praktischen Philosophie des Aristoteles wird daher zum Ausgangspunkt von normativen Theorien, die ohne das moderne Freiheitsdenken auskommen. Diesen Ansätzen zufolge leiden moderne Autonomietheorien (besonders solche kantischen Typs) darunter, dass sie die Freiheit als absolute Freiheit von der Entscheidungssituation des Handelnden lösen. Freiheitskonzeptionen der Moderne ließen sich daher gar nicht mehr auf konkrete Fragen beziehen.126 Es wird ein „Verlust der Tugend“ in der Moderne diagnos-

120 

Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094a 1–3 (S. 5). Nussbaum, Nicht-relative Tugenden, S. 114. 122  Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1106b 27–1107a 14 (S. 45) und 1138b 18 ff. (S. 153). 123  Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1138b 18 ff. (S. 153). 124  Wolf, Über den Sinn der aristotelischen Mesoteslehre, S. 84. 125  Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1134a 2–20 (S. 136). 126  Schmitt, Selbstständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer, S. 34; Krämer, Die Grundlegung des Freiheitsbegriffs in der Antike, S. 268. 121 Etwa

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

tiziert, dem bestimmte Gewissheiten über intrinsisch falsche Handlungen entgegengesetzt werden.127 Der aristotelische Ansatz wird genutzt, um Entscheidungs- oder Klugheitslehren zu entwickeln, die die konkreten Interessen und traditionellen Werte wieder berücksichtigen. So sollen dem prima facie leeren und ziellosen Handeln des selbstbestimmten Individuums im Ausgang von einer teleologischen Bestimmung des Menschen Grenzen gezogen werden.128 An die Stelle autonomer Entscheidungen werden menschliche Grunderfahrungen als Entscheidungsbasis gesetzt129 oder praktische Überlegungen unter den Druck eines Prozesses der Abwägung von Gründen gestellt, der mit dem Auffinden von intrinsischen, selbstzweckhaften Gründen abgeschlossen wird.130

2. Richtigkeit der juristischen Entscheidung als richtige Zweckerreichung Aus der aristotelischen Metaphysik der Mitte wird für das Recht der Anspruch der Richtigkeit einer juristischen Entscheidung abgeleitet.131 Ausgangspunkt für den Rückgriff auf aristotelische Konzepte ist in der Debatte um die Vertragsgerechtigkeit parallel und im inhaltlichen Gleichlauf zur Debatte um Tugenden in der Moralphilosophie die Inhaltsleere der Vertragsfreiheit. Die klassische Konzeption der Vertragsfreiheit leidet demzufolge unter ihrer Formalität und der damit einhergehenden Inhaltsleere.132 Dies wird insbesondere durch den hohen Abstraktionsgrad des Bürgerlichen Gesetzbuches belegt.133 Die Fokussierung des zweiseitigen Vertragsverhältnisses blende, so die Kritik, die relevanten Phänomene der Welt aus.134 Das formale liberale Vertragsrecht des BGB, so der zentrale Vorwurf, könne weder die Wirklichkeit noch die moderne Vertragswelt angemessen erfassen. Dies wird auch daran festgemacht, dass schon aus ökonomischer Perspektive die Vertragsfreiheit kritisiert und von einem Wirtschaftsrecht überlagert und absorbiert worden sei.135 Die soziologische Perspektive wird herangezogen, um zu

127  McIntyre, Verlust der Tugend, S. 77 ff. und Nussbaum, Gerechtigkeit oder das gute Leben. 128  McIntyre, Verlust der Tugend, S. 77 ff. 129  Nussbaum, Nicht-relative Tugenden, S. 119, 151. 130  Williams, Moralischer Zufall, S. 20 und 121. 131  Bergmann, Die Rechtsfolgen des ungerechten Vertrages, S. 14 f. 132  Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 227 f. unter Verweis auf Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, MWG I/22–3, S. 619 f., der jedoch gerade die zunehmende Berechenbarkeit des modernen, formalen Rechts für „Gütermarktinteressenten“ betont. 133 Dazu Zweigert, in: FS Rheinstein, Bd. II, 1969, S. 493, 500. 134  So auch Canaris, AcP 200 (2000), S. 273, 281 f. und Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, S. 88 f., 214 f. 135  Kramer, Die „Krise“ des liberalen Vertragsdenkens, S. 65 f.

D. Gerechtigkeit als Rechtswert und das Vertragsrecht

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zeigen, dass die formale Rechtsstaatlichkeitsidee des politischen Liberalismus inhaltlich überholt ist.136 Der Rechtsprechung wird schließlich die Funktion zugeschrieben, die formale Freiheitsethik der deutschen Privatrechtsordnung in eine materielle Ethik sozialer Verantwortung zurückverwandelt zu haben.137 Gerade privatrechtliche juristische Entscheidungen müssten aus neo-aristotelischer Perspektive daher entweder von der Beachtung der Tauschgerechtigkeit oder von der Umsetzung der Verteilungsgerechtigkeit abhängig gemacht werden.

a. Tauschgerechtigkeit Die Tauschgerechtigkeit verlangt, dass Leistung und Gegenleistung einander entsprechen. Gleichgewichtsverschiebungen zu Lasten des Verkäufers oder des Käufers sind demzufolge ungerecht.138 Schon die Tauschgerechtigkeit verlangt damit als materielle Vertragsgerechtigkeit im Anschluss an Aristoteles, jeden Vertrag auf seine inhaltliche Richtigkeit hin zu befragen.139 Als gerechtigkeitstheoretisches Fundament dieser Tauschgerechtigkeit werden auch theologische Quellen der Aristoteles-Überlieferung herangezogen. Insbesondere Thomas von Aquin geht davon aus, dass niemand Sachen über Wert kaufen wolle, und deswegen auch niemand Sachen über Wert verkaufen dürfe.140

(aa) Der Gegenwartsbezug der „corrective justice“ Der Gegenwartsbezug der Tauschgerechtigkeit wird durch eine „normative Rechtstheorie“141 behauptet. Die theoretische Stärke der iustitia commutativa wird in ihrer Zweckfreiheit gesehen. Sie wird zum Ausgangspunkt einer sogenannten monistischen Rechtfertigung rechtlicher Regelungen.142 Gerade in der angelsächsischen Diskussion hat der sogenannte „corrective-­ justice-Ansatz“ eine gewisse Beachtung gefunden. Demzufolge dient das Privatrecht nicht als Mittel zur Erreichung von Zwecken, sondern ist Zweck an sich selbst.143 So unternimmt Weinrib eine Verbindung des aristotelischen Ge-

136 

Wiethölter, FS Böhm, 1965, Wirtschaftsordnung und Rechtsordnung, S. 42, 56 f. Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, S. 18 f. 138 Etwa Bergmann, Der ungerechte Vertrag, S. 15 f. 139  Gordley, Cal. L. Rev. 69 (1981), S. 1587, 1588 ff. Dagegen Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag, S. 86 ff. 140  v. Aquin, Summa theologica, II–IIae q. 77 a.1 s.c. 141  Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 36 f. im Anschluss an Weinrib, Correlativity and Personality, in: Weinrib (Hrsg.), Corrective Justice, S. 28. 142  Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 65, 457. 143  Weinrib, The Idea of Private Law, S. 6, 21. 137 

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

rechtigkeitsbegriffs mit den Herausforderungen des modernen Zweckbegriffs kantischer Prägung.144 Die Selbstzweckhaftigkeit des Privatrechts zeigt sich für Weinrib vor allem an der Zweiseitigkeit des Vertragsverhältnisses. Verbinden sich zwei Individuen mittels des Vertrags, so befinden sie sich in einem Verhältnis der „correlativity“. Diese von Weinrib so genannte „Bipolarität“ des Vertragsverhältnisses rechtfertige es, die iustitia commutativa als einzige Idee des Privatrechts zu identifizieren.145 Das „Wesen“ des Privatrechts soll monistisch und zumindest an seinem Ausgangs- und Zielpunkt mit aristotelischen Mitteln bestimmbar sein.

(bb) Das „Wesen“ des Schuldrechts des BGB Entsprechend wird der Anspruch erhoben, das sogenannte „Wesen“ der Normen des BGB, wie etwa zu Eigentum, Delikt und Vertrag, allein auf die ausgleichende Gerechtigkeit zurückzuführen.146 Der Ansatz der „corrective justice“ identifiziert als Defizit des Schuldvertragsrechts vor allem, dass die Fokussierung des bipolaren Vertragsverhältnisses die demokratische gesellschaftliche Praxis unterminieren könnte.147 Die privatrechtliche Entfaltung der ausgleichenden Gerechtigkeit verlange zwar, den Menschen als zweckverfolgendes freies und gleiches Wesen zu betrachten, und könne nicht überholt werden. Sie müsse aber durch das öffentliche Recht und durch Gemeinwohlkonzeptionen ergänzt werden, um dem Menschen als „Wesen aus Fleisch und Blut“ gerecht zu werden.148 Dieses „Defizit“ der Tauschgerechtigkeit möchten daher neo-aristotelische Ansätze der verteilenden Gerechtigkeit durch einen inhaltlich aufgeladenen Vertragsbegriff jenseits der Vertragsfreiheit beheben, ohne die sogenannten „Defizite“ auf Grundrechte oder Gemeinwohlkonzeptionen auszulagern.149

b. Verteilungsgerechtigkeit Die verteilende Gerechtigkeit verlangt über die iustitia commutativa hinaus, die gesamten Umstände eines Vertrags nicht nur zu berücksichtigen, sondern normativ gewendet zu seiner Beurteilung heranzuziehen. Der aristotelische Ansatz wird hier genutzt, um konkrete materiale Konzepte in eine positive Rechtsordnung zu lesen. Die Verteilungsgerechtigkeit erscheint in dieser Konzeption als normative Grundlage. Die Vertragsfreiheit wird zu einem Postulat, das die 144 

Weinrib, The Idea of Private Law, S. 63–66. Weinrib, The Idea of Private Law, S. 63–66 und ders., Correlativity, in: Weinrib (Hrsg.), Corrective Justice, S. 9–37, 15 f., 20 f. 146  Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 457. 147  Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 465. 148  Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 466. 149  Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 444 f. 145 

D. Gerechtigkeit als Rechtswert und das Vertragsrecht

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Tauschgerechtigkeit und die ihr gleichrangige Verteilungsgerechtigkeit nurmehr flankiert.150 Für eine inhaltliche normative Grundlage reicht aus Sicht der neo-aristotelischen Privatrechtstheorie ein Rückgriff auf die iustitia commutativa nicht mehr aus. Schon Rechtsinstitute wie der Wegfall der Geschäftsgrundlage können aus dieser Perspektive nur erklärt werden, wenn die Umstände und der Kontext des Austauschverhältnisses umfassend berücksichtigt werden. Allein die Verteilungsgerechtigkeit als normative Leitidee ermögliche die weitgehende Berücksichtigung der Umstände und des Kontextes des Austauschverhältnisses. Erst unter Rückgriff auf sie kann demzufolge die geforderte „Kontextualisierung, Konkretisierung und Politisierung des Vertragsrechts“ erfolgen.151 Die Leistungsfähigkeit eines solchen Rückgriffs auf die aristotelische Verteilungsgerechtigkeit wird durch Beispiele belegt. Dogmatische Beispiele bilden aus dieser Perspektive insbesondere das soziale Mietrecht, der Verbraucherschutz und der Diskriminierungsschutz.152

III. Metaphysische und praktische Probleme der neo-aristotelischen Gerechtigkeitsdebatte Die Aufnahme der Unterscheidung von ausgleichender und verteilender Gerechtigkeit vor dem Hintergrund des aristotelischen Handlungskonzepts führt zu drei grundlegenden Problemen: erstens zum Problem der Inanspruchnahme metaphysischer Voraussetzungen, zweitens zum Problem der Zwecksetzung und drittens zum Problem der dogmatischen Anschlussfähigkeit an die existierende Zivilrechtsordnung, insbesondere an die Vertragsfreiheit.

1. Die Metaphysik der „Mitte“ Das aristotelische Handlungskonzept zielt auf das Gute als Ziel allen Strebens und damit auch als Entscheidungskriterium. Das Gute soll nicht weiter verfügbar sein, da wir es „um seiner selbst willen erstreben“.153 Das bedeutet, dass der Sinn der Zwecke für den einzelnen Handelnden ebenfalls in dem Wesen bereits enthalten und insoweit immer auch ein Stück weit unverfügbar ist. 150 

Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 442 f. Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 240. 152  Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 299–302 zu den Mieterschutzvorschriften als Erscheinungsform der sozialen Gerechtigkeit für das knappe Gut „Wohnraum“, S. 351–355 zum gruppenspezifischen Schutz des Schwächeren im Verbraucherrecht als Ausdruck der Verteilungsgerechtigkeit und S. 379 für eine Deutung des Diskriminierungsschutzes als Fortsetzung des ohnehin im Vertragsrecht wirkenden Grundsatzes der Verteilungsgerechtigkeit. 153  Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094a 1–21 (S. 5). 151 

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

Das Ziel hängt vielmehr von Wesensbestimmungen ab, die nicht instrumentalisiert werden können. Die Handlungen zielen allein auf die Realisierung dieser Wesensbestimmungen. Der Zusammenhang zwischen den Handlungen und den Wesensbestimmungen wird als Entelechie bezeichnet. Eine Wesensbestimmung führt zu dem Problem, dass nach Aristoteles nur der „Phronimos“, der kluge Mensch, aus einer vernünftigen Überlegung heraus ermitteln kann, worin das Ziel besteht. Der „Phronimos“ zeigt eine „Haltung der Mitte“.154 Nur der kluge Mensch ist zu einer korrekten Bestimmung der „Mesotes“ (Mitte) in der Lage.155 Der „Phronimos“ kennt seine Umweltzustände und deren Ziele in besonderer Weise. Das richtige Ziel wird so immer schon als Teil einer Tradition oder von vorgegebenen gesellschaftlichen Zusammenhängen betrachtet. Der einsichtige Kluge fügt sich hier.156 Alternativen bestehen nicht. Die Ansätze zur „corrective justice“ nehmen dieses „Unverfügbarkeitsproblem“ des metaphysischen Handlungskonzepts nicht auf. Vielmehr gehen sie nur von einer einzigen Idee des Privatrechts aus. Eigentum, Delikt und Vertrag werden hier Wesensbestimmungen unterzogen, die einen Letztbegründungsanspruch erheben.157 Allerdings werden zu dieser Wesensbestimmung nicht die aristotelischen Instrumente herangezogen. In der Folge werden auf Grund des Letztbegründungsanspruchs dennoch andere Begründungsstränge als unzureichend oder nicht wesensgerecht abgelehnt. Die ausgleichende Gerechtigkeit wird letztlich als das einzige Ziel des Privatrechts ausgegeben. Ein Vorteil dieses in dieser Form angesichts der pluralen Begründungsstränge des Privatrechts wie auch des Phänomens des Rechtspluralismus158 evident uneinlösbaren Theorieanspruchs kann allenfalls in der Zuspitzung und dem damit erhobenen Letztbegründungsanspruch gesehen werden. Allerdings läuft dieser ohne eine Auseinandersetzung mit den metaphysischen Hintergrundannahmen ohnehin leer, da eine normative Rechtskritik jenseits einer auch naturwissenschaftlich oder empirisch tragfähigen Erkenntnistheorie behauptet wird.

154 

Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1138b 18–1139a 1 (S. 153). Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1106b 27–1107a 14 (S. 45): „So ist also sittliche Werthaftigkeit eine feste, auf Entscheidung hingeordnete Haltung; sie liegt in jener Mitte, die die Mitte in Bezug auf uns ist, d.h. durch jenen, mit dessen Hilfe der Einsichtige (die Mitte) festlegen würde.“ 156  Krämer, Die Grundlegung des Freiheitsbegriffs in der Antike, S. 255, 267. 157  Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 457, 461, 463. 158 Für einen normativ informierten, situativen Umgang mit dem Phänomen des Rechtspluralismus siehe dagegen Seinecke, Das Recht des Rechtspluralismus, S. 362 f. 155 So

D. Gerechtigkeit als Rechtswert und das Vertragsrecht

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2. Ziele ohne Zwecksetzung Die Reduktion des Privatrechts auf eine Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit ohne den Kontext einer Handlungstheorie wird insbesondere bei der Frage nach der Zwecksetzung noch problematischer. Für Aristoteles besteht die Freiheit vor allem in der Einsicht in die Prinzipien des bestehenden Zwecks.159 Freiheit kann daher weder als Handlungsfreiheit noch als Willensfreiheit angesehen werden.160 Die Freiheit des Aristoteles ist vielmehr eine theoretische Tätigkeit der Erkenntnis. Erkenntnis ist nach Aristoteles die höchste Form von Praxis, die nur wenigen zukommt.161 Es ist in der praktischen Philosophie daher überwiegend anerkannt, dass Aristoteles kein Konzept von Willensfreiheit entwickelt, das das Kriterium des richtigen Ziels selbst jenseits des Guten einer menschlichen Wahl zugänglich macht. Seine Tugendlehre ist nach allgemeiner Ansicht durch eine letztlich deterministische Ansicht geprägt. Sie ist auf die Identifikation von Mitteln zur Erreichung eines bestehenden Ziels ausgerichtet.162 Es fehlt ihr insoweit jede spezifische moralische Begründung im Ausgang oder unter Berücksichtigung der Willensfreiheit.163 Was das richtige Ziel ist, wird letztlich allein durch den Verweis auf bestehende gesellschaftliche Umstände und ihre Traditionen bestimmt.164 Die Gerechtigkeitsdebatte der Privatrechtstheorie blendet diese für Aristoteles zentrale metaphysische Hintergrundannahme von Freiheit als bloßer Erkenntnis aus. Was für die Tugendethik in der praktischen Philosophie gilt, gilt damit auch für die Rezeption neo-aristotelischer Privatrechtstheorie im Schuldvertragsrecht. Die freie Zwecksetzung wird vor allem als formales Problem gesehen und nicht als tauglicher Gegenstand des Schuldvertragsrechts. Nur durch das kantische Autonomiedenken gleichsam verblendete Positionen würden eine solche über den „common sense“ – wie er noch in der Spätscholastik präsent gewesen 159 

Aristoteles, Metaphysik XII, 1072b–1073a. Esser, Kants Tugendlehre, S. 122 und 130 f. 161  Aristoteles, Metaphysik XII, 1072b 18–22, wonach sich „die Vernunft in Ergreifung des Intelligiblen“ selbst erkennt. Für die zentrale Bedeutung dieser metaphysischen Vorgabe für die Ethik etwa Esser, Kants Tugendlehre, S. 120 f. 162  So im Ergebnis auch Rapp, Freiwilligkeit, Entscheidung, Verantwortlichkeit (III, 1–7), in: Höffe (Hrsg.), Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, 1995, S. 109–133, 131, der aber einschränkend darauf hinweist, dass wir der Nikomachischen Ethik zufolge „für die dauerhaften Einstellungen, aus denen die Ziele hervorgehen, mitverantwortlich“ seien. 163  Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, S. 259; Höffe, Aristoteles’ universalistische Tugendethik, in: Rippe/Schaber (Hrsg.), Tugendethik, 1998, S. 42–68, 65 sieht lediglich eine gewisse Relativierung der Strebensethik in der Durchführung der Nikomachischen Ethik, insb. durch einzelne Beispiele wie das Unglück des alten Priamos, an denen Aristoteles erkennen lasse, dass es eine Kluft zwischen ethischem Handeln und gelungenem Leben geben kann. 164  Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, S. 252. 160 So

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

sei – hinausgehende Debatte einfordern.165 Einige Rezeptionslinien des aristotelischen Gerechtigkeitsbegriffs sehen daher die Philosophie der Moderne, die mit Kant von einem freien Begehrungsvermögen des Individuums ausgeht, als einziges Hindernis auf dem Weg zur wahren aristotelischen (Rechts-)Erkenntnis an.166 Aus dieser Perspektive wird zudem betrauert, dass das Hindernis der modernen praktischen Philosophie der Autonomie aber nicht mehr überwunden werden könne, sobald man durch sie beeinflusst worden sei.167 Andere Rezeptionslinien gehen davon aus, dass der Vertragsschluss nicht mehr als Übereinstimmung zweier Willensäußerungen verstanden werden sollte, sondern als bloße zweiseitige Erklärung eines vereinigten Willens unter dem Schirm der stets maßgeblichen ausgleichenden Gerechtigkeit.168 Die neo-aristotelische Diskussion kreist jedenfalls vor allem um die Einschränkung der Zwecksetzung und nicht auch um die Berücksichtigung der Möglichkeit der individuellen Zwecksetzungen in einer Rechtsordnung. Ebenso wie die Metaphysik des Aristoteles trifft daher auch die neo-aristotelischen Ansätze der ausgleichenden und der verteilenden Gerechtigkeit die Kritik,169 bestenfalls das Privatrecht und seine Moral auf vorhandene Interessen und Traditionen ihrer Einhegung zu reduzieren.

3. Die Härte und Unangemessenheit der aristotelischen Orientierung für das Schuldvertragsrecht Die analytische Qualität der Unterscheidung zwischen ausgleichender und verteilender Gerechtigkeit wird von den entsprechenden Privatrechtstheorien zwar ohne das metaphysische Handlungskonzept des Aristoteles hervorgehoben. Implizit werden aber die Hintergrundannahmen der aristotelischen Handlungsmetaphysik weitergetragen und gerade bei dem Versuch zum Problem, den jeweiligen Gerechtigkeitsbegriff an die Schuldrechtsdogmatik anzuschließen.

a. Ausgleich und Vertragsrecht Der Ansatz der ausgleichenden Gerechtigkeit deutet die Verbindlichkeit von Verträgen aus seiner monistischen Perspektive nicht mehr als Ausdruck individueller Selbstbestimmung. Vielmehr verleihe das Vertragsrecht erst durch Rege-

165  Gordley, Foundations of Private Law, S. 31. Für eine argumentative Aktualisierung der aristotelischen Tugendlehre trotz Beachtung der Tatsache, dass für Aristoteles’ Ethik einige Menschen „von Natur“ aus Sklaven sind, etwa MacIntyre, Der Verlust der Tugend, S. 213–217. 166  Gordley, Foundations of Private Law, S. 31. 167  Gordley, Foundations of Private Law, S. 31. 168  Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 359–361. 169  Für die Moral etwa Tugendhat, Probleme der Ethik, S. 41, Höffe, Aristoteles oder Kant, S. 299, Esser, Kants Tugendlehre, S. 121–124.

D. Gerechtigkeit als Rechtswert und das Vertragsrecht

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lungen des Vertragsschlusses dem Einzelnen die Macht, wechselseitig subjektive Forderungsrechte zu schaffen.170 In Analogie zur Übertragung körperlicher Sachen wird davon ausgegangen, dass beim Vertragsschluss ebenfalls ein Recht an einem Gegenstand übertragen wird. Als Gegenstand wird dabei die versprochene Leistungshandlung identifiziert. Die Existenz dieser idealen, aber übertragbaren Gegenstände hängt demnach im Eigentums- wie im Vertragsrecht fundamental vom Paradigma der gleichen Freiheit ab.171 Etwaige Einschränkungen des Schuldners durch Leistungspflichten stellen daher keine Freiheitseinschränkungen dar.172 In der Folge wird die Nichterfüllungshaftung der §§ 280 Abs. 1, 3, 281 Abs. 1 BGB als Gebot ausgleichender Gerechtigkeit gedeutet. Mit dem Vertragsschluss würde ein subjektives Recht auf vertragsgemäße Erfüllung begründet. Entsprechend müsste ein Verstoß gegen den Erfüllungsgrundsatz durch Schadensersatz ausgeglichen werden.173 Nicht gerechtfertigt werden könne dagegen die Herausgabe des stellvertretenden Commodums nach § 285 BGB. Das BGB sei an dieser Stelle gleichsam falsch. Die Herausgabe eines Veräußerungsgewinns kann nämlich nicht auf den ersten ursprünglich geschlossenen Vertrag zurückgeführt werden. Mit der Gewährleistung der ausgleichenden Gerechtigkeit ist dieser Anspruch daher nicht vereinbar.174 Das Konzept des Rechtsgüterschutzes bei § 823 Abs. 1 BGB dient dem „corrective-justice-Ansatz“ zufolge allein dem Schutz von Handlungsgrenzen. Die Rechtsgüter sollen nach verallgemeinerbaren Grundsätzen als wechselseitig abgesteckte Freiheitssphären gedeutet werden.175 Die Rechtsgüter Leben und Gesundheit werden darauf zurückgeführt, dass kein Mensch ein Recht an einem anderen Menschen haben könne, da der Leib die Substanz eines privaten absoluten subjektiven Rechts sei.176 Dies sei auch die Basis des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.177 Unklar bleibt aber, wie die allgemein anerkannten weiteren sonstigen Rechtsgüter, beispielsweise das allgemeine Persönlichkeitsrecht178, das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb179 und das Recht der elterlichen Sorge180 aus der monistischen Perspektive des „corrective-justiceAnsatzes“, gerechtfertigt werden können. Dabei verweisen insbesondere die 170 

Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 323 f. Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 325, 328. 172  Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 335 ff., 344 f. 173  Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 284 ff., 292 f. 174  Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 357. 175  Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 98 ff. 176  Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 103. 177  Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 103, Fn. 73. 178  Etwa BGH NJW 2013, 793 Rn. 30 und BVerfG NJW 2006, 3409. 179  BGH NJW 2003, 1041. 180  BGHZ 111, 168 und BGH NJW 2002, 2566. 171 

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

fehlende Begründbarkeit des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wie auch die Ablehnung des Herausgabeanspruchs aus § 285 BGB auf ein Defizit des „corrective-­justice-Ansatzes“: seine Beschränkung auf einen einzigen Erklärungsgrundsatz, verbunden mit einem Letztbegründungsanspruch.

b. Verteilung und Vertragsrecht Der Ansatz der verteilenden Gerechtigkeit vermeidet im Unterschied zum „corrective-justice-Ansatz“ durchgängig eine vertiefende Thematisierung des Vertragsschlusses oder der Vertragsfreiheit. Er beleuchtet vor allem die gesetzlichen Einschränkungen der Vertragsfreiheit, um die sozialen Umstände eines Vertrags maximal zu berücksichtigen.

(aa) Das soziale Mietrecht als Muster des Vertragsrechts Beispielsweise wird die Risikoverteilung im Mietrecht als Durchbrechung des bipolaren Austauschvertrags angesehen. Da soziale Gesichtspunkte im Wohnraummietrecht eine herausragende Rolle spielen, müssten sie auf die Verteilungsgerechtigkeit zurückgeführt werden.181 § 549 I BGB erscheint damit als direkter Ausfluss der iustitia distributiva und ihrer situativen Verteilungsmaßstäbe.182 Insbesondere die Einschränkungen der Vertragsfreiheit bei der Vereinbarung der Ausgangsmiete und von Mieterhöhungen sowie bei der Auflösung des Mietverhältnisses bilden demzufolge unterschiedliche Ausprägungen der Verteilungsgerechtigkeit.183 Zwar werden auch die entsprechenden verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Mietrecht erwähnt. Allerdings werden auch diese wiederum als Ausdruck der Verteilungsgerechtigkeit angesehen, die es ermögliche, rechtspolitische Argumente offenzulegen.184 Daraus wird geschlossen, dass das soziale Mietrecht – entgegen der überwiegenden Ansicht, die von der Austauschgerechtigkeit ausgehe – ein „integrativer Bestandteil“ des Vertragsrechts sei, da es die iustitia distributiva in beispielhafter Weise konkretisiere.185 Die Entfernung dieses neo-aristotelischen Ansatzes zu Vertragsfreiheit und Privatautonomie wird hier besonders deutlich. Aus der Perspektive der Vertei181 

Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 302, im Anschluss an Lammel, JZ 1986, 832, 835. Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 308. 183  Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 313–317 zur Einschränkung des Kündigungsrechts und der Miethöhe, S. 317–320 zu Einschränkungen der Miethöhe und S. 322–327 wiederum zu auch verfassungsrechtlich geprägten Einschränkungen bei Auflösung des Mietverhältnisses. 184  Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 346 f. 185  Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 346 f. 182 

D. Gerechtigkeit als Rechtswert und das Vertragsrecht

59

lungsgerechtigkeit ist das soziale Mietrecht ein Muster für das Vertragsrecht. Das soziale Mietrecht dagegen als Sondermaterie und Abweichung vom Grundsatz der Vertragsfreiheit anzusehen, ist nurmehr „auf der Grundlage der herrschenden Konzeptionen“186 des Vertragsrechts nachvollziehbar, das heißt im Ausgang von der Vertragsfreiheit, gegen die sich eine neo-aristotelische Perspektive letztlich immer auch richtet.

(bb) „Verbraucherschutzrecht“ als Muster der Rechtssicherheit Auch die verbraucherschutzrechtlichen Vorschriften werden vor allem als Ausdruck der Verteilungsgerechtigkeit interpretiert. Als Ausgangspunkt dient dabei der Gedanke des Schutzes des Schwächeren. Verbrauchervertragsrecht muss demzufolge Freiheitsbefugnisse an Unternehmer und Verbraucher verteilen.187 Die Schutzvoraussetzungen des Verbraucherbegriffs müssen unabhängig von der Person im Einzelfall erfüllt sein. Diese durch „formale Materialisierung“ erzielbaren Gewinne an Rechtssicherheit könnten auch etwaige Fehlsteuerungen, wie etwa die Instrumentalisierung des Verbraucherrechts zur Binnenmarktförderung, rechtfertigen.188 Jedenfalls sprechen weder die Dynamik des Verbraucherrechts noch seine unterschiedlichen Instrumentalisierungen und Funktionen dagegen, dass es ein Teil des BGB und seines Vertragsrechts ist.189 Die Deutungen des Miet- und des Verbraucherrechts als Muster für das Vertragsrecht aus der Perspektive der iustitia distributiva verweisen wiederum auf ein Defizit des neo-aristotelischen Ansatzes, das, wie auch schon beim „corrrectiv-justice-Ansatz“ selbst, benannt wird: die teils erst noch herzustellende Anschlussfähigkeit an das geltende Recht. Allerdings nimmt sich der Ansatz der Verteilungsgerechtigkeit insoweit zurück, als keine endgültigen Antworten auf Verteilungsfragen gegeben werden sollen.190 Zwar wird die umfassende Verwirklichung der Verteilungsgerechtigkeit mittels Vertragsrecht für möglich gehalten.191 Allerdings müssen dabei im Unterschied zum Ansatz der „corrective justice“ jedenfalls der Gesetzgeber und das verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip beachtet werden.192

186 

Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 347. Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 356. 188  Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 356. 189  Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 359. 190  Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 272. 191  Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 279 f., auch im Anschluss an Gsell, JZ 2012, 809, 815, die Umverteilungsmaßnahmen im Namen eines effektiven Schwächerenschutzes für unvermeidbar hält. 192  Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 279 f. 187 

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

c. Autorität und Tradition als Alternativen? Die jedenfalls implizite Einbeziehung des metaphysischen Handlungskonzeptes durch die Tauschgerechtigkeit oder die Verteilungsgerechtigkeit als obersten Rechtswerten führt letztlich zu einer nicht überzeugenden Härte und Unangemessenheit des metaphysischen Letztbegründungs- oder Richtigkeitskriteriums im Schuldvertragsrecht jenseits eines auf übereinstimmenden Willenserklärungen beruhenden Vertragsschlusses. Ihre rechtsphilosophische Begründungsdimension fällt jedenfalls im Hinblick auf die rechtsordnungsunabhängige Identifikation normativer Rechtsstrukturen letztlich hinter die Beschränkungen der ideengeschichtlichen Aristoteles-Rezeption zurück, sofern sie ausgleichende und verteilende Gerechtigkeit allein autoritativ-traditiv im Rahmen der Rechtsgeschichte heranzieht.193

IV. Der doppelte Widerspruch Die neo-aristotelischen Gerechtigkeitskonzeptionen geraten durch ihren metaphysischen Letztbegründungsanspruch in ihrer Anwendung auf die geltende Rechtsordnung des BGB in einen doppelten Widerspruch. Sie entkleiden einerseits Aristoteles’ Gerechtigkeitslehre ihres zentralen metaphysischen Handlungskonzeptes, um den Theoriebaustein der Gerechtigkeit auf das geltende Schuldvertragsrecht und die Vertragsfreiheit anzuwenden.194 Sie stehen damit also in einem Widerspruch zur aristotelischen Gerechtigkeitslehre, die darauf aufbaut, dass der Zweck des Handelns dem Einzelnen immer schon vorgegeben ist oder für ihn jedenfalls im Rahmen einer Strebensethik identifizierbar ist.195 Sie passen aber auch andererseits nicht zu einer dogmatischen Rechtsordnung, deren Schuldvertragsrecht von der Vertragsfreiheit ausgeht. Als monistische Ansätze können sie die Vielfalt menschlicher Bedürfnisse, Handlungsweisen, Vertragsschlüsse und Regelungsbedürfnisse nicht angemessen verhandeln, die im Vertragsrecht ihren Niederschlag finden. Vielmehr werden Regelungen wie § 285 BGB als nicht gerechtfertigte Ansprüche gedeutet196 oder das soziale Mietrecht über Wohnräume als Regelfall vertraglicher Normsetzung angese-

193  Für eine solche rechtshistorische Richtung Zimmermann, Savignys Vermächtnis, insbes. S. 75 f., und Jansen, The Making of Legal Authority, S. 97 f., 139 f., die von einer argumentativen Vermittlung normativer Gehalte weitgehend absehen wollen. Zu den Problemen dieser Alternative bei der Aktualisierung historisch tradierter Begründungsgänge siehe auch Teil 2 A. I. 1. 194  Dazu Teil 2 D. I. 195  Zu den philosophischen Hintergrundannahmen siehe Teil 2 D. II. 196  So der Ansatz der ausgleichenden Gerechtigkeit, siehe Teil 2 D. III. 3.a.

E. Die soziologische Einbettung des Vertrags

61

hen.197 Individuelle Selbstbestimmung und Autonomie werden dabei für das Vertragsrecht zwar vorausgesetzt, aber infolge der aristotelischen Hin­ter­grund­ an­nah­men als theorieexterne Probleme angesehen, die objektiv gerechten Normen zu unterwerfen sind.

E. Die soziologische Einbettung des Vertrags Rechtssoziologische Ansätze zielen seit Max Weber auf die Erforschung und Berücksichtigung der sozialen Bedeutung und Realität rechtlich erheblicher Handlungen.198 Die Betonung der gesellschaftlichen Umstände des Rechts führt dazu, dass auch rechtssoziologische Theorien von einer bestimmten Funktion des Rechts ausgehen.

I. Recht als Steuerungsinstrument Soziologische Ansätze gehen von einer starken Rückbindung des Privatrechts an gesellschaftliche Entwicklungen aus und fordern entsprechend ein Rechtsverständnis, das zu den gesellschaftlichen Umständen passt. Da gesellschaftlich in der Folge von Industrialisierung und Massenverkehr eine Entindividualisierung zu beobachten sei, müsse aus dieser soziologischen Perspektive das Vertragsrecht der Gegenwart jenseits von Kriterien wie individueller Selbstbestimmung oder Autonomie rekonstruiert werden. Es diene – wie die Rechtsordnung insgesamt – allein der Stabilisierung kollektiver Erwartungshaltungen.199 Die besondere Rolle des rechtlichen Normzusammenhangs geht der systemtheoretischen Perspektive zufolge nicht auf Freiheit, Autonomie oder Gerechtigkeit zurück, sondern auf die Erfüllung seiner zwei gesellschaftlichen Grundfunk­ tionen: Verhaltenssteuerung und Konfliktlösung. 200 197 

So der Ansatz der Verteilungsgerechtigkeit, siehe Teil 2 D. III. 3.b. Raiser, JZ 2008, 853. Für Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, MWG I/22–1, S. 193 f., in einem Manuskript, das die Marktgesellschaft als Ordnung von Tauschhandlungen beschreibt und ders., Wirtschaft und Gesellschaft, MWG I/22–3, S. 308–310 und 424–426, wonach ein funktionierendes Vertragsrecht eine der zentralen Voraussetzungen für die zweckrationale Marktwirtschaft der Moderne ist. 199  Vgl. für ein Verständnis von Recht als einem überindividuellen, nicht willensbasierten Kommunikationssystem Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 43 f., 69, 242 und bereits Wiethölters prozedurale Rechtstheorie, die das private Individuum allenfalls noch „als Funktionär der Gesamtrechtsordnung“ (Ludwig Raiser) sieht. Dazu etwa Fischer-Lescano/ Teubner, Prozedurale Rechtstheorie: Wiethölter, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 2009, S. 75–92. Sogar für eine bis in den Einzelfall hinein verhaltenssteuernde Wirkung des Privatrechts im öffentlichen Interesse Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, S. 60, 74 f. 200  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 157; Raz, Praktische Gründe und Normen, 198 

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

II. Handlung als soziologischer Grundbegriff und seine Transformation zum System Aus systemtheoretischer Perspektive verschwindet der Raum für einen freien individuellen Handlungswillen. 201 Zwar kommt es schon bei Durkheim oder Weber auf den sozialen Sinn individuellen Handelns an. Allerdings wird Handeln bei Max Weber noch als ein menschliches Verhalten bezeichnet, wenn und sofern der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden.202 Die Beleuchtung unterschiedlicher gesellschaftlicher Funktionen des Rechts geht damit auch soziologisch auf die Beobachtung individuellen Handelns zurück. So erhebt insbesondere Max Weber den Anspruch, den Zusammenhang zwischen politischem Liberalismus, wirtschaftlichem Kapitalismus und okzidentaler Kultur im Ausgang von individuellem Handeln beobachten und beschreiben zu können. 203 Weber unterlegt dem individuellen Handeln so einen objektiven Sinn, behält es aber, anders als gegenwärtige Theorien der sozialen Systeme, im Blick. 204

1. System und Kommunikation Die Theorie der sozialen Systeme geht dagegen von der Annahme aus, dass es Systeme gibt. Ihre Aufgabe besteht darin, die Entwicklung dieser gesellschaftlichen Systeme aufzuzeigen. Der Systembegriff bezeichnet nach Luhmann etwas, „was wirklich ein System ist, und läßt sich damit auf eine Verantwortung für Bewährung seiner Aussagen an der Wirklichkeit ein.“205 Die Systemtheorie selbst erscheint damit nicht als eine empirische Theorie, sondern als eine Theorie, in die empirische Forschung lediglich eingebunden werden soll. Luhmanns Systemtheorie geht davon aus, dass soziale Systeme sich allein aus Kommunikationszusammenhängen reproduzieren. 206 Damit kehrt Luhmann die Begründungsstruktur der Sinngebung von sozialem Verhalten, wie sie noch bei Weber zu finden ist, um. Bei Weber wird Intersubjektivität noch als eine empirische Voraussetzung sozialen Handelns eingeführt. 207 Für die Theorie soS. 210; Hart, Begriff des Rechts, S. 112 f.; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, S. 59; Seelmann/Demko, Rechtsphilosophie, S. 55. 201 Etwa Nassehi, Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen, S. 48. 202  Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, MWG I/23, S. 149. 203  Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, MWG I/23, S. 149, 172–182 und S. 381 f. 204  Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, MWG I/23, S. 175 f. für zweckrationales Handeln als ein Handeln, das Erwartungen der Außenwelt oder von anderen Menschen rational als Mittel für erstrebte, abgewogene eigene Zwecke einsetzt. 205  Luhmann, Soziale Systeme, S. 30. 206  Luhmann, Wissenschaft der Gesellschaft, S. 19 und Kneer/Nassehi/Luhmann, Verstehen des Verstehens, S. 349. 207  Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, MWG I/23, S. 175–179, insb. S. 175 und 176 f., der soziales Handeln auf ein Bündel zweckrationaler, wertrationaler, affektueller und tra-

E. Die soziologische Einbettung des Vertrags

63

zialer Systeme macht dagegen erst die Kommunikation eine Beobachtung von Intersubjektivität möglich. 208

2. Die Vielfalt der sozialen Systeme Um die Entstehung der einzelnen sozialen Systeme aufzuzeigen, greift Luhmann auf Begriffe und Zusammenhänge aus der Evolutionstheorie zurück. Diese kennt kein Ziel oder keinen Zweck der Entwicklung eines sozialen Systems. Eine evolutionäre Entwicklung kann allein rückblickend beobachtet werden. Entwicklungsgesetze können nicht sicher behauptet werden und Zukunft wird als nicht prognostizierbar angesehen. Es ist vielmehr von „Unwiederholbarkeitsannahmen“ auszugehen, da Entwicklung nur unter einmaligen und nicht unter bleibenden Bedingungen zustande komme. 209 Das Recht erscheint als ein soziales System, das allein durch die Unterscheidung von Recht und Unrecht codiert und programmiert ist. 210 Der Begriff des Verstehens wird nicht bestimmt oder ausdifferenziert. Was grundsätzlich Kommunikation ausmacht, wird innerhalb der Systemtheorie nicht klar bestimmt. 211 Für die Frage nach der Bedeutung des Privatrechts und seines Inhalts führt die Unbestimmtheit des Kommunikationsbegriffs dazu, dass zwei Richtungen der rechtswissenschaftlichen Rezeption von Systemtheorie unterschieden werden müssen: eine, die sich auf die Beobachtung und Beschreibung des geltenden Rechts beschränkt, und eine andere, die die systemtheoretischen Beschreibungen und Erkenntnisse normativ wendet.

ditionaler Bestimmungsgründe zurückführt, das in seinem Sinngehalt die Chance auf eine soziale Beziehung wie Kampf, Feindschaft, Liebe, Freundschaft, Marktaustausch und weitere eröffnet. 208  So betont Luhmann, Soziale Systeme, S. 498 f. die einheitsstiftende Bedeutung der Kommunikation. Für das Recht als gesellschaftliches System, das zwischen Recht und Unrecht unterscheidet, gilt nach Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 35: „Die Opera­ tionsweise, die das Gesellschaftssystem produziert und reproduziert, ist die sinnhafte Kommunikation.“ Mit Bourdieu spricht Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 126 auch von der Macht oder Gewalt der Sprache, um sich aber sogleich, Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 127, von so „starken Worten“ zu distanzieren. 209  Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 413 ff., insb. S. 416. 210  Zu der aus rekursiven Verweisen von Rechtsoperationen auf Rechtsoperationen resultierenden operativen Geschlossenheit näher Calliess, Systemtheorie: Luhmann/Teubner, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 2008, S. 53–71, insb. S. 56–59. 211  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 128 f. verweist lediglich auf Wiederholungen von Kommunikationsakten, die den Möglichkeitsspielraum für Alternativen einschränken. Ebenso Luhmann, Soziale Systeme, S. 498 f.

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

III. Die Beobachtung und Beschreibung des Rechts Die institutionelle Umsetzung des Rechts führt aus der beschreibenden Perspektive der Systemtheorie dazu, dass Geltungsfragen inhaltlicher Art ausgeblendet werden. Recht dient der Stabilisierung von Erwartungshaltungen. Diese Leistung des Rechts wird rechtssoziologisch als Evolution des Rechts beobachtet und beschrieben. 212

1. Evolution des Rechts Recht entwickelt sich aus systemtheoretischer Perspektive evolutiv. Es reagiert teils mit Variationen auf äußere Einflüsse und verwendet teils die „Stabilisierung zur Motivation von Innovationen“. 213 Demnach schafft eine Rechtsordnung durch regulatorische Einflüsse auf Lebenswelten erst Konflikte, die sie dann wiederum zu bewältigen hilft. 214 Normenbegründung oder Norminhalt interessieren, so Luhmann, in diesem Zusammenhang nicht mehr. Recht ist allein das, was vom Rechtssystem selbst in Geltung gesetzt wird. Geltung wird zu einem bloßen Symbol, 215 das von historischen Ursprüngen, Gründen und externen Referenzen frei ist. 216 Daher müsse man von „Zielformeln wie Frieden und Gerechtigkeit auf System­ana­­ lyse“ umstellen. 217 Die Frage, wie erfolgreich das Rechtssystem umgesetzt wird und sich weiter fortschreibt, hängt davon ab, dass es sich erfolgreich reproduziert. Das hängt wiederum von Zukunftseinschätzungen ab. Langwellige Entwicklungsschübe, wie etwa eine Heils- bzw. Verfallsgeschichte, oder Generallinien, wie die auf die Verwirklichung eines Ziels ausgerichtete Positivierung überpositiver Normbestände, gibt es in dieser Konzeption nicht. 218 Die systemtheoretische Sichtweise hat daher einen nüchternen Blick auf die gegenwärtigen Rechtsentwicklungen einschließlich der abnehmenden Bedeutung nationaler Verfassungen angesichts der Europäisierung des Rechts und der inhaltlichen Aufladung des Privatrechts: den der Anpassung.

212  Zur Evolution des Rechts als Anpassungsleistung am Beispiel der Europäisierung der Demokratie siehe bereits Jakl, Eine Geschichte der Freiheit?, in: Gutmann/Laukötter/Pollmann/Siep (Hrsg.), Genesis und Geltung, 2018, S. 71–74. 213  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 277 f. 214  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 277 f. 215  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 280. 216  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 289. 217  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 438. 218  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 559.

E. Die soziologische Einbettung des Vertrags

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2. Europäisierung der Demokratie Auf der internationalen Ebene verändert sich aus Sicht der systemischen Funktionszusammenhänge der Demokratiebegriff. Neben die nationale demokratische Legitimation tritt aus der juristischen Perspektive einfach eine weitere, nämlich die internationale Legitimation. Letztere muss, anders als die nationale Legitimation, gar nicht mit dem Gedanken der Selbstbestimmung durch freie, gleiche und geheime Wahlen in Verbindung gebracht werden. Es kann davon ausgegangen werden, dass überstaatliche europäische Demokratie vor allem darin besteht, das weiterzuverarbeiten, was den „Test“ nationaler demokratischer Prozesse bestanden hat.219 Die Eingrenzung der Bedeutung von gleichen, freien und geheimen Wahlen auf eine Säule der Legitimation neben anderen ist aus der systemtheoretischen Perspektive der Anpassung der Preis für den Erfolg des Rechts.220 Dieser Preis ist zu zahlen, da das Recht nur so die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen allumfassend, auch auf internationaler Ebene, stabilisieren kann.

3. Der Inhalt des Vertragsrechts Die „inhaltliche Aufladung“ des Zivilrechts erscheint als ein Prozess, der derzeit im Rahmen der begrenzten Einzelermächtigung des europäischen Gesetzgebers vor allem unter dem Titel „Verbraucherrecht“ vorangetrieben wird. Verbraucherrecht dient der Vollendung des Binnenmarktes und damit der Umsetzung des europäischen Grundrechts der Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 ff. AEUV). Es werden objektive Typen bestimmt, Unternehmer und Verbraucher, und ihnen unabhängig vom Einzelfall bestimmte Rechte und Pflichten auferlegt.221 Das „Schutzniveau“ kann im Rahmen von Risikozuweisungen stetig neu justiert werden – und zwar nicht primär, um den Verbraucherschutz oder den Schutz des Schwächeren zu optimieren, sondern vor allem, um das rechtstechnische Ziel der Vollharmonisierung, das heißt eines einheitlichen Verbraucherrechts in allen Mitgliedsstaaten zu erreichen. 222 219  In diese Richtung v. Bogdandy/Venzke, In wessen Namen?, S. 189, 192; Herdegen, Europarecht, S. 130; Haltern, Europarecht, S. 119. 220  Allgemein für eine solche stärkere Orientierung an der meta-rechtlichen Legitimation bzw. der sog. Out-Put-Legitimation von Begründung im öffentlichen Recht am Beispiel von Ethikkommissionen und -räten siehe Vöneky, Recht, Moral, Ethik, S. 158–163, 230 und 636. 221  Etwa §§ 13, 14 BGB i.V.m. §§ 488 ff. für den Darlehensvertrag, insb. die für Banken neugeschaffene Pflicht zur Kreditwürdigkeitsprüfung vor Darlehensvergabe § 505b BGB. 222 Zur Entwicklung des Verbraucherrechts und seiner Zukunft umfassend Micklitz, Brauchen Konsumenten und Unternehmen eine neue Architektur des Verbraucherrechts?, S. 36–56 zum Verbraucherbegriff. Dabei schreibt Micklitz, Brauchen Konsumenten und Unternehmen eine neue Architektur des Verbraucherrechts?, S. 56 dem Verbraucherrecht über seine Bedeutung für den europäischen Binnenmarkt hinaus für Portugal, Spanien und Griechenland auch eine wichtige Funktion im Demokratisierungsprozess zu. Allerdings schränkt

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

In Deutschland diente der Erreichung des Binnenmarktziels eines vollharmonisierten Verbraucherrechts zuletzt die Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie durch die §§ 355 bis 361 BGB im Jahr 2014.223 Vorhandene Regelungen (die Warenverkehrsfreiheit) verlangen nach neuen Regulierungen (dem Verbraucherrecht), die wiederum selbst weitere Regulierungsmaßnahmen (Vollharmonisierung) erfordern, die aber zu Störungen bei der Dienstleistungsfreiheit führen, sodass wiederum neue rechtliche Regulierungen geschaffen werden müssen, die wiederum harmonisiert werden müssen, etc. Das Verbraucherrecht reproduziert sich aus Sicht der Theorie sozialer Systeme europarechtlich also recht erfolgreich selbst, sodass es mit hoher Wahrscheinlichkeit zukunftsfähig ist. 224 Der Preis ist dann die Herausbildung von Handlungstypen (hier: Verbrauchern), deren Willenserklärungen im Rahmen des Vertragsrechts nur in einem paternalistischen Rahmen wirksam werden können. 225 Dieser Rahmen dient aber wiederum vor allem dem europäischen Binnenmarkt, das heißt der optimierten rechtlichen Regulierung des Verhältnisses von Konsumenten und Unternehmen.

IV. Die normative Wendung des systemtheoretischen Ansatzes Recht soll nach Luhmanns systemtheoretisch-funktionalistischem Ansatz lediglich Erwartungshaltungen stabilisieren. Der beschreibende und beobachtende Anspruch der Systemtheorie wird teils auch normativ gewendet. Was die

Micklitz, Brauchen Konsumenten und Unternehmen eine neue Architektur des Verbraucherrechts?, S. 122 im Weiteren die Zukunft des Verbraucherschutzes vor allem auf einen differenzierten, integrierten Rechtsschutz für schwache, verletzliche Verbraucher ein, die nicht in der Lage sind, ihre Rechte selbst durchzusetzen. 223  Das Verbraucherrechterichtlinienumsetzungsgesetz hat die §§ 355 bis 361 BGB neu gefasst und mit Wirkung zum 13.6.2014 ein einheitliches und vollharmonisiertes, verbraucherschützendes Widerrufsrecht geschaffen. 224 So etwa für Eigentums- und Immaterialgüterrechte Wielsch, Zugangsregeln: Die Rechtsverfassung der Wissensteilung, S. 13, der allgemein Wissen und Information als öffentliche Güter versteht, an denen Ausschließlichkeitsrechte zwar ökonomisch überzeugend begründet werden können (so Wielsch, Zugangsregeln: Die Rechtsverfassung der Wissensteilung, S. 20), die aber wiederum auf Grund des Gleichheitssatzes immer dann einzuschränken sind, wenn „es zu Situationen der Angewiesenheit kommt“ (Wielsch, Zugangsregeln: Die Rechtsverfassung der Wissensteilung, S. 282). 225  Zur Kritik an der Ausblendung subjektiver Rechte durch die Systemtheorie siehe Gutmann, Rechtswissenschaft. Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung 1 (2010), S. 194–203. Für subjektive Rechte als „notwendiges Element einer freiheitlichen Rechtsordnung“ insb. auch für die Fortentwicklung des Eigentumsrechts durch Immaterialgüterrechte grundlegend Peukert, Güterzuordnung als Rechtsprinzip, S. 896–899.

E. Die soziologische Einbettung des Vertrags

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gesellschaftliche Praxis vorgibt, wird mit diesem Ansatz in die Rechtsordnung hinein übersetzt. 226

1. Die Verfassung der Gesellschaft als Verfassung des Rechts Eine bestimmte Form der Wirtschaft, die sogenannte Wirtschaftsverfassung einer Gesellschaft, generiert aus dieser Perspektive in der Gegenwart ein transnationales Recht ohne Staat. 227 Eine bestimmte Form technischen Fortschritts, wie etwa das Internet, führt zu einer bestimmten Form der Wissensverfassung. 228 Es wird von einer umfassenden Vergesellschaftung rechtlicher Begriffe ausgegangen, die die normative Eigenständigkeit des Rechts gesellschaftlich in sich aufhebt. 229 Während für Luhmann die Stärke des Privatrechts noch ein Weg ist, eine große Vielfalt an Handlungsmöglichkeiten mit effektiven Durchsetzungschancen zu verbinden, 230 wird in der normativ gewendeten Systemtheorie eine Neuordnung privater und öffentlicher Autonomie diagnostiziert, die mit dem Positivismus des demokratischen Rechtsstaates anhebt. 231 Die politische Autonomie entfernt sich damit einerseits von den Lebenswelten der Betroffenen. Andererseits übernimmt die private Autonomie Bereiche der öffentlichen Autonomie. So wird gerade für die Rechtsverfassung der Wissensgesellschaft diagnostiziert, dass einerseits „die Dogmatik unter Druck gerät, weil die bekannten Kategorien kollektiver Zurechnung umgebaut werden müssten“, während andererseits „umgekehrt die soziale Konstruiertheit von symbolischen Artefakten unangemessen subjektiviert“ 232 werde. Es besteht demzufolge die Gefahr, dass die Möglichkeiten einer demokratischen Ausgestaltung der privatrechtlichen Grundbegriffe abnehmen und so die fortschreitende Vergesellschaftung der subjektiven Rechte und der privaten Autonomie zum Erliegen kommt. 226 Etwa

Wielsch, Law and Contemporary Problems 76 (2013), S. 191–211. Teubner, Global Bukowina, in: Teubner (Hrsg.), Global Law Without a State, 1997, S. 3–28. 228  Wielsch, Zugangsregeln. Die Rechtsverfassung der Wissensteilung, S. 6 f. sieht Zugangsregeln als Garantien für dezentrale Wissensteilung in der (digitalen) Welt der Immaterialgüterrechte. 229  Für eine solche „Vergesellschaftung“ des Eigentums und der Immaterialgüterrechte etwa Wielsch, in: FS Amstutz, 2012, S. 3343 f. und 49 f. 230  Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 172 und Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 463, für die Möglichkeit der Wirtschaft, nach Belieben zu handeln und sich im Übrigen auf die Beachtung oder Umgehung von rechtlichen Verboten zu beschränken. 231  Wielsch, in: FS Amstutz, 2012, S. 329 f. Skeptisch dagegen Teubner, ZaöRV 63 (2003), S. 1–28, der die bestehenden nationalen und internationalen Rechtsordnungen als Evolu­tions­ blockaden ansieht. So auch Callies, Grenzüberschreitende Verbraucherverträge, S. 182 ff. 232  Wielsch, in: FS Amstutz, 2012, S. 343; anders dagegen noch Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 2, S. 87, der darauf hinweist, dass subjektive Rechte zu „Korrelaten“ des Wohlfahrtsstaats werden ­können. 227 

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

2. Vertragsrecht jenseits der Willensbildung Einzelner Im nationalstaatlichen Recht wird beispielsweise die Auslegung der guten Sitten als Instrument einer solchen Vergesellschaftung privater Autonomie illustriert. Die Normbestände von Rechtsgebieten erscheinen auch hier als Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen Verfassung. Verfassung wird dabei wiederum normativ für das Recht, aber nicht öffentlich-rechtlich, sondern als soziologische normative Vorgabe für das Recht verwendet. 233 Das gilt auch für die Vertragsfreiheit und ihren Schutz.234 Nach dem Ansatz der normativ gewendeten Systemtheorie öffnet § 138 BGB das positive Recht für bisher nicht verrechtlichte Moralvorstellungen (Rezeption), macht so eine Berücksichtigung des Wandels gesellschaftlicher Wertvorstellungen möglich (Transformation) und rechtfertigt diesen Wandel im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung (Legitimation). 235 Aus systemtheoretischer Perspektive kommt dem Schutz der individuellen Entscheidungsfreiheit oder der Willenserklärung des Einzelnen keinerlei eigenständige Bedeutung mehr zu.236 Es kommt allein auf die gesellschaftliche Verfasstheit des Konzepts von Willenserklärungen an. Deren Vergesellschaftung ist so weit wie möglich voranzutreiben. Nicht zu verwechseln ist daher die systemtheoretische Perspektive auf ein entindividualisiertes Wirtschaftsrecht mit dem geltenden Wettbewerbs- und Kartellrecht. Dieser Normenbestand ist nämlich genau an der individuellen wirtschaftlichen Selbstbestimmung der Marktteilnehmer orientiert. 237

233  Teubner, Verfassungsfragmente, S. 56 f., demzufolge die Wirtschaftsverfassung potentiell das Paradigma von vielfältigen Gesellschaftsverfassungen sein könnte, dieses jedoch infolge begrifflicher und thematischer Verengungen nicht realisieren kann. 234  Anders dagegen noch Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, MWG I/22–3, S. 308–310, 341–345 und 352 f., der die Vertragsfreiheit bis hin zur Sexualsphäre als Ausdruck eines Beliebens des Einzelnen ansieht, das von einer Rechtsordnung zugelassen wird bzw. werden kann. 235  Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln, S. 65 ff.; auch Bydlinski, Möglichkeiten und Grenzen der Präzisierung aktueller Generalklauseln, in: Behrends/Dießelhorst/Dreier (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1990, S. 189, 198 ff. 236  Teubner, Verfassungsfragmente, S. 33 f., S. 38 f. kritisch zur Idee subjektiver Rechte und S. 179 f. für eine Entwicklung der Systeme „im Schatten der Politik“; in diese Richtung auch Gruber, Bioinformationsrecht, S. 10 f. 237 So Drexl, Selbstbestimmung, S. 293 ff. für das Wirtschaftsrecht.

E. Die soziologische Einbettung des Vertrags

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V. „Beobachtung“ und „Vergesellschaftung“ des Rechts jenseits individueller Handlungen und Entscheidungen Die umfassende gesellschaftstheoretische Funktionalisierung des Rechts kann weder in ihrer beobachtenden Herangehensweise noch in ihrer normativen Wendung als eine normative Grundlage der inhaltlichen Aufladung des Privatrechts durchgängig überzeugen. Die praktische Umsetzung und Wirksamkeit der Vertragsfreiheit zwischen freien und nur insoweit gleichen Rechtssubjekten wird in beiden Varianten der systemtheoretischen Rechtsphilosophie gleichsam in der Gegenrichtung ihrer Funktionsweise soziologisch als eines der zentralen Phänomene für eine arbeitsteilige moderne Gesellschaft angesehen. 238

1. Zur Beobachtung Zwar wird durch die Beobachtung eines funktionierenden Vertragsrechts dem Vertrag als eine Möglichkeit, sichere Erwartungshaltungen aufzubauen, noch eine, wenn auch von der Zustimmung losgelöste, eigenständige Funktion zugesprochen. 239 Jedoch können selbst aus einer gelungenen, umfassenden gesellschaftlichen Beschreibung letztlich keine normativen Maßstäbe gewonnen werden, die zwangsläufig rechtliche Wirkung für eine angemessene Normierung individueller Handlungen entfalten müssen.

2. Zur normativen Wendung Daran ändert auch die normative Wendung im Grundsatz nichts. Bereits die Rezeptionsfunktion kollidiert mit der systemtheoretischen Grundannahme der Abgeschlossenheit des Rechtssystems von anderen gesellschaftlichen (Sub-) Systemen wie der Wirtschaft und der Politik.240 Darüber hinaus wird beispielsweise der Normzweck des § 138 BGB, die Absicherung der Vertragsfreiheit, in sein Gegenteil verkehrt. 241 Die Rechtsordnung erfasst und regelt in dieser gesellschaftstheoretischen Konzeption von Recht nicht neue Lebenssachverhalte, sondern neue Lebenssachverhalte verändern stets den normativen Bestand der Rechtsordnung. 238  Vgl. in der Soziologie schon Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 561–563 und Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 463 f. Für die juristische Verankerung der Gleichheit durch situationsbezogene responsive Dogmatik dagegen Grünberger, Personale Gleichheit, S. 71 f., 749 f.; für einen Zusammenhang der Vertragsfreiheit mit wirtschaftsrechtlichen Vorgaben des lauteren Wettbewerbs dagegen Leistner, Richtiger Vertrag und lauterer Wettbewerb, S. 277–283 und 352 f. 239  Siehe Teil 2 E. III. 240  Luhmann, Soziale Systeme, S. 230; Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 43 f., 157 und 559. 241  Dazu Teil 2 E. IV. 2. und Teil 3 A. V.

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

Damit wird der aus rechtlicher Sicht entscheidende, normative Anspruch des Rechts ausgeblendet, 242 vor allem der des Vertragsrechts auf Schaffung verbindlicher subjektiver Rechte durch übereinstimmende Willenserklärungen.

F. Diskurstheoretische Normenbegründung und vertragliche Bindung Die Diskurstheorie beleuchtet normative Diskussionen über mögliche Zwecke kollektiven Handelns und ihre Auswirkungen auf den Einzelnen (I.). Sie betont das Diskursprinzip, das auf der Hintergrundannahme einer Umstellung von der praktischen auf die kommunikative Vernunft aufbaut (II.). Im Recht werden vor allem die staatliche Normenbegründung und ihre Kritik durch den öffentlichen Diskurs betont (III.), während die vertragliche Bindung teils als kaum zu rechtfertigende Normenbegründung angesehen wird (IV.).

I. Die politische Dimension des Rechts: Das Diskursprinzip als normative Vorgabe Bezüge auf normative gesellschaftstheoretische Entwürfe werden von der Diskurstheorie herangezogen. Aus diskurstheoretischer Sicht wird das Privatrecht grundsätzlich als ein Raum begriffen, der dem Einzelnen als Mittel des Diskursabbruchs dienen kann. 243 Da aber diskurstheoretisch die Legitimation von Normen mit ihrer intersubjektiven Begründung gleichgesetzt wird, muss zugleich rechtlichen Regeln ihr normativer Eigensinn jenseits intersubjektiver Bezüge und damit politischer Vorentscheidungen abgesprochen werden.244 Es kommt für die gerechtfertigte Normenbegründung damit allein auf die umfassende Möglichkeit zur Diskursteilnahme, des tatsächlichen oder fiktiven Gehörs aller Beteiligten und Betroffenen an. 245 Alle gesellschaftlichen und 242 

Dazu Teil 2 E. IV. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 153: „Subjektive Handlungsfreiheiten berechtigen zum Ausstieg aus dem kommunikativen Handeln […]“. 244  Habermas, Faktizität und Geltung, S. 153 f., insb. S. 154, demzufolge nur die „politisch autonome Rechtssetzung“ den Normadressaten ein richtiges Verständnis der Rechtsordnung ermöglicht. 245 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 153 f., insb. S. 154: „Das Diskursprinzip soll erst auf dem Weg der rechtsförmigen Institutionalisierung die Gestalt des Demokratieprinzips annehmen, welches dann seinerseits dem Prozeß der Rechtssetzung legitimitäts­ erzeugende Kraft verleiht.“ Darauf aufbauend Forst, Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse, S. 134–154, der etwa auch den Begriff der Gerechtigkeit als spezifischen Kontext der Rechtfertigung auffasst, in dem die Kriterien der Reziprozität und Allgemeinheit aufgehen, Forst, Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse, S. 139. Dagegen kritisch zur Möglichkeit von Gerechtigkeitsgrundsätzen und stattdessen für eine Verfahrensneutralität kollektiver Ent243 So

F. Diskurstheoretische Normenbegründung und vertragliche Bindung

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politischen Beziehungen müssten daher reziprok sein und gegenüber denjenigen gerechtfertigt werden, „die Teil des jeweiligen politisch-sozialen Kontexts sind.“246 Auch das Recht wird in der Folge als die Manifestation eines mit den Mitteln des öffentlichen Diskurses hergestellten „overlapping consensus“ einer pluralistischen Gesellschaft angesehen.247 Die Fassung der Rechtsform als Teil des Diskursprinzips basiert auf der Hintergrundannahme einer kommunikativen Vernunft. Sie ermöglicht es, gerade eine geltende Rechtsordnung zu kritisieren, wenn auch um den Preis einer Fokussierung des staatlichen Gesetzgebers. 248

II. Kommunikative Vernunft als Hintergrundannahme: Selbstgesetzgebung und Diskursprinzip Die moderne Gesellschaft verhandelt der Diskurstheorie zufolge ihre Normen und Regeln durch den öffentlichen Diskurs. 249 Entscheidend ist dabei das beste Argument im intersubjektiven Diskurs. Dabei gehen die diskurstheoretischen Überlegungen – wie die systemtheoretischen – davon aus, dass Kommunikation die Basis moderner Gesellschaften ist. Anders als den systemtheoretischen Überlegungen kommt es der Diskurstheorie zufolge aber zentral auf das Geben und Nehmen von Gründen und Gegengründen und deren Verhältnisbildung in einem im weiten Sinne kohärentistischen Modell an.250 Dabei wird auch mit dem Gedankenmodell des idealen Diskurses gearbeitet. Es wird gleichsam simuliert, welche Gründe und Gegengründe unter den idealen Voraussetzungen wie Wahrhaftigkeit, Herrschaftsfreiheit und Authentizität zur Problemlösung herangezogen werden können. 251 Das Recht erscheint dabei als eine besondere Form des kulturellen Wissens neben der Moral, Gewohnheiten oder der Religion. Die Besonderheit des Rechts als Regelsystem wird darin gesehen, dass es auf institutioneller Ebene scheidung Larmore, Political Liberalism and Public Reason: A Critique of John Rawls, in: Nida-­Rümelin/Özmen (Hrsg.), Welt der Gründe. XXII. Kongress für Philosophie, 2012, S. 1249–1262, 1261 f. 246 Etwa Forst, Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse, S. 140. 247 Vgl. Rawls, Oxford Journal of Legal Studies 7,1 (1987), S. 1–25 und Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze. 1978–1989, S. 292 f. 248  So durch die Betonung sozialer Gerechtigkeit und damit staatlicher Leistungen auch im Bereich des Zivilrechts und damit die These der „Materialisierung des Privatrechts“ aufnehmend Habermas, Faktizität und Geltung, S. 479 f. 249  Habermas, Faktizität und Geltung, S. 153 f. 250  So allgemein politik-philosophisch im Anschluss an Rawls’ „reflective equilibrium“ Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit, S. 19 und spezifisch für das Recht Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 498 ff., der allgemeine Begründungen von juristischer Argumentation strikt trennt, da Letztere an Gesetz, Präjudiz und Dogmatik gebunden ist. 251 Beispielsweise Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, S. 29–42.

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

Verbindlichkeit gewinnt. Dennoch müssen auch Rechtsnormen den Anforderungen des Diskursprinzips genügen. Demzufolge verlangt die Idee der Selbstgesetzgebung von Bürgern nämlich, „daß sich diejenigen, die als Adressaten dem Recht unterworfen sind, zugleich als Autoren des Rechts verstehen können“. 252 Die Idee der Selbstgesetzgebung stellt damit jede Rechtsordnung unter einen Rechtfertigungsvorbehalt. Sie verlangt, dass Rechtsnormen auch aus Einsicht befolgt werden können. 253 Diskurstheorien verorten sich damit in einer Tradition, die der Entwicklung von Freiheit als Autonomie, das heißt der Selbstbestimmung durch Selbstgesetzgebung, verpflichtet ist. Diese Tradition geht von der Entdeckung individueller Autonomie im späten Mittelalter aus und verortet die öffentliche Autonomie im Anschluss an die Gesellschaftsvertragstheorien der Aufklärung.254 Die Diskurstheorie setzt sich jedoch insbesondere von kantischen, fichteanischen und hegelianischen Überlegungen zu einem aufgeklärten Vernunftrecht ab, indem sie davon ausgeht, dass der Widerstreit von privater und öffentlicher Autonomie diskursiv aufgehoben werden kann. Dazu müssten die „metaphysischen“ Voraussetzungen Kants, Fichtes und Hegels beiseitegelassen werden. 255 Sobald die vernunftrechtliche Denkfigur der Selbstgesetzgebung, wonach die Adressaten zugleich die Urheber ihrer Rechte sind, diskurstheoretisch entschlüsselt sei, werde die Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie sichtbar. 256 Die vorgenommene Entschlüsselung besteht wesentlich darin, den intersubjektiven Charakter aller Rechte hervorzuheben. 257

III. Das Diskursprinzip und seine praktische Wirksamkeit Das Diskursprinzip stellt die Selbstgesetzgebung in den Mittelpunkt des kollektiven Handelns. Rechtliche Normen werden wesentlich durch den Gedanken der Selbstgesetzgebung und den öffentlichen Diskurs begründet.

252 

Habermas, Faktizität und Geltung, S. 153. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 154. 254  Für den Bogen von den politik-philosophischen Anfängen des Spätmittelalters bis zu den rechtssystematischen Problemen der Gegenwart siehe Siep/Gutmann/Jakl/Städtler, Einleitung, in: Siep/Gutmann/Jakl/Städtler (Hrsg.), Von der religiösen zur säkularen Begründung staatlicher Normen, 2012, S. 1–32, insb. S. 24 ff. 255  Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 374 und ders., Faktizität und Geltung, S. 24 f. und 43 f. 256  Habermas, Faktizität und Geltung, S. 135. 257  Habermas, Faktizität und Geltung, S. 153. 253 

F. Diskurstheoretische Normenbegründung und vertragliche Bindung

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1. Der Vorrang der intersubjektiven Normenbegründung Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die amerikanische Verfassung werden wegen ihres kollektiven Bezuges als ein entscheidender „normativer Schub“ interpretiert, der bis heute anhält. 258 Menschenrechte wie auch alle weiteren Formen subjektiver Rechte dienen wesentlich dazu, die private und öffentliche Autonomie der Bürger gleichursprünglich zur Geltung zu bringen.259 Die diskurstheoretischen Überlegungen setzen damit eine auf Dauer umgestellte Übereinstimmung von privater und öffentlicher Autonomie voraus. Da die Gleichursprünglichkeit mit der Argumentationsfigur eines intersubjektiven Charakters von Rechten gerechtfertigt wird, nehmen diskurstheoretische Überlegungen letztlich einen Vorrang der öffentlichen vor der privaten Autonomie an. 260 Aus diskurstheoretischer Perspektive wird auf Grund der engen Verbindung von öffentlichem Diskurs und legitimer staatlicher Normbegründung durch den demokratischen Rechtsstaat dem Recht vor allem die Funktion zugeschrieben, dem Einzelnen einen „Ausstieg“ aus dem kommunikativen Handeln und die Verweigerung illokutionärer Verpflichtungen zu ermöglichen. 261 Recht ermöglicht aus dieser Perspektive eine Privatheit, die von „der Bürde“ der gegenseitigen zugestandenen und zugemuteten kommunikativen Freiheit befreit. 262 Die Idee der Selbstgesetzgebung erfordert aber aus Sicht der Diskurstheorie dennoch stets, dass diejenigen, die als Adressaten dem Recht unterworfen sind, sich zugleich als Autoren dieses Rechts verstehen können. 263 Daher kann die Legitimation von Regeln mit ihrer diskursiven, intersubjektiven Begründung gleichgesetzt werden. Erreicht wird damit, dass demokratische Abstimmungen und der öffentliche Diskurs auch auf alle Rechtsinterpretationen zugreifen können. 264 Da Recht, insbesondere das Vertragsrecht, aber zugleich als ein Raum angesehen wird, der aus diskurstheoretischer Sicht dem Einzelnen geradezu als Mittel des Diskursabbruchs dienen kann, wird rechtlichen Regeln ihr normativer 258  Habermas, Volkssouveränität und Verfahren, in: ders., Faktizität und Geltung, Vorstudien und Ergänzungen, S. 608 f. 259  Habermas, Faktizität und Geltung, S. 153. 260  Dies in seiner Begründung eines verfassungsrechtlich abgesicherten Konzepts kollektiver Güter aufnehmend Anderheiden, Gemeinwohl in Republik und Union, S. 43–46. Kritisch aus rechtsphilosophischer Perspektive dagegen v. Arnauld, Privatheit bei Jürgen Habermas, in: Schaal (Hrsg.), Das Staatsverständnis von Jürgen Habermas, 2009, S. 185–210 und Jakl, Die Verbindlichkeit des Rechts, in: Bunke/Mihaylova/Ringkamp (Hrsg.), Das Band der Gesellschaft, 2015, S. 113–124, 120 f. 261  Habermas, Faktizität und Geltung, S. 153. 262  Habermas, Faktizität und Geltung, S. 153. 263  Habermas, Faktizität und Geltung, S. 135 und 153 f. 264  Lieber, Diskursive Vernunft und formelle Gleichheit, S. 239 in Auseinandersetzung mit Alexys Sonderfallthese und Günthers Anwendungsthese.

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

Eigensinn jenseits politischer Vorentscheidungen und damit gesellschaftlicher Entwicklungen weitgehend abgesprochen. Schließlich dürfe die Idee der Selbstgesetzgebung aller Bürger „nicht auf die moralische Gesetzgebung einzelner Personen zurückgeführt werden.“265 Individuelle Rechte können keine Trümpfe im Sinne Dworkins gegenüber kollektiven, politischen Entscheidungen mehr sein.266 Sie werden auf die Möglichkeit zur Diskursteilnahme in Form des tatsächlichen oder fiktiven Gehörs der Beteiligten beschränkt. 267 Recht soll letztlich allein politische Entscheidungen eines demokratischen Gesetzgebers manifestieren.268

2. Die Stärke des Verfassungsrechts Das nationale Verfassungsrecht und seine Legitimationskette werden besonders betont. Im Öffentlichen Recht wird daher teilweise vorgeschlagen, die Diskurstheorie als Theorie der Grundrechte für eine Logik der Abwägung von Argumenten nutzbar zu machen. 269 Dagegen wird die Entwicklung der Europäischen Union aus diskurstheoretischer Perspektive skeptisch begleitet, da dort trotz der Fülle von völkerrechtlichen Verträgen nicht nur kaum eine europäische Öffentlichkeit, sondern vor allem kein demokratischer Gesetzgeber erkennbar ist. Insbesondere die Vertiefung der Europäischen Union steht dabei wegen ihres sogenannten Demokratiedefizits in der Kritik. Die Verfassung der Europäischen Union einschließlich ihrer Struktur der dualen Legitimation wird teils breitenwirksam als „Fassadendemokratie“ abgewertet. 270 Die Stärkung des Europaparlaments erscheint dagegen als gut begründete Forderung, die den durch die Menschenrechte ausgelösten Entwicklungsschub der Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie weiter fortschreiben könnte. 271 Dass das Europäische 265 

Habermas, Faktizität und Geltung, S. 154. aber Dworkin, Rights as Trumps, in: Waldron (Hrsg.), Theories of Rights, 1984, S. 335–344. 267  Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit: Grundlagen eines liberalen Egalitarimus, S. 315 ff. 268  Habermas, Faktizität und Geltung, S. 154. 269  So sieht Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 498 die Bindung an Gesetz, Präjudizien und Dogmatik als spezifische Kennzeichen des juristischen Diskurses, der im Hinblick auf die rationale Auslegung von Grundrechten eine genaue und im Einzelfall richtige Verhältnisbildung bzw. Abwägung zwischen den vielfältigen subjektiven Rechten ermögliche. Für eine realistisch-dogmatische Wendung im Anschluss an Alexy, nach der die Entscheidung von Richtern die kaum mögliche diskursive Abgeschlossenheit eines Rechtsproblems (im Sinne einer einzigen richtigen Entscheidung) ersetzen kann, Bäcker, Begründen und Entscheiden, S. 333. 270  Bofinger/Habermas/Nida-Rümelin, Einspruch gegen die Fassadendemokratie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 3.8.2012, URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ debatten/europas-zukunft/kurswechsel-fuer-europa-einspruch-gegen-die-fassadendemokratie-11842820.html (abgerufen am 20.5.2018). 271  Bofinger/Habermas/Nida-Rümelin, Einspruch gegen die Fassadendemokratie, in: 266  So

F. Diskurstheoretische Normenbegründung und vertragliche Bindung

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Parlament wegen der Stimmungleichgewichte wenig mit der demokratischen Repräsentation zu tun hat, die dem Grundsatz „one man, one vote“ in einem rechtlichen Sinne folgt, gerät aus dem Blick. 272

3. Die Schwäche des Vertragsrechts Zivilrechtliche Gesetzgebung, die die Vertragsfreiheit inhaltlich ausgestaltet und die selbstbestimmten Möglichkeiten vertraglicher Bindung begrenzt, erscheint aus diskurstheoretischer Perspektive dringend geboten. Teils wird unter Berufung auf die Diskurstheorie angeregt, dass das ganze Zivilrecht als Manifestation politischer Bedürfnisse wie Sicherheit, Nutzen, Gerechtigkeit und Freiheit angesehen und entsprechend uminterpretiert oder umgeschrieben werden sollte. 273 Die vorhandenen Regelungen jedenfalls scheinen unzureichend. Stärkere Inhaltskontrolle, mehr Kontrahierungszwang und überhaupt mehr zwingendes Recht erscheinen als Ausdruck einer Demokratisierung.274 Selbst weitere Differenzierungen des Verbraucherleitbilds und entsprechende weitere Differenzierungen bei den individuellen wie kollektiven Rechtsschutzmöglichkeiten werden teils als diskurstheoretische Notwendigkeit angesehen.275

IV. Die diskurstheoretische Kritik an der Rechtsform und ihre Probleme mit der vertraglichen Bindung Die diskurstheoretische Fassung der „Gleichursprünglichkeit“ beharrt gegenüber der dogmatischen Rechtswirklichkeit der vertraglichen Bindung unter dem Schirm der Vertragsfreiheit auf ihrem Begründungsmodell. Das Begründungsmodell greift selbst zwar Bestandteile der tatsächlichen Rechtsentwicklung auf, beruht aber auf einem eigenständigen, von dem einer positiven RechtsFrankfurter Allgemeine Zeitung v. 3.8.2012, URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ debatten/europas-zukunft/kurswechsel-fuer-europa-einspruch-gegen-die-fassadendemo kratie-11842820.html (abgerufen am 20.5.2018), Fn. 273. 272  So aber das Bundesverfassungsgericht, das in seinem Urteil v. 26.2.2014 (2 BvE 2/13), Rn. 63 feststellt, dass das Argument der Funktionsfähigkeit des Europaparlaments wegen der Korrekturmöglichkeit seiner Entscheidungen durch nationale Gesetzgeber jedenfalls vor dem Hintergrund der Wahl- und Chancengleichheit der Parteien nicht eine Sperrklausel von 3 Prozent rechtfertigen kann. 273  So etwa in einer Fließtextpassage Lomfeld, Die Gründe des Vertrages, S. 73–80. 274  So etwa Lomfeld, Die Gründe des Vertrages, S. 403 f. 275  Micklitz, Brauchen Konsumenten und Unternehmen eine neue Architektur des Verbraucherrechts?, S. 120–122, dies auch mit einem etwas unklaren Verweis auf Habermas begründend, Micklitz, Brauchen Konsumenten und Unternehmen eine neue Architektur des Verbraucherrechts?, S. 111, der die rechtstheoretischen Grundlagen für horizontale wechselseitige Verknüpfung von Moral und positivem Recht gelegt habe.

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

ordnung in weiten Teilen losgelösten Verfahren der Normenbegründung: der Entschlüsselung der intersubjektiven Bezüge. 276 Ihr Vorgehen erweist sich damit nicht nur als normativ gegenüber einer bestehenden Rechtsordnung. 277 Es mündet aus rechtswissenschaftlicher Perspektive zudem in einer Kritik an der dualen Legitimation europarechtlicher Vorgaben und vor allem in einer deutlichen Untergewichtung der Bedeutung der Vertragsfreiheit, 278 die konzeptionell als „Privilegium“ aufgefasst wird.

1. Privatrecht als „Privilegium“? Gerade das Privatrecht und insbesondere die Vertragsfreiheit erscheinen aus diskurstheoretischer Perspektive lediglich als zweifelhafter Ausstieg aus intersubjektiven Zusammenhängen und daher als kaum mehr zu rechtfertigen. Dies gilt jedenfalls, solange jedes staatliche Handeln, das als Einschränkung der Privatautonomie erscheint, nur als eine Kehrseite der Durchsetzung gleicher subjektiver Handlungsfreiheiten für alle und als eine Abschaffung von Privilegien angesehen wird. 279 Die Skepsis gegenüber der schuldrechtlichen Vertragsfreiheit wird teils durch die Fokussierung von Anerkennungsverhältnissen zu ihrer Ablehnung gesteigert, die unter Zuhilfenahme von starken Hegel-Bezügen an die Idee der Selbstgesetzgebung der Diskurstheorie anknüpft. Privatrecht und Vertragsfreiheit erscheinen nurmehr als Ausdruck eines monologischen, subjektzentrierten Denkens, das es zu überwinden gelte.280 Dem aus dieser Perspektive beinahe „pathologischen“ Privatrechtsdenken müsse durch eine umfangreiche Politisierung aller Lebensbereiche zum Zwecke des gesellschaftlichen Fortschritts entgegengewirkt werden. 281 Spätestens mit dieser Zuspitzung geht der Diskurstheorie zumindest im Hinblick auf die vertragliche Bindung jede bedeutsame Bezugsmöglichkeit zu ihrem Grundsatz der Vertragsfreiheit und damit auch zu einem wesentlichen Teil der funktionierenden Rechtsstaatlichkeit verloren. Die diskurstheoretischen Überlegungen üben damit nicht nur eine doppelte Kritik an der geltenden Rechtsform: Das geltende Mehrebenenrecht im öffentlichen Recht erscheint als kritikwürdig, das Privatrecht ohnehin als grundsätz-

276 

Siehe Teil 2 F. II. Zu dieser Stärke im Vergleich zur soziologischen beobachtenden Perspektive der Anpassung Jakl, Eine Geschichte der Freiheit? Überlegungen zur Rechtsentwicklung, in: Gutmann/Laukötter/Pollmann/Siep, Genesis und Geltung, 2018, S. 75–77. 278  Siehe Teil 2 F. III. 279  Habermas, Faktizität und Geltung, S. 135 und 153. Dazu kritisch v. Arnauld, Privatheit bei Jürgen Habermas, S. 208 f. 280 Vgl. Honneth, Das Recht der Freiheit, S. 132, 169 und 613. 281  Honneth, Das Recht der Freiheit, S. 151, 157–159. 277 

F. Diskurstheoretische Normenbegründung und vertragliche Bindung

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lich kaum zu rechtfertigender Ausstieg aus intersubjektiven Begründungszusammenhängen. 282 Vielmehr kann dieser Umgang mit der Vertragsfreiheit in seiner politik-philosophischen Bestimmtheit gerade aus der Perspektive des Privatrechts nicht überzeugen, da mit der umfassenden Politisierung der vertraglichen Bindung und des Vertragsrechts durch den öffentlichen Diskurs auch ein Verzicht auf normative Basiswertungen der Rechtsordnung einhergeht. Stattdessen muss gerade das Privatrecht auf juristischen Basisunterscheidungen und dem Respekt vor übereinstimmenden Willenserklärungen zweier Bürger genau gegenüber politischen Entscheidungen beharren. 283 Kommt dem Einzelnen auch aus politik- und sozialphilosophischer Perspektive gegenüber dem Staat das Recht auf Respekt vor seiner individuellen Willensentscheidung zu, so muss die Vertragsfreiheit auch im diskurstheoretischen Begründungsprogramm angemessen berücksichtigt werden. 284 Individuelle Rechte können und müssen aus Sicht der Privatautonomie wie auch des Verfassungsrechts (im Hinblick auf die Grundrechte) auch Trümpfe im Sinne Dworkins gegenüber kollektiven politischen Entscheidungen eines Gesetzgebers sein können. 285 Wird dagegen mit der Diskurstheorie auf der Kritik des Vertragsrechts beharrt, stellen sich im Weiteren vor allem Fragen der philosophischen Normenbegründung, 286 der sozialen Praxis autonomer Lebensgestaltung287 oder aber des Verhältnisses der vielfältigen und unterschiedlichen Rechtsordnungen zueinander. 288 Auf dieser Grundlage können weitere Versuche unternommen werden, die Kluft zwischen diskurstheoretischer Normenbegründung und der dogmatisierten positiven Rechtswirklichkeit mit theoretischen Mitteln zu überbrücken. So wird vorgeschlagen, ein deskriptives Verständnis von Normativität und ein kritisches, geltungstheoretisches Verständnis von Normativität in dem Begriff des Rechtfertigungsnarrativs zu bündeln, um gegenüber historischen 282 

Habermas, Faktizität und Geltung, S. 153 f. für die Auslegung der guten Sitten als Rechtsbegriff, der dem Schutz der Entscheidungsfreiheit dient, Teil 3 A. I. Für die grundlegende Bedeutung der Vertragsfreiheit, Abschlussfreiheit, Inhaltsfreiheit und Formfreiheit im Schuldvertragsrecht etwa BeckOGK/Herresthal, 1.1.2018, BGB § 311 Rn. 2–4. 284 Etwa Fried, Vertrag als Versprechen, S. 17 f. und 21 sowie Teil 2 B. 285  Dworkin, Rights as Trumps, in: Waldron (Hrsg.), Theories of Rights, 1984, S. 335. 286 Siehe Forst, Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse, S. 134–154. 287 Siehe Jaeggi, Kritik von Lebensformen, S. 248 f., die normativ verfasste Lebensformen allgemein als Problemlösungsinstanzen deutet, die sich durch ihre Problemlösungskompetenz bewähren. 288 Siehe Seinecke, Das Recht des Rechtspluralismus, S. 165, der den kelsianischen Einheits- und Systematisierungsanspruch des klassischen positiven Rechts als Voraussetzung und Hinführung zu einem Rechtspluralismus umdeutet. Zur etwas nüchtereren historischen Wirklichkeit des Rechtspluralisnus siehe Oestmann, Rechtsvielfalt, S. 99 ff. 283  Beispielsweise

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

Rechtfertigungsordnungen ausreichend Raum für eine kritische Überprüfung der Begründungen der historisch wirksamen Rechtfertigungsordnungen einzufordern. 289 Die Wirklichkeit einer positiven Rechtsordnung spielt bei diesen philosophischen Überlegungen jedoch keine eigenständige Rolle mehr. Ihre aus rechtswissenschaftlicher Perspektive unumgängliche Berücksichtigung verlangt an dieser Stelle eine partielle Revision des Diskursprinzips.

2. Eine Revision des Diskursprinzips durch subjektive Rechte? Spuren der unentbehrlichen Bedeutung der Idee subjektiver Rechte290 werden für das Vertragsrecht bisher nur selektiv diskurstheoretisch aufgenommen. Teils wird betont, dass erst die Sicherung der privaten Autonomie den aktiven Gebrauch der öffentlichen Autonomie möglich mache. 291 Der öffentliche Diskurs dient demzufolge vor allem dazu, Konflikte, Dissense und Störungen zu bewältigen und überzeugend zu lösen, die für die Betroffenen ein gewisses Gewicht aufweisen.292 Allerdings erscheinen subjektive Rechte dennoch als Bestandteile eines Systems objektiver Rechte, auf das sich der Einzelne „mit dem ersten Akt der Selbstkonstituierung einer solchen Rechtsgemeinschaft eingelassen hat.“293 Eine Änderung der Anwendungsbereiche des Diskursprinzips unter stärkerer Berücksichtigung individueller Willkürfreiheit wäre ein Weg, den intersubjektiven Begründungszwang tatsächlich auf die Fälle einzuschränken, in denen die individuelle Freiheitsausübung für die Betroffenen Probleme bereitet und sie auf staatliches Recht oder das Gewaltmonopol zurückgreifen müssen. Dieser Weg steht aber nur einer Theorie offen, die nicht immer schon davon ausgeht, dass das System der subjektiven Rechte „am Einzelnen“ vollzogen wird, 294 sondern auch einen regulatorischen und argumentativen Dissens zwischen individueller und öffentlicher Autonomie zulassen kann. Ein tieferes Verständnis der individuellen Willkürfreiheit erscheint dafür notwendig, wenn man nicht bei einem Scheitern des Begründungsprogramms stehen bleiben möchte. 295

289 So Forst, Zum Begriff des Rechtfertigungsnarrativs, urn:nbn:de:hebis:30:3-298064 (abgerufen am 20.5.2018), S. 17. 290  Für einen analytisch aufbereiteten Überblick zur Geschichte subjektiver Rechte etwa Auer, AcP 208 (2008), S. 584–634. 291  Habermas, Im Sog der Technokratie, S. 71. 292  Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 304, auch für die Anwendung einer Norm auf eine konkrete Situation. 293  Habermas, Faktizität und Geltung, Nachwort zur vierten Auflage, S. 668. 294  Habermas, Faktizität und Geltung, Nachwort zur vierten Auflage, S. 668. 295  Engländer, Diskurstheorie des Rechts: Das Scheitern eines Begründungsprogramms, in: Neck (Hrsg.), Was bleibt vom Positivismusstreit?, 2008, S. 117–135; ebenso Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, S. 84–87 und S. 151–156.

G. Die Aufklärung des Vernunftrechts der Aufklärung

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Erst eine Öffnung der intersubjektiven Selbstgesetzgebung auch für eine rechtsdogmatisch angemessene Berücksichtigung der individuellen Entscheidungsfreiheit und damit der Vertragsfreiheit kann zu einem solchen tieferen analytischen Verständnis der Willkürfreiheit als Gegenstand schuldvertragsrechtlicher Normen führen. Es sind die vernunftrechtlichen Rechtsphilosophien der Sattelzeit der Aufklärung, die nicht nur den zentralen ideengeschichtlichen Bezugspunkt der Diskurstheorie bilden, sondern auch den Zusammenhang zwischen individueller und privater Autonomie bis in die angelsächsischen Debatten der Gegenwart inspiriert, wenn nicht sogar präfiguriert haben und immer noch strukturieren.

G. Die Aufklärung des Vernunftrechts der Aufklärung: individuelle und interaktive Handlungshoheit Die praktischen Philosophien Kants, Fichtes und Hegels identifizieren Voraussetzungen und Figuren vernünftigen Argumentierens in Recht, Politik und Ethik, die auch gegenwärtig die Diskussionen um allgemein verbindliche Normenbegründungen prägen. 296 Ihr rechtsphilosophisches Theorieangebot eines aufgeklärten Vernunftrechts der Aufklärung steht rechtsphilosophisch am Beginn der Entwicklung des demokratischen Rechtsstaates der (Post-)Moderne, insoweit es die zentrale Leitfrage der rechtlichen Normativität der Moderne verhandelt, wie individuelle Selbstbestimmung kollektiv organisiert werden kann. (I.) Es wird als der Fluchtpunkt der säkularen Normenbegründung der Moderne angesehen und bildet damit einen historischen und zugleich rechtssystematischen Beitrag zur Rationalisierung sozialer Normen und Kontrolle von Macht. 297 (II.) Im Mittelpunkt stehen dabei der Vertragsgedanke und die Idee subjektiver Rechte. (III.) Trotz der im Übrigen unterschiedlichen Theorieentwürfe legen die handlungsbasierten Rechtsphilosophien Kants, Fichtes und Hegels mit ihrer Konzeption von Handlung, Rechtsidee als Freiheitsordnung und subjektivem Freiheitsrecht die normativen Grundlagen der Interaktion zwischen freien, 296  In der internationalen Debatte um politische Theorien etwa Rawls, Kantian Constructivism in Moral Theory, S. 515–572 und Habermas, Faktizität und Geltung, S. 135; für verfassungsrechtliche Interpretationsfragen etwa Dworkin, Justice for Hedgehogs, S. 6 ff.; für den Zusammenhang von rechtlicher Freiheit und freier Regelsetzung Ripstein, Force and Freedom, S. x, xi. und für die Rolle subjektiven Rechts im deutschen Schuldvertragsrecht etwa Unberath, Vertragsverletzung, S. 380. 297  So weist insb. Cassirer, Vom Mythus des Staates, S. 213–230 trotz der durch Deutsch­ land im 20. Jahrhundert verursachten Verheerungen auf die argumentative Leistungs­fähigkeit der klassischen deutschen Philosophie hin, gerade auch um eine Wiederkehr des politischen Totalitarismus zu verstehen wie auch bekämpfen zu können.

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

selbstbestimmten Wesen als Gesetze der Freiheit in der Sattelzeit der Aufklärung nicht nur offen, sondern verbinden ihre Verwirklichung untrennbar mit einem rechtsstaatlichen Positivismus (IV.).

I. Die Leitfrage des Rechts: Wie kann individuelle Selbstbestimmung kollektiv organisiert werden? Die Möglichkeit, Vorstellungen zu realisieren, führt alle drei Philosophien zu der Aufgabe, eine praktische Realität zu entwerfen. Diese Aufgabe liegt jenseits eines aristotelischen Horizonts, der von einer immer schon erfolgten Zwecksetzung ausgeht. 298 Die Frage, welche Vorstellungen entwickelt und realisiert werden sollen, thematisieren Kant, Fichte und Hegel in unterschiedlicher Weise unter der Perspektive der Selbstbestimmung. Dabei entwickeln sie jeweils Modelle sowohl der individuellen, ethischen wie auch der kollektiven, rechtlichen Selbstbestimmung.

1. Selbstbestimmung als Regelsetzung bei Kant Für Kants Konzeption von individueller Selbstbestimmung steht der kategorische Imperativ im Mittelpunkt, der den Einzelnen zunächst auffordert, über die Zusammenhänge seiner einzelnen Handlungen Maximen zu bilden.299 Diese Maximen sollen dann auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit hin geprüft werden und die Maximen, die ihren eigenen Voraussetzungen widersprechen, die nicht konsistent und kohärent sind, sollen verworfen werden.300 Die Maximenbildung selbst wiederum soll über die Aufnahme der sinnlichen, inhaltlichen Bedingungen der einzelnen Handlungen hinaus durch die sogenannten objektiven Zwecke der eigenen Vollkommenheit und fremden Glückseligkeit angeleitet werden.301 So soll sichergestellt werden, dass stets aufs Neue Vorstellungen entwickelt, realisiert und korrigiert werden können. Denn nur durch eine Konzeption von Selbstbestimmung, die grundsätzlich geeignet ist, die Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten und Inhalte zu erzeugen, die diese befördert, kann sichergestellt werden, dass der freie Wille bei der Gestaltung einer individuellen Biographie wirksam werden kann.302 298 S. o.

Teil 2 D. II. und III. für die (neo-)aristotelische Tradition. Vossenkuhl, Wen orientiert der kategorische Imperativ?, in: Thyen/Dietz/­ Hastedt/Keil (Hrsg.), Sich im Denken orientieren, 1996, S. 286 f. 300  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 421. Dazu etwa Esser, Kants Tugendlehre, S. 288–298, insb. S. 296. 301  Kant, Metaphysik der Sitten, S. 391, 393. 302 Vgl. Esser, Kants Tugendlehre, S. 241–248 und S. 254–257, die durch eine Kombination der Maximenbildung des kategorischen Imperativs mit den objektiven Zwecken der Tugendlehre die kantische Ethik gegen die Vorwürfe eines Formalismus und Rigorismus verteidigt. 299 Dazu

G. Die Aufklärung des Vernunftrechts der Aufklärung

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Der individuellen Selbstbestimmung stellt Kant das Recht zur Seite. Bei Kant ist „Recht (…) der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen (…) vereinigt werden kann“.303 Dem Recht kommt die zentrale Aufgabe der kollektiven Selbstbestimmung zu.

2. Selbstbestimmung durch Sozialität bei Fichte Fichte knüpft die Voraussetzungen einer freien Wirksamkeit stärker als Kant an die Zugehörigkeit des einzelnen Handelnden zu anderen Handelnden. Das einzelne freie Wesen kann seine freie Wirksamkeit nur im Zusammenhang mit anderen erfahren.304 Der Bezug auf andere Handelnde dient der Individuation des Einzelnen. Diese auch individuelle Erfahrung der freien Wirksamkeit soll das Recht ermöglichen. Die grundlegende Frage des Rechts lautet für Fichte daher: „Wie ist eine Gemeinschaft freier Wesen (als solcher) möglich?“305 Macht der Einzelne innerhalb einer rechtlichen Gemeinschaft die Erfahrung seiner freien Wirksamkeit, so führe eine fortschreitende Kultivierung der Welt zu einer Situation, in der es kein Recht mehr brauche. Der Einzelne ist sich nach Fichte in dieser Situation seiner Freiheit so sicher, dass seine eigene Willensbildung immer schon die freie Wirksamkeit und die Freiheiten der Anderen berücksichtigt.306 Erst in der Sittenlehre könne die allein individuelle Selbstbestimmung die kollektive Selbstbestimmung durch das Recht ablösen, weil die rechtliche Normativität von den Einzelnen in ihren Willensbildungsprozess inkorporiert worden sei. Im Zentrum des Rechts stehen auch für den späten Fichte die Selbsterhaltung und Sicherheit des individuell Handelnden.307 Eine umfassend freie, individuelle Lebensführung wird nach Fichtes Überzeugung erst durch die Erfahrung einer Rechtsordnung möglich.

3. Selbstbestimmung als Struktur Hegel verfolgt in den Grundlinien der Philosophie des Rechts das Projekt einer Bestimmung des freien Willens. Dabei steht das Recht im Zentrum, da es das „Dasein des freien Willens“ sei.308 In der Einleitung der Grundlinien werden die Begriffe Rechtsphilosophie, Wille, Freiheit und Recht analytisch präsentiert. Das Recht bezeichnet dabei „das Verhältnis der Menschen, insofern sie abIn eine ähnliche Richtung zur Ausdifferenzierung der kantischen Normenbegründung in Recht und Ethik auch Ripstein, Force and Freedom, S. 358. 303  Kant, Metaphysik der Sitten, S. 230. 304  Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 30. 305  Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 85. 306 Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 148. 307  Fichte, Rechtslehre – 1812, S. 517. 308  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 80.

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strakte Personen sind“.309 Und abstrakte Personen agieren unter einer „auf sich selbst beziehenden Bestimmtheit des Willens“.310 Das Recht soll das Verhältnis der einzelnen Willensäußerungen der einzelnen Personen zueinander ordnen. Dem Recht wird von Hegel damit die Aufgabe zugeschrieben, die kollektive Selbstbestimmung zu organisieren. Die auf die Einleitung und ihre Analysen folgenden drei Teile entwerfen eine Entwicklungsgeschichte. Das „Dasein des freien Willens“ im Recht entwickle sich über das abstrakte Recht zur Moralität und schließlich zur Sittlichkeit. Damit betont Hegel die starke Rolle der sozialen Umstände der Willensbildung des Einzelnen, da auf Grund der überindividuell-ontologischen Dimension des freien Willens eine von den sozialen Umständen unabhängige Willensbildung scheitere. In den drei Abschnitten des abstrakten Rechts, der Moralität und der Sittlichkeit werden die Wechselwirkungen zwischen kollektiven Umständen und individuellen Willensbestimmungen und Handlungen durchdacht. Den Zielpunkt bildet eine Situation, in der die äußeren Umstände dem freien Willen aller Beteiligten gerecht werden.311

4. Interaktive Regelsetzung als Rechtsfrage Während Kant das Recht neben den Überlegungen zur individuellen Willensbestimmung positioniert, verknüpfen Hegel und Fichte kollektive und individuelle Willensbestimmung stärker. Rezeptionslinien, die Kants Konzeption der Selbstbestimmung als monologisch einordnen und der kantischen Konzeption sodann Fichtes und Hegels Entwürfe als dialogische Normbegründungsansätze entgegensetzen312, greifen dennoch zu kurz. Denn das Recht soll bei allen drei Philosophien die Frage verhandeln, ob und wie die kollektive Selbstbestimmung nach Gesetzen organisiert werden kann, die zugleich der Freiheitsdimension der Normadressaten Rechnung tragen. Allein unter der Perspektive des Rechts, nicht unter der Perspektive der Ethik oder einer erweiterten moralischen Perspektive, wird bei Kant, Fichte und Hegel die Frage der interaktiven Regelsetzung und Regelbefolgung verhandelt.

309 

Hegel, Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse (1808 ff.), TW 4, § 182, S. 59. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 199. 311  So etwa auch Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, S. 290 f., demzufolge sich einerseits in den besonderen Zwecken des Einzelnen immer schon der dahinter stehende allgemeine Wille verwirkliche. Andererseits schließe aber, Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, S. 290 f., der allgemeine Wille im Staat die besonderen Zwecke nicht aus, sondern befördere diese. 312  So etwa Honneth, Leiden an Unbestimmtheit, S. 65, der aber selbst Fichtes Rechtslehre trotz ihrer intersubjektiven Argumentationsmuster, etwa im Vereinigungs- und Unterwerfungsvertrag, noch hauptsächlich einem subjektzentrierten, monologischen Denken verbunden sieht, Honneth, Leiden an Unbestimmtheit, S. 79 f. 310 

G. Die Aufklärung des Vernunftrechts der Aufklärung

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Dem Recht und nicht der Ethik kommt die Aufgabe zu, eine basale, eigenständig-normative Ausgestaltung der sozialen Interaktion zu leisten. Kant, Fichte und Hegel bilden damit im Blick auf das Recht eine systematische Konstellation, in der ohne moralteleologisches Präjudiz das Problem aufgegriffen wird, wie individuelle Selbstbestimmung kollektiv organisiert werden kann, ohne dass dabei die individuelle Selbstbestimmung immer schon durch kollektive Ziele ausgestochen wird. Damit umfassen alle drei Rechtsphilosophien sowohl sogenannte monologische wie auch dialogische Bausteine. Monologisch sind sie insoweit, als das Problem der Konflikte und von Dissens zwischen freien Wesen mit der Handlungsfähigkeit der Einzelnen anhebt. Dialogisch sind sie insoweit, als die Problemlösung nur unter Berücksichtigung der anderen Handelnden gefunden werden kann. Dies führt zu der Frage, worin der normative Eigensinn von Recht besteht, der eine Autonomie des Rechts gegenüber Moral und Ethik begründet.

II. „Ent-Substantialisierung“ der Frühen Neuzeit und „Selbstpositionierung“ durch aufgeklärte Regelsetzung als Hintergrundannahmen Mit Kants kritischer Philosophie setzt die „Aufklärung über die Aufklärung“ ein.313 Die aufklärerische Kritik, etwa von Hobbes und Locke, an bloßen ontologischen Seinsbehauptungen und davon abgeleiteten politischen Ordnungsvorstellungen wird durch eine Reflexion auf die eigenen Voraussetzungen aufgeklärten Denkens überstiegen. Die Ent-Substantialisierung der Frühen Neuzeit nach William von Occam und die aufgeklärte Regelsetzung nach Grotius und Pufendorf bilden die um 1800 bereits traditionellen Hintergrundannahmen für eine weitere Aufklärung der ihrerseits aufgeklärten Rechtskonzeptionen.

1. „Ent-Substantialisierung“ der Frühen Neuzeit als Ausgangspunkt Das Denken im Ausgang von metaphysischen Vorgaben bildet den Rahmen von Autonomie in der Frühen Neuzeit. Das Sein bestimmt das Denken. Zwar wird schon bei Thomas von Aquin der Wille des menschlichen Gesetzgebers zu einem Thema, wenn auch noch vor dem Hintergrund eines Weltbildes, das die Ordnung der Welt als Teil eines von der göttlichen Vernunft beherrschten Universums versteht.314 Der Einzelne gewinnt hier in der Welt seine 313 So Zöller, Aufklärung über Aufklärung. Kants Konzeption des selbständigen, öffentlichen und gemeinschaftlichen Gebrauchs der Vernunft, in: Klemme (Hrsg.), Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, 2009 , S. 82–99. 314  v. Aquin, Summa theologica I–II, qu. 91, a 2.c. geht davon aus, dass das menschliche Geschöpf an der ewigen Vernunft selbst teilhat.

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Stellung durch die Gnade dieser göttlichen Ordnung. Damit ist das politische Denken thomasischer Prägung letztlich durch einen Vorrang der göttlichen, allgemeinen Ordnung vor den Interessen und dem Willen des Einzelnen festgelegt.315 Bei Wilhelm von Occam dagegen genießt bereits das Individuum einen metaphysischen Vorrang. Entsprechend werden auch in seinem politischen Denken ein Vorrang des Individuums vor kollektiven Institutionen und ihren Werten sichtbar.316 Die Herrschaft weltlicher Institutionen, so Occam, ist der Freiheit der Person verpflichtet.317 Mit dieser Überlegung wird der Weg für die Aufklärungsphilosophie des 15., 16. und 17. Jahrhunderts bereitet. Die Frage nach der Positionierung der freien Person ohne substanzielle Vorgaben kann in den Mittelpunkt rücken.

2. „Selbstpositionierung“ durch aufgeklärte Regelsetzung Es lassen sich zwei unterschiedliche Positionierungen des nunmehr entsubstantialisierten Selbst unterscheiden. Einerseits wird individuelle Selbstbestimmung der staatlichen Macht und ihrer Souveränität unterworfen. Mit Hobbes’ materialistischer, mechanistischer Vorstellung der Weltordnung wird der weltliche Herrscher zum allmächtigen Leviathan.318 Die Zentralmacht soll die Sicherheit der Beherrschten herstellen und den Krieg aller gegen alle beenden. Für jeden Einzelnen wird es in einem mechanistisch-kalkulierenden Sinn vernünftig, sich seines natürlichen Rechts auf alles in einem Gesellschaftsvertrag zu entäußern, um Sicherheit vor den jeweils anderen durch eine Zentralmacht als Sachwalterin der öffentlichen Autonomie zu gewinnen.319 Die Zentralmacht allerdings unterliegt gegenüber dem Individuum keinen Bindungen.320 Gerade die Idee subjektiver Rechte ist ihr fremd. Selbst Interpretationen, die versuchen, den Acquis der Grund- und Menschenrechte auch bei Hobbes zu verankern, können bei Hobbes (im Unterschied zu Locke) nur

315 

v. Aquin, Summa theologica I–II, qu. 90, a 3 ad 2. v. Ockham, Summa logica, Opera, Bd. I, hrsg. v. Bonaventure, S. 124. 317  v. Ockham, Texte zur politischen Theorie, hrsg. und übers. v. J. Miethke, S. 174. 318  Innerhalb der materialistischen Argumentationsstrategie Hobbes’ ist die Furcht vor der ersten Macht (= vor Geistern) die eigene Religion eines jeden Menschen, die schon vor der bürgerlichen Gesellschaft in der Natur des Menschen angelegt ist. Die Furcht vor der zweiten Macht (= Macht der Menschen über Menschen) ist nicht natürlich gegeben, sondern muss durch die künstliche Errichtung der weltlichen Autorität geschaffen werden, Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, S. 108. 319  Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, S. 139, 165. 320  Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, S. 139, 165. 316 

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Ansätze für objektive Rechte erkennen – zum Beispiel das Eigentum –, die allein aus Gründen der Machtklugheit auch Einzelnen zugutekommen sollen.321 Rousseau führt schließlich eine Variante des Gesellschaftsvertrags ein, in der mit der „Volonté générale“ eine kollektive normative Idealität durch Werte wie „natürliche Solidarität“ und „Gemeinwohlorientierung“ gefüllt wird. Mit der „Volonté des tous“, dem tatsächlichen Willen aller, wird diese idealisierte „Volonté générale“ durch Abstimmungen verbunden, deren Ergebnisse für alle individuell Handelnden, auch für die unterlegenen Minderheiten, verbindlich sind.322 Andererseits wird in der Aufklärungsphilosophie mit Pufendorf die Idee des subjektiven Rechts manifest, indem er Dominium, Proprietas und Jus gleichsetzt.323 Er definiert subjektive Rechte als das moralische Vermögen, individuell berechtigte Gewalt über Personen und Sachen auszuüben oder das von anderen Geschuldete verlangen zu können.324 Damit wird die Stellung des Einzelnen gegenüber einer kollektiven Ordnung hervorgehoben. Rechte können – zumindest hypothetisch – erstmals zu „Trümpfen“ des Einzelnen werden. Allerdings werden diese Rechte des Einzelnen noch in eine Welt der (objektiven) Pflichten eingebettet, die das einzelne Selbst befolgen muss, um rechtsfähig zu sein.325 Durch Thomasius wird schließlich die Unterscheidung von Recht und Moral, von äußerer und innerer Gesetzgebung vollzogen.326 Nach dieser Trennung wird nun das Problem virulent, wie subjektive Rechte in ein rechtliches Umfeld eingebettet werden können. Diese Frage wird rechtsphilosophisch auf einer neuen Theorieebene verhandelt, die nunmehr die Bedingungen von aufgeklärter Regelsetzung thematisiert.

3. Aufklärung über die Bedingungen von aufgeklärter Regelsetzung Autonomie, das heißt Selbstgesetzgebung, wird innerhalb des Rahmens der „Aufklärung über Aufklärung“ zum eigenständigen und zentralen Begriff eines eigenen Feldes, der praktischen Philosophie. Selbstbestimmung bedeutet seit Kant weder, einfach empirischen Neigungen zu folgen, noch, sich idealistischen Träumereien hinzugeben. 321  Dyzenhaus, Hobbes’ Constitutional Theory, in: Shapiro (Hrsg.), Leviathan, 2010, S. 453–480. 322  Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, S. 17, 22, 26. Zum Beispiel eines Eigentums jenseits exklusiver Zuordnung im Anschluss an Rosseau: Rehm, „Ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem“. Rousseaus bedingte Legitimation des Privateigentums, in: Ludwig/Eckl (Hrsg.), Was ist mein?, 2005, S. 103–117. 323  Pufendorf, De jure naturae et gentium, S. 255 f. betont die Rechtsperson als zentralen Bezugspunkt menschlicher Normen. 324  Pufendorf, De jure naturae et gentium, § 19 und § 20. 325 So Pufendorf, De officio hominis et civis (1673), 1, 1, 1. 326  Thomasius, Instit. jurispr. divinae libri tres (1687, 71720, ND 1963), I, 4, § 29.

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Selbstbestimmung bedeutet mit Kant, Freiheit und Form auch im Gegenstandsbereich des Handelns miteinander zu verbinden. Dabei zeigen gerade aktuelle Debatten der Kant-Forschung zu Ethik und Tugendlehre, dass selbst der kategorische Imperativ der Grundlegungsschriften nicht allein Ausdruck eines Rigorismus oder Formalismus ist, sondern lediglich als Ankerpunkt für die Aufgabe einer Realisierung der Kausalität aus Freiheit in Anspruch genommen wird.327 Die Betonung der Gesetzmäßigkeit, des Strukturmoments von Handlung, hat für die weiteren Überlegungen einer kritischen Rechtsphilosophie die weiterreichende Konsequenz, dass rechtliche Normen weder auf Vorstellungen vom Guten noch auf die Ziele einer Gemeinschaft zurückgeführt werden können. Den Ausgangs- und Zielpunkt rechtlicher Normbegründung bildet allein die Handlungs- und Selbstbestimmungsfähigkeit des Einzelnen im Verhältnis zu Handlungs- und Selbstbestimmungsfähigkeit anderer Einzelner.

4. Unterschiedliche Wege zur Willensfreiheit relativ zur Erkenntnisphilosophie Mit der kopernikanischen Wende Kants beginnt in der klassischen deutschen Philosophie ein Begründungsdiskurs, der die tradierte Wahrheitsorientierung der Erkenntnisphilosophie (Wahrheit als Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand) durch die mittels Vernunftregeln explizierbare Relationsbeziehung zwischen Erkennendem und Erkanntem ersetzt.328 Die Umstellung der Erkenntnisphilosophie vom Wahrheitsparadigma auf die beobachtende Relationsbeziehung zwischen Erkennendem und Erkanntem führt in der praktischen Philosophie weg von den auf substanziellen oder göttlichen Wahrheiten gegründeten Handlungsanweisungen hin zu den Aufgaben sowohl einer individuellen wie auch einer gesellschaftlichen Selbstbestimmung unterschiedlicher Akteure. Die Rechtsphilosophien von Kant, Fichte und Hegel gehören zu einer Konstellation aufklärerischen Denkens, die dieses Problem adressiert. Die Fragen „Was soll ich tun?“ und „Wer wollen wir sein?“ werden im Rahmen der Kant, 327 So z.B. die Arbeiten zur kantischen Tugendlehre von Esser, Kants Tugendlehre, S. 397 f. und Timmermann, Autonomy and Moral Regard for Ends, in: Sensen (Hrsg.), Kant on Moral Autonomy, S. 212–224; für ein am geltenden Recht methodisch abzusicherendes Verständnis des Rechts aus Freiheit etwa Jakl, Recht aus Freiheit, S. 112–117 und Ripstein, Force and Freedom, S. 240–243. 328  So die europäische Denktradition und ihre moderne Wende pointiert zusammenfassend bereits Cassirer, Erkenntnisproblem, Bd. 2, S. 662, 668, 672 f. Für die kantische Leistung, durch die Fokussierung der Relationsbeziehung ziwschen Erkennendem und Erkanntem jede Art von Objektivität durch Subjektivität epistemisch handhabbar zu machen, gegenwärtig Höffe, Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, S. 42– 52.

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Fichte und Hegel gemeinsamen transempirischen Herangehensweise durch den Rückgang auf die jeweiligen Denkvoraussetzungen von Normenbegründungen zu rational beantwortbaren Fragen. Dabei verhandeln alle drei das Recht als einen Gegenstandsbereich, der neben andere tritt, etwa neben die Gegenstandsbereiche der Ethik, der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und der Kunst. Die Suche nach einem Unterscheidungskriterium zwischen legitimem Zwang und Gewalt sowie die formalen Gemeinsamkeiten eines transempirischen Begründungszusammenhangs im Rahmen eines Entwicklungszusammenhangs legen es nahe, die drei Rechtsphilosophien neben- und miteinander zu lesen, um ihre inhaltlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu beleuchten. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den drei Rechtsphilosophien werden in vier Schritten untersucht. Zunächst werden in einem ersten Schritt kurz die unterschiedlichen Weisen vorgestellt, durch die Kant, Fichte und Hegel den freien Willen erschließen bzw. kontextualisieren. Die argumentativen Verfahren, mit denen Kant, Fichte und Hegel die Willensfreiheit bestimmen, sind sehr unterschiedlich, teilen aber schließlich doch ein Grundmodell von Handlung, demzufolge Handeln die Realisierung von Vorstellungen bedeutet.

a. Kant und die Bestimmung der Erkenntnisgrenzen Für Kant beginnt die Entdeckung der Möglichkeit von Freiheit mit der Bestimmung der Erkenntnisgrenzen der theoretischen Philosophie in der Kritik der reinen Vernunft. Die Willensfreiheit ist eine der Endabsichten, „worauf die Spekulation im transzendentalen Gebrauch zuletzt hinausläuft“.329 Dabei geht Kant davon aus, dass diese praktische Freiheit des Willens nur durch Erfahrung und nicht erfahrungsfrei bewiesen werden könne. Kant unterscheidet in der Kritik der reinen Vernunft zwischen einer „tierischen Willkür“, die nur durch sinnliche Antriebe bestimmt werde, und einer „freien Willkür“, die durch vernünftige Beweggründe bestimmt werden könne.330 An dieser Stelle der Methodenlehre der reinen Vernunft setzt für Kant die Suche nach Gesetzen der Freiheit ein, „welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht, und sich darin von den Naturgesetzen unterschieden, weshalb sie auch praktische Gesetze genannt werden“.331 Die erst auf Grund der Erkenntnisgrenzen der theoretischen Philosophie sinnvolle Frage nach den Gesetzen der Freiheit führt in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zur Entdeckung des Sittengesetzes. Das, was nach der Abstraktion von sinnlichen Bedingungen im ersten Abschnitt als Orientierungspunkt bleibt, ist die allgemeine Form von Gesetzlichkeit. Das Sittengesetz 329 

Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 798/B 826. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 802/B 830. 331  Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 802/B 830. 330 

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tritt dem endlichen Vernunftwesen als eine Nötigung entgegen, als sogenannter „kategorischer Imperativ“.332 Allerdings bleibt die Freiheit zentrale Voraussetzung der praktischen Philosophie, obgleich sich „wie diese Voraussetzung selbst möglich sei, (…) sich durch keine menschliche Vernunft jemals einsehen ­(lässt)“.333 Wie Freiheit möglich ist, lässt sich Kant zufolge zwar theoretisch nicht einsehen,334 jedoch ermöglicht die Verbindung von Freiheit und Gesetzlichkeit im Sittengesetz einen strukturierten Handlungsbegriff und damit die Aussicht auf eine Wirklichkeit von Freiheit. Die Kritik der praktischen Vernunft beschränkt ihr Erkenntnisziel entsprechend darauf, „die empirisch bedingte Vernunft von der Anmaßung abzuhalten, ausschließungsweise den Bestimmungsgrund des Willens abgeben zu wollen.“335 In das Zentrum rückt in handlungstheoretischer Hinsicht das Begehrungsvermögen. Es ist das Vermögen, „durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein.“336 Das Begehrungsvermögen bleibt auch in der Metaphysik der Sitten der Ausgangspunkt der Überlegungen zur Wirklichkeit von Freiheit. Auch dort gilt: „Begehrungsvermögen ist das Vermögen, durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“.337 Sowohl in der Kritik der praktischen Vernunft wie auch in der Metaphysik der Sitten soll die Art und Weise der Bestimmung des Begehrungsvermögens begründet werden, die die Kausalität aus Freiheit neben der naturgesetzlichen Kausalität prägt. Kant zielt auf die Begründung eines selbstständigen „oberen“ Begehrungsvermögens, das vernunftorientiert bestimmt wird. Er trennt daher in der Metaphysik der Sitten klar zwischen Willens- und Willkürbestimmung. Während die Willensbestimmung den jeweiligen Selbstbestimmungsakt bezeichnet, das Sittengesetz zu affirmieren, bezeichnet die Willkürbestimmung die konkrete Bildung eines Handlungsplans bzw. -ziels.338 Das Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft bleibt jedoch unterbestimmt. Kant geht von einem Primat der praktischen Vernunft aus.339 Auch die Kritik der Urteilskraft, die mit dem Zweckbegriff die Überlegungen zum Begehrungsvermögen aufnimmt, ändert dies nicht und verbleibt bei der Ablehnung sowohl eines intuitiven Verstandes wie auch einer intellektuellen 332 

Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 412–421. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 461. 334  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 459, S. 461. 335  Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 31. 336  Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 16, Fn. zu S. 15. 337  Kant, Metaphysik der Sitten, S. 210. 338  Kant, Metaphysik der Sitten, S. 213: „Der Wille ist (…) das Begehrungsvermögen, nicht sowohl (wie die Willkür) in Beziehung auf die Handlung, als vielmehr auf den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung betrachtet, und hat selber vor sich keinen Bestimmungsgrund, sondern ist, sofern sie die Willkür bestimmen kann, die praktische Vernunft selbst.“ 339 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 215 ff. 333 

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Anschauung.340 Die Spaltung zwischen Anschauung und Denken bleibt ebenso bestehen wie die zwischen theoretischer und praktischer Vernunft. Sowohl Fichte wie auch Hegel kritisieren, dass für Kant die praktische Vernunft die Freiheit voraussetzt, sich aber zugleich mit ihrem Status als einer theoretisch uneinsehbaren und dennoch praktisch erfahrbaren und deswegen wirksamen Voraussetzung begnügt. Dies sei widersprüchlich und bedürfe weiterer Aufklärung.341

b. Fichte und die Duplizität von Denken und Wollen Um diesem „Mangel“ der praktischen Philosophie Kants abzuhelfen, verlegt Fichte in der Grundlage des Naturrechts von 1796 die Begründung von Freiheit in das Denken selbst und hebt so die kantische Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft zu Gunsten einer ursprünglichen Duplizität von Denken und Wollen342 auf. Schon die Grundlage des Naturrechts von 1796, die in ihren ersten Paragrafen eine kurze, aber prägnante und teils revidierte Neufassung der zu diesem Zeitpunkt bereits publizierten Wissenschaftslehre von 1794 enthält, setzt damit ein, dass Vernunft und Freiheit für endliche Vernunftwesen nur eodem actu angenommen werden könnten. Fichte geht von der freien Wirksamkeit aus und unterscheidet sodann zwei Formen derselben. Er greift damit die simultane Setzung von Ich und Nicht-Ich aus seiner Wissenschaftslehre – 1794 auf. Die eine, in der die Tätigkeit „gebunden“ ist, bezeichnet er als Weltanschauung und entspricht dem „Nicht-Ich“.343 Die andere, der Weltanschauung entgegengesetzte Tätigkeit, die dem „Ich“ entspricht, bezeichnet Fichte als freie Tätigkeit, die in der Weltanschauung beschäftigt sei. 340 Vgl.

Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 345–354. Fichte, Wissenschaftslehre – 1794; Hegel, Naturrecht; Förster, Kant’s Final Synthesis, S. 116 zeigt, wie Kant selbst dieses Problem in der „Selbstsetzungslehre“ des Opus Postumum verhandelt, um die Einheit theoretischer und praktischer Vernunft zu beweisen. Zöller, Fichte’s Transcendental Philosophy, S. 110, 113 f. betont, dass Fichte die kantische Transzendentalphilosophie radikalisiert, indem er nicht nur die Sinnenwelt, sondern auch die praktischen Verhältnisse in die transzendentale Subjektivität verlagert. Fichte wiederum, so Siep, Hegels Fichtekritik und die Wissenschaftslehre von 1804, S. 16, käme nicht zu einem absoluten System Hegels, in dem das Absolute die (unbegreifliche) Einheit der Gegensätze sei. Fichte unterscheide weiterhin die Erscheinung des Absoluten von seinem Sein und gelange so nur zur „absoluten Erscheinung“, dem sich als Äußerung und Bild des Absoluten wissende („transzendentale“) Wissen. Houlgate, Glauben und Wissen: Hegels immanente Kritik der Kantischen Philosophie oder die (illegitime) Ahnung eines Besseren?, in: Arndt/Bal/­ Kodalle/Vieweg/Ottmann (Hrsg.), Hegel-Jahrbuch, 2005 betont die ontologische Dimension bei Hegel als entscheidende Weiterentwicklung gegenüber Kant. Quante, Hegels Begriff der Handlung, S. 246 sieht in Hegels Anspruch einer „wahren“ Beschreibung kein ontologisches, sondern ein teleologisch-ontologisches Kriterium, da der Standpunkt, von dem aus gesprochen werde, immer der einer höheren Stufe auf dem Weg zu Absolutem sei. 342 Vgl. Zöller, Fichte’s Transcendental Philosophy, S. 3. 343  Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 19. 341 Vgl.

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Der erste Lehrsatz betont daher die zentrale Rolle der freien Wirksamkeit: „Ein endliches vernünftiges Wesen kann sich selbst nicht setzen, ohne sich eine freie Wirksamkeit zuzuschreiben.“344 Im Zentrum steht damit der Begriff der „freien Wirksamkeit“, die auch mit dem Begriff des „Bildens“ belegt wird. Wie das kantische Begehrungsvermögen bezeichnet sie eine selbstbezügliche Aktivität, die sich auf ihre äußere Wirksamkeit bezieht und prinzipiell frei ist. Für Fichte gilt aber anders als für Kant: „Das Wollen ist der eigentliche wesentliche Charakter der Vernunft.“345 Für Fichte muss es möglich sein, Vorstellungen zu realisieren, da sonst das Denken selbst nicht wäre. Im Unterschied zu Kant geht Fichte davon aus, dass die theoretische Vernunft eine besondere Form der praktischen Vernunft darstellt. Die Betonung der freien Wirksamkeit bleibt auch beim späten Fichte in der Rechtslehre von 1812 bestehen. Das Recht wird hier nicht mehr wie in der Grundlage des Naturrechts aus dem Selbstbewusstsein und Denken entwickelt, sondern als „Mittelglied“ zwischen Sollen („Freiheit“) und Sein („Naturkraft“) vorgestellt.346 Dem Recht kommt die Aufgabe zu, die Zwänge der Natur den Gesetzen der Freiheit gemäß zu kultivieren.

c. Hegel und das Absolute (Wissen) Hegel zielt zur Überwindung der kantischen Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft wie auch zur Überwindung des „Fichte’schen Systems“ auf eine umfassende Reflexion, in der das Absolute „fürs Bewußtsein konstruiert werden“ soll.347 Da aber jede Konstruktion immer schon Beschränkun­ gen mit sich bringe, bestehe die Aufgabe der Philosophie vor allem darin, den Widerspruch zwischen dem Anspruch eines Zugriffs auf das unbegrenzte Absolute und den begrenzten Möglichkeiten des Bewusstseins zu vermitteln.348 Insbesondere geht Hegel im Gegensatz zu Kant davon aus, dass in der Spekulation, wie er seine umfassende Reflexion bezeichnet, Idealität und Realität eins seien.349 Damit markiert Hegel auch seine Absetzung von Fichte, der zwar in seiner Wissenschaftslehre – 1794 die Entgegensetzung von der Idee eines unabhängigen Ich mit dem Nicht-Ich, dem Bestimmtsein der Natur aufdecke, aber diese Entgegensetzung selbst nicht mehr auflöse, sondern nur unendlich alterniere.350 Hegel spricht hier auch von einer „schlechten Unendlichkeit“ bei

344  Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 17 und ders., Grundriss des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre (1795, 1802), S. 331 f. 345  Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 21. 346  Fichte, Rechtslehre – 1812, S. 497. 347  Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems, S. 25. 348  Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems, S. 25. 349  Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems, S. 43. 350  Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems, S. 77.

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Fichte, der er seine Konzeption des Absoluten entgegensetzt, in der Gegensätze strukturell versöhnt oder aufgehoben würden.351 Ungeachtet dieser fundamentalen Kritik an Kant und Fichte schreibt Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, seinem einzigen eigenständigen Werk zur praktischen Philosophie, dem Willen bereits in der Einleitung und damit vor der Entwicklung des Willensbegriffs eine zweigliedrige Struktur zu. Der Wille sei „die Einheit dieser beiden Momente; – die in sich reflektierte und dadurch zur Allgemeinheit zurückgeführte Besonderheit“.352 Das Moment der Allgemeinheit besteht aus abstrakten leeren Vorstellungen, während das Moment der Besonderheit materiale, sinnliche Konkretisierungen bezeichnet. Trifft der Wille auf die Außenwelt, so kommt ihm die Funktion zu, „den subjektiven Zweck durch die Vermittlung der Tätigkeit und eines Mittels in die Objektivität zu übersetzen“.353 Wie bei Kant und Fichte kommt dem Willen auch bei Hegel die Aufgabe zu, Vorstellungen zu realisieren. Im Anschluss unterscheidet Hegel – wie Kant – zwischen Wille und Willkür. Während Willkür den Willen bezeichnet, der immer nur unbewusst, von außen, bestimmt wird, kennzeichnet den „wirklichen“ Willen, dass er seine Struktur bewusst einsetzt und damit auch vernünftig, aus willens-immanenten Gründen bestimmbar ist.354 Anders als bei Kant wird die Willkür, die bei Kant auch frei, durch den Willen, bestimmbar ist, von Hegel als eine andere, nämlich immer äußerlich bestimmte Daseinsform des freien Willens eingeführt. Hegel entwickelt dabei aber wie Kant einen Begriff von Handlung, ohne eine soziale Praxis oder eine besondere Form von Anerkennung vorauszusetzen. Die soziale Praxis wird erst bei der Frage wichtig, welche Vorstellungen der Wille ausbildet.355

d. Handlungsmöglichkeit als minimale Voraussetzung Trotz der unterschiedlichen Wege zum Problem der Willensfreiheit und auch anderer begrifflicher Ausdifferenzierungen teilen Kant, Fichte und Hegel zwei Annahmen: (a) Zentrale Aufgabe des Willens ist die Fähigkeit, Vorstellungen zu realisieren. (b) Diese Fähigkeit kann nur dann sinnvoll ausgeübt werden, wenn sie bewusst gebraucht wird. Mit der Möglichkeit, Vorstellungen zu realisieren,

351 Etwa

Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 519. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 54. 353  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 58. 354  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 65. 355  Vgl. für eine Isolierung des Handlungsbegriffs von einer umfassenden Personalitätskonzeption auch Quante, Hegels Begriff der Handlung, S. 244 f. im Anschluss an Davidsons These (Davidson, Handlung und Ereignis, S. 101), der zufolge Handlung als Zwecktätigkeit kausal wirksam sei. Ebenso McDowell, Having the World in View, S. 176, 178, dagegen Pippin, Die Verwirklichung der Freiheit, S. 75 f. und 80–82, obwohl dieser als Vertreter einer individualistischen Hegel-Lesart gilt. 352 

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geht zugleich das Problem der Willensbestimmung einher, das heißt der individuellen Selbstbestimmung.356 Alle drei Philosophien gehen mit der Fokussierung des freien Willens davon aus, dass aktive Gestaltungsmöglichkeiten trotz aller Zwänge und Begrenzungen durch theoretisch-determinierende Erkenntnisleistungen und äußere Umstände bestehen.357 Bei Kant wird dies mit dem Verweis auf die Verbindung von Freiheit und Gesetz begründet – ergänzt um das Primat der praktischen Vernunft. Fichte führt dies auf die ursprüngliche Duplizität von Denken und Wollen zurück. Hegel integriert dies in seiner umfassenden Reflexion auf das „Dasein des Willens“. Die in den unterschiedlichen Wegen zur Willensfreiheit von allen drei Philosophien geteilte Konzeption einer Möglichkeit, frei gebildete, gedachte Vorstellungen zu realisieren, wird im Folgenden als Grundstruktur von Handlung unabhängig davon aufgenommen, ob der Handelnde diese Struktur bewusst in Anspruch nimmt oder affirmiert. Handlung bedeutet damit, gedachte Vorstellungen raumzeitlich zu realisieren. Das Problem der Willensfreiheit, das hier nicht weiter adressiert werden muss, reduziert sich so auf die Annahme einer Handlungsmöglichkeit und liegt in dieser Beschränkung bis heute den philosophischen Debatten wie auch dem geltenden Recht zu Grunde.358 Umfassende Konzepte von Personalität, Menschenbilder oder Gottesbezüge müssen dazu nicht vorausgesetzt oder in Anspruch genommen werden. Die schwache Voraussetzung einer Handlungsmöglichkeit genügt,359 um die

356  Dieses strukturelle Problem wird in Debatten der sog. analytischen Moralphilosophie als Frage nach Handlungsgründen thematisiert. Der Sache nach im Einklang mit dem kantischen Konzept des Begehrungsvermögens wird überwiegend davon ausgegangen, dass Menschen Bedürfnisse haben, die sich durch Handlungen in der Außenwelt umsetzen. Dabei ist dann umstritten, ob die Begründungen für die Handlungen auch die Handlungsgründe sind. Dazu grundlegend Davidson, Freedom to Act, in: ders., Essays on Actions and Events, S. 63–82. 357  So sieht Pippin, Die Verwirklichung der Freiheit, S. 82 f. trotz aller Unterschiede das gemeinsame Band zwischen Kant und Hegel vor allem in ihrer Verpflichtung, problematische Annahmen wie die des „Selbstbeschränkens“ und „unseres Setzens“ bei praktischen Urteilen zu rechtfertigen. 358 Ebenso Quante, Hegels Begriff der Handlung, S. 139 f. und 230, der betont, dass H ­ egel seinen Handlungsbegriff unabhängig von der Frage entwickelt, ob der Handelnde eine moralische Einstellung hat. Allerdings verhandle das Moralitätskapitel auch nicht mehr eine Handlungskonzeption, sondern die Autonomie des subjektiven Willens. Anders dagegen noch Brandt, Immanuel Kant – Was bleibt?, in: Klemme (Hrsg.), Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, 2009, S. 538, 540, der auf Grund der Reformulierung der Ulpianischen Regeln in Kants Rechtslehre diese aus der Perspektive eines substantiellen Personseins des Menschen liest. Auch in der Rechtslehre, so Brandt, werde der Mensch als umfassende Person adressiert. 359  In der internationalen Debatte etwa Rawls, The Journal of Philosophy 77/9 (1980), S. 515–572; Dworkin, Justice for Hedgehogs, S. 6 ff.; Ripstein, Force and Freedom, S. 135.

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Frage aufzuwerfen, wie mit der neugewonnenen, zunächst nur gedachten Freiheit umzugehen ist.

III. Interaktive und individuelle Handlungshoheit als normativer Kern des Rechts der Moderne Rechtliche Regeln können für Kant, Fichte und Hegel nur dann gerechtfertigt sein, wenn sie die Frage überzeugend verhandeln, wie individuelle Selbstbestimmung kollektiv organisiert werden kann, ohne dass dabei die individuelle Selbstbestimmung immer schon durch kollektive Ziele ausgestochen wird, wie dies durch den Vorrang der intersubjektiven staatlichen Normenbegründung im Rahmen des öffentlichen Diskurses üblicherweise geschieht.360 Alle drei Rechtsphilosophien wollen die Frage beantworten, indem sie eine Rechtsidee (1.) mit einem fundamentalen Freiheitsrecht (2.) verknüpfen und in der Folge das Problem der Rechtsentwicklung (3.) fokussieren.

1. Interaktive Handlungshoheit als rechtliches Strukturmerkmal Die Kant, Fichte und Hegel gemeinsame Leitfrage gibt einen ersten Hinweis auf die Funktion des Rechts. Es soll den handelnden, interagierenden Individuen zum Zwecke ihrer Koordination trotz aller äußeren Zwänge eigene Handlungshoheit im Rahmen einer Rechtsordnung zugeschrieben werden. Die kollektive Normierung individueller Freiheit orientiert sich bei Kant, Fichte und Hegel jeweils an einer Rechtsidee, die eine interaktive Handlungshoheit ermöglichen soll.

a. Die Vereinbarkeit von Freiheitssphären Bei Kant handelt es sich um das allgemeine Prinzip des Rechts: „Eine jede Handlung ist recht, die oder durch deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.“361 Es überträgt die Idee der Gesetzesorientierung des kategorischen Imperativs auf das Verhältnis mehrerer Willkürstellen zueinander und blendet damit das Problem der individuellen Willensbestimmung aus.362 Ebenso wie der kategorische Imperativ nach Kants Überzeugung neben den objektiven Zwecken die Voraussetzungen einer individuellen Selbstbestimmung

360 S. o.

Teil 3 F. IV. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 231. 362  Vgl. ebenso Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 112–132 zur Diskussion um das Verhältnis von Recht und Sittengesetz sowie für eine eigenständige Bedeutung des Rechts bei Kant Jakl, Recht aus Freiheit, S. 113 und Ripstein, Force and Freedom, S. 358. 361 

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bildet, bildet das allgemeine Prinzip des Rechts eine Voraussetzung der kollektiven Selbstbestimmung.

b. Die Entdeckung des Anderen bei Fichte Fichte entwickelt in der Grundlage des Naturrechts von 1796 im Ausgang des vierten Lehrsatzes ein sogenanntes „Rechtsgesetz“, „dass jedes freie Wesen es sich zum Gesetze mache, seine Freiheit durch den Begriff der Freiheit aller übrigen einzuschränken“363. Die Verortung des Rechtsgesetzes in einem Begründungsgang, der die Entdeckung des Anderen als Voraussetzung der eigenen Wirksamkeit identifiziert, führt im Unterschied zu Kant zu einer subjektiveren, an den Einzelnen appellierenden Formulierung. Dabei muss bedacht werden, dass hier nicht an die konkrete Willensbestimmung eines freien Wesens appelliert wird („Soll“), sondern ein aus Fichtes Sicht unabdingbares, denknotwendiges Strukturmerkmal eines jeden freien Wesens formuliert wird („Muss“). Der Appell steht in einem Kontext, in dem es um eine allgemeine, objektive Ich-Struktur geht und nicht um eine bestimmte Person und ihre Biographie. 364 Auch um die überindividuelle Ableitung zu verdeutlichen, verändert der „späte“ Fichte in seiner Rechtslehre 1812 die Rechtsidee dem Inhalt nach nicht,365 obwohl sie in einem anderen Begründungsgang der späten Wissenschaftslehren, den der „Fünffachheit“ eingebettet wird,366 während die direkte Ableitung aus dem Selbstbewusstsein in den Hintergrund tritt. Die Idee des Rechts besteht sowohl in der Grundlage des Naturrechts als auch in der Rechtslehre 1812 darin, dass die äußere Freiheit des Einen mit der der Anderen übereinstimmt.

c. Das „Dasein des freien Willens“ als Recht bei Hegel und sein Verhältnis zu den Rechtsideen Kants und Fichtes Hegel identifiziert in der strukturellen Willensanalyse der Einleitung der Grundlinien das Recht mit dem freien Willen: „Dies, daß ein Dasein überhaupt Dasein des freien Willens ist, ist das Recht. – Es ist somit überhaupt die Freiheit als Idee.“367 Der freie Wille wird dabei, wie oben gesehen, als Handlungsvermögen vorgestellt. Anders als Kant und Fichte verbindet Hegel die Entdeckung „des Anderen“ mit dem Problem der inhaltlichen Willensbestimmung. Da die Willensbestimmung immer von äußeren, auch durch Andere bedingten Umständen abhänge, müsse eine Entwicklungsgeschichte des Willens entworfen 363 

Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 92 sowie ders., Rechtslehre – 1812, S. 502, 511. Vgl. so auch v. Manz, Fairneß und Vernunftrecht, S. 102, 103. 365  Fichte, Rechtslehre – 1812, S. 502 f. 366  Fichte, Wissenschaftslehre – 1812, S. 356 f., derzufolge die Erscheinung sich erscheint („Sicherscheinung“) und dadurch in eine Fünffachheit aus Anschauung und Begriff sowie Subjekt und Objekt zerfällt. 367  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 80. 364 

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werden, um seiner Begehrensstruktur gerecht zu werden.368 Die Grundlinien der Philosophie des Rechts erzählen daher nach ihrer Einleitung, die eine strukturelle Willensanalyse vornimmt, eine Entwicklungsgeschichte des Rechts vom abstrakten Recht über die Moralität zur Sittlichkeit, die im Staat ihre Erfüllung findet. Entsprechend lässt sich in der Entwicklungsgeschichte nicht eine Rechtsidee identifizieren. Vielmehr ergibt sich aus dem Zusammenspiel des einzelnen Willens mit den allgemeinen, durch Andere bedingten Umständen, was als Recht von den Beteiligten anerkannt und praktiziert wird. Die Rechtsidee geht nach Hegels Überzeugung immer mit einem bestimmten Inhalt einher. Die kantische Rechtsidee ist daher ebenso wie die fichtesche Rechtsidee Ausdruck eines bestimmten Entwicklungsstands des Rechts. Insoweit geht Hegel davon aus, beide Varianten der Rechtsidee in seiner Rechtsphilosophie unter anderem unter dem Titel des „abstrakten Rechts“ aufgenommen zu haben und überdies ihre Leistungen, aber auch ihre Schwächen und die daraus notwendigerweise folgende Überwindung dargelegt zu haben. Soweit das abstrakte Recht auf die Rechtsideen Bezug nimmt, muss wohl davon ausgegangen werden, dass die kantische und fichtesche Rechtsidee in Hegels Rechtsphilosophie inkorporiert wurden. Die hegelsche Rechtskonzeption wird so wiederum der Rechtsidee von Kant und Fichte angenähert. Alle Entwicklungsstufen der Grundlinien zielen auf eine Vermittlung des einzelnen Willens mit dem allgemeinen, überindividuellen Willen, also einer Instanz, die auch die Verhältnisse unterschiedlicher Willen zueinander identifiziert. Damit schreibt Hegel ebenso wie Kant und Fichte dem Recht die Aufgabe zu, durch jeweils allgemeine Gesetze die Verhältnisse der unterschiedlichen Willen zueinander zu bestimmen, bis schließlich im Staat eine Ordnung gefunden wird, die die unterschiedlichen Freiheiten aller Beteiligten so voneinander abgrenzt, dass das „Dasein des freien Willens“ wirklich geworden ist.369 Anders als bei Kant und Fichte werden diese allgemeinen Gesetze immer schon mit einem bestimmten Inhalt, wie etwa unter dem Titel der Familie, der Moralität und der Sittlichkeit, verbunden.370 Gerade deswegen wird aber auch hier die Aufgabe der Abgrenzung von unterschiedlichen Handlungsbereichen nach einem allgemeinen Gesetz besonders plastisch verhandelt, stellt sich doch immer erneut die Frage, worin dieses allgemeine Gesetz besteht und wie die

368  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 33, insb. S. 87 f. für die Entwicklung von der Familie über die bürgerliche Gesellschaft zum Staat. 369  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 398 f. und dies aufnehmend Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, S. 290 f. 370  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 30, insb. S. 83: „Jede Stufe der Entwicklung der Idee der Freiheit hat ihr eigentümliches Recht, weil sie das Dasein der Freiheit in einer ihrer eigenen Bestimmungen ist.“

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Übergänge von einem allgemeinen Gesetz zu einem anderen allgemeinen Gesetz verstanden werden können. Gerade im Blick auf die Übergänge von einer Formation zur anderen verweist Hegel schon in der Einleitung auf eine Grenze seiner Konzeption, die auch alle inhaltlichen Vorgaben trifft: Jede inhaltlich aufgeladene Entwicklungsgeschichte sei erst im Nachhinein schreibbar.371 Wenn aber die materiale Identifikation allgemeiner Gesetze erst ex post möglich wird, der Wille aber, so wie er in der Einleitung extrapoliert wird, ein für sich stehender Strukturbegriff ist, kann nicht nur das Ziel, einer dem freien Willen entsprechenden Verhältnisbildung mehrerer freier Willen gerecht werden zu wollen, identifiziert werden. Sondern es wird hier ebenso wie bei der Frage nach der Möglichkeit des Übergangs von einem Formativ zum anderen auch der von Kant und Fichte gewählte normative Ansatz sichtbar: Freiheit selbst soll zwischen unterschiedlichen Willen strukturierend wirken.

d. Die geteilte normative Struktur der interaktiven Handlungshoheit Die kollektive Normierung individueller Freiheit soll Kant, Fichte und Hegel zufolge selbst wiederum durch eine Freiheitsstruktur erfolgen. Freiheit und Form stehen in keinem Widerspruch zueinander, sondern Freiheit bedarf für ihre Verwirklichung der rationalen Formgebung.372 Die von Kant, Fichte und Hegel geteilte Rechtsidee schreibt dem Recht die Funktion zu, die äußere Freiheit des Einen mit der äußeren Freiheit der Anderen in Übereinstimmung zu bringen. Dies kann durch Abgrenzung wechselseitiger Freiheitssphären erfolgen oder durch die Betonung einer überindividuellen, allseits gewollten Gemeinsamkeit, die auf Handlungen der Beteiligten zurückgeführt werden können. Das Recht soll in allen drei Rechtsphilosophien im Ausgang der Vereinbarkeit und Koordination der unterschiedlichen Freiheitssphären eine interaktive Handlungshoheit der Handelnden auch entgegen empirischen oder geschichtlich gewachsenen Zuständen herstellen oder erhalten. Die rechtsphilosophischen Überlegungen zur Struktur von Handlung und Freiheit münden in der Idee, im Namen eines allgemeinen Gesetzes der Freiheit in alle Lebenshandlungen und -zusammenhänge menschlicher Wesen eine rechtliche Transversale einzuziehen, die auch bei anderweitig motivierten, etwa politischen und ethischen Entscheidungen zu berücksichtigen ist. Das Recht steht als normativer Bereich eigenständig neben anderen und dient der Herstellung und dem Erhalt der interaktiven Handlungshoheit. Es ist autonom, nicht weil es Teil eines umfassenden Begriffs von Autonomie ist, sondern weil es auf 371 Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 28: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist die Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen.“ 372  So schon Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, S. 155.

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Grund seiner Eigengesetzlichkeit gegenüber anderen normativen Bereichen unabhängig wird.

2. Individuelle Handlungshoheit und ihr Schutz als conditio sine qua non des modernen Rechts Die von Kant, Fichte und Hegel geteilte Rechtsidee der Abgrenzung von wechselseitigen Freiheiten und Freiheitsrechten, die der Herstellung und dem Erhalt der interaktiven Handlungshoheit dienen, begründet einen für sich bestehenden normativen Bereich. Die praktische Wirksamkeit hängt darüber hinaus davon ab, inwieweit die Rechtsidee auch aus Sicht der Handelnden ihre individuelle Freiheit herstellt oder fördert. Die allgemeine Rechtsregel wäre in der determinierten Welt der Erkenntnis nicht umsetzbar, wenn nicht einzelne sinnliche Wesen in diese Freiheitsstruktur eingebunden werden könnten. Diese Aufgabe übernehmen subjektive Rechte. Dabei schreiben Kant, Fichte und Hegel jeweils einem subjektiven Recht auf Freiheit eine normative Fundierungsfunktion für weitere subjektive Rechte zu.

a. Das angeborene Freiheitsrecht bei Kant Innerhalb des rechtlichen Rahmens, den die metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre ziehen, identifiziert Kant nur ein einziges angeborenes Recht: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“373 Das angeborene Freiheitsrecht verlangt, jedem Wesen menschlicher Form die Fähigkeit des Handelns zuzuschreiben, und gibt damit jedem einzelnen Akteur das Recht, seine Vorstellungen, seine Ideen der Lebensgestaltung zu verwirklichen, solange sie mit den Handlungen anderer koordiniert werden können. Es ist der Ankerpunkt für weitere, konkrete subjektive Rechte.374

b. Das „absolute Recht der Person“ bei Fichte Fichte fasst diese Idee eines angeborenen Freiheitsrechts ein Jahr vor dem Erscheinen der kantischen Rechtslehre bereits in den Gedanken eines sogenannten Urrechts als einem absoluten Recht: „Das Urrecht ist daher das absolute Recht der Person, in der Sinnenwelt nur Ursache zu sein (schlechthin nie Bewirktes).“375 Und setzt diesen Gedanken in seinen Überlegungen zum Völkerrecht 373 

Kant, Metaphysik der Sitten, S. 237. auch Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 211 f. Ebenso Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 225. 375  Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 11; ders., Rechtslehre 1812, S. 528. 374  So

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mit dem für Fichte einzigen Menschenrecht, dem Recht auf Rechte fort. Das „Urrecht“376 fungiert auch in der Rechtslehre 1812 als Ankerpunkt für die Idee individueller Rechte, wie etwa die Entwicklung des Eigentumsrechts aus dem „Urrecht“ zeigt.377 Von der Basis des Urrechts aus können weitere subjektive Rechte entwickelt werden.378

c. Das Recht auf Persönlichkeit bei Hegel Anders als bei Kant und Fichte wird die Idee subjektiver Rechte nicht neben eine Rechtsidee gestellt, sondern in die Entwicklungsgeschichte des freien Willens integriert. Sie verschwindet aber nicht in der inhaltlichen Ausformung unterschiedlicher Stadien der Entwicklung des freien Willens. Sie erscheint innerhalb der Entwicklungsgeschichte immer wieder an herausgehobener Stelle. Die hegelsche Entwicklungsgeschichte des freien Willens setzt mit der Entdeckung des individuellen Handelns ein. Am Beginn der Rechtsentwicklung wird zunächst die Bedeutung des Begriffs der Persönlichkeit mit der Realisierung einzelner Vorstellungen erläutert. Persönlichkeit bedeute, „daß ich als Dieser vollkommen nach allen Seiten (in innerlicher Willkür, Trieb und Begierde, sowie nach unmittelbarem äußerlichen Dasein) bestimmte und endliche, doch schlechthin reine Beziehung auf mich bin und in der Endlichkeit mich so als das Unendliche, Allgemeine und Freie weiß.“ 379 Zweitens werden Persönlichkeit und Rechtsfähigkeit miteinander verknüpft: „Die Persönlichkeit enthält überhaupt die Rechtsfähigkeit.“380 Der einzelne Handelnde hat damit das Recht, am allgemeinen Dasein des freien Willens zu partizipieren. Er hat mit anderen Worten das Recht, Vorstellungen auszubilden und zu realisieren, das heißt zu handeln.381 376 

Fichte, Rechtslehre – 1812, S. 529. Fichte, Rechtslehre – 1812, S. 517; zudem: S. 527 f., 542, 604. 378  So auch v. Manz, Fairneß und Vernunftrecht., S. 112. Fichte wird 1796 mit der Idee eines reflexiven Menschenrechts auf Rechte zu einem bisher ungenannten Paten der diskurs­ theoretisch-konstruktivistischen Konzeption eines Rechts auf Rechtfertigung durch Forst, Das grundlegende Recht auf Rechtfertigung, in: Brunkhorst/Köhler/Lutz-Bachmann (Hrsg.), Recht auf Menschenrechte, 1999, S. 66–105, 69. Anders dagegen Kersting, Kant über Recht, S. 192 und 194, der davon ausgeht, dass Fichte das Recht nur als Erlaubnis auslegt und deswegen das kantische Begründungsniveau der Rechtslehre nicht erreiche. Ebenso nimmt Horstmann, Die Theorie des Urrechts, in: Merle (Hrsg.), Johann Gottlieb Fichte, 2001, S. 113–123, 122 an, dass das Urrecht ein naturrechtliches Versatzstück darstelle, dessen Ausführung gründlich misslungen ist. 379  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 93. 380  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 95. 381  Trotz aller sozialen Bezüge eines individuellen Handelns geht auch Hegel an anderer Stelle von einem Menschenrecht aus, dem Recht auf Religionsfreiheit. Religion wird dabei nicht als eine bestimmte Religionsgemeinschaft verstanden, sondern als absolut geschützter Bereich einer individuellen Innerlichkeit. Diese muss von und vor jeder Gesellschaft ge377 

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d. Die geteilte normative Grundlage der individuellen Handlungshoheit Alle drei Rechtsphilosophien stellen der Rechtsidee ein individuelles, fundamentales Recht auf Freiheit zur Seite. Einzelne Handelnde müssen subjektiv zur Rechtsausübung berechtigt sein. Die vernunftrechtliche Konzeption der Realisierung von Recht als allgemeiner Freiheitsstruktur setzt nach der Überzeugung von Kant, Fichte und Hegel eodem actu mit der Entdeckung der Rechtsidee die Partizipation einzelner Rechtssubjekte und damit ein fundamentales subjektives Recht auf Freiheit voraus. Als fundamentales subjektives Recht schließt es an dieser Stelle jede rein konsequentialistische Interpretation der drei Rechtsphilosophien aus.382 Damit wird auch die Frage aufgeworfen, wem dieses Recht zugeschrieben werden soll. Das Verhältnis von Recht und Status wird virulent. Das Adjektiv „angeboren“, das Kant verwendet, um alle Individuen der menschlichen Gattung in die Herrschaft des Rechts einzubeziehen, verweist nicht auf ein natürliches Recht im Sinne einer immer schon vorgegebenen, bloß zu erkennenden natürlichen Position. Vielmehr sind das kantische „angeborene Recht“, das fichteanische „Urrecht“ und das hegelsche „Recht auf Personsein“ notwendige gedankliche Voraussetzung für die Verwirklichung von Recht, verstanden als vernünftige konstruktive gesellschaftliche Praxis der menschlichen Gattung. Jenseits von möglichen Unterschieden und schwierigen Fragen im Blick auf die Zuschreibung des basalen Rechts am Beginn und Ende des Lebens, hat jedes Wesen menschlicher Form ein Recht auf Rechte. Jede Rechtsordnung bedarf den Rechtsphilosophien Kants, Fichtes und Hegels zufolge eines solchen unverhandelbaren und in diesem Sinne absoluten Rechts, da erst ein solches subjektives Recht die Verbindung zwischen der allgemeinen Rechtsidee und der Konkretisierung dieser Idee in einem Einzelfall innerhalb des Rechts herstellt. Erst durch diesen rechtsimmanenten Partizipationsanspruch des Einzelnen an der allgemeinen Struktur des Rechts wird eine kohärente und konsistente Realisierung in Einzelfällen möglich.

schützt werden, Hegel, Die Positivität der christlichen Religion (1795/96), TW 1, S. 170 f.: „Freie Religionsübung zu haben und seinem Glauben getreu zu sein, ist ein Recht, in welchem der Mensch nicht erst als Mitglied einer Kirche, sondern als Staatsbürger geschützt werden muß [sic!] (…), ein Menschenrecht, das durch keinen Eintritt, in welche Art von Gesellschaft es sei, aufgegeben werden kann.“ 382  Als konsequentialistisch wird eine Normenbegründung von den Folgen her bezeichnet, vgl. Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, S. 11, der davon ausgehend eine philosophische Analyse des Konsequentialismus-Begriffs vornimmt. Zur Rolle des Konsequentialismus in der ökonomischen Analyse des Rechts s. o. Teil 2 C. III. Für eine Deutung des angeborenen Rechts auf Freiheit bei Kant als nichtkonsequentialistische Individuation der allgemeinen Rechtsidee siehe auch Ripstein, Force and Freedom, S. 35 f.

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IV. Die Entwicklung der Handlungshoheit in einer positiven Rechtsordnung Die Frage, ob und wie die kollektive Selbstbestimmung nach Gesetzen organisiert werden kann, die zugleich der individuellen Freiheitsdimension der Normadressaten Rechnung trägt, findet ihre normative Antwort, indem das Problem der Freiheitsäußerung gleichsam reflexiv zur Lösung erklärt wird: Handlungshoheit selbst soll durch die Rechtsidee und ihre Realisierung mittels subjektiver Rechte strukturierend wirken. Das Zusammenspiel von interaktiver Handlungshoheit und ihrer Realisierung durch individuelle Handlungshoheit gilt es für Kant, Fichte und Hegel weiterzudenken. Die interaktive Handlungshoheit soll auf eine Art verwirklicht werden, die sie als Rechtsidee, das heißt als Gesetz der Freiheit für den einzelnen Handelnde sichtbar werden lässt. Es stellt sich für die drei Rechtsphilosophien das Problem der weiteren Entwicklung des Rechts. Eine Rechtsentwicklung zu denken, bedeutet für die drei Rechtsphilosophien, weitere sinnliche Bedingungen hinzuzunehmen. Die Hinzunahme weiterer sinnlicher Bedingungen erfolgt dabei auf zwei Weisen. Erstens geht es um die Materialisierung, das heißt die inhaltliche Anreicherung der jeweils eigenen philosophischen Theoriekonzeption. Umfangreiche Überlegungen stellen alle drei Rechtsphilosophien zu Eigentum, Vertrag, Persönlichkeit und Staatsbegründung an, die für die Identifikation rechtlicher Strukturen der Moderne in der Gegenwart nunmehr als zeitgebundene Beispiele herangezogen werden können. Sie sind insoweit für das hier entscheidende Projekt der Identifikation normativer Grundlagen des Schuldvertragsrechts nur eingeschränkt einschlägig, soweit sie ihren Charakter als Anwendungsvorschläge normativer Grundlagen verdeutlichen.383 Zweitens berücksichtigen die rechtsphilosophischen Entwürfe Kants, Fichtes und Hegels bereits den Bezug ihrer normativen Grundlagen auf eine geltende Rechtsordnung. Diese Art und Weise der Hinzunahme sinnlicher Bedingungen ist von zentraler Bedeutung für den Status der normativen Grundlagen, sind sie doch erst rechtswissenschaftlich anschlussfähig, sofern der Übergang von der rechtsphilosophischen Perspektive zur rechtswissenschaftlichen Perspektive innerhalb einer Rechtsordnung berücksichtigt wird.384

383  384 

Dazu Teil 2 G. IV. 1. Dazu Teil 2 G. IV. 2.

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1. Die Anwendungsvorschläge der philosophischen Rechtsphilosophie Die rechtsphilosophischen Anwendungsvorschläge der drei Philosophien werden hier lediglich herangezogen, um die unterschiedlichen Konzeptionen der inhaltlichen Anreicherung von interaktiver und individueller Handlungshoheit zu illustrieren.385

a. Grundlegung und Anwendung bei Kant In Kants Rechtslehre nimmt die Entwicklung die Gestalt von Grundlegungsund Anwendungsverhältnissen an. Die Rechtsidee und das angeborene Freiheitsrecht aus der Einleitung in die Rechtslehre sind die normativen Grundlagen der weiteren Ausgestaltung der kantischen Rechtslehre in den beiden Teilen, dem Privatrecht und Öffentlichen Recht. Die Anwendung setzt mit dem Privatrecht und den dort als zentral identifizierten Rechten des Sacheigentums und des Persönlichkeitsrechts ein. Der rechtliche Zustand hebt damit mit der „prima occupatio“, der ersten Erwerbung von Dingen, Grund und Boden an. Wer sich zeitlich vor anderen und einseitig eines Gegenstandes bemächtigt, dem wird dieser Gegenstand auch rechtlich als sein Besitz und Eigentum zugeordnet.386 Die „äußere Erwerbung“ ist exemplarisch für die Ausübung des angeborenen Freiheitsrechts. Der einzelne Handelnde hat eine Vorstellung, die er außerhalb, in der Sinnenwelt, umsetzen kann und durch die Zuordnung des Handlungserfolgs seine Handlungsfähigkeit erkennen kann.387 Die gleiche Funktion kommt dem persönlichen Recht zu, das einem Handelnden die „Causalität (die Willkür) zu wirken“388 zuordnet. Auch geistige Produkte, die zwar in Büchern verkörpert werden, aber sich ihrem Gehalt nach nicht in den Buchstaben erschöpfen, sollen, so Kant, ihrem Autor zugeordnet werden.389 Er gilt deswegen als einer der Väter des Urheberpersönlichkeitsrechts.390

385  Die Beispiele werden zum einen mit Blick auf die Beschränkung der Arbeit auf rechtssystematische Probleme des gegenwärtigen Schuldvertragsrechts auf das Zivilrecht und das Verfassungsrecht beschränkt. Beispiele aus dem Straf- und Völkerrecht werden daher nicht angesprochen, zumal sie von den Rechtsphilosophien zeitgebunden jeweils lediglich als Erweiterungen des Öffentlichen Rechts eingeführt werden. 386  Kant, Metaphysik der Sitten, S. 259, 263. 387  Ebenso für die Verankerung des Eigentumsrechts im angeborenen Freiheitsrecht Kersting, Kant über Recht, S. 65. Anders dagegen Rühl, Kants Deduktion des Rechts als intelligibler Besitz, der im Eigentumsrecht nicht eine erste Anwendung der normativen Grundlagen der Einleitung, sondern die normative Grundwertung der kantischen Rechtslehre selbst sieht. 388  Kant, Metaphysik der Sitten, S. 274 ff. 389  Kant, Metaphysik der Sitten, S. 290 f. 390  Kant, Metaphysik der Sitten, S. 289–291.

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

Über die mittels Sacheigentum und Persönlichkeitsrecht einem Handelnden zugeordneten Produkte, das heißt seinen verwirklichten Vorstellungen, kann der Einzelne im Rahmen von Vertragsverhältnissen verfügen. Der Vertrag ist „der Act der vereinigten Willkür zweier Personen.“391 Der privatrechtliche Vertrag dient dem Austausch von dem Einzelnen zugeordneten Rechtspositionen. Er ist ein zentraler Schritt der weiteren Ausgestaltung der Rechtsordnung, da zwei Handelnde sich einen Austausch gemeinsam zum Ziel setzen und damit ein von ihrem subjektiven Willen unabhängiges Handlungsprogramm schaffen, an das sie dennoch gebunden sind und in dessen Rahmen anders als bei dem einseitigen Versprechen jeweils der Eine die Willkür des Anderen „besitzt“.392 Das wesentlich mit besitz- und eigentumsrechtlichen Analogien argumentierende Privatrecht geht dem Staatsrecht voraus und wirkt begrenzend auf dieses. Der Staat hat die Aufgabe, die jeweiligen privatrechtlich durch die einzelnen Handelnden besetzten Bereiche ihrer Freiheit abzusichern. Diese Aufgabe des Staates rechtfertigt den Staat als Übermacht gegenüber dem Einzelnen. Die kantische Variante des Gesellschaftsvertrags, die dem Einzelnen ein Recht auf Zustimmung der Anderen zum Eintritt in einen staatlichen Zustand gibt, steht über dem Gedanken des „transzendentalen Tauschs“393 hinaus unter dem Vorbehalt, dass der Staat die privatrechtlichen Rechte schützt. Der privatrechtliche Vertrag dient als Muster für die gesellschaftsvertragstheoretische Rekonstruktion einer Legitimation der Zentralmacht durch die auch ideal mögliche Zustimmung aller.394 Die privatrechtliche Analogie geht so weit, dass aus der „Natur des bürgerlichen Vereins“ Rückschlüsse auf die Begründung und Verfassung von Staat und öffentlichem Recht gezogen werden.395 So bleibt einerseits die privatrechtliche „prima occupatio“ für Kant als provisorische Zuordnung von Sachen an Personen unter dem Vorbehalt der nachträglichen Rechtfertigung in einem öffentlich-rechtlichen Rechtszustand stehen, die sie erst zu einer „peremptorischen“ Zuordnung werden lässt.396 Damit soll der Widerspruch zwischen dem beliebigen, zufälligen Beginn des Rechtszustands durch eine „prima occupatio“ und dem späteren Anspruch auf gleiche Freiheitsrechte, wie er sich im öffentlich-rechtlichen Gesellschaftsvertragsgedanken397 niederschlägt, vermittelt werden. 391  Kant, Metaphysik der Sitten, S. 271. Kant entwirft in der Folge eine Vertragstypologie, Metaphysik der Sitten, S. 285. 392  Kant, Metaphysik der Sitten, S. 271, 273. 393 So Höffe, Ein transzendentaler Tausch, in: Gosepath/Lohmann (Hrsg.), Philosophie der Menschenrechte, 1998, S. 34 f. 394 Etwa Kant, Metaphysik der Sitten, S. 318. So auch Kersting, Kant über Recht, S. 80. 395  Kant, Metaphysik der Sitten, S. 318 ff. 396  Kant, Metaphysik der Sitten, S. 259, der hier zwischen der ersten, einseitigen Erwerbung und der ursprünglichen Erwerbung unter dem Regime eines öffentlich-rechtlichen Zustandes unterscheidet; Kant, Metaphysik der Sitten, S. 313. 397 Dazu Kersting, Kant über Recht, S. 110 ff.

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b. „Verwirklichung“ bei Fichte Mit der Verankerung der Rechtsidee im Selbstbewusstsein und der Deduktion des Urrechts als Realisierungsbedingung des Rechts ist für Fichte die Frage, „wie ein bloß formales Rechtsgesetz sich auf bestimmte Gegenstände anwenden (lässt)“,398 beantwortet. Der Entwicklungsgedanke rückt im Recht stärker als bei Kant in den Vordergrund. Zum einen werden unter der Perspektive der Unterscheidung von „Grundlage“ und „Anwendung“399 stärker als bei Kant die empirischen Bedingungen berücksichtigt. Zum anderen wird die Verwirklichung der Rechtsidee in diesem „Grundlegungs-Anwendungs-Schema“ mit der Berücksichtigung der Zeitachse und damit den historischen Umständen400 verknüpft. Anders als bei Kant und in Fichtes Rechtslehre von 1812, die ebenfalls den „Eigentumsvertrag“ an den Beginn der Anwendungsüberlegungen stellt, setzen die Anwendungsüberlegungen in der Grundlage des Naturrechts von 1796 nicht mit dem Privatrecht, sondern mit dem Staatsbürgervertrag ein401 und gehen erst danach auf das Privatrecht, insbesondere das Eigentumsrecht ein,402 um wiederum auf die Konstitution403 zurückzukommen. Damit wird einerseits die Rolle des Staates als der Instanz, der die Verwirklichung von Recht obliegt, hervorgehoben. Andererseits wirkt das Privatrecht aber dennoch begrenzend auf die Macht des Staates. Zum einen wird der Staatsbürgervertrag anders als bei Kant nicht idealisiert, sondern unter die privatrechtliche Anforderung einer tatsächlichen Zustimmung der Beteiligten gestellt.404 Zum anderen liegen Eigentum und Persönlichkeitsrecht anders als bei Kant dem Staat nicht voraus. Ebenso wie bei Kant stellt sich die Frage nach dem Inhalt dieser Rechte. Gerade am Beispiel des Eigentums diskutiert Fichte dies sowohl in der Grundlage des Naturrechts von 1796 wie auch in der Rechtslehre von 1812. Anders als Kant bleibt Fichte nicht bei einer Trennung von „provisorischer“, vorstaatlicher Eigentumserwerbung und „peremptorischer“, staatlicher Eigentumssicherung stehen, sondern rückt die Frage der inhaltlichen Bestimmung 398 

Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 136. Vgl. etwa die Überschrift des dritten Hauptstücks der Grundlage des Naturrechts sowie S. 8, 15, 121, 137, 147, 216; in der Rechtslehre 1812 etwa die Überschrift des 1. Abschnitts des 2. Teils, 3. Kapitel und S. 542, 597, 628. 400  Etwa die Rolle durch die Berücksichtigung der Politik, die „es mit einem besonderen, durch zufällige Merkmale bestimmten Staate zu thun hat“ in Grundlage des Naturrechts, S. 286 und die Auseinandersetzung mit dem „Kapital“ in Fichte, Rechtslehre 1812, S. 578 ff. 401  Fichte, Grundlage des Naturrechts, § 17, erster Abschnitt, insb. S. 194 auch mit Bezügen auf Hobbes’ Leviathan zur Überwindung des Rechts eines jeden auf alles. 402 Vgl. Fichte, Grundlage des Naturrechts, §§ 18–19, zweiter Abschnitt, insb. S. 213 f. und S. 217 ff. bis hin zu den Besonderheiten eines Eigentums an Tieren. 403  Fichte, Grundlage des Naturrechts, § 21, 3. Abschnitt, insb. S. 287 bis hin zur Frage, wie eine mittelbare Repräsentation des Volkswillens möglich sei. 404  Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 152 192 f., 210 f. 399 

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

in den Mittelpunkt. Damit deckt Fichte eine Reihe von Widersprüchen auf, die bei der Verwirklichung einer Rechtsordnung entstehen, die sowohl einer überindividuellen Struktur, der Rechtsidee, als auch der Idee subjektiver Rechte, dem „Urrecht“, verpflichtet ist. Fichte entwickelt anders als Kant nicht nur eine Form der rechtlichen Vernunft, sondern rückt das Spannungsverhältnis zwischen individueller und intersubjektiver Normenbegründung stärker in den Vordergrund, das das Recht auf seiner Anwendungsebene durchziehe. So wird dem sozialpflichtigen Eigentum an Grund und Boden das unbeschränkte Eigentum an Geld zur Seite gestellt, um das Eigentum als individuelles Freiheitsrecht unter staatlichen Bedingungen zu erhalten.405 Persönliche Rechte werden auch wegen der Betonung des Staates nicht im Blick auf die Interaktion zwischen freien Wesen erwähnt, sondern als individuelle Rechte auf persönliche Sicherheit und Unverletzlichkeit verstanden.406 Ebenfalls im Unterschied zu Kant wird bei der Analyse des privatrechtlichen Vertrags, der zur Eigentumsübertragung zwischen zwei Handelnden geschlossen wird, nicht nur die Übereinstimmung der beiden Willen betont, sondern auch der Interessengegensatz beider. Der Vertrag wird als „Vereinigung des streitenden Willens“ eingeführt.407 Die privatrechtliche Vertragsidee dient wie bei Kant im öffentlichen Recht der Staatsbegründung. Allerdings schließt Fichte eine Idealisierung aus und verlangt die tatsächliche Zustimmung aller Beteiligten.408 Im Unterschied zur Grundlage des Naturrechts bildet die Rechtslehre 1812 nicht ein in „Grundlage“ und „Anwendung“ geordnetes „System“, sondern spiegelt vielmehr einen lockeren, akzidentiellen Vorlesungsstil. Der Sache nach entwickelt Fichte aber ebenso wie in der Rechtslehre 1812 das Spannungsverhältnis zwischen individueller und intersubjektiver Normenbegründung im Rahmen einer Verwirklichung der Rechtsidee und des Urrechts. Das Recht wird als „Mittelglied“ zwischen Sollen („Freiheit“) und Sein („Naturkraft“) vorgestellt.409 Dem Recht kommt die Aufgabe zu, die Zwänge der Natur so weit den Gesetzen der Freiheit gemäß zu kultivieren, bis das „Sittengesetz“, die Möglichkeit einer umfassend freien, individuellen Lebensführung, möglich wird.410 Im Zentrum des Rechts stehen für Fichte daher mit Hobbes die Selbsterhaltung und Sicherheit des individuell Handelnden.411

405 

Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 240, S. 244 und Rechtslehre – 1812, S. 591 f. Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 246, Rechtslehre – 1812, S. 594. 407  Fichte, Rechtslehre 1812, S. 521; ders., Grundlage des Naturrechts, S. 191. 408  Siehe auch Teil 2 G. II. 2. 409  Fichte, Rechtslehre – 1812, S. 497. 410  Fichte, Rechtslehre – 1812, S. 517 ff. 411  Fichte, Rechtslehre – 1812, S. 517. 406 

G. Die Aufklärung des Vernunftrechts der Aufklärung

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Der „Eigentumsvertrag“ wird auch hier direkt an das Urrecht rückgebunden.412 Sein Inhalt wird aber stärker mit pragmatischen Überlegungen zur gesellschaftlichen Situation verknüpft, unter denen eine Sache einer Person zugeordnet wird: „Was in einem Hirtenstaate zu finden wäre, ist in einem ackerbauenden nicht zu finden.“413 In immer weiteren „Anwendungen des Gesagten auf das Besondere“414 versucht Fichte, situative Anleitungen zur inhaltlichen Bestimmung der Reichweite des Eigentums zu geben. Gerade in der Rechtslehre – 1812 wird deutlich, dass bei der Bestimmung des konkreten Umfangs von Rechten nicht nur viele argumentative Enden geordnet und verknüpft werden müssen, sondern auch der Anspruch der Rechtsreflexion, nicht nur die Bedingungen eines bestimmten Wissensbereichs, des Rechts, bewusst zu formulieren, sondern auch konkrete und unterschiedliche Arten des Wissens innerhalb dieses Bereichs zu diskutieren. Wie in der Grundlage des Naturrechts von 1796 versucht Fichte in der Rechtslehre – 1812, die auftretenden Widersprüche zwischen kollektiven und individuellen Überlegungen immer wieder durch ein Weitertreiben der Idee subjektiver Rechte aufzulösen, ergänzt diese Überlegungen aber stärker um volkswirtschaftliche Bezüge. Auch hier wird das Eigentum an Grund und Boden durch soziale Bezüge beschränkt, an den Begriff der Arbeit als kultivierender Tätigkeit geknüpft, die entlohnt werden müsse, und zugleich zum Ausgleich für die sozialen Bezüge ein unbeschränktes Eigentum an Geld gefordert.415 Dieses unbeschränkte Eigentum solle sodann einen Kreislauf zwischen Gemein- und Eigenbezug in Gang setzen, der den Wert des Geldes wiederum mit den Erträgen des kollektiven Wirtschaftens verknüpft.416 Unabhängig von der aus heutiger Sicht teils fehlenden Überzeugungskraft der einzelnen volkswirtschaftlichen Überlegungen417 bleibt nicht nur die frühe Verknüpfung zwischen dem Inhalt des Eigentumsrechts und seinen volkswirtschaftlichen Umständen bemerkenswert, sondern vor allem der Marx gegenläufige Versuch, ökonomische Überlegungen in den Dienst des Rechts zu stellen, um den Vorrang des Sollens vor dem Sein durchzuhalten.418 Es wird eine Unabhängigkeit des Rechts von der Ökonomie betont, die Ansätzen entgegensteht, die das Recht allein als Ausdruck von sozialer Macht sehen.419

412 

Fichte, Rechtslehre – 1812, S. 529. Fichte, Rechtslehre – 1812, S. 531. 414  Fichte, Rechtslehre – 1812, S. 542. 415  Fichte, Rechtslehre – 1812, S. 543, 550 ff., 578. 416  Fichte, Rechtslehre – 1812, S. 581. 417 Vgl. Dierksmeier, Über die Wirtschaftstheorie in Fichtes Rechtslehre von 1812, in: Zöller/v. Manz (Hrsg.), Praktische Philosophie in Fichtes Spätwerk, 2006, S. 26 f. 418 Vgl. Fichte, Rechtslehre – 1812, S. 591. 419  So aber z.B. Honneth, Das Recht der Freiheit, S. 613. 413 

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c. „Durchdringung“ bei Hegel Hegels Grundlinien des Rechts spielen nach der Vorstellung des Rechtsbegriffs420 und der Willensanalyse421 in der Einleitung verschiedene interaktive Handlungsstrukturen auch anhand des historischen Materials durch, um die Idee des an und für sich freien Willens begrifflich zu entfalten.422 Dabei werden, nach der gegenüber der Entwicklungsgeschichte eigenständigen, transempirischen Analyse des Willens, die Rechtsidee und ihre Geschichte miteinander verknüpft. Die Hinzunahme der sinnlichen Bedingungen geht so weit, dass das umfangreiche inhaltliche Material aus den Hegel bekannten normativen Ordnungen in eine gedankliche Strukturgeschichte eingepasst wird. Dem eigenen Anspruch nach kann der „Weltgeist“ identifiziert werden, indem die Zusammenhänge von idealen Ansprüchen oder Selbstverständnissen („Grundlegungen“, „an sich“) und realen Durchführungen oder Weltverhältnissen („Anwendungen“, „für sich“) unterschiedlicher normativer Ordnungen in systematischen und historischen Kontexten angeordnet werden, die bestimmten Relationen von Selbstverständnis und Weltverhältnis entsprechen. Rechtsentwicklung wird damit wesentlich als eine intellektuelle Strukturgeschichte begriffen, die inhaltlich durch konkrete historische Umstände aufgeladen wird, um so zu zeigen, dass und wie immer schon die Willensstruktur normbegründend wirksam war und ist.423 Hegel unterscheidet mit dem abstrakten Recht, der Moralität und der Sittlichkeit drei zentrale Entwicklungsstufen des Rechts, die jeweils nebeneinander bestehen können, da sie eine Stufe der Entwicklung der Idee der Freiheit darstellen.424 Gerade für rechtsphilosophische Zwecke liegt es nahe, die Stufen der Entfaltung der Rechtsidee nebeneinander zu lesen, um ihren normativen Gehalt zu identifizieren. Aus rechtsphilosophischer Sicht stellen die vorgestellten Stadien Typen von normativen Ordnungen dar, die nebeneinander bestehen können und müssen. Das Eigentumsrecht besteht neben den Problemen der Zurechenbarkeit, die Familie neben den Bedürfnissen des Einzelnen und der privatrechtliche Vertrag neben dem Staat. Jede Stufe zerfällt wiederum in Unterabschnitte, um die Genetisierung nach dem Muster einer bestimmten Setzung, ihrer Verwirklichung und des Rückbe-

420 

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 29–42 (§ 1–3). Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 46–85 (§§ 4–32). 422  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 33, insb. S. 398. 423 Vgl. Jaeschke, Immanuel Kant und G. W. F. Hegel, in: Siep/Gutmann/Jakl/Städtler (Hrsg.), Von der religiösen zur säkularen Begründung staatlicher Normen, 2012, S. 137–140; kritisch dazu mit Blick auf die herausgehobene Rolle des Staates Städtler, Immanuel Kant und G. W. F. Hegel: Vernunftrecht und Geschichte II, in: Siep/Gutmann/Jakl/Städtler (Hrsg.), Von der religiösen zur säkularen Begründung staatlicher Normen, 2012, S. 160–168. 424  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 83. 421 

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zugs der Verwirklichung auf ihre Voraussetzung zu ordnen.425 Dabei soll gerade das Bewusstwerden zwischen dem mit der Setzung einhergehenden Anspruch und der demgegenüber unzureichenden Verwirklichung im Rückbezug den Übergang von einem Stadium zum folgenden als unvermeidbar erscheinen lassen. Das Denken von Rechtsentwicklung soll sich so als strukturgleich mit den Denkgesetzen erkennen lassen können, die Hegel in seinen Logiken entfaltet.426 Trotz dieser großen konzeptionellen Unterschiede zu Kant und Fichte weisen die Ausführungen der Grundlinien zu Eigentum, Vertrag, Persönlichkeit und Staat über weite Strecken sehr deutliche inhaltliche Parallelen zu kantischen und fichteschen Überlegungen auf. Die begriffliche Entwicklung des Rechts setzt im abstrakten Recht mit dem Begriff der Persönlichkeit ein, die für den einzelnen Handelnden steht. Das erste Rechtsinstitut, das dem Handelnden die Möglichkeit der Zuordnung eines Handlungserfolgs verschafft, ist wie bei Kant und Fichte das Eigentum.427 Die Zuordnung von Sachen an Personen wird wie bei Kant und Fichte als wichtige Möglichkeit angesehen, Handlungen als wirklich zu erfahren. Ebenso führt wie bei Kant und Fichte die Zuordnung einer Sache zu einer Handlung zur Frage unterschiedlicher Gebrauchsarten und schließlich über das Problem der Eigentumsübertragung zur Idee des Vertrags.428 Wie Kant (und anders als Fichte) betont Hegel zunächst die Willensidentität zwischen den willkürlichen Handlungen der Vertragsparteien429, um danach auf die kantische Typologie von Verträgen zu verweisen.430 Hegel stellt darüber hinaus den Gedanken unveräußerlicher Güter, wie der Persönlichkeit und der Willensfreiheit, dem veräußerlichen Gut des Eigentums gegenüber.431 Über die Erfahrung einer Rechtsverletzung wird der Übergang zur Moralität organisiert, in der nicht mehr wie im abstrakten Recht die äußerlich erkennbare Zuordnung einer Sache zu einem Handelnden im Mittelpunkt steht, sondern die Frage nach der Selbstbestimmung des Willens virulent wird.432 Es treten die aus kantischer und fichtescher Sicht ethischen Probleme auf, wie der einzelne Wille sich bestimmen soll, um seiner Handlungsfähigkeit gerecht zu

425 

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 87 f. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 84. 427  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 41, 47 und insb. § 49, S. 112: „Im Verhältnis zu äußerlichen Dingen ist das Vernünftige, daß [sic!] ich Eigentum besitze.“ 428  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 71, insb. S. 153: „Es ist durch die Vernunft ebenso notwendig, daß die Menschen in Vertragsverhältnisse eingehen […], als daß sie Eigentum besitzen.“ 429  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 152, § 75, insb. S. 157 und § 81, insb. S. 170. 430  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 80, insb. S. 166 f. 431  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 66, insb. S. 141. 432  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 104, insb. S. 198. 426 

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werden.433 Es werden Vorsatz und Absicht eingeführt, bevor durch das „gute Gewissen“, den individuellen moralischen Anspruch an die Welt, alle bisherigen rechtlichen Bestimmungen, insbesondere die des abstrakten Rechts, „verflüchtigt“ werden.434 Der damit entdeckte Begriff des „Guten“, der auch alle Unterschiede zwischen innerer Willensbestimmung und Willensäußerung in Handlungen aufhebt, veranlasst den Übergang von der Moralität zur Sittlichkeit.435 Die Sittlichkeit steht anders als bei Fichte nicht für ein individuell freies Leben, das nach der kollektiven Erfahrung einer Rechtsordnung möglich werden soll, sondern für die „Idee der Freiheit, als das lebendige Gute“, die Familie, bürgerliche Gesellschaft und den Staat umfasst, in der Sittlichkeit das undefinierbare „Gute“ der Moralität in verschiedenen Relationen von sozialen Gegebenheiten und selbstbewusstem einzelnen Willen entfaltet. Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat sind drei unterschiedliche, inhaltliche Ausgestaltungen des Wechselspiels von kollektivem Willen und individuellem Wollen. Die Bestimmungen von Eigentum, Vertrag, Persönlichkeit aus dem abstrakten Recht werden wieder aufgenommen, da gemäß der Entwicklungslogik das Recht der Individuen auf ihre Besonderheit „in der sittlichen Substantialität enthalten“436 ist. Ihre mögliche inhaltliche Veränderung relativ zu den unterschiedlichen Formen des kollektiven Wollens wird über gelegentliche Andeutungen hinaus nicht ausdrücklich thematisiert, sondern vielmehr immer wieder ihre zentrale Rolle auch für bürgerliche Gesellschaft und Staat betont.437 Die Familie bildet für Hegel als gefühliges Miteinander, als eine „empfindende Einheit“, die durch die Liebe ihrer Mitglieder verbunden ist, das erste Stadium. Der Einzelne kann nicht als Individuum, sondern nur als Mitglied auf Grund von Ehe und Verwandtschaft handeln. Die Entdeckung der Bedürfnisse des Einzelnen erzwingen schließlich den Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft.438 Die bürgerliche Gesellschaft, das zweite Stadium der Sittlichkeit, wird als wechselseitige „Bedürfnisbefriedigungsmaschine“ vorgestellt. Die Personen befriedigen ihre besonderen Zwecke vermittelt durch die Allgemeinheit, die ihnen den Schutz der Sicherheit und des Eigentums garantiert. Allerdings erzwingt die Zufälligkeit der Bedürfnisse eine weitere Relation zwischen sozialen Gegebenheiten und individuellem Willen, den Übergang zum Staat als einer öffentlichen Ordnung. 433 

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 114, insb. S. 213. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 138, insb. S. 259. 435  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 141, insb. S. 287. 436  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 304. 437  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 371 und 409. 438  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 181, 182, insb. S. 339: „Die konkrete Person, welche sich als besondere Zweck ist, als ein Ganzes von Bedürfnissen und eine Vermischung von Naturnotwendigkeit und Willkür, ist das eine Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft“. 434 

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Erst der Staat, das dritte Stadium, wird als Wirklichkeit der Sittlichkeit und damit zugleich als Zielpunkt der Entwicklung des „Daseins des freien Willens“ angesehen. Die substantielle Freiheit wird in der Aufhebung von Familie und bürgerlicher Gesellschaft durch die Setzung einer Verfassung wirklich.439 Die Verfassung sichert, so Hegel, nicht nur die Bedürfnisse der Einzelnen, namentlich sein Eigentum und sein Persönlichkeitsrecht,440 sondern auch die vernünftige Handlungssouveränität aller. Der Staat wird daher als „das an und für sich Vernünftige“441 bezeichnet. In der Aufnahme der Diskussion um eine Legitimation des Staates durch eine Analogie zum privatrechtlichen Vertrag lehnt Hegel im Unterschied zu Fichte das Erfordernis einer tatsächlichen Zustimmung der Beteiligten ab und betont wie Kant, dass eine idealisierte, überindividuelle Rekonstruktion einer Staatsmacht ausreichend ist.442

2. Die Bezugnahme auf eine existierende positive Rechtsordnung Die rechtsphilosophischen Konzeptionen stellen sich zweitens dem Problem, wie sie auf bereits existierende, positive Rechtsordnungen bezogen werden können. Sie werden so rechtswissenschaftlich anschlussfähig, soweit sich die Aufgabe der Gestaltung und Ordnung des Rechts als ein Prozess darstellt, der die normativen Grundlagen des Rechts der Moderne, die interaktive und individuelle Handlungshoheit stets aufs Neue weiter treibt. Der Übergang der rechtsphilosophischen Konzeption zu einer geltenden positiven Rechtsordnung ist für die Anwendbarkeit der rechtsphilosophischen Überlegungen entscheidend.

a. Evolution statt Revolution bei Kant Die Ergänzung des privatrechtlichen Zustands durch einen staatsrechtlichen Zustand bringt die kantische Forderung nach einem umfassenden Rechtspositivismus mit sich.443 Während das Projekt der Rechtslehre zunächst als eine Bedeutungsreflexion von Recht beschrieben wird, die unabhängig vom positiven Recht erfolgen muss,444 kulminiert der positivistische Zug der weiteren Entwicklung der Rechtslehre in der Ablehnung eines jeden Widerstandsrechts gegenüber einer historisch gewachsenen positiven Rechtsordnung.445

439 

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 398. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 218, insb. S. 409. 441  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 399. 442  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 400. 443  Kant, Metaphysik der Sitten, S. 318, der die nachträgliche Validierung eines bereits eingetretenen öffentlich-rechtlichen Zustandes einem wirklichen, vor der Staatsgründung vorausgehenden Gesellschaftsvertrag gleichstellt. 444  Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung, S. 229. 445  Kant, Metaphysik der Sitten, S. 320: „Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staats giebt es also keinen rechtmäßigen Widerstand des Volks.“ 440 

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

Die Ablehnung des Widerstandsrechts wird gerade in Deutschland im Hinblick auf Art. 20 GG kritisiert oder durch Interpretation revidiert.446 Diese meist ethisch motivierten Versuche verkennen häufig, dass das Widerstandsrecht auch aus gegenwärtiger staatsrechtlicher Sicht eine selbstwidersprüchliche Struktur aufweist. Es garantiert innerhalb der Rechtsordnung der Bundesrepublik ein Recht zur Verteidigung dieser Ordnung für den Fall, dass diese beseitigt wurde. Entweder, sofern diese Ordnung noch besteht, darf also von ihm kein Gebrauch gemacht werden. Oder, sofern die Ordnung nicht mehr besteht, läuft die Berufung darauf ins Leere.447 Seine Bedeutung erschließe sich daher lediglich aus der rechtsphilosophischen und staatsrechtlichen Diskussionsgeschichte.448 Statt eines revolutionären Umschwungs zielt die kantische Rechtsphilosophie auf eine Reform und Weiterentwicklung bestehender Rechtsordnungen.449 Den normativen Maßstab dieser kantischen Entwicklung von Recht bilden dabei die Rechtsidee und das angeborene Freiheitsrecht. Der Gedanke einer Weiterentwicklung einer bestehenden Rechtsordnung in Orientierung auf diese normativen Maßstäbe würde durch ein allgemeines Widerstandsrecht unmöglich werden, da die ganze Rechtsordnung unter den Vorbehalt eines individuellen, beliebigen Eindrucks gestellt werden würde, ob eine solche den Widerstand rechtfertigende „Notstandssituation“ vorläge. Die Ablehnung des Widerstandsrechts bedeutet zugleich die Abkehr von einem Denken in „Ausnahmezuständen“,450 das einer regelgeleiteten Rechtsentwicklung entgegensteht.451 Die Ablehnung eines allgemeinen Widerstandsrechts erscheint dann 446 Vgl. v. d. Pfordten, Zum Recht auf Widerstand bei Kant, S. 81; dagegen Waldron, Kant’s Positivism, S. 39. 447  Zum Paradoxon eines positivierten Widerstandsrechts eingehend Höfling, in: Merten/ Papier (Hrsg.), HGR V, 2013, § 121 Rn. 10 ff. m. N. 448  So Maunz/Dürig/Grzeszick, 81. EL September 2017, IX. Rn. 1–2 und K. Stern, StaatsR II, § 57. 449  Kant, Metaphysik der Sitten, S. 321 f.: „Eine Veränderung der (fehlerhaften) Staatsverfassung, die wohl bisweilen nöthig [sic!] sein mag – kann also nur vom Souverän selbst durch Reform, aber nicht vom Volk, mithin durch Revolution verrichtet werden.“ 450 Vgl. Agamben, Homo Sacer. Sovereign Power and Bare Life, S. 62, der von der „Leere des praktischen Gesetzes der kantischen Philosophie“ ausgeht und in der Folge die praktische Realität in der Nachfolge von Schmitts Dictum, „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ (Schmitt, Politische Theologie, S. 13), als verhängnisvollen Zusammenhang ansieht. Der Grund dafür ist, dass der Ausnahmezustand zur Regel geworden ist, Schmitt, Politische Theologie, S. 19. Außerdem Agamben, Ausnahmezustand, S. 33, 102. Diese These wird wiederum wegen ihrer Undifferenziertheit kritisiert, vgl. Marchart, Die politische Differenz, S. 226. Schmitt betont demgegenüber, dass politische Handlungen und Motive sich auf eine spezifische Unterscheidung, die „Unterscheidung von Freund und Feind“, zurückführen lassen, Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 14. Politik habe dadurch jenseits ökonomischer Konkurrenz und liberaler Diskursmodelle eine existenzielle Dimension, in der es um den Kampf gehe, S. 16. 451 Vgl. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 276–322 zum „konkreten Ordnungs-

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nicht als Fremdkörper im kantischen Entwurf des Rechts, sondern als Bekenntnis zum positiven Recht und seiner Geltung, verknüpft mit der Aufgabe, dieses unter der Perspektive der Rechtsidee und des angeborenen Freiheitsrechts weiterzuentwickeln.

b. Das zukünftige positive Recht bei Fichte Die inhaltliche Ausgestaltung von Recht wird von Fichte immer im Hinblick auf eine Zukunft entworfen, da das Sollen des Rechts einen Vorrang vor dem Sein der Gegenwart hat. Recht soll in der Zukunft die gegenwärtigen und vergangenen Zwänge der Natur überwinden. In dieser Zukunftsorientierung von Recht spiegelt sich für Fichte das Grundmoment von Handlung.452 Erst durch die Realisierung von Vorstellungen entstehe der Grundlage des Naturrechts von 1796 zufolge Zeit. Anders als Kant und Hegel weist Fichte ausdrücklich auf den Zusammenhang von Handlung und die inhaltliche Gestaltung einer ungewissen Zukunft hin. So zielt die Staatslehre – 1813 schließlich auf ein zukünftiges Reich der Zwecke, das aber nicht auf einen Schlag erreicht werden kann, sondern nur in Folge von unzähligen Verwirklichungsversuchen erhofft werden kann.453 Die Fokussierung der Rechtsverwirklichung als prinzipiell unabschließbarer, nur approximativ gelingender Prozess ist aber auch schon beim frühen Fichte mit der Hinwendung zur Positivierung der Rechtsidee angelegt. Schon in der Grundlage des Naturrechts von 1796 besteht die Pointe in der Abkehr vom Naturrecht. Es gibt, so zeigt Fichte, das wirkliche Recht nur als positives Recht: „Es ist sonach, in dem Sinne, wie man das Wort oft genommen hat, gar kein Naturrecht, d.h. es ist kein rechtliches Verhältniss zwischen Menschen möglich, ausser in einem gemeinen Wesen und unter positiven Gesetzen.“454

und Gestaltungsdenken“ mit Schmitt und zum Denken in „konkret-allgemeinen Begriffen“ mit Larenz als zentrale Ausdrucksformen nationalsozialistischer Rechtsdiskussion und S. 486 f. zum „Methodenbewußtsein als Umdeutungsbremse“, der dabei deutlich macht, dass die Fixierung auf einen Ausnahmezustand in Verbindung mit fehlendem Rechtspositivismus, ebd., S. 301 f., ebenso wie eine Bewußtseinbildung in konkret-allgemeinen (politischen) Begriffen, ebd. S. 318 f., die Umstellung des deutschen Rechts auf die rassistische und rechtsfeindliche Ideologie des Nationalsozialismus ermöglichte und beförderte. 452  Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 29. 453 Etwa Zöller, Der Staat und das Reich, in: Zöller (Hrsg.), Der Staat als Mittel zum Zweck, 2011, S. 202 f. 454  Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 148 und besonders prägnant in der Rechtslehre – 1812, S. 515: „Es giebt also kein Naturrecht, sondern nur ein Staatsrecht.“

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c. Die inhaltliche Entwicklung einer positiven Rechtsordnung bei Hegel Der gegenüber Kant und Fichte inhaltlich um nahezu alle sozialen Bezüge erweiterte Rechtsbegriff führt bei Hegel zur Organisation umfassender Anwendungsbeispiele für Rechtsidee und subjektive Rechte, den beiden zentralen Elementen der Willensanalyse der Einleitung. Im Nebeneinander zu den Konzeptionen Kants und Fichtes treten dann zwar unterschiedliche Betonungen einzelner Rechte oder Rechtsinstitute hervor, allerdings bleiben sie an die Form der rechtlichen Vernunft, wie sie in der Willensanalyse entfaltet wird, gebunden. Die Entwicklungsgeschichte des Willens kann dann als besonders umfangreiche Anreicherung des von Kant, Fichte und Hegel geteilten normativen Kerns von Recht gelesen werden.455 Bestimmte Relationen zwischen Selbst- und Weltverhältnissen werden durchgespielt und entlang einer Linie der jeweils eigenen Widersprüchlichkeit aufgereiht, die immer einen Übergang zur folgenden Konstellation eines Selbst- und Weltverhältnisses plausibilisieren soll. Allerdings wird durch die Beobachtung der Relation zwischen sozialen Gegebenheiten und individuellem Willen in der Sittlichkeit anders als bei Kant und Fichte die Idee subjektiver Rechte wegen ihrer Herkunft aus dem abstrakten Recht nur gleichsam nebenbei berücksichtigt. So befassen sich die Überlegungen zur Staatserfassung wesentlich mit der Organisation des Staates. Ein Katalog von Grundrechten fehlt. Individuelle Rechte erscheinen nur mehr als ein Pol der Sittlichkeit, der vor allem die sozialen Gegebenheiten aufnehmen soll.456 Allerdings stehen am Anfang der Rechtsentwicklung ebenso wie bei Kant und Fichte Eigentum und Persönlichkeit als subjektives Recht im Zentrum, da hier exemplarisch die Handlungsstruktur, die Realisierung einer Vorstellung wirklich wird. Eigentum und Vertrag bleiben auch im Staat erhalten, werden allerdings mit sozialen Bezügen überformt. Dennoch soll die am Ende stehende Verfassung wie bei Kant und Fichte der Handlungsfähigkeit aller gerecht werden.457 455 

Vgl. Teil 2 G. 1. und 2. etwa auch Neuhouser, Foundations of Hegel’s Social Theory, S. 267 f., der darauf hinweist, dass die meisten Einschränkungen individueller Handlungsmöglichkeiten in der Sittlichkeit keinen rechtlichen Status haben und daher in diesem Sinne nicht rechtlich notwendig sind. 457  So wohl auch Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchung zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, S. 290 f.; bereits Cassirer, Freiheit und Form, S. 365 f. weist darauf hin, dass der hegelschen Ganzheit des Staates die Stabilität fehle, da er die eigentümliche Dynamik des Freiheitsgedankens anders als Fichtes Konzeption einer reflexiven Weiterentwicklung des Spannungsverhältnisses zwischen individueller und kollektiver Freiheit nicht ausreichend in den Vordergrund stelle. Die Fokussierung Hegels als Denker eines allumfassenden sozialen Freiheitsbegriffs, wie etwa bei Honneth, Das Recht der Freiheit, S. 25 f., blendet dagegen die auch bei Hegel angelegte Sprengkraft subjektiver Rechte für die Reichweite kollektiver Übereinkünfte aus. 456  So

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Wie Kant und Fichte betont Hegel, dass seine philosophische Analyse des Rechts auf das Recht als ein positives Recht zielt. Positives Recht ist für Hegel dabei in formaler Hinsicht der Normenbestand, der in einem bestimmten Staat gilt. Den Inhalt einer solchen Rechtsordnung führt Hegel auf drei Faktoren zurück: den „Nationalcharakter eines Volkes“, seinen jeweiligen Entwicklungsstand und die Anwendung eines positiven Rechts durch Subsumtion des besonderen Falls unter die allgemeine Norm sowie die Umstände der Wirklichkeit des jeweiligen Falls.458 In der zeitgenössischen Debatte um die Frage, ob rechtliche Normen durch Gesetzgeber kodifiziert werden sollen, wendet sich Hegel daher gegen seinen juristisch wirkmächtigen Zeitgenossen Savigny. Hegels Rechtsphilosophie zielt entgegen den Überlegungen der historischen Rechtsschule darauf, die Idee von Gesetzbüchern zu unterstützen, die das positive Recht kompilieren, bestimmen und damit zugänglicher machen.459

3. Aufgeklärter Rechtspositivismus als Zielpunkt philosophischer Rechtsphilosophie Schon die Kant, Fichte und Hegel gemeinsame rechtsphilosophische Leitfrage, wie eine Gemeinschaft freier Wesen organisiert werden kann, markiert den endgültigen Abschied von einer traditionellen Naturrechtskonzeption, da den Ausgangspunkt keine vorgegebene Ordnung, sondern allein die Möglichkeit der Kollision individueller Handlungen bildet. Ebenso wie moderne Naturrechtsansätze, etwa gesellschaftsvertragstheoretische Ansätze wie der von Rawls, zielen die Rechtsphilosophien Kants und Hegels zwar auf die mögliche, gedankliche Zustimmung aller. Fichte fordert sogar die tatsächliche Zustimmung der Beteiligten. Allerdings betonen alle drei Rechtsphilosophien, anders als moderne Naturrechtsansätze gesellschaftsvertraglicher Art, dass über die Frage der Zustimmung oder Zustimmbarkeit hinaus von der allgemeinen Verbindlichkeit existierender, positiver Gesetze ausgegangen werden muss. Kant markiert mit der Ablehnung eines Widerstandsrechts in Kombination mit der Idee einer Reform des Rechts der Sache nach den Abschied von jedem Naturrechtsdenken. Fichte und Hegel sprechen diesen Abschied explizit aus.460 458 

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 3, insb. S. 34 f. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 363. V. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, sprach sich 1814, und damit ein Jahr nach dem Erscheinen des von Anselm von Feuerbach besorgten Bayerischen Strafgesetzbuches, einem der ersten Gesetzbücher in Deutschland, im Namen eines organisch wachsenden Rechts gegen weitere aus seiner Sicht künstliche und daher nicht hilfreiche Gesetzbücher aus. Das führte mit anderen, wohl auch historisch wirkmächtigeren politischen Faktoren dazu, dass das BGB erst 1900 verkündet wurde. 460  Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 148 und in der Rechtslehre – 1812, S. 515 und ­Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 363. 459 

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Die Überlegungen zur Rechtsentwicklung aller drei Rechtsphilosophien müssen insofern als Versuche verstanden werden, zu einer Positivierung des Rechts aus Freiheit beizutragen.

V. Interaktive und individuelle Handlungshoheit als Meta-Regeln rechtlicher Ordnungsbildung Durch die Analyse der Rechtsphilosophien Kants, Fichtes und Hegels lassen sich in Fortsetzung des Motivs einer „Aufklärung über aufgeklärte Regelsetzung“461 die interaktive Handlungshoheit, die individuelle Handlungshoheit und die Entwicklungsnotwendigkeit als reflexive „Meta-Regeln“ jeder rechtlichen Ordnung identifizieren: Sie bilden zentrale normative Grundlagen einer aufgeklärten Konzeption rechtsstaatlicher Ordnung.

1. Normative Grundlagen als „Meta-Regeln“ Der Ansatz der Handlungshoheit eröffnet eine Perspektive auf normative Grundlagen verschiedener Rechtsordnungen, muss sich aber auch an den konkreten Rechtsgesetzen jeweils in seiner Erklärungskraft bewähren. Mit Hilfe dieser normativen Grundlagen lässt sich rechtswissenschaftlich zum einen der beständige Wandel bestehender Rechtsordnungen beobachten. Zum anderen können aber auch bestehende Normenkomplexe in spezifisch rechtlicher Weise hinterfragt und weiterentwickelt werden. Die normativen Grundlagen als „Meta-Regeln“ dürfen jedoch nicht mit „legal archetypes“ verwechselt werden. Zwar werden ebenso wie Jeremy Waldrons Konzeption der „legal archetypes“ mit der individuellen und kollektiven Handlungshoheit reflexive Meta-Regeln des Rechts identifiziert.462 Im Unterschied dazu kann aber auf originär philosophische Überlegungen über Recht zurückgegriffen werden. Waldron bestimmt reflexive Meta-Regeln des Rechts lediglich ausgehend von einer positiven Rechtsordnung und belegt sie mit dem Begriff der „legal archetypes“. Ein Beispiel ist das Folterverbot, das als „legal archetype“ und damit als ein normativer Standard einer positiven Rechtsordnung fungiert, auf dem andere Rechte und ihre Auslegung basieren.463 Diese 461 

Dazu Teil 2 G. II. 3. Dazu Teil 2 G. III. und V. 463  Etwa gegenwärtig Waldron, Columbia Law Review 105 (2005), S. 1716 ff., 1727, der die „legal archtypes“ auch in absetzender Aufnahme von Rawls’ Konzeption einer Gerechtigkeit als Fairness – die, so Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, S. 82 f., insb. für politisch-staatliche Normenbegründung einen „lexikalischen“ Vorrang des Freiheitsprinzips vor dem gleichheitsorientierten Differenzprinzip verlangt – wie auch von Dworkins basalem „right to equality of concern and respect“ (Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 181) konzipiert, um die Anschlussfähigkeit der von ihm vorgeschlagenen normativen Vorgaben an das positive Recht 462 

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Standards werden im Unterschied zur Handlungshoheit so eng an eine positive Rechtsordnung geknüpft, dass sie zwar bestimmte Normen dieser Ordnung stärken, aber dennoch über die Wiedergabe bestehender Rechtsnormen nicht hinausgehen können.

2. Minimale Gehalte der Rechtsstaatlichkeit Die rechtsphilosophischen Ansätze Kants, Fichtes und Hegels teilen trotz unterschiedlicher Wege zur Willensfreiheit und unterschiedlicher Konzeptionen von Rechtsentwicklung einen normativen Kern. Alle drei Rechtsphilosophien bieten eine Grundlegung vernunftrechtlicher Interaktion durch die Gesetze der Freiheit, die alle drei Rechtsphilosophien miteinander teilen: interaktive Handlungshoheit, individuelle Handlungshoheit und Rechtsentwicklung.464 Die normative Grundlage interaktiver Handlungshoheit verlangt, die äußere Freiheit des einen mit der äußeren Freiheit der anderen zu koordinieren. Dies dient prima facie der Abgrenzung wechselseitiger Freiheitsrechte, kann aber auch als normative Struktur interaktiver Handlungshoheit gedeutet werden. Jedes individuelle Wesen menschlicher Form hat ein fundamentales Recht auf Freiheit, das verlangt, ihm eine individuelle Handlungshoheit zuzuschreiben. Allgemeine Struktur und fundamentales subjektives Recht sind insofern strukturgleich: Sie sichern die Handlungshoheit trotz äußerer Zwänge und historischer oder anderer empirischer Einschränkungen ab. Mit den beiden normativen Kernelementen der interaktiven und individuellen Handlungshoheit wird eine Konzeption von Rechtsentwicklung verbunden, die daran erinnert, dass auch die (Post-)Moderne und ihr Recht angesichts von Umständen, die freien Handlungen entgegenstehen, bereits von Anfang an als eine prinzipiell unabschließbare Aufgabe konzipiert wurde.465 Der normative Kern bietet daher auch keine eindeutige abstrakte oder allgemeingültige Entscheidung für eine individualistische oder eine kollektivistische Normenbegründung.466 Vielmehr zielen interaktive und individuelle Handlungshoheit auf eine wechselseitige, strukturelle Ergänzung zur Lösung der jeweiligen Rechtsfrage.467

sicherzustellen. Zum Verhältnis zwischen Gerechtigkeit als Fairness und „right to equality of concern and respect“ innerhalb der liberalen Rechtstheorie siehe Jakl, Recht aus Freiheit, S. 54–56. 464  Siehe Teil 2 G. III. 465  Siehe Teil 2 G. IV. 1. zu den beispielhaften Entwürfen der philosophischen Rechtsphilosophie. 466  Für eine Festlegung der Rechtfertigungsverhältnisse innerhalb der Grundlagen des Rechts auf eine „normativ-individualistische Grundthese“ jedoch v. d. Pfordten, Rechtsethik, S. 264 und S. 461. 467  Siehe Teil 2 G. IV. 1.

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

3. Normative Grundlagen zwischen Vorgaben und historischer Erfahrung Die normativen Grundlagen der Handlungshoheit unterliegen einer doppelten Einschränkung im Verhältnis zu philosophischen Letztbegründungsansprüchen wie zu historischen Alleinstellungsansprüchen. Einerseits verzichten sie im Sinne eines über die eigenen Voraussetzungen aufgeklärten Rechts auf kategorische normative Vorgaben jenseits einer geltenden Rechtsordnung.468 Andererseits lassen sich diese normativen Grundlagen aber auch nicht exklusiv auf historische Erfahrungen zurückführen.

a. Normative Grundlagen statt normativer Vorgaben Bei der interaktiven und individuellen Handlungshoheit handelt es sich nicht um „kategorische Rechtsprinzipien“469 oder „Strukturbedingungen zeitgenössischer Gesellschaften“470, die rechtsphilosophisch jenseits einzelner positiver Rechtsordnungen soziale Wirksamkeit beanspruchen können. Vielmehr bilden bestimmte positive Rechtsordnungen sowie deren spezifische innerrechtlichen Probleme, wie etwa ein durch die Materialisierung des Vertragsrechts entstandener Theoriebedarf,471 den Ausgangs- und Zielpunkt, um die jeweilige Rechtsordnung unter Zuhilfenahme der Meta-Regeln normativ fortzuentwickeln und auch konkrete positiv-rechtliche Lösungen anzubieten.

b. Historische Bezüge statt genetischer Begründung Die rechtlichen Strukturelemente, die im Ausgang von den Rechtsphilosophien der klassischen deutschen Philosophie identifiziert werden konnten, bilden im Unterschied zur bestehenden privatrechtlich-rechtshistorischen Rezeption nicht allein „Muster“ für Puchtas oder Savignys Überlegungen.472 Sie können jedoch auch nicht als genetische Begründungen für bestimmte Rechtsfiguren herangezogen werden, sondern fungieren lediglich als Meta-Regeln normativer Rechtsreflexion einerseits und positiver Rechtsordnungen andererseits. Geht man davon aus, dass Normen nicht nur aus Vernunft oder über Verfahren be468 

Dazu bereits Teil 2 G. II. So aber Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, S. 15. 470 Vgl. Honneth, Das Recht der Freiheit, S. 25. 471  Dazu Teil 1 D. 472 Für die Savigny-Kant-Verbindung Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 375 f. und für die Kant-Puchta-Verknüpfung Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 27. Zu beiden wiederum Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, S. 2 f., 152–154, die diese Verbindungen allerdings nicht kritisiert und stattdessen – entgegen dieses klassischen, wenn auch so angesichts des gegenwärtigen Standes der Kant-Forschung unzutreffenden Kant-Bezuges – die Ablehnung der Vertragsfreiheit in der privatrechtstheoretischen Debatte des 19. Jahrhunderts betont. 469 

H. Handlungshoheit und zwei Zielrichtungen vertraglicher Vernunft

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gründet werden können,473 so können die „Meta-Regeln“ mit historischen Bezügen angereichert werden, ohne dabei aber die Möglichkeit weiterer „Lernund Erfahrungsprozesse“ auszuschließen. Die Autonomie des positiven Rechts, wie sie historisch gewachsen ist und weiter wächst,474 wird damit in gleicher Weise um eine Autonomie des Rechts in normativ-grundlegender und damit auch argumentativ-vermittelter Hinsicht ergänzt.

H. Handlungshoheit und zwei Zielrichtungen vertraglicher Vernunft Die Analyse der Rechtsphilosophien Kants, Fichtes und Hegels ermöglicht die Identifikation reflexiver „Meta-Regeln“ jeder rechtlichen Ordnung: Die interaktive Handlungshoheit, die individuelle Handlungshoheit und die Entwicklungsnotwendigkeit bilden zentrale Elemente einer aufgeklärten Konzeption der rechtsstaatlich verfassten Normenbestände. Mit Hilfe dieser Strukturen lässt sich zum einen der beständige Wandel der Rechtsordnungen beobachten. Zum anderen können aber auch bestehende Normenkomplexe in spezifisch rechtlicher Weise hinterfragt und weiterentwickelt werden. Der Bezug auf positive Rechtsordnungen ist dabei auf drei Ebenen abgesichert: Die Meta-Regeln selbst sind auf ihre Anwendbarkeit in einer positiven Rechtsordnung hin ausgelegt, sie sind rechtshistorisch gerade auch für das Vertragsrecht des BGB ideengeschichtlich verankert und zudem für das Schuldvertragsrecht im Vergleich zu weiteren moralischen, ökonomischen, gerechtigkeits-orientierten, soziologischen und diskurstheoretischen Theorieangeboten normativ passend und damit auch angemessen.

I. Rechtsphilosophie als Grundlage des positiven Rechts und positives Recht als Grundlage der Rechtsphilosophie Die Meta-Regeln sind auf eine positive Rechtsordnung hin angelegt.475 Das über sich selbst aufgeklärte Vernunftrecht der Aufklärung geht (seit Kant) davon aus, dass es keine dem individuellen Wollen vorgegebene, geschlossene normative 473  So etwa Siep, Arten normativer Erfahrung und ihre Bedeutung für die Begründung von Normen, in: Gutmann/Laukötter/Pollmann (Hrsg.), Genesis und Geltung, 2018, S. 243– 245. 474  Für die konkrete rechtshistorische Herangehensweise im Hinblick auf die Rechtsentwicklung im 19. Jahrhundert etwa Rückert, Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, S. 35 f. und 42 f. 475 S. o. Teil 2 G. IV.

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

Ordnung gibt, die zugleich allgemeinverbindlich ist. Denkmöglich sind damit nur vorgeschlagene Ordnungen.476 Eine bestehende, positive Rechtsordnung für das Schuldrecht ist notwendig, um die unterschiedlichen individuellen Lebenspläne zu koordinieren und auch kollektive Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen.477 Der Rechtspositivismus erscheint bereits hier wegen seiner inhaltlichen Unbestimmtheit als Lösung des Problems pluraler, individuell unterschiedlicher Formen der Ausübung der individuellen Handlungshoheit in der modernen Welt.478 Allgemeinverbindliche Regelsetzung erfolgt durch Verfahren, die Ausdruck kollektiver Handlungshoheit sind.479 Die inhaltliche Bestimmung der Verfahren und ihrer Ergebnisse kann aber wiederum nur unter Rückgriff auf unterschiedliche Theorieangebote erfolgen, die auch der jeweils Handelnde zur Gestaltung seines Lebens mittels vertraglicher Regelsetzung heranzieht oder sinnvoller Weise heranziehen kann.

II. Die rechtshistorische Wirksamkeit Die anhand der Rechtsphilosophien der klassischen deutschen Philosophie identifizierten Meta-Regeln haben auf direkten oder indirekten Wegen auch Eingang in die deutsche Rechtsordnung des Schuldvertragsrechts gefunden.

1. Direkte Bezüge Rechtsidee und fundamentales subjektives Freiheitsrecht sind aus dieser rechtsphilosophischen Sicht immer schon auf eine Positivierung und damit auf unterschiedliche Konkretisierungen in einzelnen Rechtsordnungen sowie deren Gesetzen und Auslegungen hin angelegt. Vor allem deswegen kritisiert etwa Hegel die Ablehnung von Kodifikationsprojekten durch Savigny scharf.480 Dem korrespondiert eine Aufnahme der kantischen Überlegungen in die deutsche Rechtsordnung in ganz unterschiedlichen Fassungen. So hat etwa über Gierke eine sozialstaatliche „Imprägnierung“ im Anschluss seiner Ablehnung der mit der kantischen Rechtsphilosophie einhergehenden Trennung von Recht und Moral481 ebenso Eingang in das BGB gefunden wie auch eine pandektis­ 476 

Zur Überwindung naturrechtlicher Vorstellungen siehe Teil 2 A. I. und G. IV. S. o. Teil 2 A. 478 S. o. Teil 2 G. III. 2. 479 S. o. Teil 2 G. III. 1. 480  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1820/1821), TW 7, S. 363; v. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, sprach sich 1814 im Namen eines organisch wachsenden Rechts gegen weitere aus seiner Sicht künstliche und daher nicht hilfreiche Gesetzbücher aus, was mit dazu führte, dass das BGB erst 1900 verkündet wurde. 481  v. Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, S. 12 f. Dazu Landau, Otto von Gierke und das kanonische Recht, S. 77 ff., 82 f. 477 

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tische Aufnahme nach Savigny durch Windscheid.482 Gerade für die Pandektenlehrbücher ist der Begriff eines subjektiven Rechts als einer Rechtsmacht leitend.483 Entsprechend werden etwa Forderungsrechte entwickelt.484 Die privatrechtstheoretische Diskussion des 19. Jahrhunderts kreist insoweit bereits vor allem um die Begrenzungen der Freiheit.485

2. Indirekte Bezüge und ihre Folgen für die Privatrechtsphilosophie Die Diskussion um menschliche Handlungsmöglichkeiten im Anschluss an das über seine eigenen erkenntnistheoretischen Beschränkungen aufgeklärte Vernunftrecht bringt jedoch ebenso eine entbrutalisierende Neufassung des Begriffs privater rechtlicher Handlungsmacht mit sich.486 Die umfassende Handlungsmacht des dominus als pater familiae487 wird mit der Aufklärung zur Handlungsmacht einer jeden Rechtsperson. In ersten Ansätzen tritt die Idee einer umfassenden subjektiven Berechtigung einer jeden Rechtsperson bei Pufendorf auf.488 Diese Idee wird schließlich durch die Rechtsphilosophien der klassischen deutschen Philosophie in besonderer Weise betont, etwa durch das angeborene Freiheitsrecht bei Kant,489 das Urrecht, Per482  Windscheid, AcP 63 (1880), S. 99, der mit Kant und Hegel den Willen und nicht die Erklärung für den Vertragsschluss als entscheidend ansieht. 483 Siehe Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil, Bd. 1, § 72, S. 428 ff. im Anschluss an Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I (1840), S. 7, der die einer einzelnen Person zustehende Macht als ein Gebiet bestimmt, wo ihr Wille herrscht und diesen Machtbereich als einen der subjektiven Berechtigung definiert. Zu Jherings Kritik an der Inhaltslosigkeit des subjektiven Rechts und seiner Zweckorientierung siehe Jhering, Vom Geist des römischen Rechts, Bd. III, S. 328 ff. Zu Jherings methodologischem Einfluss auf das BGB siehe Wagner, AcP 193 (1993), S. 319. 484 So Heck, Grundriss des Schuldrechts, S. 1. 485 So Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, S. 280 ff. 486  Für die entbrutalisierende Wirkung des aufgeklärten Vernunftrechts für staatliche Regulierung bei Kant – über die Inkorporation subjektiver Rechte der Bürger nach Hobbes und Locke hinaus – durch Begrenzung staatlicher Macht mittels der Betonung des nicht-­ instrumentellen Respekts vor individueller Freiheit und Selbstbestimmung siehe etwa Ripstein, Force and Freedom, S. 10 f. 487 So Dedek/Schermaier, Property (Greek and Roman), in: Bagnall/Brodersen/Champion/Erskine/Huebner (Hrsg.), Encyclopedia of Ancient History, 2011, über die Ablösung der Handlungsacht von der bloß unmittelbaren Herrschaft über Güter im römischen Recht. 488  Für den Gedanken der subjektiven Berechtigung etwa Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers, S. 86. Demgegenüber wird in der rechtshistorischen Diskussion Pufendorfs Begriff der subjektiven Berechtigung noch überwiegend als in eine Pflichtenlehre eingebettet gesehen, so etwa noch Jansen, Die Struktur des Haftungsrechts, S. 33 im Anschluss an Wieacker, Die vertragliche Obligation bei den Klassikern des Vernunftrechts, S. 20. Noch zur Rechtfertigung der Sklaverei in der spanischen Spätscholastik etwa Birr, Rebellische Väter, versklavte Kinder: der Aufstand der Mosken in Granada, in: Härter/de Benedictis, Revolten und politische Verbrechen zwischen dem 12. und 19. Jahrhundert. Rechtliche Reaktionen und juristisch-politische Diskurse, 2013, S. 281–317. 489  Kant, Metaphysik der Sitten, S. 237; dazu Teil 2 G. III. 2.

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son zu sein bei Fichte490 oder das Persönlichkeitsrecht bei Hegel.491 Die subjektive Handlungsmacht wird mit dem durch die Rechtsphilosophien der klassischen deutschen Philosophie erschlossenen Begründungshorizont schließlich von einem individuell-ethischen Problem der Selbstgesetzgebung zu einer rechtlich strukturierten Handlungshoheit innerhalb einer Rechtsordnung fortentwickelt.492 Die Idee des Vertrags, der auf zwei übereinstimmenden Willensäußerungen eines jeden mit jedermann gründet, wird zur Basis der interaktiven Handlungshoheit, deren Einschränkungen im Rahmen eines staatlichen Systems der kollektiven Handlungshoheit insbesondere dazu dienen, die Ausdrucksformen der individuellen wie auch interaktiven Handlungshoheit zu unterstützen.493 Aus einer solchen, hier nur kurz skizzierten ideengeschichtlichen Perspektive wird der enge Zusammenhang zwischen der Erweiterung der am Vertragsrecht Beteiligten und den steigenden Ansprüchen an die Begründung von verbindlicher Regelsetzung für die Einschränkung der individuellen Handlungshoheit sichtbar. Zu den Anforderungen, die sich aus der Bedeutung des Vertrags für verbindliche Regelsetzung ergeben, gehört auch, dass der theoretische Rahmen einer normativen Einbettung der freien Handlung der Grundidee des Vertrags angemessen sein muss.

III. Die normative Angemessenheit eines Theorieangebots für das Vertragsrecht Das Schuldvertragsrecht des BGB stellt den Grundgedanken der interaktiven Handlungshoheit in den Mittelpunkt, der nach den reflexiven Meta-Regeln der Rechtsphilosophie den Kern der Rechtsidee der Moderne bildet: die Übereinstimmung zweier Willenserklärungen als Übereinstimmung der äußeren Freiheit des Einen mit der des Anderen.494

490  Fichte, Grundlage des Naturrechts, S. 11 und Rechtslehre – 1812, S. 528; dazu Teil 2 G. III. 2. 491  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 93 und S. 95, dazu Teil 2 G. III. 2. 492  Dazu Teil 2 G. III. 1. 493  Dazu G. III. und V. 494  Dazu Teil 2 G. III. 1. Für die zentrale Bedeutung der Übereinstimmung zweier Willenserklärungen gegenüber der Vertragsgerechtigkeit in der über 100-jährigen Geschichte des BGB beispielhaft Horn, NJW 2000, S. 40, 45 f.; darauf für eine „Privatrechtsgesellschaft“ bezugnehmend Riesenhuber, § 1 Privatrechtsgesellschaft: Leistungsfähigkeit und Wirkkraft im deutschen und europäischen Recht, S. 9–11 im Anschluss an Zöllner, Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes- und Richterstaat, S. 39, Böhm, ORDO 17 (1966), S. 75–151 und Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, S. 135–138 und 181.

H. Handlungshoheit und zwei Zielrichtungen vertraglicher Vernunft

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1. Vertrag als Zentrum rechtlicher Normenbegründung Es handelt sich damit um ein vom normativen Kern des Vertragsrechts her gedachtes Theorieangebot der interaktiven Handlungshoheit, das sich im Vergleich zu den anderen Theorieangeboten als dogmatisch passgenau erweisen kann. Auf dieser normativen Grundlage lässt sich prinzipiell eine Philosophie des Vertragsrechts entwickeln, die unabhängig von der konkreten Rechtsordnung formuliert ist, aber immer schon in funktionierenden Rechtsordnungen am Werke ist oder implizit von diesen vorausgesetzt wird, um die im Vertragsschluss liegende Ausübung der interaktiven Handlungshoheit zu unterstützen oder zu ermöglichen. Dies zeigen im deutschen Schuldvertragsrecht insbesondere die Festlegungen auf die Willenstheorie,495 die Vertragsbindung496 und die verfassungsrechtliche Einwirkung der Grundrechte, die vor allem die Idee subjektiver Rechte betont.497 Das hier entwickelte Theorieangebot der Handlungshoheit ist so angelegt, dass es über die Wiedergabe bestehender Rechtsnormen hinausgeht, ohne eine außerrechtliche Perspektive einzunehmen. Damit ist es grundsätzlich offen für die theoretischen Ansätze und Angebote, die vor allem auf eine Kritik des geltenden Rechts aus moralischer, ökonomischer, gerechtigkeitsorientierter, soziologischer und diskurstheoretischer Perspektive zielen.498 Der Ansatz der Handlungshoheit unterscheidet sich durch seine inhaltliche Bestimmung von Recht jedoch von positivistischen Ansätzen in der Nachfolge Hans Kelsens „Reiner Rechtslehre“.499 Die mit den Rechtsphilosophien Kants, Fichtes und Hegels identifizierten Gesetze der Freiheit sind anders als etwa Kelsens Grundnorm inhaltlich so hinreichend bestimmt, dass mit Rechtsidee, fundamentalem Freiheitsrecht sowie der Aufgabe der Rechtsentwicklung einerseits eine minimale, aber normative Bedeutung von Recht sichtbar wird, die über das weit gefasste Konzept von Rechtsentwicklung andererseits die einzelnen positiven Rechtsordnungen auch in ihrer Eigenständigkeit und dogmatischen Geschlossenheit ernst nehmen kann.

495  Etwa bei Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, S. 7 und Windscheid/ Kipp, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, § 37, S. 156 f. Zum Streit zwischen Willens- und Interessentheorie siehe Wagner, AcP 193 (1993), S. 321 f. und 346 f. 496  Zur dogmatisch herausragenden Bedeutung des übereinstimmenden Parteiwillens als sog. „Vertragsprinzip“ siehe nur § 311 Abs. 1 BGB sowie MüKo-BGB/Emmerich, § 311 Rn. 1; BeckOGK/Herresthal, 01.05.2018, § 311 Rn. 2; Staudinger/Feldmann/Löwisch, 2012, § 311 Rn. 1 und Soergel/Gröschler, § 311 Rn. 1. 497  Siehe Teil 1 C. für die Bedeutung der Grundrechte als verfassungsrechtliche Vorgaben. 498  Zu den einzelnen Theorieangeboten siehe Teil 2 B. bis F. 499  Dazu siehe Teil 2 A.

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

2. Relative Angemessenheit unterschiedlicher Theorieangebote für das Schuldvertragsrecht Das Verhältnis der bisher vorgestellten pluralen Theorieperspektiven zum Schuldvertragsrecht kann aus dieser Perspektive relativ zum normativen Kern des Vertragsschlusses, der Übereinstimmung zweier Willenserklärungen, bestimmt werden. Die Vorteile einer solchen Bezugnahme auf eine plurale Theorieperspektive bestehen zum einen darin, dass die normativen Grundlagen nicht mehr im Bereich von „Crypotypen“ verortet werden müssen, die auf letztlich opake Art und Weise im Schuldvertragsrecht wirksam werden sollen.500 Zum anderen wird die Leistungsfähigkeit der unterschiedlichen Theorieperspektiven für die sachliche Frage nach der normativen Einbettung der freien Handlung sichtbar, während eine bloße Bezugnahme unterschiedlicher Privatrechtstheorien aufeinander lediglich unterschiedliche Theorieperspektiven jenseits des Schuldvertragsrechts aufeinander bezieht.501 Zudem ermöglicht die minimale inhaltliche Dimension, die in der Berücksichtigung des Vertragsgedankens liegt, eine normative Einschätzung der relativen Angemessenheit unterschiedlicher Theorieangebote für das Schuldvertragsrecht über bloß allgemein-topologische Überlegungen, beispielsweise zum pluralen, rechtsvergleichenden, anwendungsbezogenen und transnationalen Charakter der Privatrechtstheorie hinaus.502

a. Zum Vertrag als Versprechen Der privatrechtliche Vertrag erscheint wie in der Konzeption des Vertrags als Versprechen503 als das Muster der Übereinstimmung individueller und interaktiver Handlungshoheit. Außervertragliche Zwecke, Umstände und Kontexte werden anlässlich der individuellen Freiheitsausübung durchlaufen. Dabei ist 500  So beispielsweise Wagner, Privatrechtsdogmatik und öknomische Analyse, in: Auer/ Grigoleit/Hager et alt. (Hrsg.), Privatrechtsdogmatik im 21. Jahrhundert, 2017, S. 308, der davon ausgeht, dass auf der Prinzipienebene des Rechts „Cryptotypen“ wirken, die in einer für die Beteiligten unbekannten Weise die Rechtsentwicklung steuern und der, ebd., unter Verweis auf die Wohlfahrt der eigenen Volkswirtschaft als plausibles Element juristischer Entscheidungen gerade im Effizienzprinzip einen solchen „Cryptotyp“ sieht. 501  So jedoch Grünberger/Jansen, Perspektiven deutscher Privatrechtstheorie, in: Grünberger/Jansen (Hrsg.), Privatrechtstheorie heute. Perspektiven deutscher Privatrechtstheorie, Tübingen 2017, S. 4, die davon ausgehen, das Bezüge unterschiedlicher Privatrechtstheorien aufeinander „nicht an einer Sachfrage orientiert“ sind. 502  Für die genannten „Topoi“ der Privatrechtstheorie etwa Grundmann/Micklitz/Renner, Privatrechtstheorie – eine Einführung, in: Grundmann/Micklitz/Renner (Hrsg.), Privatrechtstheorie, Bd. 1, 2015, S. 1–8, deren privatrechtstheoretisches Unternehmen letztlich über weite Strecken an dem historisch überkommenen und mehr als umstrittenen Kriterium der „Richtigkeitsgewähr“ orientiert wird, ebd. S. 20–26. Zum Theoriebedarf der „Richtigkeitsgewähr“ siehe auch Teil 1 B. II. 503  Dazu siehe Teil 2 B.

H. Handlungshoheit und zwei Zielrichtungen vertraglicher Vernunft

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zwischen den von den Parteien gewählten und den objektiv-rechtlichen Grenzen des Gesetzgebers zu unterscheiden, die ihrerseits eine subjektiv-rechtliche Einschränkung durch Verfassungsrecht erfahren.504

b. Zu Vorgaben der Effizienz Ökonomische Effizienzvorgaben505 müssen keine außerrechtliche Vorgabe bleiben. Sie können überzeugender Weise normativ wirken, wenn die Parteien selbst effizient handeln wollen oder die kollektive normative Ordnung, die die Parteien für die Verwirklichung ihrer Vertragszwecke durchlaufen, entsprechende Effizienzvorgaben enthält.506

c. Zur Gerechtigkeit Gerechtigkeitsorientierte Überlegungen507 bleiben auf den Normenbestand der kollektiven Handlungshoheit beschränkt. Sie können die Ausübung der individuellen Handlungshoheit sowohl in der Variante der ausgleichenden Gerechtigkeit wie auch in der Variante der verteilenden Gerechtigkeit zwar überformen. In Folge ihrer metaphysischen Grundannahmen können sie die individuelle Handlungshoheit über die Zwecksetzung und damit den Ausgangspunkt vertraglicher Bindung und der Schaffung subjektiver Rechte durch Vertragsschluss nicht in seiner angemessenen Bedeutung für das Schuldvertragsrecht rekonstruieren.508 Sie verharren in einer ethisch motivierten Kritik des Schuldvertragsrechts.

d. Zur gesellschaftlichen Einbettung Wie Niklas Luhmanns systemtheoretische Konzeption eines Rechts der Gesellschaft und seiner Ausdifferenzierung geht der hier entwickelte Ansatz von einer Eigenständigkeit des Rechts aus. Recht kann systemtheoretisch als ein bestimmtes Kommunikationssystem verstanden werden, das sich durch die Unterscheidung Recht/Unrecht von anderen Kommunikationssystemen abschließt.509 Erst durch seine autopoetische Geschlossenheit kann es von anderen Systemen, wie etwa der Wirtschaft oder der Politik durch strukturelle Koppelungen beeinflusst werden.510

504 

Dazu siehe Teil 1 C. Dazu siehe Teil 2 C. 506  Dazu Teil 2 C. 507  Dazu siehe Teil 2 D. 508  Siehe Teil 2 C. IV. 509  Siehe Teil 2 E. 510 Vgl. Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 43 f., 242. 505 

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

Im Unterschied zur systemtheoretischen Konzeption wird durch die Betonung der Handlungshoheit aber nicht nur von der Eigenständigkeit des Rechts gegenüber anderen Gegenstandsbereichen ausgegangen. Vielmehr wird mit Rechtsidee und fundamentalem Freiheitsrecht auch die normative Seite des Rechts betont und die Idee einer Emanzipation durch die Vernunft verfolgt. Die soziologische Einbettung der freien Handlung nimmt dagegen lediglich die Position einer bloßen (Selbst-)Beobachtung moderner Gesellschaften ein, die auf eine „Emanzipation von der Vernunft“511 zielt.

e. Zur diskurstheoretischen Normenbegründung Im Einklang mit diskurstheoretisch-sozialphilosophischen Überlegungen wird die Rechtfertigung normativer Ordnungen durch Gründe betont.512 Im Gegensatz zu ihnen wird jedoch gerade das Schuldvertragsrecht als eine bestimmte normative Ordnung verstanden, in der die überwiegende Anzahl von Gründen anderer normativer Ordnungen gesperrt ist. Auf materiell-rechtlicher Ebene können nur die Gründe berücksichtigt werden, die zum Verständnis von subjektiven Rechten der Beteiligten und der wechselseitigen Übereinstimmung oder Abgrenzung dieser Rechte relevant sind und damit die Bedeutung der übereinstimmenden Willenserklärungen der Beteiligten verhandeln.513 Recht kann daher im Unterschied zum diskurstheoretischen Theorieangebot nicht allein als intersubjektive Ordnung des demokratischen Rechtsstaates verstanden werden, die Ergebnisse sozialer Kämpfe nachträglich legalisiert,514 sondern auch als gegenüber sozialen Kämpfen widerständiges und eigenständiges System privater vertraglicher intersubjektiver Ordnung, das auf den Erhalt auch der individuellen Handlungshoheit zielt und dabei gerade den Vertrag als Basis­ element sowohl der interaktiven wie auch der teils darauf aufbauenden kollektiven Handlungshoheit deutet.515

f. Zur Handlungshoheit Gerade die interaktive Handlungshoheit verbürgt eine systemische Eigenständigkeit spezifisch rechtlicher Überlegungen zum Schuldvertragsrecht gegenüber anderen Arten normativ-praktischer Reflexionen, wie etwa den ethischen Fragen der individuellen Selbstbestimmung sowie ökonomischen, soziologischen oder diskurstheoretischen Analysen. Sie begründet anders als moralische, öko-

511 So Luhmann zur Charakterisierung seines Projekts Beobachtungen der Moderne, S. 42 und 45. 512 Etwa Larmore, The Morals of Modernity, S. 168 ff. 513  Siehe Teil 2 F. 514  So aber Honneth, Recht der Freiheit, S. 613. 515  Dazu Teil 2 G.

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nomische und soziologische Theorieangebote die Autonomie des Rechts aus der normativen Grundlagenperspektive der philosophischen Rechtsphilosophie. Die allgemeine Struktur der Handlungshoheit, die in interaktiver Hinsicht die Übereinstimmung der äußeren Freiheit des Einen mit der äußeren Freiheit des Anderen fordert, und das fundamentale Freiheitsrecht, das in individueller Hinsicht verlangt, jedem Wesen menschlicher Form durch subjektive Rechte die äußere Handlungsfähigkeit zuzuschreiben, sind die beiden normativen Bausteine, die durch die Hinzunahme sinnlicher Bedingungen durch eine Rechtsentwicklung inhaltlich angereichert werden. Die Meta-Regeln der Handlungshoheit können im Unterschied zu den anderen Theorieangeboten für das Schuldvertragsrecht grundsätzlich leisten, was eine Rechtsphilosophie im vollen Sinne verlangt: Die philosophisch wie juristisch informierte Rechtsphilosophie muss nicht mehr unter den Perspektiven der außerrechtlichen Vorgaben und des positiven Rechts getrennt werden, sondern erlaubt es, die Entwicklung des geltenden Vertragsrechts als ein Arbeiten an der (möglichen) Kluft zwischen Rechtsidee und fundamentalem Freiheitsrecht einerseits und ihren jeweiligen Konkretisierungen in tatsächlichen Rechtsordnungen andererseits zu verstehen. Dem Theorieangebot der Handlungshoheit zufolge führen unter den Bedingungen der Endlichkeit die Wertungen jeder bestehenden Rechtsordnung zu neuen Problemen, die aus dieser genuin rechtsphilosophischen Perspektive immer wieder aus der Entwicklung eines Zusammenspiels von Rechtsidee und fundamentalem Freiheitsrecht zum Erhalt der interaktiven und individuellen Handlungshoheit aufgearbeitet und auch unter Berücksichtigung weiterer Theorieangebote zumindest vorübergehend gelöst werden können.

IV. Vertragliche Vernunft als Begrenzung und Beförderung der Handlungshoheit Aus der rechtsphilosophisch abgesicherten und rechtsdogmatisch gerade im Vertragsrecht wirksamen Perspektive der Handlungshoheit sind jeweils zwei normative Zielrichtungen vertraglicher Vernunft zu unterscheiden: die Beförderung und die Begrenzung der Handlungshoheit.

1. Begrenzung Die Vernunft des Vertrags kann zum einen aus der Perspektive der interaktiven Handlungshoheit unter Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen Ausübung als limitierendes Konzept verstanden werden, das den Willen der Parteien bei seiner inhaltlichen Bestimmung wie auch in seiner Wirksamkeit oder Ausübung aus Gründen der Stärkung oder des Erhalts der interaktiven Handlungshoheit

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Teil 2: Theorien des Vertrags als normative Konzeptionen freier Handlung

der Beteiligten oder der Wirksamkeit der kollektiven Handlungshoheit staatlicher Regelsetzung begrenzt. Die Analyse der jeweiligen normativen Gründe für eine Einschränkung der Vertragsfreiheit am Beispiel der guten Sitten des § 138 BGB bildet daher einen ersten Schwerpunkt des folgenden, dritten Teils.

2. Beförderung Die vertragliche Vernunft kann zum anderen als ein Konzept verstanden werden, das die individuelle wie auch interaktive Handlungshoheit fördert. Sie verlangt, den Inhalt eines Vertrags und damit auch den übereinstimmenden Willen der Parteien klarer und konkreter zu ermitteln, indem nur auf Umstände zurückgegriffen wird, wie sie von den Parteien selbst aus einer Handlungsper­ spektive in der jeweiligen Situation des Vertragsschlusses und bei der weiteren Vertragsdurchführung gewollt und angenommen werden. Das bedeutet, dass einerseits zwischen den allgemeinen Umständen des Vertragsschlusses und den Umständen des Vertragsschlusses, denen die Parteien Gewicht beimessen, nicht nur deutlich unterschieden werden muss, sondern die Letzteren den Ersteren vorgeordnet sind. Die Analyse der normativen Kriterien der Vertragsauslegung und ihre Folgen für die Vertragsdurchführung und Beendigung bilden daher den zweiten Schwerpunkt des dritten Teils, während die darauf folgende Auseinandersetzung mit dem europäischen Privatrecht als drittem Schwerpunkt des dritten Teils wiederum auf die aus Sicht der individuellen wie auch interaktiven Handlungshoheit limitierende Zielrichtung der kollektiven Handlungshoheit zurückverweist.

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Teil 3

„Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit Die Normen des geltenden deutschen Schuldvertragsrechts und ihre Auslegung greifen bereits auf einer Ebene, die zunächst weder von einem verfassungsrechtlichen Übermaß- noch von einem Untermaßverbot berührt ist, implizit auf beide Verwendungsweisen des Begriffs der Vernunft des Vertrags zurück.1 Die limitierende Funktion vertraglicher Vernunft zeigt sich insbesondere bei den Regelungen zur Reichweite der Vertragspflichten. Im Zentrum stehen dabei Einschränkungen zum Schutz der Vertragsfreiheit durch die guten Sitten als objektive Grenze des rechtlichen Wollens (A.). Die situationsbezogene inhaltliche Weiterentwicklung des Willens der Vertragsparteien und damit handlungshoheitsbefördernde Dimension findet gerade in der Vertragsauslegung ihren dogmatischen Niederschlag. Diese hat auch Auswirkungen auf die Kriterien der Vertragsbeendigung (B.). Die Stellung des Nacherfüllungsanspruchs im Sinne des § 439 BGB bildet einen Grenzfall zwischen Primär- und Sekundärebene, was ihn zu einem geeigneten Prisma für die Frage nach den normativen Grundlagen der unionsprivatrechtlichen Regulierungen macht (C.). Die Untersuchung fokussiert am Beispiel der drei Regelungsbereiche die Brüche, die durch die inhaltliche Aufladung des Privatrechts jeweils in unterschiedlicher Weise entstehen. Die Arbeit sucht mit den Perspektiven der in Teil  2 analysierten privatrechtsphilosophischen Theorieangebote nach Möglichkeiten, die dogmatischen Brüche im Sinne einer Stärkung der Vertragsfreiheit weiterzuentwickeln.

1 Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 1 und Rn. 2; Palandt/Ellenberger, § 138 Rn. 1; MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 1–3.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

A. Freiheit und Form: Die guten Sitten des § 138 BGB Der übereinstimmende Wille der Parteien steht im Zentrum des Vertragsrechts. Sie bestimmen, welcher Leistung welche Gegenleistung gegenübersteht. Die Vertragsfreiheit ist in § 311 Abs. 1 BGB einfachrechtlich kodifiziert. Ihre Ausübung wird zudem durch Art. 2 Abs. 1 GG als subjektives Recht der einzelnen Parteien verfassungsrechtlich geschützt. § 138 BGB schränkt die Vertragsfreiheit prima facie bei Vorliegen eines Sittenverstoßes maximal ein, indem er Rechtsgeschäfte, die gegen die guten Sitten verstoßen, für nichtig erklärt. Das lässt vermuten, dass gerade die guten Sitten ein zentrales Einfallstor für moralische Wertvorstellungen, neo-aristotelische Gerechtigkeitstheorien und gesellschaftliche Vorgaben bilden. Die Perspektive der Handlungshoheit legt dagegen nahe, dass gerade am Beispiel des § 138 Abs. 1 BGB sichtbar wird, wie die individuelle Handlungshoheit zunehmend normative Vorgaben, die allein der kollektiven Handlungshoheit dienen, zurückdrängt. Die dogmatische Ausformung des Rechtsbegriffs der guten Sitten bildet den Prüfstein für beide Vermutungen. Es wird deswegen, ausgehend vom Normzweck des § 138 BGB (I.) und der historischen Entwicklung der Normauslegung (II.), untersucht, wie in der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Begriff der guten Sitten als Rechtsbegriff ausgearbeitet wird. Dabei wird insbesondere mit den dogmatischen Vorgaben zwischen den normativen Strukturen der Sittenwidrigkeit im Verhältnis der Vertragspartner zueinander (III.) und der Sittenwidrigkeit auf Grund von Allgemeinwohlbelangen und der Schädigung Dritter unterschieden (IV.) Daraus lassen sich Rückschlüsse auf eine zunehmende Bedeutung des subjektiven Elements gerade bei der Auslegung des § 138 Abs. 1 BGB ziehen (V.). Die normative Systematisierung baut auf der dogmatischen Analyse auf (VI.). Sie macht deutlich, dass der Anwendungsbereich des § 138 Abs. 2 BGB gegenüber § 138 Abs. 1 BGB deutlich eingeschränkt bleibt. Sie hat aber zudem Auswirkungen auf die Funktion des subjektiven Elements (VII) wie auch auf den Wandel des Begriffs der guten Sitten (VIII).

I. Die privatrechtsphilosophischen Grundlagen und die Normzwecke des § 138 BGB § 138 BGB wird allgemein als eine Einschränkung der Vertragsfreiheit angesehen, die bezweckt, dem Missbrauch von Vertragsfreiheit entgegenzuwirken.

A. Freiheit und Form

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1. Normzwecke Anerkannt ist dabei, dass § 138 präventiv das Verhalten der Parteien auf die Anerkennung der Rechtsordnung hin ausrichten soll. Als abschreckend wird die Rechtsfolge der Nichtigkeit angesehen. 2 Umstritten ist, inwieweit § 138 auch eine Bestrafung des sittenwidrig Handelnden bezweckt. Zwar verfolgt das Zivilrecht grundsätzlich keine Strafzwecke im Sinne des Strafrechts.3 Allerdings kann der Rechtsfolge der Nichtigkeit eine strafende Wirkung jenseits strafrechtlicher Normen schon rechtstheoretisch nicht gänzlich abgesprochen werden, da die Nichtigkeit als Rechtsfolge ebenfalls verhaltenssteuernd wirkt.4 Die praktisch strafende Wirkung belegt schließlich auch § 817 Satz 2 BGB, der klarstellt, dass demjenigen der Rechtsschutz versagt wird, der sich durch seine vorwerfbare Leistung außerhalb der Rechtsordnung stellt.5 Auch dogmatisch enthält das BGB mit § 138 durch die Verweigerung der Anerkennung eines Rechtsgeschäfts durch die Rechtsordnung ein – wenn auch schwaches und auf die zivilrechtliche Verhaltenssteuerung beschränktes  – pönales Element.6 Der verhaltenssteuernde Aspekt wird insbesondere durch anerkannte Abmilderungen der Rechtsfolge der Nichtigkeit wie auch durch entsprechende tatsächliche Vermutungen des subjektiven Elements und ihrer möglichen Widerlegung deutlich.

2. Die Verbindung von Freiheit und Form Rechtsphilosophisch kann das BGB mit dem Anspruch, Freiheit und Form in nicht-paternalistischer Weise zu verbinden, in der Tradition der praktischen Philosophie der Spätaufklärung verortet werden.7 Im Anschluss an Kant kann dieses philosophische Projekt der modernen Normenbegründung als Konzeption einer Freiheitsordnung charakterisiert werden, in die sich auch der Normzweck des § 138 BGB einfügt. Unter dem Einfluss dieser Konzeption betont schon Savigny, dass individuelle Freiheit zwar der einzige Grundsatz des Privatrechts sei, um aber zugleich darauf hinzuweisen, dass auch Umfang und Grenzen der Dispositionsfreiheit festzulegen seien.8

2 Staudinger/Sack/Fischinger,

2017, § 138 Rn. 5; MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 2. Eckert, AcP 199 (1999), S. 337. 4  Zur Nichtigkeit als Sanktion Hart, The Concept of Law, S. 33–35. 5 Palandt/Sprau, § 817 Rn. 1. 6  Zu den pönalen Elementen des Deliktsrechts vgl. Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, S. 145 ff. 7  Für die Verbindung zwischen Kant und der Willenstheorie des BGB etwa Wieacker. Für Freiheit und Form als Leitthema der deutschen Geistesgeschichte der Aufklärung schon Cassirer, Freiheit und Form. 8 Vgl. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I (1840), S. 331. 3 

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

Die rechtsphilosophische Anschlussfähigkeit des Normzwecks von § 138 BGB bedeutet aber nicht, dass das BGB auf eine philosophische Tradition zurückgeführt werden kann oder sollte. So können etwa rein philosophisch-analytische Begriffstrennungen, wie die Unterscheidung von unbeschränkter, negativer Freiheit einerseits und einer auf eine bestimmte Konzeption des Guten ausgerichteten positiven Freiheit andererseits,9 der im BGB konkretisierten Verbindung von Freiheit und Form nicht gerecht werden. Sie können allein bei der interpretativen Verortung des Normzwecks hilfreich sein. Über die Beschränkung der Vertragsfreiheit durch die Berücksichtigung gesetzlicher Verbote nach § 134 BGB erfasst § 138 Abs. 1 BGB als Generalklausel gerade auch die gesetzlich nicht geregelten Grenzfälle der individuellen Freiheitsausübung.

3. Handlungsbegrenzung und Funktionsfähigkeit der Vertragsfreiheit § 138 BGB bezweckt aus privatrechtsphilosophischer Perspektive mit dem Schutz vor dem Missbrauch der Vertragsfreiheit jedoch nicht nur eine bloße Einschränkung der Privatautonomie. § 138 BGB verlangt, Vertragsfreiheit und ihre rechtliche Formgebung zusammenzudenken. Insoweit verdeutlicht die Norm, dass der Freiheitsbegriff der Privatautonomie nicht mit einer unbegrenzten Freiheit des Beliebens gleichgesetzt werden darf.10 Allerdings dürfen zur Formgebung rechtlicher Freiheit weder einfach eine bestimmte Art von inhaltlich bestimmter positiver Freiheit vorausgesetzt noch daraus leichtfertig paternalistische Konsequenzen gezogen werden. Vielmehr bezweckt § 138 BGB die dogmatische Umsetzung und Wirksamkeit der Vertragsfreiheit zwischen freien Rechtssubjekten als einer zentralen normativen Vorgabe für das Zivilrecht. § 138 BGB dient damit der inhaltlichen Bestimmung der Grenzen der Vertragsfreiheit im Namen ihrer Funktionsfähigkeit und nicht allein der Einschränkung individueller Freiheit.

II. Zur Geschichte der guten Sitten Der Zusammenhang von Vertragsfreiheit und Formgebung durchzieht die Geschichte des § 138 Abs. 1 BGB auf unterschiedliche Art und Weise.

 9 Vgl. Berlin, Two Concepts of Liberty, S. 6 f. und S. 7–16 zur negativen Freiheit und S. 16–19 zum Konzept positiver Freiheit. 10  Für die Privatrechtsgeschichte Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, S. 1.

A. Freiheit und Form

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1. Die „guten Sitten“ als Alternative zur öffentlichen Ordnung Für das BGB war ursprünglich vorgesehen, den Inhalt eines Rechtsgeschäfts am Maßstab der guten Sitten und der öffentlichen Ordnung zu messen. § 138 Abs. 1 lautete als § 106 in der Fassung des ersten Entwurfs: „Ein Rechtsgeschäft, dessen Inhalt gegen die guten Sitten oder die öffentliche Ordnung verstößt, ist nichtig.“ Die Diskussion um die Reichweite des Begriffs der öffentlichen Ordnung führte zur Überzeugung, dass „eine sichere Umgrenzung fehle“.11 Die Voraussetzung der öffentlichen Ordnung wurde daher wegen ihrer Unbestimmtheit gestrichen. Als Gegenstand der Sittenwidrigkeitskontrolle war in § 106 der Fassung des ersten Entwurfs des BGB der „Inhalt des Rechtsgeschäfts“ vorgesehen. Um eine weitgehende Objektivierung der Maßstäbe auch über die Motive der Parteien hinaus vornehmen zu können, bezieht sich § 138 Abs. 1 jedoch allein auf das Rechtsgeschäft.12

2. Die politische Öffnung der „guten Sitten“ Die Entwicklung des § 138 BGB im 20. Jahrhundert lässt sich als Funktionswandel und als Argumentationswandel analysieren.13 Funktionswandel bedeutet, dass § 138 zunächst allein den Missbrauch sittlicher Freiheit betraf und damit auf „einen scharf individual-ethischen Grund“ beschränkt war.14 Diese auf die Privatautonomie der Parteien ausgerichtete restriktive Interpretation der guten Sitten ist während des Ersten Weltkriegs und danach durch eine zunehmend gesellschaftlich und damit auch inhaltlich aufgeladene Rechtsprechung ersetzt worden.15 Teils wird § 138 als Norm gesehen, die richterliche „Wirtschaftspolitik“ vorantreibe.16 Die durch die These vom „Funktionswandel“ gezogene Entwicklungslinie einer inhaltlichen Aufladung wird unter Verweis auf die Entwicklung im 19. Jahrhundert kritisiert. Privatautonomie darf demnach schon in dieser Zeit nicht mit einer unbegrenzten Freiheit des Beliebens gleichgesetzt werden.17 11  Protokolle der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich, Bd. I, 1897, S. 258. 12  Protokolle der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich, Bd. I, 1897, S. 257; zum Verhältnis von objektiven und subjektiven Elementen bei § 138 Abs. 1 siehe Schmoeckel, AcP 197 (1997), S. 1. 13 HKK/Haferkamp, § 138 Rn. 30–32. 14  Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, S. 25. 15  Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher; Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln, S. 52 ff. 16  Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln, S. 36 f., 57, 65 ff. 17  Für die Privatrechtsgeschichte Hofer, Freiheit ohne Grenzen? Privatrechtstheoretische Diskussionen im 19. Jahrhundert.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

Auch die Möglichkeit, Generalklauseln als Ausdruck einer zwischen Individualismus und Kollektivismus pendelnden Struktur des Privatrechts zu deuten, steht einer solchen Entwicklungslinie entgegen.18 Die Beschreibung eines Argumentationswandels korrigiert und erweitert die These vom Funktionswandel. Argumentationswandel bedeutet, dass die richterliche Tätigkeit bei der Anwendung des § 138 BGB „vom höflich unpolitischen Dogmatiker mit Überdruckventilen für die Einzelfallgerechtigkeit“19 in einen „politischen Richter, der seine Wertungen politisch begreift und mit den vorgegebenen staatlichen Wertungsgrundlagen bewusst und dokumentiert abstimmt“20, übergegangen ist. Der Argumentationswandel wird insbesondere an der Verwendung von § 138 als Einfallstor für die nationalsozialistische Umdeutung des Privatrechts zum Zwecke der Ausgrenzung von Juden festgemacht. 21 Auch in der Rechtsprechung zur DDR-Judikatur wird die Rolle von Generalklauseln als Instrument zur Umdeutung einer Rechtsordnung gerade auch in totalitären Staaten betont, was sich auch in der strafrechtlichen Rechtsprechung niederschlägt. 22 Aber auch unter den umgekehrten verfassungsrechtlichen Vorzeichen eines demokratischen Rechtsstaats wird aus rechtshistorischer Perspektive der Argumentationswandel sichtbar. Hier dokumentiert die Berücksichtigung der zivilrechtlich externen Wertungsgesichtspunkte durch das Bundesverfassungsgericht den Übergang zu einer auf politische Richtigkeit hin ausgerichteten Auslegung der guten Sitten. 23

3. Die offene Frage nach der rechtlichen Bedeutung der „guten Sitten“ Die politische Richtigkeit kann aus rechtshistorischer Perspektive insbesondere durch die Konkretisierung sozialpolitischer Wertmaßstäbe erreicht werden, soweit sie als in der Rechtsordnung selbst angelegt verstanden werden können.24 Damit rückt aber wiederum die normative Frage nach der Bedeutung der „guten Sitten“ als Rechtsbegriff in den Mittelpunkt.

18 

Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, S. 5 f., 21. § 138 Rn. 31. 20 HKK/Haferkamp, § 138 Rn. 31. 21 HKK/Haferkamp, § 138 Rn. 22–26, insb. Rn. 25 m.w.N., insb. auch zu Urt. der Zivilgerichtsbarkeit zwischen 1933 und 1945. 22  BGHSt 40, 272, 279 f. = NJW 1995, 64, 66; BGHSt 41, 157 = 1995, 2734; BGHSt 41, 247, 258 = 1995, 3324, 3327; dazu HKK/Haferkamp, § 138 Rn. 27–28. 23 HKK/Haferkamp, § 138 Rn. 31 unter Verweis auf Diederichsen, AcP 198 (1998), S. 247. 24  Eckert, AcP 199 (1999), S. 337 (350). 19 HKK/Haferkamp,

A. Freiheit und Form

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III. Die guten Sitten als Rechtsbegriff I: Das Verhältnis der Vertragspartner Im Rahmen der sogenannten Gesamtwürdigung des Rechtsgeschäfts prüft die Rechtsprechung den objektiven Sittenverstoß und die Verwirklichung eines subjektiven Tatbestands. Die Prüfung ist dabei auf das abgeschlossene Rechtsgeschäft beschränkt und beurteilt nicht die Vertragsanbahnung. Diese kann nur als ein Umstand des Vertragsschlusses Berücksichtigung finden.

1. Das auffällige Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung Vertragsparteien sind grundsätzlich nicht verpflichtet, die eigenen Interessen zurückzustellen. Allerdings kann ein Verhalten gegenüber einem Vertragspartner sittenwidrig sein. Die Rechtsprechung knüpft dabei für alle zweiseitigen schuldrechtlichen Verträge an die Frage an, ob ein objektiv auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung vorliegt. 25 Das auffällige Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung fungiert als objektives Kriterium der Sittenwidrigkeit für zweiseitige Verträge. Bei der Kontrolle im Hinblick auf die Entsprechung von Leistung und Gegenleistung steht in der Rechtsprechung das sogenannte wucherähnliche Geschäft im Mittelpunkt. Das ist auf den – auf Grund der hohen Anforderungen an den subjektiven Tatbestand – engen Anwendungsbereich des Wuchertatbestands in Abs. 2 zurückzuführen. Allerdings übernimmt die Rechtsprechung zum wucherähnlichen Geschäft mit der Unterscheidung zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand zwei normative Kriterien aus Abs. 2. Ein wucherähnliches Geschäft liegt vor, wenn erstens zwischen Leistung und Gegenleistung ein auffälliges Missverhältnis besteht und zweitens das subjektive Element, insbesondere eine verwerfliche Gesinnung, vorliegt. Damit führt nicht jedes Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung zur Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts. Vielmehr kommt es auf objektiver Seite auf das auffällige Missverhältnis und auf subjektiver Seite auf die verwerfliche Gesinnung an. 26 Objektive Voraussetzung eines wucherähnlichen Rechtsgeschäfts ist, wie in Abs. 2 für den Wucher, ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung. Die Festlegung der Grenze zwischen einem hohen, aber rechtlich unbedenklichen Preis und einem widerrechtlichen, sittenwidrigen Preis wird durch zwei Setzungen bestimmt, die von Gerichten vorgenommen werden: erstens die Festlegung eines Marktpreises und zweitens die Festlegung einer rechtlich unbedenklichen Abweichung. 25  26 

BGH NJW 2014, 1652, Rn. 5. BGH NJW 2014, 1652, Rn. 5 und 6.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

2. Der Marktwert als objektiver Wert Bei bewertbaren Leistungen und Gegenleistungen kommt es grundsätzlich auf den objektiven Wert an. Unter den Bedingungen der sozialen Marktwirtschaft kommt es damit – anders als in der aristotelischen Tradition der laesio enormis – nicht auf gegenstandsbezogene „wahre“ Werte, sondern allein auf den Marktwert an. Mit dem Maßstab des Marktpreises wird die Diskussion über einen gerechten Preis im Ansatz vermieden.27

3. Die sittenwidrige Abweichung In der Rechtsprechung zur vertraglichen Inhaltskontrolle hat sich der Grundsatz durchgesetzt, dass das Doppelte oder die Hälfte des Marktwertes der Gegenleistung als wichtiges Indiz für ein zur Sittenwidrigkeit führendes, besonders grobes Missverhältnis anzusehen ist, das auch die Annahme des subjektiven Elements als eines weiteren Umstands rechtfertigt. 28 So bildet das völlige Fehlen einer Gegenleistung bei einem Kaufvertrag ein gewichtiges objektives Indiz für die Sittenwidrigkeit. Dagegen spielen die privaten, individuellen Einschätzungen der Geschäftspartner grundsätzlich keine Rolle. Ebenso wenig kommt es auf die Höhe des Vorteils, den der Begünstigte aus dem Geschäft erlangt, an. Affektions- und Spekulationsinteressen sind erst dann zu berücksichtigen, wenn sie objektive Kennzeichen eines bestimmten Marktes sind. Dabei gibt die rechtliche Einordnung des jeweiligen Rechtsgeschäfts durch die Vertragsparteien vor, was einander gegenüberzustellen ist. Auch wenn das Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung unter der Grenze des Doppelten bleibt, müssen bei einem auffälligen Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung die weiteren Umstände des Rechtsgeschäfts beachtet werden. Teils spricht der Bundesgerichtshof dann von einem lediglich auffälligen Missverhältnis. In diesen Fällen müssen insbesondere die übrigen Vertragsbestimmungen zu Lasten des Gläubigers sowie eine etwaige Notlage des Schuldners berücksichtigt werden. Wenn der Wert der Leistung knapp doppelt so hoch ist wie der Wert der Gegenleistung, wird teils auch vom Bestehen eines besonders auffälligen und groben Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung gesprochen.29

27  So BGH WM 2003, 154, 155 f. und BGH NJW-RR 2014, 416, Rn. 23; anders dagegen Hager, Gesetzes- und sittenkonforme Auslegung, S. 211, der das Problem des iustum pretium noch als eine Frage richterlicher Gestaltungsmacht deutet. Für ein Scheitern des Konzepts des iustum pretium aus historischer Perspektive dagegen letztlich Zimmermann, The Law of Obligation, S. 267 f. 28  BGH NJW 2014, 1652, Rn. 5. 29  BGHZ 146, 298, 302 = NJW 2001, 1127; BGH NJW 2004, 3553, 3554 f. m.w.N.

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4. Die subjektive Voraussetzung Gegenseitige Verträge sind als wucherähnliche Rechtsgeschäfte nach § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig, wenn zwischen Leistung und Gegenleistung objektiv ein auffälliges Missverhältnis besteht und auf subjektiver Seite eine verwerfliche Gesinnung des begünstigten Teils hervorgetreten ist.30

a. Die Erkennbarkeit der Sittenwidrigkeit Die Rechtsprechung des Reichsgerichts verlangte auf subjektiver Seite das Vorliegen einer verwerflichen Gesinnung. Der Bundesgerichtshof sieht das subjektive Element der Erkennbarkeit der die Sittenwidrigkeit begründenden Umstände ebenfalls als eine unerlässliche Voraussetzung für die Feststellung der Sittenwidrigkeit. Anders als bei § 138 Abs. 2 BGB muss dem Begünstigten das auffällige Missverhältnis nicht bewusst sein. Zwar liegt die verwerfliche Gesinnung in Orientierung an Abs. 2 auch bei Abs. 1 vor, wenn der Begünstigte die wirtschaftlich schwächere Position seines Partners bewusst zu seinem Vorteil ausnutzt. Aber es genügt bereits, wenn sich der Begünstigte leichtfertig der Einsicht verschließt, dass der andere das für ihn deutlich nachteilige Rechtsgeschäft unter dem Zwang der Verhältnisse, aus Mangel an Urteilsvermögen oder wegen erheblicher Willensschwäche abgeschlossen hat.31

b. Die Vermutung des subjektiven Elements Darüber hinaus genügt auch die Erkennbarkeit für die Vermutung des subjektiven Elements. Bei einem wucherähnlichen Geschäft erlaubt damit allein schon das grobe Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung den tatsächlichen Schluss auf die verwerfliche Gesinnung als subjektives Merkmal des § 138 Abs. 1 BGB.32 Kann ein besonders auffälliges grobes Missverhältnis festgestellt werden, gestattet dies den tatsächlichen Schluss auf eine verwerfliche Gesinnung des Begünstigten und begründet dies also grundsätzlich die Vermutung der verwerflichen Gesinnung.33 Aus einem auffälligen Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung kann jedoch nicht auf einen Ausbeutungsvorsatz im Sinne von § 138 Abs. 2 BGB geschlossen werden. Das Äquivalenzinteresse allein ist keine tragfähige Grundlage für die Vermutung eines Willens zur vorsätzlichen Ausbeutung einer Schwäche des benachteiligten Vertragsteils.

30 

BGH NJW 2014, 1652, Rn. 5 und 6. BGH WM 2003, 1533, 1534. 32  BGH NJW 2014, 1652, Rn. 6; Bestätigung von BGHZ 146, 298, 303 = NJW 2001, 1127. 33  BGH NJW 2014, 1652, Rn. 5. 31 

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In Fällen, in denen der objektive Wert der Gegenleistung das Doppelte beträgt, geht der Bundesgerichtshof gerade im Verhältnis von Unternehmer und Verbraucher von einer tatsächlichen, aber widerlegbaren Vermutung der Sittenwidrigkeit aus.34 In dieser Konstellation greift sie etwa bei Darlehensverträgen, Maklerverträgen, Finanzierungsleasingverträgen, Grundstückskaufverträgen sowie bei Bauverträgen. Bei Rechtsgeschäften zwischen Unternehmern greift bereits die Vermutung nicht.35 Wenn es sich bei dem Benachteiligten um einen Kaufmann handelt, greift grundsätzlich keine Vermutung für eine Erkennbarkeit der Sittenwidrigkeit, da gerade wegen dessen Kaufmannseigenschaft eine wiederum widerlegliche Vermutung gegen eine verwerfliche Ausnutzung der Unterlegenheit des Benachteiligten spricht.36 Daher kommt es beispielsweise regelmäßig auf die tatrichterliche Würdigung an, ob das Missverhältnis dem Begünstigten erkennbar war.37

c. Die Widerlegung der Vermutung Die Vermutung des subjektiven Elements kann widerlegt werden. Eine Widerlegung gelingt etwa, wenn sich die Parteien in sachgerechter Weise um die Ermittlung eines angemessenen Leistungsverhältnisses bemüht haben oder der Verkäufer die sich nach nur einer von mehreren zulässigen Methoden ergebende Wertverzerrung selbst nicht gekannt hat oder aber der Wert relativ gering und zudem schwer einzuschätzen ist.38 Auf die Kenntnis der anderen, benachteiligten Vertragspartei kommt es dagegen für die Widerlegung der Vermutung einer verwerflichen Gesinnung nicht an. Die tatsächliche Vermutung der Erkennbarkeit erleichtert so wie in anderen Bereichen (etwa bei § 280 Abs. 1 BGB) die Darlegung und die Beweisführung für das subjektive Merkmal. Die benachteiligte Partei trägt aber die Behauptungslast. Bei der Beurteilung, ob das Rechtsgeschäft wegen eines auffälligen Missverhältnisses von Leistung und Gegenleistung nichtig ist, sind grundsätzlich alle Vereinbarungen zu berücksichtigen, mit denen die Parteien die im Ursprungsvertrag vereinbarten Hauptleistungen nachträglich ändern.39

34 NK-BGB/Looschleders,

§ 138 Rn. 229 und Erman/Schmidt-Räntsch, § 138 Rn. 60. BGHZ 128, 255, 268 = NJW 2003, 2230; Palandt/Ellenberger, § 138 Rn. 34c. 36  BGH NJW 1995, 1019, 1022. 37  OLG Hamm NJOZ 2015, 1454. 38  BGH NJW-RR 2008, 1235, Rn. 31; BGH NJW 2003, 283. 39  BGH NJW 2012, 1570, Rn. 14. 35 

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d. Die mehrfachen Brüche mit der laesio enormis Anders als in Frankreich mit Art. 1674 ff. des Code Civil oder in Österreich mit den §§ 934 f. ABGB kennt das BGB keine an festen Größen orientierte vertragliche Inhaltskontrolle. Die Tradition der laesio enormis dient im BGB daher auch bei der Festlegung einer rechtlich bedenklichen Abweichung nicht mehr als offen benannte Richtschnur.40 Allerdings wird immer noch das Kriterium des krassen Missverhältnisses zum Beispiel für Zinsen von den Gerichten bei einem Zinssatz festgelegt, der 100 Prozent über dem Marktdurchschnitt liegt. Teils wird daher davon ausgegangen, dass der Sache nach damit die spätscholastische und im römischen Recht wurzelnde Idee der laesio enormis auch im deutschen Recht an dieser Stelle als normatives Kriterium fortlebe.41 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die sittenwidrige Abweichung je nach Vertragstyp im Ausgang vom Marktwert, von den Besonderheiten des jeweiligen Rechtsgeschäfts und unter Beachtung des subjektiven Elements und seiner Widerlegung ermittelt wird. Gerade die rechtsgeschäftsspezifischen Anpassungen des objektiven Kriteriums im Zusammenspiel mit der Möglichkeit der Widerlegung der Vermutung des subjektiven Elements verdeutlichen, dass die Sittenwidrigkeit vielmehr dem Erhalt der individuellen Handlungshoheit dient.

e. Beispiele für rechtsgeschäftsspezifische Anpassungen der Sittenwidrigkeitskriterien Bei allen Verträgen muss schon für den Maßstab des objektiven Wertes auf den Marktwert und damit auch auf die jeweiligen Üblichkeiten der beteiligten Verkehrskreise abgestellt werden.42 Der insoweit den jeweiligen Üblichkeiten der beteiligten Verkehrskreise anzupassende Grundsatz ist dabei, dass das Doppelte oder die Hälfte des Marktwertes der Gegenleistung die Annahme eines auffälligen Missverhältnisses von Leistung und Gegenleistung rechtfertigt. Ausgangspunkt der Prüfung eines objektiven Missverhältnisses von Leistung und Gegenleistung ist damit der kollektive Erfahrungssatz, dass niemand ein für ihn besonders nachteiliges Rechtsgeschäft abschließt.43 Die Prüfung der Sittenwidrigkeit ist damit erst eröffnet und nicht abgeschlossen. Auf dieser Grundlage kann das subjektive Element vermutet und gegebenenfalls widerlegt werden. Dabei wird das auffällige Missverhältnis ebenso wie sein Zusammenspiel mit dem subjektiven Element rechtsgeschäftsspezifisch angepasst.

40 

BGH WM 2003, 154, 155 f. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I, S. 230. Dagegen Kötz, Europäisches Vertragsrecht, S. 161–171. 42  So BGHZ 184, 209, 210 = NJW 2010, 1364 für das Anwaltshonorar. 43  BGH NJW 2007, 2841, Rn. 18. 41 Etwa

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Das wird schon bei den für das Wirtschaftsleben klassischen Fällen des Kaufvertrags und des Darlehensvertrags deutlich.

(aa) Die Anpassungen der Sittenwidrigkeitskriterien für den Kaufvertrag Bei Kaufverträgen sind vereinbarter Kaufpreis und Marktwert zur Ermittlung eines auffälligen Missverhältnisses gegenüberzustellen. Für die Ermittlung des Leistungsmissverhältnisses ist grundsätzlich der objektive Wert (Verkehrswert) der verglichenen Leistungen, das verkehrsübliche Äquivalent, maßgeblich.44 Das schließt aber nicht aus, im Einzelfall auch den Ertragswert oder den Verkehrswert heranzuziehen. Die objektiven Voraussetzungen des auffälligen Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung liegen zum Beispiel vor, wenn die zu einem Kaufpreis von 154.100 Euro erworbene Wohnung zum Zeitpunkt des Erwerbs nur 67.872 Euro wert gewesen ist. Zusammen mit dem Hinzutreten einer verwerflichen Gesinnung des Begünstigten begründet dies einen Verstoß gegen die guten Sitten.45 Über diesen einfachen Grundfall hinaus erfolgen rechtsgebietsspezifische Anpassungen der objektiven und subjektiven Sittenwidrigkeitskriterien, wie die Beispiele des Grundstückskaufvertrags und des Internetkaufvertrags zeigen.

(bb) Grundstückskaufvertrag Bei Grundstückskaufverträgen werden die Sittenwidrigkeitskriterien im Hinblick auf den Wert wie auch die damit verbundenen Leistungen, etwa die Errichtung eines Bauwerks, modifiziert. Ein besonders grobes Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung, das ohne das Hinzutreten weiterer Umstände den Schluss auf eine verwerfliche Gesinnung des Begünstigten erlaubt, liegt bei Grundstückskaufverträgen grundsätzlich erst ab einer Verkehrswert­ über- oder -unterschreitung von 90 Prozent vor.46 Übernimmt der Verkäufer dagegen die üblicherweise vom Käufer zu tragenden Erwerbsnebenkosten, so sind diese bei der Prüfung, ob bei einem Immobilienkaufvertrag ein auffälliges bzw. besonders grobes Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung besteht, von dessen Leistung abzuziehen.47 Liegt ein solches Missverhältnis vor, so reicht bei einem Verkäufer mit besonderer Sachkunde auf dem Immobilienmarkt allein die Vorlage eines zeitnah vor dem Verkauf erstellten Verkehrswertgutachtens, nach dem der vereinbarte 44  BGHZ

141, 257, 263 = NJW 1999, 3187, 3189 f. BGH BeckRS 2014, 08037, Rn. 5; ebenso für Eigentumswohnung mit dem Marktwert von 25.000 €, die für 54.000 € verkauft wird, BGH BeckRS 2012, 6739, Rn. 8 f. 46  BGH NJW 2014, 1652, Rn. 8. 47  NJW-RR 2016, 692, Rn. 11. 45 

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Kaufpreis in etwa dem Verkehrswert der Immobilie entspricht, nicht aus, um die Vermutung seiner verwerflichen Gesinnung zu erschüttern.48 Bei der Erbringung von Bauleistung ist eine Preisvereinbarung erst dann sittenwidrig, wenn sie nach dem nach § 2 Nr. 3 Abs. 2 VOB/B oder § 2 Nr. 5 VOB/B neu zu vereinbarenden Einheitspreis für Mehrmengen in einem auffälligen, wucherähnlichen Missverhältnis zur Bauleistung steht. Ist der nach § 2 Nr. 3 Abs. 2 VOB/B oder § 2 Nr. 5 VOB/B zu vereinbarende Einheitspreis für Mehrmengen um mehr als das Achthundertfache überhöht, weil der Auftragnehmer in der betreffenden Position des Leistungsverzeichnisses einen ähnlich überhöhten Einheitspreis für die ausgeschriebene Menge angeboten hat, besteht eine Vermutung für ein sittlich verwerfliches Gewinnstreben des Auftragnehmers.49 Diese Vermutung kann nicht dadurch entkräftet werden, dass der Auftragnehmer in anderen Positionen unüblich niedrige Einheitspreise eingesetzt hat, da ein solches spekulatives Verhalten des Auftragnehmers nicht schützenswert ist. An die Stelle der nichtigen Vereinbarung über die Bildung eines neuen Preises auf der Grundlage des überhöhten Einheitspreises tritt die Vereinbarung, die Mehrmengen nach dem üblichen Preis zu vergüten.50 Hat jedoch der Auftragnehmer diese Vermutung durch den Nachweis entkräftet, ihm sei bei der Preisbildung zu seinen Gunsten ein Berechnungsfehler unterlaufen, so verstößt es gegen Treu und Glauben und stellt eine unzulässige Rechtsausübung dar, wenn er den hierauf beruhenden, in einem auffälligen, wucherähnlichen Missverhältnis zur Bauleistung stehenden Preis für Mehrmengen oder geänderte Leistungen verlangt.51

(cc) Internetkaufvertrag Im Falle eines Kaufvertrags in Form einer sogenannten Internetauktion kann aus einem geringen Startpreis (hier: 1 Euro) nicht auf den Wert des Versteigerungsobjekts geschlossen werden. Daher kann ein grobes Missverhältnis zwischen dem Maximalgebot des Bieters und dem Wert des Versteigerungsobjekts nicht den Schluss auf eine verwerfliche Gesinnung rechtfertigen. Dies gilt umso mehr, wenn der Verkäufer den Startpreis festlegt und nicht der Käufer. Den Käufer trifft auch keinerlei Nachforschungspflicht im Hinblick auf den Wert des Kaufgegenstands.52 Es ist das Risiko des Verkäufers, den Wert der Kaufsache durch eine von ihm selbst gewählte Internetauktion bestimmen zu lassen. Für die Begründung der Sittenwidrigkeit muss vielmehr dargelegt werden, dass sich bei der Preisfindung ein Risiko realisiert hat, das außerhalb der Hand48 

BGH NJOZ 2014, 1461. BGHZ 179, 213, 214 = NJW 2009, 835, Rn. 11. 50  BGHZ 179, 213, 213–229 = NJW 2009, 835, Rn. 11 f. 51  BGHZ 196, 355, 355–370 = NJW 2013, 1953, Rn. 34. 52  BGH NJW 2012, 2723, Rn. 19. 49 

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lungsmacht des Verkäufers liegt. Das ist jedoch praktisch ausgeschlossen, solange der Verkäufer einen Start- oder Mindestpreis festlegen kann. Aus einem geringen Startpreis lassen sich daher keine Rückschlüsse auf den Wert des Versteigerungsobjekts oder eine verwerfliche Gesinnung des Bieters ziehen.53 Bei einer Internetauktion rechtfertigt deshalb ein grobes Missverhältnis zwischen dem Maximalgebot eines Bieters und dem Marktwert des Versteigerungsobjekts grundsätzlich nicht den Schluss auf eine verwerfliche Gesinnung des Bieters. Es bedarf vielmehr zusätzlicher Umstände, aus denen bei einem Vertragsschluss im Rahmen einer Internetauktion auf eine verwerfliche Gesinnung des Bieters geschlossen werden kann.54 Bricht dagegen der Verkäufer eine von ihm gestartete Auktion ab, da sich für ihn ein Verlustgeschäft abzeichnet, macht er sich gegenüber dem Höchstbietenden schadensersatzpflichtig. Haben beispielsweise die Parteien über die Internet-Auktionsplattform eBay einen Kaufvertrag über ein Gebrauchtfahrzeug geschlossen, das mit einem Startpreis von 1 Euro eingestellt worden war, und für das der Ersteigerer als einziger Bieter ein Maximalgebot von 555,55 Euro abgegeben und damit das Fahrzeug gekauft hatte, bevor der Versteigerer die Auktion abbricht und die Erfüllung des Vertrags verweigert, steht dem Bieter ein Schadensersatzanspruch wegen Nichterfüllung zu. Der Versteigerer kann dagegen nicht einwenden, es bestehe ein grobes Missverhältnis zwischen dem Wert des Gebrauchtfahrzeugs und dem Kaufpreis, sodass der Kaufvertrag als wucherähnliches Rechtsgeschäft wegen Sittenwidrigkeit nichtig wäre.55

(dd) Die Anpassungen im Hinblick auf den Darlehensvertrag Gegenstand der Sittenwidrigkeitsprüfung sind sowohl Verbraucherkreditverträge als auch Geschäftskredite. Bei Darlehensverträgen wird insbesondere geprüft, ob die den Schuldner treffende Belastung mit den guten Sitten vereinbar ist. Als zentrales Indiz dient dabei vor allem der Zinssatz.56 Bei Kreditverträgen bejaht die Rechtsprechung ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung, wenn der vertraglich vereinbarte Zins den marktüblichen Effektivzins relativ um 100 Prozent oder bei Ratenkreditverträgen absolut um 12 Prozent übersteigt.57

53  BGH NJW 2012, 2723, Rn. 20; zust. Hoeren, EWiR 2012, 471 und Lorenz, LMK 2012, 332201. 54  BGH NJW 2015, 548, Rn. 9. 55  BGH NJW 2015, 548, Rn. 7. 56  BGH NJW 2018, 848, Rn. 25; stRspr, vgl. schon BGHZ 104, 102, 104 f. = NJW 1988, 1659, 1660. 57  BGHZ 110, 336, 338 f. = NJW 1990, 1595, 1596; BGHZ 104, 102, 105 = NJW 1988, 1659, 1660.

A. Freiheit und Form

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Eingeschränkt wird diese Festsetzung jedoch für Niedrigzinsperioden, in denen die Abweichung auch 110 Prozent betragen darf58, und für Hochzinsperioden, die es rechtfertigen, schon bei einer Abweichung ab 90 Prozent aufwärts im Rahmen einer Gesamtwürdigung die Sittenwidrigkeit anzunehmen.59 Bei Krediten ist ein auffälliges Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung in der Regel dann anzunehmen, wenn der vertragliche Effektivzins den marktüblichen Vergleichszins um rund 100 Prozent übersteigt.60 Jedoch gilt dies nicht für Gelegenheitsdarlehen. Ein Zinssatz von 28 Prozent p. a. rechtfertigt jedenfalls bei Gelegenheitsdarlehen nicht wegen der absoluten Zinshöhe die Feststellung eines besonders groben Missverhältnisses, wenn der Marktzins, so wie er sich aus der amtlichen Zinsstatistik ergibt, bei höchstens 10 Prozent liegt. Dies wäre erst bei einer Zinsbelastung zwischen 94,7 Prozent und 180 Prozent p. a. der Fall.61 Auch sind weitere Leistungen wie Versicherungen bei der Ermittlung des Marktzinses zu beachten. So sind die Kosten einer Restschuldversicherung im Rahmen der Sittenwidrigkeitsprüfung des Effektivzinssatzes weder beim Vertrags- noch beim Marktzins zu berücksichtigen.62 Bei der Ermittlung des Missverhältnisses sind die Kosten einer Restschuldversicherung eines Darlehensvertrags nur dann zu berücksichtigen, wenn der Abschluss einer Restschuldversicherung vom Darlehensgeber für die Gewährung des Kredits vorgeschrieben ist. Dies ist etwa nach § 6 Abs. 3 Nr. 5 PAngV in der Fassung vom 28.7.2000 der Fall, wenn der Kredit ohne Abschluss einer Restschuldversicherung insgesamt nicht gewährt worden wäre.63 Die rechtsgebietsspezifischen Anpassungen der Sittenwidrigkeitskriterien erstrecken sich auf das subjektive Element. Liegt beispielsweise ein auffälliges Missverhältnis vor, begründet ein etwaiger Wissensvorsprung seitens der finanzierenden Bank bei steuersparenden Bauherren- und Erwerbermodellen grundsätzlich keine Aufklärungspflicht der Bank.64 Die finanzierende Bank ist bei einem auffälligen Missverhältnis auch grundsätzlich nicht verpflichtet, den Darlehensnehmer von sich aus über eine im finanzierten Kaufpreis „versteckte“ Innenprovision aufzuklären.65

58 

BGH NJW 1991, 834. Vgl. BGH NJW 1982, 2433, 2435. 60  BGHZ 104, 102, 105 = NJW 1988, 2049; BGH NJW 1991, 834 = LM H. 25/1991 § 138 (Bc) Nr. 67 = WM 1991, 216, 217. 61  BGH NJW 1982, 2767. 62 BGH NJW 1982, 2433; BGHZ 99, 333 = 1987, 944; 1988, 1661; 1990, 1048; 1990, 2807; 1990, 1597; 1991, 834; NJW-RR 1993, 1013. 63  BGH NJW-RR 2012, 416, Rn. 34. 64  BGH BeckRS 2005, 01234. 65  BGH BeckRS 2005, 01234. 59 

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

Grundsätzlich ist die Informationspflicht der Bank auch für Terminoptionsgeschäfte jedoch durch § 63 WpHG (bzw. § 31 WpHG in der bis zum 3.1.2018 geltenden Fassung) und entsprechende Richtlinien („MIFID“) umfassend geregelt.66 Ein besonders grobes auffälliges Missverhältnis kann nur ausnahmsweise zu einer Aufklärungspflicht der Bank führen, wenn sie von einer sittenwidrigen Übervorteilung des Kunden ausgehen muss.67 Die Aufklärungspflicht erstreckt sich dann auch auf eine „versteckte“ Innenprovision für die finanzierende Bank, wenn die Innenprovision zu einer so wesentlichen Verschiebung des Verhältnisses zwischen Kaufpreis und Verkehrswert der Kapitalanlage beiträgt, dass das Kreditinstitut von einer sittenwidrigen Übervorteilung des Käufers durch den Verkäufer ausgehen muss.68 Ein Beratungsfehler liegt erst vor, wenn der Verkäufer auch die Finanzierung des Immobilienerwerbs leistet und die empfohlene Kombination von Festkredit und als Tilgungsersatz dienender Lebensversicherung für den Käufer ungünstiger ist als ein marktübliches Darlehen.69 Nicht sittenwidrig ist die teils wirtschaftspolitisch umstrittene Vollfinanzierung eines Kaufgegenstands. Gerade auch im Falle eines Immobilienkaufs macht dies weder den Kauf- noch den Darlehensvertrag sittenwidrig.70 Besteht zwischen dem Kaufpreis und dem Verkehrswert des Kaufgegenstands kein besonders grobes, sondern lediglich ein auffälliges Missverhältnis, führt der Umstand einer Vollfinanzierung des Kaufpreises durch den Käufer für sich genommen auch dann nicht zur Sittenwidrigkeit des Kaufvertrags, wenn die finanzierende Bank nach entsprechender Ankündigung gegenüber dem Käufer den Wert des Kaufgegenstands ermittelt.71 Die Wertermittlung durch Kreditinstitute für den Wert der ihnen gestellten Sicherheiten liegt nämlich vor allem im eigenen Interesse sowie im Interesse der Sicherheit des Bankensystems, nicht jedoch im Interesse des Kunden.72 Sie hat daher keinen direkten Einfluss auf ein Urteil über die Sittenwidrigkeit des zu finanzierenden Rechtsgeschäfts. Die rechtsgeschäftsspezifische Anpassung der Sittenwidrigkeitskriterien zeigt sich noch deutlicher an den Beispielen von Dauerschuldverhältnissen, wie dem Arbeitsvertrag, dem Darlehensvertrag und dem Mietvertrag, aber auch an den Beispielen des Behandlungsvertrags sowie der Terminoptionsgeschäfte.

66  BGHZ 189, 13 = NJW 2011, 1949. Krit. zu der großen Reichweite des informationsbasierten Anlegerschutzes Herresthal, ZIP 2013, 1049. 67  BGH BeckRS 2005, 01234. 68  BGH BeckRS 2005, 01234; NZM 2003, 533. 69  BGH NJW 2005, 983. 70  BGHZ 160, 8, 17 = DStR 2004, 1839. 71  BGH WM 2014, 124. 72  BGHZ 160, 1, Rn. 45 = DStR 2004, 1839.

A. Freiheit und Form

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(ee) Die Anpassungen im Hinblick auf den Arbeitsvertrag Abweichend vom Grundsatz, dass ein auffälliges Missverhältnis bei einer Abweichung von 100 Prozent vorliegt, hat sich beispielsweise für Arbeitsentgelte eine Grenze von zwei Dritteln der marktüblichen Vergütung herausgebildet.73 Das vereinbarte Arbeitsentgelt wird neben dem Mindestlohngesetz auch durch § 134 BGB in Verbindung mit § 291 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB sowie durch § 138 Abs. 1 BGB geregelt. Bei der Ermittlung der marktüblichen Entlohnung wird auf das allgemeine Lohnniveau im betreffenden Wirtschaftsgebiet für vergleichbare Tätigkeiten abgestellt. Dabei sind auch die jeweiligen körperlichen und geistigen Beanspruchungen, die Arbeitsbedingungen (Lärm, Kälte, Hitze, Arbeitszeiten) sowie entgeltgleiche Leistungen (Fortbildungen) zu berücksichtigen.74 Bei Arbeitsverträgen kommt es regelmäßig auf die Tariflöhne der jeweiligen Wirtschaftsgebiete als objektiven Maßstab an.75 Andere denkbare Bezugspunkte wie der Sozialhilfesatz oder die Pfändungsgrenze sind unbeachtlich. Schwierigkeiten bereitet die Schätzung der üblichen Vergütung bei freien Berufen. Eine Schätzung scheidet mangels Anknüpfungstatsachen meist aus. Berufsordnungen wie etwa § 26 BORA für angestellte Rechtsanwälte sind keine zivilrechtlichen Anspruchsgrundlagen.76 Liegt ein auffälliges Missverhältnis im Sinne von Abs. 1 vor, weil der Wert der Arbeitsleistung den Wert der Gegenleistung um mehr als 50 Prozent, aber um weniger als 100 Prozent übersteigt, bedarf es zur Annahme der Nichtigkeit der Vergütungsabrede zusätzlicher Umstände, aus denen geschlossen werden kann, der Arbeitgeber habe die Not oder einen anderen den Arbeitnehmer hemmenden Umstand in verwerflicher Weise zu seinem Vorteil ausgenutzt. Ist der Wert einer Arbeitsleistung (mindestens) doppelt so hoch wie der Wert der Gegenleistung, gestattet dieses besonders grobe Missverhältnis den tatsächlichen Schluss auf eine verwerfliche Gesinnung des Begünstigten im Sinne von Abs. 1.77

(ff) Die Anpassungen im Hinblick auf den Mietvertrag Bei Mietverträgen wird geprüft, ob bei der den Schuldner treffenden Belastung, das heißt vor allem bei der Höhe des Mietzinses, ein auffälliges Missverhältnis vorliegt. Gegenstand der Sittenwidrigkeitsprüfung sind alle Arten von Mietverträgen. Besonderheiten sind bei Mietverträgen über Wohnraum, Gewerberäume und Mietwagen nach Unfallersatztarif zu beachten. Die Sittenwidrigkeitskriterien werden hier rechtsgeschäftsspezifisch angepasst.

73 

Vgl. BGHSt 43, 53 = NJW 1997, 2689. AP BGB § 138 Nr. 30. 75  BAG NZA 2009, 837, Rn. 13 f. 76  BAG NJW 2015, 1709, Henssler, AP Nr. 70 zu § 138 BGB. 77  BAG NZA 2012, 974, Rn. 36–38. 74 

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

(1) Mietverträge über Wohnraum Eine Beurteilung der Wohnungsmiete nach § 138 Abs. 1 BGB setzt grundsätzlich voraus, dass zwischen der Leistung des Vermieters und der Miete ein auffälliges Missverhältnis besteht und daher der Schluss auf eine verwerfliche Gesinnung des Vermieters gerechtfertigt wäre. Nach der Rechtsprechung zum Mietwucher ist wegen der hohen sozialen Bedeutung von Wohnraummietverhältnissen ein auffälliges Missverhältnis in der Regel bereits zu bejahen, wenn das übliche Entgelt um mehr als 50 Prozent überschritten wird.78 Als kaum lösbar hat sich jedoch in der Praxis die Bestimmung des Teilmarkts der Wohnung und damit des jeweiligen marktüblichen Mietzinses erwiesen.79 Teils wird daher vertreten, dass das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung auf der Grundlage des Verkehrswerts der Immobilie zu ermitteln ist. Hieraus sei die Rendite des Vermieters zu errechnen, die maximal dem Zinssatz für Pfandbriefe mit längerer Laufzeit von +50 Prozent entsprechen soll. Weiterhin sind die Bewirtschaftungskosten hinzuzurechnen. Dem so errechneten Betrag ist die Miete gegenüberzustellen. Als weiteres Korrektiv ist die ortsübliche Marktmiete zu berücksichtigen.80 Mietverträge über Wohnraum unterliegen wegen dieser kaum möglichen Bestimmung des Teilmarkts einer Wohnung im Hinblick auf den Mietzins den zivilrechtlichen Sonderregelungen der §§ 556d–g BGB sowie den strafrechtlichen Regelungen des § 5 WiStrG und § 291 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Diese Regelungen dienen nicht der ausgleichenden Gerechtigkeit, sondern dem sozialen Frieden, der durch eine unzureichende Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum oder gar deren Verdrängung gefährdet wäre.81 Allerdings kann der Mieter aus einem Verstoß gegen Vorschriften des Wirtschaftsstrafrechts keine Ansprüche auf eine Mietzinsminderung ableiten.82 Zudem scheitert die Anwendung der beiden genannten strafrechtlichen Normen typischerweise daran, dass dem Mieter weder der nach § 5 Abs. 2 WiStrG erforderliche Nachweis gelingt, dass der Vermieter die Mangellage am Wohnungsmarkt in diesem Einzelfall ausgenutzt hat, noch, dass der Vermieter in Ausbeutungsabsicht im Sinne des § 291 Abs. 1 Nr. 1 StGB gehandelt hat.83 78  OLG Frankfurt am Main, BeckRS 2011, 24237 in Fortsetzung von BGHZ 135, 269, 277 = NJW 1997, 1845, 1847 m.w.N. 79  BGH NJW-RR 2006, 591, Rn. 10. Den Aufwand im Hinblick auf Sachverständigengutachten verdeutlicht OLG Frankfurt am Main, BeckRS 2011, 24237. 80  Siehe dazu Schmidt-Futterer/Blank, Anhang zu § 535 Rn. 91–93. 81  Siehe BT-Drs. 18/3121, S. 1 ff. und 16 ff.; ebenso für Wohnen als zentrales und damit sozialstaatlich herausragend schützenswertes Element eines menschenwürdiges Lebens ­Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 103 ff. 82  OLG Düsseldorf NJOZ 2012, 574. 83  BGH NJW 2004, 1740; AG Hamburg, BeckRS 2008, 21622.

A. Freiheit und Form

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Weiterhin ist bereits die Frage, ob ein geringes Angebot an vergleichbaren Räumen im Sinne des § 5 Abs. 2 WiStrG besteht, jeweils für die in Betracht kommende Wohnungsgruppe, den sogenannten Teilmarkt, festzustellen. Für eine Wohnung mit weit überdurchschnittlicher Qualität stellt daher der Umstand, dass sie in einem Ballungsgebiet liegt und für die betreffende Gemeinde ein Zweckentfremdungsverbot besteht, schon kein hinreichend aussagekräftiges Anzeichen für das Vorliegen einer Mangelsituation dar.84 Es bleibt abzuwarten, ob die staatliche Mietpreisregelung des § 556d Abs. 1 BGB, der zufolge die Miete für einen Wohnraum in einem durch Verordnung bestimmten Gebiet zu Beginn des Mietverhältnisses die ortsübliche Vergleichsmiete im Sinne des § 558 Abs. 2 BGB um höchstens 10 Prozent übersteigen darf, die Erwartungen des Gesetzgebers erfüllt oder vielmehr den Teilmarkt der Wohnungen mit überdurchschnittlicher Qualität erweitert, in dem das Vorliegen einer Mangelsituation kaum begründbar erscheint. Aus Sicht der Kriterien des § 138 Abs. 1 BGB fehlt es jedenfalls nach wie vor an einem überzeugenden Verfahren für die Ermittlung des verkehrsüblichen Mietzinses.

(2) Gewerbliche Mietverträge über Räume Bei einem gewerblichen Miet- oder Pachtverhältnis kann von einem grob auffälligen Missverhältnis zwischen der vereinbarten und der marktüblichen Miete oder Pacht grundsätzlich nicht auf eine verwerfliche Gesinnung des Begünstigten geschlossen werden. Wegen der häufig auftretenden Bewertungsschwierigkeiten muss eine tatrichterliche Prüfung dahingehend erfolgen, ob das objektive Missverhältnis für den Begünstigten subjektiv erkennbar war.85 Erst darauf kann die Vermutung des subjektiven Elements aufbauen. Die Sittenwidrigkeitskriterien werden hier zudem im Hinblick auf die Objektnutzung und die dafür einschlägige Lage angepasst. Zwar liegt bei gewerblichen Mietverträgen ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung vor, wenn die vereinbarte Miete knapp 100 Prozent höher ist als die Marktmiete. Da es aber oft schwierig sei zu entscheiden, ob ein in guter Geschäftslage liegendes Objekt der 1a-Lage oder der 1b-Lage zuzuordnen ist, ergibt sich typischerweise eine Preisspanne, zum Beispiel von 10 bis 40 Euro/qm. Einem privaten Vermieter, der einen Mietpreis im Bereich einer nachvollziehbaren Schwankungsbreite durchgesetzt hat, kann man angesichts der kurzfristig möglichen Mietzinsveränderungen bei der Gewerberaummiete daher nicht ein unredliches Verhalten vorwerfen, wenn ein Sachverständiger später zu dem Ergebnis gelangt, dass innerhalb der Schwankungsbreite ein um die Hälfte niedrigerer Mietzins marktüblich gewesen wäre. Es müssen dann weitere Umstände für eine verwerfliche Gesinnung des be84  85 

BGH NJW-RR 2006, 591, Rn. 11. BGH NJW 2004, 3553; BGH NJW 2002, 55.

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günstigten Vertragspartners sprechen. Solche Umstände liegen jedenfalls nicht vor, wenn der Bewucherte ähnliche Mietobjekte, in diesem Fall Backshops, in der gleichen Region unterhalten hat und insoweit unternehmerisch nicht so unerfahren gewesen ist, als dass er bei der Vereinbarung des Mietzinses dem Vermieter unterlegen gewesen ist und dieser seine Unerfahrenheit ausgenutzt hat.86 Unterschiedliche Gewerbe bilden unterschiedliche Märkte bei der Ermittlung des üblichen Mietzinses. Daher kann beispielsweise die Pacht für einen Imbissstand nicht mit der Pacht für eine Verkaufsfläche verglichen werden.87 Die Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit der Gewerberaummiete ermöglicht es durch die doppelte Anpassung der Sittenwidrigkeitskriterien, nämlich einmal im Hinblick auf das Rechtsgeschäft und einmal auf die Art und Üblichkeiten des jeweiligen Gewerbes, das unternehmerische Risiko der Gewerbetreibenden zu berücksichtigen.

(3) Mietwagen nach Unfallersatztarif Wiederum allein aus normativen Gründen werden die Sittenwidrigkeitskriterien für Mietwagen nach dem Unfallersatztarif angepasst. Für die Frage der Erforderlichkeit eines Unfallersatztarifs bei einem Mietwagen kommt es im Allgemeinen nämlich nicht darauf an, ob der Mietpreis für das Ersatzfahrzeug zwischen Mieter und Vermieter wirksam vereinbart worden ist.88 Entscheidend ist grundsätzlich, ob der geltend gemachte Aufwand zur Schadensbeseitigung im Sinne des § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB erforderlich ist. Damit ist die Frage unerheblich, ob der Mietvertrag zwischen der Klägerin und dem Mietwagenunternehmer wegen Verstoßes gegen die guten Sitten nichtig ist.89 Vielmehr kommt es darauf an, ob unter der Perspektive der dem Geschädigten obliegenden Schadensminderungspflicht eine kostengünstigere Alternative zugemutet werden kann.90

(gg) Die Anpassungen im Hinblick auf den Behandlungsvertrag Der Behandlungsvertrag nach § 630a-h BGB regelt das Arzt-Patienten-Verhältnis. Allerdings ist bei der Vergütung des Arztes zwischen einer privatärztlichen Zahlungsvereinbarung und der Übernahme der Leistungen durch das öffentlich-rechtliche System der gesetzlichen Krankenversicherung streng zu unterscheiden. Das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung überlagert, anders

86 

BGH NJW 2008, 3210, Rn. 21, 23 und 26–36. BGH NJW 2004, 1454. 88  BGH NJW 2007, 3782, Rn. 6. 89  BGH NJW 2007, 3782, Rn. 7. 90  BGH NJW 2007, 3782, Rn. 9. 87 

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als im Bereich der privaten Krankenversicherung oder der Selbstzahler, die Vertragsfreiheit.91 Zur Ermittlung eines auffälligen Missverhältnisses zwischen den beiderseitigen Leistungen einer Pauschalvergütung sind die von einer reinen Privatklinik berechneten Pauschalvergütungen mit den Entgelten zu vergleichen, die andere, nicht der Bundespflegesatzverordnung unterworfene Privatkliniken für vergleichbare Krankenhausleistungen nach einem entsprechenden Abrechnungsmodus verlangen.92 Insbesondere Verweise auf MB/KK (die regelmäßig aktualisierten Musterbedingungen für die Krankheitskosten- und Krankenhaustagegeldversicherung) sind bei einer privatärztlichen Vergütungsvereinbarung nur eingeschränkt zu berücksichtigen. So hat der Versicherer etwa mit der Wendung „medizinisch notwendige Heilbehandlung“ in § 1 Abs. 2 Satz 1 MB/KK 76 keine Beschränkung seiner Leistungspflicht auf die kostengünstigste Behandlung erklärt. Auch erstreckt sich das Kürzungsrecht des Versicherers bei sogenannter Übermaßbehandlung gemäß § 5 Abs. 2 MB/KK 76 nicht auch auf Übermaßvergütungen.93 Die strikte Trennung zwischen privat- und kassenärztlicher Vergütung führt auch dazu, dass selbst dann keine Sittenwidrigkeit vorliegt, wenn die Fallpauschalen für minimal-invasive Bandscheibenoperationen einer reinen Privatklinik im Vergleich zu tagesgleichen Pflegesätzen anderer, der Bundespflegesatzverordnung unterworfener Krankenhäuser um circa 900 Prozent überhöht sind.94

(hh) Die Anpassungen im Hinblick auf Terminoptionsgeschäfte Die Anpassung der Sittenwidrigkeitskriterien steht hier vor zwei Herausforderungen, nämlich dem aleatorischen Charakter der Terminoptionsgeschäfte wie auch ihrer umfassenden gesetzlichen Regelung. Terminoptionsgeschäfte liegen teils an der Grenze zu Spielverträgen. Zinssatz-Swap-Verträge werden daher als atypische gegenseitige Verträge mit aleatorischem Charakter angesehen. Sie unterliegen insoweit umfassenden Beratungspflichten der Bank, insbesondere über Verlustrisiken. Die Informationspflichten der Bank sind durch § 31 WpHG und entsprechende europäische Richtlinien („MIFID“) umfassend geregelt.95 Zinssatz-Swap-Verträge sind erst dann sittenwidrig, wenn sie darauf angelegt sind, den Vertragspartner der Bank von vornherein chancenlos zu stellen.96 Dies gilt auch, wenn es sich bei dem Vertragspartner der Bank um eine Ge91 

Dazu allgemein BeckOK-BGB/Katzenmeier, § 630a Rn. 122. BGHZ 154, 154, 158 f. = NJW 2003, 1596, 1598. 93  BGHZ 154, 154, 169 = NJW 2003, 1596, 1599 f.; Aufgabe von BGH VersR 1978, 267. 94  BGHZ 154, 154 = NJW 2003, 1596. 95  BGHZ 189, 13 = NJW 2011, 1949. Krit. zu der großen Reichweite des informationsbasierten Anlegerschutzes Herresthal, ZIP 2013, 1049. 96  BGHZ 205, 117, 143 = NJW 2015, 2248, Rn. 70. 92 

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meinde handelt, für die nicht eindeutig geregelt ist, ob ein gemeinderechtliches Spekulationsverbot besteht.97 Begründet wird Sittenwidrigkeit zentral mit Verweis auf den Rechtsgedanken des § 37e WpHG, der es der Bank verwehrt, sich auf § 762 BGB zu berufen. Vielmehr ist die handelnde und beratende Bank bei allen auf Grund eines Rahmenvertrags getätigten Swap-Geschäften, denen kein konnexes Grundgeschäft zugeordnet ist, verpflichtet, unter dem Gesichtspunkt eines schwerwiegenden Interessenkonflikts über die Einpreisung eines anfänglichen negativen Marktwerts und dessen Höhe aufzuklären.98 Etwaige Vorteile aus zu anderen Zeiten geschlossenen Swap-Verträgen finden bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit keine Berücksichtigung.99 Die Rechtsprechung wird unter dem Aspekt kritisiert, dass letztlich der übermäßige Gewinn der Bank bei Swap-Geschäften den Maßstab der Sittenwidrigkeitskontrolle bildet und nicht die Frage der (erfüllten) Pflicht der Aufklärung über außergewöhnliche Verlustmöglichkeiten des Kunden.100 Dies erscheint überzeugend, zumal bei einer Gemeinde, anders als bei einem Verbraucher, davon ausgegangen werden kann, dass sie als Kunde selbst über Fachkenntnisse verfügt und jedenfalls nach einer Risikoabfrage und Aufklärung über Zinssatz-Swap-Verträge durch die Bank auch eine informierte Entscheidung über Verlustrisiken treffen kann.

5. Die Überforderung Eine krasse finanzielle Überforderung kann, muss aber nicht die Sittenwidrigkeit einer Bürgschaft begründen.101 Erst das Zusammenspiel von objektivem und subjektivem Element begründet den Sittenverstoß.

a. Die objektive Seite Es gilt grundsätzlich, dass eine Bank nicht verpflichtet ist, die Bonität eines Bürgen vor der Abgabe seiner Bürgschaftserklärung zu prüfen. Auch der Umstand, dass der Bürge ein naher Angehöriger des Hauptschuldners ist, zwingt nicht zu einer solchen Prüfung.102 Allerdings setzt sich die Bank ohne eine solche Überprüfung dem Risiko eines infolge Sittenwidrigkeit nichtigen Bürgschaftsvertrags aus.

 97 

BGHZ 205, 117, 141 f. = NJW 2015, 2248, Rn. 63, 64 und 66. BGHZ 205, 117, 129 f. = NJW 2015, 2248, Rn. 31 f.  99  BGHZ 2015, 117, 148 = NJW 2015, 2248, Rn. 85. 100  Lehmann, ZBB 2015, 282. 101  BGH NJW-RR 2017, 241, Rn. 20; BGH NJW 2013, 1534, Rn. 9 in Fortsetzung von BGHZ 136, 347 = NJW 1997, 3332 und BVerfG NJW 1996, 2021. 102  BGHZ 106, 269 = NJW 1989, 830 m. Anm. Honsell, JZ 1989, 494.  98 

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Eine krasse finanzielle Überforderung bei nicht ganz geringen Bankschulden liegt demnach objektiv vor, wenn der Mithaftende voraussichtlich nicht einmal die von den Darlehensvertragsparteien festgesetzte Zinslast aus dem pfändbaren Teil seines laufenden Einkommens und Vermögens bei Eintritt des Sicherungsfalls dauerhaft allein tragen kann.103

b. Die subjektive Seite (aa) Die Vermutung der verwerflichen Gesinnung Die Vermutung der verwerflichen Gesinnung stützt sich bei dem Eingehen der Bürgschaft auf die Ausbeutung der emotionalen Verbundenheit des Bürgen mit dem Schuldner der Hauptforderung.104 Diese emotionale Verbundenheit ist anerkannt für Bürgschaften zwischen Ehegatten, zwischen Eltern und Kindern, bei nichtehelichen Lebenspartnerschaften und auch im Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Besteht beispielsweise ein krasses Missverhältnis zwischen dem Umfang der Haftung und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des bürgenden Ehegatten oder Lebenspartners und lässt sich der Verpflichtungsumfang auch nicht im Hinblick auf den Schutz des Gläubigers vor Vermögensverlagerung vom Hauptschuldner auf den Bürgen rechtfertigen, ist der Bürgschaftsvertrag in der Regel gemäß Abs. 1 nichtig.105 Eine Bürgschaft ist ebenfalls sittenwidrig, wenn die Eltern hauptsächlich aus eigenem Interesse ihre geschäftsunerfahrenen Kinder veranlassen, eine Bürgschaft zu leisten, die deren voraussichtliche finanzielle Leistungsfähigkeit bei Weitem übersteigt. Eltern verletzen in der Regel ihre familienrechtliche Pflicht zur Rücksichtnahme (§ 1618a BGB). Dabei muss die Gläubigerbank ein solches Handeln der Eltern gekannt oder grob fahrlässig außer Acht gelassen haben.106 Auch eine von einem Arbeitnehmer mit mäßigem Einkommen aus Sorge um den Erhalt seines Arbeitsplatzes für einen Bankkredit des Arbeitgebers übernommene Bürgschaft ist sittenwidrig, wenn sie den Arbeitnehmer finanziell krass überfordert und sich der Arbeitgeber in einer wirtschaftlichen Notlage befindet.107

103  Vgl.

2705.

104 

BGH WM 2009, 1460 = NJW 2009, 2671; BGH WM 2002, 1649 = NJW 2002,

BGH NJW-RR 2017, 241, Rn. 20. NJW 2013, 1534 in Fortsetzung von BGHZ 136, 347 = NJW 1997, 3372 und BVerfG NJW 1996, 2021. 106  BGHZ 132, 328 = NJW 1996, 2088; BGH NJW 1994, 1341; BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36 m. Anm. Schweitzer, NJW 1994, 36; Wiedemann, JZ 1994, 411. 107  BGHZ 156, 302 = NJW 2004, 161. 105  BGH

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

(bb) Die Widerlegung der Vermutung der verwerflichen Gesinnung Die Vermutung der verwerflichen Gesinnung kann widerlegt werden, wenn ein Eigeninteresse des Bürgen108 oder ein berechtigtes Sicherungsinteresse der kreditgebenden Bank109 besteht oder die Schuld des Bürgen durch weitere Sicherungsmittel gedeckt ist. (1) So ist auch eine im Gesellschaftsvertrag einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts begründete Verpflichtung einer nicht leistungsfähigen Gesellschafterin zur Rückzahlung erheblicher Beträge, die der andere Gesellschafter einlegt und die vereinbarungsgemäß dem im Interesse der Gesellschaft tätigen Ehemann der Gesellschafterin zufließen, nicht sittenwidrig, wenn die Ehefrau auf Grund ihrer Gesellschafterstellung ein adäquates wirtschaftliches Eigeninteresse an der mit den Zahlungen verbundenen Förderung des Gesellschaftszwecks hat.110 Die Annahme eines die Sittenwidrigkeit hindernden wirtschaftlichen Eigeninteresses des Sicherungsgebers ist immer dann begründet, wenn der nicht nur unbedeutend beteiligte Gesellschafter einer kreditsuchenden Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder Kommanditgesellschaft für die Gesellschaft bürgt.111 (2) Umgekehrt kann auch die Gefahr von Vermögensübertragungen die Widerlegung der Vermutung bei Vorliegen einer emotionalen Verbundenheit des Bürgen mit dem Hauptschuldner rechtfertigen. Um etwa der Gefahr von Vermögensübertragungen zu begegnen – das heißt, dass etwa ein Ehegatte als Hauptschuldner Vermögen auf den anderen verlagert –, kann das Interesse der kreditgebenden Bank an einer Bürgschaft des anderen Ehegatten auch dann berechtigt sein, wenn dieser zur Zeit vermögenslos ist.112 Jedoch muss bei Vorliegen eines berechtigten Interesses des Kreditgebers, sich durch einen an sich wirtschaftlich sinnlosen Bürgschafts- oder Mithaftungsübernahmevertrag vor Vermögensverschiebungen zwischen Eheleuten zu schützen, zugleich eine ausdrückliche Haftungsbeschränkung vereinbart werden.113 (3) Eine krasse finanzielle Überforderung nach § 138 BGB scheidet auch aus, wenn die Bürgenschuld durch den Wert eines dem Bürgen gehörenden Grundstücks abgedeckt ist.114 Zur Beurteilung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist jedoch nur der im Einzelfall effektiv verfügbare Sicherungswert des Grundeigentums in Ansatz zu bringen. Dabei sind zum Zeitpunkt des Vertragsschlus108  BGH NJW-RR 2013, 1258 R. 21 und 24; BGHZ 125, 206 = NJW 1994, 1278; BGH NJW 2009, 1494; 2002, 1337; BGHZ 146, 37, 45 = NJW 2001, 815; Schimansky, WM 2002, 2437. 109  BGHZ 128, 328, 330 = NJW 1995, 592. 110  BGH NJW-RR 2013, 1258, Rn. 21 und 24; NJW 2002, 1337. 111  Vgl. BGH NJW 2003, 967; 2002, 1337; Tiedtke, NJW 2001, 1015. 112  BGHZ 128, 328, 330 = NJW 1995, 592; BGH NJW 1999, 2584. 113  BGHZ 151, 34 = NJW 2002, 2228. 114  BGH ZIP 2014, 1016 in Fortsetzung von BGH WM 2001, 1330, 1331 f. = NJW 2001, 2466.

A. Freiheit und Form

151

ses auf dem Grundeigentum ruhende dingliche Belastungen wertmindernd zu berücksichtigen.115 Sodann ist, ausgehend vom Zeitpunkt des Vertragsschlusses, der Umfang der dinglichen Belastung bei Eintritt des Sicherungsfalls zu prognostizieren.116 Bei zeitlich hintereinander geschalteten Bürgschaftsverträgen in einem Näheverhältnis, wie zwischen langjährigen Lebensgefährten, ist grundsätzlich auf den Ausgangsvertrag abzustellen.117 Bei Höchstbetragsbürgschaften, bei denen sich die Haftung für Nebenforderungen lediglich nach der Bürgschaftssumme und nicht nach der höheren Hauptschuld richtet, ist der Maßstab der krassen finanziellen Überforderung des dem Hauptschuldner persönlich besonders nahestehenden Bürgen die vertragliche Zinslast aus der Bürgschaftssumme und nicht die Zinslast aus der höheren Hauptschuld.118 Die zur Bürgschaft im Ausgang von Vorgaben des Verfassungsgerichts gemachten Grundsätze sind nicht auf andere Sicherungsmittel, insbesondere nicht auf die Grundschuld übertragbar.119 Nicht sittenwidrig ist daher die Verpflichtung einer nicht leistungsfähigen Gesellschafterin zur Rückzahlung erheblicher Beträge, die der andere Gesellschafter einlegt und die vereinbarungsgemäß dem im Interesse der Gesellschaft tätigen Ehemann der Gesellschafterin zufließen, wenn die Ehefrau auf Grund ihrer Gesellschafterstellung ein adäquates wirtschaftliches Eigeninteresse an der mit den Zahlungen verbundenen Förderung des Gesellschaftszwecks hat.120 Die Rechtsprechung geht ab einer Beteiligung von 10 Prozent von einer maßgeblichen Beteiligung aus, die stets zu einem adäquaten wirtschaftlichen Eigeninteresse führt. Die Grundsätze für die Sittenwidrigkeit von Privatpersonen wegen Überforderung greifen ab dieser Beteiligungsschwelle regelmäßig nicht.121 Das wird kritisiert, da ein Minderheitsgesellschafter regelmäßig keinen effektiven Einfluss auf die Höhe der Verbindlichkeit habe und wegen seiner Schwäche als schützenswert erscheine.122 Der Bundesgerichtshof hält jedoch überzeugenderweise daran fest, dass eine finanzielle Überlastung des Bürgen oder Mitverpflichteten an einem finanzierten Objekt dann ausscheidet, wenn dieser an dem finanzierten Objekt in einem

115  Vgl. Senatsurteile BGHZ 151, 34, 38 f. = NJW 2002, 2228; BGH WM 2002, 1647, 1648 = NJW 2002, 2634 und BGH ZIP 2010, 21 = WM 2010, 32, Rn. 15; BankR-HdB/Nobbe, § 91 Rn. 98. 116  BGH ZIP 2014, 1016 = WM 2014, 989; auch Ellenberger/Findeisen/Nobbe/Nobbe, § 765 Rn. 93. 117  BGH ZIP 2014, 1016 = WM 2014, 989. 118  BGH NJW 2013, 1534; 1996, 2369; BGHZ 151, 34 = NJW 2002, 2228. 119  BGHZ 152, 147 = NJW 2002, 2633. 120  BGH NJW-RR 2013, 1258, Rn. 21 und 24. 121  BGH WM 2003, 275. 122 So Wagner, WuB I F 1 a Bürgschaft 5.03.

152

Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

nennenswerten Umfang beteiligt ist.123 Insbesondere ist ein die Annahme der Sittenwidrigkeit hinderndes wirtschaftliches Eigeninteresse des Sicherungsgebers grundsätzlich anzunehmen, wenn der nicht nur unbedeutend beteiligte Gesellschafter einer kreditsuchenden Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder Kommanditgesellschaft für die Gesellschaft bürgt.124

c. Überforderung als Verhinderung eines Ausschlusses von rechtsgeschäftlicher Entscheidungsfreiheit Ein genauerer Blick auf die Rechtsprechung zur Bürgschaft zeigt damit, dass der vermeintlich generelle Schutz des Schwächeren hier in die Frage überführt wird, ob ein wirtschaftliches Interesse des Bürgen an dem zu beurteilenden Rechtsgeschäft erkennbar ist. Das subjektive Element ermöglicht sodann vor allem die Widerlegung der Vermutung der Sittenwidrigkeit, wenn ein rechtlich anerkanntes Eigeninteresse des Bürgen erkennbar ist. Die Überforderung als von der Rechtsprechung anerkanntes normatives Kriterium muss jedoch keinesfalls als Ausdruck einer Idee der Vertragsgerechtigkeit oder eines inhaltlich aufgeladenen Konzepts von Vertragsparität gedeutet werden, das bestimmte gesellschaftliche Vorgaben durch das Recht umsetzen möchte. Die Überforderung kann aber als Ausdruck des Schutzes der individuellen Handlungshoheit verstanden werden, die es verhindert, dass ein Auschluss des überforderten Bürgen von der weiteren Ausübung seiner rechtsgeschäftlichen Entscheidungsfreiheit infolge einer Insolvenz erfolgt. Auch ein einseitig verpflichtender Vertrag darf eine Vertragspartei nicht dazu verpflichten, ihre Lebensressourcen zur Gänze der Erfüllung einer vertraglichen Leistungspflicht zu widmen.

6. Der Schutz der Entscheidungsfreiheit Eine Beschränkung der persönlichen und wirtschaftlichen Freiheit ist zwar die Folge jeder Vertragsbindung.125 Die vertragliche Bindung verliert ihre Legitimation aber, wenn darüber hinaus die Entscheidungs- und Betätigungsfreiheit einer Vertragspartei ganz oder in wesentlichen Teilen eingeschränkt wird. Eine sittenwidrige Einschränkung der Entscheidungsfreiheit liegt vor, wenn eine Vertragspartei ihre Selbstständigkeit und wirtschaftliche Entschließungsfreiheit im Ganzen oder in wesentlichen Teilen einbüßt.126 Diese Form des Sitten123  Vgl. BGH ZIP 2005, 432, 434 = NJW 2005, 971; siehe auch BGH ZIP 2003, 1596, 1598 = NJW-RR 2004, 337. 124  Vgl. BGH ZIP 2003, 288, 289 = NJW-RR 2004, 337; ZIP 2002, 2249, 2251 = BeckRS 2002, 08311. 125  BGH NJW 1995, 2350, 2351. 126  BGH NJW 2012, 3162, Rn. 21; BGH NJW 1993, 1587, 1588.

A. Freiheit und Form

153

verstoßes wird auch als Knebelung bezeichnet. Das wird besonders deutlich bei der Beurteilung der Verfügungsverbote.

a. Verfügungsverbote und der objektive Schutz der Entscheidungsfreiheit Vertragliche Verfügungsverbote nach § 137 Satz 2 BGB beschränken die wirtschaftliche Handlungsfreiheit des Schuldners in der Regel nicht übermäßig, soweit sie sich nur auf einen Gegenstand beziehen.127 Dies gilt umso mehr, als sich die Parteien auch für eine Vertragsbeschränkung anstelle eines Verfügungsverbots entscheiden können. Daher werden Verfügungsverbote wie auch Unterlassungsverpflichtungen nach § 137 Satz 2 BGB (schuldrechtliche Verfügungsverbote) auch nicht nach 30 oder 35 Jahren nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen unwirksam. Sittenwidrig ist aber ein rechtsgeschäftliches Verfügungsverbot, das dem Erwerber ohne Ausnahme jede Verfügung über das Vermögen des Betriebs oder über dessen Grundvermögen untersagt. Ein solches ausnahmsloses Verfügungsverbot beschränkt die wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten des Übernehmers in einem Maße, dass dieser seine Selbstständigkeit und wirtschaftliche Handlungsfreiheit in einem wesentlichen Teil einbüßt.128

b. Langfristige Vertragsbindung und das Zusammenspiel des subjektiven und des objektiven Elements Die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit einer Vertragspartei muss in Kenntnis der anderen Vertragspartei eingeschränkt werden. Dadurch werden aber auch die Sittenwidrigkeitskriterien noch rechtsgeschäftsspezifischer als in den Fällen des auffälligen Missverhältnisses und der Überforderung. Das zeigen insbesondere die Fallgruppen der langfristigen Vertragsbindung wie beispielsweise die Miet- und Pachtverträge oder Gesellschaftsverträge.

(aa) Miet- und Pachtverträge Der Grundsatz der allgemeinen Vertragsfreiheit ermöglicht es, rechtsgeschäftliche Bindungen über einen langen Zeitraum einzugehen.129 Jedoch gehört es zu der gesetzlichen Regelung von Dauerschuldverhältnissen, dass sich jede Partei nach gewissen Zeiträumen durch Kündigung einseitig vom Vertrag lösen kann. So ist auch für auf unbestimmte Zeit abgeschlossene Verträge die Möglichkeit einer Vertragsbeendigung durch ordentliche Kündigung vorgesehen, etwa für den Mietvertrag durch § 543 Abs. 1, 2 BGB und § 557 BGB, für den Pachtvertrag durch § 581 Abs. 2 BGB, für den Dienstvertrag durch § 620 Abs. 2, §§ 621, 624 127 

BGH NJW 2012, 3162, Rn. 26 und 22; zust. Lorenz, LMK 2012, 337419. BGH NJW 2012, 3162, Rn. 29; schon BGHZ 19, 12 = NJW 1956, 337. 129  BGH NJW 1995, 2350; BGHZ 64, 288 = NJW 1975, 1268. 128 

154

Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

BGB und für Handelsvertreter durch § 89 Abs. 1 HGB. Diese für langfristige oder auf unbestimmte Zeit abgeschlossene Verträge vom Gesetzgeber vorgesehene Möglichkeit der Vertragsbeendigung durch ordentliche Kündigung kann als Teil des dispositiven Rechts vertraglich abbedungen werden. Die Grenzen der durch den Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kündigung bewirkten langfristigen Vertragsbindung werden allein durch die guten Sitten (§ 138 BGB) und den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) gezogen.130 Die Sittenwidrigkeit langfristiger Vertragsbindungen wird erst unter Berücksichtigung und Würdigung der jeweiligen vertragstypischen und durch die Besonderheiten des Einzelfalls geprägten Umstände begründet. Eine Beschränkung der persönlichen und wirtschaftlichen Entscheidungs- und Handlungsfreiheit liegt bei einem nach Abwägung der beiderseitigen berechtigten Interessen nicht mehr hinnehmbaren Übermaß vor.131 Im Miet- und Pachtrecht ist der gänzliche Ausschluss der ordentlichen Kündigung bei Miet- und Pachtverträgen nicht sittenwidrig, wenn sie auf die Lebenszeit des Vermieters (bzw. Verpächters) oder Mieters (bzw. Pächters) geschlossen sind (§ 567 Satz 2 BGB, § 581 Abs. 2 BGB). Das gilt auch, wenn der Vertrag länger als 30 Jahre besteht.132 Nicht sittenwidrig ist dagegen grundsätzlich ein beiderseitiger, zeitlich begrenzter Kündigungsausschluss in einem Formularmietvertrag über Wohnraum. Er wird aber in der Regel unwirksam, wenn seine Dauer mehr als vier Jahre beträgt.133 Dennoch kann auch eine Vertragsbindung von bis zu 13 Jahren auf Wunsch des Mieters einer Wohnung möglich sein.134 Insbesondere sind Eigentumsgrundrechte des Vermieters dadurch nicht berührt, wenn er sich auf ein nur durch außerordentliche Kündigung vorzeitig beendbares Vertragsverhältnis einlässt.135

(bb) Gesellschaftsverträge Gesellschaftsverträge sind üblicherweise auf Dauer angelegt. Dennoch kann auch bei ihnen die langfristige Verbindung unter Beachtung besonderer Eingriffs- und Kontrollbefugnisse des Gläubigers oder verfassungsrechtlicher Vorgaben sittenwidrig sein.

130 

BGH NJW 1995, 2350; BGH NJW 1975, 1268. Vgl. BGH NJW-RR 1986, 982, 983. 132  BayObLG NJW-RR 1993, 1164. 133  BGH NJW 2012, 521, Rn. 10. 134  BGH NJW 2013, 2820, Rn. 17 f. 135  BGH NJW 2013, 2820, Rn. 17. 131 

A. Freiheit und Form

155

(1) Eingriffs- und Kontrollbefugnisse des Gläubigers Eingriffs- und Kontrollbefugnisse stellen eine Beschränkung der Entschließungsfreiheit einer GmbH dar. Gerade zur Sanierung einer GmbH in Verbindung mit der Bereitstellung beträchtlicher finanzieller Mittel stellt sich oftmals die Frage, wie weit in den Kernbereich der Unternehmensleitung eingegriffen werden kann. Die Grenze der Sittenwidrigkeit ist jedoch erst überschritten, wenn die weitgehende Kontrolle an die Gläubiger übertragen wird und zudem keine ausreichende wirtschaftliche Bewegungsfreiheit der Gesellschaft mehr besteht.136 Sittenwidrig ist beispielsweise die Klausel eines Gesellschaftsvertrags, die alle geschäftlichen Entscheidungen des Betriebs der Gesellschaft vollständig durch lückenlose Informationspflichten überwacht, die nicht einmal Raum für einen Kernbereich von Geschäftsgeheimnissen lässt und zudem eine einseitige Festlegung von Verkaufspreisen durch Gläubiger der Gesellschaft vorsieht.137

(2) Wettbewerbsverbot Wettbewerbsverbote für Gesellschafter einer GmbH können grundsätzlich ohne Weiteres in der Satzung einer Gesellschaft vereinbart werden. Sittenwidrig ist eine Vereinbarung aber dann, wenn ein zeitlich unbefristetes, örtlich unbegrenztes und entschädigungsloses Wettbewerbsverbot vereinbart wird. Ob ein gesellschaftsvertragliches Wettbewerbsverbot wegen der Einschränkung der Entscheidungsfreiheit sittenwidrig ist, ist auf Grund einer Abwägung der beiderseitigen Interessen unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls, insbesondere des mit dem Wettbewerbsverbot verfolgten Zwecks, zu beurteilen.138 Den Maßstab bilden die Normen des GWB, aber auch verfassungsrechtliche Vorgaben und § 138 BGB. Dabei sind sie nur in den von § 1 GWB vorgegebenen Grenzen zulässig.139 Während der Zugehörigkeit zur Gesellschaft findet ein an die Gesellschafterstellung geknüpftes vertragliches Wettbewerbsverbot seine Rechtfertigung regelmäßig in dem anzuerkennenden Bestreben der Gesellschaft, dass der Gesellschafter als Ausfluss seiner gesellschafterlichen Treuepflicht den Gesellschaftszweck loyal fördert und Handlungen unterlässt, die seine Erreichung behindern könnten. Dieser das Wettbewerbsverbot legitimierende Zweck, zu verhindern, dass die Gesellschaft von innen her ausgehöhlt und ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlage beraubt

136 

BGH NJW 1993, 1587. BGH NJW 1993, 1587; in diese Richtung auch BGH DNotZ 2014, 788, Rn. 11–13. 138  BGH NJW 2010, 1206, Rn. 13. 139  Vgl. BGHZ 104, 246 = NJW 1988, 2737; BGHZ 89, 162 = NJW 1984, 1351; zuletzt BGH NZG 2010, 76 = ZIP 2009, 2263. 137 

156

Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

wird,140 entfällt mit der Austrittsentscheidung und dem Beschluss der Gesellschafterversammlung über die Verwertung des Gesellschaftsanteils. Über § 1 GWB hinaus sind gesellschaftsvertragliche Wettbewerbsverbote am Maßstab von Art. 12 GG, § 138 Abs. 1 BGB zu messen, weil sie regelmäßig die grundgesetzlich geschützte Berufsausübungsfreiheit des betroffenen Gesellschafters berühren. Mit Rücksicht auf die bei der Auslegung der zivilrechtlichen Generalklauseln zu beachtenden verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen – hier für die freie Berufsausübung – sind nach der Rechtsprechung gesellschaftsvertragliche Wettbewerbsverbote nur zulässig, wenn sie nach Ort, Zeit und Gegenstand nicht über die schützenswerten Interessen des Begünstigten hinausgehen und den Verpflichteten nicht übermäßig beschränken.141 Sittenwidrig wegen eines unzulässigen Eingriffs in die Berufsausübungsfreiheit im Sinne des Art. 12 GG ist ein Wettbewerbsverbot in einem Gesellschaftsvertrag einer GmbH erst dann, wenn es über den Zeitpunkt des wirksamen Austritts aus der Gesellschaft bzw. bis zur Erklärung der Gesellschaft, sich gegen den ohne Vorhandensein eines wichtigen Grunds erklärten Austritt des Gesellschafters nicht wenden zu wollen, Gültigkeit beansprucht.142 Kundenschutzklauseln, die zwischen einer GmbH und einem ihrer Gesellschafter anlässlich des Ausscheidens aus der Gesellschaft vereinbart werden, sind grundsätzlich sittenwidrig, wenn sie in zeitlicher Hinsicht das notwendige Maß übersteigen. Die Grenze liegt üblicherweise bei zwei Jahren.143 Nicht sittenwidrig ist dagegen ein Wettbewerbsverbot, das im Lichte von Art. 12 GG einschränkend ausgelegt werden kann. Dazu genügt, dass das Wettbewerbsverbot nur bis zum wirksamen Austritt aus der Gesellschaft bzw. bis zur Erklärung der Gesellschaft, sich gegen den ohne Vorhandensein eines wichtigen Grunds erklärten Austritt des Gesellschafters nicht wenden zu wollen, Gültigkeit beansprucht.144

(cc) Die Bedeutung des subjektiven Elements: Spielverträge und Übersicherung Das subjektive Element gewinnt dabei an Gewicht, was insbesondere der Ausbeutungsaspekt bei Spielverträgen und die Übersicherung zeigen.

140 

Vgl. BGHZ 104, 246 = NJW 1988, 2737; zuletzt BGH NJW-RR 2010, 615. BGH NJW 2010, 1206, Rn. 13 und BGHZ 91, 1 = NJW 1984, 2366; jeweils zum nachvertraglichen Wettbewerbsverbot. 142  BGH NJW 2010, 1206, Rn. 10 und 12. 143  BGH NJW 2015, 1012, Rn. 11. 144  BGH NJW 2010, 1206, Rn. 10 und 13. 141 

A. Freiheit und Form

157

(1) Spielverträge Spielverträge sind unter Beachtung des § 762 BGB grundsätzlich in den Grenzen des Öffentlichen Rechts und des Strafrechts (§ 284 Abs. 1 StGB) als Rechtsgrund für Erfüllungsleistungen wirksam. Jeder Spieler kann auf Grund der Privatautonomie selbst entscheiden, wo die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit liegen und welche Beträge er beim Glücksspiel einsetzen will.145 Auch Internetspielverträge sind wie alle anderen Arten der Spielverträge daher grundsätzlich nicht sittenwidrig. Dies gilt auch dann, wenn sie ohne vorheriges Setzen eines Limits abgeschlossen werden.146 Der Versuchung zur Erhöhung der Einsätze muss der nicht spielsüchtige Spieler bis zur Grenze des von ihm wirtschaftlich Vertretbaren widerstehen.147 Sittenwidrig können Spielverträge erst dann sein, wenn sie als bloße Ausbeutung erscheinen, etwa wenn sie durch Ausnutzung der Leichtgläubigkeit, der Unerfahrenheit oder Zwangslage eines Beteiligten zustande kommen.148 Das ist beispielsweise der Fall bei sogenannten „Schneeballsystemen“, „Schenkkreisen“ und Darlehensverträgen durch Spielbanken. „Schneeballsysteme“ sind sittenwidrig, da solche Gewinnspiele darauf angelegt sind, dass nur die ersten, an der Spitze stehenden Teilnehmer einen Gewinn machen und dagegen die große Masse der Teilnehmer ihren Einsatz verlieren muss.149 „Schenkkreise“ sind sittenwidrig, da es sich dabei um ein Schneeballsystem nach Art einer Pyramide handelt, das darauf angelegt ist, dass die an der Spitze stehenden Mitglieder des „Empfängerkreises“ einen (meist) sicheren Gewinn erzielen, während die große Masse der späteren Teilnehmer in nachgeordneten „Geberkreisen“ ihren Einsatz verlieren muss, weil angesichts des Vervielfältigungsfaktors in absehbarer Zeit keine neuen Mitglieder mehr geworben werden können.150 Dabei fällt der Verstoß gegen die guten Sitten sowohl dem Geber als dem Leistenden als auch dem Empfänger zur Last.151 Insoweit entfällt auch die Kondiktionssperre des § 817 Satz 2 BGB bei allen Zuwendungen im Rahmen solcher „Schenkkreise“, um eine generelle Rückforderbarkeit der geleisteten Zuwendungen im Wege des Bereicherungsrechts zu ermöglichen.152 Die generelle Rückforderbarkeit durch Entfall der Kondiktionssperre hat insoweit eine generalpräventive Funktion, die dem sozialschädlichen Treiben der Schenk145 

BGH NJW 2008, 2026, Rn. 21. BGH NJW 2008, 2026, Rn. 23. 147  BGH NJW 2008, 2026, Rn. 20 und 22. 148  BGH NJW 2008, 2026, Rn. 21. 149  BGH NJW 1997, 2314. 150  BGH NJW 2006, 45, 46. 151  StRspr siehe insb. BGH NJW 2006, 45, Rn. 12. 152  BGH NJW 2008, 1942, Rn. 9 und BGH NJW 2006, 45, Rn. 12. 146 

158

Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

kreise entgegenwirken soll.153 Es soll verhindert werden, dass die Initiatoren der Schenkkreise die sittenwidrig erlangten Gelder behalten dürfen, da dies eine Einladung zur Fortsetzung wäre.154 Der bereicherungsrechtliche Rückforderungsanspruch unterliegt der regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren nach § 195 BGB. Die Verjährungsfrist beginnt bereits mit dem Zeitpunkt der rechtsgrundlosen Zuwendung zu laufen, da hier die subjektive Kenntnis von beiden Beteiligten von der Funktionsweise des „Schenkkreissystems“ vorausgesetzt werden kann.155 Sittenwidrig sind wegen ihres Ausbeutungscharakters auch Darlehensverträge von Spielbanken, die allein zu Spielzwecken gewährt werden, um den Spieler auch durch für ihn größere Darlehen zum Weiterspielen zu veranlassen. Die öffentlich-rechtliche Gestattung eines Spielbankbetriebs ändert daran nichts.156 Der Bundesgerichtshof folgt damit seit dem Urteil vom 9.2.1961 der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts.157

(2) Übersicherung Auch der Schuldner darf in seiner wirtschaftlichen Handlungsfreiheit nicht unbillig behindert werden. Sicherungsabreden müssen daher hinreichend auf berechtigte Interessen des Schuldners und seiner anderen Gläubiger Rücksicht nehmen. Sie dürfen auch nicht eine Kredittäuschung oder sonstige Gläubigergefährdung befördern und müssen zudem auf übliche vertragliche Verpflichtungen, wie sie sich etwa aus Verlängerungen des Eigentumsvorbehalts ergeben, die gebotene Rücksicht nehmen.158 Auf Bürgschaften können die Grundsätze zur Sittenwidrigkeit im Falle einer Übersicherung nicht übertragen werden. Denn der Bürgschaftsvertrag verpflichtet den Bürgen ohnehin einseitig, für eine fremde Schuld ohne weitere Sicherheiten einzustehen.159 Eine Sicherungsabrede kann erst dann sittenwidrig sein, wenn objektiv ein auffälliges Missverhältnis zwischen dem Sicherungswert und dem Sicherungsinteresse sowie subjektiv eine verwerfliche Gesinnung des Sicherungsnehmers vorliegen.160 Wegen der Unsicherheiten bei der Bestimmung des Marktwerts einer Sicherheit sowie der Kommerzialisierung des Sicherungsinteresses hat die Rechtsprechung für die Ermittlung des auffälligen Missverhältnisses hier weite Grenzen gezogen. Das normative Kriterium des auffälligen Missverhältnisses ist aufs 153 

BGH NJW-RR 2009, 345, 346. BGH NJW 2008, 1942, Rn. 9. 155  BGH NJW 2009, 984, Rn. 13 und Rn. 15. 156  BGH NJW 1992, 316. 157  Vgl. insb. RGZ 67, 355; 70, 1; RG JW 14, 296 und Warn. 1921 Nr. 11 und 12. 158  BGH NJW-RR 1991, 625. 159  BGH BeckRS 2007, 19235. 160  BGH WM 2010, 834, Rn. 11. 154 

A. Freiheit und Form

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Engste verbunden mit dem Wert des Sicherungsmittels im Sicherungsfall. Für eine Sittenwidrigkeit reicht es aber beispielsweise nicht aus, dass der Sicherungsnehmer den Sicherungsgeber über einen längeren Zeitraum hinweg als „Sanierungsfall“ angesehen hat, ohne die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung des Sicherungsgebers während dieser Zeit, insbesondere Anzeichen für eine Besserung der Lage, zu berücksichtigen.161 Für die Ermittlung des auffälligen Missverhältnisses bei Grundpfandrechten ist daher entscheidend, welcher Erlös bei Vertragsschluss aus einer Verwertung der Grundpfandrechte unter Berücksichtigung der Werte der belasteten Grundstücke und des Rangs der Rechte im späteren noch ungewissen Verwertungsfall zu erwarten ist und wie sicher dies bei Vertragsschluss zu bewerten ist.162 Die für Grundstückskaufverträge entwickelten Grundsätze können deshalb nicht übertragen werden. Die verwerfliche Gesinnung kann daher, anders als bei Grundstückskaufverträgen, bei der Frage nach einer Übersicherung nicht vermutet werden, sondern muss anhand der Umstände des Einzelfalls dargelegt werden.163 Auf eine verwerfliche Gesinnung kann erst dann geschlossen werden, wenn der Sicherungsnehmer sich aus eigensüchtigen Gründen in einer unerträglichen Weise gegenüber den berechtigten Belangen des Sicherungsgebers rücksichtslos verhält.164 Eine Sicherungsabrede ist daher bei einer bereits ursprünglichen Übersicherung sittenwidrig. Hier ist bereits bei Vertragsschluss sicher, dass im noch ungewissen Verwertungsfall zwischen dem realisierbaren Wert der Sicherheit und der gesicherten Forderung ein auffälliges Missverhältnis bestehen wird.165 Eine Pfandrechtsbestellung ist dagegen erst sittenwidrig, wenn bei Abstellen auf die realisierbaren Werte zum Zeitpunkt der Bestellung 200 Prozent Deckungsgrenze überschritten werden.166 Eine Freigabeklausel ist sittenwidrig, wenn die Pflicht zur Freigabe endgültig nicht mehr benötigter Sicherheiten ausgeschlossen wird.167 Eine Abrede zur Verwertung einer Sicherheit im Falle der Sicherungsabtretung kann unwirksam wegen unangemessener Benachteiligung sein, wenn im Falle einer Lohnpfändung dem berechtigten Interesse des Arbeitnehmers und

161  BGHZ 210, 30 = NJW 2016, 2662; Anm. zust. Timme, MDR 2011, 397, 398; diff. Windel, ZGS 2011, 218, 220; krit. Bartels, ZJS 2011, 106, 109; Entscheidungsbesprechungen: ­P feiffer, LMK 2011, 314413; Looschelders, JA 2011, 385; Schwenker, IBR 2012, 1069; Faust, JuS 2011, 359. 162  BGH WM 2010, 834, Rn. 12. 163  BGH WM 2010, 834, Rn. 12. 164  BGH NJW 1998, 2047. 165  BGH NJW-RR 2003, 1490, 1492. 166  LG Düsseldorf BeckRS 2009, 07361. 167  BGHZ 137, 212, 220 f. = BGH NJW 1998, 671, 673.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

Sicherungsgebers nicht Rechnung getragen wird.168 Die Sittenwidrigkeit einer Verwertungsklausel kommt erst in Betracht, wenn die Verwertungsregelung keinerlei Anforderungen an einen Verzug, an Wartefristen, Dauer des Verzugs und eines Mindestumfangs des rückständigen Teils stellt, um allein die Interessen des Sicherungsnehmers zu schützen. Nicht sittenwidrig ist daher grundsätzlich ein formularmäßiger Sicherungsvertrag über revolvierende Globalsicherheiten. Eine ausdrückliche Freigaberegelung, eine zahlenmäßig bestimmte Deckungsgrenze oder eine Klausel zur Bewertung der Sicherungsmittel sind nicht für die Wirksamkeit einer Sicherungsabrede erforderlich.169 Die Pflicht des Sicherungsnehmers, die Sicherheiten schon vor Beendigung des Vertrags zurückzugewähren, wird mit der Treuhandnatur der Sicherungsabrede gemäß § 157 BGB begründet,170 das heißt auf die Vertragsfreiheit zurückgeführt.

(dd) Schutz der Entscheidungsfreiheit und individuelle Handlungshoheit Der Schutz der Entscheidungsfreiheit setzt die Idee der Handlungsfähigkeit selbstbestimmter Rechtspersonen im Einzelfall um. Sie bildet die Grundlage der Vertragsfreiheit und wird innerhalb der Auslegung des § 138 Abs. 1 BGB bereits durch die spezielleren Kriterien des auffälligen Missverhältnisses von Leistung und Gegenleistung sowie der Überforderung geschützt. Außerhalb des § 138 Abs. 1 BGB erfolgt der Schutz der Entscheidungsfreiheit durch den Schutz vor Ausbeutung und Zwang, insbesondere auch durch § 123 BGB und § 823 BGB. Der Schutz der Entscheidungs- und Handlungsfreiheit erfolgt zentral über die anerkannten normativen Kriterien des auffälligen Missverhältnisses und der Überforderung – die auch die Vermutung einer verwerflichen Gesinnung rechtfertigen können – hinaus auch im Rahmen einer Gesamtwürdigung im Hinblick auf den Schutz der Entscheidungsfreiheit. Dieser Schutz ist aber begrenzt auf die Kontrolle, ob die individuelle Handlungshoheit bezüglich des Rechtsgeschäfts noch erkennbar ist. Dabei ist die Ausübung der individuellen Handlungshoheit stärker in kollektive normative Strukturen eingebunden als bei Beurteilung des auffälligen Missverhältnisses oder der Überforderung. Umso stärker ist die Begründungslast für entsprechende Sittenverstöße. Sie wird zentral auf kollektive Normenbegründungen gestützt, die ihrerseits diskurstheoretisch gesprochen den Test der öffentlichen Autonomie durchlaufen haben, wie etwa einfachgesetzliche und verfassungsrechtliche Vorgaben. 168 

BGH NJW-RR 2005, 1408. 137, 212 = NJW 1998, 671; BGH NJW 1998, 2047. Zust. wegen der dadurch erreichten Rechtssicherheit revolvierender Globalsicherheiten Kindl, JURA 2001, 92. 170  BGHZ 137, 212 = NJW 1998, 671. 169  BGHZ

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Allerdings bildet die Entscheidungsfreiheit und damit die Handlungshoheit der Vertragsparteien auch hier die normative Leitidee der Gesamtwürdigung, die sich an den rechtsgebietsspezifischen Grundwertungen orientiert, die den Bereich des zu beurteilenden Rechtsgeschäfts regeln. Es wird aber hier wie im Falle der Gesellschaftsverträge, Spielverträge und der Sicherungsabreden schon ein Widerstreit zwischen den Normierungen individueller und kollektiver Handlungshoheit sichtbar, der noch stärker als bisher über das subjektive Element und die Widerlegung der Vermutung der Sittenwidrigkeit aufgelöst werden sollte.

7. Das auffällige Missverhältnis als Instrument des Erhalts der individuellen Handlungshoheit Das auffällige Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung geht historisch auf die Grundidee der Tauschgerechtigkeit zurück. Verträge dienen demzufolge dem wechselseitigen Leistungsaustausch. Verträgen muss dann die Anerkennung durch die Rechtsordnung versagt werden, wenn sie dem Grundgedanken des „do ut des“ mangels identifizierbaren Leistungsaustauschs nicht mehr Rechnung tragen. Es ist ein Erfahrungssatz, dass niemand für sich selbst nur nachteilige Verträge abschließen würde.171 Das Kriterium des „auffälligen Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung“ darf jedoch nicht mit einer allgemeinverbindlichen Idee der Tauschgerechtigkeit oder einer inhaltlichen Konzeption von Vertragsgerechtigkeit gleichgesetzt werden. Insoweit sperrt sich aus Gründen der Vertragsfreiheit § 138 einer Deutung, die diese Generalklausel als Einfallstor für eine inhaltliche Konzeption von Vertragsparität nutzen möchte. Zwar geht auch das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass Verträge auch dem Regime eines Ausgleichs unterworfen sind.172 Jedoch ist die individuelle Vertragsfreiheit ebenso verfassungsrechtlich als subjektives Recht geschützt. Auch deshalb gilt es hier nicht, allgemeine soziale Bezüge zu berücksichtigen, sondern vielmehr wie bei der Vertragsauslegung im Ausgang von der Ausübung der individuellen Entscheidungsfreiheit die Umstände des Vertrags einzubeziehen und mit den Mitteln der Rechtsordnung zu bewerten, die dem Vertrag für die Parteien seinen Sinn geben. Bei allen drei anerkannten normativen Kriterien können gerade die rechtsgeschäftsspezifischen Anpassungen des objektiven Kriteriums im Zusammenspiel mit der Möglichkeit der Widerlegung der Vermutung des subjektiven Elements verdeutlichen, dass die Sittenwidrigkeit vielmehr dem Erhalt der individuellen Handlungshoheit dient. Die „Materialisierung“ als Verdichtung gesetzlicher 171 

172 

BGH NJW 2002, 429, 432 und BGHZ 205, 117, 141–148 = NJW 2015, 2248, Rn. 63–85. BVerfG NJW 2006, 596.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

oder verfassungsrechtlicher Wertungen wird nur insofern wirksam, soweit sie diesem Zweck dient.

IV. Die guten Sitten als Rechtsbegriff II: Schädigung der Allgemeinheit oder Dritter Die sogenannten Sittenverstöße auf Grund der Schädigung der Allgemeinheit oder Dritter sind dogmatisch, anders als Sittenverstöße gegenüber Vertragspartnern, nicht eindeutig an anerkannte und objektive normative Kriterien wie das auffällige Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung, die Überforderung oder den Schutz der Entscheidungsfreiheit geknüpft. Sie werden vielmehr nach unterschiedlichen Lebensbereichen geordnet. Es gilt daher hier, in den jeweiligen Lebensbereichen die jeweils korrespondierenden normativen Begründungsstrukturen für Sittenverstöße zu identifizieren.

1. Ehe, Familie, Sexualsphäre a. Die Anbahnung der Ehe und Brautgeldabreden Schon die Anbahnung der Ehe wird teils vertraglich geregelt. So unterfallen Brautgeldabreden grundsätzlich dem Verlöbnisstatut. Sie sind nach deutschem Recht zu beurteilen.173 Eine Brautgeldabrede ist gemäß § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig, da sie mit den verfassungsrechtlich vorgegebenen Prinzipien der Freiheit der Eheschließung (Art. 6 GG) und der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) nicht zu vereinbaren ist.174 Zum einen ergibt sich aus § 1297 BGB und Art. 6 GG, dass die Eheschließungsfreiheit ein Eckpfeiler des Eherechts ist. Da durch die Verpflichtung zur Entrichtung eines Brautgeldes die Heirat zentral von der Zahlung eines beträchtlichen Geldbetrags abhängig gemacht wird, kann die zu vermählende Tochter nicht mehr denjenigen heiraten, mit dem sie selbst aus persönlichen Gründen und eigener Wahl die Ehe eingehen möchte, sondern nur denjenigen, der oder dessen Familie auch den dazugehörigen Brautpreis aufbringen kann. Insoweit wird das Erfordernis eines Brautgeldes nur dann als unbedenklich angesehen, wenn es sich um einen rein symbolischen Betrag handelt, der auch von dem Bräutigam selbst aufgebracht werden kann.175 173 MüKo-BGB/Armbrüster,

Rn. 16. Hamm, NJW-RR 2011, 1197, 1198; in diese Richtung auch OLG Celle NJW 2008, 1005; zust. Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 66 und Rn. 652; Sturm, StAZ 1995, 343, 350 bejaht die Sittenwidrigkeit eines in afrikanischen Ländern üblichen Brautkaufs grundsätzlich; ebenso die Sittenwidrigkeit bejahend für das in der Türkei verbreitete Brautgeld (sog. Ba şlik) Krüger, StAZ 1990, 324. 175  OLG Hamm NJW-RR 2011, 1197, 1199. 174  OLG

A. Freiheit und Form

163

Zum anderen wird davon ausgegangen, dass durch die über einen symbolischen Betrag hinausgehenden Brautgeldverhandlungen zwischen den Familien der Brauteltern das jedem Menschen zustehende Recht zur Selbstbestimmung aberkannt wird. Die Tochter werde „gleich einem Objekt, gleich einer Ware zum Gegenstand von Vertragsverhandlungen“176. Ihr „Marktwert“ werde bemessen und ausgehandelt, womit sie auf eine vertretbare Größe reduziert und insoweit wie ein bloßes Objekt behandelt werde.177 Ein auf Grund der sittenwidrigen Brautgeldabrede geleistetes Brautgeld kann daher gemäß § 817 Satz 2 BGB auch nicht aus ungerechtfertigter Bereicherung zurückgefordert werden, da der Leistende durch den Abschluss der Brautgeldabrede und die anschließende Zahlung selbst gegen guten Sitten verstößt.178 Die Sittenwidrigkeit einer Brautgeldabrede wird insoweit nicht auf kulturelle, moralische oder soziologische Gründe gestützt, sondern auf ihre einschränkende Wirkung bei der Partnerwahl, die wiederum durch Art. 6 GG besonders geschützt wird.

b. Grenzen ehevertraglicher Vereinbarungen Ehevertragliche Vereinbarungen folgen nach § 1408 BGB dem Grundsatz der Vertragsfreiheit. Sittenwidrig sind sie erst, wenn sie gegen die rechtlichen Grundbestimmungen der Ehe verstoßen, so wie sie dem BGB unter Beachtung verfassungsrechtlicher Vorgaben zu entnehmen sind. Sittenwidrig sind daher etwa Vereinbarungen über den Ausschluss der Scheidung179 oder über ein dauerndes Recht zum Getrenntleben.180 Nicht sittenwidrig sind dagegen Vereinbarungen über die Zahlung einer Abfindungssumme,181 darüber, dass der Ehegatte, dessen Name nicht Ehename geworden ist, den gemeinsamen Ehenamen im Fall der Scheidung aufzugeben hat182 sowie über den Verzicht auf ein bereits entstandenes Scheidungsrecht.183 Ein besonders intensiver Eingriff in die Freiheit, die wirtschaftliche Seite der Ehe vertraglich zu gestalten, bildet dabei die Identifikation eines sogenannten unverzichtbaren Mindestgehalts an Scheidungsfolgen. Ein solcher unverzichtbarer Mindestgehalt an Scheidungsfolgen zu Gunsten des berechtigten Ehegat-

176 

OLG Hamm NJW-RR 2011, 1197, 1199. OLG Hamm NJW-RR 2011, 1197, 1199. 178  OLG Hamm NJW-RR 2011, 1197. 179  BGHZ 97, 304 = NJW 1986, 2046. 180  OLG Düsseldorf FamRZ 1981, 545 = BeckRS 2010, 16103. 181  BGH NJW 1990, 703. 182  BGHZ 175, 173 = NJW 2008, 1528; auch OLG Frankfurt am Main, BeckRS 2012, 18336. 183  BGHZ 97, 304, 308 f. = NJW 1986, 2046, 2047. 177 

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ten ist gesetzlich nicht vorgegeben.184 Nur das gesetzliche Verbot des Verzichts auf Trennungsunterhalt ist jedoch zwingend.185 Dennoch sind Scheidungsfolgenvereinbarungen im Rahmen von Eheverträgen sittenwidrig, wenn sie objektiv mit dem Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts unvereinbar sind186 und subjektiv der unausgewogene Vertragsinhalt auf der einseitigen Dominanz eines Ehegatten basiert und daher der Schluss auf die von der Rechtsprechung geforderte verwerfliche Gesinnung gerechtfertigt ist.187 (aa) Was zum objektiven Kern des Scheidungsfolgenrechts gehört, wird unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben und der Regelungen des BGB zum Scheidungsfolgenrecht, insbesondere der §§ 1570 ff., ermittelt. Das Bundesverfassungsgericht leitet insbesondere aus Art. 6 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 GG einen verfassungsrechtlich geschützten Anspruch auf Teilhabe beider Ehegatten am gemeinschaftlich erwirtschafteten Vermögen ab.188 Daraus ergibt sich auch, dass die Gleichwertigkeit von Familienarbeit und Erwerbstätigkeit zu beachten ist.189 Die verfassungsrechtlichen Vorgaben sind in dem in ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelten Stufenmodell inkorporiert.190 Es geht davon aus, dass bei einer Inhaltskontrolle von Eheverträgen umso strengere Maßnahmen anzusetzen sind, je unmittelbarer die vertragliche Abbedingung gesetzlicher Rechte in den Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts eingreift. Demnach betreffen die Regelungen des Betreuungsunterhalts (§ 1570 BGB), des Krankheitsunterhalts (§ 1572 BGB), des Altersunterhalts (§ 1571 BGB) und des Versorgungsausgleichs als vorweggenommenem Altersunterhalt den Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts und sind einer Disposition der Ehegatten nur in engen Grenzen zugänglich. Demgegenüber sind Regelungen zur Unterhaltspflicht wegen Erwerbslosigkeit (§ 1573 BGB), des Kranken- und Altersvorsorgeunterhalts (§ 1578 Abs. 2 BGB) nachrangig, da sie Risiken betreffen, die grundsätzlich den einzelnen Ehegatten treffen und die gesetzlich nur schwach ausgestaltet sind. Verzichtbar sind schließlich Aufstockungs- und Ausbildungsunterhalt (§ 1579 Abs. 3 BGB, § 1575 BGB), da sie im BGB nur schwach ausgestaltet und zudem zeitlich begrenzbar sind.191 184  BGH BeckRS 2017, 106979, Rn. 29 und 39; BGH NJW 2013, 380, Rn. 24; BGH NJW 2005, 1370. 185  BGH NJW 2014, 1101, Rn. 30 f. 186  BGHZ 158, 81 = NJW 2004, 930; dies bestätigend: BGH NJW 2013, 457, Rn. 15 f. 187  BGH NJW 2013, 380, Rn. 15 f. 188  BVerfG NJW 2002, 1185 und NJW 2003, 2819. 189  BGH NJW 2013, 457, 458. 190  BGHZ 158, 81 = NJW 2004, 930; dies auch nach den Reformen des Versorgungsausgleichs-, des Unterhalts- und des Zugewinnausgleichsrechts bestätigend: BGH NJW 2013, 457, 458. 191  BGHZ 158, 81 = NJW 2004, 930; dies auch nach den Reformen des Versorgungsaus-

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Der Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts wird durch die aus Art. 6 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 2 GG abgeleiteten verfassungsrechtlichen Vorgaben konturiert, die auf den Schutz der Ehe als einer gleichberechtigten Partnerschaft zwischen Mann und Frau zielen.192 Daraus leitet das Bundesverfassungsgericht ab, dass der Freiheit der Ehegatten dort Grenzen zu setzen sind, wo der Vertrag nicht Ausdruck und Ergebnis gleichberechtigter Lebenspartnerschaft ist, sondern „eine auf ungleichen Verhandlungspositionen basierende Dominanz eines Ehepartners widerspiegelt“.193 In einem solchen Fall von „gestörter Vertragsparität“ ist es daher verfassungsrechtlich geboten, zur Wahrung der beeinträchtigten Grundrechtsposition eines Ehevertragspartners den Inhalt des Vertrags mittels zivilrechtlicher Generalklauseln wie des § 138 BGB zu kontrollieren und gegebenenfalls zu korrigieren. Das verfassungsrechtliche Schutzkonzept der gleichberechtigten Partnerschaft wird ergänzt durch den aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 4 GG begründeten Anspruch der werdenden Mutter auf Schutz und Fürsorge.194 Zudem kann auf der Grundlage des Art. 6 Abs. 2 GG zum Schutz des Kindeswohls eingegriffen werden, wenn ein Elternteil sich durch Einschränkung der finanziellen Mittel der Aufgabe entledigt, die Interessen des Kindes zu wahren.195 Sittenwidrig ist daher zum Schutz des Kindeswohls auch ein im Ehevertrag kompensationslos vereinbarter Ausschluss des Versorgungsausgleichs, wenn die Ehegatten bei Vertragsschluss in Kauf nehmen, dass die Ehefrau zur Kinderbetreuung aus dem Berufsleben ausscheiden wird und keine eigenen Versorgungsanrechte erwirbt.196 Ein solcher Ausschluss des Versorgungsausgleichs führt zur Gesamtnichtigkeit des Ehevertrags, wenn die Ehefrau bei Abschluss im neunten Monat schwanger ist und ihr der Vertragsentwurf erstmals in der notariellen Verhandlung bekannt wird.197 Bei langer Ehedauer ist der Ausschluss eines Versorgungsausgleichs sittenwidrig, wenn er faktisch zu Lasten der Grundsicherung geht. Das ist vor allem bei der Alleinverdienerehe der Fall, da der verzichtende Ehepartner keine Absicherung seiner Altersvorsorge erworben hat.198

gleichs-, des Unterhalts- und des Zugewinnausgleichsrechts bestätigend: BGH NJW 2013, 457, 458. 192  BVerfGE 103, 89, 100 f. = NJW 2001, 957, 958. 193  BVerfGE 103, 89, 100 f. = NJW 2001, 957, 958. 194  BVerfG NJW 2001, 2248. 195  BVerfG NJW 2001, 2248. 196  BGH NJW 2008, 3426, Rn. 18. 197  BGH NJW 2008, 3426, Rn. 18 und Rn. 23. 198  OLG Karlsruhe FamRZ 2012, 1942 = BeckRS 2013, 00112.

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(bb) Die auf einfachgesetzliche und verfassungsrechtliche Vorgaben gestützten starken normativen Vorgaben für die Gestaltung eines Ehevertrags werden durch eine Prüfung des subjektiven Elements teilweise zurückgenommen. Subjektiv sind nämlich die von den Ehegatten mit der Abrede verfolgten Zwecke zu berücksichtigen. Dabei ist darauf zu achten, ob die Nachteile eines Ehegatten durch anderweitige Vorteile abgemildert werden.199 Im Rahmen einer Gesamtwürdigung des objektiven und des subjektiven Elements ergibt sich die Sittenwidrigkeit nicht allein aus der objektiven Unausgewogenheit des Vertragsinhalts, sondern erst aus der konkreten Feststellung einer unterlegenen Position des benachteiligten Ehegatten, die es ermöglicht, auf die von der Rechtsprechung geforderte verwerfliche Gesinnung des dominierenden Ehegatten zurückzuschließen. 200 Ein Indiz für die verwerfliche Gesinnung des dominierenden Ehegatten ist beispielsweise, ob mehrere Abreden in ihrem Zusammenspiel auf eine einseitige Benachteiligung eines Ehegatten zielen. Allerdings genügt eine einseitige Lastenverteilung nicht für die Vermutung der subjektiven Seite der Sittenwidrigkeit. Dafür muss vielmehr auf die verwerfliche Gesinnung des begünstigten Ehegatten zurückgeschlossen werden. Das setzt voraus, dass der unausgewogene Vertragsinhalt auf ungleiche Verhandlungspositionen zurückgeführt werden kann, die wiederum auf der Dominanz eines Ehegatten basieren. Dazu müssen aber wiederum hinsichtlich der unterlegenen Verhandlungsposition des benachteiligten Ehegatten konkrete Feststellungen getroffen werden. 201 Beispielsweise kann die intellektuelle Überlegenheit eines Ehegatten in Verbindung mit der sozialen und wirtschaftlichen Abhängigkeit des anderen Ehegatten den Schluss auf eine ungleiche Verhandlungsposition insbesondere beim Ausschluss des Versorgungsausgleichs zulassen. 202 Auch kann ein Verzicht auf die Durchführung des Versorgungsausgleichs sittenwidrig sein, wenn dieser zu Lasten der Grundsicherung geht. Dabei sind allerdings die entgegenstehenden prognostischen Unsicherheiten gerade bei rentenfernen Jahrgängen zu berücksichtigen. 203 Dagegen wiederum muss in Fällen, in denen ein Ehegatte einem anderen Ehegatten eine Leistung verspricht, für die es keine gesetzliche Grundlage gibt, die Vermutung einer Störung der Vertragsparität ausscheiden. 204

199 

BGHZ 158, 81, 100 = NJW 2004, 930, 935; bestätigend BGH NJW 2013, 457, Rn. 17. BGH NJW 2013, 380, Rn. 35. 201  BGH NJW 2013, 380, Rn. 35, 44, 59 und 65. 202  OLG Brandenburg FamFR 2013, 191. 203  OLG Hamm NJW 2013, 3253. 204  BGHZ 178, 322 = NJW 2009, 842. 200 

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Um der Vielgestaltigkeit eines tatsächlichen Verlaufs eines Ehelebens gerecht zu werden, wird einer zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses wirksamen Ehevereinbarung die Ausübungskontrolle nach § 242 BGB zum Zeitpunkt ihrer späteren Ausübung der Rechte aus dieser Vereinbarung zur Seite gestellt. Es ist zu prüfen, ob oder inwieweit es einem Ehegatten verwehrt ist, sich auf eine ihn begünstigende Regelung zu berufen. 205 Zur Vertragsanpassung können darüber hinaus die Regelungen zur Störung der Geschäftsgrundlage herangezogen werden, wenn die spätere tatsächliche Gestaltung der Ehe von derjenigen abweicht, die die Ehegatten dem Ehevertrag zu Grunde gelegt haben.

c. Die Sexualsphäre als Gegenstand der guten Sitten Für die Frage, wann rechtsgeschäftliche Vereinbarungen, die ein Verhalten im Bereich der Sexualsphäre betreffen, einen Sittenverstoß darstellen, sind mit dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht einerseits die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und andererseits die besonderen Regelungen des ProstG von besonderer Bedeutung. Es muss daher zwischen den Fällen, die in einem engen Zusammenhang mit § 1 ProstG stehen, und den Fällen unterschieden werden, die außerhalb des ProstG liegen.

(aa) Rechtsgeschäfte im Zusammenhang mit dem ProstG (1) § 1 ProstG stellt seit seinem Inkrafttreten am 1.1.2002 klar, dass Leistungen aus klassischer Prostitution einen Entgeltanspruch begründen. Daraus wird abgeleitet, dass dem Gesetz die Wertung zu Grunde liegt, trotz ethisch-moralischer Bedenken die Wirksamkeit von Verträgen über sexuelle Dienstleistungen nicht mehr an § 138 Abs. 1 scheitern zu lassen. 206 Der Gesetzgeber begründet die Neubewertung der Prostitution mit einem Wandel der Anschauungen in der Bevölkerung. 207 (2) Dem wird entgegengehalten, dass das ProstG nichts daran ändere, dass Rechtsgeschäfte über sexuelle Dienstleistungen und insbesondere der auf die entgeltliche Gewährung des Geschlechtsverkehrs gerichtete Vertrag sittenwidrig sind. 208 Sinn und Zweck des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (ProstG) sei es allein, die rechtliche Stellung der Prostituierten zu verbessern. Kunden, Zuhälter und sonstige Dritte könnten keine An205  BGH NJW 2013, 457, Rn. 22 und Rn. 28–31 in Fortführung von BGHZ 158, 81 = NJW 2004, 930. 206 Vgl. Armbrüster, NJW 2002, 2763, 2764; MüKo-BGB/Armbrüster, ProstG § 1 Rn. 19 m.w.N. 207  Vgl. die Begr. des Entwurfs des ProstG, BT-Drs. 14/5958, 4. 208  OLG Schleswig NJW 2005, 225; Bergmann, JR 2003, 270.

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sprüche daraus ableiten, dass nach § 1 ProstG Vereinbarungen, wonach sexuelle Handlungen gegen ein vorher vereinbartes Entgelt vorgenommen werden, eine rechtswirksame Forderung der Prostituierten begründen.209 Auch der Gesetzgeber betont in seiner Begründung, dass lediglich die Prostituierten durch das ProstG geschützt werden sollen und nicht etwaige Dritte. 210 Zudem wird es als dem Staat von Verfassung wegen verboten angesehen, die Intimsphäre von Menschen kommerzialisierbar zu machen. 211 (3) Die höchstrichterliche Rechtsprechung nimmt die Wertung des § 1 ProstG auf. Sie geht davon aus, dass mit der Einführung des ProstG die Prostitution als solche nicht mehr sittenwidrig ist. 212 Die weitere Übertragung der Wertung des § 1 ProstG durch die Rechtsprechung auf die Bereiche, die außerhalb der Ausübung klassischer Prostitution liegen, befindet sich gerade im Grenzbereich zu § 138 Abs. 1 BGB im Fortschreiten. Nicht sittenwidrig sind inzwischen Verträge über Telefonsexdienstleistungen. 213 Kann für die Ausübung der „klassischen“ Prostitution nach § 1 ProstG eine wirksame Entgeltforderung begründet werden, muss dies für den sogenannten Telefonsex und die in diesem Zusammenhang zu erbringenden Vermarktungs- und technischen Dienstleistungen erst recht gelten, da es beim sogenannten Telefonsex an einem unmittelbaren körperlichen Kontakt der Beteiligten mangelt und es sich damit um im Hinblick auf die Sexualsphäre weniger sensible Vorgänge als bei der Prostitution im engeren Sinne handelt. 214 Nicht sittenwidrig sind nunmehr auch Verträge zur Werbung für Prostitution, etwa über Zeitungsanzeigen. Sie verstoßen seit Inkrafttreten des ProstG auch nicht mehr gegen das OWiG. 215 Mit dem Inkrafttreten des ProstG kann nicht mehr an einer Auslegung der § 119 Abs. 1 Nr. 1 OWiG, § 120 Abs. 1 Nr. 2 OWiG festgehalten werden, die bei Werbung für Prostitution eine abstrakte Gefährdung von Rechtsgütern der Allgemeinheit genügen lässt.216 Da ein generelles Verbot jeder Werbung für entgeltliche sexuelle Handlungen damit ausscheidet, ist diese nur dann zu verbieten, wenn durch die Werbung eine konkrete Beeinträchtigung von Rechtsgütern der Allgemeinheit, insbesondere des Jugendschutzes, eintritt. 217

209  Vgl. OLG Schleswig NJW 2005, 225, 227; AG Lichtenberg MMR 2012, 66 unter Verweis auf Palandt/Ellenberger, ProstG Anh. zu § 138, § 1 Rn. 2. 210  BT-Drs. 14/5958, 4 (A. Ziff. 3 Abs. 1 und 4) sowie 6 (B. zu Art. 1 Abs. 3 und 5). 211  OLG Schleswig NJW 2005, 225, 227. 212  BGH NJW 2008, 140, Rn. 13; BGHZ 168, 314, 319 = NJW 2006, 3490, Rn. 25. 213  BGH NJW 2008, 140, Rn. 11 und 13. 214  BGH NJW 2008, 140, Rn. 13. 215  BGHZ 168, 314, 319 = NJW 2006, 3490, Rn. 25. 216  So noch BGHZ 115, 253 = NJW 1992, 182. 217  BGHZ 168, 314, 319 f. = NJW 2006, 3490, Rn. 25 und 28; v. Galen, Rechtsfragen der Prostitution, Rn. 391 f.

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169

Nicht sittenwidrig waren bereits vor Einführung des ProstG Pacht-, Kaufund Gesellschaftsverträge über Bordelle, 218 sofern es sich nicht um Verträge handelt, die der Förderung von Straftaten, etwa nach § 180a StGB, dienen. 219 Im Übrigen kann sich eine Sittenwidrigkeit von Pacht-, Kauf- und Gesellschaftsverträgen über Bordelle aus anderen Gründen ergeben, wie etwa, dass die Prostituierten in den Bordellen wirtschaftlich ausgebeutet oder in ihrer Selbstständigkeit beeinträchtigt werden oder wenn der Zins eines Pachtvertrags in einem auffälligen Missverhältnis zum objektiven Pachtwert steht. 220 Vor Inkrafttreten des ProstG wurden nicht nur Verträge über entgeltliche sexuelle Dienstleistungen als sittenwidrig angesehen, 221 sondern auch Verträge über Peep-Shows. 222 Die Sittenwidrigkeit üblicher Peep-Shows wurde daraus abgeleitet, dass den zur Schau gestellten Frauen eine ihre Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) missachtende objekthafte Rolle zugewiesen werde, wenn sie durch den Veranstalter den in Einzelkabinen befindlichen Zuschauern wie eine der sexuellen Stimulierung dienende Sache zur entgeltlichen Betrachtung dargeboten werden. 223 Ob das Urteil des Sittenverstoßes nach dem Inkrafttreten des ProstG aufrechterhalten werden kann, ist höchstrichterlich noch ungeklärt, erscheint aber zweifelhaft angesichts der fortschreitenden Übertragung der dem § 1 ProstG vom Bundesgerichtshof an anderer Stelle zugeschriebenen Wertung, dass Prostitution nicht mehr sittenwidrig sei.

(bb) Rechtsgeschäfte außerhalb des ProstG Außerhalb des ProstG ist das auf Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG zurückgeführte Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und freie Entfaltung der Persönlichkeit die zentrale verfassungsrechtliche Vorgabe. Nicht sittenwidrig sind wegen der überragenden Bedeutung der Vertrags- und Testierfreiheit unentgeltliche Zuwendungen unter nichtehelichen Geschlechtspartnern jedenfalls dann, wenn es an der Ausschließlichkeit sexueller Motive fehlt. 224 Nicht sittenwidrig sind Verträge über die Verabreichung von Verhütungsmitteln zwischen Arzt und Patientin. 225 Als sittenwidrig wird dagegen eine unter Partnern getroffene Vereinbarung über den regelmäßigen Gebrauch empfängnisverhütender Mittel angesehen. 226 Dies wird darauf gestützt, dass es zur personalen Würde und zum Persönlichkeitsrecht von Partnern, die miteinander 218 

BGH NJW-RR 1988, 1379. BGH NJW-RR 1990, 750. 220  BGHZ 63, 365 = NJW 1975, 638. 221  BGHZ 67, 119 = NJW 1976, 1883; BayVerfGH NJW 1983, 2188, 2190. 222  BVerwG 1982, 664; BGH NVwZ 1990, 668. 223  BVerwGE 64, 274 = NJW 1982, 664. 224  BGH NJW 1984, 2150. 225  BGH NJW 2007, 989, Rn. 8, 23, 26 und 28. 226  BGHZ 97, 372 = NJW 1986, 2043. 219 

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Geschlechtsverkehr haben, gehört, sich auch einzeln immer wieder neu und frei für ein Kind zu entscheiden. 227

d. Zur Doppelfunktion verfassungsrechtlicher Vorgaben Die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 4 GG und einfachgesetzliche Vorgaben des vierten Buchs des BGB werden bei der Beurteilung der Brautgeldabrede wie auch der Scheidungsfolgenvereinbarungen zur Begründung der Sittenwidrigkeit herangezogen. Die rechtsgebietsspezifischen Wertungen für den Bereich der höchstpersönlichen Lebensführungen werden dadurch gestärkt. Die Normen, die die kollektive Handlungshoheit sicherstellen sollen, schränken hier die individuelle Handlungshoheit ein. Das dient nicht zuletzt der Entlastung des Sozialstaats. Gegenläufig wirken dagegen die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 2 I GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG im Bereich der persönlichen Lebensführung. Am Beispiel der Prostitution wird deutlich, dass die entsprechenden verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 2 I GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG hilfreich sind, öffentliche Wertüberzeugungen oder einen restriktiven rechtlichen Normenbestand zu Gunsten der individuellen Handlungshoheit einzuschränken.

2. Die abnehmende Bedeutung der Kommerzialisierung Überwiegend wird davon ausgegangen, dass auch die Kommerzialisierung einen Sittenverstoß begründen kann. 228 Demnach gebe es Güter und Interessen, die nicht kommerzialisierbar seien.229 Insbesondere im Bereich der Anwendungen moderner naturwissenschaftlich-medizinischer Methoden wird teils unter Verweis auf die Menschenwürde eine generelle Sittenwidrigkeit angenommen. 230 Für sittenwidrig wurden und werden deswegen teils noch gehalten: sogenannte „Zölibatsklauseln“, die die Verpflichtung enthalten, über einen bestimmten Zeitraum nicht zu heiraten oder dass im Falle der Eheschließung des Arbeitnehmers das Arbeitsverhältnis endet;231 Ethik-Richtlinien, die im Rahmen von Arbeitsverträgen den Mitarbeitern verbieten, eine intime Beziehung zu anderen Mitarbeitern zu unterhalten;232 Patientenvermittlungsverträge zwischen einem 227 

BGHZ 97, 372, 379 = NJW 1986, 2043, 2045. § 138 Rn. 56; Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 727; MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 56. 229  BGH NJW 1999, 2360; Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 728 im Anschluss an Flume, BGB AT II, § 18 2b 368 ff. 230 Erman/Schmidt-Räntsch, § 138 Rn. 12a. 231  BAG NJW 1957, 1688; BVerwG NJW 1962, 1532. 232  LAG Düsseldorf NZA-RR 2006, 81. 228 Palandt/Ellenberger,

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Facharzt und einem nichtärztlichen Institut oder einer Universitätsklinik und einem niedergelassenen Arzt, die gegen Provisionszahlungen die Vermittlung von Patienten vorsehen;233 Vereinbarungen über bestimmte Nutzungsmöglichkeiten der modernen Medizin, etwa über Empfängnisverhütung, künstliche Befruchtung, Leihmutterschaft, Organhandel und Sterbehilfe; die Provisionszusage an einen Träger eines freien Berufes, wenn der die Provision Versprechende weiß oder damit rechnet und billigend in Kauf nimmt, dass der Träger des freien Berufes – wie etwa ein Steuerberater – diese Vereinbarung seinem Mandanten verschweigen will;234 der Vertrag über den Kauf eines akademischen Titels;235 eine Vereinbarung, bei der die gegen Entgelt übernommene Verpflichtung zur Nichterstattung einer Strafanzeige nicht mehr von dem billigenswerten Streben nach Wiedergutmachung getragen wird, sondern von der gewinnsüchtigen Ausnutzung der Situation oder sachfremden Motiven beherrscht wird.236 Ein genauer, dogmatisch informierter Blick auf die einzelnen Entscheidungen legt jedoch nahe, dass der Verweis auf eine anstößige Kommerzialisierung dieser Güter in einer liberalen Wirtschaftsordnung in dieser Pauschalität kaum mehr überzeugen kann. Die Sittenwidrigkeit der Vereinbarung einer Zölibatsklausel in Tarifverträgen und Arbeitsverträgen wird mit einem Verstoß gegen die grundlegenden Normen der Eheschließungsfreiheit in Art. 6 Abs. 1 GG und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG begründet. 237 Auch im Bereich der Ethik-Richtlinien von Unternehmen für Unverheiratete wird die Entscheidung des einzelnen Arbeitnehmers, ob und mit wem er in Beziehungen tritt – sei es in eine freundschaftliche oder in eine Liebesbeziehung – durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützt. Eine Ethik-Richtlinie, die bestimmt, dass Mitarbeiter nicht mit jemandem ausgehen oder eine Liebesbeziehung eingehen dürfen, der Einfluss auf die Arbeitsbedingungen nehmen kann oder deren Arbeitsbedingungen von der anderen Person beeinflusst werden können, ist gerade wegen dieses Verstoßes gegen das Grundgesetz (Art. 1 GG und Art. 2 GG) unwirksam. 238

233 

OLG Hamm NJW 1984, 679; LG Kiel BeckRS 2012, 04667. BGHZ 95, 81 = NJW 1985, 2523; BGHZ 78, 263 = NJW 1981, 399. 235  OLG Koblenz NJW 1999, 2904. 236  BGH NJW 1991, 1046, 1047. 237  BAGE 4, 274, 278 = NJW 1957, 1688, 1689. 238  LAG Düsseldorf NZA-RR 2006, 81. 234 

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

a. Patientenvermittlungsverträge Die Sittenwidrigkeit von Patientenvermittlungsverträgen wird unter Heranziehung der jeweiligen Landesberufsordnungen der Ärztekammern begründet. Damit wird der durch die Ärzte selbst gesetzte Standard hervorgehoben, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient besonders schützenswert ist und deswegen die Kommerzialisierung der ärztlichen Leistung engeren Grenzen unterliegt als es sonst im Wirtschaftsleben der Fall ist. 239 Nicht sittenwidrig ist die Vereinbarung einer Vergütung zwischen Zahnärzten und dem Betreiber einer Internetplattform, auf der Heil- und Kostenpläne von Patienten eingestellt werden und Zahnärzte Gegenangebote abgeben können. 240 Denn hier wird dem berechtigten Interesse des Patienten Rechnung getragen, sich in einem schwer zugänglichen Markt zu orientieren. 241

b. Empfängnisverhütungsvertrag Verträge über Empfängnisverhütung sind nicht sittenwidrig, soweit sie auf freiwillige Entscheidungen aus dem verfassungsrechtlich durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG besonders geschützten innersten Bereich der Persönlichkeit zurückgehen. Nicht sittenwidrig (insbesondere auch unabhängig von medizinischen Indikationen) ist daher die Empfängnisverhütung im Wege einer freiwilligen Sterilisation. 242 Nicht sittenwidrig ist daher ebenfalls der Vertrag zwischen Arzt und Patientin über die Verabreichung eines Verhütungsmittels. 243 Sittenwidrig ist dagegen die Abrede über den Gebrauch empfängnisverhütender Mittel in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, da es zur personalen Würde und zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht von Partnern, die miteinander Geschlechtsverkehr haben, gehört, sich immer wieder neu und frei für ein Kind zu entscheiden. 244

c. Künstliche Befruchtung und Leihmutterschaft Die früher für teils sittenwidrig erachteten Vereinbarungen über die künstliche Befruchtung sind nun in den Grenzen des reformierten Familienrechts, insbesondere unter Beachtung des § 1600 Abs. 4 BGB n.F. wirksam. Leihmutterschaft wird zwar durch § 3 ESchG verboten. Für die Folgen der im Ausland teils nicht verbotenen Leihmutterschaft, insbesondere in Form der 239 

BGH NJW 1986, 2360; LG Kiel BeckRS 2012, 04667. BGH NJW 2011, 2209, Rn. 16 f. 241  BGH NJW 2011, 2209, Rn. 18. 242  BGHZ 67, 48, 53 f. = NJW 1976, 1790, 1791. 243  BGH NJW 2007, 989, Rn. 12. 244  BGHZ 97, 372 = NJW 1986, 2043. 240 

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sogenannten gespaltenen Elternschaft, besteht kein Anlass, Sittenverstöße anzunehmen, da insoweit kollisions- und familienrechtliche Regelungen bestehen. 245 Eine unmittelbare Gefährdung des Kindeswohls kann daher nicht mehr überzeugend behauptet werden. 246 Dafür spricht auch, dass bei Einwilligung durch Vater und Mutter in eine Konstellation der Ersatzmutterschaft nur noch das Kind zur Vaterschaftsanfechtung berechtigt ist. 247

d. Organhandel Organhandel wird durch § 17 i.V.m. § 18 TPG verboten. Für die Weiterbehandlung eines Patienten, der im Ausland transplantiert wurde und bei dessen Operation ein Bezug zum Organhandel nicht ausgeschlossen werden kann, erscheint die Annahme eines Sittenverstoßes und damit eine Verweigerung der ärztlichen Weiterbehandlung im Inland angesichts des grundgesetzlich verankerten Lebensschutzes nicht überzeugend. 248

e. Sterbehilfe und Suizidassistenz Für die Annahme eines Sittenverstoßes im Bereich der Sterbehilfe und Suizid­ assistenz besteht angesichts der vom Gesetzgeber in § 630d BGB und § 1901b BGB sowie in der Rechtsprechung anerkannten Bedeutung des Patientenwillens kein Raum mehr. Sterbehilfe, beispielsweise durch Behandlungsabbruch, ist grundsätzlich straffrei, sofern die Grenze zur Tötung auf Verlangen oder zum Totschlag nicht überschritten wird. 249 Dagegen sollen aus einem Heimvertrag, der die Zielsetzung der Wahrung der Menschenwürde und die Sicherung der Selbstbestimmung ausdrücklich aufführt, angesichts des ebenfalls gebotenen Lebensschutzes nach Teilen der untergerichtlichen Rechtsprechung keine vertraglichen Ansprüche auf Mitwirkung an der Herbeiführung des Todes durch Einstellung der künstlichen Ernährung abgeleitet werden können. 250 245  BGHZ 203, 350, 357–361 und 368 f. = NJW 2015, 479, Rn. 28 und 33 sowie Rn. 37 und 56; dazu Heiderhoff, NJW 2014, 2673. 246  Für einen Sittenverstoß dagegen noch MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 66. Inzwischen den vormals angenommenen Sittenverstoß relativierend Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 708. 247  BGHZ 197, 242, 247 f. = NJW 2013, 2589, Rn. 21. 248 Für eine einschränkende Auslegung des Organhandelsverbots etwa Gutmann in Schroth/König/Gutmann/Onducu, Transplantationsgesetz (TPG), 2005, § 8 Rn. 58. Dagegen für eine umfassende Sittenwidrigkeit auf Grund eines Kommerzialisierungsverbots Spickhoff/Middel/Scholz, TPG § 17 Rn. 1. 249  BGHSt 55, 191, 201, 203 f. = NJW 2010, 2963, Rn. 32 und 27 m. Anm. Brunhöber, JuS 2011, 401. 250  OLG München NJW 2003, 1743.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

Der Gesetzgeber hat allerdings durch § 630d BGB sowie §§ 1901a–c BGB und § 1903a BGB klargestellt, dass eine Behandlung gegen den Willen des Patienten unzulässig ist, selbst wenn das Unterlassen der Behandlung unabhängig vom Stadium der Erkrankung zum Tod führt. Diese gesetzgeberische Vorgabe des stets zu beachtenden Patientenwillens aus dem Zivilrecht wurde vom Bundesgerichtshof auch für das Strafrecht übernommen. Auch im Strafrecht kommt es nicht mehr auf die Handlungsmodalität des Tuns oder Unterlassens an, sondern allein auf den Patientenwillen, der trotz bzw. entgegen § 216 StGB maßgeblich ist. 251 Suizidassistenz ist ebenfalls grundsätzlich straffrei, sofern nicht ausnahmsweise die Grenze zur geschäftsmäßigen Suizidförderung gemäß § 217 StGB überschritten ist. 252

f. Provisionszusagen und Titelhandel Die Sittenwidrigkeit von Provisionszusagen und Titelhandel setzt insbesondere eine Täuschungslage voraus. Die Sittenwidrigkeit von Provisionszusagen an Träger von freien Berufen, wie etwa Steuerberater, 253 Rechtsanwälte254 und Architekten, 255 wird zentral über den Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Träger des freien Berufes und seinem Mandanten bzw. Bauherrn begründet. Grund ist nicht eine allgemeine Ablehnung der Kommerzialisierung freier Berufe, sondern dass der Versprechende der Provisionszusage weiß oder damit rechnet und billigend in Kauf nimmt, dass der Träger des freien Berufes, etwa der Steuerberater, diese Vereinbarung seinem Mandanten verschweigen will. 256 Geschützt wird damit nicht allgemein der freie Beruf, sondern es wird die Wahrscheinlichkeit für den Mandanten gesenkt, Opfer einer Täuschung durch seinen Berater zu werden. Im Fall des Titelhandels wird nicht von einer Nicht-Kommerzialisierbarkeit akademischer Titel ausgegangen, sondern vielmehr betont, dass die Sittenwidrigkeit darauf beruht, dass das Führen eines Doktortitels ohne eigene wissenschaftliche Leistung des Trägers des Titels eine Täuschung der Öffentlichkeit darstellt. 257

251 

BGHSt 55, 191, 205 = NJW 2010, 2963, Rn. 38 m. Anm. Brunhöber, JuS 2011, 401. BT-Drs. 18/5373, 17 f. Für eine verfassungsrechtlich gebotene einschränkende Auslegung des § 217 StGB überzeugend MüKo-StGB/Brunhöber, § 217 Rn. 29. 253  BGHZ 95, 81 = NJW 1985, 2523. 254  KG NJW 1989, 2893. 255  BGH NJW 1999, 2360. 256  BGHZ 95, 81 = NJW 1985, 2523; BGHZ 78, 263 = NJW 1981, 399. 257  OLG Koblenz NJW 1999, 2904, 2905; BGH NJW 1994, 187. 252 

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g. Nichterstattung einer Strafanzeige Die Sittenwidrigkeit der Vereinbarung über die Nichterstattung einer Strafanzeige wird ebenso nicht durch ein Kommerzialisierungsverbot im engeren Sinne begründet. Sie verstößt erst dann gegen die guten Sitten, wenn eine gewinnsüchtige Ausnutzung einer emotionalen Zwangslage und der persönlichen Verstrickung vorliegt. 258 Es ist also die Ausbeutung einer Zwangslage, die als normatives Kriterium den Sittenverstoß auch dann begründen kann, wenn die Zwangslage auf eigenes Fehlverhalten, wie etwa Unkenntnis oder aber auch möglicherweise strafwürdiges Verhalten, zurückgeführt werden kann. 259

h. Fazit Überzeugenderweise geht die Begründung eines Sittenverstoßes durch Kommerzialisierung davon aus, dass es bestimmte Güter und Interessen gibt, die in besonderer Weise von der Rechtsordnung geschützt werden. Die dogmatische Analyse der tradierten Fallgruppe der Kommerzialisierung zeigt jedoch, dass diese keinen tragfähigen Grund für die Sittenwidrigkeit mehr bietet und auch nicht mehr als solche fungiert. Dies gilt umso mehr, als die Sittenwidrigkeit wegen der rechtsgebietsspezifischen Auslegung der guten Sitten gerade in den Fallgruppen der Zölibatsklauseln, Ethik-Richtlinien, Patientenvermittlungsverträge und Vereinbarungen über bestimmte Nutzungsmöglichkeiten der modernen Medizin, etwa über Empfängnisverhütung, künstliche Befruchtung, Leihmutterschaft, Organhandel oder Sterbehilfe, zentral im Ausgang von schweren Verstößen gegen verfassungsrechtliche Vorgaben und einfachgesetzliche Regelungen begründet wird. Die jeweils heranzuziehenden rechtsgebietsspezifischen Normen tragen den Sittenverstoß aus Gründen der Kommerzialisierung nicht mehr. Vielmehr ist er entweder entfallen oder er wird durch die Heranziehung weiterer verfassungsrechtlicher oder anderer einfachgesetzlicher rechtsgebietsspezifischer Wertungen begründet. Die Normen der kollektiven Handlungshoheit werden hier wiederum herangezogen, um die Einschränkungen der individuellen Handlungshoheit zu rechtfertigen.

3. Standesrecht und die Rechtsordnung Viele Berufe und Berufsausübungen, insbesondere freie Berufe, die auch als wichtig für die Allgemeinheit anerkannt werden, sind noch mit einem Standesbewusstsein verbunden. Das schlägt sich in bestimmten Standesordnungen nieder, etwa für Ärzte, Architekten oder Rechtsanwälte.

258 

BGH NJW 1991, 1046. 146, 298, 299 f. = NJW 2001, 1127, 1128.

259  BGHZ

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a. Verfassungsrechtliche Vorgaben Das Bundesverfassungsgericht hat aber klargestellt, dass Standesregeln zwar ein Standesethos widerspiegeln können, ihnen im Übrigen aber keine weitergehende rechtserhebliche Funktion zugesprochen werden kann, sofern der Gesetzgeber bei der Normierung von Berufspflichten nicht darauf zurückgreift. 260 Das Bundesverfassungsgericht führt aus, dass Eingriffe in die Berufsfreiheit „Regelungen“ voraussetzen, die durch demokratische Entscheidungen zustande gekommen sind und auch materiell-rechtlich den Anforderungen an Einschränkungen dieses Grundrechts genügen. Im Übrigen unterliegt etwa die durch den Grundsatz der freien Advokatur gekennzeichnete anwaltliche Berufsausübung unter der Herrschaft des Grundgesetzes der freien Selbstbestimmung des Einzelnen. 261 Die im Rahmen von Standesauffassungen behauptete deklaratorische Feststellung einer vorhandenen „communis opinio“ kann laut Bundesverfassungsgericht ebenso wenig wie nachkonstitutionelles Gewohnheitsrecht262 eine Regelung in diesem Sinne sein, und zwar umso weniger, wenn dabei lediglich auf die Meinung angesehener und erfahrener Standesgenossen abgestellt wird. Sie lässt keinen Raum für eine Prüfung und Entscheidung des Normgebers, ob die Einschränkung der Berufsfreiheit jeweils durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt wird und ob die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gesetzten Grenzen eingehalten werden; sie genügt nicht einmal den für Satzungsrecht geltenden Anforderungen, da sie keinen Unterschied macht zwischen statusbildenden, dem Gesetzgeber vorbehaltenen Regelungen und solchen, zu denen auch Berufsverbände ermächtigt werden dürfen. 263

b. Sittenverstoß ohne Standesrecht Ein Verstoß gegen die Standesordnung durch eine an eine Standesordnung gebundene Partei kann daher keine Sittenwidrigkeit begründen. 264 Die Sittenwidrigkeit setzt vielmehr auch im Falle einer an besondere Standesregeln gebundenen Partei voraus, dass die besonderen Umstände des Einzelfalls einen gravierenden Verstoß gegen die Maßstäbe der Rechtsordnung begründen. Diese Maßstäbe sind für freie Berufe insbesondere durch den Gesetzgeber normierte Berufspflichten, die unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorga260  BVerfGE 76, 171 = NJW 1988, 191; BVerfGE 50, 16 = NJW 1979, 1159; BGH NJW 2000, 3067. 261  Schon BVerfGE 50, 16, 29 = NJW 1979, 1159, 1160; BVerfGE 63, 266, 284 = NJW 1983, 1535, 1536. 262  Vgl. BVerfGE 22, 114, 121 = NJW 1967, 2051, 2052. 263  BVerfGE 76, 171, 188 f. = NJW 1988, 191, 192 f. 264  BGH NJW 2000, 3067; NJW-RR 1989, 1385, 1386; BVerfGE 71, 162 = NJW 1986, 1533.

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ben die Einschränkungen der freien Berufsausübung legitimieren 265 und den Schutz des Vertrauens des Rechtsverkehrs in die Unabhängigkeit der Berufsausübung bezwecken. 266 Sittenwidrig wegen Verstoßes gegen Berufspflichten ist ein Werbeverhalten, das unmittelbar als sittenwidriges Handeln im Sinne des § 3 UWG beurteilt werden kann. Nicht sittenwidrig ist dagegen ein Verstoß gegen ein nach einhelliger und gefestigter Standesüberzeugung der deutschen Ärzte- oder Heilpraktikerschaft bestehendes Werbeverbot, auch wenn es in einer Berufsordnung niedergelegt ist. 267 Denn Einschränkungen der Werbung von Angehörigen der Heilberufe stellen Eingriffe in die – grundsätzlich freie – Berufsausübung dar; sie unterfallen auf niedriger Eingriffsstufe Art. 12 Abs. 1 GG268 und sind gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG grundsätzlich durch den Gesetzgeber zu regeln. Allerdings sind solche Regelungen innerhalb bestimmter Grenzen auch in Gestalt von Satzungen zulässig, sofern diese von einer mit Autonomie ausgestatteten Körperschaft auf Grund einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Ermächtigung erlassen worden sind. 269 Aber auch ein Verstoß gegen durch Satzungen ausgestaltete berufsständische Regeln begründet allein noch nicht die Sittenwidrigkeit.

c. Fazit Die verfassungsrechtlichen Vorgaben stützen angesichts von tradierten Standesvorstellungen wiederum die individuelle Handlungshoheit. Althergebrachte Sitten müssen entweder Teil des Normsystems der kollektiven Handlungshoheit werden oder verlieren ihre Bedeutung.

4. Die Inhaltskontrolle von Testamenten § 138 BGB begrenzt die auch verfassungsrechtlich durch Art. 14 GG geschützte Testierfreiheit neben § 134 BGB und über das Pflichtteilsrecht hinaus. Da der Testierfreiheit durch das Pflichtteilsrecht bereits Grenzen hinsichtlich einer anstößigen Benachteiligung nächster Familienangehöriger gezogen werden, kann der Nichtigkeitsgrund des § 138 nur zurückhaltend angewendet werden. 270 Insbesondere haben pflichtteilsberechtigte Angehörige grundsätzlich keinen Anspruch gegen den potentiellen Erblasser darauf, dass dieser sein Vermögen bis zu seinem Tode erhält, um es vererben zu können. 271 265 

BVerfGE 50, 16, 29; 76, 171, 187 f.; BGH NJW-RR 1989, 1385. BGH NJW-RR 1990, 948, 949. 267  BGH NJW-RR 1989, 1385. 268  BVerfGE 71, 162 = NJW 1986, 1533 = GRUR 1986, 382, 384 – Arztwerbung. 269  BVerfGE 76, 171 = NJW 1988, 191 anwaltliches Standesrecht. 270  BGHZ 111, 36 = NJW 1990, 2055; OLG Düsseldorf RNotZ 2009, 177. 271  BGH NJW 1983, 674, 675. 266 

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

Eine Einschränkung der Testierfreiheit und damit der grundrechtlich gewährleisteten Privatautonomie wird zum einen unter Rückgriff auf die verfassungsrechtliche Vorgabe der Eheschließungsfreiheit272 begründet. Zivilrechtlich wird die Sittenwidrigkeit einer letztwilligen Verfügung zum anderen dadurch begründet, dass durch sie rechtlich anstößige oder verwerfliche Zwecke des Erblassers verwirklicht werden sollen. 273

a. Verfassungsrechtliche Vorgaben Verfassungsrechtliche Vorgaben sind bei erbrechtlichen Auseinandersetzungen um die Wirksamkeit von Potestativbedingungen in besonderer Weise zu berücksichtigen. Kollidieren die durch Art. 14 GG geschützte Testierfreiheit und die durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Eheschließungsfreiheit, so sind im Rahmen einer Abwägung alle in Betracht kommenden Umstände des Einzelfalls zu würdigen. 274 Dies gilt umso mehr, als bei der Auslegung von Testamenten nach § 133 BGB allein der wirkliche Wille des Erblassers entscheidend ist. Anders als bei der Vertragsauslegung und mit Ausnahme des Erbvertrags und des gemeinschaftlichen Testaments sind objektive Verkehrs- und Vertrauensschutzaspekte im Sinne des § 157 BGB bei der Testamentsauslegung genau nicht zu berücksichtigen. Dies hat zur Folge, dass Verkehrs- und Vertrauensschutzaspekte auch bei der Auslegung des § 138 BGB im Falle von letztwilligen Verfügungen grundsätzlich außer Acht zu lassen sind und bereits dadurch der Anwendungsbereich des § 138 BGB in diesen Fällen stark eingeschränkt ist. Zum Schutz der Eheschließungsfreiheit ist zum einen zu prüfen, ob durch eine Potestativbedingung auf den Erben unzumutbarer Druck bei der Eingehung einer Ehe erzeugt wird. 275 Zum anderen müssen bei der Abwägung die staatsrechtlichen Verhältnisse berücksichtigt werden, da es insbesondere fraglich ist, ob etwa eine mit der Wahrung des Ebenbürtigkeitsprinzips verknüpfte Erbeinsetzung noch Eingriffe in die Eheschließungsfreiheit eines Erben rechtfertigen kann. 276

272 

BVerfG NJW 2004, 2008. 140, 118, 128 f. = NJW 1999, 566, 568; BGH NJW 1983, 674. 274  BVerfG NJW 2004, 2008, 2009. 275  BVerfG NJW 2004, 2008, 2009; zust. NK-BGB/Looschelders, § 138 Rn. 200. 276  BVerfG NJW 2004, 2008, 2009. 273  BGHZ

A. Freiheit und Form

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(aa) Die Ebenbürtigkeitsklausel und ihre Beurteilung durch Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht Bei der Beurteilung einer erbrechtlichen Auseinandersetzung um den Nachlass des ehemaligen Kronprinzen Wilhelm von Preußen, dessen Testament eine Ebenbürtigkeitsklausel enthielt, hat der Bundesgerichtshof einen schweren Eingriff in die Eheschließungsfreiheit verneint. 277 Eine Ebenbürtigkeitsklausel ist eine Klausel, wonach nur derjenige älteste Abkömmling Erbe sein kann, der nach der alten Hausverfassung des betreffenden Adelsgeschlechts aus einer ebenbürtigen Ehe stammt und in einer solchen lebt. Durch eine solche Ebenbürtigkeitsklausel und damit unter einer Bedingung stehende Erbeinsetzung ist die Eheschließungsfreiheit des Erben, so der Bundesgerichtshof, nicht direkt betroffen. Auch eine gegen Art. 3 Abs. 3 GG verstoßende Diskriminierung nach Abstammung und Herkunft liegt demnach solange nicht vor, wie die Differenzierung gegenüber anderen Abkömmlingen nicht geeignet ist, deren Würde herabzusetzen und zudem ein von der Testierfreiheit gedecktes Ziel, wie die Regelung der Vermögensverhältnisse, verfolgt wird. 278 Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss zu einer gegen BGH NJW 1999, 566 gerichteten Verfassungsbeschwerde klargestellt, dass der Bundesgerichtshof mit dieser Argumentation den Bedeutungsgehalt des Grundrechts auf Eheschließungsfreiheit aus Art. 6 Abs. 1 GG verkannt hat.279 Demnach ist eine Ebenbürtigkeitsklausel zum einen geeignet, auf den Abkömmling einen für diesen unzumutbaren Druck bei der Eingehung einer Ehe zu erzeugen. Insbesondere muss dabei berücksichtigt werden, dass schon der hohe Wert eines Nachlasses geeignet sein kann, unter Berücksichtigung der Lebensführung und der sonstigen Vermögensverhältnisse eines Erben, dessen Eheschließungsfreiheit nachhaltig zu beeinflussen. 280 Zum anderen ist es gerade unter Berücksichtigung der staatsrechtlichen Verhältnisse geboten, im Rahmen der Abwägung auch zu diskutieren, ob eine mit der Wahrung des Ebenbürtigkeitsprinzips verknüpfte Erbeinsetzung noch Eingriffe in die Eheschließungsfreiheit rechtfertigen kann.281

277  BGHZ

140, 118 = NJW 1999, 566. 140, 118, 133 f. = NJW 1999, 566, 569. 279  BVerfG NJW 2004, 2008, 2010. 280  BVerfG NJW 2004, 2008, 2010. 281  BVerfG NJW 2004, 2008, 2011. 278  BGHZ

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

(bb) Rechts- und Begriffsverwirrungen zwischen Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof? Die Bedeutung dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist umstritten. Einige gehen davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht die Sittenwidrigkeit von Ebenbürtigkeitsklauseln festgestellt hat. 282 Dem wird entgegengehalten, dass das Bundesverfassungsgericht zwar das Urteil des Bundesgerichtshofs283 mit Hinweis darauf aufgehoben habe, dass der Bundesgerichtshof dem verfassungsrechtlichen Gebot einer umfassenden Abwägung nicht genügt hat. Damit sei die Ebenbürtigkeitsklausel selbst allerdings nicht für sittenwidrig erklärt worden. 284 Ein Teil der Literatur wiederum stimmt dem Ergebnis zu, sieht aber nicht § 138 BGB, sondern § 242 BGB als passenden dogmatischen Hebel an. Weil zwischen den Grundrechten des Erblassers und denen des (potentiellen) Erben im Wege der praktischen Konkordanz ein Ausgleich herzustellen ist, hängt die Zulässigkeit einer Erbunfähigkeitsklausel dieser Ansicht nach davon ab, ob die darin enthaltene Bedingung auf den Erben ein so großes Maß an Druck ausübt, dass er in der Ausübung seiner Freiheitsrechte unzumutbar beeinträchtigt wird. Ist die Erbunfähigkeitsklausel nach diesen Grundsätzen unzulässig, so ist nur sie unwirksam. Die Erbeinsetzung des Erben bleibe dagegen davon unberührt. Dogmatischer Hebel für eine Ergebniskorrektur soll dabei § 242 BGB sein, wenn eine Klausel zwar nicht nach den Maßstäben, die zur Zeit der Testamentserrichtung galten, aber nach heutigen Maßstäben sittenwidrig erscheint.285Schließlich wird der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts als im Ansatz unzutreffend bezeichnet, da das Kriterium des unzumutbaren Drucks dem Erben zunächst seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung abspricht, um sodann die Testierfreiheit als ein zentrales bürgerliches Recht unter Verweis auf bloß mögliche, indirekte Konsequenzen einer Potestativbedingung einzuschränken. 286 Gutmann betont einerseits mit dem Bundesgerichtshof und auch dem Bundesverfassungsgericht, dass das Erbe als unverdientes Vermögen ebenso wie ein Geschenk keinerlei direkte Beeinträchtigungen auf die Entscheidungsfreiheit des Erben haben kann. Davon ausgehend, so Gutmann, können mögliche indirekte Beeinträchtigungen eines komplexen Willensbildungsprozesses des Erben durch das Kriterium des unzumutbaren Drucks nicht erfasst werden, weil der Erbe ebenso wie der Erblasser grundsätzlich als rechts- und geschäftsfähig anzusehen und damit in seiner Selbstbestimmtheit zu respektieren ist. Von der Selbstbestimmung des Erben ist dann auch die Entscheidung 282 Palandt/Ellenberger,

§ 138 Rn. 49. 140, 118 = NJW 1999, 566. 284  Otte, ZEV 2004, 393, 394. 285 Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 690. 286  Gutmann, NJW 2004, 2347, 2348. 283  BGHZ

A. Freiheit und Form

181

umfasst, nicht aus reiner romantischer Liebe, sondern auch aus Gründen des materiellen Anreizes oder der Schönheit einer Partnerin zu heiraten. 287

(cc) Die Ausnahme: Kollektive Handlungshoheit als Entscheidungskriterium Es ist zwar zutreffend, dass eine freie Entscheidung durch die Aussicht auf den Erwerb des Vermögens beeinflusst werden kann. Allerdings ist es (mit Gutmann) nicht überzeugend, eine solche Erwerbsaussicht mit einem „unzumutbaren Druck“ gleichzusetzen. Vielmehr handelt es sich bei einer solchen Potestativbedingung um einen Anreiz neben weiteren Anreizen für eine bestimmte Richtung der Partnerwahl, auf den der Erbe in seinem Lebensentwurf auf selbstbestimmte Weise reagieren kann. Ein Anreiz allein, der die Entscheidung über die Partnerwahl indirekt beeinflussen kann, kann aber nicht den Vorwurf der Sittenwidrigkeit rechtfertigen, solange er selbst nicht rechtlich anstößig ist. Dass die vom Erblasser gesetzten Anreize für ein bestimmtes Verhalten des Erben grundsätzlich nicht die Sittenwidrigkeit begründen können, gilt umso mehr, als bei der Auslegung von Testamenten nach § 133 BGB grundsätzlich allein der wirkliche Wille des Erblassers entscheidend ist und Verkehrs- oder Vertrauensschutzaspekte nach § 157 BGB unberücksichtigt bleiben. Die Schwelle zur Sittenwidrigkeit ist erst überschritten, wenn der Erblasser objektiv und subjektiv rechtlich anstößig handelt. Dabei sind im Rahmen einer rechtsimmanenten Auslegung der guten Sitten überzeugenderweise auch die „staatsrechtlichen Verhältnisse“ zu berücksichtigen. Die verfassungsrechtliche Festlegung auf die Grundsätze des demokratischen Rechtsstaates stellt dabei in besonderer Weise eine übergeordnete Wertung dar, 288 die auch im Zivilrecht bei der Auslegung des § 138 BGB zu berücksichtigen ist. Die Sittenwidrigkeit einer Ebenbürtigkeitsklausel ist unter den Bedingungen eines demokratischen Rechtsstaates daher überzeugend, wenn eine solche Potestativbedingung objektiv dem Erhalt einer monarchistischen Thronfolge dient und subjektiv aus Sicht des Erblassers die Absicherung dieser monarchistischen Tradition mit dem Ziel und für den Fall der Wiederkehr einer Monarchie als einer staatsrechtlich verbindlichen Ordnung bezweckt. Die Annahme der Sittenwidrigkeit einer Ebenbürtigkeitsklausel erscheint im Ergebnis überzeugend. Allerdings kann dieses Ergebnis nicht auf eine Lehre vom „unzumutbaren Druck“ gestützt, sondern nur durch den Verweis auf die „staatsrechtlichen Verhältnisse“ begründet werden.

287 

Gutmann, NJW 2004, 2347, 2348 f. Dreier, Rechtswissenschaft, S. 37 f.

288 Dazu

182

Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

b. Verwirklichung zivilrechtlich anstößiger oder verwerflicher Zwecke des Erblassers Testamentarische Klauseln werden als sittenwidrig angesehen, wenn sie objektiv und subjektiv rechtlich anstößig sind. Objektiv sittenwidrig sind Klauseln, die im Widerspruch zu vom Gesetzgeber in unterschiedlichen Bereichen durchgehaltenen Grundsätzen stehen. 289 Subjektiv müssen sittenwidrige Klauseln einem verwerflichen Zweck dienen. 290 Beispielsweise wurde eine Klausel für sittenwidrig gehalten, die allein darauf gerichtet ist, die Konfession zu wechseln oder beizubehalten. 291 Sittenwidrig kann auch die Anordnung sein, die auf den Eintritt des Erben in den geistlichen Stand zielt292, oder eine Klausel, die auf eine Beschränkung der Freizügigkeit durch ein Wohnsitzverbot zielt. 293 Nicht sittenwidrig sind grundsätzlich dagegen Wiederverheiratungsklauseln. Sie ordnen in einem gemeinschaftlichen Testament an, dass der Längerlebende zugleich auflösend bedingter Vollerbe und aufschiebend bedingter Nacherbe sein soll. Stirbt dann der Längerlebende, ohne wieder geheiratet zu haben, so ist seine Stellung als Vollerbe endgültig geworden. 294 Diese Verbindung von Vollerbeneinsetzung und bedingter Nacherbeneinsetzung ist als rechtlich zulässig und wirtschaftlich sinnvoll anerkannt, 295 wird aber seit dem Hohenzollern-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts kritisch gesehen. 296 Sittenwidrig ist eine Wiederverheiratungsklausel erst dann, wenn dem überlebenden Ehegatten nach der Wiederheirat weniger als sein Pflichtteil gelassen wird. 297

(aa) Geliebtentestament Heute ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Erbeinsetzung der Geliebten eine zulässige Ausübung der Testierfreiheit darstellt und nicht sittenwidrig ist. Der rechtliche Grundsatz der Testierfreiheit ist insoweit entgegenstehenden

289  BGHZ 188, 96, 105 f. = NJW 2011, 1586, Rn. 28 zum objektiven und Rn. 29 zum subjektiven Element. 290  BGHZ 188, 96, 101 = NJW 2011, 1586, Rn. 19 f. 291  RG JW 1913, 1100. 292  BayObLG SeuffA 50, Nr. 95. 293  BGH NJW 1972, 1414 f. 294  BGHZ 96, 198 = NJW 1988, 59. 295  BGHZ 96, 198 = NJW 1988, 59; OLG Hamm NJW-RR 1993, 1225; für eine Ausweitung der Kriterien des Hohenzollern-Beschlusses auf Wiederverheiratungsklauseln Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, Rn. 691. 296  Scheuren-Brandes, ZEV 2005, 185. 297  BGHZ 96, 198 = NJW 1988, 59; Gaier, ZEV 2006, 2, 5; Scheuren-Brandes, ZEV 2005, 185, 186.

A. Freiheit und Form

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sittlichen Prinzipien übergeordnet. 298 Es ist dabei anerkannt, dass unterhaltsrechtliche Fragen im Hinblick auf den Bestand der Ehe und damit getrennt von erbrechtlichen Fragen zu beurteilen sind, die erst nach dem Tode eines Ehegatten entstehen. Früher wurde dagegen vertreten, dass Geliebtentestamente sittenwidrig sind, jedenfalls dann, wenn die Zuwendung ausschließlich den Zweck hatte, geschlechtliche Hingabe zu belohnen oder zu befördern. 299 In der wissenschaftlichen Diskussion wurde die Sittenwidrigkeit mit dem Argument begründet, dass nacheheliche Unterhaltspflichten nicht umgangen werden dürften. Die Rechtsprechung ist bis zum Inkrafttreten des ProstG noch davon ausgegangen, dass Geliebtentestamente nur dann sittenwidrig und insgesamt nichtig sein können, wenn sie objektiv ausschließlich den Zweck haben, die Geliebte für geschlechtliche Hingabe zu belohnen oder die Fortsetzung der sexuellen Beziehung zu fördern und zudem subjektiv eine unredliche oder verwerfliche Gesinnung des Erblassers zum Ausdruck kommt, die über die Enterbung hinausgeht.300 Eine höchstrichterliche Entscheidung zu der Frage, ob das objektiv die Sittenwidrigkeit eines Geliebtentestaments begründende Kriterium der ausschließ­ lichen Hergabe für geschlechtliche Hingabe wegen der gesetzlichen Wertung des § 1 ProstG fortbesteht, ist noch nicht ergangen. Das mit der Prüfung befasste Oberlandesgericht Düsseldorf301 hat diese Frage offengelassen. Nach der weit überwiegenden Mehrheit im Schrifttum kann an dieser Auffassung nach Inkrafttreten des ProstG nicht mehr festgehalten werden. Denn wenn nach den Wertungen des ProstG die professionelle Prostitution nicht mehr mit dem „Makel“ der Sittenwidrigkeit behaftet ist, können Geliebtentestamente zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen mit dem ProstG nicht mehr wegen Belohnung der „ausschließlichen Hergabe für die Hingabe“ als sittenwidrig angesehen werden.302 Dem wird entgegengehalten, dass das ProstG nichts an den zivilrechtlichen Kriterien der Sittenwidrigkeit ändere. Entsprechend sei es objektiv geboten, das ideelle Gut der Verfügung über den eigenen Körper durch § 138 Abs. 1 BGB zu schützen.303

298 

BGH NJW 1983, 674, 675. BGHZ 53, 369 = NJW 1970, 1273, 1275. 300  BGH NJW 1983, 674, 675; 1970, 1273, 1275. 301  OLG Düsseldorf FamRZ 2009, 545. 302 Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 693; Grziwotz, FamRZ 2002, 1154; Paal, JZ 2005, 436, 437; Armbrüster, NJW 2002, 2763, 2765; MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 59; Staudinger/Otte, 2012, Vor §§ 2067 ff. Rn. 150; Palandt/Ellenberger, § 138 Rn. 50; Leipold, ErbR, Rn. 246; Kroppenberg, DNotZ 2006, 86, 103 mit Fn. 93. 303  Bergmann, JR 2003, 270, 275 f. 299 

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

Weitere Ausgestaltungen von Geliebtentestamenten, die auf Grund der Verwirklichung einer verwerflichen Gesinnung des Erblassers sittenwidrig sind, werden diskutiert. So wird etwa die Sittenwidrigkeit befürwortet, wenn die testamentarische Enterbung in einer fortgesetzten Reihe mit einer krassen Vernachlässigung der elterlichen Sorge steht.304 Auch wird es als sittenwidrig angesehen, wenn Dritten Gegenstände zugewendet werden, die einen besonderen familiären subjektiven Erinnerungswert haben, wie Fotos, Familienschmuck oder Briefe der enterbten Angehörigen.305

(bb) Gefühlsschutz als Mittelweg? Die Ansicht zur objektiv nicht vorliegenden Sittenwidrigkeit eines Geliebtentestaments ist überzeugend, da sie mit dem Argument des Wertungswiderspruchs dem Grundsatz des demokratischen Rechtsstaates folgt, die Vorgaben des demokratischen Gesetzgebers in gleicher Weise umzusetzen, wie sie auch dem ProstG zu entnehmen sind. Zudem gibt es gerade aus der Perspektive eines sogenannten formalen Zivilrechts ohnehin keine inhaltlichen Bedenken gegen ein Geliebtentestament. Im Hinblick auf die Diskussion um eine Sittenwidrigkeit des Geliebtentestaments sollte eine zu starke inhaltliche Subjektivierung vermieden werden. Die Grenze zur Sittenwidrigkeit kann erst dort überschritten werden, wo auch aus den objektiven Umständen des Einzelfalls eine individuelle Herabwürdigung der enterbten Pflichtteilsberechtigten begründet werden kann. Es wird daher in überzeugender Weise auf die verobjektivierte Perspektive des Erblassers abgestellt. Die Sittenwidrigkeit setzt in diesen Fällen einen Widerspruch oder zumindest eine Kluft bzw. einen Bruch zwischen dem Verhalten des Erblassers vor und nach dem Erbfall voraus, die subjektiv auch bezweckt, seelische Schmerzen bei den Angehörigen zu verursachen. Es wäre daher im Sinne eines Gefühlsschutzes auch für den Erblasser sinnvoll, die Zuwendung von Gegenständen, die einen subjektiv besonderen Erinnerungswert für den Erblasser und die pflichtteilsberechtigten Erben haben, an beliebige Dritte für sittenwidrig zu erachten. Nicht überzeugend ist es dagegen, krasse Vernachlässigungen zu Lebzeiten zu berücksichtigen. Denn der Erblasser setzt durch die Enterbung der Pflichtteilsberechtigten nur in kohärenter Weise fort, was er bereits zu Lebzeiten aus freien Stücken verfolgt hat.

304 Staudinger/Sack/Fischinger, 305 

Otte, JURA 1985, 192.

2017, § 138 Rn. 695 f.; a.A. Otte, JURA 1985, 192.

A. Freiheit und Form

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(cc) Behinderten- und Bedürftigentestamente zu Lasten der Sozialhilfe Mit sogenannten Behinderten- und Bedürftigentestamenten zielen Eltern typischerweise darauf, dass ihr Erbe an die Kinder, die Sozialleistungen beziehen, nicht für das Existenzminimum der Kinder verwendet wird. Vielmehr sollen diese weiterhin durch Sozialhilfeträger unterstützt und das Erbe für eine darüberhinausgehende Versorgung verwendet werden. Objektiv steht damit die verfassungsrechtlich geschützte Testierfreiheit in einem Spannungsverhältnis zu Belangen der Allgemeinheit, wie sie im Sozialhilferecht ausgeformt sind. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hält Behindertentestamente für wirksam, da das Sozialhilferecht keine Einschränkung der Testierfreiheit rechtfertigt.306 Nicht sittenwidrig ist demnach eine Verfügung von Todes wegen, mit der Eltern ihr behindertes, auf Kosten der Sozialhilfe in einem Heim untergebrachtes Kind nur als nicht befreiten Vorerben auf einen den Pflichtteil kaum übersteigenden Erbteil einsetzen, bei seinem Tod ein anderes Kind als Nacherben berufen und dieses zum Vollerben auch des übrigen Nachlasses bestimmen. Dies gilt auch, wenn dadurch der Sozialhilfeträger keinen Kostenersatz erlangt.307 Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass sich den sozialstaatlichen Leistungsregelungen keine konsequente Durchführung des Nachrangs der öffentlichen Hilfe entnehmen lässt.308 Zwar geht auch der Bundesgerichtshof davon aus, dass der Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe eine Wertung des Sozialrechts ist. Er wird seit dem 1.1.2005 auch in § 2 SGB XII und § 9 SGB I betont. Allerdings fehlt es wegen zahlreicher Durchbrechungen, etwa durch Zumutbarkeitsgrenzen und Schonvermögen, an einer konsequenten Durchführung des Grundsatzes des Nachrangs, sodass es dem Subsidiaritätsprinzip bereits innerhalb des Sozialrechts an einer Prägekraft fehle.309 Im Hinblick auf Menschen mit Behinderung kommt hinzu, dass der Familienlastenausgleich, wie er auch in § 83 Abs. 2 SGB XII und steuerrechtlich in § 31 EstG zur Geltung kommt, ein dem Nachranggrundsatz gegenläufiges Prinzip darstellt.310 Eine Verpflichtung des Erblassers, aus Rücksicht auf die Belange der Allgemeinheit seinem unterhaltsberechtigten Kind bei größerem Vermögen entweder einen über den Pflichtteil hinausgehenden Erbteil zu hinterlassen, um dem 306  BGHZ 188, 96, 100 = NJW 2011, 1586, Rn. 17; BGH NJW-RR 2005, 369; BGHZ 164, 324 = NJW 2006, 223. 307  BGHZ 123, 368, 375 = NJW 1994, 248, 250. 308  BGHZ 123, 368, 379 = NJW 1994, 248, 251. 309  BGHZ 123, 368, 375 = NJW 1994, 248, 250. 310  BGHZ 123, 368, 375 = NJW 1994, 248, 250.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

Träger der Sozialhilfe einen Kostenersatz zu ermöglichen, ist daher aus Sicht des Bundesgerichtshofs mangels einer übergeordneten Wertung selbst wiederum ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Testierfreiheit.311 Nicht sittenwidrig sind demnach ebenso der Pflichtteilsverzicht und die Erb­ ausschlagung durch einen Sozialleistungsbezieher.312 Dabei wird besonders betont, dass der Wille des Erblassers, seinem Kind Vorteile aus dem Nachlassvermögen zukommen zu lassen, ohne dass der Sozialhilfeträger darauf zugreifen kann, als Ausdruck für eine sittlich anzuerkennende Fürsorge für das Wohl des Kindes zulässig ist.313 Der Bundesgerichtshof geht bei der Beurteilung des Spannungsverhältnisses von Testierfreiheit und Allgemeininteresse davon aus, dass ein Pflichtteilsverzicht oder eine Erbausschlagung nicht nur als Ausdruck der Privatautonomie nach Art. 2 Abs. 1 GG geschützt sind, sondern der Erbrechtsgarantie in Art. 14 Abs. 1 GG auch eine „negative Erbfreiheit“ zu entnehmen ist, der zufolge es keine Pflicht gibt, einen Nachlass anzunehmen.314 Hinzu kommt, dass Art. 6 Abs. 1 GG auch im Hinblick auf familiäre Verantwortung zur Geltung kommen müsse. Demnach sieht sich derjenige Nachkomme, der sich einem Wunsch der Familie auf Pflichtteilsverzicht gegenüber sieht, dem Vorwurf des Undanks und der Illoyalität der Familie ausgesetzt, was ihm aber nicht abverlangt werden könne.315 In der Rechtsprechung316 und der Literatur wird die Wirksamkeit von Behinderten- und Bedürftigentestamenten teils kritisiert. Es wird betont, dass der Subsidiaritätsgrundsatz für das Sozialrecht leitend sei und in diesem Zusammenhang insbesondere der Verzicht eines sozialrechtlich Bedürftigen ohne Gegenleistung gerade auch subjektiv sittenwidrig ist.317

(dd) Fehlende normative Vorgaben Es ist überzeugend, auf subjektiver Seite davon auszugehen, dass eine testamentarische Regelung, die es dem Sozialhilfeträger nicht ermöglicht, auf das Nachlassvermögen zuzugreifen, als Ausdruck der Fürsorge der Eltern für ihre Kinder anzuerkennen ist. Im Fall des Behindertentestaments ist es insbesondere wegen des dem Subsidiaritätsgrundsatz gleichrangigen Prinzips des Familien-

311 

BGHZ 123, 368, 375 = NJW 1994, 248, 250. BGHZ 188, 96, 100 und 102 = NJW 2011, 1586, Rn. 17 und 23. 313  BGHZ 188, 96, 101 = NJW 2011, 1586, Rn. 19. 314  BGHZ 188, 96, 104 f. = NJW 2011, 1586, Rn. 27 f. 315  BGHZ 188, 96, 105 f. = NJW 2011, 1586, Rn. 29 f. 316  BGHZ 111, 36 = NJW 1990, 2055; OLG Stuttgart NJW 2001, 3484. 317  Raiser, MDR 1995, 235; Eichenhofer, JZ 1999, 226, 232 f.; Mayer-Maly, AcP 194 (1994), S. 105 (146); Armbrüster, ZEV 2010, 555; so noch Staudinger/Sack/Fischinger, 2011, § 138 Rn. 466 f. 312 

A. Freiheit und Form

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lastenausgleichs auch überzeugend, schon auf objektiver Seite die Sittenwidrigkeit abzulehnen. Für den Pflichtteilsverzicht und die Erbausschlagung durch einen Sozialleistungsbezieher bedarf die objektive Begründung einer negativen Erbfreiheit in diesem Zusammenhang aber noch einer eingehenderen Begründung, um auch im Verhältnis zu dem Allgemeininteresse eines leistungsfähigen sozialen Sicherungssystems überzeugend werden zu können. Ebenso wie im Falle des Behindertentestaments kann sich auch hier erst aus der einfachgesetzlichen Ausgestaltung ergeben, ob eine Durchbrechung des Grundsatzes des Nachrangs der Sozialhilfe auch im Fall eines nichtbehinderten Nachkommens festgestellt werden kann. Dies erscheint aber gegenwärtig grundsätzlich zweifelhaft, da jedenfalls der Familienlastenausgleich als ein den Subsidiaritätsgrundsatz begrenzendes, ihm aber gleichrangiges Prinzip des Sozialrechts nicht herangezogen werden kann.

5. Rechtsgeschäftsspezifische Grundwertungen als Maßstab der guten Sitten Die Sittenwidrigkeit kann über die anerkannten normativen Kriterien hinaus aber ebenfalls im Ausgang vom Schutz der Entscheidungsfreiheit durch die Verletzung rechtsgeschäftsspezifischer Grundwertungen unter Hinzunahme weiterer Umstände begründet werden. Während für den Bereich der persönlichen Lebenssphäre, wie Ehe, Familie und Sexualsphäre, zunehmend Sittenverstöße unter Bezugnahme auf verfassungsrechtliche Vorgaben zum Schutz der individuellen Handlungshoheit diagnostiziert werden (siehe oben 1), nimmt insgesamt die Bedeutung des Kommerzialisierungsarguments zur Begründung der Sittenwidrigkeit ab (siehe oben 2). Schließlich zeigt sich am Beispiel der Inhaltskontrolle von Testamenten exemplarisch, dass verfassungsrechtliche Überlegungen auch zur Beschränkung der individuellen Handlungshoheit führen können (siehe 3). Die die Verletzung begründenden weiteren Umstände müssen die Verletzung der jeweils rechtsgebietsspezifischen Grundwertungen verstärken oder ermöglichen und dürfen insoweit selbst nicht mit der Rechtsordnung vereinbar sein. Es handelt sich allein um normative Umstände und nicht um Umstände des sozialen Lebens.318 Ein Sittenverstoß auf Grund der Schädigung der Allgemeinheit oder Dritter kann objektiv daher erst vorliegen, wenn rechtsgebietsspezifische Grundwertungen unter Hinzunahme weiterer Umstände verletzt werden. Die Umstände, die die Verletzung verstärken oder ermöglichen, dürfen normativ selbst nicht 318 Anders dagegen die systemtheoretischen Überlegungen, etwa bei Teubner und Wielsch, s. o. Teil 2 E.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

mit der Rechtsordnung vereinbar sein. Dabei ist das subjektive Element weniger stark konturiert und bleibt teils auch unberücksichtigt. Gerade die Begründung von Sittenverstößen durch Schädigung der Allgemeinheit oder Dritter trägt teils stark wohlfahrtsstaatliche Züge und steht so immer in der Gefahr, über den Schutz der Funktionsfähigkeit der Vertragsfreiheit durch den Schutz der individuellen Entscheidungs- und Handlungsfreiheit hinaus die Rechtsordnung für gesellschaftliche Zwecke in Dienst zu nehmen. Das liegt zum einen daran, dass gerade mit Verweisen auf das Allgemeinwohl aus historischen Gründen zahlreiche gesellschaftliche Vorstellungen in die Rechtsordnung eingeflossen sind und so als verbindlich behauptet werden konnten. Deutlich sichtbar wird dies in den Bereichen der Ehe und Familie, der Sexualmoral, der Kommerzialisierungsverbote und der Standesregeln. Das Phänomen der Übertragung einer Sozialmoral in die Rechtsordnung geht auf eine um 1900 und nach 1945 verbreitete Überzeugung zurück, dass außerrechtliche allgemeine soziale Wertvorstellungen von der Rechtsordnung zu beachten sind.319 Gerade an der teils moralischen Überformung der Rechtsordnung in den Bereichen der Ehe und der Familie, der Sexualmoral, der Kommerzialisierungsverbote und der Standesregeln wird sichtbar, dass gesellschaftliche Erwartungen in die Rechtsordnung hineingelesen werden, ohne die individuellen oder interaktiven Bedürfnisse der Parteien zu berücksichtigen. Bis heute verleitet die Argumentation mit der Schädigung der Allgemeinheit oder Dritter noch dazu, eine nichtkonsensuelle Ebene im Namen gesellschaftlicher Erwartungshaltungen zu unterstellen.320 Zum anderen lenkt § 138 BGB den Blick auf zahlreiche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die gesetzlich nicht geregelt sind und Verhaltensweisen betreffen, die nicht mit dem Gedanken des Vertragsrechts oder etablierten Beständen der Rechtsordnung vereinbar sind. Sie sind durch eine entsprechende Auslegung des § 138 BGB erst in die Rechtsordnung einzugemeinden. Hier steht insbesondere der Schutz der Funktionsfähigkeit bestimmter Rechtsinstitute im Mittelpunkt. Dazu gehören etwa die Ehe und Testierfreiheit. Gerade den verfassungsrechtlichen Vorgaben kommt bei der rechtlichen Ausformung der Schädigung der Allgemeinheit oder Dritter eine entscheidende Rolle zu – sowohl in handlungsbefördernder wie auch in handlungsbegrenzender Hinsicht.

319 

Dazu HKK/Haferkamp, § 138 BGB Rn. 31 m.w.N. den Mechanismus des Vertrags als soziale Struktur in affirmativer Absicht, Wielsch, in: FS Teubner, 2009, S. 395–414, insb. 398–403. 320 Für

A. Freiheit und Form

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a. Verfassungsrechtliche Vorgaben als Handlungsbeförderung Verfassungsrechtliche Vorgaben filtern in Form subjektiver Grundrechte einerseits zunehmend außerrechtliche, gesellschaftliche Erwartungshaltungen. Dies verdeutlicht etwa die abnehmende Bedeutung des Arguments der Kommerzialisierung321 ebenso wie die zunehmende rechtliche Akzeptanz unterschiedlicher Aktivitäten im Bereich der Sexualsphäre.322

b. Verfassungsrechtliche Vorgaben als Handlungsbeschränkung Verfassungsrechtliche Vorgaben verleihen aber auch gerade als Institutsgarantien der Beurteilung eines zivilrechtlich bedenklichen Verhaltens erst die erforderliche Schwere, die einen Sittenverstoß rechtfertigt. Das gilt etwa für den Kernbereich der Scheidungsfolgen,323 für das Eltern-Kind-Verhältnis324 oder die letztwillige Verfügung.325

V. Die normative Systematisierung der guten Sitten durch individuelle und interaktive Handlungshoheit § 138 Abs. 1 BGB verlangt zu überprüfen, ob ein Rechtsgeschäft gegen die guten Sitten verstößt. Das erfordert, den Begriff der guten Sitten als Rechtsbegriff auszulegen. Die Analyse der dogmatischen Ausgangslage zeigt, dass die Bedeutungsbestimmung der guten Sitten als Rechtsbegriff vor allem durch das Verhältnis einfachgesetzlicher verfassungsrechtlicher Vorgaben und des Richterrechts für jedes Rechtsgeschäft bestimmt wird (1.). Auf dieser Basis wird versucht, rechtsdogmatische Systematisierungen inhaltlich anzureichern (2.). Darüber hinaus werden auch moralische und soziale Wert- und Ordnungsvorstellungen zur Inhaltsbestimmung herangezogen (3.). Letztlich erscheint aber eine von dem Konzept der Handlungshoheit ausgehende Systematisierung überzeugender (4.), soweit es die existierenden dogmatischen Erkenntnisse aufnimmt und normativ ordnet.

321 S. o.

Teil 3 A. IV. 2. Teil 3 A. IV. 1.c. 323 S. o. Teil 3 A. IV. 1. 324 S. o. Teil 3 A. IV. 1. 325 S. o. Teil 3 A. IV. 3. 322 S. o.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

1. Einfachgesetzliche Vorgaben und Richterrecht a. Einfachgesetzliche Bezüge Einfachgesetzliche Bezüge werden zur Bestimmung der Bedeutung der guten Sitten herangezogen, um einerseits allgemeine Grundsätze der Rechtsordnung und andererseits bestimmte Grundprinzipien bestimmter Regelungsbereiche als normative Kriterien zu gewinnen. Dabei wird auch dispositives Recht herangezogen.326 Abdingbaren Normen wird eine „Leitbildfunktion“ für die jeweilig typisierbaren Regelungsbereiche zugeschrieben,327 da sie die Wertentscheidungen des Gesetzgebers reflektieren.328 Gerade die Grundprinzipien einzelner Regelungsbereiche spielen eine wichtige Rolle bei der Auslegung von § 138 Abs. 1 BGB im Hinblick auf Sittenverstöße, die auf Grund einer Gesamtwürdigung begründet werden. Die einfachgesetzlichen Normen eines bestimmten Regelungsbereichs werden hier zur normativen Konkretisierung des Begriffs der guten Sitten in einem bestimmten Bereich herangezogen. Das zeigt beispielsweise die Rechtsprechung zu Ehe und Familie ebenso wie die zu wirtschaftsrechtlichen Problemen.329 Bei der Scheidungsfolgenvereinbarung wird etwa aus den Regelungen der §§ 1570 ff. BGB im Lichte des Art. 6 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 GG ein Stufenmodell entwickelt, um die Teilhabe beider Ehegatten am gemeinsam erwirtschafteten Vermögen zu erreichen.330 Bei der Bewertung von Wettbewerbsverboten werden etwa die Vorgaben des GWB und des Art. 101 AEUV herangezogen.331 So wird aus den Vorschriften der §§ 34, 136 Abs. 1 AktG, § 47 Abs. 4 GmbHG, § 43 Abs. 6 GenG abgeleitet, dass im Gesellschaftsrecht eine Stimmabgabe in eigenen Angelegenheiten sittenwidrig ist, soweit diese Vorschriften sie nicht vorsehen.332

326  Vgl. zu § 242 BGH NJW 1964, 1123; Sack, WRP 1985, 1, 5; Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 102. 327  So BGH NJW 1989, 2685, 2686. 328  Windbichler, AcP 198 (1998), S. 261 (278); schon Westermann, Vertragsfreiheit und Typengesetzlichkeit, S. 49; krit. und für die Offenlegung der hinter den Leitbildern stehenden Gründe oder idealisierten Verträge dagegen Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, S. 134 f. und 191 ff. 329 S. o. Teil 3 A. IV. 1. und Teil 3 A. III. 4. b. 330  BGH NJW 2013, 457, Rn. 15 f.; BGHZ 158, 81 = NJW 2004, 930. 331  BGH NJW 1979, 1585, 1586. 332  BGHZ 108, 21, 24 = NJW 1989, 2694, 2696; BGH NJW 1980, 1527, 1528; RGZ 136, 236, 245.

A. Freiheit und Form

191

b. Richterrecht Richterrecht wird teils als eine außergesetzliche, jedoch nicht eine außerrechtliche Erkenntnisquelle für die Auslegung der guten Sitten als Rechtsbegriff angesehen.333 Zwar sind auch die Entscheidungen von Obergerichten grundsätzlich nur für einen Einzelfall verbindlich. Daher ist auch umstritten, ob Richterrecht eine Rechtsquelle darstellt.334

(aa) Die Bedeutung der Rechtsprechung für die Interpretation Unstreitig hat jedoch gerade die Bedeutung von höchstrichterlichen Entscheidungen wegen der in ihnen im Hinblick auf den Einzelfall entwickelten allgemeinen normativen Vorgaben auch im deutschen, kontinentalen Umgang über die Einzelfallentscheidung hinaus stark zugenommen.335 Die rechtliche Bedeutung von Richterrecht wird auch daran erkennbar, dass die Verrechtlichung von ungeregelten Regelungsbereichen, wie etwa den Leasingverträgen, allein durch Rechtsprechung erfolgt. Auch übernimmt der Gesetzgeber zunehmend Teile der höchstrichterlichen Rechtsprechung, wie etwa zum ärztlichen Behandlungsvertrag bei §§ 630a–630h BGB.

(bb) Die Vermutung seiner Richtigkeit? Nicht überzeugend ist es aber, dem Richterrecht eine Vermutung der Richtigkeit in sich zuzusprechen.336 Denn gerade bei der Identifikation von normativen Leitlinien verfassungsrechtlicher wie auch einfachgesetzlicher Art zur inhaltlichen Bestimmung der guten Sitten besteht immer die Möglichkeit für ein begründetes Abweichen von richterrechtlichen Vorgaben.337 Dies gilt umso mehr für die Auslegung des Abs. 1, bei der der richterlichen Urteilskraft trotz ihrer Rückbindung an die verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Vorgaben gerade in unteren Instanzen im Hinblick auf tatsächliche Fragen ein großer Ermessensspielraum zukommt.338

333 Staudinger/Sack/Fischinger,

2017, § 138 Rn. 60 und 108. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IV, S. 222 f.; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 239 ff.; abl.: Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 69 f.; Esser, in: FS v. Hippel, 1967, S. 95, 118 ff. 335  Haberstumpf, Die Formel vom Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, S. 45 (47, 49 f.). Einen rechtstheoretischen Überblick bietet Martens, Rechtliche und außerrechtliche Argumente, Rth 42 (2011), Rn. 145 ff. 336  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 8. Aufl., S. 431; Sack, WRP 1985, 1, 8. 337  Ohly, AcP 201 (2001), S. 1 (27 ff., 37 f.); Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 339. 338  Schon Mot. I 211. 334 Bejahend:

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

(cc) Gerichte als Begründer der Sittennormen? Teils wird davon ausgegangen, dass die Gerichte durch die Unbestimmtheit des Begriffs der guten Sitten dazu aufgerufen sind, rechtsfortbildend Sittennormen zu entwickeln.339 Sie sollen sich demnach bei der Rechtsfortbildung so verhalten wie der Gesetzgeber.340 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Richter an die Gesetze des Gesetzgebers gebunden sind. Sie müssen insoweit bei der Auslegung der guten Sitten als Rechtsbegriff die existierenden Normen heranziehen und in nachvollziehbarer und begründeter Weise auf den Einzelfall anwenden. § 138 Abs. 1 BGB enthält überzeugenderweise keine allgemeine methodische Anweisung zu einer gesetzgebergleichen politischen Interessenabwägung.341 Vielmehr haben die Gerichte die Aufgabe, ihre Auslegungsgründe durch eine Berücksichtigung der im Einzelfall jeweils einschlägigen rechtsgebietsspezifischen Grundwertungen zu gewinnen. Dies gilt auch für die Verrechtlichung neuer Lebenssachverhalte. Die Aufgabe der Richter, mit den rechtsgebietsspezifischen Grundwertungen des Gesetzgebers auch den Begriff der guten Sitten inhaltlich auszufüllen, zeigt besonders deutlich das Beispiel des ProstG. Durch die Schaffung des § 1 ProstG ist das Feld der Rechtsgeschäfte im Bereich der Sexualsphäre durch den Gesetzgeber auf die Wirksamkeit dieser Rechtsgeschäfte ausgerichtet. Diese Ausrichtung wird entsprechend auch von der obergerichtlichen Rechtsprechung nachvollzogen und umgesetzt.

c. Allgemeine Rechtsüberzeugungen Teils wird bei der Auslegung von Abs. 1 auch auf allgemeine Rechtsüberzeugungen verwiesen. Allgemeinen Rechtsüberzeugungen wird in der Literatur häufig ohne nähere inhaltliche Bestimmung eine gewisse Wirksamkeit zugesprochen. So sollen auch Gewohnheitsrecht und einheitliche und gefestigte Standesauffassungen noch für die Auslegung der guten Sitten als Rechtsbegriff herangezogen werden können.342 Allerdings nimmt die Bedeutung allgemeiner Rechtsüberzeugungen, ebenso wie die der außerrechtlichen Wertungen bei der Auslegung von Rechtsbegriffen, in einer arbeitsteiligen Gesellschaft stetig ab. So reicht für den Vorwurf der 339 Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 94; MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 3 und 32. 340 Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 94 im Anschluss an Ott, in: FS Raiser, 1974, S. 403, 417, 419. So auch aus staatsorganisationsrechtlicher Perspektive im Anschluss an die Diskurstheorie Lieber, Diskursive Vernunft und formelle Gleichheit, S. 239. 341  Dagegen Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 94. 342 Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 106; MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 40, 46 ff.; HK-BGB/Dörner, § 138 Rn. 10.

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Sittenwidrigkeit unter der Beachtung der gesetzlichen Vorgaben des demokratischen Gesetzgebers die Verletzung von Standesgrundsätzen oder der pauschale Verweis auf Kommerzialisierungsverbote nicht mehr aus.343

2. Die Ordnung nach dem „beweglichen System“ Nach einer im Vordringen befindlichen Ansicht sind die für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts maßgeblichen Kriterien nach dem Muster eines beweglichen Systems geordnet,344 wie es von Wilburg zunächst anhand des Schadensersatzrechts entwickelt und später in allgemeiner Weise verwendet wurde.345

a. Das Konzept des beweglichen Systems Es wird davon ausgegangen, dass jeder Versuch einer Inhaltsbestimmung der guten Sitten nur begrenzt konkretisierungsfähig ist. Vielmehr müsse das Gewicht unterschiedlicher Elemente, etwa verfassungsrechtlicher, einfachgesetzlicher und richterrechtlicher Vorgaben, in ihrem Zusammenspiel erfasst werden. Ist allerdings ein Element besonders ausgeprägt, so könne es die anderen Elemente entbehrlich machen.346 Demnach muss sich die Sittenwidrigkeit nicht allein aus der Kombination mehrerer Elemente ergeben, sondern kann mit einem einzigen, besonders ausgeprägten Element begründet werden. Die Erklärungskraft des beweglichen Systems wird daran gezeigt,347 dass der Bundesgerichtshof348 beispielsweise die Sittenwidrigkeit einer Krediteinschränkung erst aus dem Zusammenwirken von Freiheitsbeschränkung und Gefährdung Dritter begründet. Weiterhin wird auf die ständige Rechtsprechung349 verwiesen, die einerseits für die Sittenwidrigkeit wegen eines objektiv auffäl343 

BGH NJW 1999, 2360. So MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 15, 27–31 und Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 120 im Anschluss an Mayer-Maly, Bewegliches System und Konkretisierung der guten Sitten, in: Bydlinski u.a. (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 117 ff. 345 MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 29; Wilburg, Die Elemente des Schadensrechts, S. 194; Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht; Wilburg, AcP 163 (1963), S. 346 ff.; vgl. dazu Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 74 ff.; Westerhoff, Die Elemente des Beweglichen Systems; Schmoeckel, AcP 197 (1997), S. 1 (28). Zur Konkretisierung von Generalklauseln mit Hilfe des beweglichen Systemdenkens Bydlinski, Möglichkeiten und Grenzen der Präzisierung aktueller Generalklauseln, in: Behrends/Dießelhorst/Dreier (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1990, S. 189 ff. 346  Vgl. schon Wilburg, Die Elemente des Schadensrechts, S. 26 f. Dazu krit. Jansen, Die Struktur des Haftungsrechts, S. 594 und 599. 347 MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 27. 348  BGHZ 19, 12 = NJW 1956, 337. 349  BGH NJW 1957, 1274; BGHZ 130, 101, 105 = 1995, 2635, 2636. 344 

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ligen Leistungsmissverhältnisses auf subjektiver Seite eine verwerfliche Gesinnung fordert. Andererseits gibt es auch Fälle, in denen bereits ein Element so ausgeprägt auftritt, dass sich schon hieraus die Sittenwidrigkeit einer Regelung ergibt. So wird bei einem besonders groben Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung eine verwerfliche Gesinnung vermutet.350 Da sich meistens herausstellt, dass die unterschiedlichen Mängel einer rechtsgeschäftlichen Regelung erst in ihrem Zusammenspiel zur Sittenwidrigkeit führen, wird teils auch von der Summenwirkung gesprochen.351 Die Inhaltsbestimmung wird dann als ein Zusammenwirken negativer Faktoren, wie etwa dem auffälligen Missverhältnis und der verwerflichen Gesinnung, dargestellt. Diese Überlegung findet ihre Zuspitzung im sogenannten „Sandhaufen-Theorem“.352

b. Die postmoderne Rezeption Postmoderne Rechtsethiken haben angesichts der Referenz auf das bewegliche System als Ordnungskonzept bei der Auslegung von Generalklauseln im Anschluss an die Critical Legal Studies353 den Schluss gezogen, dass Generalklauseln immer antinomisch verfasst seien.354 Inhaltlich pendle jede Rechtsordnung zwischen Individualismus und Kollektivismus. Je nach letztlich historischen Zufällen schlage das Pendel einmal in die eine und einmal in die andere Richtung aus. Entsprechend ändere sich auch die Inhaltsbestimmung von Generalklauseln. Diese Diagnose mündet letztlich in einer zur Auslegung des § 138 BGB nicht hilfreichen rechtstheoretischen Dekonstruktion einer rechtlich eigenständigen Bedeutung der guten Sitten.355

c. Die Abwendung des Bundesgerichtshofs vom beweglichen System Der Bundesgerichtshof hat mit der Rede vom „Zusammenspiel beweglicher Elemente“ den Ansatz des beweglichen Systems in Einzelfällen jedoch nur scheinbar aufgegriffen356 und trotz dieser missverständlichen Formulierung die rechtstheoretischen Implikationen des „beweglichen Systems“ nicht genau übernommen. 357

350 

BGH NJW 2010, 363, Rn. 14; MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 116. 2017, § 138 Rn. 119; Bender, NJW 1980, 1129. 352  So OLG Stuttgart NJW 1979, 2409; für eine Anwendung des „Sandhaufentheorems“ bei § 138 Abs. 1 BGB noch NK-BGB/Looschelders, § 138 Rn. 100. 353 Vgl. Kennedy, Harvard Law Review 89 (1976), S. 1685. 354 Vgl. Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, S. 5 f. und 21. 355 Vgl. Kennedy, Harvard Law Review 89 (1976), S. 1685 und für das deutsche Recht Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, S. 5 f. und 21. 356  BGH NJOZ 2013, 260, Rn. 20. 357  So aber MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 29. 351 Staudinger/Sack/Fischinger,

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Der Bundesgerichtshof prüft lediglich entlang den Kriterien seiner Rechtsprechung, ob auf Grund einer umfassenden Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung aller den Vertrag kennzeichnenden Umstände eine Treuhandabrede zur Verheimlichung von Vermögen vor dem Sozialleistungsträger sittenwidrig sein kann, obwohl das Vermögen weder auf die Billigung noch auf die laufende Gewährung der Sozialleistung einen Einfluss hat. Der Bundesgerichtshof stellt dabei auf die objektiven Verhältnisse, unter denen der Vertrag zustande gekommen ist, seine Auswirkungen sowie die subjektiven Merkmale wie auch auf den verfolgten Zweck und den zu Grunde liegenden Beweggrund ab.358 Der Bundesgerichtshof führt zur Charakterisierung seiner Kriterien zwar aus, dass es sich insoweit um ein „Zusammenspiel beweglicher Elemente“ handle. Ist ein Element besonders ausgeprägt, könne sich bereits allein aus diesem Element die Sittenwidrigkeit ergeben. Dabei wird auf Armbrüster und Soergel/Hefermehl verwiesen, die ihrerseits auf den Bundesgerichtshof verweisen.359 Jedoch wird in der Entscheidungsbegründung unmittelbar im Anschluss die Sittenwidrigkeit der Treuhandabrede schon verneint, weil es an einem objektiven Nachteil durch die Vereinbarung der Parteien fehle. Dabei betont der Bundesgerichtshof, dass eine sittlich zu beanstandende Gesinnung einer oder beider Vertragsparteien dafür nicht genüge.360 Damit wendet sich der Bundesgerichtshof trotz der missverständlichen Formulierung vom Zusammenspiel beweglicher Elemente gegen die entscheidende Grundannahme der Theorie des „beweglichen Systems“. Es kann eben nicht die Schwere des subjektiven Elements die anderen Elemente – hier: den fehlenden objektiven Nachteil – einfach ersetzen.

3. Typenbildung Neben dem oder über den Rückgriff auf die Ordnungsvorstellung des „beweglichen Systems“ werden unterschiedliche Typenbildungen vorgeschlagen, um die guten Sitten zu interpretieren und die Vielfalt der hierzu ergangenen Urteile zu ordnen.

a. Inhalts- und Umstandssittenwidrigkeit Es wird teils zwischen der Inhalts- und der Umstandssittenwidrigkeit unterschieden. Demnach kann sich die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts entweder unmittelbar aus dem Inhalt des Rechtsgeschäfts oder aus besonderen hinzutretenden Umständen ergeben. Während es bei der Inhaltssittenwidrigkeit nur 358 

BGH NJOZ 2013, 260, Rn. 20–23. BGH NJOZ 2013, 260, Rn. 20 m.w.N. 360  BGH NJOZ 2013, 260, Rn. 22. 359 

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auf den Inhalt des Rechtsgeschäfts ankommt, ist bei der Umstandssittenwidrigkeit demnach auf Grund einer umfassenden Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung aller den Vertrag kennzeichnenden Umstände zu beurteilen, ob ein Sittenverstoß vorliegt. Insbesondere sind die objektiven Verhältnisse, unter denen der Vertrag zustande gekommen ist, seine Auswirkungen sowie die subjektiven Merkmale, wie der verfolgte Zweck und der zu Grunde liegende Beweggrund, zu berücksichtigen.361 Die Unterscheidung kann allerdings zum inhaltlichen Verständnis von § 138 BGB wenig beitragen. Denn es geht auch bei Umstandssittenwidrigkeit um den aus der Zusammenfassung von Inhalt, Zweck und Beweggrund folgenden inhaltlichen Gesamtcharakter des Rechtsgeschäfts.362

b. Inhaltliche Entscheidungstypen Teils wird versucht, Rechtsgedanken zu identifizieren, die zwar nicht mit der Konsequenz eines Prinzips verfolgt werden können, aber doch „als bewegliche Elemente den verschiedenen Entscheidungsgruppen erkennbar zu Grunde liegen“.363 So bildete schon Coing364 drei Fallgruppen der inhaltlichen Ausgestaltung der guten Sitten entlang von drei zentralen normativen Leitgedanken: dem Missbrauch von Machtstellungen, dem arglistigen Verhalten im Rechtsverkehr und der Verletzung ethischer Güter. H. Westermann schlägt für die Anwendung des § 138 BGB im Kreditsicherungsrecht fünf Typen vor:365 Konkursverschleppung, Kreditbetrug, Aussaugung, Einschaltung eines Strohmannes, Gläubigergefährdung.366 Armbrüster367 identifiziert derzeit schließlich sieben Sittenwidrigkeitstypen: die Absicherung anerkannter Ordnungen, die Abwehr von Freiheitseinschränkungen, die Abwehr der Ausnutzung von Machtpositionen, die Abwehr der Schädigung Dritter, die Abwehr von schweren Äquivalenzstörungen, die Durchkreuzung verwerflicher Gesinnung und die Abwehr missbilligter Kommerzialisierung und verpönter Zwecksetzungen. Diese Typen hätten zwar nicht 361  BGH NJOZ 2013, 260, Rn. 20 unter Verweis auf Staudinger/Sack/Fischinger, 2011, § 138 Rn. 6 (nun in Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 BGB Rn. 8 ff. und 13 f.); RGRKBGB/Krüger-Nieland/Zöller, Rn. 27. 362 Vgl. BGH NJW 2009, 1346, Rn. 10; NJW-RR 1998, 590 f.; NJW 1988, 2599, 2602; Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 13 f.; Soergel/Hefermehl, § 138 Rn. 19; RGRKBGB/Krüger-Nieland/Zöller, Rn. 27. 363 MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 31. 364  Coing, NJW 1947/48, 213. 365  Westermann, Interessenkollisionen und ihre richterliche Wertung bei den Sicherungsrechten an Fahrnis und Forderungen, S. 29 f. 366  Siehe auch Mayer-Maly, Die guten Sitten des Bundesgerichtshofs, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd. I, 2000, S. 69. 367 MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 33–39.

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den Charakter fest abgrenzbarer „Tatbestände“, da auch ihnen die jedem Typus-Begriff eigentümliche Unschärfe anhafte, sodass sie die Zahl der Fälle, in denen die Rechtsprechung die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts bejaht oder verneint, nicht ausschöpften. Allerdings würden sie für diese normativen Typen in ihrem Zusammenspiel für die meisten Fälle die tragenden Gedanken der Rechtsprechung enthalten.368

c. Normative Probleme der Typenbildung Den vorgeschlagenen Typenbildungen fehlt letztlich eine Zuspitzung auf bestimmte normative Kriterien. Gerade die für eine Typenbildung erforderliche Schärfe durch Zuspitzung wird dort verfehlt, wo von der Unschärfe einer jeden Typenbildung ausgegangen wird.369 Insoweit leiden die vorgeschlagenen Typisierungen genau an ihrer Unschärfe, die wiederum zu einer Vielzahl möglicher Typisierungen führt. Daher fungiert die unscharfe Typenbildung letztlich als Heuristik einer Zusammenfassung der existierenden Rechtsprechung, nicht aber als Korpus normativer Kriterien zur Bedeutungsbestimmung der guten Sitten als Rechtsbegriff.

4. Die rechtsimmanente Interpretation der guten Sitten im Ausgang von der Handlungshoheit a. Wertvorstellungen Die auf Wertvorstellungen oder Gesellschaftstheorien gegründeten Deutungen der guten Sitten ermöglichen zwar jeweils eine bestimmte inhaltliche Auslegung der guten Sitten. Sie können so unterschiedliche, außerrechtlich entworfene Leitbilder menschlichen Handelns wie etwa aristotelische Tugend- oder Gerechtigkeitsvorstellungen im Wege der Auslegung als ein rechtlich-verbindliches Verständnis der guten Sitten ausgeben. Die unterschiedlichen außerrechtlichen, öffentlichen Leitbilder wie auch die damit einhergehenden Wertvorstellungen können auf diesem Weg als Teil der Rechtsordnung bezeichnet werden. Aber das Privatrecht filtert gerade bei der Auslegung der guten Sitten zunehmend außerrechtliche Wertvorstellungen wegen seiner Ausrichtung auf die vertragliche Bindung, die, unabhängig von der herrschenden Sozial- und Wirtschaftsmoral, ihrer gesellschaftstheoretischen Beschreibung und sozialphilosophischen Begründungsdiskursen, funktioniert und verstanden werden kann.

368 MüKo-BGB/Armbrüster, 369 

§ 138 Rn. 32. So aber MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 32.

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b. Die Verrechtlichung individueller und kollektiver Autonomie Genau wegen der Fokussierung der vertraglichen Bindung können letztlich weder außerrechtliche Wertvorstellungen noch gesellschaftstheoretische Vorgaben in rechtlich überzeugender Weise direkt zur inhaltlichen Bestimmung der guten Sitten herangezogen werden. Der Schutz der Vertragsfreiheit durch die Auslegung der guten Sitten verlangt die Vermittlung der ihrerseits jeweils schon verrechtlichten individuellen und öffentlichen Autonomie.370 Verfassungsrechtliche Vorgaben, einfachgesetzliche Regelungen und Richterrecht sichern die Berücksichtigung der rechts­ immanenten normativen Vorgaben ab. Der Schutz der Vertragsfreiheit durch die Vermittlung der jeweils schon verrechtlichten individuellen und öffentlichen Autonomie dient der inhaltlichen Bestimmung der Grenzen der Vertragsfreiheit und nicht allein ihrer Einschränkung. Gerade auch die Diskussion um die Auslegung der guten Sitten verdeutlicht, dass der Freiheitsbegriff der Privatautonomie nicht nur mit einer unbegrenzten Freiheit des Beliebens gleichgesetzt werden darf,371 aber auch nicht in einem Abwägungs- oder Ordnungsdenken aufgehen kann.372 Die Herausforderung der Auslegung des § 138 BGB im Einzelfall besteht darin, Vertragsfreiheit und ihre rechtliche Formgebung durch den Begriff der guten Sitten rechtsimmanent zusammenzudenken, um die weitere rechtliche Handlungshoheit der beteiligten Privatrechtssubjekte abzusichern. Das kann nur gelingen, wenn die Begründung von Schutzvorschriften auf die rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit fokussiert wird. Der Schutz der Entscheidungsfreiheit muss zumindest drei Bedingungen genügen: 1.  Den Ausgangspunkt der Begründung muss die in normenbegründungstheoretischer Hinsicht plurale Gesellschaft der Gegenwart und damit das Nebeneinander von individueller und öffentlicher Autonomie bilden. 2.  Das Verhältnis von individueller und öffentlicher Autonomie kann unter den Bedingungen des demokratischen Rechtsstaats nicht durch Verweise auf die herrschende Sozial- und Wirtschaftsmoral bestimmt werden. Es kann lediglich entweder (wie mit der Systemtheorie Luhmanns) gesellschaftstheoretisch beschrieben werden oder normativ (wie mit der Diskurstheorie nach Habermas) im Hinblick auf die Struktur einer bestimmten Rechtsordnung kritisiert wer370  Für ein solches rechtsphilosophisches Verständnis von Grundrechten Jakl, Absoluter Grundrechtsschutz oder interaktive Grundrechte?, in: Siep/Gutmann/Städtler/Jakl (Hrsg.), Von der religiösen zur säkularen Begründung staatlicher Normen, 2012, S. 239–268, insb. S. 240 f. und 267 f. 371  Für die Privatrechtsgeschichte des BGB weist Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, S. 2 f., 152–154 auf die anfänglichen Schwierigkeiten bei der Akzeptanz der Vertragsfreiheit hin. 372 S. o. Teil 1 A. II. zum beweglichen System und zur Konkretisierung am Beispiel der guten Sitten auch Teil 3 A. V. 2.

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den.373 Daraus lässt sich jedoch keine Inhaltsbestimmung der guten Sitten als Rechtsbegriff ableiten. 3.  Das normative Verhältnis von privater und öffentlicher Autonomie innerhalb des Privatrechts ist eines, das durch zahlreiche wechselseitige Rückkoppelungen zum Verfassungsrecht wie auch zu einfachgesetzlichen Regelungen gekennzeichnet ist, durch die der Freiheit des Privatrechtssubjekts ihre rechtliche Form gegeben wird. Dabei gilt es, auch den indirekten Effekten verfassungsrechtlicher Vorgaben nachzugehen, ohne aber die ebenso verfassungsrechtlich abgesicherte zentrale normative Voraussetzung des Respekts vor und der Anerkennung der individuellen rechtsgeschäftlichen Entscheidungsfreiheit immer schon im Namen einer inhaltlich bestimmten Position oder eines Ordnungsdenkens zurückzustellen. Zum Schutz der Entscheidungsfreiheit dürfen daher gerade bei der rechtlichen Bedeutungsbestimmung der guten Sitten weder eine bestimmte Art von inhaltlich bestimmter positiver Freiheit vorausgesetzt werden noch paternalistische Konsequenzen gezogen werden. Die Entscheidungsfreiheit ist ein zentraler Ausdruck individueller Handlungshoheit und damit auch individueller Selbstverwirklichung. Sie ist insoweit grundsätzlich auch von jeder öffentlichen Ordnung zu respektieren. Jedenfalls muss auch ein allgemeinwohlorientierter Schutz der Entscheidungsfreiheit im Namen der kollektiven Handlungshoheit dem Aspekt der individuellen Handlungshoheit Rechnung tragen. Vor diesem Hintergrund lassen sich spezifische Formen des Schutzes der rechtsgeschäftlichen Entscheidungsfreiheit durch die guten Sitten im Sinne des Abs. 1 unterscheiden, die von der Grundidee des verbindlichen Austauschvertrags ausgehen und sodann durch die Berücksichtigung weiterer rechtlich verbindlicher Normen für die Ausübung privater oder öffentlicher Autonomie für bestimmte Handlungsbereiche inhaltlich angereichert werden.

c. Die Handlungshoheit im Verhältnis der Geschäftspartner Im Verhältnis der Vertragsparteien zueinander lassen sich der Rechtsprechung unter der Perspektive des Respekts vor der individuellen Entscheidungsfreiheit anerkannte normative Kriterien entnehmen, die einen Sittenverstoß begründen. Die bloße Verletzung vertraglicher Leistungspflichten kann die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts nicht begründen. Der Sittenverstoß muss auf die normativen Kriterien zurückgeführt werden, die über die Vertragsverletzung hinaus bei jedem vertraglichen Rechtsgeschäft zu beachten sind. Das Kriterium des auffälligen Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung und die Überforderung sind von der Rechtsprechung anerkannte normative Kriterien. Diese Kriterien bilden Konkretisierungen des Schutzes 373 S. o.

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der rechtsgeschäftlichen Entscheidungsfreiheit, der wiederum das normative Herzstück einer rechtlichen Interpretation der guten Sitten bildet. Die Entscheidungsfreiheit und ihre Reichweite präfigurieren wiederum das Verständnis und Gewicht der Vertragsfreiheit innerhalb einer Rechtsordnung. Das auffällige Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung enthält zwar noch geschichtliche Referenzen an die Grundidee der Tauschgerechtigkeit. Allerdings dienen Verträge dem wechselseitigen Leistungsaustausch und nicht der Umsetzung von Gerechtigkeitsvorstellungen. Zweiseitigen Verträgen, die dem Grundgedanken des „do ut des“ in von außen erkennbarer Art und Weise nicht mehr Rechnung tragen, muss daher die Anerkennung durch die Rechtsordnung versagt werden. Das Kriterium des „auffälligen Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung“ darf allerdings genau deswegen nicht mehr mit der Idee einer objektiven Tauschgerechtigkeit oder einer inhaltlichen Konzeption von Vertragsgerechtigkeit verwechselt werden.374 Gerade weil jeder zweiseitige Vertrag erst durch die Ausübung individueller Entscheidungsfreiheit beider Vertragsparteien seine Verbindlichkeit gewinnt, sperrt sich § 138 BGB aus Gründen der Vertragsfreiheit einer Deutung, die diese Generalklausel als Einfallstor für eine umfassende inhaltliche Konzeption von Vertragsparität nutzen möchte. Zwar geht auch das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass Verträge den Kriterien auch des Regimes der ausgleichenden Gerechtigkeit unterworfen sind. Jedoch ist die individuelle Vertragsfreiheit ebenso verfassungsrechtlich als subjektives Recht geschützt. Auch deshalb gilt es hier nicht, allgemeine soziale Bezüge durch Abwägungen zu berücksichtigen, sondern vielmehr, wie bei der Vertragsauslegung, die Umstände des Vertrags einzubeziehen und zu beurteilen, die dem Vertrag aus Sicht der beteiligten Parteien seinen Sinn geben. Die Überforderung ist als Ausdruck des Schutzes der Entscheidungsfreiheit zu verstehen. Auch ein einseitig verpflichtender Vertrag darf nicht eine Vertragspartei dazu verpflichten, ihre Lebensressourcen zur Gänze der Erfüllung einer einzigen vertraglichen Leistungspflicht zu widmen. Die Überforderung legitimiert allerdings ebenso wenig wie die Referenz an die Grundidee der Tauschgerechtigkeit die Inkorporation eines inhaltlich aufgeladenen Konzeptes von Vertragsparität, das bestimmte gesellschaftliche Vorgaben durch das Recht umsetzen möchte. Der Schutz der Entscheidungsfreiheit schließlich konkretisiert darüber hinaus die Idee der Handlungshoheit freier und insoweit gleicher Rechtspersonen. Diese Grundidee des Vertragsrechts wird vor allem durch den Schutz vor Aus374 So etwa Lauber, Paritätische Vertragsfreiheit durch reflexiven Diskriminierungsschutz, mit der Forderung nach einer würdigen Vertragsgestaltung. Innerhalb der Grenzen einer letztlich auf metaphysischen Hintergrundannahmen beruhenden Aristotelesrezeption verbleiben dagegen Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 29 f. und 58 f. sowie Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 172 ff., 177 ff., 441. Dazu im Einzelnen Teil 2 D. III.

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beutung und Zwang umgesetzt. Dabei sind durch § 123 BGB und § 823 BGB bereits typische Situationen geregelt. Zum Schutz der Entscheidungsfreiheit durch § 138 Abs. 1 BGB kann daher im Ausgang der Grundidee des Leistungsaustausches die Sittenwidrigkeit durch die Verletzung der Entscheidungsfreiheit unter Hinzunahme weiterer rechtsgebietsspezifischer Grundwertungen begründet werden, die die Verletzung verstärken oder ermöglichen. Es geht um die Handlungsweisen und Umstände, die selbst nicht mit der Rechtsordnung vereinbar sind, ohne jedoch einen Verstoß gegen ein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB darzustellen. Dabei müssen grundsätzlich die Verletzung der rechtsgebietsspezifischen Grundwertungen wie auch die besonderen Umstände für den sittenwidrig Handelnden erkennbar sein.

d. Die Handlungshoheit und die Schädigung der Allgemeinheit oder Dritter Sittenverstöße auf Grund der Schädigung der Allgemeinheit oder Dritter sind anders als Sittenverstöße gegenüber Geschäftspartnern nicht an eindeutig anerkannte normative Kriterien wie das auffällige Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung, die Überforderung oder den Schutz der Entscheidungsfreiheit geknüpft. Ein Sittenverstoß auf Grund der Schädigung der Allgemeinheit oder Dritter liegt objektiv erst vor, wenn rechtsgebietsspezifische Grundwertungen, welche die nichtdispositiven normativen Rahmenbedingungen der Ausübung der Entscheidungsfreiheit bilden, unter Hinzunahme weiterer Umstände verletzt werden, die die Verletzung verstärken, ermöglichen und selbst nicht mit der Rechtsordnung vereinbar sind. Auch das subjektive Element ist hier weniger stark konturiert. Die Begründung von Sittenverstößen durch die Schädigung der Allgemeinheit oder Dritter trägt daher stets gemeinwohlorientierte oder auch paternalistische Züge. Sie steht daher immer in der Gefahr, über den Schutz der Entscheidungsfreiheit hinaus die private Rechtssetzung allein für gesellschaftliche Zwecke zu instrumentalisieren. Das liegt zum einen daran, dass gerade hier aus historischen Gründen zahlreiche gesellschaftliche Vorstellungen als verbindliche Rechtswerte in die Rechtsordnung eingeflossen sind. Dies geht zentral auf die um 1900 und nach 1945 weiter verbreitete Überzeugung zurück, dass außerrechtliche allgemeine soziale Wertvorstellungen von der Rechtsordnung zu beachten sind.375 Hier wird besonders deutlich, dass das Recht selbst zum Anknüpfungspunkt für gesellschaftliche Erwartungen gemacht werden kann und sich insoweit vom 375 

Dazu HKK/Haferkamp, § 138 Rn. 31 m.w.N.

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Willen der Parteien entfernt. Gerade bei der Argumentation mit der Schädigung der Allgemeinheit oder Dritter wird dem Recht besonders leicht eine nichtkonsensuelle Ebene im Namen gesellschaftlicher Erwartungshaltungen unterstellt.376 Zum anderen gibt es aber die Fallgruppen, die gesetzlich nicht geregelte, aber nicht mit dem Gedanken des Vertragsrechts oder etablierten Beständen der Rechtsordnung zu vereinbarende Verhaltensweisen durch § 138 BGB in die Rechtsordnung eingemeinden. Hier steht insbesondere der Schutz der Funktions­fähigkeit bestimmter Rechtsinstitute im Mittelpunkt, die der Einzelne als Rahmen­bedingungen seiner Lebensgestaltung vorfindet oder ver­ wendet. Gerade verfassungsrechtlichen Vorgaben kommt bei der rechtlichen Ausformung der Schädigung der Allgemeinheit oder Dritter eine tragende Rolle zu. Zum einen filtern sie durch die Betonung der Abwehrfunktion subjektiver Grundrechte zunehmend außerrechtliche, gesellschaftliche Erwartungshaltungen und dienen insoweit dem Schutz der Entscheidungsfreiheit (R Kommerzialisierung, religiöses Bekenntnis, Sexualsphäre, Testament). Zum anderen verleihen sie aber auch durch den Verweis auf verfassungsrechtliche Institutsgarantien und Schutzpflichten erst dem zivilrechtlichen Sittenverstoß die erforderliche Schwere.

VI. Die Bedeutung des subjektiven Elements für die Individualisierung des Sittenverstoßes Während das Reichsgericht den Vorwurf der Sittenwidrigkeit noch von einer „verwerflichen Gesinnung“377 oder „Gewissenlosigkeit“ abhängig gemacht ­hatte,378 genügt es dem Bundesgerichtshof, wenn die Beteiligten die tatsächlichen Umstände gekannt haben, die die Sittenwidrigkeit begründen oder aber sich deren Kenntnis bewusst entzogen oder verschlossen haben.379 Eine so verstandene verwerfliche Gesinnung liegt insbesondere vor, wenn die überlegene Vertragspartei die wirtschaftlich schwächere Lage des anderen Teils, dessen Unterlegenheit, bei der Festlegung der Vertragsbedingungen bewusst zu

376  Für diesen gesellschaftlichen Mechanismus des Vertrags als soziale Struktur in affirmativer Absicht Wielsch, Iustitia Mediatrix, in: FS Teubner, 2009, S. 395–414, insb. 398–403. Zu den Problemen der Einbettung individuellen Handelns in einen gesellschaftlichen Zusammenhang ausführlich Teil 2 E. III. und IV. 377  RGZ 58, 219, 220 ff.; 150, 1, 5. 378  RG JW 1914, 83 Nr. 14. 379  BGHZ 160, 8, 14 = NJW 2004, 2671, 2673; BGH NJW 1982, 1455; BGHZ 20, 43, 48 = NJW 1956, 706, 707.

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ihrem Vorteil ausgenutzt oder sich zumindest leichtfertig der Erkenntnis verschlossen hat, dass sich der andere Teil nur auf Grund seiner schwächeren Lage auf die ihn beschwerenden Bedingungen eingelassen hat.380

1. Die Kriterien der Rechtsprechung Auf subjektiver Seite ist nach der Rechtsprechung daher grundsätzlich zu prüfen, ob die Handelnden zumindest Kenntnis von den tatsächlichen Umständen hatten, welche die Sittenwidrigkeit begründen.381 Im Falle der Sittenwidrigkeit gegenüber dem Vertragspartner muss der sittenwidrig Handelnde die subjektiven Voraussetzungen erfüllen.382 Im Falle der Sittenwidrigkeit gegenüber Dritten oder gegenüber der Allgemeinheit verlangt die Rechtsprechung grundsätzlich, dass die subjektive Voraussetzung der Kenntnis der tatsächlichen Umstände bei allen Beteiligten vorliegen muss.383 Dabei können sich die sittenwidrig Handelnden nicht auf die Gutgläubigkeit eines Beteiligten berufen, wenn ihnen dies zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht bewusst war.384

2. Die Kritik des subjektiven Tatbestands Der Rechtsprechung wird überwiegend zugestanden, dass sie meist zu überzeugenden Ergebnissen führe.385 Aber gerade wegen des subjektiven Elements wird sie kritisiert. Die entsprechenden Rückschlüsse aus dem objektiven Missverhältnis seien fiktiv.386 Die Erforderlichkeit eines subjektiven Tatbestands wird trotz seiner Abmilderung durch den Bundesgerichtshof auf die Erkennbarkeit der die Sittenwidrigkeit begründenden Umstände stark kritisiert. Demnach kann ein Rechtsgeschäft allein auf Grund der objektiven Umstände sittenwidrig sein. Dies wird mit dem Willen des historischen Gesetzgebers belegt.387 Demnach ist die Grenze der Sittenwidrigkeit dort zu ziehen, wo das Rechtsgeschäft in objektiver Hinsicht und „unter Ausscheidung der subjektiven Seite“ die guten Sitten verletzt.388 Der subjektive Tatbestand könne dazukommen, sei aber entgegen der

380 

BGHZ 128, 255, 257 = NJW 1995, 1019. BGHZ 160, 8, 14 = NJW 2004, 2671, 2673; schon RGZ 97, 253, 255. 382  BGHZ 50, 63, 70 = NJW 1968, 1571. 383  BGH NJW 2007, 1447, 1448; MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 132; Palandt/Ellenberger, § 138 Rn. 8, 40. 384  BGH NJW-RR 1990, 750, 751. 385 MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 132. 386  Canaris, AcP 200 (2000), S. 273 (301); vgl. auch MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 117 m.w.N. 387  Vgl. nur Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 146–150. 388  Mot. I 211. 381 

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

Rechtsprechung nicht stets und immer zu prüfen. Entscheidend sei der objektiv richtige Maßstab. Die Prüfung eines subjektiven Tatbestands wird auf die ältere Rechtsprechung des Reichsgerichtes zurückgeführt. Diese beruhe aber auf einer unbegründeten und nur sprachlich empfindlichen Verwendung der Begriffe „Gesinnung“ und „Gewissen“, die noch davon ausgehe, dass der Vorwurf der Sittenwidrigkeit mit einem außerrechtlichen, ethischen Makel behaftet sei.389 Letztlich werde aus einer ethischen Natur der guten Sitten abgeleitet, dass der Vorwurf der Sittenwidrigkeit die Verwirklichung eines subjektiven Tatbestands erfordere.390 Ein solcher sittlicher Vorwurf sei aber zum einen nicht vereinbar mit der Bewertung eines Rechtsgeschäfts.391 Zum anderen beruhe das Erfordernis des subjektiven Tatbestands auf einer Fehlinterpretation der „Anstandsformel“, da an das Anstandsgefühl der Täter angeknüpft werde.392

3. Die Leistungsfähigkeit des subjektiven Elements im Hinblick auf die individuelle Handlungshoheit Soweit die Vermutung des subjektiven Elements als Ausdruck einer verwerf­ lichen Gesinnung gedeutet wird, ist die Kritik durch die Vertreter der objektiven Theorie berechtigt. § 138 Abs. 1 BGB darf keine Gesinnungsjustiz mit außerrechtlichen Wertmaßstäben begründen. Allerdings ist der Kritik entgegenzuhalten, dass die Rechtsprechung letztlich entlang der Linien der Verschuldensvermutung an anderen Stellen des BGB arbeitet, indem sie rechtlich bewährte und differenzierte Anforderungen an die Vermutung anlegt, die an äußere Umstände anknüpft. Der subjektive Tatbestand verlangt insoweit keine Gesinnungsprüfung. Zudem werden auch, gerade anders als beim Abstellen auf rein objektive Kriterien, entsprechende Widerlegungsmöglichkeiten berücksichtigt. Gerade die Möglichkeit der Widerlegung der Vermutung des subjektiven Elements eröffnet teils erst eine im Einzelfall überzeugende Entscheidung, die auch der individuellen Handlungshoheit gerecht wird. Es erscheint daher wegen der Auslegung der guten Sitten als Rechtsbegriff vor dem Hintergrund der Wichtigkeit von Verschuldensvermutungen an anderen Stellen der Rechtsordnung nicht überzeugend, das subjektive Merkmal einer Erkennbarkeit aufzugeben. Zwar kann sich die Sittenwidrigkeit eines Geschäfts unter besonders krassen Umständen schon aus seinem objektiven Inhalt ergeben.393 Jedoch ist es nicht zuletzt im Sinne der Verrechtlichung nicht geregelter 389 

Schricker, AcP 172 (1972), S. 203 (209); Mayer-Maly, AcP 194 (1994), S. 105 (172). 2017, § 138 Rn. 148. 391 Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 149 f. 392 Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 150. 393  Vgl. MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 129; Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 390 Staudinger/Sack/Fischinger,

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Sachverhalte überzeugender, statt einer gegenüber subjektiven Faktoren gleichgültigen Gesamtwürdigung in einem beweglichen System die durch das subjektive Element gewonnene rechtliche Differenzierungsleistung auch bei § 138 Abs. 1 BGB beizubehalten. Das belegen auch die verfahrensrechtlichen Möglichkeiten zur Widerlegung des subjektiven Elements, die es erst in den Fällen der Bürgschaft unter Angehörigen, der Beurteilung von Gesellschaftsverträgen oder auch im Ehe- und Familienrecht ermöglichen, der individuellen Handlungshoheit gerecht zu werden.394

VII. Die gesetzliche Konkretisierung der Sittenwidrigkeit durch § 138 II BGB als Ausbeutungsschutz § 138 Abs. 2 BGB normiert den Wuchertatbestand. Er ist gegenüber § 138 Abs. 1 BGB die speziellere Norm.395 Der Anwendungsbereich des Abs. 2 ist seinerseits durch seine im Vergleich zu Abs. 1 hohen Voraussetzungen gerade auch im Hinblick auf den subjektiven Tatbestand und die subjektive Kenntnis des Wucherers über die Ausbeutungslage eingeschränkt. Rechtsgeschäfte, die den Wuchertatbestand nur in Ansätzen erfüllen, können als wucherähnliches Geschäft nach Abs. 1 nichtig sein. Das Wuchergeschäft kann grundsätzlich auch nach § 134 BGB in Verbindung mit § 291 StGB nichtig sein.396 Jedoch sind die Voraussetzungen des § 291 StGB als Strafrechtsnorm im Vergleich zu § 138 Abs. 2 BGB als zivilrechtliche Norm noch enger, was auch einer Funktionslosigkeit des § 138 Abs. 2 BGB entgegensteht.

1. Auffälliges Missverhältnis § 138 Abs. 2 BGB setzt objektiv ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung voraus. Im Verhältnis zu § 138 Abs. 1 BGB ergibt sich bereits auf der objektiven Ebene eine Einschränkung seiner Anwendbarkeit auf Austauschverträge. Es gilt hier für das auffällige Missverhältnis, was bei Abs. 1 bereits anhand der Rechtsprechung zum wucherähnlichen Geschäft entwickelt wurde.397

Rn. 147. Für eine Prüfung objektiver und subjektiver Elemente dagegen Jauernig/Mansel, § 138 BGB Rn. 8. 394 S. o. Teil 3 A. III. 5., 6.b. und Teil 3 A. IV. 1. 395 MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 4; Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 236. 396 BeckOK-BGB/Wendtland, § 138 Rn. 42. 397  Teil 3 A. III.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

2. Subjektive Voraussetzungen Subjektive Voraussetzungen des Wuchers im Sinne des Abs. 2 sind das Ausbeuten der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche des anderen Teils.

a. Ausbeutung § 138 Abs. 2 BGB setzt neben einem auffälligen Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung (objektives Tatbestandsmerkmal) die Ausnutzung einer – auf einer Zwangslage, der Unerfahrenheit, dem Mangel im Urteilsvermögen oder einer erheblichen Willensschwäche beruhenden – besonderen Schwäche­ situation beim Bewucherten durch den Wucherer voraus. Dafür ist keine Ausbeutungsabsicht des Wucherers erforderlich, wohl aber ist es notwendig, dass dieser Kenntnis vom auffälligen Missverhältnis und der Ausbeutungssituation hat und sich diese Situation vorsätzlich zunutze macht.398 Wegen der weitgreifenden Folgen des Wuchers werden durch § 138 BGB strenge Anforderungen an das Vorliegen des subjektiven Tatbestands des Abs. 2 gestellt.399 Die aus dem groben Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung folgende tatsächliche Vermutung einer verwerflichen Gesinnung des begünstigten Vertragsteils kann zwar grundsätzlich auf den Ausbeutungsvorsatz des Wucherers übertragen werden. Unzulässig ist eine solche Übertragung aber bereits dann, wenn das Leistungsmissverhältnis dem davon profitierenden Vertragsteil unbekannt war. Auf die Erkennbarkeit kommt es dann nicht an. Bei § 138 Abs. 2 BGB kann, anders als bei Abs. 1, daher nicht allein von einem auffälligen Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung auf den Ausbeutungsvorsatz geschlossen werden. Das Äquivalenzmissverhältnis allein ist bei Abs. 2 keine tragfähige Grundlage für die Vermutung eines Willens zur vorsätzlichen Ausbeutung einer Schwäche des benachteiligten Vertragsteils.400 Bei dem subjektiven Tatbestand des § 138 Abs. 2 BGB müssen insoweit strenge Anforderungen an die im Einzelfall zu treffenden Feststellungen gestellt werden. Von einer tatsächlichen Vermutung für das Vorliegen der subjektiven Tatbestandsmerkmale darf allein dann ausgegangen werden, wenn nicht nur ein auffälliges, sondern ein besonders grobes Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung vorliegt.401 Davon kann bei einer recht knappen Überschreitung der Grenze zum auffälligen Missverhältnis jedenfalls noch nicht die Rede sein.402

398 

BGH NJW 2017, 2403, Rn. 13; ebenso schon NJW-RR 1990, 1199. BGH NJW 1994, 1275; BGH NJW 2006, 3054, Rn. 30. 400  BGH NJW-RR 2011, 880, Rn. 9 f. 401  BGH NJW 1994, 1275; NJW-RR 1990, 1199. 402  BGH WM 2000, 1580, 1581. Vgl. hierzu die Anm. Schmidt-Lademann, LM H. 11– 399 

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b. Zwangslage Die wucherische Ausbeutung einer Zwangslage setzt voraus, dass der wucherisch handelnde Geschäftspartner dem bewucherten Geschäftspartner eine Geld- oder Sachleistung erbringen soll, auf die der bewucherte Geschäftspartner zur Behebung seiner Zwangslage angewiesen ist.403 Von der Ausbeutung einer Zwangslage oder einem ähnlich gewichtigen, erheblich über den typischen Tatbestand einer arglistigen Täuschung hinausgehenden Vorwurf, mit dem § 138 BGB den Makel der Sittenwidrigkeit verbindet, kann neben Abs. 2 nicht gesprochen werden.404 Ist ein Rechtsgeschäft durch arglistige Täuschung oder widerrechtliche Drohung zustande gekommen, so kann § 138 Abs. 2 BGB neben § 123 BGB nur dann anwendbar sein, wenn weitere Umstände als die unzulässige Willensbeeinflussung hinzutreten, die das Geschäft seinem Gesamtcharakter nach als sittenwidrig erscheinen lassen.405 Für eine Zwangslage ist erforderlich, dass vorhandene Rechtspositionen gefährdet sind.406 Wirtschaftliche oder soziale Unerfahrenheit sind daher ebenso wie das Scheitern von Zukunftsplänen nicht mit einer Zwangslage gleichzu­ setzen. Eine Zwangssituation kann bei Abschluss des Kaufvertrags aus der Anordnung der Zwangsversteigerung des Kaufgegenstands, etwa eines Grundstücks, folgen.407 Sie wird durch die bei Abschluss des Kaufvertrags unmittelbar bevorstehende Beendigung der zur Vermeidung der Versteigerung von der Gläubigerin gesetzten Frist noch gesteigert.408 Wirtschaftliche Unerfahrenheit ist keine Zwangslage. So ergibt sich aus dem Umstand, dass ein Käufer in Angelegenheiten der Finanzierung unerfahren ist, nicht zugleich, dass er auch keine Kenntnisse über die für vergleichbare Immobilien am Markt geforderten Preise hat und der Verkäufer das ausgenutzt hat. Dieser darf vielmehr grundsätzlich davon ausgehen, dass sein künftiger Vertragspartner sich insoweit selbst im eigenen Interesse Klarheit verschafft hat.409 Auch ein anderweitig nicht zu befriedigender Kreditbedarf begründet grundsätzlich keine Zwangslage im Sinne des Abs. 2. Es reicht nicht aus, wenn ohne den Kredit bloße Zukunftspläne scheitern würden. Erst recht genügt es 12/2000 § 138 (Bc) Nr. 88; vgl. zu BGH NJW 1994, 1275 auch die Bespr. von Grunewald, LM H. 7/1994 § 138 (Ba) Nr. 13. 403 NK-BGB/Looschelders, § 138 Rn. 366. 404  BGH NJW 2008, 982, Rn. 11. 405  BGH NJW 1988, 902, 903. 406  BGHZ 154, 47, 49 = NJW 2003, 1860, 1861 im Anschluss an BGH NJW 1994, 1275, 1276. 407  BGH BeckRS 2010, 09044. 408  BGH BeckRS 2010, 09044 m. Anm. Grziwotz, ZfIR 2010, 589 f. 409  BGH NJW 2010, 363; BGH NJW 2002, 1811, 1812; BGH NJW 2005, 820, 821.

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nicht, wenn einer Projektplanung nur Einschränkungen oder zeitliche Verschiebungen drohen.410 Nicht in einer Zwangslage befindet sich ein Jurist auch kurz nach dem Ablegen des Zweiten Juristischen Staatsexamens bei Abschluss eines Mietvertrags für Kanzleiräume. Dies gilt auch dann, wenn der Jurist noch arbeitsuchend ist.411 Es besteht auch keine zu einer Zwangslage verdichtete soziale oder wirtschaftliche Abhängigkeit einer mit auskömmlichen Einkünften voll berufstätigen Ehefrau von ihrem noch in der Hochschulausbildung befindlichen Ehemann, wenn diese im Ehevertrag entsprechende Verzichtserklärungen abgibt. Auch eine mögliche intellektuelle Unterlegenheit der Ehefrau gegenüber einem auf Grund eines entsprechenden Studiums juristisch versierten Ehemann kann die Annahme ungleicher Verhandlungspositionen beim Abschluss des Ehevertrags nicht begründen.412 Es lässt sich beispielsweise keine Zwangslage einer Ehefrau daraus herleiten, dass der Ehemann im Falle der Verweigerung eines Ehevertragsschlusses mit entsprechenden Unterhaltsverzichtserklärungen die Hochzeit abgesagt hätte und die Ehefrau dadurch unter den gesellschaftlichen Verhältnissen des Jahres 1977 einer besonderen sozialen Stigmatisierung und Ächtung als sogenanntes „gefallenes Mädchen“ ausgesetzt gewesen wäre.413 Es liegt ebenfalls keine Ausnutzung der Zwangslage der Ehefrau bei Drohung, die Eheschließung ohne vertraglichen Unterhaltsverzicht „platzen zu lassen“, vor. Einerseits besteht für die Ehefrau angesichts einer Schwangerschaft ersichtlich ein starkes und auch begreifliches Interesse, durch eine Heirat mit dem Ehemann als Vater des von ihr erwarteten Kindes eine gesicherte Versorgung zu erlangen, insbesondere da die schwangere Ehefrau damit rechnen muss, durch die Betreuung des Kindes auf längere Zeit gehindert zu sein, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Ein Verzicht auf die Eheschließung mag zudem dadurch erschwert sein, dass die Verwandten die Heirat erwarten und ein Hochzeitstermin bereits festgesetzt ist. Jedoch ist der Ehemann rechtlich zu keiner Zeit zur Heirat verpflichtet. Auch auf Grund seines Eheversprechens kann die Ehefrau von ihm nicht die Eingehung der Ehe verlangen.414 Eine Mitarbeit der Ehefrau in der Praxis des Ehemannes vor Abschluss des Ehevertrags und vor Eingehung der Ehe lässt nicht den Schluss auf eine derart ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Abhängigkeit zu, dass von einer Zwangslage oder gravierenden Störung der Vertragsparität ausgegangen werden kann.415 410 

BGH NJW 1994, 1275, 1276. BGH NJW 2015, 1093, Rn. 18. 412  BGH NJW 2013, 380, Rn. 24. 413  BGH NJW 2013, 380, Rn. 23 ff. 414  BGH NJW 1992, 3164. 415  BGH NJW 2005, 1370, 1371 f. 411 

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Eine psychische Bedrängnis kann eine Zwangslage im Sinne des § 138 Abs. 2 BGB darstellen.416 Die psychische Zwangslage oder persönliche Verstrickung, deren Ausbeutung zur Nichtigkeit des ausbeuterischen Rechtsgeschäfts führt, muss sich jedoch aus der gegenwärtigen Situation des ausgebeuteten Partners ergeben.417 Dies ist etwa bei der Vereinbarung einer Entschädigungsleistung nach einer Vergewaltigung möglich. Dagegen begründet die Befürchtung eines Geschäftspartners, seine Zukunftspläne könnten sich ohne das Rechtsgeschäft zerschlagen, eine solche Zwangslage infolge psychischer Bedrängnis nicht.418

c. Unerfahrenheit Der Begriff der „Unerfahrenheit“ in § 138 Abs. 2 BGB ist an den allgemeinen Anforderungen des jeweiligen Verkehrskreises zu messen. Dabei wird teils gefordert, allein auf die partielle Unerfahrenheit auf einem bestimmten rechtlichen, wirtschaftlichen oder technischen Gebiet abzustellen.419 Die Rechtsprechung verlangt dagegen eine umfassend mangelnde Erfahrung im Geschäftsleben oder im Wirtschaftsleben.420 Bei Personen, die mit dem Geschäftsleben kaum (mehr) in Berührung kommen, zum Beispiel bei manchen Pensionären/älteren Verbrauchern, kann geschäftliche Unerfahrenheit vorliegen. Eine Geschäftspraktik, die darauf angelegt ist, unter bewusster Ausnutzung der rechtlichen und geschäftlichen Unerfahrenheit der angesprochenen Personen diese durch eine massive Häufung von Gewinnzusagen und wiederholte Appelle, dabei – einschließlich der Bestellungen – auch alles „richtig“ zu machen, zum Kauf von Gegenständen zu verleiten, die sie sonst nicht erworben hätten, ist daher sittenwidrig.421 Nicht unerfahren im Sinne des § 138 Abs. 2 BGB ist ein Jurist kurz nach dem Ablegen des Zweiten Juristischen Staatsexamens, auch wenn er als Berufsanfänger und als Anwalt „unerfahren“ im alltagssprachlichen Sinne ist. Denn dies bedeutet nicht, dass er den allgemeinen Anforderungen des Geschäftsverkehrs nicht gewachsen wäre, wie sie für den Abschluss eines Mietvertrags für Kanzleiräume nötig sind.422 Bei Verträgen über das sogenannte „Life-Coaching“ bzw. Kartenlegen dürfen jedenfalls keine allzu hohen Anforderungen an einen Verstoß gegen die guten Sitten im Sinne des Abs. 1 gestellt werden.423 Denn die Dienstberechtig416 

Vgl. BGH NJW 1991, 1046. BGH NJW 1991, 1046, 1047. 418  BGHZ 154, 47, 49 = NJW 2003, 1860, 1861. 419  So Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 281. 420  BGH NJW 1957, 1274. 421  BGH NJW 2005, 2991, 2992; BGH NJW 2012, 3366, Rn. 27 und 29 f. Zust. Armgardt, NJW 2012, 3368. 422  BGH NJW 2015, 1093, Rn. 18. 423  BGHZ 188, 71, 78 = NJW 2011, 756, Rn. 21. 417 

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ten aus einem solchen Vertrag befinden sich meist in einer schwierigen Lebens­ situation, oder es handelt sich bei ihnen um leichtgläubige, unerfahrene oder psychisch labile Personen,424 auch wenn sie nicht unerfahren im Sinne des § 138 Abs. 2 BGB sind. Bei Unternehmen und Unternehmern, die am Wirtschaftsleben teilnehmen, wurde in der Zeit kurz nach dem Beitritt der neuen Bundesländer in diesen wie in den alten Bundesländern einerseits der Begriff der Unerfahrenheit teils nicht einheitlich verstanden. Andererseits sollte eine nicht billigenswerte Abwertung der Unternehmen im Beitrittsgebiet vermieden werden, wenn ihnen die Tauglichkeit für eine verantwortungsvolle Gestaltung von Verträgen im Geschäftsleben abgesprochen worden wäre.425 Das Ausnutzen der offensichtlichen Unerfahrenheit eines in den neuen Bundesländern wohnhaften Vertragspartners lag vor, wenn auf dem Immobilienmarkt der Wucherer dies zur Befriedigung seines übersteigerten Gewinnstrebens ausnutzt.

d. Mangelndes Urteilsvermögen Ein Mangel an Urteilsvermögen ist gegeben, wenn dem Betroffenen in erheblichem Maße die Fähigkeit fehlt, sich durch vernünftige Beweggründe leiten zu lassen. Dazu zählt insbesondere die Unfähigkeit, die für und gegen ein konkretes Rechtsgeschäft sprechenden Gründe zu erkennen und die beiderseitigen Leistungen vor diesem Hintergrund sachgerecht zu bewerten.426 Der Wuchertatbestand soll aber weder vor einer unrichtigen Einschätzung der Wirtschaftlichkeit eines Rechtsgeschäfts noch vor enttäuschten Spekulationen schützen.427 Im Gegensatz zur erheblichen Willensschwäche, bei der der Betroffene die Tragweite des Rechtsgeschäfts durchschaut, sich aber wegen einer verminderten psychischen Widerstandsfähigkeit nicht sachgerecht verhalten kann, ist der von mangelndem Urteilsvermögen Betroffene nicht in der Lage, Inhalt und Folgen des Geschäfts richtig zu erkennen und einzuschätzen. Der Mangel an Urteilsvermögen kann auf Verstandesschwäche, geringem Bildungsgrad oder hohem Alter beruhen. Ein mangelndes Urteilsvermögen liegt nicht vor, wenn die Vertragspartei nach ihren Fähigkeiten zwar in der Lage war, die Vor- und Nachteile des 424  BGHZ 188, 71, 78 = NJW 2011, 756, Rn. 21; zust. Timme, MDR 2011, 397, 398; diff. Windel, ZGS 2011, 218, 220; krit. Bartels, ZJS 2011, 106, 109; teils krit. Pfeiffer, LMK 2011, 314413; Looschelders, JA 2011, 385; Schwenker, IBR 2012, 1069; Faust, JuS 2011, 359. 425  BGH NJW-RR 1997, 942, 943. 426  BGH NJW 2006, 3054, Rn. 27 und 30; Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 282 und NK-BGB/Looschelders, § 138 Rn. 370. 427  BGH NJW 2006, 3054, Rn. 28–30.

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Rechtsgeschäfts sachgerecht zu bewerten, diese Fähigkeiten vor dem Vertragsabschluss aber nicht oder nur unzureichend eingesetzt hat.428 Zwar kann der Umstand, dass ein Rechtsgeschäft erkennbar unrentabel und sein Abschluss auch nicht auf ein Affektionsinteresse zurückzuführen ist, ein Indiz für die mangelnde Fähigkeit des Betroffenen sein, den Inhalt des Geschäfts vernünftig einzuschätzen. Hinzukommen müssen aber weitere Umstände, die verdeutlichen, dass die Vertragspartei nicht nur einer Fehleinschätzung erlegen ist, sondern dass sie nach ihren intellektuellen Fähigkeiten nicht in der Lage war, zu einem sachgerechten Urteil über die Wirtschaftlichkeit des Vertrags zu gelangen. Diese hohen Anforderungen folgen auch aus den weitgreifenden Folgen des Wuchers – die Nichtigkeit erstreckt sich hier nicht nur auf das Grundgeschäft, sondern auch auf die abstrakten Erfüllungsleistungen.429

e. Erhebliche Willensschwäche Erhebliche Willensschwäche liegt vor, wenn der Betroffene wegen seiner verminderten psychischen Widerstandsfähigkeit einem Rechtsgeschäft nicht widerstehen kann, obwohl er den Nachteil des Rechtsgeschäfts durchschaut.430 Das Vorliegen einer erheblichen Willensschwäche setzt, anders als bei § 104 Nr. 2 BGB, nicht einen krankhaften Zustand voraus. Es wäre daher unzureichend, den geistigen Zustand nur daraufhin zu beurteilen, ob die Voraussetzungen einer Geschäftsunfähigkeit nach § 104 Nr. 2 vorliegen. Allerdings gehen damit Abgrenzungsprobleme einher. Wird etwa eine Schizophrenie ebenso verneint wie eine manisch-depressive Erkrankung oder eine anankastische Depression, kommt ein Sachverständiger aber zu dem Ergebnis, am Bestehen einer „zwangsneurotischen Systemneurose“ seien vernünftige Zweifel nicht möglich und es sei auch nicht zu bezweifeln, dass diese Zwänge und Schwierigkeiten der Persönlichkeit auch das geschäftliche Verhalten beeinflusst hätten, liegt jedenfalls die Annahme einer erheblichen Willensschwäche im Sinne des § 138 Abs. 2 BGB bei gleichzeitigem Vorliegen eines objektiven Missverhältnisses von Leistung und Gegenleistung nahe.431

3. Fazit Es wird durch Auslegung der entsprechenden Merkmale versucht, Widersprüche bei der Erörterung der subjektiven Voraussetzungen des Wuchers soweit als möglich zu vermeiden. Beim Zusammenspiel der subjektiven Elemente des § 138 Abs. 2 BGB besteht insbesondere die Gefahr, davon auszugehen, dass 428 

BGH NJW 2006, 3054, Rn. 28. Vgl. BGH NJW 1994, 1275; 2006, 3054; zust. Faust, JuS 2007, 179; Stadler, JA 2007, 294. 430 Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 284; NK-BGB/Looschelders, § 138 Rn. 371. 431  BGH NJW-RR 1988, 763, 764. 429 

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der Bewucherte zwar subjektiv unfähig war, die Vor- und Nachteile des Vertrags vernünftig zu bewerten, dies aber objektiv zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht erkennbar war. Es kann nämlich nicht einerseits davon ausgegangen werden, dass der Bewucherte bei Vertragsschluss seine Lage „vernünftig und sachgerecht“ beurteilen konnte, das „Ergebnis kontrolliert“ und einen „hinreichend starken Willen“ hatte, seine Interessen durchzusetzen, und andererseits bei der Prüfung des subjektiven Merkmals der Sittenwidrigkeit, für das die in § 138 Abs. 2 BGB genannten Umstände in ihren Auswirkungen auf die freie Willensentschließung ebenfalls Bedeutung erlangen, festgestellt werden, der Bewucherte habe sich wegen seiner „Position der Verhandlungsschwäche“ und seiner beispielsweise „zugleich eingeschränkten körperlichen und psychischen Leistungsfähigkeit“ nicht von den – nun für ihn nachteiligen – Wertvorstellungen lösen können.432 Aus privatrechtsphilosophischer Perspektive ist die Widersprüchlichkeit der Norm in dieser selbst verankert und kann daher in der Anwendung kaum vermieden werden. Die in § 138 Abs. 2 BGB normierte Kombination aus Ausbeutung und Zwangslage ist mit einem gewissen Widerspruch behaftet. Wenn eine idealtypische Zwangslage besteht, ist keine weitere Ausbeutung mehr erforderlich oder möglich, da der Handelnde ohnehin nur noch eine Handlungsoption hat.433 Überzeugender ist insoweit die im Draft Common Frame of Reference (DCFR) vorgeschlagene Regelung, die zum Schutz des Schwächeren die Ausbeutung als „unfair exploitation“ vom Zwang strikt trennt und durch Art. II.-7:207 DCFR gesondert regelt.434 Eine solche widerspruchsfreie Strukturierung der subjektiven Merkmale eines Ausbeutungstatbestands würde dann auch den Anwendungsbereich einer gegenüber § 138 Abs. 1 BGB eigenständigen Wertung erweitern.

VIII. Der Beurteilungszeitpunkt und der Wandel der guten Sitten 1. Grundsatz: Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts Das Rechtsgeschäft muss nach der Rechtsprechung zum Zeitpunkt seiner Vornahme sittenwidrig sein.435 Davon wurde bereits bei der Abfassung des BGB ausgegangen.436 Dem wird auch in der Literatur allgemein zugestimmt.437 432 

BGH NJW 2002, 3165. Zum Zusammenhang von Freiwilligkeit und Ausbeutung einerseits und Unfreiwilligkeit und Zwang andererseits aus Grundlagenperspektive Gutmann, Zwang und Ausbeutung beim Vertragsschluss, in: Schulze (Hrsg.), New Features in Contract Law, 2007, S. 49. 434 Dazu Schmidt-Kessel/Dierks, Der gemeinsame Referenzrahmen, S. 451. 435  BGH NJW 2012, 1570, Rn. 13; BGHZ 20, 71 = NJW 1956, 865; schon RGZ 128, 1, 5. 436  Mot. II zu Entw I § 347, 180 = Mugdan, II, 99. 437  Medicus, NJW 1995, 2577, 2578; MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 133–139; Palandt/ 433 

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Entscheidend sind daher zum einen die tatsächlichen Umstände zum Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts.438 Zum anderen kommt es auf die zum Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts anerkannten normativen Kriterien an.439 Ein Wandel der guten Sitten nach Vornahme des Rechtsgeschäfts wird grundsätzlich außer Acht gelassen. Allerdings stellen die Gerichte teils darauf ab, dass bereits bei Vertragsschluss eine entsprechende Änderung der guten Sitten eingetreten war. Der Bundesgerichtshof hat daher einen 1976 geschlossenen Ratenkreditvertrag in einer Entscheidung von 1983 mit dem Argument für sittenwidrig erklärt, dass er mit seiner Rechtsprechung lediglich einen bereits zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses vollzogenen Wertungswandel feststelle.440 Eine nach Abschluss des Rechtsgeschäfts eintretende Änderung der tatsächlichen Umstände oder normativen Kriterien kann daher grundsätzlich weder zur nachträglichen Sittenwidrigkeit noch zur nachträglichen Wirksamkeit führen. Vereinzelt wird entgegen der Rechtsprechung gefordert, bereits zum Zeitpunkt der Vornahme eines Rechtsgeschäfts vorgezeichnete Veränderungen tatsächlicher Umstände zu berücksichtigen.441 Allerdings lehnt es der Bundesgerichtshof selbst ab, künftige Gewinne, die eine Partei aus der von ihr erworbenen Leistung ziehen kann, bei der Prüfung eines Missverhältnisses von Leistung und Gegenleistung zu berücksichtigen.442 Bei allen Verträgen ist daher der Zeitpunkt des Vertragsschlusses der Beurteilungszeitpunkt. Es kommt insoweit nicht auf den Zeitpunkt der Vertrags­ erfüllung an.443

2. Ausnahme: Sittenwidrigkeit nach Vornahme des Rechtsgeschäfts? Vom Grundsatz, dass es für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts auf den Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts ankommt, kann nur dann ausnahmsweise abgewichen werden, wenn das Rechtsgeschäft nachträglich verändert oder ergänzt wird.444 Allerdings ist umstritten, inwieweit eine Sittenwidrigkeit nach der Vornahme des Rechtsgeschäfts begründet werEllenberger, § 138 Rn. 9 f.; Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 131–133; für den Zeitpunkt des Eintritts der Rechtswirkungen dagegen Eckert, AcP 199 (1999), S. 337 (352). 438  BGH NJW 2012, 1570, Rn. 10 und 14; BGH NJW 2002, 429, 431; BGHZ 7, 111 = NJW 1952, 1169; schon RGZ 63, 390, 391. 439  BGH NJW 1983, 2692. 440  BGH NJW 1983, 2692; BVerfG NJW 1984, 2345; krit. Langenbucher, ARSP 91 (2005), S. 55; eing. zum Wandel der Rspr.: Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung sowie Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft. 441  Coester-Waltjen, Liebe – Freiheit – gute Sitten, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd. I, 2000, S. 985, 1004. 442  BGH NJW 2002, 429, 431. 443  BGH NJW 2002, 429, 431; BGH NJW 2007, 2841. 444  BGH NJW 2007, 2841, Rn. 13; WM 1977, 399, 400 = BeckRS 2012, 09800.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

den oder inwieweit sie entfallen kann. Einen besonders umstrittenen Sonderfall stellen letztwillige Verfügungen dar.

3. Rückwirkende Sittenwidrigkeit und rückwirkender Wegfall der Sittenwidrigkeit Für eine rückwirkende Sittenwidrigkeit besteht nach allgemeiner Meinung kein Raum.445 Daher bleiben sowohl bereits erfüllte Verpflichtungs- und Erfüllungsgeschäfte wie auch noch nicht erfüllte Verpflichtungsgeschäfte wirksam.446 Allerdings muss bei noch nicht erfüllten Rechtsgeschäften zum Zeitpunkt der Erfüllung eine Anpassung nach § 313 BGB447 oder ein mögliches Leistungsverweigerungsrecht nach § 242 BGB berücksichtigt werden. Insoweit wird das Bestehen auf der Erfüllung eines nachträglich sittenwidrigen Rechtsgeschäfts als unzulässige Rechtsausübung angesehen.448 Ebenso besteht für einen rückwirkenden Wegfall der Sittenwidrigkeit nach allgemeiner Meinung kein Raum. Die Sittenwidrigkeit bleibt bestehen, auch wenn sie zum Zeitpunkt der Erfüllung des Rechtsgeschäfts nicht mehr begründet ist.449 Allerdings kann eine Berufung auf die Sittenwidrigkeit bei ihrem rückwirkenden Wegfall ebenso wie bei der rückwirkenden Sittenwidrigkeit wegen Treuewidrigkeit gegen § 242 BGB verstoßen.450 Nachträglich wirksam kann ein sittenwidriges Rechtsgeschäft werden, wenn es nach § 141 BGB bestätigt wird. Entgegen der allgemeinen Meinung wird in der Literatur auch vorgeschlagen, dass es bei Änderung der tatsächlichen Umstände weiterhin auf den Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts ankomme, während bei einer Änderung der normativen Kriterien auf den Erfüllungszeitpunkt abzustellen sei.451 Dieser Ansicht wird entgegengehalten, dass kein rechtfertigender Grund für die Ungleichbehandlung der beiden Fälle ersichtlich sei.452 Berücksichtigt man aber den Normzweck des § 138 Abs. 1 BGB, nämlich die Verrechtlichung von Lebenssachverhalten, und seine eingeschränkte Auslegung im Hinblick auf 445  BGH WM 2002, 1186, 1189; BGHZ 7, 111 = NJW 1952, 1169; Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 131 und 135; MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 134; Palandt/Ellenberger, § 138 Rn. 10. 446 Soergel/Hefermehl, § 138 Rn. 52. 447  BGHZ 126, 226, 238 = NJW 1994, 2536, 2539; BGHZ 123, 281, 285 = NJW 1993, 3193, 3194. 448  BGHZ 126, 226, 238 = BGH NJW 1994, 2536, 2539; BGHZ 123, 281, 285 = NJW 1993, 3193, 3195; NJW 1956, 865; einschr. Medicus, WM 1997, 2333, 2339. 449  BGH GRUR 1984, 298, 300; Palandt/Ellenberger, § 138 Rn. 10; dagegen Eckert, AcP 199 (1999), S. 337 (355); NK-BGB/Looschelders, § 138 Rn. 126. 450  Schmoeckel, AcP 197 (1997), S. 1 (23). 451 MüKo-BGB/Armbrüster, § 138 Rn. 135 ff.; wohl auch OLG Hamm OLGZ 1979, 425, 427 f. 452 Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 131 f. und 138.

A. Freiheit und Form

215

rechtsimmanente Kriterien, so ist es überzeugend, eine Änderung der Umstände anders als eine Änderung der normativen Kriterien zu beurteilen.

4. Weitere Differenzierungsmöglichkeiten Es ist grundsätzlich im Sinne der Rechtsordnung als normativer Struktur kollektiver Handlungshoheit geboten und unverzichtbar, die Fälle zum Entscheidungszeitpunkt mit den jeweils zu diesem Zeitpunkt bekannten und verbind­lichen rechtlichen Kriterien zu beurteilen. Allerdings gehört auch das Rückwirkungsverbot zum Bestand der Rechtsordnung, sodass die allgemeine Meinung im Sinne der individuellen Handlungshoheit soweit überzeugend bleibt, wie sie die normativen Kriterien des Erfüllungszeitpunktes zum Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts als noch nicht bekannt voraussetzt. Sind aber die gewandelten normativen Kriterien zum Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts bereits bei der Ausübung der individuellen Handlungshoheit erkennbar, so sollte auf die gewandelten Kriterien zum Zeitpunkt der Erfüllung abgestellt werden.

5. Letztwillige Verfügungen und Wandel der Sittenwidrigkeit Bei letztwilligen Verfügungen kommt es grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Errichtung der letztwilligen Verfügung und nicht auf den Zeitpunkt des Erbfalls an.453 Unter Verweis auf § 2171 BGB, der ein Vermächtnis für unwirksam erklärt, das gegen ein zur Zeit des Erbfalls bestehendes gesetzliches Verbot verstößt, wird im Umkehrschluss gefolgert, dass sonstige letztwillige Verfügungen, also auch solche, die zum Zeitpunkt des Erbfalls sittenwidrig sind, aber nicht gegen ein gesetzliches Verbot verstoßen, stets wirksam sind.454 Für letztwillige Verfügungen dagegen, die zum Zeitpunkt der Errichtung sittenwidrig waren, aber zum Zeitpunkt des Erbfalls wirksam wären, ergibt sich selbst mit dem methodisch ohnehin riskanten Umkehrschluss aus § 2171 BGB keine folgerichtige Lösung.455 Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stellt in dieser Konstellation grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Errichtung ab.456 Sie liegt damit auf einer Linie mit einer zwischenzeitlich aufgegebenen Rechtsprechung des Reichsgerichts.457 453  BGHZ 20, 71 = NJW 1956, 865 m. Anm. Rechenmacher; BGHZ 140, 118, 125 = NJW 1999, 566, 568 lässt dies offen; OLG Frankfurt am Main, NJW-RR 1995, 265, 266; Palandt/ Ellenberger, § 138 Rn. 10. 454 Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 140. 455 Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 141. 456  BGHZ 52, 16 = NJW 1969, 1343; BGHZ 20, 71 = NJW 1956, 865; OLG Frankfurt am Main, NJW-RR 1995, 265, 266. Der BGH lässt die Frage in einer (vergleichsweise) aktuelleren Entscheidung ausdrücklich offen, BGHZ 140, 118, 125 = NJW 1999, 566, 568. 457  RGZ 166, 395, 400 für die Errichtung als Beurteilungszeitpunkt; RG DR 1943, 91, 93 für den Erbfall als Beurteilungszeitpunkt.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

Es wird inzwischen teils nicht mehr auf die Umstände und normativen Kriterien zum Zeitpunkt der Errichtung abgestellt, sondern auf die Umstände und normativen Kriterien zum Zeitpunkt des Erbfalls.458 Dem wird trotz einer Zustimmung im praktischen Ergebnis entgegengehalten, dass eine dogmatisch stimmigere Lösung darin bestehe, die Berufung auf die anfängliche Sittenwidrigkeit eines Testaments als treuwidrig anzusehen, wenn der Sittenwidrigkeitsvorwurf seit Errichtung weggefallen ist und der Inhalt noch dem Willen des Erblassers entspricht.459

6. Fazit Im Hinblick auf den Wandel normativer Kriterien bei der Auslegung des § 138 BGB sollte aus der Perspektive der Handlungshoheit nach den Gründen für diesen Wandel differenziert werden. Ändern sich die normativen Kriterien, so sollte auf den Zeitpunkt des Erbfalls und damit auf die neuere Rechtserkenntnis abgestellt werden. Ändern sich dagegen die tatsächlichen Umstände, so sollte auf den Zeitpunkt der Errichtung abgestellt werden, gegebenenfalls unter Beachtung einer Treuwidrigkeitsprüfung. Auf diese Weise lassen sich verbesserte Erkenntnisse aus dem Bereich der kollektiven Handlungshoheit mit einer Stärkung der individuellen Handlungshoheit vereinbaren.

B. Der Vertragsinhalt, die Vertragsauslegung und die Vertragsbeendigung Die Ermittlung des Inhalts von Verträgen ist gesetzlich durch die §§ 133, 157 BGB geregelt. Anders als bei der Gesetzesauslegung spielt der Wortlaut eine geringe Rolle. Es kommt auf den wirklichen Willen an (I.). In der Folge werden die Begleitumstände und Interessenlagen ebenso wie Verkehrssitten sowie Treu und Glauben als Auslegungskriterien herangezogen und der wirkliche Wille kontextualisiert (II.). Dabei tritt ein Konflikt zwischen subjektivierenden und rein kontextorientierten, objektivierenden Auslegungskriterien zu Tage. Der Konflikt kann unter der Perspektive der individuellen Handlungshoheit aufgelöst werden (III.). Die Art der Auflösung des Konflikts zwischen den subjektivierenden und den kontextorientierten, objektivierenden Auslegungskriterien präfiguriert die normative Orientierung der hypothetischen Vertragsauslegung (IV.). Ebenso entfaltet sie ihre Wirkung bei der Beendigung von Schuldverhältnissen, wie das Beispiel der Interpretation des wichtigen Grunds bei § 314 BGB und das der Zumutbarkeit bei § 313 BGB (V.) zeigen. 458  Flume, BGB AT II, S. 378 f.; Medicus, BGB AT, Rn. 692; Gernhuber, FamRZ 1960, 326, 334; Otte, JURA 1985, 192, 201; auch OLG Hamm OLGZ 1979, 425, 427 f. 459 Staudinger/Sack/Fischinger, 2017, § 138 Rn. 142.

B. Der Vertragsinhalt, die Vertragsauslegung und die Vertragsbeendigung

217

I. Der wirkliche Wille und das Verbot der Wortlautorientierung Nach Art. 20 Abs. 3 GG sind nur die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden, während § 133 BGB der Vertragsauslegung die Aufgabe zuweist, den wirklichen Willen der Parteien zu ermitteln. Bei der Vertragsauslegung auf der Grundlage des BGB ist jenseits des Wortlauts der wahre Wille zu ermitteln.460 Diese Form der subjektivierenden Willenstheorie findet ihren Ausdruck in § 133 BGB.461

1. Die Entwicklung des Verbots der Wortlautorientierung Trotz der insoweit deutlichen Formulierung des § 133 BGB dauerte es beinahe ein Jahrhundert ab der Verkündung des BGB, bis die deutschen Obergerichte die Unzulässigkeit der Auslegung bei einem vermeintlich klaren Wortlaut vollständig verabschiedeten. Während das Reichsgericht noch davon ausging, dass es bei einem klaren Wortlaut an jeder Auslegungsmöglichkeit fehle,462 leitet der Bundesgerichtshof aus § 133 BGB ein Verbot der Wortlautorientierung ab.463 Demzufolge bildet auch ein klarer und eindeutiger Wortlaut einer Erklärung keine Grenze für eine weitere Auslegung.464 Das ergibt sich schon daraus, dass die Beurteilung der Frage, ob eine eindeutige Erklärung vorliegt, von der Würdigung der weiteren Umstände des Vertragsschlusses abhängt.465 Eine allgemeine Vermutung für eine irgendwie geartete Vollständigkeit und Richtigkeit466 ist aus der Perspektive der Rechtsprechung schon wegen möglicher Vorverhandlungen und ihrer Bedeutung für den Vertragsschluss ausgeschlossen.467

460  So Palandt/Ellenberger, § 133 Rn. 1, 7; MüKo-BGB/Busche, § 133 Rn. 8; Soergel/Hefermehl, § 133 Rn. 10; Staudinger/Singer, 2017, § 133 BGB Rn. 6. 461  Vgl. Soergel/Hefermehl, § 133 Rn. 10. Für eine grundsätzlich komplementäre Ergänzung des § 133 BGB durch die objektiven Vorgaben des § 157 BGB dagegen Staudinger/Singer, 2017, § 133 Rn. 6. 462  Etwa RG JW 1912, 69 und RG JW 1919, 102 f. 463  Etwa BGH NJW 2002, 1260, 1261 für die Vertragsauslegung in Fortsetzung von BGH NJW 1983, 682, der das Verbot der bloßen Wortlautorientierung für das Testament als einseitige Willenserklärung formuliert. Dazu auch Palandt/Ellenberger, § 133 Rn. 14. 464  BGH NJW 2002, 1260, 1261. 465  BGH NJW 2002, 1260, 1261 im Anschluss an BGH NJW 1983, 672. 466  So aber allgemein Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 156, 162, 165. Einschränkend dagegen heute lediglich die Vermutung der Richtigkeit von Urkunden bei formbedürftigen Rechtsgeschäften, etwa Staudinger/Singer, 2017, § 133 Rn. 34 und BGH NJW 2015, 409, Rn. 12 f. 467  BGH NJW 1983, 672.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

2. Die rechtsvergleichende Perspektive: „From literalism to contextualism“ Wie überzeugend das Verbot der bloßen Wortlautorientierung bei der Vertragsauslegung ist, zeigt auch ein kurzer rechtsvergleichender Blick in das angelsächsische Recht. Dort wird dem traditionellen Wortlaut eine gewichtigere Rolle zugeschrieben. Ist ein Vertrag zu unklar formuliert, kann auch seine Durchführung ausgesetzt werden. Da es kaum eindeutige, „reine“ Begriffe in Verträgen gibt, wurde die Ausgangsposition eines reinen „literalism“ ergänzt um das Prinzip der „reason­ ableness“.468 Die Gerichte müssen demnach entscheiden, welche der in Frage kommenden Bedeutungen eines Begriffs überzeugender ist. Damit wird die Wendung zu einer Berücksichtigung der Umstände verankert, die nunmehr zu einem umfassenden „contextualism“ ausgebaut wird.469 Dem „contextualism“ zufolge hängt die Auslegung eines Vertrags nicht mehr einfach von dessen Wortlaut ab, sondern von darüber hinausgehenden Kontexten: „It is also dependent on the other provision of the contract, on the commercial common sense, and on the surrounding facts (or the matrix of facts) at the time the contract was made.“470 Mit der Hinwendung zur Kontextualisierung ist wie im deutschen auch im angelsächsischen Vertragsrecht der Wortlaut einer Erklärung nur mehr Ausgangspunkt, nicht mehr autoritativer Bezugspunkt der Vertragsauslegung. Diese wird deshalb als „inherently contextual“ angesehen.471

3. Die Herausforderung der Kontextualisierung vertraglicher Begriffe Der Wortlaut bildet, wie die rechtsvergleichende Perspektive zeigt, rechtsordnungsunabhängig lediglich den Ausgangspunkt bei der Ermittlung des wahren Willens. Im BGB wird diese Loslösung von dem Wortlaut einer Erklärung durch § 133 BGB und seine Auslegung entlang den Linien der Willenstheorie

468 1973,

QB 400, 421 Gillespie Bros v Roy Bowles Transport Ltd.

469 Dazu Brownsword, Roger, After Investors: Interpretation, Expectation, and the Impli-

cit Dimension of the „New Contextualism“, in: Campbell/Collins/Wightman (Hrsg.), Implicit Dimensions of Contract, 2003, S. 103, 105, 108. 470  Total Gas Marketing Ltd v Arco British Ltd, 1998, 2 Lloyd’s Rep 209 at 221 (per Lord Steyn) und Mannai Investments Co Ltd v Eagle Star Life Assurance Co Ltd, 1997, 3 All ER 352, und Investors Compensation Scheme Ltd v West Bromwich Building Society, 1998, 1 All ER 98. Krit. aus der traditionellen Wortlautperspektive: Gava/Greene, Cambridge Law Journal 63 (2004), S. 605 sowie Morgan, Contract Law Minimalism. 471 Etwa Wightman, Contract in a Pre-Realist World, in: Braucher/Kidwell/Whitford (Hrsg.), Revisiting the Contracts Scholarship of Stewart Macaulay, 2013, S. 377, 384.

B. Der Vertragsinhalt, die Vertragsauslegung und die Vertragsbeendigung

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verankert. Damit wird jede Form reiner Wortlautorientierung bei der Vertragsinterpretation ausgeschlossen.472 Die Orientierung am wirklichen Willen der Parteien und das daraus resultierende Verbot der reinen Wortlautorientierung führen aber auch dazu, dass die Vertragsauslegung die Interessen und Umstände der Parteien in den Mittelpunkt stellt. Damit hängt die Aufgabe, den wirklichen Willen zu ermitteln, zentral von der Art und Weise ab, wie mit den Umständen und Interessen umgegangen wird.

II. Die Kontextualisierung des wirklichen Willens Die Kontextualisierung vertraglicher Begriffe hebt mit der Unterscheidung zwischen nicht empfangsbedürftigen und empfangsbedürftigen Willenserklärungen an. Nach allgemeiner Ansicht wird die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen durch Verkehrsschutzaspekte geprägt und damit im Interesse des Erklärungsempfängers stark verobjektiviert.473 Dagegen verblasse der Gedanke des Verkehrsschutzes bei nicht empfangsbedürftigen Willenserklärungen.474 Allerdings werden bereits bei der Erfassung des natürlichen Sinns von Willensäußerungen objektive Kriterien herangezogen, die bei der Auslegung übereinstimmender Willensäußerungen vor allem aus Verkehrsschutzgründen um eine normative Dimension ergänzt werden.

1. Die individuellen Willensäußerungen Die Ermittlung des wirklichen Willens wird als Erfassung seines Sinns verstanden.475 Dies wird auch als natürliche Auslegung bezeichnet. Sie ist im Fall der nicht empfangsbedürftigen Willenserklärungen heranzuziehen, wie etwa bei der Auslegung eines Testaments.476 Allerdings werden auch bei der Ermittlung des wirklichen Willens bereits Objektivierungen vorgenommen. Das liegt vor allem daran, dass nicht der innere, sondern allein der nach außen bekundete Wille Gegenstand einer Aus­ legung sein kann.477 Begründet wird die Erklärungstheorie meist damit, dass 472  Vgl. Soergel/Hefermehl, § 133 Rn. 14; MüKo-BGB/Busche, § 133 Rn. 8; Staudinger/ Singer, 2017, § 133 Rn. 6. 473  Etwa MüKo-BGB/Busche, § 133 Rn. 13; Soergel/Hefermehl, § 133 Rn. 25 und 29, vor allem unter Verweis auf „die im Verkehr tatsächliche Übung“; Palandt/Ellenberger, § 133 Rn. 9. 474  Etwa MüKo-BGB/Busche, § 133 Rn. 11; Palandt/Ellenberger, § 133 Rn. 7. 475  Etwa MüKo-BGB/Busche, § 133 Rn. 1 und 8; Soergel/Hefermehl, § 133 Rn. 1 und 10; Staudinger/Singer, 2017, § 133 Rn. 3 f.; Palandt/Ellenberger, § 133 Rn. 8. 476  Etwa MüKo-BGB/Busche, § 133 Rn. 23, Soergel/Hefermehl, § 133 Rn. 11; Staudinger/ Singer, 2017, § 133 Rn. 6; Palandt/Ellenberger, § 133 Rn. 13. 477  Etwa MüKo-BGB/Busche, § 133 Rn. 9 f.; Soergel/Hefermehl, § 133 Rn. 9; Staudinger/ Singer, 2017, § 133 Rn. 4 f. sowie Palandt/Ellenberger, § 133 Rn. 5.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

sich der nicht bekundete Wille einer Auslegung entzieht und erst bei der Anfechtung berücksichtigt werden kann.478 Andere stellen darauf ab, dass der rechtlich beachtliche Wille erst mit seiner Äußerung einem Empfängerhorizont zugänglich wird und so Geltung erlangen kann.479 Die Erklärungstheorie führt daher auch bei einseitigen, nicht empfangsbedürftigen Willenserklärungen wie einem Testament dazu, dass grundsätzlich auf die Verständnismöglichkeiten eines bestimmten Interessenten- oder Personenkreises abgestellt wird.480 Teils wird daher auch bei der Auslegung eines Testaments die allgemeine Lebenserfahrung herangezogen.481

2. Die übereinstimmenden Willenserklärungen und der Verkehrsschutz Empfangsbedürftige Willenserklärungen werden vor dem Hintergrund der normativen Vorgaben der Rechtsordnung ausgelegt. Die Objektivierung erfolgt vor dem Verständnishorizont desjenigen, der Adressat der Erklärung ist. Maßgeblich ist deswegen der Empfängerhorizont.482 Die Konstruktion des objektiven Empfängerhorizonts wird wiederum durch die normativen Vorgaben des § 157 BGB strukturiert.483 Für die Auslegung einer Willenserklärung ist demnach maßgeblich, wie der Erklärungsempfänger die Erklärung nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte versteht.484

a. Normative Kriterien Die Auslegung einer vertraglichen Vereinbarung wird damit für eine Wertung der Interessen der Vertragsparteien durch normative Kriterien geöffnet: Zu den objektiven Kriterien gehören nach allgemeiner Überzeugung über Treu und 478  Etwa schon RGZ 67, 431, 433 und BGH NJW 1967, 673; Larenz, Die Methode der Auslegung des Rechtsgeschäfts, S. 76 f., Flume, BGB AT II, § 16 3c. Zur historischen Entwicklung siehe HKK/Vogenauer, §§ 133, 157 Rn. 34–37. 479  Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, S. 418 ff. im Anschluss an Larenz, Die Methode der Auslegung des Rechtsgeschäfts, S. 34 f. 480  Etwa MüKo-BGB/Busche, § 133 Rn. 11 und Staudinger/Singer, 2017, § 133 Rn. 6. 481  Etwa BGH NJW 1965, 688. 482  Etwa BGH NJW 2011, 1666, Rn. 11 und schon RGZ 119, 21, 25. Zur Geschichte des objektiven Empfängerhorizonts, der eigentlich als ein „verobjektivierter“ Empfängerhorizont anzusehen sei Greiner, AcP 217 (2017), S. 509–513. 483  Insofern wird § 157 BGB zutreffend als „Basisnorm objektiv normativer Auslegung“ angesehen, so Staudinger/Singer, 2017, § 133 Rn. 6 im Anschluss an Wieser, AcP 189 (1989), S. 113; Medicus, AT, Rn. 320 f.; Wolf/Neuner, AT, § 35 Rn. 4 ff.; Jauernig/Jauernig, § 157, Rn. 7 und Palandt/Ellenberger, § 157 Rn. 1. 484  Für die Praxis etwa BGH NJW 2013, 598. Staudinger/Singer, 2017, § 133 Rn. 12 ff. sieht den Bezug zur Autonomie der Vertragsparteien vor allem durch die vorrangige Berücksichtigung einer beiderseitigen Falschbezeichnung, d.h. durch den Grundsatz falsa demonstratio non nocet, gewährleistet.

B. Der Vertragsinhalt, die Vertragsauslegung und die Vertragsbeendigung

221

Glauben im Sinne des § 242 BGB und die Verkehrssitte hinaus485 zentrale Normen des BGB, wie etwa § 134 BGB, § 138 BGB und § 242 BGB sowie die Geschäftsgrundlage im Sinne des § 313 BGB.486

b. Die (vollständige) Trennung zwischen dem subjektiven Sinn einer Erklärung und der rechtlichen Bedeutung einer Willensäußerung Damit ist die Möglichkeit eröffnet, dass die Bedeutung einer Willensäußerung von dem Sinn vollständig abgelöst wird, den der Erklärende mit ihr verbindet. Dieses Vorgehen wird rechtsdogmatisch vor allem mit der Bedeutung der Anfechtung begründet. Die §§ 119 ff. BGB wären sinnentleert, wenn durch Auslegung stets ein dem wirklichen Willen des Erklärenden entsprechender Sinngehalt ermittelt werden könnte.487 Hinzu kommt, dass jeder Erklärende für seine Erklärung verantwortlich ist.488 Darüber hinaus werden Aspekte des Vertrauensschutzes im Hinblick auf den Erklärungsempfänger wie auch den Rechtsverkehr als unverzichtbar angesehen.489 Die normative Auslegung dient nach allgemeiner Ansicht aus Verkehrsschutzgründen der Ermittlung einer objektiven Erklärungsbedeutung,490 die für die erforderliche Rechtssicherheit als unverzichtbar gilt. Im Lichte dieser normativen Vorgaben werden durch die Berücksichtigung der Umstände und Interessen normative Anforderungen an den Erklärenden gestellt. Von einer konkludenten Willenserklärung ist beispielsweise auszu­ gehen, wenn der Erklärende bei Anwendung der pflichtgemäßen Sorgfalt hätte erkennen können, dass der Erklärungsempfänger von einer rechtlich erheblichen Erklärung ausgehen durfte.491 Zur Identifikation des Sorgfaltsmaßstabs wird häufig auf die Interessenlage abgestellt.492 Dabei wird die Interessenlage relativ zum Zweck des Rechtsgeschäfts bestimmt. Im Zweifel ist demnach die Interpretationsvariante vorzuziehen, die widerspruchsfrei für beide Vertragsparteien interessengerecht und vernünftig ist.493

485  Dazu etwa Staudinger/Singer, 2017, § 133 Rn. 3–7, insb. 6 f.; Staudinger/Roth, 2015, § 157 Rn. 2; Soergel/Wolf, § 157 Rn. 9, Rn. 55 und Rn. 63. 486  Vgl. Palandt/Ellenberger, § 133 Rn. 9, 21; Palandt/Grüneberg, § 313 Rn. 3, 4; MüKoBGB/Busche, 6. Aufl., § 157 Rn. 16. 487 Palandt/Ellenberger, § 133 Rn. 8. 488  Etwa Staudinger/Singer, 2017, § 133 Rn. 20–23. 489  Canaris, Vertrauenshaftung im deutschen Privatrechtrecht, S. 26–28; Palandt/Ellenberger, § 133 Rn. 8; MüKo-BGB/Busche, § 133 Rn. 13. 490  Etwa Palandt/Ellenberger, § 133 Rn. 7 und 12. 491  BGH NJW 2004, 2736. 492 Staudinger/Singer, 2017, § 133 Rn. 65 ff. Ebenso Staudinger/Roth, 2015, § 157 Rn. 2. 493  BGH BeckRS 11, 21186 Tz. 18–21.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

3. Ein Verzicht auf den „wirklichen Willen“? Die Verobjektivierung des individuellen Willens erfolgt zunächst überzeugenderweise im Hinblick auf den Vertragspartner. Die Berücksichtigung der Interessen und Umstände im Gewande der normativen Kriterien von Treu und Glauben sowie der Verkehrssitte begründen darüber hinaus jedoch den Überschritt zur Objektivierung und damit einer normativen, gesetzeskonformen Auslegung.494 Damit wird die Vertragsauslegung für alle Normen geöffnet, die der kollektiven Handlungshoheit dienen, und es besteht die Gefahr einer Vernachlässigung der individuellen Handlungshoheit. Trifft eine solch umfassende Auslegungsmöglichkeit zudem auf den Kontext eines inhaltlich aufgeladenen Schuldvertragsrechts,495 so stellt sich in aller Schärfe die Frage, welche objektiven Kriterien mit dem Willen der Parteien eigentlich noch vereinbar sind oder ob es nicht vielmehr konsequent wäre, den ursprünglichen Anspruch einer Ermittlung des wirklichen Willens aufzugeben. Teils wurden daher typisierende Objektivierungen zur Überwindung von Systemwidrigkeiten im Rechtsdenken gefordert. Konsequenterweise wird damit auch der Rückbezug auf die subjektiven Willenserklärungen für entbehrlich gehalten.496 Typologisches Rechtsdenken habe daher schon nach Larenz mit dem soeben präsentierten „herkömmlichen System“ Probleme, da das „herkömmliche System“ des BGB durch § 133 BGB auch bei der Auslegung von Willenserklärungen auf der Idee eines „von jedermann zu achtenden Rechts aufbaut“.497 Die Deutlichkeit, mit der die Konsequenzen seines typologischen Theorieansatzes zur Willenserklärung von der Festlegung des BGB auf den Respekt für den wirklichen Willen abgesetzt werden, gibt einen Hinweis darauf, wie schwerwiegend die Konflikte zwischen einer objektivierenden Herangehens-

494 Staudinger/Singer, 2017, § 133 Rn. 3–7, 63 f. und 65 ff. Ebenso Staudinger/Roth, 2015, § 157 Rn. 2. Deutlich macht dies auch etwa Greiner, AcP 217 (2017), S. 518, der in der Berücksichtigung überindividuell-heteronomer Elemente, wie z.B. ordre-public-Erwägungen, Drittschutz und Sicherheit des Rechtsverkehrs bei der Vertragsauslegung, die Selbstbestimmung durch Fremdbestimmung ersetzt sieht. 495  Sogar für eine grundsätzliche Übernahme der Begründung europarechtlicher verbraucherschützender Wertungen durch das BVerfG Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts, S. 315 ff. Dagegen für eine „Resilienz“ des Privatrechts gegenüber europarechtlichen Vorgaben Gutmann, Gibt es ein Konzept des Vertrages im europäischen Vertragsrecht?, S. 19, 41 f. 496  Larenz, Methodenlehre, S. 427–432 und 439–450. 497  Larenz, Methodenlehre, S. 450. Der BGH betont daher entgegen der Larenz’schen Lehre vom „sozial-typischen Vertrag“ die Erforderlichkeit von Willenserklärungen, vgl. nach Anfangsschwierigkeiten in BGHZ 21, 319 (Hamburger Parkplatzfall) nun schließlich die gegenwärtige Rechtsprechung unter Berücksichtigung der Willenstheorie, etwa BGHZ 95, 399.

B. Der Vertragsinhalt, die Vertragsauslegung und die Vertragsbeendigung

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weise und einer autonomie-orientierten Perspektive auf die Vertragsauslegung auch heute noch sind.

III. Konflikte und ihre Auflösung im Sinne der Handlungshoheit Sobald ein Vertrag zwischen zwei Parteien geschlossen wurde, kann überzeugenderweise nicht bei der in § 133 BGB vorgegebenen Willenstheorie und dem Respekt vor dem Willen einer Partei stehen geblieben werden. Um die andere Vertragspartei wie auch die Interessen Dritter zu schützen, verlangt § 157 BGB die Berücksichtigung objektiver, überindividueller Bezugspunkte,498 die aber dazu tendieren, den individuellen Willen beider Vertragsparteien im Namen der Systematisierung rechtlicher Normen nicht mehr zu beachten.

1. Die dogmatische Konzeption der weiteren Kontextualisierung Für die weitere Kontextualisierung zum Zwecke der normativen Auslegung finden sich daher in der dogmatischen Diskussion umfangreiche Vorschläge, die dogmatisch an Treu und Glauben wie auch an die Verkehrssitte anknüpfen. Vor allem wird auf die Vertrauenshaftung und den Interessenausgleich verwiesen.499

a. Vertrauensschutz Rechtshistorisch kann der Vertrauensschutz auf die bona fides zurückgeführt werden. Römisches Recht enthält zahlreiche Diskurse zur inhaltlichen Ausgestaltung der bona fides als Kriterium für die inhaltliche Bestimmung vertraglicher Pflichten.500 Die bona fides werden auch in der Gegenwart zur Begründung eines besonderen, auch sittlich gebotenen Vertrauensschutzes herangezogen.501 Aus der Anerkennung der privatautonomen Gestaltungsfreiheit durch die Rechtsordnung folgt für einige auch, dass stets ein Ausgleich für die damit ver498 Staudinger/Singer, 2017, § 133 Rn. 18 geht daher auch von einer Ermittlung des „normativen Willens“ aus. 499 MüKo-BGB/Busche, § 157 Rn. 7 und 9 verweist zur begrifflichen Füllung des Interessenausgleichs sogleich vor allem auf das Vertrauen. 500  Etwa bei Ulpian D. 19.1.11.1: „Und zunächst muß man wissen, daß von der Kaufklage nur das erfaßt ist, was zu leisten vereinbart worden ist: sie ist nämlich eine auf bona fides (Treue und Glauben) gegründete Klage, und nichts entspricht in höherem Maße der bona fides, als daß das geleistet wird, was zwischen den Parteien vereinbart worden ist. Wenn nichts speziell vereinbart worden ist, wird das geleistet werden, was natürlicherweise unter diese Klage zu leisten ist.“ [sic!] Für die Betonung des Parteiwillens vor Vertrauensschutzaspekten bei der Kaufklage im Ausgang von dieser Stelle etwa Chiusi, Grave est fidem fallere: Vertrauensschutz im römischen Recht, Fundamina 20/1 (2014), S. 154. 501  So etwa MüKo-BGB/Busche, § 157 Rn. 10 im Anschluss an Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, S. 20 f.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

bundenen Risiken gefunden werden muss.502 Entsprechende besondere Rechtspflichten ließen sich dieser Position zufolge aus dem Vertrauensgedanken begründen. Die typischen Gefahren, die rechtsgeschäftliches Handeln nach sich zieht, würden dadurch hervorgerufen, dass sich die Parteien auf bestimmte Erklärungsakte „verlassen“ oder dass sie ihre Rechtsgüter der Einwirkungsmöglichkeit des Partners aussetzen und diesem somit anvertrauen.503 Daran zeige sich, dass die Vertrauenshaftung die Funktion hat, die privatautonome Selbstbindung dort zu ergänzen und zu ersetzen, wo die Rechtsgeschäftslehre sogenannte „Schutzlücken“ lässt. Teils wird der Vertrauensschutz als Aufnahme der Normierungen der herrschenden Sozial- und Wirtschaftsordnung gesehen, die der Aufrechterhaltung eines sozialethischen Minimums dienen.504 Vertrauensschutz müsse daher gleichsam neben die rechtsgeschäftliche Selbstbindung und -bestimmung treten. Der Haftungsumfang wird in dieser Konzeption durch die Vertragsauslegung unter Verweis auf in Anspruch genommenes Vertrauen bestimmt.

b. Interessenausgleich Andere schlagen vor, über das Konzept des Interessenausgleichs Gerechtigkeitsbezüge herzustellen. So wird von einem „gerechten Interessenausgleich“ als Maßstab der Vertragsauslegung gesprochen.505 Dabei wird ebenfalls auf Treu und Glauben, aber vor allem auch auf die guten Sitten verwiesen, die die Aufgabe einer möglichst rechts- und sittenkonformen Auslegung festschrieben.506 In diesem Zusammenhang werden die Verkehrssitten zu „Sozialnormen, die von einer gemeinsamen Pflichtvorstellung der Angehörigen einer Gruppe von Rechtsgenossen getragen“507 werden, die als Sozialnormen die Auslegung anleiten.508

502 So Canaris, Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, S. 439 f., der in der objektiv-rechtlichen Vertrauenshaftung ein Korrelat der privatautonomen, selbstbestimmten Gestaltungsmacht sieht. 503 Vgl. Canaris, Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, S. 266–273, zur „rechtsethischen Notwendigkeit“ der Vertrauenshaftung im Ausgang von § 242 BGB; so auch Wendt, AcP 100 (1906), S. 1, 4 und im Anschluss MüKo-BGB/Busche, § 157 Rn. 5. 504 MüKo-BGB/Busche, § 157 Rn. 10 f. im Anschluss an Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, S. 20 f. und Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze, S. 128 ff. 505 MüKo-BGB/Busche, § 157 Rn. 7 ff.; Staudinger/Singer, 2015, § 133 Rn. 6; Soergel/Wolf, § 157 Rn. 60–62. 506 MüKo-BGB/Busche, § 157 Rn. 13, 15. 507  Sonnenberger, Verkehrssitten im Schuldvertrag, S. 62. 508 Schon v. Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. II, S. 241 ff.

B. Der Vertragsinhalt, die Vertragsauslegung und die Vertragsbeendigung

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c. Probleme der dogmatischen Konzeption Insbesondere für ein Auseinanderfallen von objektiver Erklärung und subjektivem Willen war und ist es bis in die Gegenwart umstritten, ob auf das Element des wirklichen Willens (§ 133 BGB) oder aber auf den mit normativen Kriterien ermittelten objektiven Erklärungswert (§ 157 BGB) abzustellen ist.509 Einige schlagen deswegen vor, den Unterschied von § 133 BGB und § 157 BGB durch den Verweis auf hermeneutische Aspekte aufzulösen.510 Teils wird eine Abrüstung des normativen Anspruchs der Vertragsauslegung vorgeschlagen, da dieser eigentlich nur die Funktion zukomme, das Risiko von Missverständnissen zu regeln.511 Für den verbleibenden normativen Anspruch der Vertragsauslegung wird in der Folge teils von einer hermeneutischen Gleichrangigkeit der subjektiven, willensorientierten und der objektiven, erklärungsorientierten Auslegungskriterien ausgegangen.512 Allerdings entbindet die Annahme einer hermeneutischen Gleichrangigkeit nicht davon, die Reichweite der Berücksichtigung von Interessen und Umständen zu begründen, zumal wenn zugleich die herausragende Bedeutung der objektiven Kriterien im Namen der Funktionsfähigkeit der Zivilrechtsordnung betont wird.513 Das sachliche Problem der Verhältnisbildung zwischen subjektiven und objektiven Elementen besteht auch fort, wenn die mit der Objektivierung verbundene Berücksichtigung kollektiver Normen lediglich semantisch in eine „objektiv-normative Redlichkeitsperspektive“ umbenannt wird,514 um so eine stärkere Subjektivierung des objektiven Empfängerhorizonts anzudeuten, ohne aber entsprechende Kriterien der Subjektivierung oder eine entsprechend subjek­ tivierende Interpretation von Kriterien wie Interessenausgleich und Vertrauensschutz vorzuschlagen. Die Verweise auf Vertrauen, Interessenausgleich und Verkehrssitten nehmen normativ letztlich stets den Gedanken eines allgemein geteilten sozialethischen Minimums in Anspruch. Wie bei § 138 BGB wird letztlich auch bei Vertragsauslegung nach § 157 BGB auf eine der herrschenden Wirtschafts- und Sozial-

509  Zur Diagnose dieses Problems und eine Tendenz zur vorrangigen Bedeutung der Erklärung bereits v. Jhering, Culpa in Contrahendo oder Schadensersatz bei nichtigen oder nicht zur Perfection gelangten Verträgen, S. 1 (71 ff.); für ein Abstellen auf den Willen ­gegenwärtig etwa Lobinger, Rechtsgeschäftliche Verpflichtung und autonome Bindung, S. 90 f. 510 Schon Wieacker, JZ 1967, 385 und Coing, Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik, S. 46. 511 Staudinger/Singer, 2017, § 133 Rn. 2. 512  So Staudinger/Honsell, Einleitung zum BGB, 2013, Rn. 137. 513  So Staudinger/Honsell, Einleitung zum BGB, 2013, Rn. 137. Letztlich für einen Vorrang der objektiven Kriterien des § 157 BGB aus Gründen des Verkehrs- und Vertrauensschutzes Staudinger/Singer, 2017, § 133 Rn. 6. 514 So Greiner, AcP 217 (2017), S. 532.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

ordnung immanente Rechtsethik verwiesen,515 ohne deren Kriterien zu begründen. Dennoch werden gerade für die Auslegung von empfangsbedürftigen Willenserklärungen allein diese objektiven normativen Kriterien herangezogen. Es bleibt dabei ebenso wie bei § 138 BGB unklar, worin genau das sozialethische Minimum besteht. Dies gilt umso mehr, als sich eine solche Herangehensweise schon bei der umfassenden Analyse der Auslegungskriterien der guten Sitten als unzureichend erwiesen hat. Keine der zentralen zwingenden Grenzziehungen rechtsgeschäftlicher Freiheit konnte unter den Bedingungen des demokratischen Rechtsstaats der Gegenwart überzeugend auf ein sozialethisches Minimum gestützt werden. Das zeigten unter anderem bereits der endgültige Abschied von der laesio enormis,516 aber vor allem auch die unumgehbare Beachtung der einfachgesetzlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben, die zu einer rechtsgeschäfts- wie auch rechtsgebietsspezifischen Auslegung jenseits einer allgemeinen kulturellen Moral führt.517 Allerdings dürfen die Auslegungskriterien zu § 138 Abs. 1 BGB nicht einfach auf die Vertragsauslegung übertragen werden. Denn diese dient nicht dem Schutz der Entscheidungsfreiheit einer Vertragspartei, sondern dem Erhalt der interaktiven Handlungshoheit in Form des übereinstimmenden Willens der Parteien. Sie muss insoweit stärker innerhalb der rechtsgeschäftsspezifischen Erwartungen und Willensübereinstimmungen der Parteien verbleiben.

2. Das Kontextualisierungsproblem im Spiegel der Theorieangebote Eine im Sinne des geltenden Rechts und gerade mit der normativen Vorgabe der Ermittlung des wirklichen Willens nach § 133 BGB kohärente und konsistente Vertragsauslegung verlangt, jenseits der Wortlautorientierung und über hermeneutische Erläuterungen hinaus die beiden gegenläufigen Aspekte des individuellen Willens und seiner kontextabhängigen Verobjektivierung argumentativ und strukturell zu berücksichtigen sowie stärker zu verschränken. Soweit die unterschiedlichen Theorieangebote eine weitere Kontextualisierung oder eine weitere Autonomie-Orientierung vorschlagen, gilt es, ihren Beitrag zum Umgang mit dem Konflikt zwischen den gegenläufigen Aspekten des individuellen Willens und des Kontexts zu analysieren.

515  So etwa MüKo-BGB/Busche, § 157 Rn. 10 aufbauend auf Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze, S. 128 ff. 516 S. o. Teil 3, die guten Sitten. 517 S. o. Teil 3, die guten Sitten.

B. Der Vertragsinhalt, die Vertragsauslegung und die Vertragsbeendigung

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a. Autonomie-Orientierung im Anschluss an das vertragliche Versprechen Kritiker der Interessentheorie wie auch einer öffentlichen Dimension des Vertrags betonen im Ausgang von einem streng zustimmungsbasierten Vertragskonzept, dass umfassende moralische Konzepte oder weitgehende Theorieentwürfe des Vertragsrechts den Respekt für den individuellen Charakter des Vertrags vermissen lassen.518 Das ist beispielsweise von hoher Erklärungskraft für die Auslegung nicht empfangsbedürftiger Willenserklärungen.519 Jedoch bleibt innerhalb dieses Ansatzes unklar, wie das Problem der Kontextualisierung für empfangsbedürftige Willenserklärungen zu adressieren ist. Normen, die der individuellen Handlungshoheit dienen, werden durch Überlegungen entlang der Verbindlichkeit vertraglicher Versprechen überzeugenderweise betont.520 Teils wird daher von einem „monistischen Ansatz“ gesprochen, der auf nationaler Ebene jeweils unterschiedliche Lösungen bereitstelle.521 Allerdings wird der für die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen erforderliche Normenbestand, der auch der interaktiven Handlungshoheit dient, aus einer vor allem autonomie-orientierten Perspektive weitgehend ausgeblendet. Allenfalls wird über die Theorie des Vertrags als Versprechen hinaus darauf hingewiesen, dass objektive Vertragstypen für den individuell Handelnden auch eine Zunahme an Autonomie bedeuten können.522 Teils wird auch eine unhintergehbare Bedeutung des wirklichen individuellen Willens und der entsprechenden privatrechtlichen Diskursstruktur diagnostiziert. Demzufolge sei der Fortbestand des Autonomieprinzips jenseits normativer Begründungen ohnehin durch die gesellschaftlichen Besonderheiten der Moderne soziologisch abgesichert.523 Darüber hinaus seien jedoch paternalistische und auch vormoderne Beschränkungen hinzunehmen oder erforderlich, um die „Reflexivität“ des modernen Rechts und seiner Rechtsinstitute zu sichern.524 Aus einer solchen macht- und funktionsanalytischen Beobachtung 518  So pointiert etwa Gutmann, Law and Contemporary Problems 76 (2013), S. 52 im Hinblick auf die gegenwärtigen internationalen Debatten um plurale Theorien des Privatrechts. Demgegenüber wird teils auch auf einen substanziell-konventionalistisch aufgeladenen Freiheitsbegriff nach dem Muster von Raz, The Morality of Freedom, S. 133 verwiesen, der Dagan, Law & Contemporary Problems 76/2 (2013), S. 19 zufolge als Idee eines Autonomiebegriffs entlang eines Konzepts der (biographischen) Selbst-Autorenschaft privatrechtstheoretisch nutzbar gemacht werden kann. 519  Etwa bei der Auslegung eines Testaments, siehe Teil 3 A. IV. 4. 520  So aus philosophischer Perspektive Shiffrin, Phil. Rev. 117 (2008), S. 481, 520 und 522. 521  So unter Verweis auf Kelsen etwa Hesselink, How many Systems of Private Law are there in Europe?, in: Niglia (Hrsg.), Pluralism and European Private Law, 2013, S. 233 f. 522  So etwa Dagan/Heller, The Choice Theory of Contract, insb. S. 78 und 137. 523  Auer, Der privatrechtliche Diskurs, S. 138 im Anschluss an Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher, S. 14 ff. 524  Auer, Der privatrechtliche Diskurs, S. 162.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

folgt jedoch, wie schon im Rahmen der Analyse des privatrechtsphilosophischen Theorieangebots, nur, die weiteren zunehmenden Durchbrechungen des Autonomieprinzips zu beobachten.525 Es gilt daher auch im Rahmen der dogmatischen Problemanalyse der Vertragsauslegung, wie schon bei der privatrechtsphilosophischen Aufarbeitung der Theorieangebote, die normativ gehaltvolleren Theorieangebote heranzuziehen.

b. Die ökonomische Theorie des Rechts Die ökonomische Theorie des Rechts setzt mit ihren Überlegungen zu einem für alle Beteiligten effizienten Vertragsrecht vertrags- und zweckorientiert an. Dennoch wird sie allgemein wegen ihrer Orientierung an einem vollständigen Vertrag als untaugliches Kriterium der Vertragsauslegung angesehen. Insbesondere wird darauf hingewiesen, dass die Auslegung eines konkreten Vertrags es verbiete, auf den Maßstab einer für beide Parteien effizienten Vertragsregelung zurückzugreifen.526 Diese Ablehnung läuft dem Selbstverständnis der ökonomischen Theorie des Rechts zuwider. Aus der ökonomischen Perspektive dient die Vertragsauslegung als ideales Beispiel, um eine sogenannte Verhandlungslösung zu simulieren, die eine Effizienzsteigerung für die am Vertragsverhältnis beteiligten Parteien zur Folge hat.527 Es wird gefragt, welche Auslegung rationale und eigennützige Parteien wählen würden. Dabei werden dann wiederum die marktmäßigen Gesichtspunkte herangezogen. Dennoch bleibt die Ebene der Rekonstruktion des individuellen Parteiwillens leitend und legt insoweit die rechtliche Verwendung der ökonomischen Analyse des Rechts auf eine autonomie-orientierte Verwendungsweise fest. (aa) Der individualistische Zug der ökonomischen Theorie des Rechts wird an deren rechtspolitischem Programm sichtbar. Es ist im Anschluss an Friedman und seit Coase vor allem von einer anti-interventionistischen Linie durchzogen, die das Marktgeschehen soweit wie möglich ohne staatliche Eingriffe simulieren oder auch real laufen lassen will.528 Bei der Vertragsauslegung findet der individualistische Zug seinen Niederschlag vor allem im Umgang mit Transaktionskosten. Hohe Transaktionskosten stehen einer Verhandlungslösung typischerweise entgegen.529 Eine Ver525 S. o.

Teil 2 B. II. 3. So eindrücklich Staudinger/Roth, 2015, § 157 BGB Rn. 2. 527 Siehe Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 65 f. 528 Etwa Friedman, Capitalism and Freedom, S. 1–36 und Coase, Journal of Law and Economics 3 (1960), S. 1–44. 529 S. o. Teil 2 D. 526 

B. Der Vertragsinhalt, die Vertragsauslegung und die Vertragsbeendigung

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handlungslösung ist daher regelmäßig ausgeschlossen, wenn eine Vielzahl von Parteien beteiligt ist, da hier „prohibitive Transaktionskosten“ drohen. Insoweit idealisiert die ökonomische Theorie des Rechts an dieser Stelle das Problem der Transaktionskosten und setzt sie fiktiv auf null. 530 Damit wird die Möglichkeit einer Verhandlungslösung im Partei-Interesse aufrechterhalten. (bb) Die Verhandlungslösung führt jenseits der Transaktionskosten jedoch das Problem der Typologisierung der Entscheider mit sich. Es hatte sich gezeigt, dass die normativen Probleme des Utilitarismus an dieser Stelle zu normativen Problemen der ökonomischen Analyse des Rechts werden, die sich in großen Problemen bei der realistischen Nutzenbewertung und insbesondere den konkreten intersubjektiven Nutzenvergleichen niederschlagen.531 In der Gegenrichtung werden aber auch die empirischen Probleme der ökonomischen Analyse des Rechts im Hinblick auf die Berücksichtigung empirischer Beschränkungen menschlicher Rationalität zwar gelöst. Allerdings um den Preis des Verlusts ihrer normativen Kraft.532 Diese beiden gegenläufigen Grenzen der Begründungskraft der ökonomischen Theorie des Rechts führen zur Zurückweisung eines überzeugenden allgemeinverbindlichen Vorrangs des Effizienzziels. (cc) Im Hinblick auf die Vertragsauslegung lassen sich aber die beiden gegenläufigen Probleme durch die Berücksichtigung des übereinstimmenden Willens lösen. Auf der normativen Seite der Simulation der Verhandlungslösung ist der intersubjektive Nutzenvergleich auf das konkrete Vertragswerk beschränkt533 und muss nicht volkswirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Probleme lösen. Auf der empirischen Seite sind die Defizienzen des Vertragswerks in Form eines Streits um seine Auslegung identifizierbar. Damit spricht – entgegen der anderslautenden weitverbreiteten juristischen Überzeugung534 – nichts gegen eine Heranziehung der ökonomischen Analyse des Rechts bei der Vertragsauslegung, sofern die Parteien sich einig sind, wirtschaftlich effizient handeln zu wollen. Das Modell des nutzenmaximierenden Akteurs ist damit insoweit jenseits von Vertrauensschutz und Interessenausgleich tragfähig für die juristische Entscheidungsfindung bei der Vertragsauslegung, sofern die Parteien des Vertrags sich das Ziel eines effizienten Vertrags zu eigen machen.

530  Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 65 im Anschluss an Coleman, Risks and Wrongs, S. 83. 531  Teil 2 D. III. 532  Teil 2 D. IV. 2. 533 Siehe Holmström/Milgrom zum Principal-Agent-Problem in Journal of Law, Economics & Organization (1991), S. 24–52. 534  Für viele: Staudinger/Roth, 2015, § 157 Rn. 2.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

c. Gerechtigkeit durch Interessenausgleich Die Idee des Interessenausgleichs bei der Vertragsauslegung kreist um die Berücksichtigung der Interessen der Gegenseite535 und findet inzwischen auch durch die Normierung der Rücksichtnahmepflichten in § 241 Abs. 2 BGB einen gesetzlichen Anknüpfungspunkt.536 Die gerechtigkeitsorientierten Ansätze können hier mit unterschiedlichen Nuancierungen herangezogen werden. (aa) Der Ansatz der Verteilungsgerechtigkeit setzt die Interessen der Vertragsparteien dabei wesentlich gleich mit den Normierungen des Gesetzgebers, die einen objektiven Interessenausgleich verbürgen.537 Hier wird die Bedeutung des vorhandenen Normenbestands strukturell betont. Mehr gesetzliche Regelungen führen demnach zu mehr Verteilungsgerechtigkeit. Dieser Ansatz verstärkt die Ablösung der Vertragsauslegung vom wirklichen Willen der Parteien. Die Normen, die sich eine Gesellschaft zum Erhalt ihrer kollektiven Handlungshoheit gegeben hat, stechen die Normen aus, die dem Erhalt der individuellen Handlungshoheit dienen. Der Ansatz der Verteilungsgerechtigkeit kann daher bei der Vertragsauslegung immer dann überzeugend mit herangezogen werden, wenn das Gewicht von Vertrauensschutz und Interessenausgleich betont werden soll.538 (bb) Der „corrective-justice-Ansatz“ nimmt bei Vertragsauslegung dagegen die Erklärungen der Parteien in den Blick. Er ist auf die „Bipolarität“ des Vertragsverhältnisses beschränkt.539 Nachdem der Wille eine innere psychische Tatsache ist, wird vor allem an die Erklärung angeknüpft. Das Willenselement wird folgerichtig insoweit entbehrlich, da sich der Sinn des übereinstimmenden Willens aus der von den Parteien geteilten Erklärung ergibt. Damit wird letztlich von einer objektiven Erklärungsbedeutung ausgegangen und das Problem der Auslegung heruntergespielt. Dies ist jedoch nur überzeugend, soweit man innerhalb eines aristotelischen Rahmens von einer metaphysisch eindeutigen Ziel- oder Bedeutungsbestimmung eines Vertrags ausgeht.540 Die Vielschichtigkeit der gegensätzlichen, aber auch gleichläufigen Interessen eines Vertrags wird so ausgeblendet. Damit bietet der „corrective-­ justice-Ansatz“ keine weiteren Hinweise oder gar Kriterien der Vertragsgestaltung. Er bleibt bei seinem monistischen Erkenntnisanspruch jenseits des übereinstimmenden Willens der Vertragsparteien stehen.541

535 MüKo-BGB/Busche,

§ 157 Rn. 7. 2015, § 241 BGB Rn. 389 f. krit. zu dieser ergänzenden Funktion des § 241 BGB über § 157 und § 242 BGB hinaus. 537 Siehe Arnold, Vertrag und Verteilung, S. 226 ff. und oben Teil 2 D. III. 3. b. 538  Beispielhaft MüKo-BGB/Busche, § 157 Rn. 7. 539 S. o. Teil 2 D. III. 540 S. o. Teil 2 D. III. 541 S. o. Teil 2 D. III. und V. 536 Staudinger/Olzen,

B. Der Vertragsinhalt, die Vertragsauslegung und die Vertragsbeendigung

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In der Folge ist es nicht einmal mehr möglich, mit den Mitteln des „corrective-justice-Ansatzes“ den Parteien die Möglichkeit der Wahl ihrer Entscheidungskriterien zuzuschreiben. Denn die „corrective justice“ ist selbst zweckfrei und daher stets und ausschließlich heranzuziehen, um normative Fragen des bipolaren Vertragsverhältnisses zu lösen.

d. Die soziologische Einbettung des Vertrags Sie führt in der beschreibenden Variante dazu, dass Veränderungen des Vertragsrechts – wie bei der postmodernen Vertragstheorie – beobachtet werden. Es kann beispielsweise analysiert werden, wie die subjektiv-rechtliche Dimension des Eigentumsbegriffs zunehmend durchbrochen wird.542 Für die Frage der Vertragsauslegung können aber erst durch die normativ gewendete Variante der Systemtheorie Lösungsvorschläge gewonnen werden. Die willensbefreite „Matrix des Vertragsrechts“ besteht aus von den Vertragsparteien selbst geschaffenen Regelungen, die sich aber eigenständig weiter reproduzieren. Insoweit ist die Vertragsauslegung ein Teil einer sogenannten „Ent-Paradoxierung“ rechtlicher Normen.543 Demnach können Ambivalenzen und Widersprüche zwischen Umweltanforderungen und Normenbestand entweder durch eine Unterdrückung der Widersprüche ausgeblendet oder durch den produktiven Gebrauch von Paradoxien zur Weiterentwicklung des Rechts fruchtbar gemacht werden.544 Während die Rechtsdogmatik typischerweise repressiv reagiert, eröffnet die soziologische Jurisprudenz in ihrer normativ gewendeten, systemtheoretischen Fassung den Weg zur Weiterentwicklung des Rechts. Beispielsweise wird die sogenannte Corporate Social Responsibility (CSR) in dem Maße zu einem Gegenstand des globalen Rechts, in dem zunächst einzelne Parteien bestimmte Standards entwerfen, die sodann institutionell – etwa von der European Business Community oder auch der Europäischen Kommission – aufgenommen und nunmehr ohne die Beteiligung der Vertragsparteien diskutiert und festgesetzt werden.545 Die außervertragliche Verfestigung der CSR-Regeln wird sich – so die Erwartung – um eine disziplinierende Dimension bei Regelverstößen erweitern und schließlich ein fester Bestandteil zivilgesellschaftlicher „governance“ werden.546 Aus dieser Perspektive gilt es, jenseits des Problems der Vertragsauslegung, die vertraglichen Vereinbarungen und ihre Verdichtung zu Netzwerken positiv aufzunehmen, dienen sie doch immer der sogenannten „Entblockierung“, das 542 S. o.

Teil 2 B. II. 3. Teubner, Coincidentia oppositorum, in: Amstutz (Hrsg.), Die vernetzte Wirtschaft, 2004, S. 11–42, 12 f. 544 Dazu Teubner, Coincidentia oppositorum, in: Amstutz (Hrsg.), Die vernetzte Wirtschaft, 2004, S. 11–42, 20 f. und 41 f. 545  Amstutz, SZW 3 (2015), S. 189, 193. 546  Amstutz, SZW 3 (2015), S. 189, 198. 543 Dazu

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

heißt der Überwindung der repressiven Herangehensweise. Für die Frage der Vertragsauslegung ergibt sich daraus, dass sie weder im Hinblick auf den wirklichen Willen noch auf seine dogmatischen Beschränkungen des Vertrauensschutzes und des Interessenausgleichs gestützt werden kann. Vielmehr wird eine „Zwischenwelt“ zwischen Vertrag und zwingendem Recht herangezogen: die Vertragsnetzwerke des globalen oder potentiell transnationalen Rechts. Es entsteht ein überindividuelles „Netzwerkinteresse“, das nur als Raum der Kompatibilität autonomer Netzwerkteilnehmer bestehen könne.547 Letztlich werden damit die internationalen Verkehrsüblichkeiten entscheidend, die aber im Unterschied zu nationalstaatlichen Vorgaben noch in Entwicklung begriffen sind. Allein Aspekte der kollektiven Handlungshoheit sind insoweit für das Vertragsverständnis entscheidend, soweit sie sich vom übereinstimmenden Willen konkreter Vertragsparteien ablösen lassen.

e. Die diskurstheoretische Perspektive Die diskurstheoretische Normenbegründung hat ansatzbedingt schon Schwierigkeiten, das Problem der Vertragsauslegung auch dogmatisch angemessen zu erfassen. Sie versteht vor dem Hintergrund des intersubjektiven Diskursprinzips private Autonomie als einen Schutzraum, der es dem Einzelnen erlaubt, sich von allen sozialen Verpflichtungen und Bindungen zurückzuziehen.548 Die Vertragspartner würden weitgehend anonym kommunizieren.549 Die Befürwortung einer möglichst starken intersubjektiven Einbindung der Vertragsfreiheit führt bei der Vertragsauslegung – wie schon bei der normativen Formgebung für Handlung –550 zu einer Fokussierung der intersubjektiven Vorgaben, die nicht auf den Parteiwillen zurückgehen.

3. Die Kontextualisierung aus der Perspektive der interaktiven Handlungshoheit: Die Zwischenebene der Theoriewahl durch die Vertragsparteien Im Mittelpunkt des Zivilrechts steht dem Theorieangebot der Handlungshoheit zufolge das Vertragsrecht.551 Für die normativen Kriterien der Vertragsauslegung zeigt sich ein Gleichlauf mit dem dogmatischen Ausgangspunkt des Vertragsschlusses. Allerdings steht die Inhaltsbestimmung im Sinne der Parteien im Zentrum der Vertragsauslegung und nicht die Umsetzung objektiver Kriterien eines sozialethischen Minimums. Bei der Vertragsauslegung rückt damit 547 Dazu Teubner, Coincidentia oppositorum, in: Amstutz (Hrsg.), Die vernetzte Wirtschaft, 2004, S. 11–42, 20 f. und 41 f. 548 So Honneth, Das Recht der Freiheit, S. 147, 155 f. 549 So Honneth, Das Recht der Freiheit, S. 249. 550 S. o. F. III. 3. und IV. 551 S. o. G. III.

B. Der Vertragsinhalt, die Vertragsauslegung und die Vertragsbeendigung

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zwischen subjektivem Wollen und objektiver Erklärung das bisher nicht berücksichtigte Problem der Wahl der Hintergrundannahmen durch die Parteien in den Mittelpunkt.

a. Der Gleichlauf mit dem dogmatischen Ausgangspunkt Im Einklang mit den rechtsdogmatischen Erkenntnissen hat der Vertrag eine „königliche Stellung“552 inne. Der Konsens der Parteien ist der Grund, warum bei der rechtlichen Bewertung eines Sachverhalts zunächst immer gefragt werden muss, ob vertragliche Ansprüche im Raum stehen. Der übereinstimmende Parteiwille ist darüber hinaus auch normativ auf allen Ebenen des Vertragsrechts leitend.553 Darin liegt beispielsweise nicht nur der Grund für den Vorrang der Nacherfüllung, der im Kaufrecht in §§ 437 Nr. 1, 439 I BGB geregelt ist.554 Er wirkt bei der Bestimmung der rückabzuwickelnden Leistungen nach § 346 I, II BGB ebenso fort wie im Schadensrecht durch die Differenzhypothese555 oder im Bereicherungsrecht durch die Saldotheorie.556

b. Vertragsauslegung als Inhaltsbestimmung Um die normativen Vorgaben des Vertragsrechts anzuwenden, ist es unabdingbar, zunächst zu verstehen, worauf sich die Parteien vertraglich geeinigt haben. Das ist der überzeugende Zweck der Vertragsauslegung und rechtfertigt die Ablösung vom Willen einer Vertragspartei wie auch vom Wortlaut der Vertragsurkunde. In dem Moment, in dem Parteien rechtliche Verhältnisse einvernehmlich regeln, entsteht aus der Perspektive der Handlungshoheit ein (wechselseitiges) Rechte- und Pflichtenprogramm, das nicht mehr im bloßen Belieben der Parteien steht. Privatautonomie im Vertragsrecht bedeutet daher nicht nur im Sinne ihrer dogmatischen Verankerung in § 311 Abs. 1 BGB, dass die Parteien frei in der Gestaltung ihrer vertraglichen Rechte und Pflichten sind. Sie bedeutet aber auch nicht, dass Privatautonomie allein individualistisch und formal verstanden wird.557 Vor allem bedeutet Privatautonomie im Vertragsrecht, das Schicksal der übereinstimmenden Vereinbarung unabhängig vom isolierten Willen nur einer Vertragspartei zu regeln. Es kommt, anders 552  Weller, Die Vertragstreue. Vertragsbindung – Naturalerfüllungsgrundsatz – Leistungstreue, S. 560 f. 553 Vgl. Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, Rn. 8 ff. für die dogmatisch üblichen Vorgaben. 554  Etwa Palandt/Weidenkaff, § 439 Rn. 1. 555  Etwa Palandt/Sprau, § 818 Rn. 47. 556  Etwa Palandt/Sprau, § 818 Rn. 46 und 48. Zur Saldotheorie teils krit. Fest, Der Einfluss rücktrittsrechtlicher Wertungen, S. 14 ff. und 110 f. 557  So dagegen Honneth, Das Recht der Freiheit, S. 147.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

als bei der Willenserklärung, nicht mehr auf die isolierte Ermittlung des Willens Einzelner an, sondern auf die Ermittlung des gemeinsam von den Parteien gewollten Vertragsinhalts, unabhängig vom jeweils einzelnen Willen der Par­ teien.558

c. Vertragsauslegung als Ausdruck interaktiver Handlungshoheit durch Theoriewahl Der Kern der Privatautonomie, die Vertragsfreiheit, eröffnet durch die Vertragsschlussfreiheit dem Einzelnen die Möglichkeit, sich mit anderen gemeinsam Regeln zu geben und Vorhaben zu verfolgen. Die Komplexität privatautonomer Normenbildung und -begründung hat hier ihren Ausgangspunkt. Grundsätzlich kann jeder mit jedem formfrei Vereinbarungen eines beliebigen Inhalts schließen. Eine inhaltlich nicht mehr erfassbare Vielfältigkeit von privaten Regelungen entsteht, deren konkreter Inhalt nur im Einzelfall ermittelt werden kann. Bei der Ermittlung des Inhalts ist wiederum die Ausrichtung des Vertrags in seinem Kontext zu beachten. Die privatrechtliche Vertragsfreiheit verwirklicht primär die interaktive Handlungshoheit der Vertragsparteien. Sie ist zwar nicht die Erfüllung von umfassender Selbstverwirklichung oder der Ausübung der individuellen Handlungshoheit. Aber sie ist ein zentrales Element individueller Selbstverwirklichung.559 Sie betrachtet den Menschen, anders als neoaristote­lische Überlegungen, nicht als ein Wesen „ohne Fleisch und Blut“560, sondern als ein Wesen, das die für einen Gesetzgeber unvorhersehbare Vielfalt seiner materiellen Bedürfnisse durch vertragliche Kooperation – dem zentralen Instrument der Handlungskoordination der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft – befriedigt. Die Rechtsordnung kann die interaktive Handlungshoheit der Vertragsparteien unterstützen, indem sie die individuelle Handlungshoheit nicht nur – wie in § 133 BGB angelegt – respektiert, sondern auch die Normen der interaktiven Handlungshoheit, die von Vertragsparteien zur Selbststeuerung und kooperativen Zielerreichung gesetzt werden, jenseits der typisierenden oder verfassungsrechtlichen Vorgaben der Rechtsordnung respektiert. Daraus ergibt sich die Anforderung, bei der Vertragsauslegung eine weitere Ebene zwischen dem wirklichen Willen einer Partei und den objektivrechtlichen Vorgaben einzuziehen. 558 

Vgl. Palandt/Ellenberger, § 157 Rn. 1. Anders dagegen Honneth, Das Recht der Freiheit, S. 154, der in der Folge eines unzutreffenden Begriffs von Privatautonomie (als individueller Rückzugsraum von allen sozialen Bezügen) davon ausgeht, dass die rechtliche Freiheit „in keiner Weise“ eine Sphäre der individuellen Selbstverwirklichung sei. 560 So Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, S. 466. 559 

B. Der Vertragsinhalt, die Vertragsauslegung und die Vertragsbeendigung

235

Es gilt, eine von den Parteien ausdrücklich oder implizit vorgenommene Wahl der „underlying principles“ des jeweiligen Vertrags zu berücksichtigen. Ist davon auszugehen, dass die Parteien vor allem wirtschaftlich effizient handeln wollten, so sind die Überlegungen der ökonomischen Analyse des Rechts von besonderer Bedeutung. Wollten die Parteien sich vor allem in eine bestimmte Form von Vertragsnetzwerk integrieren, etwa im Hinblick auf bestimmte Finanzprodukte, so kommt den entsprechenden Verkehrssitten eine besondere Bedeutung zu. Sind die Parteien vor allem auf Ausgleich ihrer Interessen vor dem Hintergrund der deutschen Rechtsordnung bedacht, so sind die rechtsgebietsspezifischen einfachgesetzlichen und verfassungsrechtlichen Kriterien des deutschen Rechts von besonderer Bedeutung. Das gilt insbesondere auch, soweit Kriterien der schon verrechtlichten Verteilungsgerechtigkeit, wie etwa im Mietrecht, enthalten sind. Die besondere Berücksichtigung eines privatrechtsphilosophischen Theorieangebots kann innerhalb der Vertragsauslegung helfen, dem Respekt vor der interaktiven Handlungshoheit der Vertragsparteien in besonderer Weise Rechnung zu tragen. Sie verlangt jedenfalls, über individuelle Autonomie, Vertrauensschutz und Interessenausgleich hinaus auch das von den Parteien intendierte Handlungsprogramm ernster zu nehmen, als dies derzeit unter der Perspektive des Vertrauensschutzes und des Interessenausgleichs geschieht. Denn in jedem Fall wollen die Parteien im Namen des Erhalts ihrer individuellen Handlungshoheit, dass ihre individuellen Ausgangspositionen für den Vertragsschluss auch im Hinblick auf die Vertragsauslegung beachtet werden und es ihnen möglich bleibt, auch nach dem Vertragsschluss noch andere rechtsgeschäftliche Handlungen vorzunehmen.561 Die weitere Kontextualisierung bedeutet letztlich immer, die vertragliche Freiheit in Konventionen einzubinden. Konventionen können Ausdruck gesellschaftlicher Zwänge sein. Als selbstgesetzte Regeln können sie jedoch auch als Ausdruck der interaktiven Handlungshoheit gedeutet werden, wenn die Parteien die Theoriewahl selbst in ihre gemeinsame Willensbildung explizit oder implizit integriert haben. Die rechtsdogmatisch kontextorientierte Herangehensweise steht insoweit unter hohem Rechtfertigungsdruck, dem ein Verweis auf objektive Kriterien des Vertrauensschutzes und des Interessenausgleichs nicht mehr genügen können. Sie kann dem Rechtfertigungsanspruch aber gerecht werden, wenn es ihr gelingt, die gemeinsamen Partei-Interessen und deren zu Grunde liegende Theoriewahlpräferenz auch jenseits der gesellschaftlich herrschenden Vorstellungen von Vertrauensschutz und Interessenausgleich zu berücksichtigen. Dies gelingt, wenn zwischen subjektivem Wollen und objektivem Erklärungssinn der Vertragsschluss als ein für die beteiligten Parteien 561  Zur Einschränkung der individuellen Handlungshoheit durch die guten Sitten s. o. Teil 3 A.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

selbst konventionsbildender Akt verstanden wird, der seinen vollen Sinn durch eine explizite oder implizite Wahl von „underlying principles“ durch die Parteien für die Durchführung des konkreten Vertrags gewinnt.

IV. Der hypothetische Parteiwille und die Vernunft des Vertrags Die Vertragsauslegung wird auch zur Füllung von Lücken im Vertragsrecht herangezogen. Teils wird daher von der ergänzenden Vertragsauslegung gesprochen.562 Ebenso wie bei der einfachen Vertragsauslegung stehen die Kriterien der Vertragsauslegung unter dem Druck, den geteilten Parteiwillen in seiner Konvergenz und Divergenz angemessen zu berücksichtigen.

1. Die dogmatischen Erkenntnisse Zweck und Funktion des hypothetischen Parteiwillens bilden die Grundlage für die allgemein anerkannten Kriterien seiner Ermittlung.

a. Zweck und Funktion Das Ziel der ergänzenden Vertragsauslegung besteht darin, zu ermitteln, was redliche und verständige Parteien in Kenntnis der Regelungslücke nach dem Vertragszweck bei sachgemäßer Abwägung ihrer beiderseitigen Interessen nach Treu und Glauben vereinbart hätten.563 Von der Feststellung einer Regelungslücke wird ausgegangen, wenn subjektive Willensäußerungen der Beteiligten fehlen und insoweit eine Vertragsauslegung im Sinne der Ermittlung des übereinstimmenden Parteiwillens nicht erfolgversprechend erscheint.564 Die inhaltliche Weiterentwicklung des vorhandenen Vertrags soll dabei aus dem Sinnzusammenhang des jeweiligen Rechtsgeschäfts hergeleitet werden.565 Das regelungsbedürftige Problem soll durch die Ermittlung eines hypothetischen Parteiwillens gelöst werden, der den vorhandenen Regelungsplan der Parteien fortschreiben soll.566 Die Kriterien zur Ermittlung des hypothetischen Parteiwillens stehen damit unter dem Begründungsdruck, ihren Zusammenhang mit dem Parteiwillen und damit den Grundsätzen der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre so gut als möglich auszuweisen.567 562 

So MüKo-BGB/Busche, § 157 Rn. 26 f.; Staudinger/Roth, 2015, § 157 Rn. 2 und 4. So die Standardformulierung des BGH, vgl. etwa BGHZ 84, 1 = NJW 1982, 2184. 564 Staudinger/Roth, 2015, § 157 Rn. 4. 565 Soergel/Wolf, § 157 Rn. 103; schon BGHZ 9, 273, 277 f. = NJW 1953, 937, 937 f. 566 Staudinger/Roth, 2015, § 157 Rn. 4. 567 Soergel/Wolf, § 157 Rn. 104. 563 

B. Der Vertragsinhalt, die Vertragsauslegung und die Vertragsbeendigung

237

b. Gesetzliche Vorgaben als Kriterien des hypothetischen Parteiwillens Die ergänzende Vertragsauslegung orientiert sich so dabei vor allem an objektiven Kriterien. Sie sollen der geltenden Rechtsordnung entnommen werden. Den Maßstab bilden damit die zwingenden oder dispositiven gesetzlichen Regelungen.568 Dabei wird allgemein zunächst davon ausgegangen, dass angesichts der Komplexität des Inhalts privatautonomer Erklärungen zwar kein allgemeiner Vorrang des dispositiven Rechts angenommen werden kann, jedoch im Einzelfall nach entsprechenden Anhaltspunkten zu suchen sei.569 Oft wird jedoch in einem zweiten Schritt darüber hinaus auch davon ausgegangen, dass der hypothetische Parteiwille keinen Bezug mehr zu den individuellen Vorstellungen der Parteien habe und daher dem gesetzlichen Recht ohnehin ein Vorrang bei der Ermittlung des hypothetischen Parteiwillens zukomme.570 Insbesondere dem dispositiven Recht und rechtlich anerkannten Üblichkeiten, wie etwa Handelsbräuchen, wird aus dieser Perspektive eine besondere Ordnungsfunktion oder ein Vorrang zugeschrieben.571 Das liegt vor allem daran, dass bis heute eine Engführung von Vertrags- und Gesetzesauslegung vorgenommen wird. Demzufolge bilde der Vertragszweck den Maßstab für die Vertragsauslegung ebenso wie der Gesetzeszweck den Maßstab für die Gesetzesauslegung bilde.572 Der tatsächliche Parteiwille bildet dann nur mehr eine äußere Grenze, dem die Ergebnisse der ergänzenden Vertragsauslegung nicht widersprechen dürfen.573 Ebenso begrenzend soll der Vertragszweck wirken. Das Ergebnis der ergänzenden Vertragsauslegung soll mit dem von den Parteien intendierten Sinn und Zweck des Vertrags vereinbar sein.574 Beinahe schon in einer Umkehrung zum Ausgangspunkt der Vertragsauslegung, nämlich der Ermittlung des tatsächlichen übereinstimmenden Parteiwillens, erscheinen nunmehr bei der Ermittlung des hypothetischen Parteiwillens die Interessenlagen besonders erklä568  BGH NJW 2009, 1482, Rn. 16 und 24; schon BGHZ 40, 91 = NJW 1963, 2071, 2073 f. und BGHZ 16, 71, 76 = NJW 1955, 337. 569 Soergel/Wolf, § 157 Rn. 109; Möslein, Dispositives Recht, S. 260 f. für ein Hin und Her zwischen staatlicher Regelung und privater Abbedingung im Anschluss an Larenz, NJW 1963, 739 und Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 15. 570  Etwa BGHZ 74, 193, 199 = NJW 1979, 1779, 1781 f. 571  Möslein, Dispositives Recht, S. 259 f.; Neuner, in: FS Canaris, 2007, S. 901, 916; schon Mangold, NJW 1961, 2284; ebenso Soergel/Wolf, § 157 Rn. 109 und Staudinger/Roth, 2015, § 157 Rn. 23. Für verschiedene Modelle dispositiven Rechts dagegen Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, S. 96 f. und 126 f. 572  Larenz, NJW 1963, 737, 739 f. im Anschluss daran ebenso Sonnenberger, Verkehrssitten im Schuldvertrag, S. 154 f. und Möslein, Dispositives Recht, S. 262 f. 573  BGHZ 9, 273, 277 = NJW 1953, 937, 937 f.; Mayer-Maly, in: FS Flume, 1978, S. 621, 625. 574  BGH NJW 2009, 1482, Rn. 24. Gegen die Zurechnung eines objektiven Vertragszwecks an die Parteien jedoch Neuner, in: FS Canaris, 2007, S. 901, 907.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

rungsbedürftig, die von denen abweichen, die durch dispositives Recht geregelt werden.

2. Probleme im Umgang mit den dogmatischen Erkenntnissen Die Umkehrung der Ausgangslage gibt bereits einen Hinweis auf grundlegende Probleme im Umgang mit den dogmatischen Erkenntnissen.

a. Vorrang des gesetzlichen Rechts und Grenzen des privaten Regelungsplans? Die besondere Rolle des gesetzlichen Rechts macht deutlich, dass der hypothetische Parteiwille auf die „objektiv-normative Betrachtungsweise“ angewiesen ist.575 Der Vorrang des dispositiven Gesetzesrechts vor der Ermittlung des hypothetischen Parteiwillens beruht aber letztlich auf der meist als Referenz herangezogenen Überlegung von Larenz, dass die Parteien vorrangig an die Normen gebunden sind, die der Gesetzgeber für bestimmte Vertragszwecke oder typisierte Interessenlagen geschaffen hat.576 Diese Überlegung verliert allerdings an Überzeugungskraft, wenn bedacht wird, dass die Zwecke des privaten Vertrags genau nicht mit den Zwecken eines staatlichen Gesetzes parallelisiert werden können, da entgegen den allgemein als Referenz herangezogenen Überlegungen von Larenz zwischen Vertrags- und Gesetzesauslegung strikt zu trennen ist. Die Parteien bestimmen das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung durch übereinstimmende Willenserklärungen. Die von den Parteien bestimmte Äquivalenz unterliegt zwar bestimmten, teils zwingenden, rechtsgeschäftsspezifischen gesetzlichen Wertungen. Darüber hinaus lassen sich aber keine allgemeinen inhaltlichen Kriterien in Form von Werten oder eines sozialethischen Minimums identifizieren,577 die unter der Perspektive der Sachgerechtigkeit dem einzelnen Vertrag stets und objektiv verbindlich vorgegeben sind.578 Hinzu kommt, dass die Parteien ihre individuellen Interessen auch nur im Einzelfall bestimmen und insoweit ihre auch möglicherweise gegenläufigen Interessen nicht durch einen einheitlichen Vertragszweck aufgehoben werden können.579

575 Soergel/Wolf, § 157 Rn. 109; Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, S. 336. 576 Schon Larenz, NJW 1963, 737, 740; ebenso Möslein, Dispositives Recht, S. 262 f. 577 S. o. Teil 3 A. II. 578 Zur Sachgerechtigkeit als Maßstab der teleologischen Gesetzesauslegung Larenz/ Canaris, Methodenlehre, S. 155. 579 So Graf, Vertrag und Vernunft, S. 255.

B. Der Vertragsinhalt, die Vertragsauslegung und die Vertragsbeendigung

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b. Auslegung oder Billigkeit? Den individuellen Interessenlagen wollen dagegen Überlegungen gerecht werden, die im Sinne eines beweglichen Systems die allgemeinen und typisierenden Vorgaben des dispositiven Rechts mit dem Einzelfall versöhnen wollen. So wird etwa vorgeschlagen, dass die Anwendung dispositiven Rechts umso näher liege, je näher ein Rechtsgeschäft sich einem gesetzlich geregelten Vertragstyp annähert.580 Der Vorteil dieser Herangehensweise besteht darin, dass sie insbesondere die Kritik der Fremdbestimmung aufnehmen kann, die durch die Annahme eines einheitlichen Vertragszwecks gerade an gemischt-typischen Verträgen festgemacht werden kann.581 Der Nachteil besteht jedoch darin, dass sich die Kriterien der Ermittlung des hypothetischen Parteiwillens in Leerformeln wie den Verweisen auf einen allgemeinen und individualisierenden „Gerechtigkeitsgehalt“ 582 des dispositiven Rechts verlieren. Deutlich wird dies auch daran, dass das dispositive Recht teils auch als „dritte Spur“ zwischen Vertrag und Gesetz bezeichnet wird.583

c. Richterliche Macht? Die bisher aufgezeigten Probleme bei der Begründung verbindlicher Kriterien zur Ermittlung des hypothetischen Parteiwillens verdichten sich schließlich auch darin, dass sie letztlich als ein Einfallstor für eine sehr große richterliche Entscheidungsmacht angesehen werden muss, die kaum eingrenzbar ist.584 Einer nachvollziehbaren Beschränkung richterlicher Entscheidungsmacht steht insbesondere entgegen, dass nicht einmal ein Rangverhältnis zwischen hypothetischem Parteiwillen, Üblichkeit und Billigkeit besteht.585 Hinzu kommt gerade für das Ziel einer vernünftigen Auslegung das rechtsphilosophische Problem, dass Entscheidungen des Gesetzgebers immerhin das Ergebnis von öffentlichen Entscheidungsverfahren und entsprechenden Diskussionen sind, während richterliche Entscheidungen prima facie keine den Parteiwillen übersteigende Vernünftigkeit beanspruchen können.586

580 Staudinger/Roth, 2015, § 157 Rn. 23 im Anschluss an Soergel/Wolf, § 157 Rn. 113 und Flume, AT II, S. 325. 581 So Martinek, NJW 2000, 1397 am Beispiel der Leasing- und Franchiseverträge. 582  Für einen Gerechtigkeitsgehalt des dispositiven Rechts etwa Medicus, AT, 10. Aufl., Rn. 342 f.; Staudinger/Roth, 2015, § 157 Rn. 24 und Soergel/Wolf, § 157 Rn. 112. 583 So Möslein, Dispositives Recht, S. 484. 584  Für die Gefahr einer freien richterlichen Rechtschöpfung, der entgegengewirkt werden müsse, etwa Staudinger/Roth, 2015, § 157 Rn. 37; Medicus, AT, Rn. 344; BGHZ 9, 273, 279. 585  So Staudinger/Roth, 2015, § 157 Rn. 32 im Anschluss an Medicus, AT, 10. Aufl., Rn. 344. 586 So Brownsword, Contract Law, S. 109 f. Für eine starke Rolle des Richters als Teil einer Gerechtigkeit durch Verfahren dagegen Bagchi, Contract as Procedural Justice, S. 1 und 45.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

d. Paradoxe Ergebnisse der Rechtsprechung Die Probleme im Umgang mit den Kriterien zur Ermittlung des hypothetischen Parteiwillens könnten als rein privatrechtstheoretische Debatte beiseitegelegt werden, wenn die Ergebnisse der richterlichen Entscheidungsfindung durchweg plausibel wären. Allerdings treten gerade in den Fällen der Haftungsmilderung und des AGB-Rechts, denen nach allgemeiner Ansicht eine besondere Bedeutung für die Ermittlung des hypothetischen Parteiwillens zukommt, paradoxe Ergebnisse auf. So wird im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung für eine gemeinsame Mietwagenfahrt zweier Freundinnen in Südafrika eine wechselseitige Haftungsbeschränkung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit angenommen.587 Zwischen zwei Ehegatten, die sich ungleich näherstehen, wird dagegen eine Haftungsmilderung bei der Ausübung eines gemeinsamen Freizeitvergnügens wie dem Wasserskifahren nach § 1359 BGB ebenso wie bei dem Steuern eines Kraftfahrzeugs abgelehnt.588 Das AGB-Recht – ein Musterbeispiel der „Materialisierung“ des Zivilrechts – reißt beispielsweise im Falle der unangemessenen Benachteiligung des Vertragspartners des Verwenders mit der Rechtsfolge der Nichtigkeit in § 307 Abs. 1 BGB zur Durchsetzung der inhaltlichen Aufladung unter anderem gerade erst die ungeregelten Lücken, die dann im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung gefüllt werden müssen.589 Trotz des Verbots der geltungserhaltenden Reduktion stehen dabei am Ende nicht selten aus Sicht der Parteien Ergebnisse, die denen der eigentlich unwirksamen Klausel entsprechen.590

3. Zur Optimierung aus der Perspektive der Handlungshoheit Die Probleme im Umgang mit den Kriterien der ergänzenden Vertragsauslegung führen zu der Frage, ob hier durch ihre konsequentere Rückbindung an die situativen handlungsbezogenen Umstände des Vertrags die objektiven Kriterien zurückgedrängt werden können. Dies erscheint vor allem deswegen geboten, da es konsequent ist, den Vertrag als Manifestation der interaktiven Handlungshoheit im Falle einer Regelungslücke zunächst einer ergänzenden Vertragsauslegung zu unterziehen. Damit geht die Ermittlung des hypothetischen Parteiwillens grundsätzlich der Berücksichtigung des dispositiven Gesetzesrechts, das Ausdruck der kollektiven Handlungshoheit ist, vor.

587 

So BGH NJW 2009, 1482, Rn. 13 und 16. So BGH NJW 2009, 1875, Rn. 10, 11 und 13. 589  Vgl. BGHZ 90, 69 = NJW 1984, 1177; auch Palandt/Grüneberg, § 305c Rn. 17. 590  Vgl. etwa BGHZ 90, 69 = NJW 1984, 1177; MüKo-BGB/Busche, 7. Aufl., § 157 Rn. 32 zum Tagespreisklausel-Fall. 588 

B. Der Vertragsinhalt, die Vertragsauslegung und die Vertragsbeendigung

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Die Berücksichtigung der Handlungssituation der Beteiligten kann durch die vorrangige Ermittlung des hypothetischen Parteiwillens auch an deren Stelle gesondert hervorgehoben werden, wenn, wie schon bei der Vertragsauslegung, die Theoriewahl der Vertragsparteien berücksichtigt wird.591 Die Testfrage hier wäre, welcher Handlungshorizont der jeweiligen Entscheidung der Parteien zu Grunde liegt. Gibt es einen übereinstimmenden Horizont – und sei er ökonomischer Art –, so sollte er zur Lückenfüllung herangezogen werden. Für vorrangige Berücksichtigung der ergänzenden Vertragsauslegung vor der Berücksichtigung des dispositiven Rechts spricht schließlich vor allem, dass sie die Trennung zwischen Vertrags- und Gesetzesauslegung konsequent betont. Das hilft auch, einige Probleme im Umgang mit den Kriterien der ergänzenden Vertragsauslegung zu lösen. Die richterliche Macht wäre darauf gerichtet, nicht nur Widersprüche mit dem Parteiwillen oder dem entsprechenden vertraglichen Handlungsprogramm zu vermeiden, sondern dieses fortzuschreiben, ohne den Vertragsgegenstand zu erweitern. Eine solche vorrangige Auslegung führt schließlich auch zur Zurückdrängung von Billigkeitserwägungen, die vor allem in der Modifikation des dispositiven Rechts bestehen. Dadurch wird auch die Formlosigkeit theoretisch abgesichert und die Andeutungstheorie in ihrer praktischen Bedeutung greifbarer. Auch die praktischen Ergebnisse wären weniger paradox und würden an Überzeugungskraft gewinnen. Beispielsweise sollte dann eine ökonomische Typisierung, wie etwa das Risiko der Herstellung eines Produktes, das eine Vertragspartei übernimmt, nicht mehr pauschal schwerer wiegen als die Verpflichtung der anderen Partei zur Geldzahlung.592 Vielmehr wäre es aus der Perspektive der vertraglichen, interaktiven Handlungshoheit überzeugend, beispielsweise bei einer langen Lieferzeit für eine Kaufsache im Falle einer unwirksamen Preisanpassungsklausel die ökonomische Situation beider Vertragsparteien durch die Koppelung ihrer Situation an einen jeweils der individuellen Situation der Parteien angemessenen Preisindex vorzunehmen, um zu beurteilen, ob die einmal von den Parteien gewollte Entsprechung von Leistung und Gegenleistung trotz der seit Vertragsschluss vergangenen Zeit noch identifizierbar und umsetzbar geblieben ist.

V. Die Folgen für die Vertragsbeendigung Die Beendigung eines Vertrags durch eine einseitige Willenserklärung einer Partei kann als Möglichkeit eines legitimen Vertragsbruchs verstanden werden. Mit der außerordentlichen Kündigung und dem Wegfall der Geschäftsgrund591  592 

Siehe Teil 3 B. III. So aber noch BGHZ 90, 69 = NJW 1984, 1177.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

lage normiert das BGB in § 314 BGB und § 313 BGB die wesentlichen Voraussetzungen dafür.593

1. Der Vertragszweck bei der Bestimmung des „wichtigen Grunds“ im Sinne des § 314 BGB a. Die Risikobereiche aus dogmatischer Perspektive Bei der außerordentlichen Beendigung von Dauerschuldverhältnissen durch Kündigung geht die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs von Risikobereichen aus, um die Schwere des wichtigen Grunds und die Zumutbarkeit der Fortführung des Vertrags abzuwägen.594 Allerdings nimmt die Zuschreibung von Risikobereichen die Abwägungsentscheidung regelmäßig vorweg.595 Problematisch wird dieser dogmatische Begründungsstrang, wenn, was typischerweise der Fall ist, die Risikobereiche nicht auf der Basis einer Vertragsauslegung ermittelt werden. So werden schematische objektive Feststellungen der Risikobereiche jenseits der Vertragsauslegung an den Vertrag herangetragen und mit ökonomischen Argumenten, wie dem Investitionsschutz, untermauert,596 die regelmäßig nur eine Vertragspartei für sich akzeptieren kann. Es besteht insoweit ein weiterer Begründungsbedarf, um die Risikobereiche als Ausdruck vertraglicher Autonomie verstehen zu können.

b. Der Optimierungsbedarf aus der Perspektive der Handlungshoheit So überzeugend es ist, jeder Vertragspartei das Risiko zuzuweisen, das sie bei Vertragsschluss übernommen hat, so begründungsbedürftig sind die Kriterien der Risikozuweisung auf Grund normativer außervertraglicher Vorgaben. Werden sie dennoch aus dogmatisch-traditionalen Gründen herangezogen, so sollten sie jedenfalls zu dem dogmatisierten Normenbestand passen. Allerdings stellt das AGB-Recht dabei eine gewisse Hürde dar. Beispielsweise widerspricht im Fall der Kündigung eines Telefonvertrags die Argumentationsweise mit der vertragstypischen Risikozuweisung den normativen Vorgaben des AGB-Rechts. Eine AGB-Klausel, die den Eindruck erweckt, dass weder aus beruflichen noch aus persönlichen Gründen eine vorzeitige Kündigung eines Dauerschuldverhältnisses möglich ist, stellt nämlich eine einseitige Benachteiligung dar.597 Die einfache Übertragung eines Grundsatzes des formalen Ver593 

Für den Rücktritt siehe den Abschnitt zum Europarecht. Vgl. MüKo-BGB/Gaier, 7. Aufl., § 314 Rn. 10. 595  So etwa BGH JZ 2011, 527 mit weiteren Nachweisen. So wie im Folgenden bereits auch schon Anmerkung Jakl, JZ 2011, 529. 596  Vgl. BGH JZ 2011, 527. 597  BGH NJW 1997, 193; OLG München NJW-RR 1995, 1467 f. 594 

B. Der Vertragsinhalt, die Vertragsauslegung und die Vertragsbeendigung

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tragsrechts unter den Bedingungen eines „materialisierten Schuldrechts“, ohne den spezifischen Inhalt des Vertrags zu ermitteln und so den Umzug zu kontextualisieren, führt an dieser Stelle der Begründung einer Risikozuweisung also zu einem Wertungswiderspruch: Es wird etwas als normatives Leitkriterium der Entscheidung festgelegt, was auch nach der Bundesgerichtshof-Rechtsprechung zu § 307 Abs. 1 BGB als allgemeine Geschäftsbedingung unwirksam wäre.598 Einer relativ langen Vertragslaufzeit, die bis genau an die Grenze zur Unwirksamkeit des gesamten Vertrags liegt, die das AGB-Recht mit § 309 Nr. 9 lit. b) zieht, kann zwar ein niedriger Preis als Vorteil für den Kündigenden gegenübergestellt werden.599 Allerdings erscheint damit der Kündigende als nicht schutzwürdig, obwohl er insoweit auf einen Anreiz des Anbieters reagiert. Außer Acht gelassen wird zudem, dass der Kündigungsgegner dieses Angebot ebenso um seines eigenen pekuniären Vorteils willen so ausgestaltet, kalkuliert und vertrieben hat, dass es einen hinreichenden Anreiz darstellt, das Risiko einer langen Vertragslaufzeit tendenziell bedenkenlos gegenüber möglichen Verfügbarkeitsproblemen einzugehen.600 So wirkt nicht zuletzt aus der Perspektive einer Rechtsordnung, in der dem Verbraucherschutz Grundrechtscharakter zukommt,601 die isolierte Betrachtung allein des ökonomischen Kalküls des Verbrauchers nicht mehr durchweg überzeugend, um ihm das Risiko der Nichtnutzbarkeit eines DSL-Vertrags nach einem Umzug zuzuweisen. Dies gilt umso mehr, wenn dem Anbieter im Gegenzug ein Recht auf Amortisation der Anfangskosten und des kalkulierten Gewinns zugesprochen wird.602 Es wird damit zwar auf eine ökonomisch-liberale Perspektive Bezug genommen. Die Amortisation von Investitionen ist zweifellos eine Grundvoraussetzung für einen freien Handel und daher rechtlich schutzwürdig.603 Allerdings muss auch die Perspektive des kalkulierenden Anbieters, der nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen den Gewinn eines Massenprodukts nicht allein für einen einzelnen Vertrag kalkuliert, bei einer handlungshoheitsorientierten Aus598  Die folgenden Ausführungen zu BGH JZ 2011, 527 ff. gehen zurück auf Jakl, Anmerkung zu BGH JZ 2011, 527–532. 599  BGH JZ 2011, 527–532, Rn. 13. 600  Bei DSL-Anschlüssen bestimmen Anbieter in ihren AGB teils eine Mindestvertragslaufzeit von 24 Monaten als Regelfall, z.B. 1&1 Telecom GmbH Allgemeine Geschäftsbedingungen, Stand 6/2018, Nr. 3.1 („Verträge mit Mindestlaufzeit: Soweit im Einzelfall nicht ausdrücklich abweichend vereinbart, gilt eine Mindestlaufzeit von 24 Monaten mit einer Kündigungsfrist von drei Monaten zum Ende der Mindestlaufzeit. Soweit nicht ausdrücklich abweichend vereinbart, verlängert sich der Vertrag über 1&1 Dienstleistungen automatisch um jeweils 1 Jahr, soweit er nicht rechtzeitig zum Ablauf der Mindestlaufzeit oder der jeweils verlängerten Laufzeit gekündigt wurde.“). 601  Vgl. Art. 6 Abs. 1 EUV i.V.m. Art. 38 EGRC. 602  BGH JZ 2011, 527–532, Rn. 13. 603  Vgl. Baumbach/Hopt, Überbl. vor § 373 Rn. 34.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

legung in den Blick genommen werden. Nicht unerwähnt dürfen ferner die Aufwendungen bleiben, die sich der Anbieter durch die infolge des Umzugs nicht mehr mögliche Vertragserfüllung erspart. Allgemeinpolitische Argumente, wie etwa, es sei allgemein bekannt, dass kein flächendeckendes DSL-Netz in Deutschland existiere, rechtfertigen letztlich, dass dem Endverbraucher auch bei einem Umzug von nur wenigen Kilometern innerhalb desselben Landkreises allein das Risiko der Verfügbarkeit des DSL-Anschlusses zugewiesen wird.604 Hier wird der Optimierungsbedarf vor dem Hintergrund der Handlungshoheit besonders deutlich: Der Kündigende führt den Widerspruch zwischen seiner Erklärung, den Vertrag am neuen Wohnort fortführen zu wollen, und der Unmöglichkeit dieses Unterfangens wegen der fehlenden Infrastruktur nicht wirklich selbst herbei. Eine Interessenabwägung, die von einer einseitigen wirtschaftlichen Risikozuweisung ausgeht, kann nicht hinreichend berücksichtigen, dass bei netzbasierten Infrastrukturleistungen die Grenzen des Netzausbaus weder für den Anbieter noch für den Nutzer zu überwinden sind. An welchen Orten in Deutschland das DSL-Netz vorhanden ist und an welchen nicht, liegt schon nicht mehr allein in der Hand des Anbieters, da Netzinfrastruktur und Netzbetrieb auch getrennt sein können. Es ist anerkannt, dass Existenz und Ausbau des DSL-Netzes wesentlich von staatlichen Anreizen für private Unternehmen abhängen. Nicht zuletzt deswegen gibt es eine Breitbandstrategie der Bundesregierung, die staatliche Anreize für den Ausbau des DSL-Netzes setzen möchte.605 Es erscheint angesichts des gesellschaftlich und politisch gewünschten umfassenden Zugangs zu neuen Telekommunikationsmedien unplausibel, das Risiko, durch einen Umzug in ein „DSL-Infrastrukturloch“ zu fallen, mit dem abstrakten Argument um das allgemeine Wissen von der Möglichkeit von Infrastrukturlöchern allein dem einzelnen Nutzer zuzuweisen. Die Risikobereiche müssen daher auch aus dogmatischen Gründen verstärkt als Ausdruck vertraglicher Autonomie verstanden werden. Der Gesetzgeber hat hier schließlich durch § 46 Abs. 8 S. 3 TKG eine überzeugende Lösung gefunden, um die Rechtsprechung zu korrigieren. Die Kündigungsfrist beträgt nunmehr drei Monate, wenn die Leistung nach einem Umzug an einem neuen Wohnort nicht angeboten werden kann. Dieses Ergebnis des Gesetzgebers wird der interaktiven Handlungshoheit besser gerecht und damit auch der individuellen. Im Wege der Auslegung des § 314 BGB wäre ein solches Ergebnis greifbar, wenn die Ermittlung der Risikobereiche stärker an die Vertragsauslegung 604 

BGH JZ 2011, 527–532, Rn. 16. URL: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Magazine/MagazinWirt schaftFinanzen/066/t2-breitbandversorgung.html (abgerufen am 9.2.2011) und den Netzausbau unter dem Titel Gigabitgesellschaft immer noch fordernd (abgerufen am 3.7.2018, URL: http://www.bmvi.de/DE/Themen/Digitales/Digitale-Gesellschaft/Gigabitgesellschaft/ gigabitgesellschaft.html). 605 Vgl.

B. Der Vertragsinhalt, die Vertragsauslegung und die Vertragsbeendigung

245

zurückgebunden wird. Das wird nicht zuletzt auch durch die Auslegung des Zumutbarkeitskriteriums bei § 313 Abs. 1 und Abs. 2 BGB deutlich.

2. Die Zumutbarkeit im Sinne des § 313 Abs. 3 BGB § 313 BGB gilt als weitere Konkretisierung des Grundsatzes von Treu und Glauben im Sinne des § 242 BGB. Während § 242 BGB vor allem einem widersprüchlichen Verhalten nach Vertragsschluss objektiv-rechtliche und von Amts wegen zu berücksichtigende Grenzen zieht, gilt die Störung der Geschäftsgrundlage als ein eng auszulegender Musterfall für eine inhaltliche Aufladung des Privatrechts.606

a. Zumutbarkeit, Risikobereiche und Zirkel bei der Störung der Geschäftsgrundlage Eine Vertragsanpassung oder Vertragsbeendigung kommt nur in Frage, wenn sich in der Änderung der Geschäftsgrundlage ein Risiko verwirklicht, das nicht ohnehin von einer Partei zu tragen ist.607 Ob die Fortführung eines Vertrags zumutbar ist, hängt damit zentral von der Risikozuweisung ab. Hier gilt zunächst, dass jede Vertragspartei das Risiko zu tragen hat, das sie ausdrücklich übernommen hat.608 Hier besteht insoweit kein Konflikt mit normativen, überindividuellen Kriterien. Allerdings entsteht dieser Konflikt ebenso wie bei Vertragsauslegung, wenn normative Kriterien zur Risikozuweisung herangezogen werden, weil erst durch Vertragsauslegung ermittelt werden muss, welche Vertragspartei welches Risiko übernehmen wollte.609 (1) Die Rechtsprechung zieht dazu die in den Vertragstypen des BGB normierten Risikozuweisungen heran. So hat beispielsweise der Mieter grundsätzlich das Verwendungsrisiko der Mietsache zu tragen und der Vermieter das Instandhaltungsrisiko.610 Den Verkäufer trifft bei einem Kaufvertrag die Beschaffungspflicht für den Kaufgegenstand und den Käufer die Beschaffungspflicht des Geldes für die Kaufpreiszahlung.611 Schon der Rückgriff auf die in den Vertragstypen normierte Risikozuweisung ist aber weiter begründungsbedürftig. Denn vorrangig ist zunächst die Risikozuweisung, die sich aus der Vertragsauslegung ergibt.612 Diese aber verweist wiederum mit den dogmatisch anerkannten Kriterien auf die vertragsty-

606 So

Canaris, Wandlungen, S. 312. Etwa BGH NJW 2012, 2733 und BGH NJW 2010, 1874, 1875. 608  BGH NJW 2012, 2177. 609  BGH NJW 2006, 2771. 610  BGH NJW-RR 2010, 1016. 611  Schon BGH NJW 1995, 1513, 1515. 612 MüKo-BGB/Finkenauer, § 313 Rn. 61 f. 607 

246

Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

pischen Risikozuweisungen.613 Dieser dogmatisch-zirkuläre Zusammenhang sichert die Berücksichtigung außervertraglicher, konventioneller Risikozuweisungen ab. Allerdings geschieht dies – wie schon bei der Analyse der dogmatischen Grundsätze der Vertragsauslegung gesehen614 – unter Inkaufnahme eines Bruchs mit dem übereinstimmenden Willen der Parteien. (2) Als ein Überschreiten des Risikobereichs und damit als unzumutbar gelten Abweichungen der Geschäftsgrundlage, die die typisierten Risikozuweisungen durchbrechen. Beispielsweise gilt für Geldschulden grundsätzlich das Nennwertprinzip bzw. der Nominalwert.615 Kaufkraftbedingte Abweichungen fallen daher grundsätzlich in den Risikobereich des Gläubigers. Überschritten wird dessen Risikobereich jedoch, wenn das Gleichgewicht von Leistung und Gegenleistung so stark gestört ist, dass die Interessen der benachteiligten Partei nicht mehr annähernd gewahrt sind. Das ist beispielsweise der Fall, wenn bei einer Erbbauzinszahlung die Lebenshaltungskosten um 150 Prozent gestiegen sind und damit eine kaufkraftbedingte Entwertung von 60 Prozent eingetreten ist.616 Hier wird also jenseits einer Berücksichtigung der weiteren Umstände des Vertrags die argumentative Zirkelstruktur genutzt, um durch prozentuale Setzung eine Entscheidung herbeizuführen. Das bietet den Vorteil einer gewissen Orientierungsfunktion des Rechts für den Gläubiger eines Erbbauzinses.

b. Der Optimierungsbedarf aus der Perspektive der Handlungshoheit Jenseits dieser Orientierungsfunktion bleibt aber ein Begründungsdruck. Es ist schon unklar, ob Lebenshaltungskosten überhaupt ein geeigneter Orientierungspunkt für die Ermittlung eines Erbbauzinses sein können, wenn die Parteien dies nicht übereinstimmend wollten. Es gibt schließlich auch statistische Indizes für Wohnraumpreisentwicklung und Grundstückpreise.617 Aus der Perspektive der Handlungshoheit ist zwingend für jede Partei der für sie passende Preisindex heranzuziehen und sodann der entsprechende Querschnitt zu ermitteln, um die Ausgangskalkulation der Vertragsparteien in der Zeit fortzuschreiben. Schematische Grenzen, wie etwa eine pauschale hälftige Aufteilung der Folgen von Lastenausgleichs- oder Hypo­the­ken­ge­ winn­ab­gaben,618 oder der Verweis auf gesetzliche Überleitungsbestimmun613 MüKo-BGB/Busche,

§ 157 Rn. 16. Teil 3 B. III. 615 Staudinger/Schmidt, BGB 1997, Vorb. §§ 244 ff. Rn. 7, 12 f., 19 f. 616  BGHZ 191, 336 = NJW 2012, 526. 617  Z. B. kommunale Gutachterausschüsse wie z.B. der Gutachterausschuss für Grundstückswerte Berlin, online über https://www.berlin.de/gutachterausschuss/ (abgerufen am 5.7.2017). 618  BGH NJW 1958, 906. 614 S. o.

C. Vertrag und Europäisches Privatrecht

247

gen619 tragen der interaktiven Handlungshoheit nicht ausreichend Rechnung. Hinzu kommt: Um der interaktiven Handlungshoheit bei der Vertragsauslegung gerecht zu werden, muss geprüft werden, was der Vertragszweck des Erbbaurechts ist und ob der Schuldner insoweit mit Veränderungen rechnen musste. Es muss beispielsweise einen Unterschied machen können, ob damit Lohnkosten finanziert werden sollen und eine professionelle Kalkulation des Erbbaurechtsgebers vorliegt, oder ob ein Altbauer seinen Lebensabend aus dem Erbbauzins bestreiten können muss, den sein Hoferbe ihm zahlt. Im Fall des Versorgungscharakters wird etwa davon ausgegangen, dass schon eine Entwertung um 30 Prozent ein Anpassungsverlangen rechtfertigt.620 Aus der Perspektive der Handlungshoheit erscheint eine deutlich stärkere Rückbindung an die Vertragsauslegung geeignet, um die Risikozuweisungen aus dem Vertragsverhältnis heraus zu begründen und so die Vertragsfreiheit als grundlegende Form der interaktiven Handlungshoheit zu stärken. Für eine solche sublimere Bezugnahme auf die Umstände, Interessenlagen und Risikobereiche der Parteien ist insbesondere die Bedeutung der Theoriewahl und der „underlying principles“, die die Parteien bei Vertragsschluss leiten,621 zu beachten.

C. Vertrag und Europäisches Privatrecht Das Europäische Privatrecht umfasst ein Unionsprivatrecht, das als geltendes supranationales Recht das nationale Privatrecht beeinflusst, wie auch ein Unionsprivatrecht, das aus wissenschaftlichen Entwürfen für ein zukünftig geltendes Unionsprivatrecht besteht. In einem ersten Teil wird die Zersplitterung der Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts thematisiert, um sodann die europäischen Einflüsse auf einen ausgewählten Bereich des Vertragsrechts, den Verbrauchsgüterkauf, zu beleuchten. In einem dritten Abschnitt wird die Frage nach der Zukunft des Europäischen Vertragsrechts am Beispiel der guten Sitten und der Vertragsauslegung in den Blick genommen, insbesondere unter Berücksichtigung des Draft Common Frame of Reference (DCFR) und des Entwurfs für Gemeinsames Europäisches Kaufrecht (GEK-E).

619 

BGH NJW 2008, 2427. BGH NJW 73, 959. 621  Dazu bereits Teil 3 B. III. 620 

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

I. Die Vielfalt der Kompetenzen und Rechtsquellen Die Kompetenzordnung im AEUV führt zu Normsetzungen, die durch eine Vielfalt an Rechtsquellen in den Mitgliedsstaaten umgesetzt werden muss und durch wissenschaftliche und rechtsvergleichende Beiträge erweitert wird.

1. Die Kompetenzordnung Der AEUV regelt die Kompetenzen der Union für die Privatrechtssetzung prima facie eindeutig: Unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EUV) liegt diese Kompetenz bei europäischen Institutionen, soweit die Privatrechtssetzung nach Art. 114, 115 AEUV der Errichtung und dem Funktionieren des Binnenmarkts, dem Schutz des Wettbewerbs (Art. 103 AEUV), der Gewährleistung der vier Grundfreiheiten (Art. 26 Abs. 2 EUV) oder der Sozialpolitik nach Art. 153 AEUV dient. Hinzu kommt die Vertragsergänzungskompetenz nach Art. 352 AEUV. Schon die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips würde diese eindeutige Kompetenzordnung sprengen, da für jede Regulierung geprüft werden muss, ob nicht eine mitgliedsstaatliche Regulierung ausreicht. Die ernsthafte Prüfung des Subsidiaritätsprinzips entfällt praktisch allerdings meist, da ihm grundsätzlich jede europäische Regelung genügt: Sie erlangt per definitionem immer für mehrere Mitgliedsstaaten Geltungskraft, da ihr bei einem europarechtlichen Sachverhalt automatisch ein grenzüberschreitender Bezug zukommt.622 Es hat sich insoweit ein weites Verständnis von „Angleichung“ durchgesetzt. Jede Maßnahme, die die Bedingungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes verbessert, ist demzufolge eine Harmonisierungsmaßnahme, die den Zielen des EG-Vertrags entgegenstehende Hindernisse beseitigt. Dazu kann, jedenfalls nach Ansicht der Kommission, jede Kompetenznorm herangezogen werden.623 Das Europäische Parlament dürfe jedenfalls nur bei einem Vorgehen nach Art. 95 EG (heute Art. 114 AEUV) mitwirken.

2. Die Vielfalt der Rechtsquellen Das Unionsprivatrecht entsteht zwar auf supranationaler Ebene, muss aber national umgesetzt werden. Es ist in seiner Anwendung innerhalb eines Mitgliedstaates daher auf zahlreiche Rechtsquellen zurückzuführen. Es wird deswe-

622  Siehe dazu schon Armbrüster, RabelsZ 60 (1996), S. 72 ff., 82 ff. Aus der Rechtsprechung etwa EuGH EuZW 2010, 359 (The Queen, auf Antrag von Vodafone Ltd. u.a./Secretary of State for Business, Enterprise and Regulatory Reform) zu Entgelten für Roaming-­Dienste durch die Verordnung Nr. 717/2007 auf der Grundlage von Art. 95 EG (heute Art. 114 AEUV) mit Anm. Schlohe. 623  EuGH EuZW 2006, 380 (Parlament ./. Kommission und Rat).

C. Vertrag und Europäisches Privatrecht

249

gen von einer „Rechtsgewinnung in einer fragmentarischen supranationalen Rechtsordnung“ ausgegangen.624 Zu beachten sind etwa stets die Grundfreiheiten und ihre Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof.625 Hinzu kommen Verordnungen626, Richtlinien627 und Empfehlungen628. Dazu kommen Staatsverträge629 und außerstaatliche Rechtsquellen, die teils Detailfragen betreffen,630 teils auch grundlegende Fragen des Verhältnisses unterschiedlicher Regelungsregime zueinander.631 Wegen der Vielfalt der Rechtsquellen und immer wieder auftretender Diskussionen um die Kompetenzordnung wird teils gefordert, Policy-Field-spezifische Kompetenznormen zu schaffen, um die Effizienz der Regulierung zu steigern. Allerdings ist nicht erkennbar, dass das Kompetenzgefüge der europäischen Verträge einer solchen neuen Kompetenznorm derzeit geöffnet werden könnte. Daher wird vorgeschlagen, auch auf Art. 81 II lit. c AEUV als allgemeine Kompetenznorm zur Schaffung eines GEK zurückzugreifen.632

3. Der Begriff des Europäischen Privatrechts Die Vielfalt der Rechtsquellen und die nicht einfache Kompetenzordnung spiegeln sich in dem Begriff des Europäischen Privatrechts. Die bisher genannten Kompetenznormen und Rechtsquellen beziehen sich auf das Unionsprivatrecht, den sogenannten „Acquis Communautaire“633. Der Begriff des Europäischen 624  Herresthal, Die Rechtsgewinnung in einer fragmentarischen supranationalen Rechtsordnung, in: Arnold (Hrsg.), Grundlagen eines europäischen Vertragsrechts, 2013, S. 49 ff. 625  Dazu etwa Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts, S. 60–84; Langner, RabelsZ 65 (2001), S. 222 ff. und in der Rechtsprechung grundlegend EuGH Slg. 1979, 649 – Cassis de Dijon sowie EuGH Slg. 1993 I, 6097 – Keck und EuGH Slg. 2006 I, 2095. 626  Z. B. die Fluggastrechte-VO. Dazu EuGH EuZW 2013, 223 m. Anm. Staudinger sowie BGH NJW 2011, 2056. 627  Z. B. die Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU v. 25.10.2011. 628  Z. B. die Empfehlung der Kommission v. 14.12.2004 zur Einführung einer angemessenen Regelung für die Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften, ABl. EU Nr. L 385, 55 v. 29.12.2004. 629  Z. B. die Europäische Menschenrechtskonvention. Dazu etwa EGMR NJW 2004, 2467 – Caroline von Hannover/Deutschland und EGMR NJW 2012, 1053 – von Hannover/ Deutschland Nr. 2. 630  Z. B. der EU-Verordnungsentwurf zur Anwendung von IAS. Für die Identifikation allgemeiner Rechtsgrundsätze des Unionsprivatrechts etwa Metzger, Extra legem, intra ius. 631  Etwa das Verhältnis zur Rom-I-Verordnung und der Absicherung des Grundsatzes der freien Rechtswahl in Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom I“) v. 17.6.2008, ABl. EU Nr. L 177, 6. Krit. Schinkels, GPR 2007, 106 ff. 632  So für das Verbraucherrecht etwa Reich, ZfRV 2011, 196 ff. Zur Frage, wer überhaupt eine fehlende Kompetenz der EU zum Erlass eines Rechtsaktes geltend machen kann, siehe Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, Rn. 28. 633 Dazu Schulze, Der Acquis Communautaire und die Entwicklung des europäischen

250

Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

Privatrechts wird erweitert um rechtsvergleichende Bezüge und historische Rückbezüge.634 Zudem werden Normierungen des sogenannten „Soft Law“ zum Europäischen Privatrecht gezählt, wie etwa die Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts (PECL) und die Unidroit-Grundregeln der internationalen Handelsverträge.635 Schließlich wurde im Rahmen eines Forschungsprojekts der gemeinsame Referenzrahmen (DCFR) entwickelt, der als „Toolbox“ einerseits das bestehende Unionsprivatrecht kompilieren und rechtsvergleichend optimieren sowie andererseits so die weitere Entwicklung des Unionsprivatrechts lenken soll.636

II. Europäisches Privatrecht der Gegenwart und die Systematik des BGB Die vielgestaltigen Rechtsquellen spiegeln die unterschiedlichen politischen Lenkungswirkungen, die mit dem Unionsprivatrecht, gerade mit dem „Acquis Communautaire“, verfolgt werden. Den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Diskussion bilden dabei die Brüche, die in den systematisch aufbereiteten, aber nationalstaatlichen Normenbeständen durch das Unionsprivatrecht auftreten. Das kann an zahllosen Beispielen für das BGB beobachtet werden und wird wissenschaftlich teils als Abschied von der Privatautonomie angesehen.637 Exemplarisch lässt sich die Kluft zwischen dem Schuldvertragsrecht des BGB und dem Unionsprivatrecht am Beispiel des § 439 BGB, seiner Auslegung durch deutsche und europäische Gerichte sowie der Neuregelung des § 439 Abs. 3 BGB analysieren und privatrechtsphilosophisch aufarbeiten.

Vertragsrechts, in: Schulze/Ebers/Grigoleit (Hrsg.), Informationspflichten und Vertragsschluss im Acquis Communautaire, 2003, S. 3 ff.; ders., ZRP 2006, 155–159. 634  Dazu etwa Kötz, JZ 2002, 257 ff.; Knütel, JuS 1996, 768 ff. 635 Zum Verhältnis des Unionsprivatrechts zum europäischen IPR etwa EuGH, Rs. C-334/00, Slg. 2002 I, 7357 – Tacconi (HWS) und v. Hein, GPR 2007, 54 ff. 636 Dazu Bar/Schulte-Nölke, ZRP 2005, 165 ff.; Grundmann, JZ 2005, 860 ff.; Hirsch, ZIP 2007, 937 ff.; Mance, Eur. Bus. Law Review 18 (2007), S. 77 ff.; McGuire, ZfRV 2006, 163 ff.; Reich, A Common Frame of Reference – Ghost or host for integration?, Zentrum für Europäische Rechtspolitik (ZERP)-Diskussionspapier 7/2006; Schmidt-Kessel, RIW 2003, 481 ff.; Schmucker, DNotZ 2005, 897 ff.; Schulte-Nölke, JZ 2001, 917 ff.; Staudenmayer, EuZW 2003, 165 ff.; Wiesner, DB 2005, 871 ff. 637 So Medicus, Abschied von der Privatautonomie im Schuldrecht?, S. 9–11.

C. Vertrag und Europäisches Privatrecht

251

1. Der „neue“ § 439 BGB und die Rechtsprechung von Bundesgerichtshof und Europäischem Gerichtshof zur Reichweite des Nacherfüllungsanspruchs bei Neulieferung § 439 Abs. 1 BGB bestimmt, dass der Käufer im Falle der Nacherfüllung zwischen Beseitigung des Mangels und Neulieferung einer mangelfreien Sache wählen kann. Die Frage nach der Reichweite des Nacherfüllungsanspruchs bei Neulieferung wurde bisher in einer auch rechtswissenschaftlich umfangreich rezipierten Serie von Urteilen des Bundesgerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs verhandelt.638 Sie erörtern die Frage, wie § 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB auszulegen ist, das heißt, ob die Nacherfüllungspflicht bei Neulieferung auch eine Verpflichtung des Käufers beinhaltet, die mangelhafte Sache auszubauen und die nachgelieferte mangelfreie Sache einzubauen oder die dafür anfallenden Kosten zu tragen. Der Bundesgerichtshof legte dem Europäischen Gerichtshof in diesem Zusammenhang zwei Fragen vor: erstens die Frage, ob der Ausbau der mangelhaften Kaufsache vom Umfang des Nacherfüllungsanspruchs umfasst ist, und zweitens die Frage, ob gegebenenfalls das in § 439 Abs. 3 Satz 2 Hs. 2 BGB a.F. vorgesehene Recht des Verkäufers richtlinienkonform ist, die Nacherfüllung vollständig zu verweigern, wenn beide Nacherfüllungsalternativen einen unverhältnismäßigen Aufwand erforderten.639 Die Frage, ob der Einbau der neugelieferten, mangelfreien Kaufsache vom Nacherfüllungsanspruch umfasst ist, hat der Bundesgerichtshof ohne Vorlage an den Europäischen Gerichtshof entschieden.640

a. Zur richtlinienkonformen Auslegung Bei der Gesetzesauslegung – auch und gerade der richtlinienkonformen – kommt es (mit dem Bundesverfassungsgericht) nicht auf den Buchstaben, sondern vor allem auf Sinn und Zweck des Gesetzes an.641 Der Nacherfüllungsanspruch der §§ 437 Nr. 1, 439 BGB stellt eine der bedeutendsten Neuerungen dar, die das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz vom 1. Januar 2002 gegenüber dem bis dahin geltenden Recht mit sich brachte. Er ist durch Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie ­( VerbrGKRL) auch mit inhaltlichen Vorgaben verbunden, deren Sinn und Zweck zu beachten ist. Insbesondere wird dem Verkäufer die Verpflichtung auferlegt, die Herstellung des vertragsgemäßen Zustands unentgeltlich zu bewirken. Der Verbraucher soll so vor Unannehmlichkeiten geschützt werden, das heißt insbeson638  Ausgehend von BGHZ 177, 224 = NJW 2008, 2837 über EuGH NJW 2011, 2269 und BGHZ 192, 148 = NJW 2012, 1073 zu BGHZ 195, 135 = NJW 2013, 220. 639  BGHZ 177, 224 = NJW 2008, 2837. 640  BGHZ 195, 135 = NJW 2013, 220. 641  Vgl. allgemein schon BVerfGE 35, 263, 278 f.

252

Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

dere vor drohenden finanziellen Belastungen, die ihn davon abhalten können, von seinen Rechten Gebrauch zu machen. Die deutschen Regelungen stehen insoweit, wenn der Verkäufer Unternehmer und der Käufer Verbraucher ist, unter dem Gebot der richtlinienkonformen Auslegung. Dies ist insofern von besonderer Bedeutung, als der deutsche Gesetzgeber den Nacherfüllungsanspruch nicht nur im Verhältnis Unternehmer-Verbraucher umgesetzt hat, sondern für das ganze Kaufrecht vorschreibt. Da der Gesetzgeber mit dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz der Aufspaltung des Privatrechts in Sonderprivatrechte entgegenwirken wollte, muss davon ausgegangen werden, dass prima facie eine „gespaltene Auslegung“ des § 439 BGB nicht in Frage kommt.642

b. Die systematische Argumentation des Bundesgerichtshofs Der Bundesgerichtshof ging in beiden Fällen (Fliesen-Fall und Parkettstäbe-­ Entscheidung) mit dem deutschen Gesetzgeber davon aus, dass der Nacherfüllungsanspruch dogmatisch als modifizierter Erfüllungsanspruch eingeordnet werden müsse.643 Seine Reichweite wurde deswegen vom Bundesgerichtshof im Wege der systematischen Auslegung auf die des ursprünglichen Erfüllungsanspruchs begrenzt. So sei im Falle der Nachlieferung lediglich anstelle der ursprünglich gelieferten mangelhaften Kaufsache eine mangelfreie – im Übrigen aber gleichartige und gleichwertige – Sache zu liefern. Die Ersatzlieferung erfordere daher eine vollständige Wiederholung der Leistungen, zu denen der Verkäufer nach § 433 Abs. 1 Satz 1 und 2 BGB verpflichtet ist. Der Verkäufer schulde nochmals die Übergabe des Besitzes und die Verschaffung des Eigentums an einer mangelfreien Sache – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Diese klare und von der deutschen Rechtswissenschaft sehr positiv aufgenommene systematische Einordnung und Grenzziehung der Reichweite des Nacherfüllungsanspruchs durch den Bundesgerichtshof644 wurde durch den Europäischen Gerichtshof nun im Namen eines möglichst hohen Verbraucherschutzniveaus gesprengt.

c. Die teleologische Argumentation des Europäischen Gerichtshofs Der Europäische Gerichtshof sieht den Nacherfüllungsanspruch nicht als durch den ursprünglichen Erfüllungsanspruch begrenzt an. Vielmehr muss laut Europäischem Gerichtshof der Nacherfüllungsanspruch weiter reichen als der ursprüngliche Erfüllungsanspruch, da er dazu diene, dem Verbraucher Unan-

642 Vgl.

Lorenz, NJW 2009, 1633. BT-Drs. 14/6040, 221; BGHZ 177, 224; 162, 219, 227. Dazu Palandt/Weidenkaff, § 439 Rn. 1; MüKo-BGB/Westermann, § 437 Rn. 1. 644  Bis in die Ausbildungsliteratur hinein wurde dieses Urteil als „grundlegend“ sowie „sorgfältig und differenzierend“ gelobt, vgl. etwa Looschelders, JA 2008, 894. 643  So

C. Vertrag und Europäisches Privatrecht

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nehmlichkeiten zu ersparen.645 Der Verbraucher solle durch die Nacherfüllung so stehen, wie er stünde, wenn der Verkäufer von Anfang an vertragsgemäß ein mangelfreies Verbrauchsgut geliefert hätte. Das bedeutet für den Fall der Ausbaukosten einer mangelhaften Kaufsache, dass der Käufer so stehen muss, als ob er sich niemals auf den Vertrag eingelassen hätte.646 Die rechtspolitische Vorgabe des hohen Verbraucherschutzniveaus wirkt als teleologisches Argument streitentscheidend. Der Europäische Gerichtshof hat sich mit dieser teleologischen Argumentation auch über die Schlussanträge des Generalanwalts hinweggesetzt, der auf der Linie des Bundesgerichtshofs lag. Der Generalanwalt warnte davor, dass zwar im Lichte des Verbraucherschutzrechts eine möglichst weite Auslegung des Nacherfüllungsanspruchs angemessen erscheint. Ihm zufolge müsse beachtet werden, dass auch das System der Abhilfemöglichkeiten der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen des Käufers und des Verkäufers enthalten müsse, der bei einer Ausdehnung des Nacherfüllungsanspruchs auf die Kosten des Ausbaus der mangelhaften Kaufsache und des Einbaus der mangelfreien, neugelieferten Kaufsache nicht gewahrt sei.647

d. Die nationalstaatliche Umsetzung Die Umsetzung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs durch den Bundesgerichtshof zerfällt in drei Teile: einen eindeutigen, einen weitgehend offenen und einen, der zur gesetzlichen Neuregelung des neuen § 439 BGB führt. (1) Eindeutig ist, dass der Bundesgerichtshof den § 439 Abs. 1 BGB dahingehend richtlinienkonform auslegt, dass die dort genannte Neulieferungsvariante auch den Ausbau und den Abtransport der mangelhaften Kaufsache umfasst. (2) Weitgehend offen war und ist derzeit noch, wie mit § 439 Abs. 3 Satz 3 BGB umzugehen ist. § 439 Abs. 3 Satz 3 BGB muss, so der Bundesgerichtshof, im Verhältnis von Unternehmer und Verbraucher teleologisch reduziert werden. Der Verkäufer ist demnach nicht berechtigt, die Nacherfüllung vollständig zu verweigern, auch wenn beide Nacherfüllungsalternativen einen unverhältnismäßigen Aufwand erforderten. In diesen Fällen habe der Käufer einen verschuldensunabhängigen Anspruch auf den Ersatz eines angemessenen Betrags. Der Bundesgerichtshof hält bei Anschaffungskosten der Kaufsache von circa 1.400 Euro und tatsächlichen Ausbau- und Entsorgungskosten der mangelhaf645  Vgl. EuGH NJW 2011, 2269, 2272, Rn. 53 ff. Dazu etwa Lorenz, Luxemburg und seine Folgen, NJW 2011, 2241 ff. 646  EuGH NJW 2011, 2269, 2272, Rn. 53 ff. Krit. Kaiser, JZ 2011, 978; Lorenz, NJW 2011, 2241; positiv dagegen Wagner, ZEuP 2016, 87, 102 f. 647  Vgl. Schlussantrag des Generalanwalts Mazak v. 18.5.2010 in der Rs. C 65/09 – Weber, Rn. 30.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

ten Kaufsache in Höhe von 2.100 Euro einen Betrag von 600 Euro für angemessen.648 Die Bestimmung des Betrags wirkt willkürlich, weil keinerlei Begründung für die Gewichtung der Bedeutung der Vertragswidrigkeit einerseits und des Leistungsinteresses des Käufers, das heißt des Wertes der mangelfreien Fliesen andererseits, ersichtlich ist. Zudem verzichtet der Bundesgerichtshof wegen der aufgedeckten Gesetzeslücke darauf, weitere Richt- oder Grenzwerte zu entwickeln.649 (3) Unbeantwortet hat die Rechtsprechung die Frage gelassen, was für die Einbaukosten der mangelfreien neugelieferten Kaufsache gelten soll. Das zentrale systematische Argument von Bundesgerichtshof und Generalanwalt, die Bewahrung der einmal gefundenen Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung zur Begrenzung der Reichweite des Nacherfüllungsanspruchs heranzuziehen, muss wohl auch hier hinter dem teleologischen Argument des Verbraucherschutzes zurückstehen.650 Der Umgang mit diesen Unklarheiten hängt zentral davon ab, wie das Verhältnis von systematischer Argumentation des Bundesgerichtshofs und teleologischer Argumentation des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung des § 439 Abs. 1 BGB beurteilt wird. Es stehen jedenfalls die systematische Auslegung des Bundesgerichtshofs und die teleologische Interpretation des Europäischen Gerichtshofs in einem Widerstreit bei der Auslegung von § 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB.

e. Dogmatische Kritik an der teleologischen Argumentation des Europäischen Gerichtshofs Die Vorgabe des Europäischen Gerichtshofs wird in der Rechtswissenschaft überwiegend als „Paukenschlag aus Luxemburg“ mit einem gewissen Schrecken ob der nun bestehenden Unsicherheit im Kern des Kaufrechts wahrgenommen. Die weite Auslegung des § 439 Abs. 1 BGB breche aus rechtspolitischen Gründen des Verbraucherschutzes, so die überwiegende Ansicht, mit dem System des BGB, was nicht zuletzt die teleologische Argumentation des Europäischen Gerichtshofs zeige.651 Diese wird gar als eine ergebnisorientierte, von verbraucherschutzrechtlicher Sozialromantik geprägte Urteilsfindung bezeichnet.652 Nicht selten wird die Forderung nach einer zunehmenden Professionalisierung und größeren Begründungstiefe seitens des Europäischen Gerichtshofs für zivilrechtliche Fälle erhoben.653 Andere verlangen wiederum ein schnelles Han648 

Vgl. BGHZ 192, 148 = NJW 2012, 1073. Vgl. BGHZ 192, 148 = NJW 2012, 1073. 650  So auch Kaiser, JZ 2013, 346–350 und Höpfner, JZ 2012, 473–476. 651  So schon Kaiser, JZ 2013, 346–350 und Staudinger/Matusche-Beckmann, 2013, § 439 Rn. 110 f. 652  Lorenz, NJW 2011, 2244. 653  Vgl. für beides Lorenz, NJW 2011, 2244. 649 

C. Vertrag und Europäisches Privatrecht

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deln des Gesetzgebers oder fordern die Rechtsprechung dazu auf, klare Konturen für die Bemessung der Ausbaukosten bei § 439 Abs. 3 BGB anzugeben.654 Auch lädt der entstandene Zustand der Rechtsunsicherheit im Kernbereich des Kaufrechts zu Fundamentalkritik ein, wahlweise am Konzept des Verbraucherschutzes oder an der Idee des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes, die Einheit des BGB beizubehalten und keine Sonderprivatrechte im Verhältnis Unternehmer-Verbraucher einzuführen.655

2. Die gesetzliche Neuregelung als Anpassung des BGB an das Unionsprivatrecht Der deutsche Gesetzgeber nimmt die Gerichtsentscheidungen von Europäischem Gerichtshof656 und Bundesgerichtshof657 zum Anlass, das BGB im Hinblick auf die unionsprivatrechtlichen Vorgaben anzupassen.658 Ausgangspunkt der Neuregelung ist insbesondere, dass für einen Unternehmer unter Beachtung der unionsprivatrechtlichen Vorgaben die Gefahr besteht, zwar die Kosten für den Ausbau der mangelhaften Kaufsache und den Einbau der dann mangelfreien nachgelieferten Kaufsache bei dem Verbraucher tragen zu müssen, selbst aber keine Ansprüche auf Ersatz der Einbau- und Ausbaukosten gegen der Verkäufer der mangelhaften Kaufsache zu haben.659

a. Die Neufassung des § 439 BGB Das Recht der Mängelhaftung im BGB muss daher angepasst werden. Zugleich wird im Rahmen einer überschießenden Umsetzung die Rechtsstellung des Werkunternehmers verbessert werden, indem auch für ihn die verbraucherrechtlichen Regulierungen greifen sollen.660 Insbesondere die Verpflichtungen der Bauhandwerke, nach §§ 635 Abs. 1, 634 Nr. 1 BGB n.F. mangelhaftes durch mangelfreies Material zu ersetzen, schaffen die Gefahr einer sogenannten Regressfalle für Bauhandwerker, die der Gesetzgeber durch entsprechende kaufrechtliche Regelungen des § 439 BGB vermeiden wollte.661 654 Vgl.

Höpfner, JZ 2012, 473–476. Kaiser, JZ 2013, 346–350. 656 EuGH, Rs. C65/09 und C 87/09. 657  BGH NJW 2013, 220; BeckRs 2013, 15325 (= BGH VIII ZR 375/11) und BGH NJW 2014, 2183. 658  Siehe Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Bauvertragsrechts und zur Änderung der kaufrechtlichen Mängelhaftung BT-Drs. 18/8486. 659  Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Bauvertragsrechts und zur Änderung der kaufrechtlichen Mängelhaftung BT-Drs. 18/8486, S. 1. 660  Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Bauvertragsrechts und zur Änderung der kaufrechtlichen Mängelhaftung BT-Drs. 18/8486, S. 2, 9. 661  Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Bauvertragsrechts und zur Änderung der kaufrechtlichen Mängelhaftung BT-Drs. 18/8486, S. 39. 655 

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

§ 439 Abs. 3 BGB-E sah zunächst ein Wahlrecht des Verkäufers dahingehend vor, ob er selbst den erforderlichen Ausbau der mangelhaften Sache und den Einbau der nachgebesserten oder neu gelieferten mangelfreien Sachen vornimmt oder dem Käufer die hierfür erforderlichen Aufwendungen ersetzt.662 Dieses Wahlrecht wurde jedoch im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens gestrichen und ist in der ab dem 1.1.2018 geltenden Fassung des § 439 BGB nicht enthalten. Abs. 2 und Abs. 3 des § 439 BGB n.F. gewähren dem Käufer nun einheitlich einen Aufwendungsersatzanspruch, der durch § 439 BGB Abs. 4 BGB um eine Regelung für den Fall unverhältnismäßiger Kosten ergänzt wird. Das Recht des Verkäufers zur zweiten Andienung ist damit jedenfalls, was den Einund Ausbau angeht, eingeschränkt. Der Bruch mit dem vorhandenen System der Rechtsbehelfe macht eine weitere Norm, den neuen § 440 BGB, erforderlich.663 Sie regelt das Verhältnis der systemfremden Neuregelung des § 439 Abs. 3 BGB zu den systematisch einschlägigen Vorschriften über Rücktritt und Schadensersatz. Der Schutz des Werkunternehmers auch vor der sogenannten Regressfalle wird schließlich durch einen neugeschaffenen § 445a BGB abgerundet:664 § 445a BGB n.F. regelt nun den Rückgriff und vor allem den Aufwendungsersatzanspruch des Verkäufers einer neu hergestellten Sache gegen seinen Lieferanten. Diese neue Vorschrift führt wiederum zu einem Neuregelungsbedarf der Verjährung von Rückgriffsansprüchen des Werkunternehmers gegen den Verkäufer, dem durch die Schaffung des § 445b BGB n.F. entsprochen wird.665 Weitere neue Regulierungen sind zudem in den §§ 474, 475 und 479 BGB erforderlich,666 da die Fragen des Nutzungsersatzes, des Verhältnisses der Ansprüche, die an die Lieferkette anknüpfen, sowie die Sonderbestimmungen für etwaige Garantien nunmehr ebenfalls für den Fall des bestimmungsgemäßen Einbaus einer Kaufsache geregelt werden müssen.

b. Neue Auslegungsprobleme Aus dogmatischer Perspektive drängen sich neue Auslegungsprobleme auf. Insbesondere wird festgestellt, dass hier im Grunde verschuldensunabhängige Aufwendungsersatzvorschriften geschaffen werden, die zwar die Spaltung 662  Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Bauvertragsrechts kaufrechtlichen Mängelhaftung BT-Drs. 18/8486, S. 2, 9. 663  Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Bauvertragsrechts kaufrechtlichen Mängelhaftung BT-Drs. 18/8486, S. 9. 664  Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Bauvertragsrechts kaufrechtlichen Mängelhaftung BT-Drs. 18/8486, S. 9. 665  Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Bauvertragsrechts kaufrechtlichen Mängelhaftung BT Drs 18/8486, S. 2. 666  Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Bauvertragsrechts kaufrechtlichen Mängelhaftung BT Drs 18/8486, S. 9–11; S. 41 f.

und zur Änderung der und zur Änderung der und zur Änderung der und zur Änderung der und zur Änderung der

C. Vertrag und Europäisches Privatrecht

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zwischen B2C- und B2B-Normierungen aufheben, aber dem Verbraucher nicht mehr Recht als die bisherige Rechtsprechung an die Hand geben.667 Konsequent erscheint dagegen der Verzicht auf das ursprünglich im Gesetzentwurf vorgesehene Wahlrecht des Verkäufers dahingehend, ob er die mangelhafte Sache selbst aus- und einbauen möchte oder sich zum Ersatz der angemessenen Aufwendungen verpflichtet. Schließlich bedeutet jedes Wahlrecht des Verkäufers streng genommen auch eine Unannehmlichkeit im Sinne von Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 RL 1999/44/EG für den Verbraucher und ist daher kaum mit den verbraucherschützenden Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs vereinbar, die § 439 BGB n.F. umsetzt.668 Der Preis dafür ist allerdings die Aufspaltung des Nacherfüllungsvorgangs in einen Teil, den der Verkäufer und einen Teil, den der Käufer – jedoch bei Aufwendungsersatzanspruch gegen den Verkäufer – verantwortet.669 Die Auslegungsdiskussion kreist zudem um die Frage, wie die Zweckbestimmung für den Einbau genau zu ermitteln ist, was unter Einbau und Anbringen im Sinne des § 439 Abs. 2 BGB genau zu verstehen ist und welche Anforderungen an den Kenntnisstand des Käufers zu stellen sind.670 Diese Auslegungsfragen werden aber von dem grundsätzlichen Problem überlagert, welche Grenzen es für die Schutzwürdigkeit des Verbrauchers geben kann, zumal der Verbraucherschutzgedanke auf europarechtlicher Ebene durch das neu geschaffene grundrechtsgleiche Recht auf Verbraucherschutz verstärkt wird.671 Der deutsche Gesetzgeber geht beispielsweise noch davon aus, dass der art- und verwendungszweckmäßige Ein- und Ausbau objektiv zu beurteilen ist.672 Denkt man aber schon an die unterschiedlichen Möglichkeiten der Parkettverlegung, so drängt es sich auf, dass dem aus Verbrauchersicht nicht so sein kann. Gerade bei Fußböden spielen ästhetische Gesichtspunkte eine erhebliche Rolle, da sie das ganze Raumgefühl beeinträchtigen können.673 Auch wann die Schwelle zur Unverhältnismäßigkeit im Sinne der §§ 439 Abs. 4, 475 Abs. 4 Satz 1 BGB n.F. überschritten sein soll, bleibt vor dem Hintergrund der mannigfachen Systembrüche zwischen europarechtlichen Vorgaben und der rechtssystematischen Argumentation mit dem Normenbestand des BGB kaum ermittelbar. Es stellt sich beispielsweise die Frage, ob dafür nicht 667 

Dauner-Lieb, NZ Bau 2015, 684–689, 689. Das ist das erklärte Ziel des Entwurfs des Gesetzes zur Reform des Bauvertragsrechts und zur Änderung der kaufrechtlichen Mängelhaftung BT-Drs. 18/8486, S. 39. 669  Krit. daher BeckOGK/Höpfner, 1.6.2018, 3 439 BGB Rn. 50.4. 670  Für den Stand der Diskussion Maultzsch, ZfPW 2018, 1, insb. 4–6. 671 Art. 6 Abs. 3 EU-Vertrag i.V.m. Art. 38 EU Grundrechte-Charta. 672  Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Bauvertragsrechts und zur Änderung der kaufrechtlichen Mängelhaftung BT-Drs. 18/8486. 673  Dagegen geht der Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Bauvertragsrechts und zur Änderung der kaufrechtlichen Mängelhaftung BT-Drs. 18/8486, S. 44 f. entgegen den Vorgaben des EuGH davon aus, dass ästhetische Beeinträchtigungen eine nur geringe Bedeutung zukomme. 668 

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

bereits Preisveränderungen ausreichen können oder schlicht die Unmöglichkeit, eine Kaufsache gleicher Art und Güte mangelfrei zu beschaffen. Das kann bei Eichenparkett zum Beispiel schon dann der Fall sein, wenn die Charge, die verlegt wurde, ausverkauft ist und die neue Produktionscharge des sonst im Aufbau identischen Produktes eine leicht andere Maserung hat, da die dort verarbeiteten Eichen einige Jahre jünger sind. Für solche ästhetischen Mängel ist durch den Bundesgerichtshof bisher nur eine Beteiligung an den Aus- und Einbaukosten in Höhe von 50 Prozent des Wertes der mangelfreien Sachen anerkannt.674 Alle diese Fragen werden im Einzelfall durch Auslegung des § 439 BGB n.F. zu entscheiden sein. Allerdings wird es kaum mehr hilfreich sein, systematische Argumente zu bilden.675 Die Argumentation ist letztlich auf teleologische Argumente beschränkt,676 die darauf zielen müssen, dem Verbraucher Unannehmlichkeiten im Sinne von Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 RL 1999/44/EG zu ersparen. Aus dieser Perspektive fehlt es etwa an einem Recht des Käufers, die vom Verkäufer geschuldete Nacherfüllung selbst vorzunehmen, wie es bereits durch § 637 BGB im Werkvertragsrecht anerkannt ist. Es erscheint jedenfalls aus der Perspektive des Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 RL 1999/44/EG sehr fraglich, ob der Käufer durch entsprechende Schadensersatzansprüche gegen den Verkäufer ausreichend geschützt ist,677 da es hier auf das Vertretenmüssen ankommt. Zudem wird durch die Einbeziehung der Lieferkette und damit der B2B-Vertragsverhältnisse weiterhin das verlangt, was Anlass für die Gesetzesänderung war678: die europarechtliche Vorstellung des Verbraucherschutzes mit den deutschen Vorstellungen des Unternehmerschutzes in Einklang zu bringen. Ebenso wie der europäische Gesetzgeber den Verbraucher schützen möchte, möchte der

674  BGHZ

192, 148, Rn. 54 = NJW 2012, 1073, Rn. 54. So noch Maultzsch, ZfPW 2018, 1, 4 für eine Berücksichtigung subjektiver Zwecke bei dem Einbau. Maultzsch, ZfPW 2018, 9 f. für eine Einschränkung der richtlinienkonformen Auslegung auf Verbrauchsgüterverträge i.S.d. § 474 Abs. 1 BGB. Maultzsch, ZfPW 2018, 13 für rechtspolitische Kritik am Vorschussrecht des Käufers für seine Aufwendungen im Hinblick auf den Aus- und Einbau und auch für die Abdingbarkeit des § 439 Abs. 3 BGB durch Individualvereinbarungen, Maultzsch, ZfPW 2018, 18 f. Ebenso systematisch BeckOGK/ Höpfner, § 439, Rn. 50.4. mit der Diagnose eines Wertungswiderspruchs zwischen der gesetzlich vorgesehenen objektiven Verwendungsbestimmung und dem Vorrang des subjektiven Fehlerbegriffs des § 434 BGB. Für einen allgemeinen systematischen Auslegungsanspruch noch Grigoleit, System der Leistungsstörungen – Einheitlichkeit und Differenzierung im kaufrechtlichen Leistungsstörungsrecht, in: Artz/Gsell/Lorenz (Hrsg.), 10 Jahre Schuldrechtsmodernisierung, 2014, S. 91 f. und Lorenz, NJW 2011, 2241, 2244. 676  Allgemein zur ergebnisprägenden Bedeutung teleologischer Argumentation bei der Argumentation des Europäischen Gerichtshofs Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 456–474. 677  So BeckOK/Faust, 45. Aufl., 1.3.2018, § 439 Rn. 4. 678  Für eine grundsätzlich einheitliche richtlinienkonforme Auslegung auch bei überschießender Umsetzung schon Canaris, JZ 2003, 831, 838; ebenso Fornasier, EuZW 2013, 159, 160. 675 

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deutsche Gesetzgeber die Handwerker vor den verbraucherrechtlichen Ansprüchen schützen.679 Aus rechtsdogmatischer Perspektive des BGB erscheint insbesondere die Erweiterung des Verbraucherrechts auf Unternehmer systemwidrig.680 Sie sprengt jedenfalls den Rahmen, der durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz gezogen wurde und durch die Abkapselung des Verbraucherrechts in ein sogenanntes Sonderprivatrecht gezogen wird.681

c. Die Systembrüche aus der Perspektive der Theorieangebote Man kann an diesem einzelnen Reformgesetz rechtsdogmatisch kritisieren, dass es über diese Änderung hinaus keinen weiteren Plan gibt, der einer systematischen Ordnung folgt.682

(aa) Ein neues Kaufrecht? Daher fordern einige die möglichst baldige Einführung eines Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts (GEKR).683 Andere halten diesen Entwurf eines GEKR dagegen in dieser Form für derzeit nicht überzeugend.684 Aus staatsorganisationsrechtlicher Perspektive erscheint diese Neuregelung darüber hinaus geradezu als ein Musterfall des um sich greifenden „Black-letter-law“, das auf zweifelhafter Rechtsgrundlage wie der des Art. 114 AEUV vor allem auf die Stärkung supranationaler europäischer Institutionen abzielt.685 Geht man von der deutschen Rechtsordnung und ihrer Festlegung auf einen möglichst weitgehenden Erhalt der individuellen Handlungshoheit im Vertragsrecht aus, so dient der Entwurf des GEKR als ein weiterer Beleg dafür, dass die Entwicklung des „Acquis Communautaire“ ohne einen Anschluss an die bestehenden Rechtsordnungen erfolgt und gerade an Stellen wie den Einigungsmängeln eine Abkehr vom Schutz der fehlerfreien Willensbildung enthält und daher mate679  Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Bauvertragsrechts und zur Änderung der kaufrechtlichen Mängelhaftung BT-Drs. 18/8486, S. 39. 680  Dauner-Lieb, NZ Bau 2015, 684–689, 689; für eine einschränkende Auslegung daher Maultzsch, ZfPW 2018, 9 f.; zust. BeckOGK/Höpfner, § 439 Rn. 50.4. 681  Dazu etwa Reymann, Sonderprivatrecht, S. 498 f., der noch von zwei Arten des Sonderprivatrechts ausgeht: einem Sonderprivatrecht mit verbraucherschützendem Charakter für das B2C-Verhältnis und einem Sonderprivatrecht mit einem besonders anspruchsvollen „transzendiertem“ Freiheitsverständnis, das die Obliegenheiten zur Selbstverantwortung zu Gunsten der Verkehrsschutzaspekte verringere. 682 So Dauner-Lieb, NZ Bau 2015, 684–689, 689. 683 So Schmidt-Kessel, Vorwort, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Entwurf für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht im Anschluss an einen Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht GEK-VO-E v. 11.10.2011 Kom (2011) 635 endg. 684  Eidenmüller/Kieninger/Jansen/Wagner/Zimmermann, JZ 2012, 269. 685  Basedow, EuZW 2012, 1–2.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

riell-rechtlich nicht überzeugen könne.686 Die Rücknahme des Entwurfs zum GEKR hat diese Diskussion obsolet werden lassen. Er soll nun in seinem Anwendungsbereich auf die Fragen beschränkt überarbeitet werden, die im Bereich des Online-Erwerbs von digitalen Inhalten und Sachgütern den grenzüberschreitenden Handel behindern.687

(bb) Die Pflege der Systembrüche? Ohne ein neues Kaufrecht besteht die Pflege der Systembrüche fort. Aus ökonomischer Sicht bleibt etwa abzuwarten, wie stark die vorgeschlagene Gesetzesänderung des § 439 BGB n.F. durch ihre verbraucher- und unternehmerschützenden Vorschriften die Kosten für Kaufsachen steigen lassen, die bestimmungsgemäß ein- und auszubauen sind. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung stellt dazu lakonisch fest: „Eine Abschätzung der möglichen Preissteigerung der Verkaufspreise aus einer Überwälzung von Kosten einer Versicherung, die das Risiko aus dem vorgesehenen § 439 Absatz 3 BGB für Hersteller, Lieferanten und Endverkäufer abdecken soll, ist nicht möglich.“688 Sicher ist aus ökonomischer Perspektive aber, dass eine solche Überwälzung der Kosten auf die Verbraucher zu erwarten ist. Aus einer systemtheoretischen Perspektive kann angesichts des Gesetzentwurfs die Prognose gewagt werden, dass sich das Unionsprivatrecht in nationalstaatliche Rechtsordnungen weiter einschreiben wird. Das folgt aus dem Anpassungsdruck, dem die Normen des BGB unterliegen.689 So wäre es zu erwarten, dass die unternehmensschützenden Vorschriften, die der deutsche Gesetzgeber nun schafft, wiederum im Hinblick auf den verbraucherschützenden Zweck eingeschränkt werden müssen. Aus der Perspektive der Handlungshoheit manifestiert sich in den europarechtlichen Vorgaben vor allem die kollektive Handlungshoheit der europäischen Institutionen. Sie schaffen eine normative Ordnung, die erfolgreich das nationalstaatliche Recht überformt. Der Gesetzesentwurf zur Anpassung an die unionsprivatrechtlichen Vorgaben mit dem Ziel des Unternehmerschutzes ist dagegen Ausdruck der interaktiven Handlungshoheit der deutschen na686 Dafür, dass der zentrale Teil des GEK-E wie die Einigungsmängel nicht als Ausdruck gemeinsamer Rechtsgrundsätze verstanden werden können, sondern eigenständigen europäischen Regelungswerken wie den PECL oder dem DCFR folgen und sich so gegen Rechtsordnungen wie die deutsche stellen, die die fehlerfreie Willensbildung schützen, etwa Martens, AcP 211 (2011), S. 845–885. 687  Dazu die öffentliche Konsultation der Europäischen Kommission v. 12.5.2015 im Rahmen der Digital-Single-Market-Strategy v. 6.5.2015, die derzeit vor allem in einer Meinungsfrage zu Konsumgewohnheiten besteht: http://ec.europa.eu/newsroom/just/item-detail. cfm?item_id=34564 (abgerufen am 22.9.2016). 688  Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Bauvertragsrechts und zur Änderung der kaufrechtlichen Mängelhaftung BT-Drs. 18/8486, S. 3. 689 S. o. Teil 2 E. III.

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tionalstaatlichen Institutionen, die offensichtlich ein anderes Bild der Risikoverteilung zwischen Unternehmer und Verbraucher haben.690 Was aus dem Blick gerät, ist jedenfalls die individuelle Handlungshoheit des Verbrauchers. Man kann natürlich davon ausgehen, dass der Verbraucher seine Rechte aus § 439 Abs. 3 BGB n.F. einfach bekommt und der Unternehmer ohne weitere Diskussionen über die Kosten des Ein- und Ausbaus diesen fachgerecht und zur Zufriedenheit des Verbrauchers vornimmt. Man kann aber auch Bedenken haben, ob der Aufwendungsersatz für den Ein- und Ausbau einer bestimmungsgemäß einzubauenden Kaufsache wie etwa von Parkettstäben oder Fliesen wirklich unproblematisch bewertet werden kann. Geht man, anders als der Gesetzgeber, aus individueller Ver­brau­cher­per­spek­tive nicht davon aus, dass der Ein- und Ausbau von Kaufgegenständen gänzlich unproblematisch ökonomisch bewertet werden kann, so erhält die Neuregelung eine ganz andere Bedeutung: Der Verbraucher kann individuell von der Neuregelung des § 439 Abs. 3 BGB n.F. nur dann sicher profitieren, wenn er diese Regeln bricht, um so mit dem Verkäufer ein für ihn individuell passendes Verhandlungsergebnis über den Ersatz der Einbau- und Ausbaukosten zu erzielen. Letztlich scheint der Verbraucher durch die Erweiterung seiner Rechte auf Einund Aus- und Wieder-Einbau der Kaufsache bestenfalls ein Instrument an die Hand zu bekommen, um einen für ihn effizienten Regelbruch zu begehen.

III. Europäisches Vertragsrecht und seine Zukunft Die Zukunft des Europäischen Privatrechts wird durch zwei Phänomene präfiguriert: zum einen durch die weitere rechtspolitische Entwicklung des Unionsprivatrechts und seine Brüche mit nationalen, insbesondere autonomie-orientierten Rechtsordnungen; zum anderen durch wissenschaftliche Entwürfe wie den Draft Common Frame of Reference (DCFR)691, der als normative „ToolBox“ für Gesetzgebungsprojekte dienen soll, wie etwa das Gemeinsame Europäische Kaufrecht (GEK-E)692, die jeweils über das reine Verbraucherrecht hinausgehen. Die weitere rechtspolitische Entwicklung wie auch die Entwürfe und die Diskussion um ihre inhaltliche Ausrichtung werden im Folgenden beleuchtet.

690  Für den Schutz der Unternehmer im Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Bauvertragsrechts und zur Änderung der kaufrechtlichen Mängelhaftung BT-Drs. 18/8486, S. 39. 691  v. Bar/Clive/Schulte-Nölke (Hrsg.), Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law. Draft Common Frame of Reference (DCFR), Outline Edition 2009. Deutsche Übersetzung unter http://ec.europa.eu/justice/contract/files/european-privatelaw_de.pdf (abgerufen am 20.4.2016). 692  In deutscher Übersetzung: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Entwurf für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht. Kommentar, 2014.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

1. Die Zukunft des Unionsprivatrechts als Instrument supranationaler Wohlfahrt Die weitere Entwicklung des Unionsprivatrechts steht unter dem Anspruch einer holistischen Perspektive. Diese lasse nicht nur die Trennung zwischen privatem und öffentlichem Recht hinter sich, sondern ziehe im Verbraucherrecht auch die Konsequenzen aus der wechselseitigen Verknüpfung von Moral und positivem Recht jenseits des Staates.693 Es wird damit die in den objektiven und für die individuelle Willensbildung unverfügbaren Typisierungen von Unternehmer (§ 14 BGB) und Verbraucher (§ 13 BGB) angelegte Umstellung des Unionsprivatrechts von einer Autonomie-Orientierung zu einer Funktionalisierung des Unionsprivatrechts im Namen einer staatlichen Wettbewerbslenkung und umfassenden Regulierung vollendet.694 Die Zukunft des Unionsprivatrechts wird damit vor allem in einem Ausbau der Regulierungstätigkeit seitens der europäischen Institutionen gesehen, die den einzelnen Bürger und sein rechtsgeschäftliches Handeln im Namen der Gesamtwohlfahrt instrumentalisieren. Prägend für das System des Unionsprivatrechts sind nicht mehr die Willensäußerungen von Rechtspersonen, sondern die Typisierungen von Verbraucher und (Klein-)Unternehmer. Diesen Typisierungen werden Wertordnungen zugeordnet, die ebenfalls der individuellen Handlungshoheit entzogen sind.695 In dieser Konzeption werden für verschiedene Verbrauchertypen verschiedene Schutzbereiche vorgeschlagen, mit denen unterschiedliche Rechtsschutzniveaus korrespondieren sollen. Diese Zuordnungen sollen in einem beweglichen System geordnet werden, um unterschiedliche Typen des Wohlfahrtsstaates unterschiedlichen Verbrauchertypen zuzuordnen.696 Es entsteht eine objektive Werteordnung, deren Werte durch Abwägungen miteinander verbindlich vernetzt und konkretisiert werden.697 Vorgeschlagen werden derzeit nicht weniger als fünf Verbrauchertypen: der verantwortliche Verbraucher, der verantwortliche und vertrauende Verbraucher, 693 Siehe Micklitz, Brauchen Konsumenten und Unternehmen eine neue Architektur des Verbraucherrechts?, A 111. 694 Siehe Micklitz, Brauchen Konsumenten und Unternehmen eine neue Architektur des Verbraucherrechts?, A 111. 695 Siehe Micklitz, Brauchen Konsumenten und Unternehmen eine neue Architektur des Verbraucherrechts?, A 110. 696  Wilhelmsson/Micklitz, Introduction, in: Micklitz (Hrsg.), The Many Concepts of Social Justice in European Private Law, 2011, S. 3 ff. 697 Siehe Micklitz, Brauchen Konsumenten und Unternehmen eine neue Architektur des Verbraucherrechts?, A 112 f. So soll insb. verhindert werden, dass der (verletzliche) Verbraucher durch unzureichende Umsetzung europäischer Vorgaben in nationales Recht Nachteile erleidet, wie das etwa die Fälle „Heininger“ EuGH EuZW 2002, 84, „Schulte“ EuGH WM 2005, 2079 und „Crailsheimer Volksbank“ EuGH DnotZ 2006, 273 jedenfalls aus unionsprivatrechtlicher Perspektive nahelegen. Dazu Nettesheim, WM 2006, 457–466, 466.

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der vertrauende und verletzliche Verbraucher, der verletzliche Verbraucher und der ökologische Verbraucher, denen ein Pflichtenkanon auf Unternehmerseite zugeordnet wird.698 Wegen dieser dynamischen Entwicklung und des – im Unterschied zum BGB – sozialen Charakters des Unionsprivatrechts sei eine Trennung von dem Normenbestand des BGB zwingend und geeignet, eine zivilrechtliche Zukunft zu gestalten, in der der Verbraucher-Bürger sich an öffentlichen Werten orientieren müsse.699

2. Der DCFR als „Tool-Box“ für zukünftige europäische Gesetzgebung Im Unterschied zur Zentrierung rund um das Verbraucherrecht versuchen andere wissenschaftliche Entwürfe, über eine bloße Dienstleistung für die Kommission hinaus, durch rechtsvergleichende Arbeit eine Blaupause für ein Europäisches Privatrecht, insbesondere ein Schuldvertragsrecht, zu entwerfen.700 Vor dem Hintergrund der normativen Analyse der guten Sitten und der Vertragsauslegung im System des BGB701 sollen im Folgenden die Vorschläge zur Klauselkontrolle und Vertragsauslegung aus der Perspektive der Handlungshoheit exemplarisch beleuchtet werden.

a. Privatautonomie und Inhaltskontrolle Die Einschränkungen der Privatautonomie zentrieren sich um Wertungsaspekte wie Missbrauch oder Vermeidung von Unannehmlichkeiten für den Verbraucher.702 Auch wird dem Verbraucherrecht teils eine wichtige Funktion im Demokratisierungsprozess zugeschrieben und seine Zukunft vor allem in einem differenzierten, integrierten Rechtsschutz für schwache und verletzliche Verbraucher gesehen, die nicht in der Lage sind, ihre Rechte selbst durchzusetzen.703 698  Micklitz, Brauchen Konsumenten und Unternehmen eine neue Architektur des Verbraucherrechts?, A 112 f. 699  Micklitz, Brauchen Konsumenten und Unternehmen eine neue Architektur des Verbraucherrechts?, A 109 und A 117 f. 700  v. Bar/Clive/Schulte-Nölke (Hrsg.), Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law. Draft Common Frame of Reference (DCFR), Outline Edition 2009, Introduction, S. 3 f. 701 S. o. Teil 3 A. und B. 702  Etwa im geltenden Unionsprivatrecht EuGH BeckRS 2013, 81098 und z.B. Art. II.– 3:102 DCFR (besondere Pflichten für Unternehmer, die an Verbraucher vermarkten) oder das Widerrufsrecht, z.B. Art. II.–5:101 ff. DCFR. Für eine Ausweitung des Schutzes des Empfängers einer Willenserklärung siehe etwa Art. 38 Abs. 4 GEK-E, der im Unterschied zum CFR eine Liste der Fälle enthält, in denen stets eine erhebliche Änderung vorliegt. 703  Micklitz, Brauchen Konsumenten und Unternehmen eine neue Architektur des Ver-

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

(1) Diese Überlegungen spiegeln sich auch im DCFR: Das Prinzip der Privatautonomie (Party Autonomy) kann nach Art. II-1:102 Abs. 1 DCFR durch jede zwingende Regelung eingeschränkt werden. Damit kann die öffentliche Ordnung stets zur Einschränkung der Vertragsfreiheit herangezogen werden. Die damit geschaffene maximale Einschränkungsmöglichkeit der Privatautonomie wird teils vor dem Hintergrund der „underlying principles“ Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit und Effizienz gelesen, so dass eine Einschränkung der Privatautonomie nur zu Gunsten der Verwirklichung eines anderen „underlying principle“ möglich sein soll.704 Demzufolge gelten jedenfalls Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit als Selbstzwecke, die aber dennoch gegeneinander abgewogen werden können sollen.705 Andere halten dagegen, dass die Einschränkung auf die vier „underlying principles“ nicht möglich sei, da ebenso zentrale Hintergrundannahmen wie Menschenrechte, Solidarität und soziale Verantwortung gleichermaßen zu berücksichtigen seien und ursprünglich auch als „underlying principles“ des Draft Common Frame of Reference (DCFR) in der Interim Outline Edition aus dem Jahr 2008 anerkannt waren.706 Insoweit unterliege die Vertragsfreiheit ohnehin auch in ihrer inhaltlichen Dimension den Entscheidungen des Gesetzgebers. Damit folgt für das Europäische Privatrecht aber ein fundamentaler, unvermeidbarer Pluralismus an Normen, Werten und Prinzipien, der zu einem ­„mixed system“ führe, das einem farbenfrohen Mosaik ähnle.707 Anders als bei der Schaffung des BGB wird die Bedeutungsschwäche des Begriffs der öffentlichen Ordnung im Hinblick auf den Schutz der Entscheidungsfreiheit auf europäischer Ebene nicht zum Anlass genommen, ihn zu Gunsten des Konzepts der Sittenwidrigkeit zurückzunehmen.708 Vielmehr wird in der Diskussion um ein europäisches Vertragsrecht die Bedeutungsschwäche des Begriffs der öffentlichen Ordnung als Stärke im Hinblick auf eine gegenüber sich wandelnden gesellschaftlichen Umständen offene

braucherrechts?, A 36–56 zum Verbraucherbegriff sowie A 122 f. zur Zukunft des Verbraucherrechts. 704  Riesenhuber, Die Inhaltskontrolle im Common Frame of Reference (CFR) für ein Europäisches Privatrecht, in: Riesenhuber/Karakostas (Hrsg.), Inhaltskontrolle im nationalen und Europäischen Privatrecht, 2009, S. 49–79, 78. 705  v. Bar/Clive/Schulte-Nölke (Hrsg.), DCFR Outline Edition 2009, Intr. 15 und 16. Zur Kritik an einer vollharmonisierten Klauselkontrolle dagegen Jansen, ZEuP 2010, 69. 706  Dies fordert etwa Hesselink, Core Values and Underlying Principles, in: Brownsword/ Micklitz/Niglia/Weatherhill (Hrsg.), The Foundations of European Private Law, 2011, S. 66– 69. 707  Hesselink, How Many Systems of Private Law in Europe?, in: Niglia (Hrsg.), Pluralism and European Private Law, 2013, S. 199–247, 246. 708  Zur deutschen Diskussion um die guten Sitten siehe Prot. I, 258. Zur Fokussierung der Diskussion um Einschränkungen der Vertragsfreiheit auf den Schutz und Respekt vor der individuellen Entscheidungsfreiheit siehe Teil 3 A. I. und III.

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juristische Argumentation gedeutet, die genau nicht auf den Schutz der Entscheidungsfreiheit vor dem Missbrauch der Vertragsfreiheit festgelegt ist.709 (2) Die Ergebnisse der rechtsvergleichenden Forschung sind andererseits dort von besonderem Wert, wo bestehende Normen klarer formuliert werden, die dem Erhalt der Entscheidungsfreiheit dienen. So ist gerade die in § 138 Abs. 2 BGB normierte Kombination aus Ausbeutung und Zwangslage mit einem gewissen Widerspruch behaftet.710 Wenn eine idealtypische Zwangslage besteht, so ist keine weitere Ausbeutung mehr erforderlich oder möglich, da der Handelnde ohnehin nur noch eine Handlungsoption hat.711 Für überzeugender kann insoweit die Regelung des DCFR gehalten werden, die zum Schutz des Schwächeren die Ausbeutung als „unfair exploitation“ von dem Zwang strikt trennt und durch Art. II.-7:207 DCFR gesondert regelt. Damit fügt sich Art. II.-7:207 DCFR auch in die Tradition eines Bruchs mit der laesio enormis ein, der schon bei § 138 Abs. 1 BGB insbesondere durch die Prüfung der objektiven und der subjektiven Seite deutlich wurde.712 Allerdings geht damit auch die Öffnung für eine allgemeine und vollumfassende Inhaltskontrolle einher. Denn der Begriff des unfairen Vorteils umfasst alle Vorteile, insbesondere auch nicht-wirtschaftliche.713 Das Vorliegen einer unfairen Ausnutzung nach Art. II.-7:207 DCFR führt zu einem Anfechtungsrecht. Dieses Anfechtungsrecht hängt von einer Abwägung unterschiedlicher objektiver und subjektiver Faktoren ab. Eine Partei kann demnach einen Vertrag anfechten, wenn sie bei Vertragsschluss von der anderen Partei abhängig war oder zu ihr in einem Vertrauensverhältnis stand, sich in einer wirtschaftlichen Notlage befand oder dringende Bedürfnisse hatte, unvorsichtig, unwissend, unerfahren war oder ihr das Verhandlungsgeschick fehlte, und zugleich die andere Partei davon wusste oder wissen musste und „unter Berücksichtigung der Umstände und des Zwecks des Vertrages, die Lage der ersten Partei ausnutzt, in dem sie sich einen übermäßigen Nutzen oder gröblich unfairen Vorteil verschafft.“ (Art. II.-7:207 DCFR) Eine Eingrenzung von bedeutungsoffenen Kriterien wie übermäßiger Nutzen und unfairer Vorteil ist jedenfalls nicht etabliert. Würden entsprechende Konkretisierungen vor dem Hintergrund des Normengefüges des DCFR erfolgen, so müsste, ganz im Sinne der Berücksichtigung jeder zwingenden Regelung („subject to any applicable man709 

v. Bar/Clive/Schulte-Nölke (Hrsg.), DCFR Outline Edition 2009, Intr. 15. Teil 3 A. VII. 711  Zum Zusammenhang von Freiwilligkeit und Ausbeutung einerseits und Unfreiwilligkeit und Zwang andererseits Gutmann, Zwang und Ausbeutung beim Vertragsschluss, in: Schulze (Hrsg.), New Features in Contract Law, 2007, S. 49. 712 S. o. Teil 3 A. III. 713  So auch für den GEK-E Pfeiffer, Commentary to Art. 48–56 Common European S ­ ales Law (Proposal), in: Schulze (Hrsg.), Common European Sales Law – Commentary, 2012, Art. 51 Rn. 26. 710 S. o.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

datory rule“) nach Art. II-1:102 (1) DCFR, die Gesamtheit der Entscheidungen des demokratischen Gesetzgebers berücksichtigt werden. Dabei würden die Prinzipien des Schutzes des Schwächeren und die Vermeidung vertraglicher Ungerechtigkeit die individuelle Autonomie nicht einschränken, sondern vielmehr als gleichrangige Prinzipen ebenso wirksam werden.714

b. Vertragsauslegung Ein Vertrag steht im DCFR nicht nur unter dem Vorbehalt einer Einschränkung durch jede zwingende Regel. Ein Vertrag ist nach Art. II.-1:101 DCFR eine Vereinbarung, die darauf abzielt, ein verbindliches Rechtsverhältnis zu begründen oder eine andere rechtliche Wirkung herbeizuführen. Der Vertrag wird damit, losgelöst vom Willen der Parteien, als ein objektiver Begriff eingeführt, dem ein bestimmter Erklärungsgehalt zukommt. Dazu passend wird er in Art. II.-1:101 DCFR weiter definiert als ein zwei- oder mehrseitiges Rechtsgeschäft. Der Vertrag wird gleichsam als eine für sich stehende, sinnhafte Vereinbarung vorgestellt, unter der die Parteien sich wie unter einen Regenschirm stellen können. Der Aspekt, dass erst durch den Willen der Vertragsparteien entsprechende vertragliche Rechte geschaffen werden, bleibt unerwähnt. (aa) Darauf bauen die Regulierungsvorschläge zur Vertragsauslegung auf. Die Vertragsauslegung stellt in Art. II.-8:101 DCFR zunächst klar, dass die Bedeutung des Vertrags auch losgelöst vom Wortlaut der Vereinbarung erfolgen kann. Es kommt insoweit auf die Bedeutung des mit der anderen Vertragspartei übereinstimmenden Willens („common intention“) an. Damit fügt sich Art. II.-8:101 DCFR ebenso wie Art. 58 GEK-E in die auch im deutschen und angelsächsischen Recht anerkannte Ablösung der Vertragsauslegung ein. Um Konflikte zwischen Willenstheorie und Kontext-Berücksichtigung zu vermeiden, ordnen die Regeln des europäischen Verbraucherrechts (Art. II.8:101 ff. DCFR wie auch Art. 58 ff. GEK-E) an, dass der gemeinsame Wille nur mehr der Ausgangspunkt zur Anwendung objektiver Klassifizierungen und Regulierungen des existierenden Rechts ist. Die Willensäußerung der Parteien wird zum Anknüpfungspunkt für deren Anwendung. Insoweit kann auf europäischer Ebene die Vertragsinterpretation als ein Werkzeug neben anderen verstanden werden, das den Vertragsinhalt jenseits des Parteiwillens einer moralischen Bewertung öffnet oder jedenfalls zugänglich macht. Zwar „können“ nach Art. II.-9:101 (1) DCFR die Bestimmungen des Vertrags gerade im Fall von unvollständigen vertraglichen Vereinbarungen aus den „ausdrücklichen oder stillschweigenden Vereinbarungen der Parteien, 714 So Hesselink, CISG and CESL: Simplicity, Fairness and Social Justice, in: Gullifer/ Vogenauer (Hrsg.), English and European Perspectives in Contract and Commercial Law, 2014, S. 225–236.

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aus Rechtsvorschriften oder aus Gepflogenheiten, die zwischen den Parteien entstanden sind“ hergeleitet werden. Allerdings sind ebenso nach Art. II.-9:101 (2) DCFR durch ein Gericht allein objektive Kriterien heranzuziehen, wie die Natur und der Zweck des Vertrags, die Umstände, unter denen der Vertrag geschlossen wurde, oder die Erfordernisse des Gebots von Treu und Glauben und des redlichen Geschäftsverkehrs. (bb) Deutlich wird die Ablösung vom Parteiwillen insbesondere bei Art. 68 Abs. 1 GEK-E. Demnach soll die richterliche Vertragsauslegung bereits dann erfolgen, wenn die Parteien die betreffende Frage „nicht ausdrücklich“ geregelt haben. Hier wird wiederum die Vertragsinhaltsfreiheit zu Gunsten der Wirksamkeit aller zwingenden Regelungen zurückgenommen. Teils wird daher gefordert, dass eine den Umständen zu entnehmende Parteiregelung der Anwendung des Art. 68 GEK-E vorgehen muss.715 Allerdings stellt sich hier im Unterschied zu den §§ 133, 157 BGB ein gegenläufiges Problem. Während die objektiven Kriterien des Vertrauensschutzes und der Verkehrssitten interpretatorisch objektiv bestimmt werden müssen, bietet der DCFR ein Set an nahezu allen möglichen Kriterien für die Vertragsinterpretation (Art. II.-8. 102 ff. DCFR). Allerdings wird damit wiederum ein noch weiterer Interpretationsspielraum eröffnet. Wenn nahezu jeder Grund für die Vertragsauslegung relevant ist, dann kann schließlich kein Grund mehr eine verbindliche Entscheidung über die Vertragsauslegung rechtfertigen. Insoweit wird teils gefordert, angesichts des unüberschaubaren Pluralismus allein auf die Entscheidungen des Gesetzgebers zu setzen und so bestimmte Standards als Antwort auf einen Bedeutungs- und Begründungspluralismus einfach zu akzeptieren.716 Andere ziehen in rechtsphilosophischer Absicht aus der Situation eines pluralistischen Ausgangspunktes der Vertragsauslegung dagegen die Konsequenz, unterschiedliche Moralentwürfe und ihr Verhältnis zueinander zu diskutieren. Dies betrifft zum Beispiel die Frage, ob ein Verständnis des Vertrags als Versprechen verbunden oder gar harmonisiert werden kann mit einer ökonomischen oder utilitaristischen Herangehensweise. Vertragsauslegung wird damit zu einem reflexiven Unternehmen.717

715 So Maultzsch, Vorbemerkung zu den Art. 58 ff., in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Entwurf für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht. Kommentar, 2014, Rn. 23 im Anschluss an Looschelders, AcP 212 (2012), S. 581, 641. 716 Wiederum Hesselink, CISG and CESL: Simplicity, Fairness and Social Justice, in: Gullifer/Vogenauer (Hrsg.), English and European Perspectives in Contract and Commercial Law, 2014, S. 225–236. 717  Kreitner, University Law Review 45 (2012), S. 915–933, 927.

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Teil 3: „Materialisierung“ als Stärkung der Vertragsfreiheit

3. Die Perspektive der Handlungshoheit Während das existierende Unionsprivatrecht die Rechtsperson als Verbraucher-Bürger für die Steigerung der Gesamtwohlfahrt des Binnenmarktes instrumentalisieren und sozial-moralisch erziehen möchte, überformt der DCFR das existierende Unionsprivatrecht durch ein umfassendes allgemeines und besonderes Schuldvertragsrecht. Durch die entsprechenden Kodifikationsvorschläge wird die Bedeutung anderer Rechtsquellen abnehmen. Theoretisch informierte Untersuchungen bleiben trotz umfassender Kodifikationsvorschläge unvermeidlich, wie nicht zuletzt die Beispiele aus dem BGB zu den guten Sitten zeigen. Aus privatrechtstheoretischer Perspektive kann die zukünftige vielversprechende Entwicklung – wie auch bei dem existierenden Unionsprivatrecht – vor allem in einem weiteren Ausbau der interaktiven Handlungshoheit gesehen werden. Beide Entwicklungen dokumentieren durch ihre Regelungsdichte nicht nur den Bruch mit der schlanken Regelungstechnik des BGB. Darüber hinaus wird auch materiell-rechtlich eine Kluft zum Schuldvertragsrecht des BGB sichtbar, das noch darauf festgelegt ist bzw. festgelegt werden kann, die individuelle Handlungshoheit soweit als möglich zu respektieren.718 Wegen dieser Kluft zwischen der normativen Ordnung des Unionsprivatrechts und der des BGB besteht aus privatrechtsphilosophischer Perspektive kein Anlass, davon auszugehen, dass eine Kritik am Unionsprivatrecht, die entfernt an systematisch-inhaltliche Argumentationsfiguren des BGB anknüpft, im Unionsprivatrecht anschlussfähig ist. Es ist vielmehr aus systemtheoretischen Gründen zu erwarten, dass das Unionsprivatrecht sich höchst erfolgreich weiterreproduziert und sich die normative Ordnung des BGB an das Unionsprivatrecht anpasst.719 Das bedeutet zunächst, dass die Klassifizierung des Unionsprivatrechts als „Sonderprivatrecht“ für Unternehmer und Verbraucher ebenso wie die Diskussion um dessen Legitimation unabhängig von der Überzeugungskraft des Verbraucherrechts oder seiner Begründung720 obsolet geworden sind. Das bedeutet aber auch, dass die inhaltliche Entwicklung des Verbraucherrechts in die Richtung eines allgemeinen Schutzes des Schwächeren weiter vorangetrieben werden könnte. Den Schutz des Schwächeren von einer objektiven Typisierung abhängig zu machen, wird aber immer wieder und unvermeidbar zu widersprüchlichen Er718 S. o.

Teil 3 A. und B. Teil 2 E. 720  Dazu noch Reymann, Das Sonderprivatrecht, der insoweit das Verbraucherrecht als Sonderprivatrecht noch auf eine Deliberalisierungswirkung der Grundfreiheiten zurückführt, S. 252–255. 719 S. o.

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gebnissen führen, die geeignet sind, nicht nur im Mehrebenenrecht für Kompetenzdiskussionen zu sorgen, sondern auch ineffiziente und ungerechte Ergebnisse herbeizuführen. Es sind jedenfalls nach wie vor kaum Umstände denkbar, unter denen es inhaltlich überzeugend ist, einen Zahnarzt ohne besondere Kenntnisse über Gebrauchtwagen als Unternehmer anzusehen, wenn er seinen beruflich genutzten Sportwagen an einen Verbraucher verkauft, um ihn in der Folge einer Fülle von Informations- und Gewährleistungspflichten zu unterwerfen. Für die Rechtssicherheit bei der Schaffung eines grenzüberschreitenden Binnenmarktes mag die Typisierung ein Preis sein, der aus Gründen der Erweiterung der interaktiven Handlungshoheit in Form des grenzüberschreitenden Handels vorübergehend zu zahlen ist. Allerdings sollte daraus kein Prozess erwachsen, der die Entwicklung des Unionsprivatrechts als einen Normkomplex erscheinen lässt, in dem allenfalls durch eine umfassende Konstitutionalisierung die individuelle Handlungshoheit und insbesondere das subjektive Recht des Unionsbürgers auf die Gestaltung seines eigenen Lebens wieder Beachtung finden könnten.721 Denn gerade in einem freien und sehr großen Binnenmarkt spricht wenig dafür, dass der demokratische Gesetzgeber angesichts der Vielfalt der Möglichkeiten für den Einzelnen die „richtige Entscheidung“ trifft. Es ist vielmehr weiter davon auszugehen, dass die Parteien des Vertrags wissen, warum der jeweils geschlossene Vertrag für sie individuell einen Sinn ergibt und damit als Ausübung der individuellen wie auch interaktiven Handlungshoheit angesehen werden kann. Dieser individuelle Sinn findet immerhin im DCFR durch die Normen zur Vertragsauslegung eine stärkere Beachtung als im geltenden Unionsprivatrecht. Allerdings fehlt vor dem Hintergrund der aufgeklärten Rechtsphilosophie der Moderne noch ein entscheidender Schritt: den Vertragsparteien als Bürgern Europas nicht nur ein Vertragsrecht zu geben, sondern eines, das ihnen vor allen weiteren Maßnahmen zur Steuerung des europäischen Binnenmarktes die normative Kompetenz zuschreibt, selbst Rechte und Pflichten zu schaffen, die grundsätzlich soweit als möglich auch durch staatliche Akteure zu respektieren sind, genau weil sie Ausdruck der interaktiven Handlungshoheit sind.722

721  In die Richtung einer solchen Entwicklung am Beispiel des Grundrechts auf Vertragsfreiheit unter dem Regime des GG Kumm, German Law Journal 7/4 (2006), S. 341–370. 722  Dazu s. o. Teil 2 H. und Teil 3 B. III. 3.

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Zusammenfassung und Ausblick Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung bilden einerseits die zentrale Bedeutung der grundlegenden autonomiebasierten normativen Maßstäbe des Schuldvertragsrechts. Andererseits werden das Phänomen der fortschreitenden Materialisierung des Schuldvertragsrechts sowie die damit zunehmenden Durchbrechungen der Vertragsfreiheit aufgegriffen.

I. Der Umgang mit dieser spannungsgeladenen Entwicklung führt, wie der erste Teil zeigt, zu einem dreifach veranlassten Theoriebedarf. Die zunehmenden – durch die Materialisierung des Schuldvertragsrechts ausgelösten – Durchbrechungen der autonomie-orientierten Systematik führen zu ungelösten Systematisierungsproblemen innerhalb des schuldvertragsrechtlichen Normenbestands des BGB. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben bleiben auf Grund der Eigenkomplexität des Schuldvertragsrechts in ihrer konkreten Bedeutung für das Verständnis des einzelnen Vertrags ebenfalls unklar. Für das sehr regulierungsintensive und sich schnell entwickelnde europäische Privatrecht werden ausdrücklich Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit und Effizienz als normative Hintergrundannahmen angesehen, ohne dass damit aber das Verhältnis der Hintergrundannahmen zur freien Handlung in den Blick genommen wird.

II. Der zweite Teil beleuchtet und analysiert die vorhandenen vielfältigen Theorieangebote im Ausgang von der geltenden Rechtsordnung. Dabei wird zunächst deutlich, dass angesichts des rechtspositivistischen Paradigmas eine auf Autorität und Tradition gegründete rechtshistorische Analyse im Vergleich zu einer theoriegeleiteten Herangehensweise nicht mehr zwingend plausibler ist, wenn es darum geht, die normativen Grundlagen einer funktionierenden Rechtsordnung auch rechtsordnungsunabhängig zu untersuchen. Sowohl rechtshistorische wie auch rechtsphilosophische Grundlagenbezüge stehen nämlich vor dem

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Zusammenfassung und Ausblick

Problem, einen Anschluss an die geltende Rechtsordnung herzustellen und ihre je eigenen Leitbegriffe entsprechend zu kontextualisieren. Die Analysen der unterschiedlichen moral-philosophischen, ökonomischen, gerechtigkeitsbasierten, soziologischen, diskurstheoretischen und rechtsphilosophischen Theorieangebote folgen daher der Ausgangsfrage. Es wird jeweils untersucht, wie die einzelne freie Handlung innerhalb der unterschiedlichen Theorieangebote in eine kollektive normative Ordnung integriert wird. Zunächst wird ein Theorieansatz beleuchtet, der die Verbindlichkeit des Vertrags auf die Verbindlichkeit des Versprechens zurückführt. Das rechtliche Versprechen bleibt durch seine Rückführung auf die Erklärung einer Partei ohne einen strukturierten Bezug zu kollektiven Normenbezügen (Teil 2 B. II.). In der Folge können Normen und bestehende gesetzliche Regelungen zwar kritisch als Ausdruck von Machtverhältnissen analysiert werden. Allerdings können über die moralische Argumentation hinaus weder individuelle noch kollektive Normenbezüge eine rechtliche Verbindlichkeit beanspruchen (Teil 2 B. II. 3.). Die ökonomische Theorie des Rechts löst dieses Problem durch das Ziel der Effizienzsteigerung, dem stets ein Vorrang zukommen soll (Teil 2 C.). Damit baut sie auf utilitaristischen Prämissen auf (Teil 2 C. II.), aus denen sich normative und empirische Probleme ergeben. Solange mit dem homo oeconomicus der rationale Nutzenmaximierer die Leitidee bildet, bleibt das Effizienzziel überzeugend – allerdings nur unter Laborbedingungen. Denn Menschen handeln nicht nur im Sinne einer rationalen Nutzenmaximierung. Werden dagegen die Einschränkungen menschlicher Entscheider berücksichtigt, gewinnt die ökonomische Theorie des Rechts an Wirklichkeitsnähe, verliert aber den Anschluss an ihre normative Vorgabe der Effizienz (Teil 2 C. IV.). Als gleichsam ewig gültige normative Vorgabe für das Recht auch bei sich ändernden empirischen oder historischen Umständen wird dagegen teils die Gerechtigkeit angesehen. Die Schwierigkeiten eines Rückgriffs auf die Gerechtigkeit als Rechtswert werden allerdings schon daran deutlich, dass umstritten ist, ob die austauschende oder aber die verteilende Gerechtigkeit die angemessene Leitidee für das Schuldvertragsrecht ist (Teil 2 D. I.). Dabei führt insbesondere der mit jeder Gerechtigkeitskonzeption einhergehende Rückgriff auf ein aristotelisches Handlungskonzept, dem zufolge Handlungen immer schon zu einem Ziel streben, zu Folgeproblemen. Für das Recht wird daraus der Anspruch auf ein richtiges Recht abgeleitet und so ein monistisches Begründungsprogramm entfaltet. Dieses wird im Hinblick auf das Schuldvertragsrecht des BGB für die austauschende wie auch für die verteilende Gerechtigkeit präsentiert und diskutiert. Dabei mündet die Anwendung der aristotelischen Gerechtigkeitskonzeption auf das geltende Schuldvertragsrecht in einen doppelten Widerspruch: Sie steht einerseits in einem Widerspruch zur aristotelischen Gerechtigkeitslehre, die darauf aufbaut, dass der Zweck des Handelns im Einzelnen immer schon vorgegeben oder jedenfalls metaphysisch identifizierbar ist. Andererseits bleibt

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sie dennoch ein monistischer Ansatz. Selbstbestimmung und Autonomie werden zwar vorausgesetzt, aber beide können bloß als theorie-externe Probleme angesehen werden, die stets objektiv gerechten Normen des Ausgleichs oder der Verteilung zu unterwerfen sind (Teil 2 D. IV.). Demgegenüber haben soziologische Theorieangebote den Vorteil, die einzelne Handlung immer schon als Grundbegriff einer gesellschaftlichen Ordnung zu verstehen (Teil 2 E.). Allerdings wurde die Handlungsorientierung der klassischen Soziologie durch die Systemtheorie abgelöst. Dabei ist wegen der Unbestimmtheit des Kommunikationsbegriffs zwischen einer beobachtenden und einer normativ gewendeten Fassung der systemtheoretischen Herangehensweise zu unterscheiden (Teil 2 E. III. und IV.). Während die empirisch-beobachtende Fassung vor allem einen Anpassungsdruck bestehender autonomie-orientierter Normsysteme diagnostiziert, geht die normativ gewendete Fassung davon aus, dass die Verfassung der Gesellschaft sich in der Verfassung des Rechts spiegelt. Beide Varianten gehen aber in einer dem Schuldvertragsrecht entgegengesetzten Weise davon aus, dass es auf individuelle Handlungsfreiheit in der Systemanalyse nicht mehr ankommt (Teil 2 E. V.). Genau gegenläufig verfährt die diskurstheoretische Normenbegründung (Teil 2 F.). Bei diesem Theorieangebot werden das Diskursprinzip und mit ihm die herausragende Dimension der Autonomie als Selbstgesetzgebung in Form der intersubjektiven Normenbegründung in den Mittelpunkt gestellt. Daraus wird geschlossen, dass gerade Verfassungsrecht wegen seiner intersubjektiven Bezüge die Autonomie der Normadressaten sicherstelle. Privatrecht, insbesondere die Vertragsfreiheit, erscheint als ein Rückzug aus dem intersubjektiven und verfassungsrechtlich abgesicherten Normenbegründungsprogramm. Eine angemessene Berücksichtigung des Schuldvertragsrechts und damit der privaten Autonomie in Form der individuellen wie auch interaktiven Handlungshoheit fehlt dagegen (Teil 2 F. IV.). Um ein Theorieangebot zu entwerfen, das die private Autonomie ebenso wie die kollektive Autonomie berücksichtigt, rekonstruiert die Arbeit einen gemeinsamen normativen Kern der Rechtsphilosophie der klassischen deutschen Philosophie. Die Gegenüberstellung der drei Rechtsphilosophien stellt dabei sicher, dass der Fokus jenseits naturrechtlicher oder vernunftrechtlicher Letztbegründungsansprüche auf die Analyse der freien Handlung und ihrer Normierung gerichtet wird (Teil 2 G. I. und V.). Dabei handelt es sich um ein Theorieelement, das bis heute gerade auch durch den gegenwärtigen Liberalismus, wie etwa durch Rawls und Dworkin, zur politischen Theorie fortentwickelt wurde. Zunächst werden dazu unterschiedliche Wege zur Willensfreiheit auf Grund unterschiedlicher erkenntnistheoretischer Rahmenbedingungen und ihrer unterschiedlichen Ausgestaltung unter den Bedingungen der Endlichkeit an diesen Rechtsphilosophien exemplarisch verhandelt.

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Zusammenfassung und Ausblick

Da alle drei Rechtsphilosophien im Unterschied zu (neo-)aristotelischen Theorieangeboten von einer Entsubstantialisierung sowohl der Erkenntnistheorie wie auch der Normenbegründung ausgehen, kann hier eine Form aufgeklärter Regelsetzung entwickelt werden, die der individuellen wie auch interaktiven „Selbstpositionierung“ dient (Teil 2 G. II.). Die Fähigkeit, durch Regelsetzung auch entgegen den mannigfachen empirischen Zwängen inhaltliche, regelgeleitete Entscheidungen zu treffen, wird hier mit dem Begriff der Handlungshoheit belegt. Dabei wird zwischen der individuellen Handlungshoheit, die vor allem durch das basale subjektive Freiheitsrecht rechtliche Wirksamkeit erlangt, und der kollektiven Handlungshoheit unterschieden, die durch die Abgrenzung und Koordination unterschiedlicher individueller Freiheiten ihre Struktur gewinnt (Teil 2 G. III.). Die Analyse dieser Position zeigt, dass bereits der Vertrag auf Grund der Übereinstimmung zweier Willenserklärungen Ausdruck der interaktiven Handlungshoheit ist. Als solcher dient der privatrechtliche Vertrag anderen Formen der staatlichen Konzeption interaktiver Handlungshoheit geradezu als Muster, die in der Folge darauf festgelegt sind, die Begründung von individuellen Rechten durch Verträge weitgehend zu respektieren. Individuelle und interaktive Handlungshoheit können daher als Meta-Regeln rechtlicher Ordnungsbildungen angesehen werden. Sie stehen für die Einbettung individueller freier Handlungen in ein Rechtssystem, das seinerseits auf die Ausformung rechtlicher Freiheiten insbesondere im Schuldvertragsrecht angelegt ist (Teil 2 G. V.). Die Vielfalt der Theorieangebote kann aus der Perspektive und auf der Grundlage der normativen Vorgabe der Handlungshoheit strukturiert werden (Teil 2 H.). Während die Überlegungen zum Vertrag als Versprechen allein die individuelle Handlungshoheit in den Blick nehmen, greift die ökonomische Analyse des Rechts mit der Effizienz auf ein Kriterium zurück, das sowohl die individuelle wie auch die interaktive Handlungshoheit letztlich einseitg instrumentalisiert. Demgegenüber blenden die neo-aristotelischen Theorien der Gerechtigkeit die individuelle Handlungshoheit aus, da sie von der ausgleichenden oder der verteilenden Gerechtigkeit als Selbstzwecke mit einem Letztbegründungsanspruch ausgehen. Dem stellen systemtheoretische Ansätze die aus der Beobachtung eines funktionierenden Rechtssystems gewonnene Erkenntnis entgegen, dass es auf Werte und absolute Zwecke in einer positiven Rechtsordnung nicht mehr ankommen kann. Allerdings verbleiben diese Überlegungen in einer beobachtenden Position oder wenden sich nur den Normen der interaktiven Handlungshoheit zu, die überindividuell gesellschaftsgestaltende Kraft entfalten. Die Diskurstheorie wiederum setzt die Normen, die die interaktive Handlungshoheit steuern – wie etwa Gesetze des demokratischen Gesetzgebers –, unter einen umfassenden Begründungs- und Rechtfertigungszwang. Auf Grund der intersubjektiven Ausrichtung des Diskursprinzips gelingt es ihr aber noch nicht hinreichend überzeugend, auch die Dimension der individuellen und

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interaktiven Handlungshoheit losgelöst von Vorgaben der kollektiven Handlungshoheit für das Schuldvertragsrecht zu berücksichtigen.

III. Der dritte Teil der Arbeit untersucht vor dem Hintergrund des im zweiten Teil analysierten und diskutierten Theorieangebots die Auslegung der guten Sitten und die Vertragsauslegung, ihre Bezüge zur Vertragsbeendigung im deutschen Zivilrecht sowie am Beispiel des Nacherfüllungsanspruchs, der guten Sitten und der Vertragsauslegung die normative Systematisierung des Unionsprivatrechts. Bei der Untersuchung der dogmatischen Erkenntnisse zu den guten Sitten zeigt sich, dass die Systematisierungsvorschläge in Form eines beweglichen Systems (Teil 3 A. V. 2.) und einer Typenbildung (Teil 3 A. V. 3.) nicht ausreichen. Ebenso wenig genügt der Verweis auf Wertvorstellungen zur Erfassung des normativen Gehalts der guten Sitten. Stattdessen wird hier vorgeschlagen, auf handlungs- und autonomie-orientierte Theorieangebote zurückzugreifen und so eine Systematisierung der Fallgruppen zu den guten Sitten vorzunehmen. So kann der normative Gehalt der guten Sitten im Hinblick auf die dort einschlägige Verbindung von Freiheit und Form und damit unter der Perspektive der Handlungshoheit für das einzelne Rechtsgeschäft angemessen erfasst werden (Teil 3 A. V. 4.). Die Untersuchung der guten Sitten als Rechtsbegriff geht dabei von den anerkannten normativen Kriterien im Verhältnis der Geschäftspartner zueinander aus, nämlich dem auffälligen Missverhältnis, der Überforderung und dem Schutz der Entscheidungsfreiheit (Teil 3 A. III.). Dabei zeigt sich an zahl­ reichen rechtspraktischen Beispielen, dass – jenseits verfassungsrechtlicher Vorgaben – das Zusammenspiel zwischen objektiver und subjektiver Seite zu umfassenden rechtsgeschäftsspezifischen Anpassungen des Sittenwidrigkeitskriteriums führt. Dieses Zusammenspiel der objektiven und der subjektiven Seite der Sittenwidrigkeitsprüfung führt zu der Erkenntnis, dass die guten Sitten als Rechtsbegriff nicht, wie überwiegend angenommen, der Durchsetzung eines sozialethischen Minimums, sondern vor allem der Formgebung der rechtsgeschäftlichen Freiheit im Einzelfall dienen. Bei dem Schutz der Entscheidungsfreiheit werden zudem rechtsgebietsspezifische einfachgesetzliche Normen herangezogen, die sich für die Sittenwidrigkeit auf Grund der Schädigung der Allgemeinheit oder Dritter als maßgebend erweisen. Die Sittenwidrigkeit auf Grund der Schädigung der Allgemeinheit oder Dritter wird schließlich vor allem auf einfachgesetzliche und verfassungsrechtliche Vorgaben gestützt. An Beispielen aus den Lebenslagen von Ehe, Familie und Sexualsphäre wird deutlich, dass hier verfassungsrechtliche Vorgaben das Selbstbestimmungsrecht der Parteien entsprechender Rechtsgeschäfte stärken

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sollen. Die Prüfung des subjektiven Elements ermöglicht es dabei ebenso wie im Verhältnis der Geschäftspartner zueinander, dass etwaige paternalistische Freiheitseinschränkungen infolge der letztlich freiheitseinschränkenden grundrechtlichen Schutzpflichten abgewendet werden können (Teil 3 A. IV. 1. und Teil 3 A. VI.). Es stellt sich heraus, dass die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts mit dem Argument der Kommerzialisierung nicht mehr überzeugend begründet werden kann. Auch bei Patientenvermittlungs- und Empfängnisverhütungsverträgen, bei Verträgen über künstliche Befruchtung und Leihmutterschaft, zum Organhandel und zur Sterbehilfe einschließlich der Suizidassistenz, zu Provisionszusagen sowie der Nichterstattung von Strafanzeigen braucht es jedenfalls einfachgesetzliche Anknüpfungspunkte für eine Begründung der Sittenwidrigkeit, die als Ausdruck der interaktiven Handlungshoheit gedeutet werden können (Teil 3 A. IV. 2.). Die Absage an eine Begründung der Sittenwidrigkeit durch Standesverstöße infolge der verfassungsrechtlichen Vorgaben belegt ihre abwehrrechtliche Wirkung im Schuldvertragsrecht (Teil 3 A. IV. 3.). Diese Wirkung verfassungsrechtlicher Vorgaben wird auch bei der Inhaltskontrolle von Testamenten sichtbar, allerdings mit Einschränkungen im Hinblick auf staatsorganisationsrechtliche Vorgaben (Teil 3 A. IV. 4.). Sie werden zwar überzeugend zur Begründung der Sittenwidrigkeit einer Ebenbürtigkeitsklausel herangezogen, können jedoch zur Durchbrechung der negativen Erbfreiheit bei der Beurteilung eines Behindertentestaments nicht ausreichen (Teil 3 A. IV. 4. b. dd). Anhand der Auslegungsprobleme des § 138 Abs. 2 BGB wird noch einmal deutlich, warum § 138 Abs. 1 BGB für die Strukturbildung rechtsgeschäftlicher Freiheit unverzichtbar ist (Teil 3 A. VII.). Aus der Perspektive der Handlungshoheit ist es unverzichtbar, einen etwaigen Wandel der guten Sitten in der Zeit zu berücksichtigen. Allerdings sollte nach dem Grund des Wandels differenziert werden. Ändern sich die normativen Umstände, so sollte auf die neuere Rechtserkenntnis abgestellt werden. Ändern sich dagegen die tatsächlichen Umstände, so sollte auf den Zeitpunkt des Rechtsgeschäfts, wie etwa die Errichtung der letztwilligen Verfügung, abgestellt werden (Teil 3 A. VIII. 5. bzw. 6.). Die Analyse der Vertragsauslegung legt offen, dass bei der Objektivierung normativer Vorgaben immer noch die Gefahr besteht, den wirklichen Willen der Parteien unter Verweis auf ein sozialethisches Minimum herunterzuspielen oder gar für unerheblich zu halten. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, wird der Vorschlag entwickelt, eine weitere (Ver-)Objektivierungsebene zwischen dem wirklichen Willen einer Partei und den objektiven Kriterien des Vertrauensschutzes und des Interessenausgleichs einzuziehen (Teil 3 B. III. 3.). Diese weitere Verobjektivierungsebene verlangt, eine mögliche übereinstimmende Theoriepräferenz beider Vertragspartien zu ermitteln.

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Die kurze Betrachtung der hypothetischen Vertragsauslegung (Teil 3 B. IV.) nimmt diese Skepsis gegenüber einer rein objektiv-normativen Vertragsauslegung auf. Hier kommt es aber darauf an, vor allem die situativen handlungsbezogenen Umstände des Vertragsschlusses zu berücksichtigen. Für die Auslegung des „wichtigen Grunds“ wie auch der Zumutbarkeit bei der außerordentlichen Kündigung wird zur Stärkung der Vertragsfreiheit eine argumentative Rückbindung etwaiger Abwägungen und Risikozuweisungen an den Vertragsinhalt und damit die Vertragsauslegung vorgeschlagen (Teil 3 B. IV.). Die Beleuchtung des existierenden Unionsprivatrechts wie auch der akademischen Vorschläge zu einem zukünftigen Unionsprivatrecht lassen eine normative Tendenz erkennen, die dem auf die individuelle und interaktive Handlungshoheit festgelegten System des BGB zuwiderläuft. Am Beispiel des Gesetzentwurfs zur Neuregelung des § 439 BGB wird deutlich, dass hier der Verbraucherschutz des europäischen Rechts mit der Konzeption eines Unternehmerschutzes auf Seiten des deutschen Gesetzgebers konkurriert. Aus dem Blick gerät dabei zum einen die interaktive Handlungshoheit der Vertragsparteien. Zum anderen wird aus einer systemtheoretischen Perspektive deutlich, wie sich der unionsprivatrechtliche Verbraucherschutz gerade auch wegen seiner zahlreichen Rechtsquellen von einer autonomiebasierten Vertragsdogmatik und damit der individuellen wie auch interaktiven Handlungshoheit verabschiedet und sich dennoch gerade auch im deutschen Recht als Konkretisierung der kollektiven Handlungshoheit erfolgreich durchsetzt (Teil 3 C. II. 2.). Diesem selektiven Abschied von der individuellen und interaktiven Handlungshoheit der Vertragsparteien zu Gunsten der Erweiterung der zwischenstaatlichen interaktiven Handlungshoheit wirken umfassendere Entwürfe wie der DCFR entgegen, soweit sie die individuelle und interaktive Handlungshoheit der Vertragsparteien, wenn auch in engen Grenzen, aber immerhin erneut normativ berücksichtigen (Teil 3 C. III. 3.).

IV. Die Entwicklung des Schuldvertragsrechts erschöpft sich nicht in einem Mechanismus aus einer Beständigkeit des Autonomieprinzips einerseits und seiner zunehmenden Durchbrechung andererseits. Vielmehr wird die Orientierung an der Selbstbestimmung innerhalb des Normensystems des BGB im Hinblick auf die individuelle wie auch die interaktive Handlungshoheit weiter ausgebaut. Durch Selbstbestimmung – insbesondere in Form der Zustimmung – und Vertragsbindung schaffen die Vertragsparteien wechselseitige Rechte und Pflichten. Diese beiden normativen Kriterien werden schon durch ihre weitere Anwendung gestärkt, wie gerade die Auslegung der guten Sitten als Rechtsbegriff

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und die Beispiele der Vertragsauslegung zeigten. Parallel dazu entwickelt sich auf europarechtlicher Ebene eine normative Ordnung der kollektiven Handlungshoheit staatlicher oder supranationaler Akteure, deren praktische Wirksamkeit und Zukunft auch davon abhängen wird, ob sie die individuelle und interaktive Handlungshoheit der Vertragsparteien zukünftig stärker berücksichtigen kann.

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310

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Sach- und Personenregister Abfindung 163 Abwägung 3, 18, 32, 38, 50, 74, 154, 178– 192, 198, 200, 236, 242, 244, 262, 265, 277 Allgemeinwohl 8, 46, 128, 188, 199 Anfechtung 220 f., 265 Anpassung 64 f., 137 f., 140 f., 142 f., 146 f., 161, 167, 214, 241, 245, 247, 255, 260, 275 Aquin, Thomas v. 51, 83 f. Äquivalenz 135, 196, 206, 238, 254 Arbeitsvertrag 142 f., 170 f. Arglist 196, 207 Aristoteles 47–56, 60, 206 Aufklärung 34, 72, 79–93, 114–119, 129 Aufklärungspflicht 141 f., 148 (Aus-)Differenzierung 64 f., 75, 91, 179, 205, 215 Auslegung – des Gesetzes 3 f., 5 f., 12, 19 f., 21 f., 33, 68, 77, 114, 118, 127 f., 156, 175, 190 f., 194, 197 f., 211, 216, 250–253, 256–258 – des Testaments 178, 181 – des Vertrags 3, 13, 114, 126, 161, 178, 200, 216–247, 266–269 Auslegungsfehler 13 Autonomie 26, 38 f., 48 f., 55 f., 61, 67 f., 72–79, 83 f., 85, 96 f., 125, 177 f., 198 f., 223, 226–228, 232, 235, 261 f. Bedürftigentestament 185 f. Behindertentestament 185 f., 187 Bentham, Jeremy 41 f. Beratungsfehler 142 Berufsfreiheit 176 Berufspflichten 176 f. Bewegliches System 33, 193 f. Binnenmarkt 4, 59 f., 65 f., 248, 268 f.

Brautgeldabrede 162 f., 170 Bürgschaft 15, 18, 148–152, 158, 205 Bydlinski, Franz 27, 30, 68, 193, 224, 226 Cassirer, Ernst 79, 86, 96, 112, 129 Coase, Ronald 42, 228 Code civil 137 Critical Legal Studies 194 f. Darlehensvertrag 136–142, 149, 157 f. Dauerschuldverhältnis 142, 153, 242 DCFR (Gemeinsamer Referenzrahmen) 21, 33 f., 46, 212, 247, 250, 260–267 Demokratie(-prinzip) 10, 64 f., 70, 74 Diskurstheorie 70–79, 124, 192, 198 Dispositives Recht (Dispositionsfreiheit) 129, 190, 237 f. Dworkin, Ronald 32, 39, 74 f., 79, 92, 114 Ebenbürtigkeitsklausel 15, 179 f. Effizienz 21, 33 f., 40–46, 123, 228 f., 246 Eheschließungsfreiheit 6, 162, 171, 178 f. Ehevertrag 15, 163–167, 208 Einheit und Folgerichtigkeit 9 f., 21 Ent-Substantialisierung 83 f. Entwicklung 21 f., 30, 38 f., 48, 61–64, 73 f., 79, 93–96, 100–125, 131 f., 217, 236, 240, 246 Erblasser 177–180, 216 (Erkenntnis-)Vorrang – der Effizienz 40, 279 – des gesetzlichen Rechts 238 f. – der intersubjektiven Normenbegründung 75 f., 93 – der Nacherfüllung 233 f. – des Privatrechts 13, 18 – der (verteilenden) Gerechtigkeit 47 f. Ersatzmutterschaft 173

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Sach- und Personenregister

Ethik – des Rechts 194 – nach Aristoteles 60 f. – nach Kant 82 f., 86 f. – (Ethik-)Richtlinien 171 Evolution 63 f., 109 f. Fichte, Johann Gottlieb 79–82, 89 f., 94 f., 97 f., 103–105, 111, 113 f. Flume, Werner 1, 9, 170, 220, 237, 239 Formgebung 17 f., 96, 130, 198, 232 Freiheit s.a. Autonomie, Grundfreiheiten, Vertragsfreiheit, Selbstbestimmung, Selbstgesetzgebung Freiheitsrecht, angeborenes 97 f., 99, 101, 110 f., 119 Freizügigkeit 182 Gegenleistung, Missverhältnis der 6, 133– 162, 199–205, 275 f. Gelegenheitsdarlehen 141 Geliebtentestament 182–184 Generalklausel 12, 14, 38 f., 133 f., 197–201 Gerechtigkeit – ausgleichende 48, 51 ff., 60 f., 123, 144, 200 – austauschende 51, 60 f. – verteilende 48, 52, 58–61, 123 Gesamtwürdigung 133, 141, 160 f., 166, 190, 195 f., 205 Geschäftsbedingungen, Allgemeine 6, 243 Geschäftsgrundlage, Störung der 6, 53, 162, 221, 245 f. Gesellschaftsrecht 190 f. Gesellschaftsvertrag – privatrechtlich 150, 153–156, 161, 169, 205 – staatsbegründend 84 f., 102, 113 Gesinnung, verwerfliche 133, 135–140, 143–145, 149 f., 150–160, 184, 194–196, 202–207 Gewährleistung 14, 248 f. Gleichheit 16 Governance 46, 231 Grundfreiheiten 4, 248 f., 268 Grundlagen, normative 24–35, 79 f., 100 f., 109, 114–117, 122, 124 f., 128, 271 f.

Grundprinzipien, einzelner Regelungsbereiche 190 f. Grundrechte 10–19, 52, 74–77, 112, 121, 154, 180, 189, 202 Grundstückskaufvertrag 136, 138 f., 159 Habermas, Jürgen 5, 70–76, 78–80, 97, 198 Handelsbrauch 237 Handelsrecht 8, 41 Handlungshoheit – individuelle 2 f., 79, 93, 97–101, 109, 114–118, 120–126, 137, 152, 160–161, 170, 175, 177, 187, 189, 198 f., 204 f., 216, 222 f., 227, 261–269, 274, 277 – interaktive 2 f., 82, 89, 93 f., 96, 100 f., 109, 114–118, 120–126, 189, 223 f., 226 f., 232–236, 240, 244, 246 f.,260, 268 f., 273–278 – kollektive 2 f., 118, 170, 175, 177, 181 f., 198 f., 215 f., 222 f., 230–232, 241, 260, 274 f., 277 f. Harmonisierung 65, 248 Hayek, Friedrich August v. 120 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 81 f., 90 f., 94–96, 98 f., 106–109, 112 f. Hobbes, Thomas 83–85, 104, 119 Homo oeconomicus 44–46 Informationsdefizit 44 f. Informationspflicht 142, 147, 155, 250, 269 Inhaltskontrolle 13, 18, 20, 75, 134, 137, 164, 177 f., 187, 263–265 Insolvenz 152 Interessenausgleich 14–20, 223–225, 229 f., 232, 235 Jhering, Rudolph v. 119, 224 Kaldor-Hicks-Kriterium 43 Kant, Immanuel 80 f., 87–89, 93 f., 97 f., 101 f., 109–111 Kaufvertrag – Internet 139 f. – über Grundstücke 138 f., 159, 207 – über Sachen 138, 159, 207, 245 f. Kindeswohl 165 f., 172 f. Kommerzialisierungsverbot 175, 178, 193

Sach- und Personenregister

Kommunikation 62 f., 71 f., 123 Komplexität 234, 237 Konsens – gesellschaftlicher 13, 73 – vertraglicher 188, 202, 233 f. Konsistenz und Kohärenz 19, 28, 32, 80 Konstitutionalisierung 269 Koordination 9, 93, 96, 234, 274 Kreditsicherung 142, 158–160, 166, 196 f. Kriterien – normative 39, 41, 61, 126 – der Sittenwidrigkeit 133, 137–142, 126 f., 153, 160–162, 183, 187, 190, 193, 195, 197, 199 ff., 213 f., 215 – des Verfassungsrechts 13–16, 18 f. – der Vertragsauslegung 219–222, 225 f., 230–242, 245 f. Kündigung 153 f., 235, 241–245 Laesio enormis 6, 134, 137, 226 Legitimation 11, 65, 68, 70, 73 f., 76, 102, 109, 152, 208 Leihmutterschaftsvertrag 171–175 Leitbild 44 f., 75, 190, 197 Locke, John 83 f. Lücke (Lückenfüllung) 236 f., 240 f., 254 Luhmann, Niklas 62– 65, 123, 198 Marktwert 134 f., 137 f., 140, 148, 158, 163 Materialisierung 5–22, 34 f., 37 f., 59 f., 71, 100, 116, 127 f., 161 f., 240, 271 f. Menschenwürde 162, 169 f., 173 Metaphysik (metaphysisch) 50–56, 60 f., 72, 80 f., 83–88, 101, 123, 200, 230 Mietrecht(-vertrag) 58 f., 143–146, 153 f., 208 Missbrauch – der Marktmacht 196 – der Vertragsfreiheit 128, 130 f., 263, 265 Missbrauchskontrolle (Treu und Glauben) 139, 154, 216, 220–224, 236, 245, 267 Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung 133 f., 138 f., 140, 145, 149, 158, 161 f., 200 f., 205 f. Nacherfüllung 127, 233, 251–258, 275 Naturrecht 89 f., 111–114, 118, 273 Nichtigkeit 129, 143, 165, 177, 209, 240

313

Normativität 77 f., 79 f. Normenbegründung 24 f., 28–30, 64, 70 f., 73, 75 f., 77, 79, 81, 87, 93, 99, 104, 114 f., 121 f., 124, 129, 160, 173, 190, 232 f. Nutzen 44, 46 f. Nutzenvergleich 42 f., 46 f., 229 Ökonomische Analyse (Theorie) des Rechts 19, 23, 33 f., 40–46, 50, 105, 117, 121, 123 f., 228 f., 235, 241–243, 260, 267, 272 Ordre public 222 Organhandel 171, 173, 175 f. Pacta sunt servanda (Vertragsbindung) 8 f., 17, 22, 31, 35 f., 39 f., 46, 70 f., 75–79, 121 f., 152–154, 233 f., 277 Paradoxie 33, 110, 231 f. Parteiwille – hypothetischer 236–240, 242 f., 267 – tatsächlicher 121 f., 221 f., 226–236 Paternalismus 39, 44, 46 Peep-Shows 169 Persönlichkeitsrecht 8, 26, 57 f., 101 f., 103, 120, 167, 169, 171 f. Pflichtteilsrecht 177 f. Potestativbedingung 15, 178 f., 180 f. Präferenz 42, 44 f., 235 f., 273 Prinzipien – rechtsgebietsspezifische 138 f., 141 f., 161, 170, 175, 187 f., 192, 201 f., 226, 235, 275 – rechtsgeschäftsspezifische 137 f., 142, 153 f., 161 f., 187 f., 226, 236, 275 Privatautonomie 1, 5–7, 11, 14, 16, 19 f., 58, 76 f., 130 f., 157, 178, 186, 198, 233 f., 150, 263 f. Prostitution 167–170, 183 Provision 141 f., 171, 174 f., 276 Ratenkredit 140 f., 213 Rawls, John 44, 71, 79, 92, 113 f., 273 Rechte, subjektive 43 f., 46 f., 66, 78 f., 85 f., 97–99, 112, 125 Rechtsfortbildung 21 f., 68, 192 Rechtsgeschäftslehre 224, 236 Rechtsidee 79 f., 93–99, 109–118, 120 f., 124 f.

314

Sach- und Personenregister

Rechtsordnung – positive 52, 109 f., 114 f., 116–118 – provisorische 102–104 Rechtspositivismus 24 f., 30 f., 109, 113 f., 118 Rechtssicherheit 30, 38, 59 f., 221 f., 254 f., 269 Rechtsstaat 10 f., 27 f., 51, 67, 73, 76, 79 f., 117, 124 f., 134, 181, 184, 198, 226 f. Rechtswahl 249 Rechts- und Wirtschaftsmoral, (herrschende) 197 f., 224, 226, 235 Restschuldversicherung 141 f. Rezeptionsfunktion 69 f. Richter (richterliche Macht) 12 f., 30, 38 f., 68, 74, 124, 128, 131 f., 134 f., 145, 168 f., 183–185, 189–193, 196, 198, 239–241, 267 Richtigkeit, Vermutung der 191 f., 217 f. Risiko(-verteilung) 58, 65, 139, 146–148, 225, 241–247, 260 f., 277 Rückwirkende Sittenwidrigkeit 214 f.

– Widerlegung der Vermutung 129, 136 f., 150, 152, 161, 209 Sorge, elterliche 57, 149, 164 f., 184, 186, 209 Souveränität 84, 109 Sozialstaatsprinzip 14, 17 Spekulationsgeschäft 134, 148, 210 Staatsrecht 109–111, 178–181 Standesrecht 175 f., 178 Strafrecht(-normen) 11, 129, 132, 144, 157, 174, 205 Subsidiarität 185–187, 248 Suizidassistenz 173–175 Summenwirkung 33, 194 Swap-Vertrag 147 f. System – bewegliches 33 f., 193 – soziales 63 f. Systematisierung(-sprobleme) 19, 32 f., 77, 128, 189 f., 223, 271 Systemtheorie 62–68, 123 f., 198 f., 231 f., 273

Sandhaufen-Theorem 33, 194 Savigny, Friedrich Carl v. 1, 24–27, 60, 113, 116, 118 f., 121, 129 Scheidungsfolgenvereinbarung 163–165, 170, 189, 190 Schutzzweck 8 Schwangerschaftsverhütungsvertrag 169, 171 f., 175, 276 Selbstbestimmung 7–10, 13–17, 35 f., 39, 56, 61, 65, 68, 72, 79–88, 92 f., 100, 107, 119, 124, 163, 167, 169, 173, 176, 180, 222, 273 Selbstgesetzgebung 71–74, 76, 79, 85, 120, 273 Sicherheit 21, 33 f., 75, 81, 84, 104, 108, 264 Sittenwidrigkeit – rechtsgebietsspezifische Kriterien bzw. Anpassungen 138, 141, 161, 170, 175, 187, 192, 201, 235 f., 275 – rechtsgeschäftsspezifische Kriterien bzw. Anpassungen 137, 142, 161, 187 f., 226, 238, 275 – Vermutung des subjektiven Elements 135–139, 145, 149 f., 152, 160 f., 166, 191, 204, 206, 217

Telefonsexdienstleistungen 168 f. Terminoptionsgeschäft 142, 147 f. Testament (letztwillige Verfügung) 177–187, 189, 202, 214–216, 219 f., 227, 276 Testierfreiheit 169, 177–182, 185 f., 188 Theorieangebote 2 f., 20 f., 33 f., 117 f., 121 f., 125, 127, 226, 228, 259, 271 f., 273–275 Theoriebedarf 2, 19–22, 32–34, 116, 122, 271 Theoriewahl 23, 30–33, 120–124, 232–235, 241, 247 Titelhandel 174 f. Tradition 24–28, 35, 50, 54–56, 60, 72, 80, 83, 86, 113, 129 f., 134, 137, 181, 218, 242, 265, 272 Transaktionskosten 43 f., 228 f. Treu und Glauben s.a. Missbrauchskontrolle Typen/Typisierung 20, 49, 65 f., 102, 106 f., 112, 122, 137, 144, 154, 185, 190, 195–197, 201, 212, 222, 234, 227, 229, 234, 238 f., 241 f., 245 f., 262, 265, 268 f., 275

Sach- und Personenregister

315

Übermaßverbot 15 f. Ulpian 92, 223 Umstände 34 f., 39, 52 f., 55, 58, 61, 82, 92, 94 f., 103, 105 f., 115, 122, 126, 134 f., 138, 140, 143, 145 f., 154 f., 159, 161, 176, 178, 184, 187, 195 f., 200–203, 217 f., 220 f., 226–235, 246, 256 f., 266 Ungleichgewicht 14, 18, 20, 75 Untermaßverbot 11, 127 Unwirksamkeit 15, 153 f., 159, 171, 180, 215, 240 f., 243 Urrecht 81, 89 f., 97–99, 103–105, 119

163, 188, 198, 200, 226–236, 247, 264 f., 269, 271, 273, 277 Vertragsparität 15, 152, 161, 165 f., 200, 208 Vertragstyp 102, 137, 154, 237, 239, 242, 245 Vertragszweck 123, 236–239, 242, 247 Vertrauensschutz 3, 178, 181, 221, 223–225, 279 Vorgaben, – normative 116 f., 186, 228 – verfassungsrechtliche 7, 10, 20 f., 121, 155, 160, 166, 175 f., 178 f., 187, 189, 198

Vaterschaftsanfechtung 173 Verbraucher(-schutz) 7 f., 16, 20–22, 46, 53, 59, 65–67, 75, 136, 140, 148, 209, 243 f., 251–269 Verhandlung 14, 163, 165 f., 208, 212, 217, 228 f., 265 Verhandlungsposition, ungleiche 165 f., 208 Verjährung 158, 256 Verkehrsschutz 219–221, 259 f. Verkehrsüblichkeit 137, 146, 232, 237, 239 f. Verlöbnis 162 Vernunft – (allgemein) 2–5, 35 f., 49 f., 54, 68, 70–74, 87, 116 f., 176, 192, 210–212 – kommunikative 70–74 – vertragliche 117–126, 197 f., 232 f., 236–241, 268 f. Vernunftrecht 72 f., 79–113 Versprechen 35–39, 41, 77, 102, 122 f., 171, 174, 208, 227, 267 f., 272 Vertragsbruch 229, 241 Vertragsfreiheit 7 f., 11, 13–20, 31, 37, 43, 46, 48, 50, 52 f., 58 f., 60, 68 f., 75–77, 79, 116, 126, 127 f., 130, 147 f., 153 f., 160 f.,

Weber, Max 50, 61 f., 68 f. Werbeverbot 177 f. Werte(-ordnung) 11, 43, 48, 50, 60, 84 f., 134, 136 f., 142, 144, 159, 190, 201, 238, 254, 258, 262 f., 264, 274 Wertungsjurisprudenz 9 f. Westermann, Harry 196 Wettbewerb 25, 68, 262 Wettbewerbsverbot 155 f., 190, 248 Widerruf 21, 28, 66, 263 Willensfreiheit 55, 86–91, 107, 115, 273 Willensmängel s.a. Anfechtung Willenstheorie 7, 121, 129, 217 f., 223, 266 Windscheid, Bernhard 119, 121 Wirtschaftsrecht 50, 68 f., 190 Zugewinnausgleich 164 f. Zustimmung 8 f., 11, 22, 36, 69, 102–104, 109, 113, 216, 227, 277 Zweck – der Gesellschaft 53–55, 61 f., 63, 70 f., 76, 80, 88, 91, 93 f., 106, 108, 111 – der Norm 2, 8, 28, 34, 69, 128–130, 132, 145, 151, 158 – des Vertrags 10, 17, 23, 40 f., 49–55, 122, 123, 162, 166, 178, 181 f., 223 f., 237 f.